Das Konzept einer negativen Dialektik: Adorno und Hegel 3161540824, 9783161540820

Die kritische Theorie Theodor W. Adornos findet ihre vollständige Artikulation im Konzept einer negativen Dialektik. In

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Das Konzept einer negativen Dialektik: Adorno und Hegel
 3161540824, 9783161540820

Table of contents :
Cover
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Die Frage nach der Dialektik
1. Zur Rezeptionsgeschichte negativer Dialektik
I. Die kommunikationstheoretische Auflösung der Dialektik bei Habermas
II. Das Scheitern der Dialektik bei der Adorno-Konferenz 1983
III. Wo ist die Dialektik? Frankfurter Adorno-Konferenz 2003
IV. Back to Adorno? – As if for the first time!
2. Das Programm einer negativen Dialektik: Adorno und Hegel
Einleitung
Kapitel 1: Zur Logik negativer Dialektik
1. Vermittlung
I. Die Hypostasis der Vermittlung und der Primat des Geistes
II. Die Differenz in der Vermittlung und ihre Folgen
2. Totalität
I. Totalität als dialektische Kategorie
Erster Einschub: Begriffsdialektik vs. Realdialektik
II. Totalität als Kategorie der dialektischen Erkenntnispraxis
III. System und Modell
3. Negativität
I. Negativität bei Adorno: Struktur und Problematik
II. Negativismus I: bestimmte Negation und positive Negation
III. Negativismus II: das Falsche als Index seiner selbst
Zweiter Einschub: negative Dialektik vs. spekulative Dialektik
IV. Negativismus III: der Bergmann und sein Licht
Dritter Einschub: erlösungsphilosophische Dialektik vs. postmetaphysische Dialektik
V. Negativität und Utopie I
4. Nichtidentität
I. Spekulative Identität und identifizierendes Denken
II. Adornos Begriff des Begriffs
a. Klassifikatorischer und emphatischer Begriff
b. Die Objektivität des Begriffs
Exkurs: Metakritik der Kritik des identifizierenden Denkens bei Habermas und Wellmer
c. Kritik des identifizierenden Denkens
III. Das Nichtidentische in der negativen Dialektik
1. Exposition: Elemente einer Theorie der geistigen Erfahrung
Kapitel 2: Eine Theorie der geistigen Erfahrung
I. Von der Erkenntnistheorie zur Theorie der geistigen Erfahrung
a. Erkenntnistheorie und Gesellschaftstheorie
b. Der Standpunkt der kritischen Theorie
c. Vom Idealismus zum Materialismus
II. Der Begriff der geistigen Erfahrung
a. Erkenntnis und Erfahrung
b. Erfahrung und Dialektik
2. Durchführung: Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins
III. Bedingungen der Möglichkeit I: Subjekt der Erfahrung
a. Das beschädigte Individuum
b. Das unglückliche Bewusstsein
IV. Bedingungen der Möglichkeit II: Subjekt-Objekt-Dialektik
a. Der Prozess zwischen Kant und Hegel I: Idee der Andersheit
b. Der Prozess zwischen Kant und Hegel II: Vorrang des Objekts
c. Mimesis und Leib
3. Reprise: Elemente einer materialistischen Theorie des Geistes
Erster Einschub: Übergang zum Materialismus
V. Geist und Erfahrung
a. Adornos Kritik der reinen Vernunft
b. Leid und Wahrheit
c. Negativität und Autonomie. Zur Substantialität des Geistes
VI. Negative Dialektik als geistige Erfahrung
Zweiter Einschub: Der Vorwurf des Elitismus
Einleitung
Kapitel 3: Metaphysik und Geschichte
1. Weltgeist
I. Geschichte und Erfahrung
a. Geschichte als Weltgeist
b. Negativität und Objektivität der Geschichte
II. Zur Kritik der hegelschen Geschichtsphilosophie
a. Probleme der Kritik
b. Weltgeist und faule Existenz
c. Die Unvernunft in der Geschichte
III. Der Weltgeist als Bann und Universalgeschichte
a. Die subjektive Gestalt des Weltgeistes: der Bann
b. Kontinuität und Diskontinuität: der Weltgeist als Universalgeschichte
2. Naturgeschichte
I. Die Naturwüchsigkeit der Geschichte
a. Vom Weltgeist zur Naturgeschichte
b. Naturgeschichte
II. Negativität und Utopie II: negative Dialektik als Geschichtsphilosophie
a. Utopie und Ideologie
b. Dimensionen des Utopischen: von der Stillung des Hungers bis zur Abschaffung des Todes
III. Geschichte und Metaphysik
a. Die Transmutation von Metaphysik in Geschichte
b. Die Konvergenz von Materialismus und Metaphysik
3. Metaphysik
I. Die Reichweite der Vernunft
a. Kommunikative oder emphatische Vernunft?
b. Glauben und Wissen bei Habermas und Adorno
c. Metaphysische Erfahrung als Stellung des Gedankens zur Objektivität
II. Die Achsendrehung der Kopernikanischen Wende
a. Der sonderbare Gerichtshof der reinen Vernunft: Ambivalenzen des kantschen Blocks
b. Das Offene: Selbstreflexion des Geistes als Anamnesis ans Naturhafte
c. Das Intelligible: Selbstnegation des endlichen Geistes
III. An den Grenzen der Dialektik
a. Entmythologisierung und Metaphysik
b. Der ontologische Gottesbeweis
Schlussbetrachtung: philosophia ultima
Literaturverzeichnis
Schriften von Adorno und Hegel
Theodor W. Adorno
Briefwechsel
I Abteilung I: Fragment gebliebene Schriften
IV Abteilung IV: Vorlesungen
G.W.F. Hegel
Weitere Schriften von Adorno
Weitere Literatur
Weitere Schriften von Hegel
Personenregister
Sachregister

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Philosophische Untersuchungen herausgegeben von Günter Figal und Birgit Recki

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Marc Nicolas Sommer

Das Konzept einer negativen Dialektik Adorno und Hegel

Mohr Siebeck

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Marc Nicolas Sommer, geboren 1981; Studium der Philosophie und Anglistik in Basel; 2013 Promotion; seit 2014 wissenschaftlicher Assistent an der Professur für Geschichte der Philosophie an der Universität Basel.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Max Geldner-Fonds und des Dissertationenfonds der Universität Basel. e-ISBN PDF 978-3-16-154187-2 ISBN 978-3-16-154082-0 ISBN  1434-2650 (Philosophische Untersuchungen) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­biblio­ graphie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro­verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen gesetzt, auf alte­rungsbeständiges Werk­ druck­papier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Otters­weier gebunden.

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Vorwort Vorliegendes Buch ist die leicht überarbeitete Version meiner Dissertation, die 2013 an der Universität Basel angenommen wurde. Seine Wurzeln reichen bis in meine Studienjahre zurück. Seminare zu Hegels Phänomenologie des Geistes und zu Adornos Negativer Dialektik pflanzten den Keim, aus dem sich später die Grundüberzeugung der Arbeit entwickeln sollte: dass Adornos negative Dialektik nur im Horizont ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der hegelschen Philosophie zu verstehen ist. Geschrieben wurde die Arbeit an der Universität Basel und am Institut für Sozialforschung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Teile der Arbeit sind vorab anderenorts erschienen: Die Ausführungen zum Vermittlungsbegriff sind in einer reduzierten Fassung erschienen als „Die Differenz in der Vermittlung. Adorno und die Hegel’sche Dialektik“ in der Zeitschrift für kritische Theorie, 17 Jg./H. 32/33 (2011), S.  136–154; die im vorliegenden Buch aus darstellungstechnischen Gründen auf zwei Kapitel verteilten Überlegungen zu Negativität und Utopie sind in Kombination erschienen als „Utopie und Negativität. Adornos negative Dialektik als Paradigma utopischen Denkens“ in: Philosophisches Jahrbuch, 121. Jg./H 2 (2014), S.  271–288. Ohne eine großzügige Anschubsfinanzierung der Jubiläumsstiftung der Basellandschaftlichen Kantonalbank hätte das Projekt nicht begonnen werden können. Ich danke der Stiftung für das Vertrauen, das sie damals in mich gesetzt hat. Ein einjähriges Mobilitätsstipendium des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) hat die Fertigstellung dieser Arbeit ermöglicht. Dr. Gabrielle Hiltmann, PD Dr. Tilo Wesche und Prof. Dr. Johann Kreuzer danke ich für die Gutachten, die sie für meine Stipendienanträge erstellt haben. Meinem Lehrer, Prof. Dr. Emil Angehrn, danke ich für die langjährige Unterstützung und für das lebhafte Interesse, dass er meiner Arbeit stets entgegengebracht hat. Ohne seine in jeder Phase angenehme und der Sache förderliche Betreuung wäre die Arbeit nicht das, was sie jetzt ist. Auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Doktorandenkolloqiums in Basel haben die Arbeit von Anfang an mit Interesse begleitet; ihnen danke ich für die wohlwollende und der Sache dienliche Kritik. Prof. Dr. Axel Honneth danke ich für die freundliche Aufnahme in Frankfurt, für das Interesse, dass er meiner Arbeit entgegengebracht hat und für die Bereitschaft, das Zweitgutachten zu verfassen; seine kritischen Bemerkungen haben die Arbeit in ihrer Schlussphase an einigen Stellen

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VI

Vorwort

geprägt. Ich danke auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kolloquiums für Sozialphilosophie für ihre kritischen Rückfragen. Dem Institut für ­Sozialforschung habe ich für den mir zur Verfügung gestellten Arbeitsplatz und die praktischen Mittel, die mir die Fertigstellung der Arbeit erleichterten, zu danken. Den Mitgliedern des IfS danke ich für die freundliche Aufnahme, das angenehme Arbeitsklima und die hilfreichen Rückmeldungen im Rahmen des institutsinternen Kolloquiums. Alisha Stöcklin danke ich für ihre wertvolle Hilfe beim Durchsehen der Korrekturabzüge. Dr. Christoph Gödde vom Theodor W. Adorno Archiv danke ich für die Gelegenheit, Einsicht in eine noch unveröffentlichte Vorlesung Adornos nehmen zu können. Von meinen Freunden danke ich Maximilian Geßl, der die Einleitung und das erste Kapitel seinem prüfenden Blick unterworfen hat; ebenso danke ich Andreas Hägler, dessen Vorschlag, das erste Kapitel in Form eines Begriffslexikons zu gestalten, den sprichwörtlichen Knoten zum Platzen brachte. Meine Eltern Regina und Thomas Paul Sommer haben mir während meines Studiums und in jeder Phase der Promotion bedingungslos den Rücken gestärkt und mich nicht nur finanziell unterstützt; das ist keineswegs selbstverständlich und dafür gebührt ihnen ein besonderer Dank. Meiner Frau Anika Kolster-Sommer ist das Buch gewidmet. Was ich ihr alles verdanke, gehört nicht hierher. Basel, im August 2015

Marc Nicolas Sommer

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„In dem System hat jeder Begriff seine bestimmte Stelle, an der er allein gilt, und die auch seine Bedeutung, so wie seine Limitation bestimmt. Wer nun nicht auf das Innere eingeht, sondern nur die allgemeinsten Begriffe aus dem Zusammenhange heraushebt; wie mag der das Ganze richtig beurteilen?“ F.W.J. Schelling – Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände

„Man hat’s halt sehr schwer als Dialektiker.“ Theodor W. Adorno – Einführung in die Dialektik

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Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

Einleitung:  Die Frage nach der Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Zur Rezeptionsgeschichte negativer Dialektik . . . . . . . . . . . 3 I. Die kommunikationstheoretische Auflösung der Dialektik bei Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 II. Das Scheitern der Dialektik bei der Adorno-Konferenz 1983 12 III. Wo ist die Dialektik? Frankfurter Adorno-Konferenz 2003 . 13 IV. Back to Adorno? – As if for the first time! . . . . . . . . . . . 18 2. Das Programm einer negativen Dialektik: Adorno und Hegel . . 20 3. Fragestellung – Methode – Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 I. Die Hypostasis der Vermittlung und der Primat des Geistes 43 II. Die Differenz in der Vermittlung und ihre Folgen . . . . . . 55 2. Totalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 I. Totalität als dialektische Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . 65 Erster Einschub: Begriffsdialektik vs. Realdialektik . . . 71 II. Totalität als Kategorie der dialektischen Erkenntnispraxis . . 75 III. System und Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3. Negativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 I. Negativität bei Adorno: Struktur und Problematik . . . . . . 87 II. Negativismus I: bestimmte Negation und positive Negation 96 III. Negativismus II: das Falsche als Index seiner selbst . . . . . 106 Zweiter Einschub: negative Dialektik vs. spekulative Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 IV. Negativismus III: der Bergmann und sein Licht . . . . . . . 117

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X

Inhaltsverzeichnis

Dritter Einschub: erlösungsphilosophische Dialektik vs. postmetaphysische Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . 124 V. Negativität und Utopie I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4. Nichtidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 I. Spekulative Identität und identifizierendes Denken . . . . . 138 II. Adornos Begriff des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 a. Klassifikatorischer und emphatischer Begriff . . . . . . . 149 b. Die Objektivität des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Exkurs: Metakritik der Kritik des identifizierenden Denkens bei Habermas und Wellmer . . . . . . . . . 156 c. Kritik des identifizierenden Denkens . . . . . . . . . . . . 161 III. Das Nichtidentische in der negativen Dialektik . . . . . . . . 167 Abschließende Reflexion: negative Dialektik vs. hegelsche Dialektik 171

Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung . . . . . . . . . . . . 183 1. Exposition: Elemente einer Theorie der geistigen Erfahrung . . . 183 I. Von der Erkenntnistheorie zur Theorie der geistigen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 a. Erkenntnistheorie und Gesellschaftstheorie . . . . . . . . 187 b. Der Standpunkt der kritischen Theorie . . . . . . . . . . . 194 c. Vom Idealismus zum Materialismus . . . . . . . . . . . . . 199 II. Der Begriff der geistigen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . 202 a. Erkenntnis und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 b. Erfahrung und Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 2. Durchführung: Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 III. Bedingungen der Möglichkeit I: Subjekt der Erfahrung . . . 216 a. Das beschädigte Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 b. Das unglückliche Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . 221 IV. Bedingungen der Möglichkeit II: Subjekt-Objekt-Dialektik 227 a. Der Prozess zwischen Kant und Hegel I: Idee der Andersheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 b. Der Prozess zwischen Kant und Hegel II: Vorrang des Objekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 c. Mimesis und Leib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 3. Reprise: Elemente einer materialistischen Theorie des Geistes . . 251 Erster Einschub: Übergang zum Materialismus . . . . . . 251 V. Geist und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 a. Adornos Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . 255

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Inhaltsverzeichnis

XI

b. Leid und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 c. Negativität und Autonomie. Zur Substantialität des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 VI. Negative Dialektik als geistige Erfahrung . . . . . . . . . . . 276 Zweiter Einschub: Der Vorwurf des Elitismus . . . . . . . 282 Dritter Einschub: Die Frage des Standpunkts . . . . . . . 283

Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 1. Weltgeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 I. Geschichte und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 a. Geschichte als Weltgeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 b. Negativität und Objektivität der Geschichte . . . . . . . . 293 II. Zur Kritik der hegelschen Geschichtsphilosophie . . . . . . 296 a. Probleme der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 b. Weltgeist und faule Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 c. Die Unvernunft in der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . 309 III. Der Weltgeist als Bann und Universalgeschichte . . . . . . . 317 a. Die subjektive Gestalt des Weltgeistes: der Bann . . . . . 317 b. Kontinuität und Diskontinuität: der Weltgeist als Universalgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 2. Naturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 I. Die Naturwüchsigkeit der Geschichte . . . . . . . . . . . . . 327 a. Vom Weltgeist zur Naturgeschichte . . . . . . . . . . . . . 328 b. Naturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 II. Negativität und Utopie II: negative Dialektik als Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 a. Utopie und Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 b. Dimensionen des Utopischen: von der Stillung des Hungers bis zur Abschaffung des Todes . . . . . . . . 346 III. Geschichte und Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 a. Die Transmutation von Metaphysik in Geschichte . . . . 353 b. Die Konvergenz von Materialismus und Metaphysik . . . 358 3. Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 I. Die Reichweite der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 a. Kommunikative oder emphatische Vernunft? . . . . . . . 372 b. Glauben und Wissen bei Habermas und Adorno . . . . . 379 c. Metaphysische Erfahrung als Stellung des Gedankens zur Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384

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XII

Inhaltsverzeichnis

II. Die Achsendrehung der Kopernikanischen Wende . . . . . . 391 a. Der sonderbare Gerichtshof der reinen Vernunft: Ambivalenzen des kantschen Blocks . . . . . . . . . . . . 392 b. Das Offene: Selbstreflexion des Geistes als Anamnesis ans Naturhafte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 c. Das Intelligible: Selbstnegation des endlichen Geistes . . 401 III. An den Grenzen der Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 a. Entmythologisierung und Metaphysik . . . . . . . . . . . 409 b. Der ontologische Gottesbeweis . . . . . . . . . . . . . . . 415 c. Negative Dialektik und das Absolute . . . . . . . . . . . . 421

Schlussbetrachtung:  philosophia ultima . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Schriften von Adorno und Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461

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Einleitung

Die Frage nach der Dialektik Das allgemeinste Vorhaben Adornos ist dies: eine Selbstkritik der Philosophie durchzuführen, die ihr die Kraft zurückgibt, die sie bei Hegel bloß um den Preis ihrer Unwahrheit hatte; ihre Zeit in Gedanken zu erfassen, das Zeitalter der Extreme, der Genozide, der Weltkriege, der atomaren Hochrüstung auf den Begriff zu bringen. In anderen Worten: Eine Philosophie zu formulieren, die die Erfahrungen von Auschwitz und GULAG, Senfgas und Agent Orange, Little Boy und Fat Man in ihren Begriff aufnimmt, ohne sie im Begriff zu ver‑ söhnen, aber auch ohne darüber zu zerbrechen, eine Philosophie also, die ange‑ sichts der objektiven Unvernunft der Realität an der Möglichkeit der Vernunft festhält, mithin eine Ontologie des falschen Zustands. Dem ist nur ein unver‑ söhnlicher Negativismus gewachsen, der ebenso intransigent an der Utopie festhält und in ihr die Hoffnung bewahrt, es könne alles anders werden. Eine solche Bewegung durch die Extreme hindurch, ohne dass sich eine Synthese ergäbe, ist aber das, was bei Adorno negative Dialektik heißt. Adorno so zu verstehen, heißt den Anspruch ernst zu nehmen, mit dem die Idee einer negativen Dialektik auftritt. Wer diesen Anspruch nicht in seiner vol‑ len Breite ins Auge fasst, der droht, mag er auch noch so fruchtbare Resultate vorbringen, das philosophische Projekt Adornos zu verkürzen. Zwei Extrem‑ positionen mögen dies verdeutlichen: Liest man Adornos negative Dialektik als Grundlagenreflexion einer kritischen Theorie der Gesellschaft, so geht der im engeren Sinne philosophische, nämlich vernunftkritische Gehalt der negativen Dialektik verloren. Am anderen Ende stehen Versuche, diesen vernunftkriti‑ schen Gehalt zu rekonstruieren, die alle mehr oder minder explizit die gesell‑ schaftstheoretischen, geschichtsphilosophischen und metaphysischen Gehalte der Dialektik Adornos ausgrenzen. Dazwischen gibt es mannigfaltige Abstu‑ fungen; die Rezeptionslandschaft hat sich spätestens seit dem Jubiläumsjahr 2003 in einem solchen Maße diversifiziert, dass man kaum mehr von bestim‑ menden Interpretationslinien sprechen kann. Was bestimmt werden kann, ist einzig ein Negatives, eine Lehrstelle in der Rezeption: das Konzept der negati‑ ven Dialektik. Zu diesem Schluss kommt Richard Klein in einem Überblick über die Rezep‑ tionsgeschichte Adornos. Einer Arbeit von Thomas Rentsch1 attestiert er eine 1 

Rentsch, Thomas: „Vermittlung als permanente Negativität. Der Wahrheitsanspruch der

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Einleitung:  Die Frage nach der Dialektik

„erhöht[e] Aufmerksamkeit für die spezielle Struktur Adornoscher Dialektik“; das sei auffällig, „weil es irritierend wenige Arbeiten gibt, die sich damit be‑ schäftigen“.2 Gewiss, neben den von Klein selbst genannten Ausnahmen – Mau‑ ro Bozzetti, Christian Iber und Jürgen Ritsert3 – wären noch andere Autoren zu nennen, die dem Dialektikbegriff Adornos einige Aufmerksamkeit schen‑ ken.4 Dennoch trifft Klein einen wunden Punkt, wenn er bemerkt, dass die „Grundprobleme“ von Adornos Dialektik „bis heute auch nicht annähernd auf‑ gearbeitet sind“.5 Diese Probleme wurden schon früh erkannt, wie Klein mit Verweis auf Dieter Henrichs Rezension der Negativen Dialektik und einen Ar‑ tikel von Ilse Müller‑Strömsdörfer meint. 6 Auch wenn man sich nicht an Kleins ‚Negativen Dialektik‘ auf der Folie von Adornos Hegelkritik“, in: Menke, Christoph und Seel, Martin (Hgg.): Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter, Frankfurt a. M. 1993, S.  84–102 (= Vermittlung). 2  Klein, Richard: „Deutschland II: Philosophische plus politische Resonanz“, in: Klein, Richard, Kreuzer, Johann und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, S.  435–445, hier S.  4 42. 3  Bozzetti, Mauro: Hegel und Adorno. Die kritische Funktion des philosophischen Systems, Freiburg/München 1996 (= Hegel und Adorno); Iber, Christian: „Begriff und Kategorien negativer Dialektik bei Adorno“, in: Benseler, David und Jubara, Annett (Hgg.): Dialektik und Differenz. Festschrift für Milan Prucha, Wiesbaden 2001, S.  73–89; Ritsert, Jürgen: „Me‑ thode“, in: Klein, Richard, Kreuzer, Johann und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, S.  223–232. 4  Wesche, Tilo: „Negative Dialektik: Kritik an Hegel“, in: Klein, Richard, Kreuzer, Jo‑ hann und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, S.  317–325; Angehrn, Emil: „Kritik und Versöhnung. Zur Konstella‑ tion Negativer Dialektik bei Adorno“, in: Kohler, Georg und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2008, S.  267–291 (= Kritik und Versöhnung); O’Connor, Brian: „Ador‑ no’s Reconception of the Dialectic“, in: Houlgate, Stephen und Baur, Michael (Hgg.): A Companion to Hegel, Malden, MA/Oxford/Chichester 2011, S.  537–555; ders.: Adorno’s Negative Dialectic. Philosophy and the Possibility of Critical Rationality, Cambridge, Massachusetts/ London 2004 (= Adorno’s Negative Dialectic); ders.: „The Concept Of Mediation In Hegel And Adorno“, Bulletin of the Hegel Society of Great Britain, H. 39/40 (1999), S.  84–96; Jame‑ son, Fredric: Late Marxism. Adorno or the Persistence of the Dialectic, London/New York 2007 (= Late Marxism); Bernstein, J. M.: „Negative Dialektik. Begriff und Kategorien III. Adorno zwischen Kant und Hegel“, in: Honneth, Axel und Menke, Christoph (Hgg.): Negative Dialektik, Berlin 2006, S.  89–118 (= Begriff und Kategorien III); ders.: „Negative Dia‑ lectic as Fate. Adorno and Hegel“, in: Huhn, Tom (Hg.): The Cambridge Companion to Adorno, Cambridge 2004, S.  19–50; Ziermann, Christoph: „Dialektik und Metaphysik bei Marx und Adorno“, in: Ette, Wolfram u. a. (Hgg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens, Freiburg 2004, S.  24–56; Müller, Stefan: Logik, Widerspruch und Vermittlung. Aspekte der Dialektik in den Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011 (= Logik, Widerspruch, Vermittlung). 5  Klein: „Deutschland II: Philosophische plus politische Resonanz“, S.  4 43. 6  Henrich, Dieter: „Diagnose der Gegenwart. Definition der kritischen Theorie – Theodor W. Adorno: ‚Negative Dialektik‘“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, (10.10.1967) (= Diagnose der Gegenwart); Müller-Strömsdörfer, Ilse: „Die helfende Kraft bestimmter Negation. Zum Werke Th. W. Adornos“, Philosophische Rundschau, 8. Jg./H. 2/3 (1960), S.  81–104 (= Die helfende Kraft bestimmter Negation).

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1.  Zur Rezeptionsgeschichte negativer Dialektik

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Katalog von Grundproblemen halten will – „Dialektik der Methode vs. Dialek‑ tik der Realität, die Wiederkehr von Dualismen bei der ‚Rettung‘ des Besonde‑ ren, das Insistieren auf und das Abbrechen von Vermittlung, die Idee eines ‚En‑ des‘ von Dialektik bei gleichzeitiger Steigerung dialektischer Reflexionsansprü‑ che“7 –, so muss man doch konstatieren, dass bis heute weder eine umfassende Rekonstruktion des Konzepts einer negativen Dialektik vorliegt, noch die He‑ gelkritik Adornos systematisch aufgearbeitet ist. Das ist umso erstaunlicher, insofern Henrich und Müller‑Strömsdörfer in der Tat den Boden zu dieser Auseinandersetzung bereitgestellt haben; zumal der sechs Jahre vor der Negativen Dialektik erschienene Aufsatz von Müller‑Strömsdörfer bestimmt mit be‑ merkenswerter Schärfe Probleme der adornoschen Dialektikkonzeption, deren insistente Behandlung bis ins Innerste des Konzepts einer negativen Dialektik führen würde.

1.  Zur Rezeptionsgeschichte negativer Dialektik Dass das zentrale und zugleich dem philosophischen Hauptwerk den Titel ge‑ bende Motiv von Adornos gesamtem Denken bis heute nicht aufgearbeitet ist, gehört mit zum Befremdlichsten in der Rezeptionsgeschichte von Adornos Werk. Erklären lässt sich das nur im Hinblick auf bestimmte Dynamiken in der Rezeptionsgeschichte, die zu einer mehr oder minder systematischen Ver‑ drängung der Frage nach der Dialektik geführt haben. So mag ein Gang durch die Rezeptionsgeschichte die Schatten aufdecken, die offenbar immer noch über Adornos Konzept einer negativen Dialektik liegen; positives Resultat die‑ ses Ganges wäre die Bestimmung derjenigen interpretatorischen Vorentschei‑ dungen, derer sich die Frage nach Adornos spezifischer Gestalt von Dialektik zu entschlagen hätte. Dabei kann kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden; selbst in der Einschränkung auf das Problem der Dialektik ist die Se‑ kundärliteratur mittlerweile so voluminös geworden, dass im Folgenden nur wenige Linien skizziert werden können. Ich orientiere mich im Wesentlichen am verdienstvollen Überblick von Klein, werde aber einzelne Momente detail‑ lierter behandeln, da sie für die Frage nach der negativen Dialektik bestim‑ mend geworden sind und generelle Probleme verkörpern. Drei Etappen der Rezeptionsgeschichte sollen im Folgenden abgehandelt werden: Die Funda‑ mentalkritik von Jürgen Habermas im Rahmen der kommunikativen Wende (I); die Frankfurter Adorno-Konferenz 1983 (II); das Jubiläumsjahr 2003, ins‑ besondere die Frankfurter Adorno-Konferenz 2003 und die anschließende Aufnahme der Negativen Dialektik in das Pantheon philosophischer Klassiker (III). Im Anschluss an diese Etappen der Rezeptionsgeschichte lassen sich in‑ 7 

Klein: „Deutschland II: Philosophische plus politische Resonanz“, S.  4 43.

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Einleitung:  Die Frage nach der Dialektik

terpretatorische Leitlinien formulieren, die in der jüngsten Rezeption bestim‑ mend geworden sind (IV).

I.  Die kommunikationstheoretische Auflösung der Dialektik bei Habermas Die 70er Jahre bildeten für die Rezeption Adornos einen denkbar ungünstigen Boden, da sein Werk größtenteils nicht nach inhaltlichen Gesichtspunkten, son‑ dern nach politischen und psychologischen Vorurteilen beurteilt wurde. Die Kritik beschränkte sich auf den „Praxisverweigerer“, der Kritik übt, aber keine Konsequenzen ziehen will; berühmt und berüchtigt ist in diesem Zusammen‑ hang die von Adorno angeordnete polizeiliche Räumung des Instituts für Sozi‑ alforschung. Das „empirische Verhalten“, so Klein, diente in Folge „als Beleg für das Scheitern seines Denkens insgesamt“.8 Eine insistente Beschäftigung mit den Texten hätte freilich diese Klischees schnell beseitigen können; folgen‑ schwer aber war, dass die sich wechselseitig stützenden Vorwürfe des Verwei‑ gerns in der Praxis und des Scheiterns in der Theorie durch Habermas bald in eine „amtliche Form“ gegossen wurden.9 Wer auf das Verhältnis von Adorno und Habermas mit kritischer Intention eingeht, sei diese Intention gegen Adorno oder gegen Habermas gerichtet, be‑ gibt sich in vermintes Gelände. „Pampige Gegenreaktionen“, die sich etwa in den 80er Jahren erhoben und „Habermas kurzerhand das Recht bestritten, im Namen der Kritischen Theorie zu sprechen“,10 sind deshalb tunlichst zu ver‑ meiden. Die Kritik an Habermas hat sich auf eine Metakritik seiner Adornokri‑ tik zu beschränken. Dabei wird man mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass Habermas selbst nicht getrennt hat zwischen der Kritik anderer Positionen und der Formulierung einer eigenen kritischen Gesellschaftstheorie. Die Adorno‑ kritik von Habermas, und das ist vielleicht der größte Vorwurf, den man ihm machen kann, hat meist nur dazu gedient, sein eigenes Werk einerseits zu for‑ mulieren, es aber andererseits auch als notwendigen Fortschritt über Adorno und gar als bewahrende Aufhebung der adornoschen Philosophie zu profilie‑ ren. Eine Metakritik von Habermas’ Adornokritik muss deshalb das Moment der Kritik und das Moment der Entwicklung der eigenen Theorie stärker tren‑ nen; in allem Folgenden steht deshalb, wenn es um Habermas geht, bloß zwei‑ erlei zur Debatte: 1) die Adornokritik als solche; 2) deren Anspruch, die Prob‑ leme Adornos aufgehoben und gelöst zu haben. Nicht in Frage gestellt wird die habermassche Theorie als solche; weder ihre Konsistenz noch ihr Status als Weiterentwicklung der Kritischen Theorie stehen zur Debatte. Die von Haber‑ 8 

Ebd., S.  437.

9 Ebd. 10 

Ebd., S.  438.

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1.  Zur Rezeptionsgeschichte negativer Dialektik

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mas geübte Kritik ist insofern problematisch, als sie nicht bloß gesellschaftsthe‑ oretische Mängel Adornos zu beheben suchte, sondern auch dasjenige an Ador‑ nos Werk, was nicht unmittelbar in der Gesellschaftstheorie aufging, mithin Adornos Philosophie im engeren Sinne, gleichsam als Anhängsel mit in den Orkus gestürzt hat. Damit hat Habermas, wie Klein es treffend ausdrückt, „der Adornoschen Philosophie neben sinnvoller und angemessener Kritik einen nicht geringen Schaden zugefügt“.11 Dieser Schaden soll in der folgenden Skizze der Adornokritik von Habermas im Mittelpunkt stehen; in dieser Metakritik möchte ich mich auf allgemeine Gesichtspunkte stützen und die konkreten Vorwürfe von Habermas erst in der Behandlung der Philosophie Adornos an den Stellen ansprechen, auf die sich die Vorwürfe beziehen. Der durch Habermas verursachte Schaden besteht im weitesten Sinn darin, dass das von Habermas entworfene Bild von vielen Interpreten als verbindlich angesehen wurde und einen gleichsam kanonischen Status gewonnen hat.12 Selbst wer in Folge nicht von den habermasschen Lösungen überzeugt war, musste sich von ihm immerhin die Problemstellung vorgeben lassen. Nach Ha‑ bermas galt es für ausgemacht, dass Adornos Philosophie aporetisch ist; ihr „Scheitern“ – Adorno bezeichnete das Wort als „Lieblingswort aller Diado‑ chen“13 – wurde in der Rezeption nicht erwiesen, sondern schlicht vorausge‑ setzt. Der kanonische Status der habermasschen Kritik ist umso erstaunlicher, als ihre Schwächen deutlich hervorstehen. Drei Momente mögen das belegen: a) Habermas formuliert eine Standpunktkritik. Wie Anke Thyen überzeugend dargelegt hat, folgt Habermas in seiner Kritik einem theoriestrategischen Inte‑ resse: Damit die Theorie kommunikativen Handelns als Ausweg aus den Apori‑ en Adornos inszeniert werden kann, ist es notwendig, Adornos Philosophie als aporetische zu konstruieren.14 Dieses Verfahren ist einer adäquaten Rezeption Adornos freilich nicht zuträglich. b) Wirklich problematisch wird die Kritik erst, wenn sie über die Grenzen der Textbasis, an der sie entwickelt wurde, aus‑ gedehnt wird. Habermas kritisiert die Dialektik der Aufklärung und verwirft auf dieser Grundlage die Negative Dialektik; wer Das Kapital verwirft, weil er Aporien im Manifest der Kommunistischen Partei feststellt, würde als Marxkri‑ tiker schwerlich ernst genommen werden. c) Bereits darin drückt sich ein über‑ spannter Anspruch der Kritik aus: Habermas gibt sich nicht damit zufrieden, die Gesellschaftstheorie Adornos gravierender Mängel zu überführen, sondern glaubt, mit der Gesellschaftstheorie auch Adornos gesamte Philosophie erledigt 11 

Ebd., S.  437. Ebd., S.  438; O’Connor: Adorno’s Negative Dialectic, S.  165; Hullot-Kentor, Ro‑ bert: „Back to Adorno“, in: ders.: Things Beyond Resemblance. Collected Essays on Theodor W. Adorno, New York 2006, S.  23–44, hier S.  24. 13 Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien, GS 5, S.  7–245, hier S.  234 (= Metakritik der Erkenntnistheorie). 14  Thyen, Anke: Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des Nichtidentischen bei Adorno, Frankfurt a. M. 1989, S.  259 ff. (= Negative Dialektik und Erfahrung). 12  Vgl.

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Einleitung:  Die Frage nach der Dialektik

zu haben. Während die Kritik als Kritik der Gesellschaftstheorie Adornos kon‑ zipiert ist und als solche gegen Adornos Gesellschaftstheorie durchaus gewich‑ tige Einwände macht, gerät sie in ihrer Ausdehnung auf das gesamte Denken Adornos schief. Die Auswirkungen eines solchen Verfahrens zeigen sich erst in einem chro‑ nologischen Gang durch die Adornokritik von Habermas. Während die vor der kommunikativen Wende geschriebenen Texte Adorno zwar noch überaus wohlwollend behandeln, zeigt sich die in Anbetracht unserer Leitfrage viel‑ leicht folgenschwerste Verzerrung der adornoschen Philosophie – die Verdrän‑ gung der Dialektik – bereits im Nachruf auf Adorno, den Habermas unter dem Titel „Urgeschichte der Subjektivität und verwilderte Selbstbehauptung“ in die Sammlung Philosophisch-Politische Profile aufgenommen hat; Rolf Tiedemann bemerkt, dass hier bereits der Versuch beginnt, „negative Dialektik zu überwin‑ den“.15 So nimmt Habermas, der sich hier im Unterschied zu den späteren Tex‑ ten noch inhaltlich mit der Negativen Dialektik befasst, in diesem Text folgende Interpretation des Zentralbegriffs von Adornos späterer Philosophie – des Nichtidentischen – vor: Nun aber steht Nichtidentität für alles, ‚was an Wahrheit durch die Begriffe über ihren abstrakten Umfang hinaus getroffen wird . . . Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Be‑ griffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.‘ Damit ist die von He‑ gel einst entfaltete Dialektik des Allgemeinen und des Besonderen aufgenommen. Sie ist am Modell der umgangssprachlichen Kommunikation gewonnen worden und kann da‑ ran auch plausibel gemacht werden.16

Die Behauptung, die Dialektik des Allgemeinen und Besonderen sei am Modell der umgangssprachlichen Kommunikation gewonnen, ist für die ganze folgen‑ de Kritik von tragender Bedeutung. Sie erlaubt es Habermas, Dialektik kom‑ munikationstheoretisch aufzulösen und zugleich das Nichtidentische mit dem Individuellen kurzzuschließen, wie es im Anschluss auch gleich geschieht: Sobald aber Subjekte miteinander (und nicht nur über objektivierte Sachverhalte) spre‑ chen, treten sie sich mit dem Anspruch gegenüber, als unvertretbare Individuen in ihrer absoluten Bestimmtheit anerkannt zu werden. Diese Anerkennung verlangt die parado‑ xe Leistung, mit Hilfe prinzipiell allgemeiner Bestimmungen und gleichsam durch diese hindurch, die volle Konkretion desjenigen, der mit diesen Allgemeinheiten gerade nicht identisch ist, zu fassen. Dieses Moment Nichtidentität in den unvermeidlichen Identifi‑

15  Vgl. Tiedemann, Rolf: „Begriff, Bild, Name. Über Adornos Utopie der Erkenntnis“, in: Theodor W. Adorno Archiv (Hg.): Frankfurter Adorno Blätter 2, München 1993, S.  92–111, hier S.  96. 16  Habermas, Jürgen: „Urgeschichte der Subjektivität und verwilderte Selbstbehauptung“, in: ders.: Philosophisch-Politische Profile. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1987, S.  167– 179, hier S.  173; das Zitat im Zitat stammt aus: Adorno: Negative Dialektik, GS 6, S.  7–412, hier S.  21.

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1.  Zur Rezeptionsgeschichte negativer Dialektik

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zierungen wendet Adorno gegen den Zwang der formalen Logik, welche das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem undialektisch bestimmen muss.17

Das Nichtidentische ist jetzt nicht mehr als das jeweils Individuelle der Person; diese Verkürzung erlaubt Habermas später die Behauptung, im kommunikati‑ ven Paradigma sei das von Adorno intendierte Nichtidentische aufgehoben.18 Zugleich hat Habermas stillschweigend die adornosche Philosophie entdialekti‑ siert. Paradigmatisch für die spätere Kritik von Habermas ist die konsequente Ent‑ dialektisierung, die Umpolung dialektischer Subjekt-Objekt-Beziehungen in dialogische Subjekt-Subjekt-Strukturen. Nun aber geschieht das nicht mehr im Sinne einer Interpretation Adornos, sondern unter dem Aspekt einer notwendi‑ ge Korrektur an Adorno. Bereits zwei Jahre später bemerkt Habermas in einem Text, der die gegenwärtige Lage der Philosophie bestimmt: „Adorno hinterläßt ein chaotisches Gelände.“19 Mit dieser Feststellung wird zugleich der Anspruch erhoben, das Chaos aufzuräumen und Adorno zu verbessern. In der Theorie des kommunikativen Handelns wird mit diesem Anspruch ernst gemacht; nicht weniger soll gezeigt werden, als dass das in der Dialektik der Aufklärung entfaltete Programm „nicht an diesem oder jenem Zufall, son‑ dern an der Erschöpfung des Paradigmas der Bewußtseinsphilosophie geschei‑ tert ist.“,20 mithin dass es ohne den Wechsel zum Paradigma kommunikativen Handelns nicht gerettet werden kann. Problematisch wird dieser Ansatz erst, wenn die Kritik auf die Negative Dialektik Adornos ausgeweitet wird. Haber‑ mas zitiert denselben Satz aus der Negativen Dialektik, den er bereits in seinem Nachruf auf Adorno kommunikationstheoretisch interpretiert hatte; hier aber begnügt er sich nicht mehr mit einer der eigenen Agenda gemäßen Interpretati‑ on; vielmehr landet gleich die ganze Negative Dialektik auf dem Müllhaufen der indiskutablen Werke: „Wie Adorno diesen programmatischen Gedanken als ‚Negative Dialektik‘ durchführt, oder besser: in seiner Undurchführbarkeit vorführt, brauche ich an dieser Stelle nicht zu diskutieren.“21 Warum Habermas die Negative Dialektik nicht zu diskutieren braucht, wird im Verlauf der Inter‑ pretation klar: Er schließt aus einer in der Dialektik der Aufklärung gefundenen Aporie, nämlich der einer totalisierten Vernunftkritik, auf die Aporetik der Negativen Dialektik. Indem er so Dialektik der Aufklärung und Negative Dialektik unmittelbar kurzschließt, kanonisiert er nur eine bereits verbreitete Inter‑ 17 

Habermas: „Urgeschichte der Subjektivität und verwilderte Selbstbehauptung“, S.  173 f. Vgl. etwa: Habermas, Jürgen: „Motive nachmetaphysischen Denkens“, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1992, S.  35–60, hier S.  57. 19  Habermas, Jürgen: „Einleitung: Wozu noch Philosophie?“, in: ders.: Philosophisch-Politische Profile. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1987, S.  15–37, hier S.  15. 20  Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1981, S.  517. 21  Ebd., S.  498. 18 

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Einleitung:  Die Frage nach der Dialektik

pretationspraxis: „Auch nicht in Ansätzen ist die Differenz der Negativen Dialektik zur Dialektik der Aufklärung präsent, durchweg trägt diese das Stigma des ‚schwarzen‘ Buches.“, meint Klein zu den Rezeptionsversuchen der 70er Jahre.22 Die Gewalt der habermasschen Kanonisierung lässt sich ermessen, wenn wir uns Thyens Studie über die Negative Dialektik ansehen. Obwohl Ha‑ bermas für die bruchlose Identifikation von Dialektik der Aufklärung und Negativer Dialektik keine Argumente liefert, fühlt sich Thyen zu einem umständ‑ lichen Nachweis verpflichtet, dass es möglich ist, „die ‚Negative Dialektik‘ sys‑ tematisch von der ‚Dialektik der Aufklärung‘ abzukoppeln“.23 Was für die Kanonisierung dieser These gilt, lässt sich auch von anderen The‑ sen behaupten, die aus der Identifikation der Negativen Dialektik mit der Dialektik der Aufklärung folgen; es entsteht ein Bild, das der Komplexität von Adornos Denken an keiner Stelle gerecht wird, das aber durch unkritische Re‑ produktion ein derartiges Eigengewicht erhält, dass sich, wenn nicht das ganze Bild, so doch einzelne Fragmente hartnäckig halten. So folgt aus der vermeint‑ lichen Aporetik der Dialektik der Aufklärung die Herabsetzung der Negativen Dialektik zum Exerzitium (a): „Die ‚Negative Dialektik‘ ist nurmehr als ein Exerzitium, eine Übung, zu verstehen. Indem sie dialektisches Denken noch einmal reflektiert, führt sie vor, was man nur so zu Gesicht bekommt: die Apo‑ retik des Begriffs des Nicht-Identischen.“24 Damit ist der Praxis der Weg ge‑ bahnt, über die Negative Dialektik zu urteilen, ohne sich inhaltlich mit dem Werk zu befassen, zumindest aber die Interpretation des Werkes unter die Prä‑ misse zu stellen, dass das darin verfolgte Programm scheitern muss. Die voraus‑ gesetzte Aporetik der Negativen Dialektik und ihr Scheitern ebnen den Weg für die Kanonisierung einer weiteren These, nach der die Negative Dialektik den Übergang in die Ästhetische Theorie notwendig mache (b): Die Ästhetische Theorie, so Habermas, „besiegelt dann die Abtretung der Erkenntnis-Kompeten‑ zen an die Kunst, in der das mimetische Vermögen objektive Gestalt gewinnt. Adorno zieht den theoretischen Anspruch ein: Negative Dialektik und Ästheti‑ sche Theorie können nur noch ‚hilflos aufeinander verweisen‘“.25 Habermas beruft sich an dieser Stelle auf einen Aufsatz von Thomas Baumeister und Jens Kulenkampff, in dem erstmals die These formuliert wird, Adorno flüchte aus den Aporien der Philosophie, „indem er die Philosophie „ästhetisch werden läßt“.26 Wenig später greift Rüdiger Bubner die These der „Auswanderung der Theorie in Ästhetik“27 auf. Bemerkenswert ist bei beiden Texten, dass die absur‑ 22 

Klein: „Deutschland II: Philosophische plus politische Resonanz“, S.  437. Negative Dialektik und Erfahrung, S.  14; vgl. auch S.  65 ff. 24 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, S.  515. 25  Ebd., S.  514 f. 26  Baumeister, Thomas und Kulenkampff, Jens: „Geschichtsphilosophie und philosophi‑ sche Ästhetik. Zu Adornos ‚Ästhetischer Theorie‘“, Neue Hefte für Philosophie, H. 5 (1973), S.  74–104, hier S.  104. 27  Bubner, Rüdiger: „Kann Theorie ästhetisch werden? Zum Hauptmotiv der Philosophie 23 Thyen:

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de Schlussfolgerung gleichsam als Sprung von der Dialektik der Aufklärung zur Ästhetischen Theorie erfolgt; beide Male wird die philosophische Problema‑ tik von der Dialektik der Aufklärung her konstruiert, 28 während die Negative Dialektik zur Durchgangsstation auf dem Weg der Ästhetisierung der Theorie herabgesetzt wird. Dass Adorno in der Einleitung der Negativen Dialektik, die in beiden Texten zitiert wird, 29 der Philosophie „Anleihen“ bei der Kunst expli‑ zit untersagt,30 wird beflissentlich übersehen. In der Behauptung, die gedankliche Bewegung der Negativen Dialektik münde in die Ästhetische Theorie, liegt eine weitere These, die in der Theorie des kommunikativen Handelns in Ansätzen präsent ist, aber erst später in ihrer radikalen Fassung verkündet wird: Der Übergang in die Ästhetik markiert die „Abkehr vom Ziel theoretischer Erkenntnis“ und dadurch gerät „Adornos Ein‑ gedenken der Natur in schockierende Nähe zum Andenken des Seins“.31 Wäh‑ rend Habermas es in der Theorie des kommunikativen Handelns dabei belässt, die Nähe zu Heidegger bloß zu registrieren, wird die Kritik ab Der philosophische Diskurs der Moderne verschärft und zu immer fragwürdigeren Vorwürfen gesteigert. Zunächst wiederholt er in der Adorno und Horkheimer gewidmeten Vorlesung nochmals dieselben Vorwürfe: Die Dialektik der Aufklärung manö‑ vriere sich in den „performativen Widerspruc[h] der totalisierten Kritik“; die Negative Dialektik sei nur noch „die fortgesetzte Erklärung dafür, warum wir in diesem performativen Widerspruch kreisen müssen, ja verharren sollen“; da‑ für spreche „auch die Architektonik der Adornoschen Spätphilosophie, in der Negative Dialektik und Ästhetische Theorie sich gegenseitig stützen – die eine, die den paradoxen Begriff des Nicht-Identischen entfaltet, verweist auf die an‑ dere, die den in den avancierten Kunstwerken vermummten mimetischen Ge‑ halt dechiffriert“.32 Soweit nichts Neues; später im Buch, beinahe versteckt, wird Adornos Negative Dialektik zusammen mit Foucault und Derrida zu den Theorien gezählt, die den Gattungsunterschied zwischen Philosophie und Lite‑ ratur verwischen: „Sie lassen sich weder der Philosophie oder der Wissenschaft, noch der Moral- und Rechtstheorie, noch der Literatur und Kunst eindeutig Adornos“, in: Lindner, Burkhardt und Lüdke, W. Martin (Hgg.): Materialien zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos. Konstruktion der Moderne, Frankfurt a. M. 1980, S.  108–137, hier S.  131. 28 Baumeister/Kulenkampff: „Geschichtsphilosophie und philosophische Ästhetik. Zu Adornos ‚Ästhetischer Theorie‘“, S.  78 ff.; Bubner: „Kann Theorie ästhetisch werden? Zum Hauptmotiv der Philosophie Adornos“, S.  115 ff. 29 Baumeister/Kulenkampff: „Geschichtsphilosophie und philosophische Ästhetik. Zu Adornos ‚Ästhetischer Theorie‘“, S.  98; Bubner: „Kann Theorie ästhetisch werden? Zum Hauptmotiv der Philosophie Adornos“, S.  119. 30 Adorno: Negative Dialektik, S.  26 f. 31 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, S.  516. 32  Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frank‑ furt a. M. 1988, S.  144 ff. (= Der philosophische Diskurs der Moderne).

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zuordnen.“33 Das lässt sich angeblich an den Begriffen festmachen: „Mit den leerformelhaft eingesetzten Gegenbegriffen von Sein und Souveränität, Macht, Differenz und Nicht-Identischem verweist diese Kritik gewiß auf ästhetische Erfahrungsgehalte.“34 In einem 1988 veröffentlichten Aufsatz schließlich wird der Vorwurf noch weiter getrieben, indem die Negative Dialektik nun endgül‑ tig des Irrationalismus bezichtigt wird (c): Als letzte Ausflucht blieb die Wendung ins Irrationale. In dieser Gestalt sollte Philoso‑ phie ihr Eigentum und ihren Bezug zur Totalität um den Preis des Verzichts auf konkur‑ renzfähige Erkenntnis sichern. Sie trat auf als Existenzerhellung und philosophischer Glaube (Jaspers), als ein die Wissenschaften ergänzender Mythos (Kolakowski), als mystisches Seinsdenken (Heidegger), als therapeutische Sprachbehandlung (Wittgen‑ stein), dekonstruierende Tätigkeit (Derrida) oder Negative Dialektik (Adorno).35

Damit hat die habermassche Adornokritik ihren Scheitelpunkt erreicht; spätere Texte fügen dem von Habermas entworfenen Adornobild nichts mehr hinzu. Es ist ein Bild, das, bezogen auf die Leitfrage nach dem Konzept einer negativen Dialektik, denkbar ungünstig ist: Die Negative Dialektik ist nur ein Exerziti‑ um, das die Aporetik des Nichtidentischen vorführt (a); das nötigt zum Über‑ gang in die Ästhetik, mithin zur Ästhetisierung der Theorie (b); mit der Abkehr vom Ziel theoretischer Erkenntnis vollzieht Adorno die Wende zum Irrationa‑ lismus (c). In diesem Bild kommt negative Dialektik der Sache nach nicht vor und die Negative Dialektik, die wichtigste Grundlage für die Frage nach Ador‑ nos Dialektikverständnis, kann überhaupt nicht zur Sprache kommen. Zu nennen wäre noch ein Text, der in denselben Zeitraum gehört, der zwar dem skizzierten Adornobild nichts Neues hinzufügt, es aber erlaubt, dieses Bild in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Die Rede ist vom äußerst tendenziösen Nachwort, das Habermas für eine Neuausgabe der Dialektik der Aufklärung im Jahre 1986 verfasst hat.36 Robert Hullot‑Kentor hat in einer scharf formulierten Kritik dargelegt, wie Habermas hier systematisch versucht, alle radikalen Thesen der Dialektik der Aufklärung Adorno in die Schuhe zu schieben und Horkheimer als den differenzierteren, aber vom pessimistischen Ästhetiker Adorno gleichsam übertölpelten Mitautoren zu vindizieren. Die Be‑ weislage ist freilich äußerst dünn; ein Umstand, den Habermas indirekt einge‑ steht, wenn er auf persönliche Gespräche zurückgreift und gleichzeitig an das Einverständnis des sorgfältigen Lesers appelliert: „Aber Gretel Adorno hat mir seinerzeit die Vermutung bestätigt, die sich dem sorgfältigen Leser ohnehin auf‑ drängt: daß der Titelessay und das Sade-Kapitel überwiegend auf Horkheimer, 33 

Ebd., S.  390. Ebd., S.  391. 35  Habermas: „Motive nachmetaphysischen Denkens“, S.  45. 36  Habermas, Jürgen: „Nachwort von Jürgen Habermas“, in: Adorno, Theodor W. und Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Mit einem Nachwort von Jürgen Habermas, Frankfurt a. M. 1986, S.  277–294. 34 

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die Kapitel über Odysseus und die Kulturindustrie in erster Linie auf Adorno zurückgehen.“37 Die Einsichten, die Habermas daraus keltert, leiden nicht dar‑ an, dass die jeweilige Zuweisung der Autorschaft nicht zutreffen würde; Mül‑ ler‑Doohm hat sie weitgehend bestätigt – einzig der Titelessay sei nicht, wie Habermas meint, von Horkheimer, sondern „gemeinsam diktiert“.38 Das Prob‑ lem liegt vielmehr, wie Hullot‑Kentor gesehen hat, darin, dass Habermas sich weigert, in Betracht zu ziehen, „that the book really was, as the authors them‑ selves repeatedly claimed, an act of collaboration“.39 Denn, wie Müller‑Doohm erklärt, wurden die Kapitel zwar von einem einzelnen Autor verfasst, aber „von beiden Zeile für Zeile besprochen“.40 Der Nachdruck, mit dem die beiden Auto‑ ren wiederholt die gemeinsame Verantwortung „für jeden Satz“ betonen,41 macht Spekulationen über die jeweilige Autorschaft in gewisser Hinsicht mü‑ ßig. Was Habermas in Folge versucht – nämlich einzelne Sätze eindeutig einem der beiden Autoren zuzuweisen, um zu zeigen, dass der Gedanke einer Selbstre‑ flexion der Aufklärung und der Vernunft nur in den von Horkheimer verfassten Beiträgen zu finden ist –,42 kann nicht gelingen, zumal der Gedanke der Selbstre‑ flexion Adornos gesamtes Werk durchzieht. Angesichts dessen ist die Häme Hullot‑Kentors durchaus berechtigt: „Yet Habermas’s ruse is badly staged. If he had been Odysseus escaping from Polyphemous’s cave, he would have ridden on top of the sheep, and that would have done it for Western civilization.“43 Das hindert Habermas nicht daran, die Früchte der List auszukosten, nämlich die Sackgasse, in die sich die Kritische Theorie mit der Dialektik der Aufklärung manövriert habe, auf Adornos Konto zu verbuchen und damit dessen reife Phi‑ losophie abermals abzukanzeln; erneut ist die Rede von „Adornos zweigleisi‑ ge[r] Spätphilosophie“, von einem „Zusammenhang wechselseitiger Verwei‑ sung, der in sich birgt, was die philosophische Kritik allein nicht mehr verbür‑ gen kann“.44 Horkheimer war dieser Weg angeblich verbaut: „Er konnte nicht, wie Adorno, auf die in den esoterischen Werken der modernen Kunst ver‑ mummten mimetischen Gehalte rekurrieren“.45 Sobald aber Adorno in die Sackgasse einer selbstwidersprüchlichen, auf ästhetische Erfahrungen rekurrie‑ renden Vernunftkritik abgeschoben ist, lässt sich die Theoriegeschichte der Kri‑ 37 

Ebd., S.  290. Müller-Doohm, Stefan: Adorno. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 2003, S.  427. 39  Hullot-Kentor: „Back to Adorno“, S.  27. 40 Müller-Doohm: Adorno. Eine Biographie, S.  427. 41  Adorno und Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, GS 3, S.  9 (= Dialektik der Aufklärung); vgl. auch den Brief vom 2.6.1949. Adorno, Theodor W. und Horkheimer, Max: Briefwechsel 1945–1949, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Briefe und Briefwechsel, Bd. 4.3, Frankfurt a. M. 2005, S.  268. 42  Habermas: „Nachwort von Jürgen Habermas“, S.  288. 43  Hullot-Kentor: „Back to Adorno“, S.  28. 44  Habermas: „Nachwort von Jürgen Habermas“, S.  290. 45  Ebd., S.  292. 38 

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tischen Theorie als Weg vom frühen Horkheimer zu Habermas und darüber hinaus als Zusammenhang konstruieren, in dem Habermas die ursprünglichen Intentionen des horkheimerschen Programms rettet und die Kritische Theorie eigentlich erst auf Kurs bringt. Adorno, der einst als wichtigster Kopf der Kri‑ tischen Theorie galt, ist jetzt eine bloße Verirrung, eine Sackgasse in der Theo‑ riegeschichte von Horkheimer zu Honneth.

II.  Das Scheitern der Dialektik bei der Adorno-Konferenz 1983 Die Frankfurter Adorno-Konferenz von 1983 bezeugte ein Interesse an der Negativen Dialektik bereits dadurch, dass das erste Kolloquium, bestritten von Michael Theunissen und Herbert Schnädelbach, explizit der Negativen Dialektik gewidmet war. Diese Aufmerksamkeit dürfte jedoch der Rezeption des Bu‑ ches und der Frage nach der Sache negativer Dialektik eher hinderlich gewesen sein. Bereits der Leiter des Kolloquiums, Bubner, ließ es sich nicht nehmen, nochmals die These der Auswanderung der Theorie in Ästhetik gleichsam als Fazit über die Negative Dialektik zu verkünden: „Es ist wohl mehr als ein bio‑ graphischer Zufall, daß der Autor Adorno im Zuge seiner begrifflichen Verar‑ beitung der historischen Diagnose einer Dialektik der Aufklärung über die Negative Dialektik zu einer Ästhetischen Theorie fortgegangen ist.“46 Wäre der Rekurs auf die Entstehungschronologie tatsächlich nicht zufällig, dann müsste man Adornos geplantes Werk zur Moralphilosophie, das zusammen mit der Negativen Dialektik und der Ästhetischen Theorie nach Adornos Auskunft an Tiedemann und Gretel Adorno „‚das darstellen‘ sollte, ‚was ich in die Waag‑ schale zu werfen habe‘“,47 als die endgültige Auflösung der Aporien des adorno‑ schen Gesamtwerks sehen. Obwohl sich Theunissen und Schnädelbach nicht von der These Bubners beeinflussen ließen, leisteten auch sie der Negativen Dialektik einen Bärendienst. Während Theunissen mit seinen Arbeiten zu Hegel und Kierkegaard bewiesen hat, dass er sowohl in Fragen der Dialektik wie auch in Bezug auf negativistisches Denken äußerst versiert ist, blieb ihm sowohl die Dialektik wie auch der Negativismus Adornos dunkel; deshalb redete auch er bald vom „Scheitern“ von Adornos Projekt und weiter davon, dass ihr „Schei‑ tern“ die „negative Dialektik zum Übergang in Metaphysik nötigt“.48 Im nach‑ metaphysischen Zeitalter ist dieses Urteil über Adornos negative Dialektik bei‑ nahe genauso schädlich wie der Vorwurf der Ästhetisierung oder des Irrationa‑ lismus. Negative Dialektik erscheint nicht mehr der Mühe wert, weil ihr Projekt 46  Bubner, Rüdiger: „Adornos Negative Dialektik“, in: von Friedeburg, Ludwig und Ha‑ bermas, Jürgen (Hgg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a. M. 1983, S.  35–40, hier S.  39. 47  Adorno, Gretel und Tiedemann, Rolf: „Editorisches Nachwort (GS 7)“, in: Adorno: Ästhetische Theorie, GS 7, S.  535–544, hier S.  537. 48  Theunissen, Michael: „Negativität bei Adorno“, in: von Friedeburg, Ludwig und Ha‑ bermas, Jürgen (Hgg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a. M. 1983, S.  41–65, hier S.  57.

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1.  Zur Rezeptionsgeschichte negativer Dialektik

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nur im Rückgriff auf eine überkommene Tradition durchführbar ist. Ungleich positiver fiel das Fazit von Schnädelbach aus, der negative Dialektik immerhin als „Logik eines kritischen philosophischen Diskurses“ der Betrachtung für lohnend erachtete.49 Das galt aber nur unter einer Einschränkung, die in der Rezeptionsgeschichte auch nicht ohne Folgen geblieben ist: „Negative Dialek‑ tik als ‚Ontologie eines falschen Zustandes‘ ist ein Konzept, das man nicht ret‑ ten kann.“50 Hier sprach sich die Überzeugung aus, dass Adornos Projekt, wenn überhaupt, nur durch massive, verbessernde Eingriffe weiterverfolgt werden kann; wobei man sich ja über das mit der Negativen Dialektik verfolgte Projekt überhaupt noch nicht im Klaren war.51 Im Zusammenhang dieser Konferenz wäre noch Albrecht Wellmer zu nen‑ nen, der an der Konferenz zwar zur Ästhetik vortrug, aber in denselben Jahren auch Texte zu Adorno publizierte, die sich hauptsächlich mit der Negativen Dialektik befassen. Diese Texte aber, obwohl sie ein genuines Interesse an den Problemen der Negativen Dialektik zeigen, leiden an der unkritischen Über‑ nahme des Paradigmas der kommunikativen Vernunft; indem Wellmer Begriffe wie das Nichtidentische oder Mimesis in die kommunikative Praxis einholt,52 verwischt er den ursprünglichen Gehalt dieser Begriffe und verfehlt damit das Projekt einer negativen Dialektik. Bereits wenig später jedoch gesteht er ein, dass ihn die habermassche Lösung nicht mehr überzeugt und dass es bei Ador‑ no durchaus ein Moment gibt, das sich „mit Kategorien der Kommunikation nicht fassen läßt“.53

III.  Wo ist die Dialektik? Frankfurter Adorno-Konferenz 2003 Das mag erklären, warum Adornos Projekt einer negativen Dialektik weder in den 70er noch in den 80er Jahren aufgearbeitet werden konnte; es bleibt jedoch die Frage, warum auch in der dritten Phase der Adornorezeption (nach Klein: 1993 bis heute), an deren Ende, so Klein, die Erkenntnis steht, „dass die Plura‑ 49  Schnädelbach, Herbert: „Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationa‑ len bei Adorno“, in: von Friedeburg, Ludwig und Habermas, Jürgen (Hgg.): Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a. M. 1983, S.  66–93, hier S.  86 (= Dialektik als Vernunftkritik). 50  Ebd., S.  86 und S.  89. 51  Unter dieser Einschränkung leidet vor allem die sonst so verdienstvolle Untersuchung von Thyen; weil sie allzu unkritisch an Schnädelbachs Vorentscheidung festhält, muss ihre Analyse das Konzept einer negativen Dialektik an einigen Stellen verkürzen. 52 Wellmer, Albrecht: „Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno“, in: ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a. M. 1985, S.  48–114, hier S.  88 (= Dialektik von Moderne und Post­ moderne); ders.: „Adorno, Anwalt des Nicht-Identischen. Eine Einführung“, in: ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a. M. 1985, S.  135–166, hier S.  157 (= Anwalt des Nicht-Identischen). 53  Wellmer, Albrecht: „Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute. Fünf Thesen“, in: ders.: Endspiele. Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt a. M. 1993, S.  224–235, hier S.  234.

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Einleitung:  Die Frage nach der Dialektik

lisierung der Adornorezeption unwiderruflich ist“,54 eine umfassende Ausein‑ andersetzung mit Struktur und Begriff negativer Dialektik nicht erfolgt ist. Dass das Jubiläumsjahr 2003 mehr im Zeichen feuilletonistisch ausgeschlachte‑ ter Eskapaden aus dem Leben des Nilpferdkönigs Archibald von Bauchschlei‑ fer (so Adornos Spitzname im Briefwechsel mit den Eltern) als der ernsthaften Beschäftigung mit seinem Denken stand und dass selbst die akademische Be‑ schäftigung mit Adorno meist von der Überholtheit Adornos ausging, wurde früh registriert; 55 dennoch wäre zu erwarten gewesen, dass zumindest auf der zweiten, vom Institut für Sozialforschung veranstalteten Frankfurter AdornoKonferenz auch das Konzept einer negativen Dialektik wieder zur Sprache kommen würde. Was an der Konferenz in dieser Hinsicht wirklich geschah, scheint paradigmatisch für die jüngere Adornorezeption. Einerseits, und hier muss ich der harschen Kritik von Tilman Reitz widersprechen, der der Kon­ ferenz die Intention unterstellt, „die Bedeutungslosigkeit seiner [Adornos, d. Verf.] Positionen unter Beweis zu stellen“,56 spricht sich in den meisten Bei‑ trägen der Konferenz ein genuines Interesse an Adorno aus und der größte Teil der Beiträge ist von den verbreitenden Vorurteilen weitgehend frei; andererseits wird die Frage nach einer negativen Dialektik nicht einmal mehr gestellt. Dass die Konferenz den Titel „Dialektik der Freiheit“ trug, dass aber im Vergleich zur Vorgängerkonferenz von 1983 das Kolloquium zur „Negativen Dialektik“ durch ein Panel zur „Erkenntnistheorie“ ersetzt wurde und dass Dialektik we‑ der dem Begriff noch der Sache nach thematisiert wurde, bringt den Wider‑ spruch der jüngeren Adornorezeption auf den Punkt: dass das erhöhte Interes‑ se an Adorno bis jetzt kein erhöhtes Interesse an dem Thema erzeugte, das un‑ zweifelhaft im Zentrum seines Denkens steht: das Konzept einer negativen Dialektik. Wie wichtig der Rekurs auf das Dialektikkonzept wäre, zeigen gerade die Beiträge des Panels zur Erkenntnistheorie; sowohl Raymond Geuss als auch Andrea Kern versuchen, die Erkenntnistheorie Adornos ohne Rückgriff auf di‑ alektische Denkfiguren zu rekonstruieren. Habermas, der etwas quer zum The‑ ma des Panels steht, redet eigentlich gar nicht über Adorno, sondern über Prob‑ leme des naturalistischen Weltbildes, zu denen Adornos Überlegungen zum Freiheitsbegriff einen geeigneten Hintergrund abgeben, aber auch nicht mehr; 57 immer noch regiert die Überzeugung, dass Adornos Werk auf metaphysischen Annahmen ruht, die uns nicht mehr zur Verfügung stehen.58 Geuss, der sich 54 

Klein: „Deutschland II: Philosophische plus politische Resonanz“, S.  4 43. Tilman: „Friedhof der Kuscheltiere. Die Neutralisierung Adornos in Feuilleton und Fachwissenschaft“, Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaft, 45. Jg./H. 4/5 (2003), S.  585–594. 56  Ebd., S.  590. 57  Vgl. auch: Ebd. 58  Habermas, Jürgen: „‚Ich selber bin ja ein Stück Natur‘ – Adorno über die Naturver‑ flochtenheit der Vernunft. Überlegungen zum Verhältnis von Freiheit und Unverfügbarkeit“, 55  Reitz,

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1.  Zur Rezeptionsgeschichte negativer Dialektik

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dem Zusammenhang von Leiden und Erkennen bei Adorno widmet, meint zwar zur späteren Geschichte der Frankfurter Schule, dass sich in ihr „die Preisgabe des dialektischen Ansatzes zugunsten kantianisierender Denkstrate‑ gien mit einem deutlichen Verlust an kritischem Potential verbindet“; er rekur‑ riert aber selbst nicht auf Adornos Dialektikkonzept und verfehlt dadurch den Zusammenhang von Leiden und Erkennen bei Adorno.59 Kern schließlich geht gar aktiv gegen den Dialektikgedanken vor, wenn sie gegen Adorno insistiert, dass sich hinter Subjekt und Objekt, Begriffe, die Adorno bekanntlich dialek‑ tisch fasst, eine letzte Einheit verberge. 60 Die für die Adornorezeption bedeutenden Beiträge sind jedoch nicht im Pa‑ nel zur Erkenntnistheorie zu suchen, sondern in Honneths Beitrag zum Panel zur Gesellschaftstheorie und in Wellmers Beitrag zum Panel zur Ästhetik. In‑ dem Wellmer einleitend statt einer erlösungsphilosophischen Lesart Adornos, die davon ausgeht, dass Adorno alles am Maßstab einer uneinholbaren Erlösung misst, eine postmetaphysische Lesart vorschlägt, holt er Adornos negative Dia‑ lektik aus dem Orkus des überkommenen metaphysischen Denkens herauf. 61 Honneth dagegen versteckt das befreiende Potential seines Beitrags in einer Fußnote, in der er die Kritik, die er bereits früh in Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie an Adornos Gesellschaftstheorie ge‑ übt hatte, in bestimmter Hinsicht relativiert: Obwohl ich der Überzeugung bin, daß diese ursprüngliche Kritik bei Zugrundelegung einer bestimmten, für mich damals maßgeblichen Perspektive in allen Punkten aufrecht‑ zuerhalten ist, unternehme ich in dem vorliegenden Beitrag eine Alternativinterpretati‑ on, indem ich die Gesellschaftstheorie Adornos nicht mehr als ein explanatorisches Un‑ ternehmen, sondern als ein hermeneutisches Projekt interpretiere; durch eine solche veränderte Sichtweise verlieren die alten Einwände ihre Geltungsgrundlage.62 in: Honneth, Axel (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frank‑ furt a. M. 2005, S.  13–40, hier S.  31. 59  Geuss, Raymond: „Leiden und Erkennen (bei Adorno)“, in: Honneth, Axel (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt a. M. 2005, S.  41–52, hier S.  51 f. 60  Kern, Andrea: „Freiheit zum Objekt. Eine Kritik der Aporie des Erkennens“, in: Hon‑ neth, Axel (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt a. M. 2005, S.  53–82, hier S.  76 (= Freiheit zum Objekt). Kern hat diesen Beitrag für eine Neu‑ veröffentlichung überarbeitet; in der aktuellen Version spricht sie zwar von Dialektik, allein, es bleibt beim Wort – die Sache fehlt noch immer: Kern, Andrea: „Negative Dialektik. Begriff und Kategorien I. Wahrnehmung, Anschauung, Empfindung“, in: Honneth, Axel und Men‑ ke, Christoph (Hgg.): Negative Dialektik, Berlin 2006, S.  49–69. 61  Wellmer, Albrecht: „Über Negativität und Autonomie der Kunst. Die Aktualität von Adornos Ästhetik und blinde Flecken seiner Musikphilosophie“, in: Honneth, Axel (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt a. M. 2005, S.  237–278, hier S.  239 f. (= Negativität und Autonomie der Kunst). 62  Honneth, Axel: „Eine Physiognomie der kapitalistischen Lebensform. Skizze der Ge‑ sellschaftstheorie Adornos“, in: ders. (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt a. M. 2005, S.  165–187, hier S.  165; im Folgenden zitiert nach dem Wie‑ derabdruck: Honneth, Axel: „Eine Physiognomie der kapitalistischen Lebensform. Skizze

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Einleitung:  Die Frage nach der Dialektik

Diese Alternativinterpretation führt nicht nur zu einer Neubewertung der Ge‑ sellschaftstheorie Adornos; als Interpretation, die nicht mehr vom Standpunkt der späteren Kritischen Theorie aus erfolgt, bricht sie den theoriegeschichtli‑ chen Zusammenhang von Horkheimer zu Honneth, in dem Adornos gesamtes Werk nur als Sackgasse erscheinen kann, auf und ermöglicht einen Zugang zu Adorno jenseits der Frage nach einer kritischen Gesellschaftstheorie. Damit ändert sich die habermassche Kritik an der Dialektik der Aufklärung und an der Gesellschaftstheorie Adornos keineswegs; aber der Kurzschluss von der Gesellschaftstheorie auf die Philosophie unterbleibt. Was Honneth früh ge‑ gen die Gesellschaftstheorie Adornos vorbrachte, zählt auch heute noch: dass sich in Adornos späten Schriften „die fundierende Schicht sozialen Handelns, die Dimension des Sozialen, nicht mehr zu erkennen gibt“. 63 In der Tat könnte man sagen, „Gesellschaftsanalyse sei nur noch die untergeordnete Hilfsdiszip‑ lin“ der Philosophie Adornos; 64 zugleich wirft das ein anderes Licht auf die Kritik von Habermas, der die Hauptsache, nämlich die Philosophie Adornos, von einer Hilfsdisziplin aus kritisiert. Honneths Diagnose trifft insofern zu, als Adorno nicht auf eine umfassende Gesellschaftstheorie abzielt, sondern auf eine Philosophie, die auch auf ihren Ort im gesellschaftlichen Ganzen reflek‑ tiert. Das belegen auch seine Veröffentlichungspläne, die neben der Negativen Dialektik, der Ästhetischen Theorie und dem Werk zur Moralphilosophie kein Buch zur Gesellschaftstheorie beinhalteten; geplant war lediglich ein Aufsatz‑ band mit dem Titel Integration-Desintegration, dessen Inhalt nun den ersten Teil von Soziologische Schriften I ausmacht.65 Diese Aufsätze stehen in ihrem Gewicht weit hinter den Hauptwerken zurück. Auch deshalb ist Adornos Phi‑ losophie in erster Instanz an ihrem philosophischen Anspruch zu messen; seine gesellschaftstheoretischen Ansätze müssen solange inadäquat erscheinen, wie man sie am Maßstab einer ausformulierten Gesellschaftstheorie misst. Das hat Honneth bereits im Nachwort zu Kritik der Macht zu bedenken gegeben: „Ob [. . .] nicht das kritische Potential der Sozialphilosophie Adornos unterschätzt wird, wenn sie nur auf ihren positiven Beitrag zur Konstruktion einer Gesell‑ schaftstheorie hin untersucht wird?“66 Was aber für die Sozialphilosophie gilt, muss in noch stärkerem Maße für Adornos Philosophie als Ganze geltend ge‑ macht werden: dass sie nicht nur auf ihren Beitrag zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft hin befragt werden kann. der Gesellschaftstheorie Adornos“, in: ders.: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt a. M. 2007, S.  70–92, hier S.  70 (= Physiognomie). 63  Honneth, Axel: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a. M. 1989, S.  111 (= Kritik der Macht). 64  Ebd., S.  71. 65 Vgl. Tiedemann, Rolf: „Editorische Nachbemerkung zu ‚Soziologische Schriften I‘ (Band 8)“, in: Adorno: Soziologische Schriften II, GS 9.2, S.  405–409, hier S.  404. 66  Honneth, Axel: „Nachwort“, in: ders.: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a. M. 1989, S.  380–406, hier S.  386.

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1.  Zur Rezeptionsgeschichte negativer Dialektik

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In Bezug auf die Theoriegeschichte der Frankfurter Schule darf eine Unter‑ suchung, die nach dem Begriff einer negativen Dialektik fragt, nicht versuchen, Adorno als verpasste Gelegenheit der Kritischen Theorie zu vindizieren und den Verfall der Kritischen Theorie nach seinem Tode zu beklagen. Die in Ador‑ nos Werk gelegene Dialektikkonzeption bietet nicht das Instrumentarium zu einer Gesellschaftstheorie, deren explikative Kraft es mit den Entwürfen von Habermas und Honneth aufnehmen könnte. Adorno intendierte keine solche Theorie; die Vorlesung Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft geht von einer grundlegenden Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer Theorie der Gesellschaft aus. 67 Insofern ist es notwendig, die Negative Dialektik aus der Theoriegeschichte der Frankfurter Schule herauszusprengen, um sie an und für sich selbst zu betrachten; danach erst mag eine Einordnung dieses Werks in die Theoriegeschichte ohne Verkürzungen gelingen. Freilich geht ein solches Interesse an Adornos Werk nicht Hand in Hand mit einem Interesse an seinem spezifischen Begriff von Dialektik; es scheint die Überzeugung verbreitet, die Martin Seel im Umfeld des Jubiläumsjahres mit der Hoffnung, „hemmende Lesarten zu beseitigen“ verband: „Es wäre an der Zeit Adornos Philosophie vom Dogma und Trauma ihrer Negativität zu befrei‑ en, von ihrer zuweilen unglücklichen Fixierung auf Hegel.“68 Der Anschluss an Adorno bedingt wohl, ihn von den Elementen zu befreien, die er selbst als be‑ stimmende Momente seines Denkens verstand. An dieser Marginalisierung der Dialektik ändert auch der Umstand nichts, dass Adornos Negative Dialektik endgültig ihren Einzug in den Kanon der abendländischen Philosophie gehalten hat und zum Klassiker, wenn auch zu einem „antiklassischen Klassiker“,69 avanciert ist. Zeichen dieser Würde sind zwei Veröffentlichungen zur Negativen Dialektik: der Sammelband in der Reihe „Klassiker Auslegen“ und eine Mono‑ graphie von Ulrich Müller in der Reihe „Werkinterpretationen“ der Wissen‑ schaftlichen Buchgesellschaft.70 Die erhöhte Aufmerksamkeit, die solche Kom‑ mentare bekundet, resultiert jedoch nicht in einer Klärung dessen, was unter negativer Dialektik zu verstehen sei. Die Frage nach dem Konzept einer nega­ tiven Dialektik wird entweder nicht gestellt oder gleich verabschiedet. Wie 67  Vgl. Adorno: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft, hg. von Tobias ten Brink und Marc Phillip Nogueira, NaS IV 12, Frankfurt a. M. 2008, S.  45. Fruchtbarer ist es, Adornos soziologische Aufsätze und seine Gesellschaftstheorie mit Honneth als „gesell‑ schaftliche Physiognomien“ zu verstehen, als „hermeneutisches Projekt“. Honneth: „Physio‑ gnomie“, S.  70. 68  Seel, Martin: „Adornos kontemplative Ethik“, in: ders.: Adornos Philosophie der Kontemplation, Frankfurt a. M. 2004, S.  29–41, hier S.  29. 69  Honneth, Axel und Menke, Christoph: „Zur Einführung“, in: Honneth, Axel und Men‑ ke, Christoph (Hgg.): Negative Dialektik, Berlin 2006, S.  1–9. 70  Honneth, Axel und Menke, Christoph (Hgg.): Negative Dialektik, Berlin 2006; Müller, Ulrich: Theodor W. Adornos „Negative Dialektik“, Darmstadt 2006. Da in Folge sowohl auf Stefan Müllers als auch auf Ulrich Müllers Interpretationen eingegangen wird, werde ich im‑ mer von S. Müller und U. Müller sprechen.

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Einleitung:  Die Frage nach der Dialektik

U.  Müller uns versichert, sei Adornos Dialektikverständnis, das an einem Satz der Negativen Dialektik festgemacht wird, „nicht zu retten“.71 So bleibt die Aufarbeitung des in Adornos Werk entfalteten Dialektikkon‑ zepts ein Forschungsdesiderat; das wird freilich in der Rezeption nur selten ar‑ tikuliert. Zu orthodox, zu veraltet scheint das Thema; nur noch „Adornisten“72 oder „Frankfurter Orthodoxe“73 beschäftigen sich mit Dialektik. Die automa‑ tisch einschnappende Aktualitätsfrage verbietet es allen anderen, sich mit der Dialektik einzulassen. Freilich, der Frage nach der Aktualität ihres Gegenstan‑ des kann sich keine Untersuchung entziehen; aber das Urteil darf erst post festum gefällt werden, wenn man nicht dem Bescheidwissen in die Hände spielen will – dass Adorno veraltet ist, weiß mittlerweile auch der, der nichts über Adorno weiß. Gegen die zur Floskel herabgesunkene Überzeugung, man müsse Adorno „gegen den Strich“ oder, gediegener: „à rebours“ lesen,74 wäre darauf zu bestehen, erst einmal diesen Strich zu finden.

IV.  Back to Adorno? – As if for the first time! Der Blick in die Forschungsgeschichte hat nicht bloß die Frage nach der Dialek‑ tik als große Leerstelle der Adornorezeption bestimmt, sondern uns auch ge‑ wisse interpretatorische Leitlinien an die Hand gegeben. Sie bestehen in der Befreiung von bestimmten Vorurteilen und in der Verpflichtung, den Begriff der Dialektik bei Adorno ernst zu nehmen. Das bedeutet, dass negative Dialek‑ tik nicht als Grundlegung einer kritischen Sozialwissenschaft verstanden wer‑ den darf; dass sie jenseits der theoriegeschichtlichen Entwicklung der Kriti‑ schen Theorie zu untersuchen ist; es bedeutet auch, nicht vorschnell vom Schei‑ tern Adornos zu sprechen, nicht den Übergang in die Ästhetik oder die Metaphysik als beschlossen anzunehmen, nicht von der Prämisse auszugehen, Adornos Philosophie warte nur auf die Verbesserungen, die man an ihr vorzu‑ nehmen gedenkt. Es geht in anderen Worten darum, Adornos Konzept einer negativen Dialektik von den alten Zöpfen der Rezeption zu befreien und sich ihm, wie er selbst wohl sagen würde, ungedeckt zu nähern. Prima facie ver‑ pflichtet das zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit der Rezeption; Schritt für Schritt müssten beispielsweise die Vorwürfe von Habermas analy‑ 71 Müller:

Theodor W. Adornos „Negative Dialektik“, S.  13. Wussow, Philipp von: Logik der Deutung. Adorno und die Philosophie, Würzburg 2007, S.  18 (= Logik der Deutung). 73 Schnädelbach, Herbert: „Adorno und die Geschichte“, in: Kohler, Georg und Mül‑ ler-Doohm, Stefan (Hgg.): Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2008, S.  130–154, hier S.  148. 74  Seel, Martin: „Vorwort“, in: ders.: Adornos Philosophie der Kontemplation, Frankfurt a. M. 2004, S.  7–8, hier S.  8; Meyer, Martin: „Eine Welt des Unerlösten. Über Theodor W. Adorno“, in: ders.: Piranesis Zukunft. Essays zu Literatur und Kunst, München 2009, S.  157–166, hier S.  165. 72 

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siert und widerlegt werden, bevor man sich überhaupt an Adorno selbst heran‑ wagt. Was aber an der Kritik sachlich ist und was bloßes Vorurteil, lässt sich nicht im luftleeren Raum entscheiden, sondern erst am Maß, das Adorno selbst aufrichtet; deshalb müssen wir zurück zu Adorno. In diesem Sinne hat Hullot‑Kentor 1989 in der Zeitschrift Telos zu einer Rückkehr zu Adorno aufgerufen. Der programmatische Titel – „Back to Ador‑ no“ – darf nicht darüber hinweg täuschen, dass Hullot‑Kentor diese Rückkehr in einem sehr spezifischen Sinn versteht: „The only legitimate ‚back to‘ is one that calls for a return to what was never reached in the first place, which is the case with Adorno’s writings.“75 Eine solche Rückkehr zu Adorno wäre mithin nicht als Plädoyer für eine Rückkehr zu einer früher mal aktuellen, aber jetzt scheinbar überholten Theorie zu verstehen, sondern eher als hermeneutischer Schlachtruf: Zurück zu Adornos Texten. In einer Rezension, die zwanzig Jahre später in Telos erschienen ist, hat Ulrich Plass die Maxime von Hullot‑Kentor als interpretatorische Leitlinie der neueren Adornorezeption ausbuchstabiert: „Returning to Adorno means reconsidering the core terms of Adorno’s philo‑ sophy, but less in the spirit of correcting and redeeming them and more in the spirit of rediscovering them as if for the first time, thus tearing apart the web of prejudices and misunderstandings that has been spun around his work.“76 Die‑ sen Vorgaben weiß ich mich im Folgenden verpflichtet. Die Begriffe Adornos wiederzuentdecken, wie wenn es das erste Mal wäre, entbindet nicht von der Auseinandersetzung mit der Rezeption; sonst droht der Rückfall hinter den er‑ reichten Forschungsstand. Die Auseinandersetzung mit Adorno muss vielmehr auch noch die Reflexion auf die Frage einschließen, was an diesem Forschungs‑ stand alles noch, wie Plass es ausdrückt, Vorurteil und Missverständnis ist. Die Forderung, Begriffe zu entdecken, wie wenn es das erste Mal wäre, bedingt mithin auch, dass eingeschliffene Interpretationslinien kritisch daran gemessen werden, ob sie Adornos Begriffen und Manövern gerecht werden.77 75 

Hullot-Kentor: „Back to Adorno“, S.  23. Plass, Ulrich: „Outbreak Attempts: New Scholarship on Adorno“, Telos, H. 146 (2009), S.  159–173, hier S.  159 f. Die angelsächsische Rezeption hat es nach Plass in dieser Hinsicht leichter, da Adorno dort nicht durch die zweite Generation der Kritischen Theorie kanoni‑ siert wurde. Ebd., S.  160; vgl. auch: Sirke, Christian: „Großbritannien“, in: Klein, Richard, Kreuzer, Johann und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, S.  451–455; Powell, Larson: „USA“, in: Klein, Richard, Kreuzer, Johann und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, S.  467–471. 77  Zeichen einer in diesem Sinne undogmatischen Rezeption gibt es mittlerweile genügend. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne bestimmte Reihenfolge sind zu nennen: O’Connor: Adorno’s Negative Dialectic; Foster, Roger: Adorno. The Recovery of Experience, Albany 2007; Bowie, Andrew: Adorno and the Ends of Philosophy, Cambridge/Malden 2013; Braunstein, Dirk: Adornos Kritik der politischen Ökonomie, Bielefeld 2011; Wussow: Logik der Deutung; Klein, Richard, Kreuzer, Johann und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011. 76 

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Einleitung:  Die Frage nach der Dialektik

2.  Das Programm einer negativen Dialektik: Adorno und Hegel Wer nach dem Konzept einer negativen Dialektik fragt, kann nicht bei Adorno stehenbleiben. Der Begriff der negativen Dialektik sowie diejenigen Begriffe, mit denen Adorno deren Konzept zu explizieren sucht, sind keine unbefleckten Begriffe; ihre hegelsche Provenienz können sie nicht verleugnen. Dass Hegel für Adorno den vielleicht bedeutendsten Orientierungspunkt in der Philosophie‑ geschichte darstellt, ist bekannt. Ähnliches Gewicht kommt höchstens Kant, Marx und Nietzsche zu, von dem Adorno in einer Vorlesung sagte, dass er ihm „am meisten von allen sogenannten großen Philosophen verdanke – in Wahrheit vielleicht mehr noch als Hegel“.78 Ungeachtet dessen muss man eingestehen: Das Projekt einer Dialektik verweist unzweifelhaft auf Hegel; so dient die Aus‑ einandersetzung mit Hegel in den Drei Studien zu Hegel ausdrücklich der For‑ mulierung eines eigenständigen Dialektikbegriffs: „Absicht des Ganzen ist die Vorbereitung eines veränderten Begriffs von Dialektik.“79 Das Ringen um einen veränderten Dialektikbegriff ist ein Ringen um eine negative Dialektik. Insofern schließt die Frage nach dem Konzept einer negati‑ ven Dialektik auch die Frage nach Adornos Hegelkritik ein; da Adorno seine eigene Position beinahe ausschließlich über die Kritik an anderen Theorien be‑ stimmt, ist der Blick auf Adornos Auseinandersetzung mit Hegel notwendig, um sein eigenes Konzept einer negativen Dialektik zu verstehen.80 Die Vermen‑ gung von Kritik und Formulierung einer eigenen Position verpflichtet auch an prekären Stellen zu einem hermeneutischen Wohlwollen gegenüber Adornos teilweise sehr idiosynkratischen Exegesen. Betreibt Adorno Kritik an Hegel und Kant nicht um ihrer selbst willen, sondern, wie er an Kant hervorhebt, geht es ihm in der Kritik „um nicht weniger als eigentlich um die, wenn ich so sagen darf: Grundlegung der philosophischen Position, wie ich sie selbst vertrete“,81 so sind seine Kritiken weniger als Beiträge zur Hegel- oder Kantforschung zu lesen, sondern als Ringen um eine eigene Philosophie. Zu diesem Prozess gehört auch die Tendenz, die kritisierten Positionen so zuzuspitzen, dass die Kritik als Kritik ihren Gegenstand verfehlt; an diesen exponierten Stellen ist Adorno zu‑ nächst etwas vorzugeben. Kritik an Adornos überspitzen Interpretation bringt allzu oft um das Verständnis von Adornos eigener Position; zu reflektieren ist an diesen Stellen vielmehr, welches Problem sich für Adorno in der kritisierten Position artikuliert. 78 Adorno: Probleme der Moralphilosophie, hg. von Thomas Schröder, NaS IV 10, Frank‑ furt a. M. 1996, S.  255. 79 Adorno: Drei Studien zu Hegel, GS 5, S.  247–381, hier S.  250. 80  In diesem Absatz greife ich zurück auf: Sommer, Marc Nicolas: „Die Differenz in der Vermittlung. Adorno und die Hegel’sche Dialektik“, Zeitschrift für kritische Theorie, 17. Jg./H. 32/33 (2011), S.  136–154, hier S.  136 f. 81 Adorno: Kants „Kritik der reinen Vernunft“, hg. von Rolf Tiedemann, NaS IV 4, Frank‑ furt a. M. 1995, S.  239.

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2.  Das Programm einer negativen Dialektik: Adorno und Hegel

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Im Falle Hegels beschränken sich diese Probleme nicht auf Strukturprobleme der Logik negativer Dialektik. Die Hegelkritik und damit das Konzept einer negativen Dialektik betreffen vielmehr die Philosophie als Ganze. Das wird be‑ reits im ersten Satz der Negativen Dialektik ausgesprochen: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Ver‑ wirklichung versäumt ward.“82 Das erste Wort der Negativen Dialektik ist „Philosophie“ und im Buch geht es in Folge um nichts anderes als um die Philo‑ sophie: um ihren Status in der Gegenwart und ihr Verhältnis zur Tradition. Bereits im ersten Satz werden jedoch gewaltige Vorentscheidungen in Bezug auf das zugrundegelegte Verständnis von Philosophie getroffen. Adorno spricht nicht von der Philosophie schlechthin, sondern von einer ganz bestimmten Phi‑ losophie: der hegelschen, die überholt schien, als Marx von der Interpretation der Welt zu ihrer Veränderung schreiten wollte und damit die Philosophie, die den Anspruch erhob, ihre Zeit in Gedanken erfasst zu haben, zu verwirklichen. Damit ist nicht nur der Bezug zur Tradition bestimmt; der erste Satz hat die Problematik der Philosophie bereits über die Grenzen der Philosophie hinaus‑ getrieben. Honneth hat diese Kombination von Sozial- und Philosophiege‑ schichte treffend charakterisiert: Im Grunde genommen läßt Adorno zwischen Hegel und Marx nicht einmal eine syste‑ matische Lücke entstehen, weil dieser in seinen Revolutionsabsichten nur dessen Zielset‑ zung praktisch umsetzt, die Vernunft in der Wirklichkeit Gestalt abnehmen zu lassen; daher besiegelt das Scheitern der Revolution das Schicksal aller der in Hegels System mündenden Bestrebungen, das Ganze der Welt begrifflich einzuholen.83

Indem Adorno das Programm der negativen Dialektik in dieser Weise bereits mit dem ersten Satz ausbreitet, bittet er uns um einen nicht gerade bescheidenen exegetischen Vorschuss. Der erste Satz artikuliert ein emphatisches und, wie Honneth zu Recht meint: „essentialistische[s]“ Verständnis der Philosophie,84 aus dem Adornos Zeitgenossen Wittgenstein, Heidegger und Sartre ebenso he‑ rausfallen wie beinahe unser gesamter zeitgenössischer philosophischer Dis‑ kurs; als ob das nicht genug wäre, bringt der erste Satz einen nicht minder emphatischen Revolutionsbegriff ins Spiel, dem die Französische Revolution ebenso wenig genügen kann wie die Oktober- oder die Novemberrevolution. Wenn Adorno an Walter Benjamin schreibt: „Der Zweck der Revolution ist die Abschaffung der Angst.“85 , so markiert das den Maßstab, an dem die wahre Revolution, die zugleich Verwirklichung der Philosophie wäre, zu messen ist. 82 Adorno:

Negative Dialektik, S.  15. Honneth, Axel: „Gerechtigkeit im Vollzug. Adornos Einleitung in die Negative Dialek‑ tik“, in: ders.: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt a. M. 2007, S.  93–111, hier S.  97 (= Gerechtigkeit im Vollzug). 84  Ebd., S.  98. 85  Brief vom 18.3.1936. Adorno, Theodor W. und Benjamin, Walter: Briefwechsel 1928– 1940, hg. von Henri Lonitz, Briefe und Briefwechsel, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1994, S.  173. 83 

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Einleitung:  Die Frage nach der Dialektik

Auf beiden Seiten, sowohl gegen das Philosophie- wie auch gegen das Revoluti‑ onsverständnis Adornos, könnte man hier gewichtige Einwände vorbringen, zumal auch die Verbindung der beiden Begriffe fragwürdig ist. Dennoch haben wir es hier bereits mit einer Grundbestimmung negativer Dialektik zu tun: Sie ist die Philosophie der unversöhnten Wirklichkeit, der Wirklichkeit, in der die Verwirklichung der Vernunft gescheitert ist. Folgten wir hier Schnädelbachs Diktum, negative Dialektik sei als Ontologie des falschen Zustandes nicht zu retten, so hätten wir das mit der negativen Dialektik intendierte Projekt bereits im Ansatz verfehlt. So kommen wir nicht umhin, Adorno die Vorentscheidungen des ersten Sat‑ zes vorerst durchgehen zu lassen und uns erst am Ende ein Urteil darüber zu bilden. Ein solches Vorgehen nimmt Rücksicht auf eine Eigenheit dialektischen Denkens: Hegels Schriften, aber auch noch das marxsche Kapital verlangen den Nachvollzug des ganzen Gedankengangs, um die Implikationen des Anfangs angemessen beurteilen zu können. Für die Negative Dialektik hat Adorno das in einem Brief an Alfred Sohn-Rethel geltend gemacht, als dieser ihm in Bezug auf ein Bruchstück des zweiten Satzes der Negativen Dialektik – „nachdem die Veränderung der Welt mißlang“86 – einen ganzen Katalog von Rückfragen un‑ terbreitete: „Ohne Antworten hierauf, weiß ich mich kaum noch zurecht zu finden.“, schloss Sohn-Rethel.87 Adorno antwortete: „Wenn ich Sie um etwas bitten darf, so wäre es, daß Sie das Buch von Anfang bis Ende lesen; es ist sehr gebaut, und man bekommt eine angemessene Vorstellung wirklich nur, wenn man die ganze Konstruktion mitvollzieht.“88 So schlage ich vor, Adornos eröff‑ nende Bestimmungen negativer Dialektik zunächst mal so stehen zu lassen und erst ganz am Schluss auf die ersten Sätze der Negativen Dialektik zurückzu‑ kommen. Hier soll es uns nur um ein Vorverständnis des Konzepts einer nega‑ tiven Dialektik zu tun sein. Negative Dialektik ist zu verstehen als eine bestimmte Form der Philosophie zu einem bestimmten geschichtlichen Augenblick. Der erste Satz bestimmt die Form der Philosophie bereits als hegelianische, allerdings aus marxscher Pers‑ pektive; der geschichtliche Augenblick ist die verpasste Gelegenheit ihrer Ver‑ wirklichung. Der erste Abschnitt der Einleitung präzisiert nun diese Bestim‑ mungen weiter. Die spezifische Form der Philosophie wird als Selbstkritik be‑ stimmt: „Nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins mit der Wirklichkeit oder stünde unmittelbar vor deren Herstellung, brach, ist sie genötigt, sich sel‑ ber rücksichtslos zu kritisieren.“89 Hier wird nochmals bekräftigt, dass die Selbstkritik der Philosophie als Selbstkritik der hegelschen Philosophie zu ver‑ 86 Adorno:

Negative Dialektik, S.  15. von Sohn-Rethel an Adorno vom 18.12.1966. Adorno, Theodor W. und SohnRethel, Alfred: Briefwechsel 1936–1969, hg. von Christoph Gödde, München 1991, S.  150 f. 88  Brief an Sohn-Rethel vom 23.12.1966. Ebd., S.  152. 89 Adorno: Negative Dialektik, S.  15. 87 Brief

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2.  Das Programm einer negativen Dialektik: Adorno und Hegel

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stehen ist; sie war es, die versprach, eins mit der Wirklichkeit zu sein oder kurz vor deren Herstellung zu stehen. Selbstkritik muss die Philosophie sein, weil eine transzendente Kritik im polemischen Sinne der elften Feuerbachthese, mit‑ hin eine Kritik an der interpretierenden Theorie aus der Perspektive der prakti‑ schen Notwendigkeit der Veränderung, nicht mehr möglich ist: „Praxis, auf unabsehbare Zeit vertagt, ist nicht mehr die Einspruchsinstanz gegen selbstzu‑ friedene Spekulation, sondern meist der Vorwand, unter dem Exekutiven den kritischen Gedanken als eitel abzuwürgen, dessen verändernde Praxis bedürf‑ te.“90 Ungeachtet aller Rede von Verwirklichung markiert doch bereits der erste Abschnitt mit Nachdruck, dass die Kritik der Philosophie nur eine Selbstkritik sein kann, nicht eine Kritik nach den Maßstäben der Praxis.91 Negative Dialek‑ tik ist diese Selbstkritik, und zwar als Kritik der hegelschen Dialektik. Voraus‑ gesetzt wird, wie Honneth bemerkt, „die Annahme, daß das System Hegels nicht nur irgendeine Zuspitzung, irgendeinen Höhepunkt, sondern die eigentli‑ che Vollendung alles philosophischen Bemühens darstellt.“92 In einem Brief an Horkheimer spricht Adorno dies unverblümt aus: „Alles bürgerliche Denken nach ihm [Hegel, d. Verf.] ist wirklich völlig zurückgegangen und hat an seinen bedeutendsten Stellen nur gerade eben die Rockschöße dessen erwischt, der wirklich in der bürgerlichen Welt das Absolute ist – das höchste Maß von Selbst‑ bewußtsein, das diese hat erreichen können.“93 In der Negativen Dialektik ist die Bewunderung für Hegel nur leicht verhaltener zum Ausdruck gebracht; zu‑ gleich ist präziser dasjenige Moment der hegelschen Philosophie angegeben, das sie zum Prüfstein der von Adorno anvisierten Selbstkritik macht: „Stellt die Hegelsche Lehre von der Dialektik den unerreichten Versuch dar, mit philoso‑ phischen Begriffen dem diesen Heterogenen gewachsen sich zu zeigen, so ist Rechenschaft vom fälligen Verhältnis zur Dialektik zu geben, wofern sein Ver‑ such scheiterte.“94 Hegel als Krönung der Philosophie zu verstehen, impliziert ein Philosophieverständnis, das bis auf Platon zurückgeht: Philosophie ist ein Verhältnis von Begriff und Realität, Logos und Welt und hat zum Ziel, die bei‑ den Momente zusammenzubringen. Dieses Verständnis von Philosophie ist der Vorschuss, den wir Adorno zugestehen müssen; „wer nicht davon überzeugt ist, daß alles philosophische Bemühen letztlich um die Angleichung von Begriff und Wirklichkeit, Geist und Realität kreist, wird aus dessen Scheitern anschlie‑ 90 Ebd.

91  Adorno greift diesen Gedanken im zweiten Teil der Negativen Dialektik wieder auf: „Was in Hegel und Marx theoretisch unzulänglich blieb, teilte der geschichtlichen Praxis sich mit; darum ist es theoretisch erneut zu reflektieren, anstatt daß der Gedanke dem Primat von Praxis irrational sich beugte.“ Ebd., S.  147. 92  Honneth: „Gerechtigkeit im Vollzug“, S.  98 f. 93  Brief vom 23.7.1938. Adorno, Theodor W. und Horkheimer, Max: Briefwechsel 1938– 1944, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Briefe und Briefwechsel, Bd. 4.2, Frank‑ furt a. M. 2004, S.  38. 94 Adorno: Negative Dialektik, S.  16.

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Einleitung:  Die Frage nach der Dialektik

ßend auch nicht die Konsequenz einer Beschränkung auf die kritische Untersu‑ chung jenes begrifflichen Anspruchs teilen.“95 Obwohl sich Adornos Prämissen wenn überhaupt erst am Ende einlösen lassen, so steht doch die Vereidigung der Philosophie auf Selbstkritik im einleitenden Abschnitt nicht im luftleeren Raum. Denn Adorno erhebt dort bereits den Vorwurf, dass die Philosophie ihren Begriff seit Hegel zu sehr einschränke: Hegel wußte, trotz der Lehre vom absoluten Geist, dem er die Philosophie zurechnete, diese als bloßes Moment in der Realität, als arbeitsteilige Tätigkeit, und schränkte sie damit ein. Daraus ist seitdem ihre eigene Beschränktheit, ihre Disproportion zur Reali‑ tät geworden, und zwar desto mehr, je gründlicher sie jene Einschränkung vergaß und es als ein ihr Fremdes von sich wies, auf ihre eigene Stellung in einem Ganzen sich zu be‑ sinnen, das sie als ihr Objekt monopolisiert, anstatt zu erkennen, wie sehr sie bis in ihre inwendige Zusammensetzung, ihre immanente Wahrheit hinein davon abhängt. Nur Philosophie, die solcher Naivetät sich entledigt, ist irgend wert, weitergedacht zu wer‑ den.96

Die Selbstkritik der Philosophie ist mithin auch als Kritik an einer Philosophie zu verstehen, die nicht auf sich selbst reflektiert, sondern sich als freischweben‑ de Tätigkeit versteht, der die Welt als Objekt gegenübersteht. Freilich ist damit nicht die Notwendigkeit erwiesen, Philosophie nur noch als Selbstkritik durch‑ zuführen; aber es deutet auf eine weitere Facette von Adornos Philosophiever‑ ständnis und damit des Projekts einer negativen Dialektik: Zum Begriff der Philosophie gehört auch die Reflexion auf die Stellung der Philosophie in der Wirklichkeit ihrer geschichtlichen Stunde. Darin ist auch eine Absetzung von der philosophischen Tradition impliziert, insofern diese es gewöhnlich ver‑ schmäht hat – auch hier ist Hegel die Ausnahme – auf ihre Stellung in und zur gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit zu reflektieren. Die von Adorno anvisierte Selbstreflexion impliziert damit auch eine Reflexion auf das Maß, in dem die Philosophie bis in ihr Innerstes von ihrer geschichtlichen Wirklichkeit affiziert wird. Die geschichtliche Wirklichkeit der negativen Dialektik ist aber nicht nur die der gescheiterten Revolution, sondern die des Zivilisationsbru‑ ches, für den in Adornos Werk der Name Auschwitz steht. Damit präzisiert sich das Verhältnis zur Praxis und zum Gedanken einer Verwirklichung der Philo‑ sophie. Erst in Auschwitz wird das Scheitern der Revolution in vollem Umfang verständlich; deshalb verlangt die Zeit zunächst Interpretation und nicht Verän‑ derung: „Vielleicht langte die Interpretation nicht zu, die den praktischen Über‑ gang verhieß.“, schreibt Adorno ebenfalls im ersten Abschnitt.97 Die anvisierte Selbstkritik der Philosophie schließt so eine erneute Interpretation ein, weil diejenige Interpretation, die den praktischen Übergang verhieß, mithin die he‑ 95 

Honneth: „Gerechtigkeit im Vollzug“, S.  98. Negative Dialektik, S.  16. 97  Ebd., S.  15. 96 Adorno:

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2.  Das Programm einer negativen Dialektik: Adorno und Hegel

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gelsche, welche die Wirklichkeit bereits für an sich vernünftig erklärte, sich als falsch erwiesen hat. Damit hat Adorno auch seine Ansprüche an die Philosophie nochmals hoch‑ geschraubt: Nicht nur soll Philosophie als Selbstkritik der emphatisch verstan‑ denen Philosophie der Tradition verstanden werden, sondern zugleich auch die‑ sen traditionellen Philosophiebegriff in der Selbstkritik noch erweitern, so dass Philosophie nun ihre eigene geschichtliche Wirklichkeit bewusst ihrem Denken zueignet. Auch darin ist Hegel Vorbild, insofern er die Philosophie als „ihre Zeit in Gedanken erfaßt“ bezeichnete.98 Die Zeit in Gedanken zu erfassen, heißt für Adorno nichts anderes, als die Erfahrungen der Zeit, und zwar in ih‑ ren extremen Ausprägungen, mit den Begriffen der traditionellen Philosophie zu konfrontieren: Auschwitz und das Absolute, V1-Raketen und Vernunft. Das meint Adorno, so meine Interpretation, wenn er gegenüber Horkheimer das Unternehmen der Negativen Dialektik als Versuch der Erweiterung des Be‑ griffs der Philosophie bestimmt: „Hoffentlich empfindest Du es [das Buch, d. Verf.] nicht als einen Rückfall in die Philosophie. Gemeint ist es vielmehr als der Versuch, aus der philosophischen Problematik selbst heraus deren traditionellen Begriff, gelinde gesagt, zu erweitern.“99 Der traditionelle Begriff ist genau dann erweitert, wenn Philosophie sich nicht damit begnügt, im Wandel­baren das Bleibende, in der Erscheinung die Idee zu finden, sondern darauf r­ eflektiert, wie sehr das vermeintlich Unwandelbare und die Idee immer schon vom Wandelba‑ ren und der Erscheinung affiziert sind. Wenn aber die negative Dialektik sich Hegel noch darin verpflichtet weiß, dass sie ihre Zeit in Gedanken zu erfassen sucht, dann liegt darin zugleich der Grund begraben, warum negative Dialektik nicht einfach eine Renaissance der hegelschen Philosophie, sondern deren Kri‑ tik sein muss. Die Geschichte selbst, die reale wie die philosophische, zwingt zu dieser Wendung, wie J. M. Bernstein festgehalten hat: „Adorno’s philosophy is the articulation of what it is to be a Hegelian after Hegel, after Marx, after Nietzsche, and above all after two centuries of brutal history.“100 Letztlich ist es die Kulmination dieser Geschichte in Auschwitz, die bestimmt, warum Philo‑ sophie Selbstkritik der hegelschen Dialektik sein muss. Daran schließt eine weitere Bestimmung negativer Dialektik an: Weil die für Hegels gesamte Philosophie so gewichtige These von der Vernunft in der Ge‑ schichte in Auschwitz endgültig zuschanden geworden ist, muss der Stand des Geistes erneut bestimmt werden. Adornos Werk lässt sich in diesem Sinne, wie der erste Satz von Georg Pichts Nachruf andeutet,101 als Reflexion auf den Stand 98 Hegel:

Grundlinien der Philosophie des Rechts, TWA 7, S.  26 (= Rechtsphilosophie). Brief vom 15.12.1966. Adorno, Theodor W. und Horkheimer, Max: Briefwechsel 1950– 1969, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Briefe und Briefwechsel, Bd. 4.4, Frank‑ furt a. M. 2006, S.  786. 100  Bernstein: „Negative Dialectic as Fate. Adorno and Hegel“, S.  20. 101  „Gesetzt, der Geist hätte nach Auschwitz in Deutschland noch eine Geschichte, so 99 

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Einleitung:  Die Frage nach der Dialektik

des Geistes nach Auschwitz verstehen. Auch in dieser Reflexion ist Adorno noch einem hegelschen Gedanken verpflichtet: Wie für Hegel die Französische Revolution eine neue Epoche eingeläutet hat, so ist für Adorno mit Auschwitz und der Atombombe ein neues Zeitalter angebrochen. Was Hegel in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes über die neue Epoche und ihren Geist sagt, ist auch für die negative Dialektik in gewissem Sinne noch verbindlich: „Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen“,102 das heißt: der Geist kann nicht mehr in denselben Strukturen und Kategorien den‑ ken wie bisher; aber dem Bewusstseins sind diese Ausbildungen des Geistes noch gegenwärtig: „Es vermißt an der neu erscheinenden Gestalt die Ausbrei‑ tung und Besonderung des Inhalts; noch mehr aber vermißt es die Ausbildung der Form, wodurch die Unterschiede mit Sicherheit bestimmt und in ihre festen Verhältnisse geordnet werden.“103 Deshalb ist es Aufgabe der Philosophie, die Grenzen und Möglichkeiten der neuen Gestalt des Geistes zu bestimmen; inso‑ fern ist die von Adorno anvisierte Selbstkritik durchaus eine Kritik im kant‑ schen Sinne, eine Kritik, die Grenzen und Möglichkeiten des Geistes vor dem Hintergrund der Bedürfnisse des Geistes bestimmt. Freilich ist die kantsche Kritik bei Adorno hegelianisch, nämlich dialektisch und geschichtlich gedacht: Während Hegels Philosophie vom Gedanken getragen ist, dass der Geist in der Gegenwart eine Stufe erreicht hat, in der er sich zum ersten Mal selbst vollkom‑ men durchsichtig werden kann, markiert Adornos Gegenwart eher einen Ver‑ lust der Fähigkeiten des Geistes; seine höchsten Erhebungen, die er in der hegel‑ schen Philosophie feierte, sind ihm zwar noch gegenwärtig, aber er reicht nicht mehr an sie heran. Als Selbstkritik der hegelschen Dialektik versucht die nega‑ tive Dialektik deshalb auch zu bestimmen, inwiefern diese Gehalte noch geret‑ tet werden können. Negative Dialektik ist Hegelianismus nach Hegel nicht bloß, weil sie am Gedanken der Dialektik festhält, sondern weil sie auch die inhaltlichen Gehalte, die sich bei Hegel an den Dialektikbegriff heften, zu ret‑ ten sucht; emphatische Erkenntnis, Versöhnung, Metaphysik – negative Dialek‑ tik versucht an diesen Momenten nach dem Sturz des spekulativen Idealismus festzuhalten. Ein Denken aber, das am positiven Ziel der hegelschen Dialektik – der Versöhnung – im Bewusstsein festhält, dass dieses Ziel nur noch negativ erreicht werden kann, muss negative Dialektik sein. Die Qualifikation als negative markiert deutlich die Differenz zu Hegel, die Emil Angehrn als eine doppelte interpretiert. Negativ ist Adornos Dialektik in ihrem Beharren „auf der Negativität der bestehenden Welt“. Hier ist die Beto‑ nung des Negativen Einspruch gegen die hegelsche Prämisse, die Welt sei „letzt‑ müßte der Tod von Theodor W. Adorno wirken, als ob plötzlich die Uhr stillstünde.“ Picht, Georg: „Atonale Philosophie“, in: Schweppenhäuser, Hermann (Hg.): Theodor W. Adorno zum Gedächtnis. Eine Sammlung, Frankfurt a. M. 1971, S.  124–128, hier S.  124. 102 Hegel: Phänomenologie des Geistes, TWA 3, S.  18 (= Phänomenologie). 103  Ebd., S.  19.

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2.  Das Programm einer negativen Dialektik: Adorno und Hegel

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lich – im Wesentlichen und im Ganzen – versöhnt und nur in ihrem faktischen, gegenwärtigen Zustand defizient“. Ebenso markiert die Emphase des Negativen die Verweigerung des Umschlags ins Positive. Beides gehört, wie Angehrn be‑ tont, zusammen: „Wenn Hegel die Zerrissenheit des Lebens auf ihren vereini‑ genden Grund hin durchdringt, wandelt sich Erkenntnis vom Aufweis des Fal‑ schen zur versöhnenden Einsicht; beidem widersetzt sich negative Dialektik.“104 Ebenso wichtig wie diese doppelte Betonung des Negativen, ist aber auch das, was Angehrn in seinem Titel als Versöhnung bezeichnet, ein Moment, das Adorno im ersten Abschnitt der Einleitung erst indirekt betont, wenn er sagt, dass Hegels Philosophie der unerreichte Versuch sei, sich dem Anderen des Be‑ griffs mit Begriffen gewachsen zu zeigen und gerade das die Philosophie zur Selbstkritik verpflichte.105 Dass sich die Selbstkritik nicht auf die Kritik des be‑ grifflichen Anspruchs der hegelschen Philosophie beschränkt, sondern in ver‑ änderter Perspektive auch an diesem Anspruch festhält, gehört ebenso zum Konzept einer negativen Dialektik. Negativität und Versöhnung benennen so‑ mit die Pole, zwischen denen Adorno das Konzept einer negativen Dialektik aufspannt. Das beinhaltet, wie Angehrn betont, auch für uns eine Verpflich‑ tung: „Die unveränderte Konstanz dieser Konstellation über zwei Jahrzehnte – von den Minima Moralia zur Negativen Dialektik – macht sie zur genuinen Signatur des Denkens von Adorno. Sie ist in ihrer Stringenz ernstzunehmen, bevor dieses Denken der Naivität geziehen oder der Inkonsistenz überführt wird.“106 Wenn aber negative Dialektik in ihrer Stringenz ernstgenommen wer‑ den soll, dann führt kein Weg vorbei an der begrifflichen Entfaltung dessen, was wir bis jetzt als das Programm einer negativen Dialektik bestimmt haben. Führen wir die Elemente dieses Programms zusammen, so ergibt sich folgen‑ de Bestimmung: Negative Dialektik ist die Selbstkritik der Philosophie; Kritik ist sie in einem kantschen Sinne, nämlich als Bestimmung der Grenzen und Möglichkeiten der Philosophie; darin ist sie zugleich hegelianisch gedacht, nämlich als Bestimmung der Grenzen und Möglichkeiten der Philosophie in ihrer Zeit. Negative Dialektik fragt dieselben Fragen wie Kant – Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? –, aber nach Auschwitz; das verpflichtet sie zur Negativität, aber auch zur Treue zum transzendierenden Impuls, der inmitten der Negativität die Möglichkeit der Versöhnung denkt.

104 

Angehrn: „Kritik und Versöhnung“, S.  267. Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  16. 106  Angehrn: „Kritik und Versöhnung“, S.  291. 105 

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Einleitung:  Die Frage nach der Dialektik

3.  Fragestellung – Methode – Aufbau Angesichts der Bestimmung des Programms einer negativen Dialektik konkre‑ tisiert sich die Gestalt, in der die Frage nach dem Konzept einer negativen Dia‑ lektik im Folgenden gestellt wird. Es geht um eine umfassende Rekonstruktion des reifen Projekts einer negativen Dialektik, wie Adorno es – gleichsam als Summa – mit der Negativen Dialektik vorgelegt hat. Diese Fragestellung ist grundverschieden von der Frage nach dem Ursprung der negativen Dialektik. Deren Ursprünge sind mannigfaltig: Susan Buck‑Morss hat in The Origins of Negative Dialectics. Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, and the Frankfurt Institute die Ursprünge negativer Dialektik in Adornos Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Denken lokalisiert; 107 ebenso überzeugend hat Lucia Szi‑ borsky nachgewiesen, dass die Denkfigur einer negativen Dialektik sich in Adornos Beschäftigung mit der Musik der Zweiten Wiener Schule gebildet hat; 108 mit ähnlicher Stringenz ließe sich die Geburt der Dialektik aus der Aus‑ einandersetzung mit Husserl oder Kant nachweisen. Die Negative Dialektik selbst hat ihren Ursprung in drei Vorträgen, die Adorno 1961 am Collège de France gehalten hat, und der Vorlesung über Ontologie und Dialektik, die Adorno im Wintersemester 1960/61 in Frankfurt bestritten hat; 109 Vorträge und Vorlesung gelten gleichermaßen der Kritik der heideggerschen Ontologie; aus der Kritik an der Ontologie ergibt sich beide Male die Notwendigkeit einer ne‑ gativen Dialektik. Aus diesen Wurzeln ist der erste Teil der negativen Dialektik („Verhältnis zur Ontologie“) entstanden, der aber nicht bloß eine Heideggerkri‑ tik darstellt, sondern im Aufbau der negativen Dialektik, ähnlich der hegelschen Seinslogik, eine Kritik an nicht-relationaler Ontologie vornimmt und von da aus zur Notwendigkeit einer dialektischen Denkpraxis kommt. So ließe sich auch argumentieren, dass Adorno in der Negativen Dialektik nochmals die Ur‑ sprünge negativer Dialektik nachzeichnet. Jenseits solcher werkgeschichtlicher Fragen steht hier aber die theoretische Rechtfertigung des reifen, gleichsam voll‑ endeten Konzepts einer negativen Dialektik zur Debatte – und diese Rechtfer‑ tigung verläuft beinahe ausschließlich über die Auseinandersetzung mit Hegel. So ist es kein Zufall, dass die systematische Aufarbeitung der Hegelkritik ebenso wie die Rekonstruktion des Konzepts einer negativen Dialektik glei‑ chermaßen eine Forschungslücke darstellen: das eine ist ohne das andere nicht zu leisten. Wer negative Dialektik ohne Rekurs auf die Hegelkritik Adornos zu 107  Buck-Morss, Susan: The Origin of Negative Dialectics. Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, and the Frankfurt Institute, New York 1979 (= Origin of Negative Dialectics). 108  Sziborsky, Lucia: „Dialektik aus dem Geist der Musik. Verborgene werkgeschichtliche Voraussetzungen der ‚Negativen Dialektik‘“, in: Naeher, Jürgen (Hg.): Die Negative Dialektik Adornos. Einführung – Dialog, Opladen 1984, S.  9 0–129. 109  Vgl. dazu: Tiedemann, Rolf: „Nachbemerkung des Herausgebers (Ontologie und Dia‑ lektik)“, in: Adorno: Ontologie und Dialektik, hg. von Rolf Tiedemann, Nas IV 7, S.  419–431, hier S.  424 ff.

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3.  Fragestellung – Methode – Aufbau

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rekonstruieren versucht, hat mit manchen dunklen Stellen zu kämpfen; wer die Hegelkritik Adornos nicht vor dem Hintergrund des Projekts einer theoreti‑ schen Rechtfertigung negativer Dialektik versteht, droht diese Hegelkritik schief ins Auge zu fassen. Beschränkt man sich nämlich auf die Beurteilung der Frage, ob Adornos Hegelkritik diesen auch trifft, so trifft man mit dem Urteil, das überwiegend negativ ausfallen dürfte, eine Vogelscheuche. Aber auch ein klassischer Vergleich zwischen der Dialektik Hegels und der negativen Dialek‑ tik Adornos droht, am Konzept einer negativen Dialektik vorbeizugehen. Das ist mit ein Grund dafür, dass Bozzettis Studie Hegel und Adorno. Die kritische Funktion des philosophischen Systems sowohl Struktur als auch Intention der negativen Dialektik verfehlen muss. Da Bozzetti übersieht, dass negative Dia‑ lektik nicht einfach als weitere Variante der Dialektik konzipiert ist, sondern mit dem Anspruch auftritt, die kritische Rettung der hegelschen Dialektik zu sein, kommt er über einen äußerlichen Vergleich der beiden Positionen nicht hinaus. Das zeigt sich zum einen an der Textgrundlage: Während Bozzetti mit Recht der Negativen Dialektik die Wissenschaft der Logik als das theoretische Hauptwerk Hegels gegenüberstellt, übergeht er damit, dass Adorno sich inhalt‑ lich gar nicht mit der Wissenschaft der Logik einlässt und auch nicht einlassen kann. Zwar schreibt Adorno an Benjamin: „Sonst beschäftige ich mich mit der erneuten Lektüre der Hegelschen Logik, eines wahrhaft ungeheuren Werks, das heute in allen seinen Teilen zu mir spricht.“110 Dass das Gespräch mit der Logik in Adornos Werk keine tiefen Spuren hinterlassen hat, liegt in der systemati‑ schen Inkompatibilität von Negativer Dialektik und Wissenschaft der Logik. Während die negative Dialektik vom Gedanken ausgeht, dass sich das Nicht­ identische nie vollends identifizieren lässt, dass also zwischen Bewusstsein und Gegenstand immer eine Lücke bleibt, geht Hegels Logik von der Überwindung dieses Gegensatzes aus. Der Standpunkt der Logik ist der Standpunkt, den ­negative Dialektik nie einnehmen kann. Deshalb sind die Stellen, an denen Adorno sich mit der Wissenschaft der Logik beschäftigt, einerseits selten, ande‑ rerseits oft wenig gehaltvoll.111 Auf der anderen Seite wird nun klar, dass sich die 110 

Brief vom 2.8.1938. Adorno/Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, S.  345 f. Etwa in der Negativen Dialektik, wo Adorno an einer Anmerkung aus der Wissenschaft der Logik kritisiert, Hegel eskamotiere durch sprachliche Erschleichung das Nichtidentische: „Stillschweigend wird als Synonym für das Unbestimmte die Unbestimmtheit gebraucht. In deren Begriff verschwindet das, dessen Begriff sie ist; er wird dem Unbestimmten als dessen Bestimmung gleichgesetzt, und das erlaubt die Identifikation des Unbestimmten mit dem Nichts. Damit ist in Wahrheit bereits der absolute Idealismus supponiert, den die Logik erst zu beweisen hätte.“ Adorno: Negative Dialektik, S.  126. Die Kritik ist schon aus dem Grund nicht triftig, dass sie sich auf eine Anmerkung bezieht, die nicht zum Entwicklungsgang der Wissenschaft der Logik gehört, sondern diesen um historische Querverweise bereichert; wenn Hegel Erschleichungen vornehmen würde, so müsste er sie im Haupttext vornehmen. Dass “in Wahrheit” der absolute Idealismus vorausgesetzt wird, ist trivial, da Hegel das in der Ein‑ leitung der Logik offen ausspricht; die Logik hat den absoluten Idealismus nicht zu beweisen, sondern geht von ihm aus. Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik I, TWA 5, S.  43 f. (= Logik I). 111 

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Einleitung:  Die Frage nach der Dialektik

negative Dialektik als Dialektik, die sich am Gegensatz von Bewusstsein und Gegenstand abarbeitet, auf die Phänomenologie des Geistes verwiesen sieht; 112 dort wird die Aufhebung dieses Gegensatzes von Hegel nicht bereits vorausge‑ setzt, sondern soll erst Resultat des Werks sein. Da Bozzetti, unbekümmert um solche Überlegungen, Adornos und Hegels Werke einander äußerlich gegen‑ überstellt, gelingt es ihm nicht, das genuin Eigenständige von Adornos Dialek‑ tik zu benennen. Vergleiche zwischen Adorno und Hegel sollen deshalb im Fol‑ genden primär unter der Perspektive einer Erhellung von Adornos Intentionen und Manövern erfolgen. In anderen Worten: Der Rekurs auf Hegel dient als ein hermeneutisches Hilfsmittel; weder eine Beurteilung der Triftigkeit von Ador‑ nos Hegelkritik noch ein Vergleich der beiden Positionen soll das leitende Inte‑ resse sein. Angesichts der Figur einer kritischen Aneignung Hegels muss, wie O’Connor betont, die Frage im Vordergrund stehen, ob diese Aneignung eine kohärente philosophische Position hervorbringt.113 Solange das nicht gezeigt werden kann, solange muss die Rede vom Scheitern der negativen Dialektik un‑ widerlegt bleiben. Das verlangt, entgegen dem Wesen der Dialektik, eine Trennung von Form und Inhalt. Diese Trennung mag den Einwand hervorrufen, Dialektik erhebe den Anspruch, über die Trennung von Inhalt und Methode hinaus zu sein und deshalb verbiete es sich, sie rein formal zu rekonstruieren. Sofern Dialektik nicht bloß als sokratische Gesprächskunst, sondern im emphatischen, und das bedeutet: hegelschen Sinn, verstanden wird, ist sie, die „absolute Methode“,114 nicht vom Inhalt zu trennen und damit auch nicht jenseits ihrer Durchführung zu behandeln. Dennoch: Auf die theoretische Explikation dialektischen Den‑ kens jenseits konkreter Durchführung kann nicht verzichtet werden – auch wenn diese Explikation dem Begriff der Dialektik selbst unangemessen ist. Di‑ alektik wird in der Negativen Dialektik durchgeführt, nicht als Methode er‑ klärt; Form und Inhalt nicht zu trennen, würde bedeuteten, das Werk nochmals zu schreiben. Höhnisch spricht Norbert Bolz vom „Zauberstab der Dialektik“ gerade deswegen,115 weil ihm die Manöver negativer Dialektik so undurchsich‑ tig sind wie ein guter Zaubertrick. Aber der Zauber ist erst der Anfang der 112 Adorno sagt in einer Vorlesung ausdrücklich, die Vorrede der Phänomenologie des Geistes sei „zur Einleitung in die Dialektik als Methode immer noch der verbindlichste Text“. Adorno: Einführung in die Dialektik, hg. von Christoph Ziermann, NaS IV 2, Berlin 2010, S.  29. Auch die Notizen zu einer Vorlesung von 1969 betonen die Bedeutung dieses Text‑ stücks. Am Vorbegriff aus Hegels Enzyklopädie kritisiert Adorno, dass Dialektik in diesem Text „nicht rein an der Sache entwickelt“ wird, während er „zum Begriff der Dialektik“ die Vorrede zur Phänomenologie des Geistes empfiehlt. Adorno, Theodor W.: „Einleitung in di‑ alektisches Denken. Stichworte zur letzten, abgebrochenen Vorlesung SS 1969“, in: Theodor W. Adorno Archiv (Hg.): Frankfurter Adorno Blätter 6, München 2000, S.  173–177, hier S.  174. 113  O’Connor: „Adorno’s Reconception of the Dialectic“, S.  5 47. 114 Hegel: Logik I, S.  17. 115  Bolz, Norbert: „Lust der Negation. Die Geburt der Kritischen Theorie aus dem Geist

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3.  Fragestellung – Methode – Aufbau

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Philosophie: „Denn es beginnen, wie gesagt, alle mit der Verwunderung darü‑ ber, ob sich etwas wirklich so verhält [. . .]; denn wunderbar erscheint es einem jeden, der den Grund noch nicht erforscht hat“.116 Den Grund negativer Dialek‑ tik zu erforschen, heißt zu bestimmen, was in negativer Dialektik vorgeht, nicht, negative Dialektik vorzuführen; es heißt, die negative Dialektik zu analy‑ sieren, nicht nachzudichten. Anderenfalls spielt man dem von Wussow kriti‑ sierten „Usus der akademischen Adorno-Dissertation“ in die Hände, „trotz ambitionierter Anlage letztlich doch in die Bemängelung fehlender theoreti‑ scher Grundlagen einzufallen“.117 Damit leistet man denjenigen Stimmen Vor‑ schub, die in der negativen Dialektik bloß einen defizitären Modus der hegel‑ schen Dialektik sehen, den man streng genommen gar nicht als Dialektik be‑ zeichnen kann.118 Dennoch darf der Anspruch der Dialektik, über die Trennung von Form und Inhalt hinaus zu sein, nicht einfach dem Desiderat einer „Dialektik als Metho‑ de“ geopfert werden; vielmehr ist der Anspruch ernst zu nehmen und als Prob‑ lem der Dialektik in die Reflexion einzubeziehen. Eine rein formale Rekonst‑ ruktion ist insofern falsch, als sie nicht umhin kann, inhaltliche Momente, die auch für die Struktur negativer Dialektik von Konsequenz sind, als Mystifika‑ tionen zu verabschieden.119 So kann das Konzept negativer Dialektik nur ver‑ kürzt rekonstruiert werden und man kommt genau zu dem Verständnis von Dialektik, das nach Adorno das falsche ist, nämlich: Dialektik als eine Metho‑ de, „mit der man nun wie mit einem Nußknacker alle Phänomene eigentlich aufschließen kann“.120 Deshalb darf die formale Rekonstruktion der Dialektik nur als die eine Hälfte der Aufgabe angesehen werden; in einem zweiten Schritt sind dann diejenigen inhaltlichen Momente zu rekonstruieren, ohne die das Konzept einer negativen Dialektik nicht gedacht werden kann. Dabei ist die Trennung von Form und inhaltlichen Momenten nicht als Trennung von Logik und Anwendung dieser Logik zu verstehen; eine solche Trennung von Logik und Anwendung läuft unweigerlich auf eine Nussknackerdialektik hinaus, bei der mit dem Nussknacker gleich noch ein Sack Nüsse mitgeliefert wird. Zwar des Ressentiments“, Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 58. Jg./H. 9/10 (2004), S.  754–761, hier S.  756 (= Lust der Negation). 116 Aristoteles: Metaphysik, hg. von Ursula Wolf, übers. von Hermann Bonitz, Reinbeck bei Hamburg 2005, 983a. 117 Wussow: Logik der Deutung, S.  282. 118 Vgl. Rentsch: „Vermittlung“; Pippin, Robert B.: „Negative Ethik. Adorno über fal‑ sches, beschädigtes, totes, bürgerliches Leben“, in: Honneth, Axel (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt a. M. 2005, S.  85–114; Sandkaulen, Bir‑ git: „Modell 2: Weltgeist und Naturgeschichte. Exkurs zu Hegel“, in: Honneth, Axel und Menke, Christoph (Hgg.): Negative Dialektik, Berlin 2006, S.  169–187 (= Modell 2). 119  Vgl. die unter dem Aspekt der sozialwissenschaftlichen Relevanz vollzogene Rekonst‑ ruktion von S. Müller: Logik, Widerspruch, Vermittlung, S.  140. 120 Adorno: Philosophie und Soziologie, hg. von Dirk Braunstein, NaS IV 6, Berlin 2011, S.  211.

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Einleitung:  Die Frage nach der Dialektik

wendet Adorno durchaus die Dialektik auf die Geschichtsphilosophie und die Metaphysik an; gegenüber Gershom Scholem, der nach der Lektüre der Negativen Dialektik meint, er habe „noch nie eine keuschere und in sich verhaltenere Verteidigung der Metaphysik gelesen“,121 bekennt Adorno, dass die Negative Dialektik vor allem anderen eine Rettung der Metaphysik intendiere: „Die In‑ tention einer Rettung der Metaphysik ist tatsächlich in der ‚Negativen Dialek‑ tik‘ die zentrale. Sehr glücklich bin ich darüber, daß das herauskommt, und daß Sie damit sympathisieren.“122 Man muss sich also jenseits der Anwendung nega‑ tiver Dialektik derjenigen inhaltlichen Momente versichern, ohne die auch die logische Struktur negativer Dialektik nicht kohärent gedacht werden kann; in der formalen Rekonstruktion zeigen sich die notwendigen inhaltlichen Momen‑ te als Verzerrungen oder Lücken. Dort wird ersichtlich, dass negative Dialektik nur geschichtsphilosophisch gedacht werden kann und dass die Reflexion auf das Absolute zu ihrem eigenen Begriff gehört. Das bedeutet: Geschichte und Metaphysik sind nicht bloß Anwendungsgebiete, sondern integrale Momente des Konzepts einer negativen Dialektik. Indem negative Dialektik als die notwendige Selbstkritik der hegelschen Di‑ alektik verstanden wird, ist zugleich ein methodischer Leitgedanke formuliert. Er geht von folgender Überlegung aus: Wäre negative Dialektik nicht verschie‑ den von der hegelschen und wäre sie nicht gerade durch diese Verschiedenheit die notwendige Kritik an der hegelschen Dialektik, wie es doch die Figur der Selbstkritik anzeigt, dann hätte das Konzept einer negativen Dialektik gar kei‑ nen Sinn. So ist zu erwarten, dass sich das Wesen, mithin das genuin Eigenstän‑ dige der negativen Dialektik in ihren Differenzen zur hegelschen Dialektik zeigt. Adorno deutet das an, wenn er jeden, der sich mit Dialektik befasst, dazu verpflichtet, „die Differenz von Hegel aussprechen“.123 Die große Nähe zu He‑ gel, die diese Differenz oft zu einer Nuance schrumpfen lässt, verpflichtet zur exakten Bestimmung der Differenzen. Exakte Bestimmung aber bedeutet, nicht bei oberflächlichen Differenzen, wie dem Verhältnis zur Synthese stehenzublei‑ ben, sondern auch da noch die Gemeinsamkeiten ausmachen, wo sich ober‑ flächlich Differenzen kundtun; erst von da aus werden die Nuancen ersichtlich, die freilich im Ganzen zu einer Differenz um dieses Ganze werden. Aus diesen Vorgaben ergibt sich folgender Aufbau: Das erste Kapitel ist der Logik negativer Dialektik gewidmet. Hier erfolgt die formale Rekonstruktion negativer Dialektik; hier werden ihre Kategorien und ihre Struktur entwickelt; hier wird die formale Differenz zur hegelschen Dialektik entwickelt; und schließlich werden hier auch die Gründe dafür angegeben, dass negative Dialek‑ 121 Brief von Scholem an Adorno vom 1.3.1967. Adorno, Theodor W. und Scholem, Gershom: Briefwechsel 1939–1969, hg. von Asaf Angermann, Briefe und Briefwechsel, Bd. 8, Berlin 2015, S.  407. 122  Brief vom 14.3.1967. Ebd., S.  413. 123  Adorno: „Wozu noch Philosophie?“, GS 10.2, S.  459–473, hier S.  461.

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3.  Fragestellung – Methode – Aufbau

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tik ohne Verweis auf die Geschichtsphilosophie und die Metaphysik nicht ge‑ dacht werden kann. So kommt dem ersten Kapitel ein in mehrerer Hinsicht grundlegender Charakter zu; wenn man, wie Adorno in der Vorrede der Negativen Dialektik sagt, „durch die Eiswüste der Abstraktion hindurch [muss], um zu konkretem Philosophieren bündig zu gelangen“,124 so mag dieses Kapitel als Versuch gelten, eine Karte der Eiswüste zu erstellen (1). Das zweite Kapitel versucht, zwischen dem formalen und dem inhaltlichen Moment negativer Dia‑ lektik zu vermitteln, indem es die erkenntnistheoretische Dimension negativer Dialektik rekonstruiert. Denn es ist in dieser Dimension, als geistige Erfah‑ rung, in der negative Dialektik über die Trennung von Form und Inhalt hinaus‑ geht (2). Das dritte Kapitel schließlich behandelt die inhaltlichen Momente, die als integrale Momente des Konzepts einer negativen Dialektik zu verstehen sind: Geschichte und Metaphysik (3).

124 Adorno:

Negative Dialektik, S.  9.

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Kapitel 1

Zur Logik negativer Dialektik Einleitung Der Versuch, die Logik negativer Dialektik zu analysieren, stellt uns vor das fundamentale Problem, dass eine solche Analyse der Dialektik als Logik im for‑ malen Sinne nicht möglich ist, da sich die dialektische Logik nicht unabhängig von der Sache explizieren lässt; dennoch ist es Aufgabe einer Analyse negativer Dialektik, ihre Logik zu rekonstruieren, und zwar ohne bei jedem Schritt in eine Vorführung dialektischen Denkens zu verfallen. Dieses Problem ist im Falle ne‑ gativer Dialektik von noch größerer Virulenz als bei ihrem hegelschen Vorbild; während Hegel mit dem Vorbegriff aus der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften und dem sogenannten Methodenkapitel der Wissenschaft der Logik Texte verfasst hat, in denen er die Dialektik gleichsam analytisch zu erklären versucht,1 weigert sich Adorno konsequent, zu erklären, was er tut. Christoph Ziermanns Vermutung, dass die negative Dialektik „erst noch zu schreiben wä‑ re“,2 ist insofern triftig, als Adorno keine Anleitung zur Dialektik geschrieben hat, sondern immer nur dialektisch geschrieben hat. Paradigmatisch für Ador‑ nos Haltung sind die Stichworte, nach denen er seine letzte, abgebrochene Vor‑ lesung mit dem Titel „Einleitung in dialektisches Denken“ vom Sommersemes‑ ter 1969 zu halten gedachte. Bei den Stichworten zur ersten Vorlesung steht: „In dialektisches Denken führt man ein durch dialektisches Denken. Fertige Begrif‑ fe wie Dreitakt in der Garderobe abstellen.“3 Formuliert ist damit auch die Ge‑ fahr, der sich eine formale Rekonstruktion der Dialektik aussetzt: die Dialektik auf ein Schema, auf These – Antithese – Synthese zu verkürzen, demgemäß die negative Dialektik eine Dialektik ohne Synthese wäre. Während solche schema‑ tischen Bestimmungen nicht vollkommen falsch sind, so verbleiben sie doch an der Oberfläche und ein Verständnis der Dialektik, das sich bloß an diese Bestim‑ mungen hält, mag man ein äußerliches Verständnis nennen. In diesem Sinne wäre das Maß einer gelungenen formalen Rekonstruktion, ob sie es vermag, mit formalen Bestimmungen das Innere der Dialektik zu treffen. 1 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, TWA 8, S.  67–180, §§  19–83 (= Enzyklopädie I); ders.: Wissenschaft der Logik II, TWA 6, S.  548 ff. (= Logik II). 2  Ziermann: „Dialektik und Metaphysik bei Marx und Adorno“, S.  53. 3 Adorno: „Einleitung in dialektisches Denken. Stichworte zur letzten, abgebrochenen Vorlesung SS 1969“, S.  174.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

So könnte man versuchen, aus Adornos eigenen Bestimmungen der Dialek‑ tik, an denen es ungeachtet seiner Abneigung gegen Definitionen nicht fehlt, ein Gesamtbild negativer Dialektik zu entwerfen. Dieses Vorgehen ist jedoch prob‑ lematisch. Zunächst muss es der dialektischen Einsicht, jedes einzelne Urteil sei als einzelnes falsch, in anderen Worten: dem Holismus dialektischen Denkens, Rechnung tragen. „So wenig die Dialektik der Einzeldefinition hold ist, so we‑ nig fügt sie selber sich irgendeiner.“4, heißt es in einer Hegelstudie. Die Reduk‑ tion auf eine ihrer Bestimmungen, etwa sie sei die Ontologie des falschen Zu‑ standes, bleibt der Dialektik äußerlich. Daran ändert auch der Versuch nichts, alle Bestimmungen negativer Dialektik zu einem Gesamtbild zusammenzufü‑ gen: Zwanzig abstrakte Bestimmungen bleiben auch in ihrer Summe abstrakt. Lohnender scheint es, bei den Strukturbegriffen der Dialektik anzusetzen. Unter Strukturbegriffen verstehe ich diejenigen Begriffe, mit denen Hegel und Adorno das formale Gerüst und die Dynamik dialektischen Denkens beschrei‑ ben; Strukturbegriffe bezeichnen die Bewegungen und Verhältnisse, die zwi‑ schen den einzelnen dialektischen Momenten stattfinden. Im Folgenden sind dies: Vermittlung (1); Totalität (2); Negativität (3); und Nichtidentität (4). Frei‑ lich sind diese Begriffe nicht nur Strukturbegriffe der Dialektik, sondern auch selbst dialektische Begriffe. Das heißt: Ihr Sinn impliziert immer auch ihr jewei‑ liges Gegenteil: Unmittelbarkeit (1); Einzelnes (2); Positivität (3); und Identität (4). Diese Strukturbegriffspaare bieten sich zur Rekonstruktion der negativen Dialektik deshalb an, weil Adorno sich in seiner Kritik der hegelschen Dialek‑ tik in besonderem Maße auf die genannten Strukturbegriffe stützt und hier die eigentlichen Differenzen gegen Hegel geltend zu machen versucht. So führt die insistente Verfolgung dieser Differenzen am Schluss zu den Momenten, die ne‑ gative Dialektik von hegelscher Dialektik unterscheiden; damit wäre auch die Bestimmung negativer Dialektik als solcher geleistet. Zwei Fragen hätte eine solche Bestimmung zu beantworten: 1)  Inwiefern ist negative Dialektik eine Dialektik? 2)  Inwiefern ist negative Dialektik negativ? Die erste Frage impliziert eine Beantwortung der Frage, was die hegelsche Dia‑ lektik eigentlich zur Dialektik macht; wer das Dialektische der Dialektik allein in ihrer logischen Progression sieht, für den ist negative Dialektik freilich keine Dialektik mehr. Die Beantwortung der zweiten Frage erfordert den Nachweis, dass die Bestimmung „negativ“ eine genuine, gleichsam kategorische und nicht bloß graduelle Differenz zur hegelschen Dialektik bezeichnet. Im Folgenden gehe ich von der Annahme aus, dass negative Dialektik eine Dialektik ist und dass ihre Qualifikation als negative eine genuine Abgrenzung zu Hegel zum Ausdruck bringt. Der erste Punkt wäre besonders gegen dasjeni‑ 4 

Adorno: „Aspekte“, GS 5, S.  251–294, hier S.  258.

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Einleitung

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ge Verständnis negativer Dialektik vorzubringen, das ich als Subtraktionsver‑ ständnis bezeichnen möchte. Nach diesem Verständnis ist negative Dialektik eine Dialektik, der ein Moment der hegelschen Dialektik fehlt, etwa eine Dia‑ lektik ohne Synthese oder ohne Spekulation. Gewiss, Adornos Dialektik ist eine Dialektik, in der Spekulation und Synthese nicht dasselbe Gewicht haben, wie in ihrem historischen Vorbild. Deswegen ist negative Dialektik nicht eine Dialektik ohne Spekulation oder ohne Synthese. Die These, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegt, lautet deshalb: Adorno übernimmt alle zentra‑ len Kategorien der Dialektik bei Hegel. Der zweite Punkt ist explizit zu behan‑ deln, weil man mit einigem Recht fragen kann, warum in der Bezeichnung „ne‑ gativ“ eine Abgrenzung gegen Hegel liegen soll, da doch auch dieser das Mo‑ ment der Negativität, des Negativen, ins Zentrum der Dialektik stellt.5 Aus diesen Punkten ergibt sich die Verpflichtung, bei jedem Strukturbegriff der Dialektik die Differenz zu Hegel zu bestimmen. Die Hegelkritik ist für die negative Dialektik konstitutiv, weil negative Dia‑ lektik von Adorno als die notwendige Kritik der hegelschen Dialektik konzi‑ piert wird, durch die der eigentliche Gehalt der hegelschen Dialektik in die Ge‑ genwart geholt wird. Zunächst leitet Adorno die Notwendigkeit der Kritik an der hegelschen Dialektik selbst aus einem hegelschen Motiv ab, wie er in der Vorlesung Fragen der Dialektik anklingen lässt: [D]ie Weltgeschichte ist weitergegangen, und sie ist auch in einem geistigen Sinn weiter‑ gegangen; sie hat weiß Gott auch philosophisch nicht mit der Hegelschen Philosophie aufgehört, und es hieße sich gegen den Geist der Dialektik vergehen, wollte man nun auch in der philosophischen Konzeption der Dialektik diese Veränderung nicht nur so‑ zusagen stofflich in die dialektische Behandlung hineinnehmen, sondern weit darüber hinaus, wollte man nicht diese geschichtlichen Veränderungen selber auch bis in die Konstitution des Begriffs von Dialektik hineintragen; sonst hörte Philosophie wirklich auf, das zu sein, was sie Hegel zufolge sein soll, nämlich die Zeit in ihrem eigenen Begriff erfaßt.6

Aus der von der Geschichte erzwungenen Kritik an Hegel auf gleichsam meta‑ dialektischer Ebene ergeben sich strukturelle Differenzen, die an den einzelnen Begriffen greifbar werden; negative Dialektik ist demnach nichts anderes als die zeitgenössische Form der hegelschen Dialektik. Zeitgenössisch heißt für Ador‑ no: nachidealistisch. Die Grundthese des nachkantischen Idealismus, die spe‑ kulative Identität von Subjekt und Objekt, kann nicht länger behauptet werden; negative Dialektik geht deshalb von der Nichtidentität von Subjekt und Objekt aus. Die metadialektisch motivierte Wende von der Identität zur Nichtidentität benennt die fundamentale Differenz zwischen hegelscher und negativer Dialek‑ 5 

Vgl. etwa: Angehrn, Emil: Freiheit und System bei Hegel, Berlin 1977, S.  454. Fragen der Dialektik, unveröffentlichte Vorlesung aus dem Wintersemester 1963/64, Typoskript im Theodor W. Adorno Archiv, Signatur: Vo 8822–Vo 9087, hier: Vo 8895. Im Folgenden zitiert nach Titel und Signatur. 6 Adorno:

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

tik; allerdings betrifft diese Wende zunächst nur die Rahmenbedingungen der Dialektik. Der enge Zusammenhang zwischen einer Differenz, die sich auf die Rahmenbedingungen der Dialektik bezieht, und dem jeweiligen Strukturgefü‑ ge dieser Dialektik selbst, das heißt der einzelnen Begriffe und ihrer Verhältnis‑ se zueinander, bedingt, dass man bei einer bloß auf die Grundlagen gerichteten Kritik nicht stehen bleiben kann. Eine Dialektik ohne spekulative Identität bleibt solange inkonsistent und unverständlich, als die Bewegung der Begriffe nicht reflektiert wird, die eine Wende von der Identität zur Nichtidentität impli‑ ziert. Hat Fulda gezeigt, dass in der marxschen Kritik der Dialektik Hegels „nicht nur die Substrate dialektischer Behandlung und Struktur ausgewechselt werden; sondern daß damit auch die Form der Dialektik einer Veränderung unterliegt, die einen neuen von Hegel in vielen Punkten abweichenden Dialek‑ tikbegriff entstehen läßt“,7 so gilt das auch für Adornos Wende von der Identität zur Nichtidentität. Verfolgt man diese abstrakte Kritik bis in das Innenleben der einzelnen Begriffe hinein, so zeigt sich, dass die negative Dialektik sich von ihrem theoretischen Vorgänger nicht bloß durch ein anderes Substrat oder durch ein anderes Telos der dialektischen Bewegung unterscheidet, sondern auch eine andere Struktur aufweist. Bozzetti blendet diesen Zusammenhang zwischen Substrat, Telos, Begriffen und dem Strukturgefüge konsequent aus und kann darum zum Schluss auch behaupten: Das Problem des Vergleichs zwischen Hegel und Adorno ist tatsächlich nicht struktu‑ rell, wie meine Analyse gezeigt hat: Dialektik, Identitätsthematik, metaphysische An‑ sprüche, Wichtigkeit der Rolle der Logik, Grundoperatoren (Subjekt-Objekt), Katego‑ rien (Zufälligkeit – Möglichkeit – Notwendigkeit), Negativität, Wahrheitskriterium (Übereinstimmung von Begriff und Wirklichkeit) haben dieselbe Matrix; sondern es beruht auf geschichtlicher Erfahrung und hat Folgen, was die Unsagbarkeit Gottes be‑ trifft, die dem religiösen Verbot entstammt.8

Zwar ist Bozzetti zuzugestehen, dass die Begriffe negativer Dialektik und auch ihre Fragestellungen in derselben Matrix wie die der hegelschen Dialektik zu verorten sind; aber mit der Wende von der Identität zur Nichtidentität verschie‑ ben sich alle Kategorien und damit verändert sich auch die Matrix, in der die Kategorien verortet sind. Adorno betont gerade diesen Punkt: „Wo eine Kate‑ gorie – durch negative Dialektik die der Identität und der Totalität – sich verän‑ dert, ändert sich die Konstellation aller und damit wiederum eine jegliche.“9 Das gilt nicht nur für die dialektischen Begriffe im engeren Sinne, wie Subjekt und Objekt, sondern auch für metaphysische Ansprüche und dergleichen. Auch die geschichtliche Erfahrung, die Bozzetti zu Recht als wichtigen Vergleichs‑ punkt herausstellt, bleibt diesen Strukturveränderungen nicht äußerlich; gerade 7  Fulda, Hans Friedrich: „These zur Dialektik als Darstellungsmethode (im ‚Kapital‘ von Marx)“, in: Beyer, Wilhelm R. (Hg.): Hegel-Jahrbuch 1974, Köln 1975, S.  204–210, hier S.  205. 8 Bozzetti: Hegel und Adorno, S.  240. 9 Adorno: Negative Dialektik, S.  169.

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Einleitung

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sie motiviert die Wende zur Nichtidentität und damit die Wende zu negativer Dialektik. Eine Interpretation negativer Dialektik hat bei dieser zunächst abs‑ trakt vollzogenen Wende zu beginnen. Von da aus darf sie nicht voreilig über die Möglichkeit negativer Dialektik urteilen, sondern muss die Wirkung dieser Wende bis in die einzelnen Begriffe hinein verfolgen. Erst aus diesen Begriffen und ihrem Verhältnis zueinander lässt sich negative Dialektik verstehen. Die Grundstruktur von Adornos Hegelkritik, von der alle Begriffsverände‑ rungen ausgehen, könnte man als Trennung der Dialektik vom Idealismus be‑ zeichnen. Adorno versucht diese Trennung von gutem, weil dialektischem He‑ gel und schlechtem, weil idealistischem Hegel ziemlich rigoros durchzuziehen. Auch deswegen kann seine Kritik an Hegel nicht eigentlich als Hegelexegese verstanden werden, sondern eher als Rettung hegelscher Gehalte unter verän‑ derten geschichtlichen Vorzeichen. Das spezifische Gewicht von Adornos Kri‑ tik ist darin zu suchen, dass er im spekulativen Idealismus nicht die Substanz hegelscher Dialektik sieht, sondern sie vielmehr als eine idealistische Verstel‑ lung dessen versteht, was er an Hegel zu retten versucht. Adorno versteht negative Dialektik nicht als defizitäre Dialektik, nicht als Dialektik, die die Kraft zur Versöhnung verloren hat, sondern als genuine, ei‑ genständige Dialektik, die nicht länger durch den Gedanken der Identität ver‑ stellt wird. Nicht nur betrachtet er das Verhältnis von Idealismus und Dialektik als bloß äußerliches und zufälliges Verhältnis, er sieht die beiden Momente so‑ gar als inkompatibel an: „Was Hegel innerhalb der subjektiven Klammer inten‑ dierte, zerbricht in kritischer Konsequenz die Klammer.“10 So wird die Tren‑ nung von Idealismus und Dialektik von Adorno als immanente Kritik des Ide‑ alismus durch die Dialektik entworfen. Das geht noch über die These hinaus, negative Dialektik sei die durch die geschichtlichen Veränderungen bedingte zeitgenössische Form der Dialektik; indem negative Dialektik als kritische Ret‑ tung des genuin dialektischen Moments der hegelschen Dialektik gegen antidi‑ alektische Tendenzen in Hegels Denken konstruiert wird, behauptet Adorno, dass die hegelsche Dialektik immer schon eine Verstellung der eigentlichen Di‑ alektik war. O’Connor bringt Adornos Selbstverständnis auf den Punkt: „Adorno argues that dialectic is essentially negative.“11 Das heißt: Negative Di‑ alektik ist nicht nur keine gegenüber der hegelschen Dialektik defizitäre Form der Dialektik, sondern sie ist die eigentliche Dialektik, die Hegel bloß in idealis‑ tisch verzerrter Form gedacht hat. Dialektik immanent gegen Hegels Idealismus ins Spiel zu bringen, setzt vor‑ aus, dass die Dialektik, die den Idealismus überschreiten soll, noch nicht oder nicht mehr an dessen Grundbestimmungen gebunden ist. In anderen Worten: Die den Idealismus überschreitende Dialektik muss bereits eine negative sein. 10  11 

Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, GS 10.2, S.  741–758, hier S.  749. O’Connor: „Adorno’s Reconception of the Dialectic“, S.  538.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Diesem Vorgehen folgt Adorno in der ersten Hegelstudie „Aspekte“, in der er Hegel zunächst einen Dialektikbegriff unterschiebt, der mit dem Idealismus eigentlich unverträglich ist, und dann zeigt, wie durch die Kombination dieses Dialektikbegriffs mit dem Idealismus, also mit dem Gedanken spekulativer Identität von Subjekt und Objekt, die hegelsche Dialektik entsteht.12 Als Kritik an Hegel ist dieses Vorgehen freilich nicht ernst zu nehmen; auf seine Unzu‑ länglichkeiten muss man daher auch nicht hinweisen. Aber für die formale Re‑ konstruktion negativer Dialektik gibt uns das Vorgehen Adornos gleichsam eine Formel an die Hand: Hegels Dialektik – Idealismus = negative Dialektik So ergibt sich die Logik negativer Dialektik gleichsam von selbst, wenn wir die Bewegungen beobachten, in die die Strukturbegriffe der Dialektik geraten, so‑ bald sie nicht mehr auf die spekulative Identität von Subjekt und Objekt bezo‑ gen werden. In diesem Kapitel wird die Trennung von Idealismus und Dialektik vorausge‑ setzt und in mehr oder weniger reinem Zusehen werden die Veränderungen re‑ gistriert, welche die vier Strukturbegriffe – Vermittlung; Totalität; Negativität; Nichtidentität – in Folge durchlaufen. Ausgegangen wird jeweils von den Diffe‑ renzen zwischen der adornoschen und der hegelschen Verwendung des in Frage stehenden Begriffs; anhand der Differenzen lässt sich das Eigentliche der ador‑ noschen Begriffe und damit der negativen Dialektik anzeigen. Unweigerlich wird die Darstellung durch den Ansatz bei verschiedenen Begriffen brüchig werden; wenn aber mit dem Verzicht auf spekulative Identität in der Tat die „systematische Einstimmigkeit“ der Dialektik zerfällt,13 so ist die Brüchigkeit der Entwicklung ein genuines Moment der Logik negativer Dialektik. Eine ab‑ schließende Reflexion und drei Einschübe, in denen auf den Begriff negativer Dialektik in toto reflektiert wird, versuchen, die disparaten Momente an be‑ stimmten Stellen zu bündeln. Zu bedenken bleibt jedoch immer: die hier entfal‑ tete Logik negativer Dialektik ist erst deren Logik und kann als solche nicht für sich stehen. Das zeigt sich nicht nur an den Stellen, an denen die formale Rekon‑ struktion nur um den Preis der Verzerrung von inhaltlichen Momenten abstra‑ hieren kann; auch der überwiegend abstrakt gehaltene Argumentationsgang kann als Ganzer erst in den folgenden, eher inhaltlich orientierten Kapiteln konkretisiert werden.

12 

Vgl. Adorno: „Aspekte“, S.  258 ff. Negative Dialektik, S.  38.

13 Adorno:

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1. Vermittlung

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1. Vermittlung Dass die Kategorie der Vermittlung in Adornos Denken eine bedeutende Rolle spielt, wurde in der Rezeptionsgeschichte wiederholt betont: Bereits Jay hebt in seiner wegweisenden Studie zur Geschichte der Frankfurter Schule die gewich‑ tige Rolle der Vermittlung für die gesamte Kritische Theorie hervor; 14 Thyen weist darauf hin, dass die Idealismuskritik Adornos mit der Kritik des hegel‑ schen Vermittlungsbegriffs anhebt; 15 auch Rentsch, O’Connor und S. Müller interpretieren den Begriff der Vermittlung als Zentrum der adornoschen Hegel‑ kritik und zugleich als Zentrum von Adornos eigener Dialektikkonzeption.16 Tatsächlich kann die Reichweite der kritischen Aneignung der hegelschen Ver‑ mittlungskategorie in Adornos Denken nicht hoch genug eingeschätzt werden und deshalb bietet diese Kategorie einen ausgezeichneten Ansatzpunkt zum Verständnis von Adornos Dialektikbegriff. Allerdings ist gerade bei der Ver‑ mittlung die Gefahr am größten, bei bloßen Oberflächendifferenzen stehenzu‑ bleiben. Zum einen ist das dem Umstand geschuldet, dass Adornos Auseinan‑ dersetzung mit dem hegelschen Vermittlungsbegriff in ihrem Bezug zu Hegels eigener Explikation und Handhabung dieser Kategorie höchst undurchsichtig bleibt; zum anderen verleitet der enge Zusammenhang zwischen Adornos Kri‑ tik an der spekulativen Identität und der Vermittlungskategorie zu Verkürzun‑ gen. Rentsch stützt sich auf Reinhard Kager,17 der – seinerseits gestützt auf Claus Daniel – darauf hingewiesen hat, dass Adorno die drei Momente der be‑ grifflichen Vermittlung bei Hegel – Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit – auf zwei Momente, nämlich Allgemeinheit und Besonderheit/Einzelheit (Adorno verwendet, wie Daniel und Kager bemerken,18 die Begriffe weitgehend synonym), verkürzt und dadurch zu einer Form der Vermittlung kommt, die Kager mit einer Formulierung Daniels als „Vermittlung ohne Mitte“19 bezeich‑ net.20 Birgit Sandkaulen kommt, ohne sich auf Kager und Daniel zu stützen, zur 14  Vgl. Jay, Martin: The Dialectical Imagination. A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research 1923–1950, Berkeley/Los Angeles/London 1996, S.  181. 15  Vgl. Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung, S.  168. 16  Vgl. Rentsch: „Vermittlung“; O’Connor: „The Concept Of Mediation In Hegel And Adorno“; Müller, Stefan: „Halbierte oder negative Dialektik. Vermittlung als Schlüsselkate‑ gorie“, in: ders. (Hg.): Jenseits der Dichotomie. Elemente einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs, Wiesbaden 2013, S.  181–202; vgl. auch meinen Aufsatz, auf dessen Aus‑ führungen ich im Folgenden zurückgreife: Sommer: „Die Differenz in der Vermittlung. Adorno und die Hegel’sche Dialektik“. 17  Rentsch: „Vermittlung“, S.  95. 18  Daniel, Claus: Hegel verstehen. Eine Einführung in sein Denken, Frankfurt a. M./New York 1983, S.  176; Kager, Reinhard: Herrschaft und Versöhnung. Einführung in das Denken Theodor W. Adornos, Frankfurt a. M./New York 1988, S.  157. 19 Daniel: Hegel verstehen. Eine Einführung in sein Denken, S.  172. 20  Vgl. Kager: Herrschaft und Versöhnung. Einführung in das Denken Theodor W. Adornos, S.  157.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

selben Schlussfolgerung und interpretiert Adornos Reduktion der hegelschen Vermittlung korrekt vor dem Hintergrund einer negativen Dialektik, „die die Vermittlung zweier Extreme in einem Dritten ja gerade als schlechte, weil ‚po‑ sitiv‘ behauptete Versöhnung perhorresziert“.21 Nun liegt es nahe, auf der Basis dieser Reduktion und ihrem Zusammenhang mit Adornos Kritik der spekulati‑ ven Identität, Adorno einen „Schritt von der Dialektik zum Dualismus“22 oder eine Rückverwandlung der Dialektik „in den Typus einer dualistischen Reflexionsphilosophie“23 vorzuwerfen und damit den Vorwurf Wellmers, Adorno hätte „ein dreidimensionales System von Grundkategorien auf eine zweidimensiona‑ le Fläche projiziert“,24 aus der adornoschen Vermittlungskritik abzuleiten. So nahe der Schluss liegt, so verkürzt er doch die Auseinandersetzung mit dem hegelschen Vermittlungsbegriff auf eine bloße Oberflächendifferenz zwischen zweigliedriger und dreigliedriger Vermittlung und übergeht die zentrale Diffe‑ renz zu Hegel; in einem mikrologischen Vorgehen lässt sich diese makrologi‑ sche Differenz als eine „scheinbar minimale Differenz“ im Vermittlungsbegriff entziffern.25 Erst von dieser minimalen Differenz her wird verständlich, wie Adorno den hegelschen Vermittlungsbegriff auf zwei Termini verkürzen kann, ohne auf eine dualistische Position zurückzufallen, und wie in dieser Verkür‑ zung, die scheinbar einen Rückschritt darstellt, Potentiale frei werden, die einen Fortschritt gegenüber dem hegelschen Begriff der Vermittlung darstellen. So lässt sich der Vorwurf der Reduktion der Dialektik auf einen Dualismus nur halten, indem diese Differenz in der Vermittlung, die sich unter der äußerlichen Differenz zwischen zwei und drei Polen verbirgt, übergangen wird. Das ist kei‑ neswegs einem Mangel an exegetischer Schärfe zuzuschreiben, sondern ver‑ dankt sich Adornos undurchsichtigem Vorgehen in der Behandlung des hegel‑ schen Vermittlungsbegriffs. In der Vorlesung Fragen der Dialektik lässt Ador‑ no zwar keinen Zweifel an der Bedeutung der Differenz in der Vermittlung, wenn er meint, „daß von diesem Problem eigentlich überhaupt die ganze Kon‑ zeption der Dialektik abhängt“; 26 in den publizierten Texten jedoch kommt die‑ 21 

Sandkaulen: „Modell 2“, S.  183 f. Rentsch: „Vermittlung“, S.  95. 23  Sandkaulen: „Modell 2“, S.  184. 24  Wellmer: „Anwalt des Nicht-Identischen“, S.  157. 25 Adorno: Negative Dialektik, S.  174. Obwohl die Bedeutung der Vermittlung in der Re‑ zeption oft betont wird und Adorno selbst nicht nur von einer „scheinbar minimalen Diffe‑ renz“ und einer „eskamotierten Differenz“ (Ebd.), sondern auch von „der Ungleichheit im Begriff der Vermittlung“ (Ebd., S.  184.) spricht, wurde diese Differenz selten überhaupt nur registriert; und wenn sie registriert wurde, wie bei Thyen und Alfred Schmidt, so wurde ihren Implikationen nicht nachgegangen. Vgl. Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung, S.  169; Schmidt, Alfred: „Adornos Spätwerk: Übergang zum Materialismus als Rettung des Nich‑ tidentischen“, in: Fetscher, Iring und Schmidt, Alfred (Hgg.): Emanzipation als Versöhnung. Zu Adornos Kritik der „Warentausch“-Gesellschaft und Perspektiven der Transformation, Frankfurt a. M. 2002, S.  89–110, hier S.  96 f. 26 Adorno: Fragen der Dialektik, Vo 8944. 22 

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ses Gewicht nicht explizit zum Ausdruck, ja der Vermittlungsbegriff bleibt ge‑ nerell unterbestimmt. So hat Sandkaulen festgestellt, dass Adorno sich an kei‑ ner Stelle mit dem Vermittlungsbegriff in dessen genuin hegelscher Gestalt einlässt: „Nicht etwa präsentiert er Hegels Vorlage unter der Berücksichtigung ihrer drei Terme, um ihr dann ‚negativ‘ zu begegnen, vielmehr präsentiert er sie ihrerseits auch immer schon nur in einer auf zwei Pole reduzierten Form.“27 Abermals liegt es nahe, aus dieser Feststellung zu schließen, Adorno würde Dialektik aufkünden und sie auf einen Dualismus reduzieren. Zu bedenken bleibt dabei, dass Adornos Exegesen immer von ihrem terminus ad quem, näm‑ lich der Grundlegung seiner eigenen Position, her verstanden werden müssen. Statt vorschnell auf einen Fehler Adornos zu schließen, ist an dieser Stelle viel‑ mehr zu fragen, warum Adorno die hegelsche Vermittlung bereits als zweiglied‑ rige Vermittlung einführt. Die problematische Aneignung des Vermittlungsbe‑ griffs wird nur auf der Folie der radikalen Trennung von Dialektik und Idealis‑ mus verständlich (I). Von da aus werden die Differenzen im Vermittlungsbegriff greifbar, die sich nicht in der schematischen Differenz von Zwei- und Dreiglied‑ rigkeit erschöpfen (II).

I.  Die Hypostasis der Vermittlung und der Primat des Geistes Das große Verdienst der hegelschen Vermittlung sieht Adorno zunächst auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie, im Schritt von der Kritik der reinen Vernunft zur Phänomenologie des Geistes. Für Adorno ist „dieser Übergang von der Antithetik von Subjekt und Objekt, wie sie in der kantisch-cartesianischen Philosophie waltet, zu der Dynamik von Subjekt und Objekt eigentlich der ent‑ scheidende Schritt, den die Philosophie dann gemacht hat“.28 Vermittlung wird an dieser Stelle primär als Mittel zur Überwindung der starr dualistischen Struktur der kantschen Erkenntnistheorie angesehen. Eine Stelle aus der Hegel‑ studie „Aspekte“, in der Adorno sich zum ersten Mal ausführlich mit der hegel‑ schen Vermittlung befasst, ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich: Hegel hat den Kantischen Kritizismus zu seinem Recht gebracht, indem er den Kanti‑ schen Dualismus von Form und Inhalt selber kritisierte, die starren Differenzbestim‑ mungen von Kant und, Hegels Interpretation zufolge, auch noch von Fichte in die Dy‑ namik hineinzog, ohne doch die Unauflöslichkeit der Momente einer unmittelbaren planen Identität zu opfern. [. . .] Die von Kant einander entgegengesetzten Pole, Form und Inhalt, Natur und Geist, Theorie und Praxis, Freiheit und Notwendigkeit, Ding an sich und Phänomen, werden allesamt von Reflexion durchdrungen, derart, daß keine dieser Bestimmungen als ein Letztes stehen bleibt. 29

27 

Sandkaulen: „Modell 2“, S.  184. Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  248. 29  Adorno: „Aspekte“, S.  257. 28 Adorno:

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Zunächst fällt an dieser Stelle auf, dass Adorno den hegelschen Vermittlungsbe‑ griff als zweigliedrigen, das heißt in einer auf zwei Pole reduzierten Form ein‑ führt. Inhaltlich lässt sich diese formale Bestimmung dahingehend präzisieren, dass Adorno unter der Hand in den hegelschen Vermittlungsbegriff ein kanti‑ sches Moment einschleust oder, wenn man will: ein kantisches Moment in ihm stehen lässt. Denn die Unauflöslichkeit der Momente, das heißt: der vermittel‑ ten Pole, ist ein Gedanke, den Adorno sonst mit Kant gegen Hegel vorbringt. Hier hat er diese Unauflöslichkeit des Inhalts, die er bei Kant die „Idee der Andersheit“30 nennt, unter der Hand in den Vermittlungsbegriff eingeschleust, der somit dem hegelschen Selbstverständnis in keiner Weise entspricht. Um die‑ ses Vorgehen verständlich zu machen, ist zunächst bei den Eigenheiten dieses zweigliedrigen Vermittlungsbegriff zu verweilen. Das Wesen dieses Vermitt‑ lungsbegriffs sieht Adorno darin, „nicht Grundstruktur, nicht ὑποκείμενον zu sein“.31 Darüber hinaus ist Vermittlung nicht nur kein erstes Prinzip, sondern sie ist gerade das, was Adorno allgemein der These von einem ersten Prinzip, sei dieses das unmittelbar Gegebene oder der Begriff,32 entgegenhält: In dem als philosophisch Ersten behaupteten Prinzip soll schlechthin alles aufgehen, gleichgültig, ob dies Prinzip Sein heißt oder Denken, Subjekt oder Objekt, Wesen oder Faktizität. Das Erste der Philosophen erhebt totalen Anspruch: es sei unvermittelt, un‑ mittelbar. [. . .] Als Begriff ist das Erste und Unmittelbare allemal vermittelt und darum nicht das Erste. Keine Unmittelbarkeit, auch kein Faktisches, in dem der philosophische Gedanke der Vermittlung durch sich selbst zu entrinnen hofft, wird der denkenden Re‑ flexion anders zuteil denn durch den Gedanken. [. . .] Mit dem Prinzip des νοεῖν wird zwangvoll jene Reflexion in den Prozeß geworfen, welche die reine Identität des εἶναι zerstören muß und doch an sie gebannt bleibt als an den abstraktesten Begriff, das un‑ tilgbare Gegenüber des abstraktesten Gedankens.33

Mithin ist Vermittlung weder ein erstes Prinzip noch lässt sie sich mit solch ei‑ nem ersten Prinzip vereinen; vielmehr zeigt sie, dass keine einzelne Bestim‑ mung für sich allein gedacht werden kann, wie Adorno in Bezug auf die dualis‑ 30 Adorno:

Negative Dialektik, S.  185. Adorno: „Aspekte“, S.  258. 32  Adorno versteht unter einem ersten Prinzip sowohl Prinzipien des Denkens, aus denen alles abgeleitet werden soll, als auch die von empiristischen Richtungen vorgebrachten unmit‑ telbaren Gegebenheiten, die als erste Prinzipien fungieren sollen. Diese problematisch Dop‑ peldeutigkeit des Begriffs „Prinzip“ spricht er selbst in der Metaphysikvorlesung an: „Ich möchte hier hinzufügen, daß die Rede vom Prinzip dabei eine uneigentliche Redeweise ist, weil man im strengen Sinn von Prinzipien natürlich nur rationalistisch, also nur da, wo es sich um reines Denken handelt, reden kann, während eben das unmittelbar Gegebene, in letzter Instanz die Empfindung, seinerseits ja als ein gerade nicht Begriffliches eben darum kein Prinzip ist. Aber Sie mögen auch daran etwas von der ‚Misère de la philosophie‘ erkennen, daß auch dieses nicht begriffliche, nicht prinzipielle Element, das für jede Philosophie konstitutiv ist, ihr notwendig innewohnt, im Bereich der Philosophie [. . .] anders als in Form eines Be‑ griffs überhaupt nicht auftreten kann.“ Adorno: Metaphysik. Begriff und Probleme, hg. von Rolf Tiedemann, NaS IV 14, Frankfurt a. M. 1998, S.  69 (= Metaphysik). 33 Adorno: Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  15 f. 31 

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tischen Bestimmungen Kants bemerkt: „Eine jede bedarf, um gedacht werden und sein zu können, von sich aus genau jenes anderen Moments, das bei Kant ihr entgegengesetzt wird.“34 Adorno bestimmt diese Vermittlung in einer Vorle‑ sung als innere Vermittlung: Dies ist eine innere Vermittlung; sie besteht darin, daß die beiden einander entgegenge‑ setzten Momente nicht etwa wechselseitig aufeinander verwiesen sind, sondern daß die Analyse eines jeden in sich selbst auf ein ihr Entgegengesetztes als ein Sinnesimplikat verweist. Das könnte man das Prinzip der Dialektik gegenüber einem bloß äußerlich, dualistisch oder disjunktiv, unterscheidenden Denken nennen.35

Emphatisch grenzt Adorno diese Vermittlung von einer bloß äußerlichen, einer undialektischen Vermittlung ab. Diese unterscheidet sich von der inneren Ver‑ mittlung gerade dadurch, dass sie über eine Mitte verläuft; die Vermittlung, um eine Formulierung von Marx zu bemühen, „wird nur mit Rücksicht auf ein Drittes entwickelt“,36 in Rücksicht auf eine Mitte, die erst die Vermittlung der Extreme besorgt. Von dieser dreigliedrigen Vermittlung über eine Mitte, den „Vermittlungen des vulgären Typus“,37 grenzt Adorno nicht nur seinen Ver‑ mittlungsbegriff emphatisch ab; er reklamiert auch für Hegel eine zweigliedrige Vermittlung ohne Mitte: „Vermittlung heißt daher bei Hegel niemals, wie das verhängnisvollste Mißverständnis seit Kierkegaard es sich ausmalt, ein Mittle‑ res zwischen den Extremen, sondern die Vermittlung ereignet sich durch die Extreme hindurch in ihnen selber; das ist der radikale, mit allem Moderantis‑ mus unvereinbare Aspekt Hegels.“38 Allem Anschein nach präsentiert Adorno die Vermittlung bei Hegel zunächst tatsächlich in einer auf zwei Pole reduzier‑ ten Form: Vermittlung ist das, was sich durch zwei Extreme hindurch in ihnen selber ereignet, ohne einen dritten Pol, der als vermittelnde Mitte fungieren könnte. Im weiteren Verlauf der Hegelstudie „Aspekte“, deren Argumenta­

34 

Adorno: „Aspekte“, S.  257. Philosophische Terminologie. Zur Einleitung. Band 2, hg. von Rudolf zur Lip‑ pe, Frankfurt a. M. 1974, S.  142 (= Philosophische Terminologie 2). 36  Marx, Karl: „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“, MEW 1 (= Marx Engels Werke, hg. vom „Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED“, Berlin 1956 ff.), S.  203–333, hier S.  288. 37  Adorno: „Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins“, GS 11, S.  4 47–491, hier S.  473 (= Para­ taxis). 38  Adorno: „Aspekte“, S.  257. Moderantistisch ist diese Vermittlung über eine Mitte nach Adorno, weil sie die Extreme über ein Drittes zu versöhnen versucht. Adorno führt diese Form der Vermittlung bis zu Aristoteles und dessen Begriff der rechten Mitte zurück. Vgl. Adorno: Metaphysik, S.  75 f. Er spekuliert sogar, Kierkegaards Missverständnis der hegel‑ schen Vermittlung gehe auf diesen aristotelischen Begriff zurück: „Kierkegaard jedoch ver‑ kannte simpel die Hegelsche Vermittlung als ein Mittleres zwischen den Begriffen, einen mo‑ derantistischen Kompromiß. Denkbar, daß er unter dem Einfluß Trendelenburgs den Aristo‑ telischen Begriff der rechten Mitte, der μεςότες in Hegel hineinlas.“ Adorno: „Kierkegaard noch einmal“, GS 2, S.  239–259, hier S.  247. 35 Adorno:

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tions­gang ich hier folge, wird jedoch klar, dass Adorno bei der Unterstellung einer zweigliedrigen Vermittlung nicht stehen bleibt. Nachdem Adorno auch für Hegel eine zweigliedrige, dialektische Vermitt‑ lung reklamiert hat, geht er zur Kritik über: „Bei alldem jedoch; obwohl Dia‑ lektik die Unmöglichkeit der Reduktion der Welt auf einen fixierten subjektiven Pol dartut und methodisch die wechselfältige Negation und Produktion der subjektiven und objektiven Momente verfolgt, hat Hegels Philosophie als eine des Geistes den Idealismus festgehalten.“39 Adorno versucht in seiner Kritik, eine Art immanenten Widerspruch in der hegelschen Philosophie ausfindig zu machen, einen Widerspruch zwischen dialektischer Vermittlung und absolutem Idealismus. Damit fügt sich seine kritische Aneignung der hegelschen Vermitt‑ lung in das Raster seiner gesamten Hegelkritik ein, in der er versucht, die genu‑ in dialektischen Gehalte Hegels von seinem absoluten Idealismus zu trennen. Trotzdem ist die Frage Sandkaulens berechtigt, warum Adorno nicht die hegel‑ sche Vermittlung als dreigliedrige einführt, wie sie etwa von Hegel in der Wissenschaft der Logik anhand der Termini „Allgemeinheit“, „Besonderheit“ und „Einzelheit“ entwickelt wird,40 sondern sie zunächst als zweigliedrige einführt. Zwar zeigt Adorno in Folge, wie die Vermittlung durch ihre Verbindung mit dem Primat des Geistes zu einer dreigliedrigen wird; dennoch bleibt die Frage: Warum nicht die dreigliedrige Vermittlung kritisieren, sondern zunächst eine zweigliedrige einführen, um dann ihre Verbindung mit dem Primat des Geistes zu kritisieren? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst der Zusammen‑ hang zwischen der Vermittlung und dem Primat des Geistes zu untersuchen, das heißt: der Frage nachzugehen, warum Adorno diese Verbindung bei Hegel überhaupt kritisiert. Dazu ist nicht die Begriffslogik zu Grunde zu legen, sondern die Phänomenologie des Geistes, die auch in dieser Frage für die negative Dialektik das wich‑ tigste Werk Hegels bleibt. Hier lässt sich ein im Ursprung zweigliedriger Ver‑ mittlungsbegriff erkennen, den Adorno gegen Hegel selbst, genauer, gegen den Idealismus Hegels, zu verteidigen sucht. Zunächst ist aber der Vorwurf zu dif‑ ferenzieren, Hegel halte trotz der dialektischen Vermittlung an einem ersten Prinzip fest. Adorno sieht sehr wohl, dass Hegel nicht einfach der Dialektik zum Trotz seiner Philosophie ein undialektisches Prinzip unterschiebt, aus dem sich alles ableiten lassen soll. Hegel ist sich der Problematik eines ersten Prinzips in der Philosophie durchaus bewusst, wie die Anstrengungen bezeugen, die er auf das Problem des Anfangs verwendet. Schon bei einer äußerlichen Betrach‑ tung fällt auf, dass Hegel mit der Phänomenologie des Geistes, dem Abschnitt „Womit muß der Anfang in der Wissenschaft gemacht werden“ aus der Wissenschaft der Logik und der „Einleitung“ sowie dem „Vorbegriff“ aus der Enzyk39 

Adorno: „Aspekte“, S.  259. Logik II, S.  273–301.

40 Hegel:

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lopädie der philosophischen Wissenschaften drei verschiedene, wenn auch sich ergänzende Konzeptionen eines Anfangs seiner Philosophie entwirft.41 Hegel hat das Ungenügen eines jenseits der Vermittlung liegenden, eines undialekti‑ schen Anfangs erkannt und darauf hingewiesen, dass dieses Ungenügen im Ge‑ danken eines ersten Prinzips selbst liegt, insofern „ein sogenannter Grundsatz oder Prinzip der Philosophie, wenn er wahr ist, schon darum auch falsch ist, insofern er nur als Grundsatz oder Prinzip ist. – Es ist deswegen leicht, ihn zu widerlegen. Die Widerlegung besteht darin, daß sein Mangel aufgezeigt wird; mangelhaft aber ist er, weil er nur das Allgemeine oder Prinzip, der Anfang ist.“42 Ein Fortschreiten von diesem Anfang aus kann nur durch immanente Kritik erfolgen, so dass die Entwicklung aus dem Anfang diesen wiederum re‑ lativiert: Die eigentliche positive Ausführung des Anfangs ist zugleich umgekehrt ebensosehr ein negatives Verhalten gegen ihn, nämlich gegen seine einseitige Form, erst unmittelbar oder Zweck zu sein. Sie kann somit gleichfalls als Widerlegung desjenigen genommen werden, was den Grund des Systems ausmacht; richtiger aber ist sie als ein Aufzeigen anzusehen, daß der Grund oder das Prinzip des Systems in der Tat nur sein Anfang ist.43

Indem Hegel den Anfang einerseits als Unmittelbaren nimmt, andererseits das Ungenügen seiner Unmittelbarkeit aufzeigt, mithin seine Vermittlung, entwi‑ ckelt er ein Denken aus dem Anfang, das diesen in seiner falschen Form negiert. Adorno war sich der hegelschen Kritik an einem undialektischen ersten Prinzip durchaus bewusst: „Die Unzulänglichkeit eines abstrakten Grundsatzes jen‑ seits der Dialektik, aus dem alles folgen soll, ist von Hegel erkannt. [. . .] Die Konsequenz aus dem Grundsatz negiert diesen zugleich und bricht seinen abso‑ luten Vorrang.“44 Der Vorwurf an Hegel lautet somit nicht, er halte trotz der Einsicht in die Natur der Vermittlung an einem ersten Prinzip in Form eines undialektischen Moments fest; vielmehr kritisiert Adorno, dass Hegel trotz dem Gedanken der Vermittlung am Idealismus festhält: Aber der Idealismus wird dennoch nicht verlassen. [. . .] Indem der betrachtende Geist sich vermißt, alles was ist, als dem Geist selber, dem Logos, den Denkbestimmungen kommensurabel zu erweisen, wirft der Geist sich zum ontologisch Letzten auf, auch wenn er die darin liegende Unwahrheit, die des abstrakten Apriori, noch mitdenkt und diese seine eigene Generalthesis wegzuschaffen sich anstrengt.45

41 Hegel: Logik I, S.  65–79; ders.: Enzyklopädie I, S.  41–180, §§  1–83. Auf das problemati‑ sche Verhältnis dieser Anfangskonzeptionen kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Eine kurze Übersicht über die Problematik bietet Schnädelbach in: Drüe, Hermann u. a.: Hegels „Enzyklopädie Der Philosophischen Wissenschaften“ (1830) Ein Kommentar zum Systemgrundriss, Frankfurt a. M. 2000, S.  57–62. 42 Hegel: Phänomenologie, S.  27. 43  Ebd., S.  28. 44  Adorno: „Aspekte“, S.  260. 45  Ebd., S.  261.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Das erste oder, in diesem Fall, letzte Prinzip, an dem Hegel trotz der Vermitt‑ lung festhält, ist nach Adorno der Geist, den Hegel in der Vorrede als das Abso‑ lute, das Ganze und Wahre, und als die Einheit von Substanz und Subjekt fasst.46 Letztes Prinzip ist er, weil er die Totalität aller Vermittlungen ausmacht, in der sich die Bewegung der Vermittlung der Momente schließlich aufhebt; zugleich ist er auch erstes Prinzip, weil er als Totalität bereits am Anfang vor‑ ausgesetzt ist. Aus dem Zusammenhang von Vermittlung und dem Primat des Geistes wird verständlich, warum Adorno versucht, die beiden Momente von‑ einander zu trennen. Die Verbindung von Vermittlung und Primat des Geistes führt in Adornos Augen bei Hegel zu einer „Hypostasis der Vermittlung“,47 die nichts anderes bedeutet, als dass die Vermittlung gegenüber ihren Momenten zu einem selb‑ ständigen Dritten gemacht wird. Um diesen Zusammenhang verständlich zu machen, ist bei der hegelschen Bestimmung des Absoluten in der Phänomenologie des Geistes anzusetzen: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist.“48 Mit dieser Auffassung des Absoluten als durch seine Entwick‑ lung sich vollendendes Wesen, mithin als Subjekt, will Hegel einem Dilemma entschlüpfen, das sich in Bezug auf das Absolute stellt. Wird es nur unmittelbar ausgesprochen, so bleibt es ein isolierter Begriff. Wird es dagegen definiert, so wird es durch diese Verbindung mit anderem bereits vermittelt und ist so nicht mehr das Absolute. Hegel spricht das erste Moment dieses Dilemmas im An‑ schluss an seine Bestimmung des Absoluten gleich selbst an, um diese Bestim‑ mung zu rechtfertigen: Der Anfang, das Prinzip oder das Absolute, wie es zuerst und unmittelbar ausgespro‑ chen wird, ist nur das Allgemeine. Sowenig, wenn ich sage: alle Tiere, dies Wort für eine Zoologie gelten kann, ebenso fällt es auf, daß die Worte des Göttlichen, Absoluten, Ewi‑ gen usw. das nicht aussprechen, was darin enthalten ist; – und nur solche Worte drücken in der Tat die Anschauung als das Unmittelbare aus. Was mehr ist als ein solches Wort,

46  „Daß das Wahre nur als System wirklich oder daß die Substanz wesentlich Subjekt ist, ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht.“ Hegel: Phänomenologie, S.  28. 47 Adorno: Negative Dialektik, S.  322. Adorno wendet sich zwar gegen die Verdeutschung des griechischen Terminus: „Ich habe den Ausdruck ‚Hypostase‘ oder ‚Hypostasis‘ ge‑ braucht; heute hört man sehr oft, schlecht, aus Griechisch und Deutsch gestückt, ‚Hypost‑ asierung‘.“ Adorno: Philosophische Terminologie 2, S.  281. Er selbst verwendet aber bisweilen „Hypostasierung“ anstelle von „Hypostasis“. Kant, von dem Adorno den Begriff über‑ nimmt, versteht unter Hypostasierung, „daß man in Ansehung dessen, wovon man nichts weiß, die Lücke durch Paralogismen der Vernunft ausfüllt, da man seine Gedanken zu Sachen macht“. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, hg. von Jens Timmermann, Hamburg 1998, A 395. 48 Hegel: Phänomenologie, S.  24.

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1. Vermittlung

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der Übergang auch nur zu einem Satze, enthält ein Anderswerden, das zurückgenom‑ men werden muß, ist eine Vermittlung.49

Das zweite Moment des Dilemmas ist in Hegels Explikation der Vermittlung als ein Anderswerden bereits angedeutet. Wenn die Vermittlung des Absoluten ein Anderswerden ist, dann ist das Absolute geworden, und zwar ein Anderes und damit aus einem Anderen geworden – so ist es ein Vermitteltes. Als Resultat ist es unterschieden erstens von dem, woraus es geworden ist, und zweitens von seinem Werden selbst. Hegel kann sich diesem Dilemma nur entziehen, indem er die Vermittlung einerseits als Anderswerden des Absoluten selbst auffasst und diesen Gegensatz des Absoluten gegen sein Werden wiederum aufhebt. Dies ist nach Hegel das Werk der Reflexion, oder der Negativität als eines posi‑ tiven Moments des Absoluten: Sie [die Reflexion, d. Verf.] ist es, die das Wahre zum Resultate macht, aber diesen Ge‑ gensatz gegen sein Werden ebenso aufhebt, denn dies Werden ist ebenso einfach und daher von der Form des Wahren, im Resultate sich als einfach zu zeigen, nicht verschie‑ den; es ist vielmehr eben dies Zurückgegangensein in die Einfachheit. [. . .] Aber dies Resultat ist selbst einfache Unmittelbarkeit, denn es ist die selbstbewußte Freiheit, die in sich ruht und den Gegensatz nicht auf die Seite gebracht hat und ihn da liegen läßt, son‑ dern mit ihm versöhnt ist.50

Die Aufhebung des Gegensatzes des Absoluten gegen sein Werden gelingt, weil das Werden einfach ist und damit von der Form des Absoluten sich als einfach zu zeigen, also von der Form einfacher Unmittelbarkeit nicht verschieden ist. Die Aufhebung gelingt, in anderen Worten, weil das Werden selbst in der Form der Unmittelbarkeit erscheint, weil die Vermittlung selbst unmittelbar ist: Denn die Vermittlung ist nichts anderes als die sich bewegende Sichselbstgleichheit, oder sie ist die Reflexion in sich selbst, das Moment des fürsichseienden Ich, die reine Negati‑ vität oder, auf ihre reine Abstraktion herabgesetzt, das einfache Werden. Das Ich oder das Werden überhaupt, dieses Vermitteln ist um seiner Einfachheit willen eben die wer‑ dende Unmittelbarkeit und das Unmittelbare selbst.51

Die Stelle, an der Hegel die Vermittlung als Bewegung des Werdens wieder zur Unmittelbarkeit macht, ist das Herz der hegelschen Dialektik. Freilich ist hier nicht mehr der ursprüngliche Unmittelbarkeitsbegriff im Spiel, wie Henrich in seiner Lektüre der hegelschen Logik der Reflexion hervorgehoben hat. Meinte Unmittelbarkeit zunächst „Vermittlungslosigkeit schlechthin“, so ist die Un‑ mittelbarkeit der Vermittlung von gänzlich anderer Bedeutung: „Unmittelbar‑ keit ist ein Charakter suisuffizienter Vermittlung, ein Charakter der Selbstbe-

49 

Ebd., S.  24 f. Ebd., S.  25 f. 51  Ebd., S.  25. 50 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

ziehung.“52 Diese implizite Bedeutungsverschiebung im Unmittelbarkeitsbe‑ griff erlaubt Hegel die Wiederherstellung der Unmittelbarkeit und damit die Aufhebung der Vermittlung; sie ist das, was Adorno Hegel als Hypostasis der Vermittlung vorwirft, nämlich die Behauptung, die Vermittlung sei als Vermitt‑ lung selbst unmittelbar und damit wesentlich nicht vermittelt. Freilich entwi‑ ckelt Adorno diese Kritik an der Phänomenologie des Geistes und nicht an der Wesenslogik; deshalb entgeht ihm auch die von Henrich identifizierte Bedeu‑ tungsverschiebung im Unmittelbarkeitsbegriff. Für Adornos Kritik ist jedoch der Befund ausreichend, dass Hegel die Vermittlung als eine Relation zweier Momente für unmittelbar erklärt.53 Ist die positive Negation makrologisch der Punkt, an dem Adorno Hegel „die Gefolgschaft“ versagt,54 dann ist mit der Unmittelbarkeit der Vermittlung derselbe Punkt auf einer mikrologischen Ebe‑ ne erreicht. Adorno hält der Unmittelbarkeit der Vermittlung den Gedanken der Ver‑ mittlung der Vermittlung entgegen: „So wenig aber wie die Pole Subjekt und Objekt läßt Vermittlung sich hypostasieren; sie gilt einzig in deren Konstellati‑ on. Vermittlung ist vermittelt durchs Vermittelte.“55 Mithin ist als erste, grund‑ legende Differenz zwischen Adornos und Hegels Begriff der Vermittlung fest‑ zuhalten: Bei Hegel ist die Vermittlung als Vermittlung unmittelbar; bei Ador‑ no ist sie als Vermittlung wiederum durch das von ihr Vermittelte vermittelt. Für Adornos Kritik der hegelschen Vermittlung sind die Konsequenzen dieser Differenz von tragender Bedeutung. Gegen Adornos vermittelte Vermittlung bedeutet die hegelsche unmittelbare Vermittlung eine Hypostasierung der Ver‑ mittlung, weil Vermittlung als Seiendes unabhängig von ihren Momenten ge‑ setzt wird. Aber Vermittlung ist nach Adorno wesentlich Relationsbegriff und nicht Substanzbegriff, „keine positive Aussage über das Sein, sondern eine An‑ weisung für die Erkenntnis, sich nicht bei solcher Positivität zu beruhigen“.56 Das heißt: Vermittlung existiert nur als Relation ihrer Momente und nicht un‑ abhängig von ihnen; ohne zu vermittelnde Unmittelbarkeit gibt es keine Ver‑ mittlung, wie Adorno in Fragen der Dialektik ausführt: „Vermittlung ohne Vermitteltes würde einfach in der Luft hängen, ließe sich überhaupt gar nicht denken.“57 Als Relationsbegriff drückt die Vermittlung keine Sache, sondern eben eine bloße Relation aus, die nicht unabhängig von ihren Relata gedacht werden kann; wird sie selbst als unmittelbare Vermittlung betrachtet, so wird 52  Henrich, Dieter: „Hegels Logik der Reflexion“, in: ders.: Hegel im Kontext. Mit einem Nachwort zur Neuauflage, Berlin 52010, S.  95–157, hier S.  111. 53  Deshalb werde ich auch auf die von Henrich vorgenommene Begriffsdifferenzierung des zweiten Unmittelbarkeitsbegriffs nach drei weiteren Bedeutungen hier nicht weiter eingehen. Vgl. Ebd., S.  115. 54  Vgl. Adorno: Metaphysik, S.  2 24 f. 55 Adorno: Negative Dialektik, S.  106. 56  Vgl. Adorno: Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  32. 57 Adorno: Fragen der Dialektik, Vo 8944 f.

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sie wider ihre Bestimmung als Relationsbegriff zu einem Seienden gemacht, zu einer Relation, die unabhängig von ihren Momenten besteht; sie wird neben ihren Momenten als Drittes gesetzt und gegenüber ihnen hypostasiert. Die Fol‑ ge dieser Hypostasierung ist, so Iber, „die Verbegrifflichung des Nichtbegriff‑ lichen“,58 die in Adornos Hegelkritik eine so prominente Rolle spielt, weil Hegel nur dadurch das Nichtidentische in Identität auflösen kann.59 Ihrerseits jedoch ist die Hypostasierung der Vermittlung nur vor dem Hintergrund des Primats des Geistes möglich. Zur Erläuterung des Zusammenhangs von Vermittlung und Primat des Geistes möchte ich nochmals auf die Bewegung der Dialektik bei Hegel – diesmal auf der Grundlage des Methodenkapitels der Wissenschaft der Logik – zurückkommen. Schematisch besteht diese Bewegung aus drei Momenten: These – Antithese – Synthese. Zwischen diesen drei Momenten gibt es zwei Bewegungen: 1) Von der These zur Antithese und 2) von der Antithese zur Synthese. Hegel fasst, wie wir im Negativitätsabschnitt sehen werden, beide Bewegungen als Bewegungen der Negativität auf. In der ersten Bewegung ist die Negativität die Entzweiung der These in These und Antithese, in der zweiten Bewegung ist sie die Aufhe‑ bung dieser Entzweiung in die Synthese. Diese Bewegungen sind nun zu diffe‑ renzieren. Die erste, die Entzweiung, bezeichnet Hegel in der Wissenschaft der Logik als die Bewegung, „wodurch das anfängliche Allgemeine aus ihm selbst als das Andere seiner sich bestimmt“. 60 Die These bestimmt sich also von selbst zur Antithese. Diese Antithese, das zweite Moment, steht daher nicht bloß dem ersten Moment äußerlich gegenüber, sondern enthält es in sich: Das Unmittelbare ist nach dieser negativen Seite in dem Anderen untergegangen, aber das Andere ist wesentlich nicht das leere Negative, das Nichts, das als das gewöhnliche Resultat der Dialektik genommen wird, sondern es ist das Andere des Ersten, das Negative des Unmittelbaren; also ist es bestimmt als das Vermittelte, – enthält überhaupt die Bestimmung des Ersten in sich. Das Erste ist somit wesentlich auch im Anderen aufbewahrt und erhalten.61

Die zweite Bestimmung ist das Vermittelte und enthält als Vermitteltes die Be‑ stimmung des ersten Moments noch in sich. Das zweite Moment ist also nicht bloß gegen das erste Moment gesetzt, sondern es ist selbst diese Beziehung des zweiten auf das erste Moment. Das zweite Moment kann auf zwei Arten be‑ trachtet werden. Es kann zunächst einfach oder unmittelbar angesehen werden, „denn da das Erste in ihm untergegangen, so ist nur das Zweite vorhanden“. 62 Als Unmittelbares betrachtet zeigt sich das Vermittelte als bloß ein Moment, da, wie Hegel sagt, das erste Moment im zweiten verschwunden ist; – es zeigt sich 58 

Iber: „Begriff und Kategorien negativer Dialektik bei Adorno“, S.  82. Vgl. etwa: Adorno: Negative Dialektik, S.  125. 60 Hegel: Logik II, S.  557. 61  Ebd., S.  561. 62 Ebd. 59 

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nur das zweite Moment. Das aber ist nicht die Wahrheit der zweiten Bestim‑ mung, wie Hegel weiter ausführt: „Die zweite Bestimmung, die negative oder vermittelte, ist ferner zugleich die vermittelnde. Zunächst kann sie als einfache Bestimmung genommen werden, aber ihrer Wahrheit nach ist sie eine Beziehung oder Verhältnis; denn sie ist das Negative, aber des Positiven, und schließt dasselbe in sich.“63 Weil das Vermittelte zugleich das Vermittelnde ist, ist es eine Beziehung. Als Vermitteltes ist es bloß ein Moment, als Vermittelndes ist es zugleich das Verhältnis von zweitem und erstem Moment. Es ist dieser Doppel‑ charakter des zweiten Moments, als vermitteltem und vermittelndem, der für die zweite Bewegung, vom zweiten zum dritten Moment, zentral ist. Diese Be‑ wegung wird dadurch vollzogen, dass das Verhältnis von erstem und zweitem Moment, das heißt die Vermittlung der beiden Momente, als seiend gesetzt wird: „Das Zweite hingegen ist selbst das Bestimmte, der Unterschied oder Ver‑ hältnis; das dialektische Moment besteht bei ihm daher darin, die Einheit zu setzen, die in ihm enthalten ist.“64 Durch diese Setzung wird die Unmittelbar‑ keit wieder hergestellt, welche die Vermittlung bereits an sich ist – die Vermitt‑ lung, die vorher bloß ein Verhältnis war, ist nun selbst ein Ganzes, Positives und als dieses wiederum unmittelbar: In diesem Wendepunkt der Methode kehrt der Verlauf des Erkennens zugleich in sich selbst zurück. Diese Negativität ist als der sich aufhebende Widerspruch die Herstellung der ersten Unmittelbarkeit, der einfachen Allgemeinheit; denn unmittelbar ist das Ande‑ re des Anderen, das Negative des Negativen das Positive, Identische, Allgemeine.65

Indem das zweite Moment, das einerseits als Vermitteltes (als auf das erste Mo‑ ment als sein Anderes Verweisendes), andererseits als Unmittelbares (als das erste Moment in sich aufgehoben Habendes) betrachtet werden kann, indem in anderen Worten: dieses zweite Moment als Unmittelbares gesetzt wird, wird die Differenz, die Verweisung des zweiten Moments auf das erste, aufgehoben und das Verhältnis, das das zweite Moment darstellt, als seiend, als Drittes, un‑ abhängig von seinen Momenten gesetzt. Indem die Vermittlung als unmittelbar betrachtet wird, verschwindet darin die Differenz der vermittelten Momente; möglich ist das nur, sofern die Momente von Beginn an als „ideell“,66 mithin als unselbständige Momente innerhalb des Absoluten gedacht werden. Beide Be‑ wegungen der Negativität sind bei Hegel als Bewegungen innerhalb des Geistes gedacht: Der Geist ist das Ganze, das sich immanent differenziert und zum Schluss diese immanente Differenzierung wiederum aufhebt: „Dies Resultat hat nun als das in sich gegangene und mit sich identische Ganze sich die Form

63 

Ebd., S.  562.

65 

Ebd., S.  654. Logik I, S.  165.

64 Ebd.

66 Hegel:

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der Unmittelbarkeit wiedergegeben.“67 Die Synthese oder die Aufhebung ist so nichts anderes als die positive Setzung, die Hypostasierung der Vermittlung. Dreigliedrig ist diese Vermittlung bloß äußerlich betrachtet; tatsächlich besteht ihr drittes „Moment“ nicht in einem äußerlichen Dritten, einer Mitte, in der sich die Extreme versöhnen, sondern das Dritte ist die gesetzte Vermittlung der Extreme und damit das Ganze und gerade nicht Moment. 68 Die Oberflächendifferenz von zwei- und dreigliedriger Vermittlung zeigt sich so an der Vermittlung selbst als Differenz von vermittelter Vermittlung und unmittelbarer Vermittlung. Entscheidend ist nicht, dass die Vermittlung bei Adorno auf zwei Glieder verkürzt ist,69 mithin nicht die angebliche Tendenz zum Dualismus, sondern dass Vermittlung als Vermittlung selbst vermittelt ist. Anhand dieser Differenz lässt sich Sandkaulens Frage, warum Adorno nicht der dreigliedrigen Vermittlung Hegels negativ begegne, beantworten. Adorno selbst liefert dafür zunächst die Begründung, dass in der Hegelstudie „Aspek‑ te“ keine Darstellung der hegelschen Philosophie versucht wird, „sondern daß es sich dabei um einen Versuch der Rettung Hegels handelt, und zwar, wenn Sie wollen, in einem gewissen Widerspruch zu gewissen Grundintentionen von Hegel selbst“.70 Die radikale Trennung Hegels in einen dialektischen und einen idealistischen Hegel und die ihr entsprechende Trennung von Vermittlung und Primat des Geistes, so befremdlich sie ist, steht bei Adorno unter taktischen Motiven, die auf eine Rettung der Dialektik Hegels gegen undialektische Ten‑ denzen in dessen eigenem Denken abzielen. Indem Adorno bei einer zweiglied‑ rigen Vermittlung ansetzt und dann zeigt, dass diese, als das zu Rettende bei Hegel, durch den Primat des Geistes unterlaufen wird, kann er seine Vermitt‑ lungskritik als Rettung dialektischer Gehalte der hegelschen Philosophie gegen undialektische Tendenzen in der hegelschen Philosophie formulieren. Dabei ist diese Interpretation nicht so verstellend, wie es zunächst den Anschein macht. Denn auch die hegelsche Vermittlung ist nicht eine Vermittlung über eine Mitte, sondern das dritte Glied, das gemeinhin als die Mitte angesehen wird, ist bei 67 Hegel:

Logik II, S.  566. Hegel bezeichnet etwas als „Moment“, insofern „es in die Einheit mit seinem Entgegen‑ gesetzten getreten“ ist. Sein und Nichts sind Momente des Werdens als im Werden aufgehobe‑ ne, unselbständig seiende Bestimmungen. Hegel: Logik I, S.  114. In Bezug auf Hegel von ei‑ nem „unselbständigen Moment“ zu reden, ist ein Pleonasmus; allerdings ist es unumgänglich, auch in Bezug auf die negative Dialektik von vermittelten Momenten zu sprechen. Das Eigen‑ tümliche der Momente negativer Dialektik ist, dass sie trotz ihrer Vermitteltheit eine selbstän‑ dige Existenz besitzen. Um diesen loseren Sprachgebrauch von Hegels strengerem Begriffs‑ verständnis abzugrenzen, wird bisweilen in Bezug auf Hegel von unselbständigen Momenten gesprochen. 69  Schließlich hat bereits Müller‑Strömsdörfer auf Adornos „Tendenz zur Polarisierung, zur Zweistufigkeit, gegenüber dem Hegelschen Dreischnitt“ hingewiesen und sie als „das sei‑ ne Philosophie kennzeichnende Merkmal“ bezeichnet. Müller-Strömsdörfer: „Die helfende Kraft bestimmter Negation“, S.  104. 70 Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  124. 68 

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Hegel nicht ein dieser äußerliches Tertium, sondern die gesetzte Vermittlung der vermittelten Momente selbst. Insofern ist bereits die hegelsche Vermittlung eine Vermittlung ohne Mitte, denn das Mittlere ist nichts anderes als die gesetz‑ te Vermittlung der Extreme.71 Moderantistisch, das heißt: die Extreme versöh‑ nend, wird die hegelsche Vermittlung deshalb bloß durch die Verbindung mit dem absoluten Idealismus. Deshalb ist eine Befreiung der Vermittlung vom ab‑ soluten Idealismus zugleich die Rettung einer emphatisch dialektischen Ver‑ mittlung. Von diesem Vermittlungsbegriff her ist, wie Hullot‑Kentor bemerkt, die oft als rhetorisches Stilmittel bagatellisierte Übertreibungskunst72 Adornos zu verstehen: „Truth appears in the dialectical extreme; exaggeration is not just a rhetorical gesture, but reality’s own route to the truth to which dialectical thinking relentlessly devotes itself.“73 Die Rettung der dialektischen Vermitt‑ lung ist mithin Rettung ihres kritischen Potentials, die Extreme in ihrer wech‑ selseitigen Verweisung zu denken, ohne ihre radikale Nichtidentität und damit ihre eigenständige Realität aufzuheben. Die Vermittlung ohne Mitte ist in die‑ sem Sinne nicht eine Verkürzung einer ursprünglichen Form, sondern selbst die ursprüngliche Form der Vermittlung, die vor antidialektischen Tendenzen He‑ gels, seinem Idealismus, gerettet werden muss. Adorno zeigt, dass Vermittlung und damit Dialektik nicht konstitutiv an ein versöhnendes Drittes gebunden sind, sondern dass dieses Dritte dem Idealismus geschuldet ist. Damit hat er nicht bloß nachgewiesen, dass auch negative Dialektik eine im emphatischen Sinn dialektische Philosophie ist, sondern vor allem, dass der Gedanke der Ver‑ söhnung der Dialektik nicht an sich eingeschrieben ist; an sich ist Dialektik negative Dialektik.74 71  Zumindest trifft dies auf die hegelschen Ausführungen zur Methode zu. Eine andere Frage ist, ob diese Form der Vermittlung in der Durchführung der hegelschen Dialektik kon‑ sequent angewendet wird oder ob im Gegenteil das Material Hegel zur Konstruktion undia‑ lektischer, das heißt: äußerlicher Vermittlungen zwingt. So etwa im §  304 der Rechtsphiloso‑ phie, in dem Hegel selbst von einem „Moment der Mitte“ spricht. Hegel: Rechtsphilosophie, S.  474, §  304. An dieser Stelle setzt Marx in seiner Kritik der hegelschen Vermittlung an: „Zu‑ nächst bemerken wir über diese ganze Entwicklung, daß die ‚Vermittelung‘, die Hegel hier zustande bringen will, keine Forderung ist, die er aus dem Wesen der gesetzgebenden Gewalt, aus ihrer eignen Bestimmung, sondern vielmehr aus Rücksicht auf eine außer ihrer wesentli‑ chen Bestimmung liegende Existenz herleitet. Es ist eine Konstruktion der Rücksicht. Die gesetzgebende Gewalt vorzugsweise wird nur mit Rücksicht auf ein Drittes entwickelt.“ Marx: „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“, S.  288. 72  Vgl. etwa: Seel, Martin: „Anerkennende Erkenntnis. Eine normative Theorie des Ge‑ brauchs von Begriffen“, in: ders.: Adornos Philosophie der Kontemplation, Frankfurt a. M. 2004, S.  42–63, hier S.  58 (= Anerkennende Erkenntnis). 73  Hullot-Kentor, Robert: „Critique of the Organic. Kierkegaard and the Construction of the Aesthetic“, in: ders.: Things Beyond Resemblance. Collected Essays on Theodor W. Adorno, New York 2006, S.  77–93, hier S.  87. 74  Vgl. O’Connor: „Adorno’s Reconception of the Dialectic“, S.  538. O’Connor aber leitet die essentielle Negativität nicht aus Adornos Vermittlungsbegriff ab, sondern beruft sich auf eine Kritik, die Adorno in der Vorlesung über negative Dialektik an einer Stelle der hegel‑ schen Logik übt, in der Hegel angeblich durch eine sprachliche Erschleichung das Nichtbe‑

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II.  Die Differenz in der Vermittlung und ihre Folgen Die Differenz zum hegelschen Vermittlungsbegriff erschöpft sich nicht in der Vermitteltheit der Vermittlung. In formaler Hinsicht setzt die Trennung der Vermittlung vom Primat des Geistes im Inneren der Vermittlung eine Struk‑ turveränderung frei, die für das Gefüge einer negativen Dialektik von zentraler Bedeutung ist; über den formalen Rahmen hinaus ermöglicht es diese Struk‑ turveränderung, einen bedeutenden Gehalt der hegelschen Philosophie, ihre Fähigkeit zu inhaltlicher Erfahrung, jenseits der idealistischen Supposition ei‑ ner Identität von Subjekt und Objekt festzuhalten. Äußerlich zeigt sich die Strukturveränderung als Verlust der dialektischen Entwicklung. Auf die Ver‑ mittlung bezogen hat das eine doppelte Bedeutung: Einerseits wird dadurch keine neue Unmittelbarkeit – Henrich: „Selbstbeziehung“ – mehr produziert, andererseits aber auch die alte Unmittelbarkeit – Henrich: „Beziehungslosig‑ keit“75 – nicht aufgehoben. In beidem sieht Adorno einen Fortschritt über die Dialektik Hegels. So kritisiert er an der hegelschen Vermittlung einerseits die Auflösung des Unmittelbaren in der Vermittlung: „Der Triumph, das Unmit‑ telbare sei durchaus vermittelt, rollt hinweg über das Vermittelte und erreicht in fröhlicher Fahrt die Totalität des Begriffs, von keinem Nichtbegrifflichen mehr aufgehalten, die absolute Herrschaft des Subjekts.“76 An einer anderen Stelle kritisiert er die hegelsche „Doktrin von der auf jeder dialektischen Stufe erneut sich wiederherstellenden Unmittelbarkeit“,77 in anderen Worten, die Synthese oder positive Negation, mithin die aus der Negation der Negation sich ergebende Position. Denn diese besorgt die „Reproduktion einer opaken Unmittelbarkeit, die, als gewordene, auch Schein ist“.78 Beide Manöver setzen den Primat des Geistes voraus. Ohne diesen zeigt sich die Vermittlung als ih‑ rerseits durch das Unmittelbare vermittelte und kann als solche das Unmittel‑ bare weder auflösen noch auf höherer Stufe reproduzieren. Gegenüber der Dy‑ namik der hegelschen Dialektik scheint dies einen Rückfall in einen Dualismus und eine Erstarrung der Dialektik darzustellen; aber der Verlust der dialekti‑ griffliche in den Begriff auflöse. Vgl. Adorno, Theodor W.: Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66, hg. von Rolf Tiedemann, Nachgelassene Schriften Abt.  4 : Vorlesungen, Bd. 16, Frankfurt a. M. 2003, S.  92 ff. (= Vorlesung über Negative Dialek‑ tik); O’Connor: „Adorno’s Reconception of the Dialectic“, S.  546 f. Ich habe die Probleme dieser Kritik, die unverändert in der Negativen Dialektik wiederholt wird, bereits angespro‑ chen. O’Connors Problem liegt jedoch nicht in der problematischen Kritik Adornos, sondern ist darin zu suchen, dass sein Rekurs nicht klar machen kann, warum Dialektik für Adorno essentiell negative Dialektik ist. Nämlich nicht, weil sie das Nichtbegriffliche nicht auflöst, sondern, eine Schicht tiefer: weil Vermittlung nicht hypostasiert werden kann und somit auch das Nichtbegriffliche nicht in den Begriff aufgelöst werden kann. 75  Henrich: „Hegels Logik der Reflexion“, S.  111. 76 Adorno: Negative Dialektik, S.  174. 77  Ebd., S.  48. 78  Ebd., S.  161.

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schen Entwicklung verändert den Vermittlungsbegriff dahingehend, dass im Vermittlungsbegriff eine qualitative Differenz freigesetzt wird, die bei Hegel nicht zum Tragen kommen kann. Die qualitative Differenz betrifft die Momente der Vermittlung. Während bei Hegel die Momente, als Momente des Geistes, qualitativ gleich – nämlich ideell – sind, ist die Vermittlung bei Adorno immer eine zwischen qualitativ verschie‑ denen Momenten. Rentsch hat die wichtigsten Momente dieser Vermittlung bei Adorno herausgestellt, denen ich die Begriffe „Vermittlung“ und „Unmittelbar‑ keit“ als Oberbegriffe hinzufüge: 79

[Vermittlung] [Unmittelbarkeit] Subjekt Objekt Begriff Nichtbegriffliches Allgemeines Besonderes Identität Nichtidentisches

Trotz der qualitativen Differenz fällt Adorno nicht in eine äußerliche Vermitt‑ lung zurück. Die Vermittlung dieser Begriffe ist nicht eine Vermittlung zwischen den Begriffen, sondern eine Vermittlung in den Begriffen: „Daß der Be‑ griff aus sich heraus in seinen Widerspruch umschlägt, heißt in Hegelscher Sprache: der Begriff ist in sich selbst vermittelt.“80 Die Vermittlung ereignet sich in den Begriffen selber; jeder ist in sich selbst durch seinen Gegenbegriff vermit‑ telt. In der Vorlesung Probleme der Moralphilosophie erklärt Adorno diese Ver‑ mittlung über den Begriff der Implikation: „Vermittlung nicht als ein Mittleres verstanden, sondern in dem Sinn, daß durch die Vermittlung von den beiden einander entgegengesetzten Momenten das eine dessen inne wird, daß es das andere in sich notwendig impliziert.“81 Bei welchem Begriff oder Moment wir unsere Untersuchung auch ansetzen, es führt uns immer auf sein Anderes, sein in ihm impliziertes Gegenüber. Subjekt macht nur einen Sinn, wenn es auf ein Objekt bezogen ist; Objekt nur, wenn es in Relation auf ein Subjekt, für das es Objekt ist, gedacht wird. Ungeachtet der essentiellen Wechselseitigkeit besitzt ein Moment in der Vermittlung ein Übergewicht in dem Sinne, dass die dem Subjekt zugeordneten Momente innerhalb der Wechselseitigkeit einen Primat einnehmen. Ihr Primat rührt daher, dass das subjektive Bewusstsein, in welcher Form auch immer, in der Bewusstseinsphilosophie der Ausgangspunkt der phi‑ losophischen Reflexion bildet. So sagt Adorno in Bezug auf den Begriff: „Weil das Seiende nicht unmittelbar sondern nur durch den Begriff hindurch ist, wäre beim Begriff anzuheben, nicht bei der bloßen Gegebenheit.“82 Die dem Objekt zugeordneten Momente sind allesamt nur in der Vermittlung durch die dem 79 

Vgl. Rentsch: „Vermittlung“, S.  95. Adorno: „Kierkegaard noch einmal“, S.  247. 81 Adorno: Probleme der Moralphilosophie, S.  156. 82 Adorno: Negative Dialektik, S.  156. 80 

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Subjekt zugeordneten Momente greifbar; kein Nichtbegriffliches lässt sich ohne den Begriff, kein Objekt ohne Subjekt erkennen – kein Unmittelbares ist unmit‑ telbar, sondern immer nur über die Vermittlung gegeben. Insofern sind die dem Subjekt zugeordneten Momente die vermittelnden Momente, gar die Vermitt‑ lung selbst: „Dem Begriff ist die Vermittlung essentiell, er selber ist seiner Be‑ schaffenheit nach unmittelbar die Vermittlung.“83 Auch bei Hegel haben wir gesehen, dass das eine Moment zugleich Moment und das Vermittelnde ist und so das andere Moment in sich enthält. Adornos Differenz in der Vermittlung zeigt sich als Differenz zu Hegel darin, dass die beiden Momente als qualitativ verschiedene gedacht werden: das erste Moment ist als vermittelndes ein Geis­ tiges, während das zweite ein Nichtgeistiges bezeichnet. Hier wird greifbar, warum die in der Phänomenologie des Geistes entworfene Dialektik von Be‑ wusstsein und Gegenstand für Adorno von größerer Bedeutung ist, als die in der Wissenschaft der Logik stattfindende Dialektik zwischen Begriffen. Denn in der Dialektik von Bewusstsein und Gegenstand herrscht auch bei Hegel eine qualitative Differenz – zumindest soweit man vom Primat des Geistes absieht. In der Wissenschaft der Logik aber ist der Gegensatz bereits am Ausgangspunkt aufgehoben. Die qualitative Differenz der Momente der Vermittlung artikuliert sich als Differenz in der Vermittlung, die Adorno aus der Vermittlung der Vermittlung ableitet. Dass die Vermittlung nicht unmittelbar, sondern selbst durch das Ver‑ mittelte vermittelt ist, bedeutet, dass es in jeder Vermittlung eigentlich zwei Vermittlungen gibt: 1) Die Vermittlung des Unmittelbaren (der Relata) durch die Vermittlung und 2) die Vermittlung der Vermittlung durch das Unmittelba‑ re (durch die Relata). Die Differenz in der Vermittlung ist eine Differenz zwi‑ schen diesen beiden Formen der Vermittlung; Adorno formuliert sie in der Negativen Dialektik in klarer Absetzung gegen Hegel: Die Universalität von Vermittlung ist aber kein Rechtstitel dafür, alles zwischen Him‑ mel und Erde auf sie zu nivellieren, wie wenn Vermittlung des Unmittelbaren und Ver‑ mittlung des Begriffs dasselbe wären. Dem Begriff ist die Vermittlung essentiell, er ­selber ist seiner Beschaffenheit nach unmittelbar die Vermittlung; die Vermittlung der Unmittelbarkeit jedoch Reflexionsbestimmung, sinnvoll nur in bezug auf das ihr Entge‑ gengesetzte, Unmittelbare.84

Die Differenz zwischen den beiden Vermittlungen besteht darin, dass die Ver‑ mittlung des Unmittelbaren bloße Reflexionsbestimmung ist, die Vermittlung der Vermittlung dagegen deren Substanz ausmacht. Vermittlung ist konstitutiv auf die Unmittelbarkeit als zu Vermittelndes verwiesen. „Vermittlung geht auf Vermitteltes“, heißt es an anderer Stelle.85 Dagegen ist die Unmittelbarkeit bloß 83 

Ebd., S.  173.

85 

Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  746.

84 Ebd.

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in der Reflexion auf Unmittelbarkeit und nicht an sich von der Vermittlung ab‑ hängig. Der vorhin angedeutete Primat des subjektiven Moments, mithin der Vermittlung selbst, verkehrt sich hier in sein Gegenteil. Schien zunächst das Unmittelbare von der Vermittlung abzuhängen, hängt nun vielmehr die Ver‑ mittlung vom Unmittelbaren ab: In Unmittelbarkeit liegt nicht ebenso deren Vermitteltsein wie in der Vermittlung ein Unmittelbares, welches vermittelt würde. Den Unterschied hat Hegel vernachlässigt. Vermittlung des Unmittelbaren betrifft seinen Modus: das Wissen von ihm und die Grenze solchen Wissens. Unmittelbarkeit ist keine Modalität, keine bloße Bestimmung des Wie für ein Bewußtsein, sondern objektiv: ihr Begriff deutet auf das nicht durch seinen Begriff Wegzuräumende. Vermittlung sagt keineswegs, alles gehe in ihr auf, son‑ dern postuliert, was durch sie vermittelt wird, ein nicht Aufgehendes; Unmittelbarkeit selbst aber steht für ein Moment, das der Erkenntnis, der Vermittlung, nicht ebenso be‑ darf wie diese des Unmittelbaren.86

Adorno benutzt zur Differenzierung dieser beiden Formen bisweilen die Aus‑ drücke „Erkenntnisgrund“ und „Realgrund“ oder „objektive[r] Grund“, 87 wohl in Übersetzung der scholastischen Termini „causa cognoscendi“ und „causa essendi“. In diesen Bezeichnungen ist bereits das Ungleichgewicht in der Differenz der beiden Vermittlungsformen enthalten: eine ist substantieller, gleichsam gewichtiger, als die andere.88 Die Vermittlung des Unmittelbaren ist bloß eine modale Vermittlung: Das Unmittelbare ist nur im Modus der Er‑ kenntnis durch das Bewusstsein vermittelt; substantiell bleibt es ein Unmittel‑ bares und erhält sich als solches jenseits der Vermittlung durch das Bewusstsein. Dagegen ist die Vermittlung der Vermittlung durch das Unmittelbare eine substantielle Vermittlung: ohne Unmittelbares, das sie vermitteln könnte, würde sie nicht existieren. Die Tragweite der Differenz im Vermittlungsbegriff für Adornos Versuch einer immanenten Kritik des Idealismus wird erst im folgen‑ den Kapitel vollends zur Geltung kommen; hier möchte ich bloß einige Konse‑ 86 Adorno:

Negative Dialektik, S.  173 f. Adorno: „Soziologie und empirische Forschung“, GS 8, S.  196–216, hier S.  214; ders.: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, hg. von Rolf Tiedemann, NaS IV 13, Frankfurt a. M. 2001, S.  307 (= Geschichte und Freiheit). 88  In seiner Kantvorlesung spricht Adorno in Bezug auf Form und Inhalt von einem Un‑ terschied der Gewichte: „Es gibt also, trotz der universalen Vermitteltheit, doch irgend so etwas wie innerhalb dieser Vermitteltheit – ja, ich möchte beinahe sagen: einen Unterschied der Gewichte. Es ist etwas anderes zu sagen, daß die Formen vermittelt sind durch die Inhalte, auf die sie sich beziehen, als zu sagen, daß die Inhalte vermittelt sind durch die Formen, auf die sie sich beziehen. Die Formen, in der Tat, sind wesentlich durch Inhalte vermittelt und können ohne Inhalte überhaupt nicht gedacht werden. In den Inhalten aber steckt immer auch etwas drin wie der Hinweis auf das, was in Form nicht ganz aufgeht, was in Form eigentlich nicht ganz sich erschöpft.“ Adorno: Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  352 f. Auch in Fragen der Dialektik spricht Adorno von einer verschiedenen Gewichtung der Momente: „[E]s ist gleichsam das Gewicht des Inhalts, der die Form vermittelt, größer als das Gewicht der Form, die den Inhalt vermittelt, und ich sage das allerdings in einem offenbaren Gegensatz zur ganzen Tradition der offiziellen Philosophie.“ Adorno: Fragen der Dialektik, Vo 8947 f. 87 Vgl.

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quenzen der Differenz kurz skizzieren. Indem das Unmittelbare bloß modal durch das Bewusstsein vermittelt ist, erhält es sich als Unmittelbares jenseits der Vermittlung. Dadurch erhält Adornos Philosophie ein quasiontologisches Ele‑ ment: Unmittelbarkeit wird als Festes jenseits aller Dialektik gedacht. Ich nenne das Element an dieser Stelle quasiontologisch, weil Adorno nicht das Objekt oder das Unmittelbare jenseits aller Vermittlung hypostasiert, sondern ihm im Hinblick auf die Differenz in der Vermittlung einen Doppelcharakter zuspricht: Es wird vom Bewusstsein als zugleich vermittelt und unmittelbar gedacht: Adorno nennt das den Vorrang des Objekts. Im Folgenden werde ich bloß auf die im engeren Sinne strukturellen Folgen eingehen, welche die Vermittlungskritik im Allgemeinen und die Differenz in der Vermittlung im Besonderen für das Gefüge einer negativen Dialektik haben. Prima facie zeigen sich die Folgen an der Struktur der Dialektik als Verlust, nämlich als den der dialektischen Entwicklung. Die nicht hypostasierbare Ver‑ mittlung erlaubt keine Aufhebung und sistiert damit den Stufengang der Dia‑ lektik. Dieser Verlust ist genau besehen ein Vorteil, denn gerade durch die Ab‑ sage an eine Hypostasis der Vermittlung kann Adorno gegen Hegel an der Dif‑ ferenz des Nichtbegrifflichen vom Begriff oder des Nichtidentischen von der Identität festhalten. Gegen das Verschwinden der Differenz von Unmittelbar‑ keit und Vermittlung hält Adorno an einer Substantialität der Unmittelbarkeit, an der erst die Dialektik statthat, fest. „Unmittelbarkeit“ besitzt bei Adorno einen Doppelcharakter, den er in einer Vorlesung dahingehend expliziert, „daß durch diese Relation zu ihren Bedingungen, welche die Unmittelbarkeit als ein Bedingtes erweist, zwar die Unmittelbarkeit gebrochen wird, aber zugleich doch auch sich erhält“. 89 Das Unmittelbare ist nicht jenseits der Vermittlung gedacht, sondern als Moment in der Vermittlung; es ist nicht ontologisches Fun‑ dament, sondern innerhalb der Dialektik ein in dieser unauflösliches Moment. So bezeichnet die Substantialität der Unmittelbarkeit nicht einen zweiten Be‑ griff von Unmittelbarkeit, sondern Beharrlichkeit und Gebrochenheit sind zwei Seiten derselben Unmittelbarkeit. Daraus folgt, dass die schematisch der Unmit‑ telbarkeit zugeordneten Begriffe, also: Objekt, Nichtidentisches, Nichtbegriff‑ liches und Besonderes, zumindest in ihrem emphatischen Gebrauch, Grenzbe‑ griffe in folgendem Sinne sind: Sie sind zwar Begriffe, bezeichnen aber dezidiert etwas, was nicht in Begriffen aufgeht. Nur als solche Grenzbegriffe sind sie qualitativ verschieden von ihrem dialektischen Gegenpart. Dieses latent materi‑ alistische Moment90 der Differenz in der Vermittlung verändert auch die Quali‑ 89 Adorno:

Geschichte und Freiheit, S.  32. Für Adorno enthält die Differenz in der Vermittlung den Gedanken des Materialismus in sich. Tiedemann hat gezeigt, dass Adorno diese Differenz auch in der folgenden Stelle der Wissenschaft der Logik ausgemacht hat: „Die Materie, das als gleichgültig Bestimmte, ist das Passive gegen die Form als Tätiges. Diese ist als das sich auf sich beziehende Negative der Widerspruch in sich selbst, das sich Auflösende, sich von sich Abstoßende und Bestimmende. 90 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

tät negativer Dialektik selbst. Theunissens These, dass die hegelsche Dialektik bei Marx und Kierkegaard durch die im Vergleich zu Hegel stärkere Dissozia­ tion von Denken und Sein in zwei Arten der Dialektik, eine Darstellungsdialek‑ tik und eine Realdialektik, zerbricht,91 wäre auf Adornos Dialektik auszudeh‑ nen. Statt eines Bruches in zwei Dialektiken gibt es in negativer Dialektik eine Achsendrehung der Dialektik von einer horizontalen Dialektik von Begriffen zu einer vertikalen Dialektik von Begriff und Sache. Dadurch wird Dialektik zu einer Grenzdialektik zwischen Geist und Welt, Begriff und Realität, Denken und Sein. Genauer betrachtet zeigt sich die Grenzdialektik als Dialektik von Begriffen und Grenzbegriffen, von Subjekt und Objekt, Allgemeinem und Be‑ sonderem, Identität und Nichtidentischem. Die beiden Momente der Dialektik werden als qualitativ verschiedene und deswegen radikal nichtidentische konzi‑ piert, radikal in dem Sinne, dass ihre Nichtidentität nicht durch eine übergrei‑ fende Identität aufgehoben werden kann. Mit der Hypostasis der Vermittlung entledigt sich die Dialektik nach Adorno zugleich ihres restaurativen oder affirmativen Moments, das ihre kritische Kraft lähmt. Dialektik ist für Adorno wesentlich „perennierende Kritik“,92 und der Abbruch der Dialektik als Kritik ihr „Sündenfall“ schlechthin.93 Dieses restau‑ rative Moment der Dialektik ist zwar auch, aber nicht nur, den Intentionen des Dialektikers geschuldet: Jede Methode – und auch Dialektik ist im weitesten Sinn noch Methode – kann schließlich sowohl zu progressiven als auch zu reak‑ tionären Zwecken benutzt werden; 94 der Dialektik aber ist dieses restaurative Moment bereits vor ihrer Anwendung gleichsam strukturell eingebaut: in der Hypostasis der Vermittlung. Hegel kann in diesem Sinne nicht streng dialek‑ tisch denken, weil seine Dialektik immer bereits zu einer Aufhebung der Extre‑ me tendiert; seine Logik, wie Habermas es im Rückgriff auf Henrich ausdrückt, „kann nicht umhin, die idealistische Vorherrschaft des Einen, Allgemeinen und Notwendigen zu besiegeln, weil sich im Begriff der Vermittlung selbst die zu‑ gleich totalisierenden und selbstbezüglichen Operationen durchsetzen“.95 In Sie bezieht sich auf die Materie, und sie ist gesetzt, sich auf dies ihr Bestehen als auf ein Ande‑ res zu beziehen. Die Materie hingegen ist gesetzt, sich nur auf sich selbst zu beziehen und gleichgültig gegen Anderes zu sein; aber sie bezieht sich an sich auf die Form, denn sie enthält die aufgehobene Negativität und ist nur Materie durch diese Bestimmung.“ Hegel: Logik II, S.  89 f. Adorno notierte in seinem Exemplar an dieser Stelle: „sehr tief. In der Vermittlung sind nicht beide Momente ‚gleich‘. Materialismus.“ Zitiert nach: Adorno: Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  412. 91  Vgl. Theunissen, Michael: „Dialektik der Endlichkeit. Hegel von Heraklit bis Derrida“, in: Jubara, Annett und Benseler, David (Hgg.): Dialektik und Differenz. Festschrift für Milan Prucha, Wiesbaden 2001, S.  35–71, hier S.  54 f. (= Dialektik der Endlichkeit). 92 Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, GS 4, S.   280 (= Minima Moralia). 93 Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  266. 94 Adorno: Minima Moralia, S.  280. 95  Habermas: „Motive nachmetaphysischen Denkens“, S.  39.

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1. Vermittlung

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Adornos Begriff der Vermittlung sind die selbstbezüglichen Operationen durch die Vermitteltheit der Vermittlung im Zaum gehalten, so dass sich die Vermitt‑ lung nicht selbst wieder als Unmittelbares setzen lässt; in dieser Hinsicht ist negative Dialektik dialektischer als die hegelsche. Dass sich unter dem Primat des Geistes die Hypostasis der Vermittlung gegen deren Vermitteltheit durchsetzt, macht das kritische Defizit der hegelschen Di‑ alektik aus. Nach Hegels Selbstverständnis wird in der Hypostasis eine neue Qualität, eine neue Unmittelbarkeit, erreicht. In der neuen Unmittelbarkeit ist aber nicht nur die Substantialität der ursprünglichen Unmittelbarkeit ver‑ schwunden, sondern auch die Vermittlung und mit dieser die Genesis der neuen Qualität. Das doppelte Moment des Verschwindens in der Vermittlung ist das affirmative Moment hegelscher Dialektik, der Abbruch der Kritik. Die neue Unmittelbarkeit gibt sich opak und verleugnet ihre Genesis.96 Adorno hält da‑ gegen, dass diese Unmittelbarkeit „als gewordene, auch Schein ist“.97 Dass sie auch Schein ist, impliziert, dass sie nicht nur Schein ist; das Verschwinden der Vermittlung in der Unmittelbarkeit hat auch ein Wahrheitsmoment. In der Vor‑ lesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit bestimmt Adorno dieses Moment im Hinblick auf das Verhältnis von Genesis und Geltung der Logik. Dem hegelschen Moment des Verschwindens der Vermittlung spricht er dort einen Doppelcharakter zu: Es sei „nicht nur ein Vergessen, sondern eben zugleich die Konstitution einer objektiven Region“.98 Diese Doppeldeutigkeit ist der Grund, warum der Begriff der zweiten Unmittelbarkeit, also der gewor‑ denen Unmittelbarkeit, von Adorno teils negativ,99 teils positiv100 verwendet wird. Akzeptiert Adorno das Moment des Verschwindens der Vermittlung als legitimes Moment, so kritisiert er dennoch, dass Hegel den Scheincharakter die‑ ses Moments nicht kritisch genug betrachtet hat. Er formuliert diese Kritik über einen Vergleich mit Marx: Bei Marx ist es immer so, daß er den Gedanken der Gewordenheit, der zweiten, dritten, vierten Unmittelbarkeiten, der zweiten Natur viel ernster nimmt als Hegel, bei dem das Verschwinden des Werdens im Gewordenen mehr als eine Stufe der Dialektik so akzep‑ tiert wird. So daß also das, was bei Hegel eigentlich nur soviel heißt wie, daß durch den Aufweis der Vermittlung auch die Unmittelbarkeit schließlich auf allen Stufen wieder nur als ein Stück vom Geist Gesetztes herausgebracht werden soll.101 96  Freilich, hier wäre auf das hegelsche Konzept der „Er-Innerung“ zu verweisen, das die Momente in sich aufbewahrt und erinnert; aber diese Er-Innerung findet nur im absoluten Wissen statt und erinnert die Momente nur als Momente des absoluten Wissens, mithin des absoluten Geistes, dessen Begriff von Adorno gerade nicht vorausgesetzt wird. Hegel: Phänomenologie, S.  591. 97 Adorno: Negative Dialektik, S.  161. 98 Adorno: Geschichte und Freiheit, S.  360. 99  Vgl. Adorno: Minima Moralia, S.  246. 100  Adorno: „Aldous Huxley und die Utopie“, GS 10.1, S.  97–122, hier S.  108. 101 Adorno: Geschichte und Freiheit, S.  192.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Die Kritik an der Lehre von der sich wiederherstellenden Unmittelbarkeit be‑ trifft demnach nicht primär diese Unmittelbarkeit, sondern ihre Opazität. Fraglich ist an dieser Stelle, wie Adorno einerseits gegen Hegel an einer Dialek‑ tik festhalten kann, die durch ihre Struktur keine Reproduktion der Unmittel‑ barkeit zulässt, andererseits aber dem Moment des Verschwindens in zweiter Unmittelbarkeit einen Wahrheitsgehalt zusprechen kann. Die Antwort lautet: Es handelt sich um zwei verschiedene Stufen, wenn dieser Begriff hier gebraucht werden darf, im Denken Adornos. In seiner Dialektik gibt es wirklich keine sich wiederherstellende Unmittelbarkeit; wohl aber gibt es dieses Phänomen, zumeist Verdinglichung genannt, in der Struktur der Gesellschaft, als ein objektives Phänomen, wie der von Marx identifizierte Fetischcharakter der Ware, der objektiv aus dem Tausch abgeleitet wird.102 Negative Dialektik ist kein ob‑ jektives Bewegungsgesetz der Gesellschaft, sondern eine Stellung des Gedan‑ kens zur Objektivität. Verdinglichung und Fetischcharakter sind deshalb auch nicht ein Phänomen in der Bewegung negativer Dialektik, vielmehr ein Phäno‑ men der objektiven Bewegungsgesetze der Gesellschaft selbst: „Das Unheil liegt in den Verhältnissen, [. . .] nicht primär in den Menschen und der Weise, wie die Verhältnisse ihnen erscheinen.“, heißt es in der Negativen Dialektik.103 Als ein in diesem Sinne objektives, nicht als Phänomen negativer Dialektik, ist Ver‑ dinglichung oder sich wiederherstellende Unmittelbarkeit nicht nur unhinter‑ gehbar, sondern besitzt auch eine positive Seite, etwa im Umschlag absoluter Verdinglichung in Humanität.104 Verdinglichung wird mithin als objektives Phänomen zum Gegenstand negativer Dialektik und insofern ist das Ver‑ schwinden der Vermittlung ein problematischer Inhalt der negativen Dialektik, nicht aber ein Problem der negativen Dialektik selbst. Wir haben gesehen, dass die Differenz zwischen hegelscher und adornoscher Vermittlung sich keineswegs in der schematischen Differenz von Zwei- und Dreigliedrigkeit erschöpft. Vielmehr zeigt sich diese Differenz am Begriff der Vermittlung als eine Differenz zwischen der Unmittelbarkeit der Vermittlung und der Vermittlung der Vermittlung; diese Differenz an der Vermittlung setzt ihrerseits die Differenz in der Vermittlung frei. Die Differenz als bloße Verkür‑ zung zu interpretieren, heißt nicht nur der negativen Dialektik weit unter ihrer Komplexität zu begegnen, sondern auch ihr dialektisches Moment, das, was sie von einem bloßen Dualismus unterscheidet, zu verfehlen. An Rentsch, der den „begrifflichen Rahmen der Negativen Dialektik“ für „kontradiktorisch und dualistisch verfasst“ hält,105 wird der Mangel dieser Kritik offenbar; denn den

102 Adorno: Negative Dialektik, S.  190; vgl. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, MEW 23, S.  85 ff. (= Kapital). 103 Adorno: Negative Dialektik, S.  191. 104  Ebd., S.  192; Vgl. Adorno: „Aldous Huxley und die Utopie“, S.  108. 105  Rentsch: „Vermittlung“, S.  95.

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1. Vermittlung

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vermeintlichen Dualismus Adornos führt er auf einen Verlust der Vermittlung zurück: Durch die extreme Radikalität seiner Kritik an der Möglichkeit begrifflicher Vermitt‑ lung begibt sich Adorno im Blick auf die Permanenz der Negativität überhaupt der Ver‑ mittlung. Deshalb muß er Dialektik – und dieser Titel überschreibt schließlich auch philosophiehistorisch zunächst einmal nichts anderes als die gemeinsame Gesprächspra‑ xis begrenzter, fragiler Wesen – im Prinzip gänzlich aufkündigen.106

Davon abgesehen, dass er in seinem Einschub die Differenz zwischen zwei sys‑ tematisch verschiedenen Dialektikbegriffen verschleift,107 übersieht Rentsch an dieser Stelle, dass Adorno nicht die Möglichkeit begrifflicher Vermittlung gene‑ rell kritisiert, sondern bloß die Hypostasierung dieser Vermittlung. Er erliegt an dieser Stelle dem gleichen Kurzschluss wie Sandkaulen, die Adorno vorwirft, die Momente würden sich „unvermittelt polarisiert gegenüberstehen“.108 Die Überlegung lautet: Aus Adornos Kritik an einem versöhnenden Dritten folgt, dass er Vermittlung und damit Dialektik gänzlich aufkündigt. Dem Schluss liegt eine äußerliche Konzeption der Vermittlung zugrunde, als ob die Vermitt‑ lung konstitutiv von einem Dritten, einer Mitte abhängen würde, so als ob sie von Anfang an mit Rücksicht auf ein Drittes entwickelt würde. Aber der Ver‑ mittlungsgedanke – und damit auch das dialektische Moment – erschöpft sich nicht in der Möglichkeit eines versöhnenden Dritten; schließlich ist, abstrakt betrachtet, auch in der hegelschen Dialektik das spekulative Moment als das versöhnende Dritte explizit vom im engeren Sinne dialektischen Moment, dem negativ-vernünftigen, abgegrenzt.109 So ist auch bei Adorno das eigentlich Dia‑ lektische das, was er die innere Vermittlung nennt: die einem Begriffe imma‑ nente Verweisung und Angewiesenheit auf sein Anderes. Gerade weil der Be‑ griff immanent durch sein Anderes vermittelt ist, weil seine Analyse immer auf sein Anderes führt und umgekehrt die Analyse dieses Anderen immer auf die‑ sen Begriff zurückführt, kann man nicht von einer dualistischen Struktur spre‑ chen. Diese Kritik an Adorno fällt hinter Adorno zurück, weil sie unkritisch an Hegel festhält, der neben dem absoluten Idealismus nur drei Stellungen des Ge‑ dankens zur Objektivität für möglich hielt; 110 negative Dialektik aber ist weder vorkritische Metaphysik noch Empirismus oder kritische Philosophie noch ein

106 

Ebd., S.  94 f. Wenn sich auch beide Begriffe der Dialektik historisch auf Platon zurückführen lassen, so existiert doch zwischen einer Dialektik im Sinne sokratischer Gesprächspraxis, wie sie in den Frühdialogen vorherrscht und einer Dialektik im engeren Sinne einer Dialektik von Be‑ griffen selbst, wie sie in den Spätdialogen praktiziert wird, ein Unterschied in der Sache, der ein Unterschied ums Ganze ist. 108  Sandkaulen: „Modell 2“, S.  184. 109  Vgl. Hegel: Enzyklopädie I, S.  168 ff., §§  79–82. 110  Vgl. Ebd., S.  93–168, §§  26–78. 107 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

unmittelbares Wissen, sondern neben diesen und auch neben dem absoluten Idealismus eine eigenständige Stellung des Gedankens zur Objektivität.

2. Totalität Der Begriff der Totalität ist nicht nur einer der Hauptbegriffe negativer Dialek‑ tik – für Fredric Jameson steht und fällt Adornos Lebenswerk mit diesem Be‑ griff –,111 sondern zugleich einer ihrer problematischsten. Dabei liegt das Prob‑ lem nicht so sehr in Adornos Gebrauch dieser Kategorie, sondern ist vielmehr einem verbreiteten Missverständnis geschuldet, dass, wie Jens Meisenheimer es ausdrückt, „den Totalitätsbegriff mit einer vollkommen widerspruchslosen An‑ gelegenheit“ verwechselt.112 In der Tat führen zahlreiche Kritiker das Scheitern der negativen Dialektik auf den Begriff der Totalität, genauer: auf einen unkri‑ tischen Gebrauch desselben zurück. Adorno breite das Negative des Identitäts‑ zwanges, der verwalteten Welt und der Geschichte derart aus, dass weder für das von Adorno beschworene Nichtidentische noch für kritische Reflexion, ge‑ schweige denn für Praxis, Luft bleibe. Diese Vorwürfe verfehlen Adornos Tota‑ litätsbegriff meist doppelt: Zum einen übersehen sie die Funktion und den Stel‑ lenwert der Totalität als Kategorie der Dialektik und missverstehen damit not‑ wendig auch den Begriff der Dialektik selbst; auf der anderen Seite wird übersehen, dass Totalität nicht nur ein Begriff der Dialektik, sondern auch dia‑ lektischer Begriff ist, dass die Totalität, paradox ausgedrückt, nicht total ist. Diese Doppelstruktur, das Minimum an Problembewusstsein gegenüber der adornoschen Totalitätskategorie, wird in der Kritik verschliffen – Totalität nun‑ mehr als undifferenziertes Ganzes gesehen, das dem Programm Adornos, sei‑ nem Interesse am Einzelnen, in die Parade fährt.113 Jay greift zu kurz, wenn er den Einfluss Kracauers und Benjamins, deren Interesse an der Mikrologie 111 Jameson:

Late Marxism, S.  9. Jens: „Bald frei, bald unfrei. Dialektik in Adornos Theorie des Indivi‑ duums“, in: Müller, Stefan (Hg.): Probleme der Dialektik heute, Wiesbaden 2009, S.  41–61, hier S.  58. 113  Vgl. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, S.  491, S.  505 f.; Schnädelbach: „Dialektik als Vernunftkritik“, S.  9 0; Wellmer: „Die Bedeutung der Frankfurter Schule heu‑ te. Fünf Thesen“, S.  228, S.  231; Sandkaulen, Birgit: „Adornos Ding an sich. Zum Übergang der Philosophie in Ästhetische Theorie“, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 68. Jg./H. 3 (1994), S.  393–408, hier S.  403 f. (= Adornos Ding an sich); Heidbrink, Ludger: „Die Grenzen kritischer Negativität. Perspektiven reflexiver Dia‑ lektik im Anschluß an Adorno“, in: Ette, Wolfram u. a. (Hgg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens, Freiburg 2004, S.  98–120, hier S.  109 (= Grenzen kritischer Negativi‑ tät); Müller, Ulrich: Erkenntniskritik und Negative Metaphysik bei Adorno. Eine Philosophie der dritten Reflektiertheit, Frankfurt a. M. 1988, S.  9, S.  101 f., S.  265 f. (= Erkenntniskritik und Negative Metaphysik); ders. Theodor W. Adornos „Negative Dialektik“, S.  14, S.  53 f., S.  65 f., S.  74, S.  95, S.  110, S.  158, S.  186, S.  196. 112  Meisenheimer,

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2. Totalität

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Adorno teilte, als heilsames Korrektiv des hegelmarxistischen Totalitätskon‑ zepts bezeichnet.114 Vielmehr ist die Mikrologie ohne die Reflexion auf Totalität für Adorno nicht durchzuführen; so erschließt sich das scheinbar widersprüch‑ liche Verhältnis der beiden Momente erst aus einem Verständnis der Totalität als dialektischer Kategorie einerseits (I) und als Kategorie der dialektischen Er‑ kenntnispraxis andererseits (II); schließlich wird ersichtlich, wie sich Adornos Kritik des hegelschen Totalitätsbegriffs auf der Ebene der Darstellung auswirkt (III).

I.  Totalität als dialektische Kategorie Deutlich artikuliert Adorno die Differenz zu Hegel in der normativen Bewer‑ tung des Totalitätsbegriffs. Die Verdichtung dieser Differenz zum berühmten Satz aus den Minima Moralia, „Das Ganze ist das Unwahre“,115 gemünzt gegen den nicht minder berühmten Satz aus der Phänomenologie des Geistes, „Das Wahre ist das Ganze“,116 droht gerade durch ihre Prägnanz, die strukturellen Gemeinsamkeiten zu verwischen. Primär betreffen diese das Verhältnis der To‑ talität, des Ganzen, zum Einzelnen, Besonderen, Individuellen. Adorno spricht in Bezug auf Hegel von der „Kraft des Totalen, welche die negative Arbeit, die Verflüssigung der einzelnen Begriffe, die Reflexion des Unmittelbaren und dann wieder die Aufhebung der Reflexion leistet“.117 Wenn auch Adorno von den zwei dialektischen Leistungen dieser Kraft nur die eine übernimmt und auf die Aufhebung der Reflexion im hegelschen Sinn verzichtet, bleibt seine negati‑ ve Dialektik doch an die Kraft des Totalen gebunden. Die Totalität ist nach dieser Stelle ein Mittel, um die scheinhafte Unmittelbarkeit des Einzelnen auf‑ zuzeigen und ihrer Vermitteltheit durch das Ganze zu überführen. Insofern steht sie im Dienste der Mikrologie; dass Adorno gegenüber Hegel das Ganze als das Unwahre bezeichnet, bedeutet nicht, dass ihm auf der anderen Seite das Einzelne als Einzelnes zum Wahren wird. Adorno folgt Hegel auch in der Kri‑ tik des Einzelnen als Vereinzeltes: „Solcher Primat des Einzelnen ist aber zu‑ gleich Schein.“, sagt er in Bezug auf Kierkegaard.118 Er verortet die Wahrheit weder auf dem Pol des Einzelnen noch auf dem Pol des Ganzen; vielmehr steht für ihn die abstrakte Trennung dieser Momente zur Kritik. Sowohl das Einzel‑ ne als auch das Ganze sind jeweils nur aus ihrer Vermittlung durch ihr Anderes verständlich. So sagt er in Einführung in die Dialektik: „Diese beiden Momente produzieren sich wechselseitig gegenseitig und sind nicht gleichsam zeitlos, 114  Vgl. Jay, Martin: Marxism and Totality. The Adventures of a Concept from Lukács to Habermas, Berkeley/Los Angeles 1984, S.  245. 115 Adorno: Minima Moralia, S.  55. 116 Hegel: Phänomenologie, S.  24. 117  Adorno: „Aspekte“, S.  259. 118  Adorno: „Kierkegaard noch einmal“, S.  244.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

dinghaft, gleichzeitig miteinander da.“119 Eine solche Dialektik von Ganzem und Teilen findet sich in ihrer Struktur auch in der hegelschen Philosophie, in der das Ganze zwar das Wahre ist, dennoch aber keine abstrakte Trennung die‑ ser Momente vorliegt. Der Unterschied zwischen adornoschem und hegelschem Ganzen ist somit komplexer, als es die beiden Formeln zunächst glauben lassen. Die Rettung des Einzelnen und Individuellen, die Adorno gegen Hegel vor‑ nimmt, verabschiedet nicht dessen Holismus; vielmehr muss die Intention auf das Besondere und Einzelne als Gewichtsverlagerung innerhalb der Dialektik selbst verstanden werden. Während Adorno nicht das Einzelne als Isoliertes zum Wahren erhebt, legt er doch darauf einen schwereren Akzent als Hegel. Sein Vorwurf lautet, dass He‑ gel das Besondere „zur Durchgangsstation herabsetzt“,120 was zu einer „autori‑ tären Abfertigung“121 des Besonderen in den materialen Teilen – Adorno meint hier primär die Rechtsphilosophie – des hegelschen Systems führt. Die etwas polemischen Formulierungen verdecken in einem gewissen Maße die Rolle des Besonderen in der hegelschen Dialektik; es wird keineswegs so rücksichtslos übergangen, wie Adornos Ausdrucksweise nahelegt. So betont Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes explizit die doppelte Funktion des Be‑ sonderen in der dialektischen Erkenntnis des Ganzen: Einesteils ist die Länge dieses Wegs zu ertragen, denn jedes Moment ist notwendig; – andernteils ist bei jedem sich zu verweilen, denn jedes ist selbst eine individuelle ganze Gestalt und wird nur absolut betrachtet, insofern seine Bestimmtheit als Ganzes oder Konkretes oder das Ganze in der Eigentümlichkeit dieser Bestimmung betrachtet wird.122

Die Forderungen Hegels an dieser Stelle scheinen dem Vorwurf Adornos zu widersprechen. Die von Hegel vorgebrachten Überlegungen – das Verweilen beim Besonderen, die Aufforderung es absolut, das heißt es in seiner Bestimmt‑ heit als Konkretes zu betrachten und der Gedanke, dass das Ganze in der Ei‑ gentümlichkeit des Besonderen betrachtet wird – sind methodologische Deside‑ rate, die Adorno beinahe unverändert von Hegel übernimmt. Erneut macht sich die Differenz zu Hegel bloß als minimale Differenz geltend. Greifbar wird sie an einem Satz Hegels, den Adorno in der Zueignung der Minima Moralia ohne Beleg zitiert: „Verschwindet heute das Subjekt, so nehmen die Aphorismen es schwer, daß ‚das Verschwindende selbst als wesentlich zu betrachten‘ sei.“123 Die Differenz hängt am Ausdruck „wesentlich“, dem Adorno ein völlig anderes Gewicht gibt, indem er das Zitat aus dem ursprünglichen Zusammenhang her‑ 119 Adorno:

Einführung in die Dialektik, S.  102. Minima Moralia, S.  82. 121 Adorno: Negative Dialektik, S.  323. 122 Hegel: Phänomenologie, S.  33. 123 Adorno: Minima Moralia, S.  15. 120 Adorno:

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2. Totalität

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ausnimmt. Denn bei Hegel geht es um den Anteil des Falschen und Negativen am holistischen Wahrheitsbegriff: Das Verschwindende ist vielmehr selbst als wesentlich zu betrachten, nicht in der Be‑ stimmung eines Festen, das vom Wahren abgeschnitten, außer ihm, man weiß nicht wo, liegen zu lassen sei, so wie auch das Wahre nicht als das auf der andern Seite ruhende, tote Positive. Die Erscheinung ist das Entstehen und Vergehen, das selbst nicht entsteht und vergeht, sondern an sich ist und die Wirklichkeit und Bewegung des Lebens der Wahr‑ heit ausmacht. Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist; und weil jedes, indem es sich absondert, ebenso unmittelbar [sich] auflöst, ist er ebenso die durchsichtige und einfache Ruhe. In dem Gerichte jener Bewegung be‑ stehen zwar die einzelnen Gestalten des Geistes wie die bestimmten Gedanken nicht, aber sie sind so sehr auch positive notwendige Momente, als sie negativ und verschwin‑ dend sind.124

Das Verschwindende ist bei Hegel wesentlich nicht an sich selbst, sondern we‑ sentlich für die Wahrheit des Ganzen; wesentlich ist es als notwendiges Mo‑ ment, das zugleich verschwindend ist. Bei Adorno hingegen soll das Besondere als Verschwindendes wesentlich um seiner selbst willen sein. Das Gerichte jener Bewegung, vor dem das Besondere bei Hegel nicht bestehen kann, wird für Adorno zu einem Negativen: das besagt der Satz von der Unwahrheit des Gan‑ zen. Unwahr ist dieses nicht bloß an sich selbst, sondern auch als die Bewegung, die das Besondere, das ihr unabdingbares Moment ist, dennoch auflöst. Im Ge‑ gensatz zu Hegel besteht Adorno innerhalb der Dialektik von Besonderem und Ganzem auf der unauflöslichen Substantialität des Besonderen. Der Schlüssel zu dieser Substantialität des Besonderen und der Ansatzpunkt von Adornos Kritik an der hegelschen Behandlung desselben liegen im Vermittlungsbegriff. Die Differenz in der Vermittlung erlaubt es Adorno, trotz der Vermittlung des Besonderen auf dessen Substantialität zu bestehen; komplementär dazu lautet der Vorwurf an Hegel, dass er „die Vermittlung des Allgemeinen durchs Beson‑ dere und des Besonderen durchs Allgemeine auf die abstrakte Normalform von Vermittlung schlechthin“ bringt.125 Diese Normalform, welche die Hypostasis der Vermittlung einschließt, löst das Besondere zwar nicht vollständig auf, aber sie kann die Substantialität oder Unmittelbarkeit des Besonderen nicht erhalten. In der Rechtsphilosophie resultiert diese Vermittlungsform in einer Behand‑ lung des Besonderen, des Individuums, angesichts derer Adornos Rede von ei‑ ner „autoritären Abfertigung“ nicht mehr so harsch erscheint. Die Konsequenzen dieser Insistenz auf der Unauflöslichkeit des Besonderen für das strukturelle Gefüge von Adornos Dialektik wurden bereits angedeutet. Hier wird deutlich, dass der Verlust des Stufenganges für Adorno keinen Ver‑ lust oder Verzicht, sondern vielmehr einen Gewinn darstellt. Gerade die dialek‑ tische Entwicklung, „eben jenes Weitergehen und nicht Verweilenkönnen, jene 124 Hegel:

Phänomenologie, S.  46. Negative Dialektik, S.  322.

125 Adorno:

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

stillschweigende Zuerkennung des Vorrangs ans Allgemeine gegenüber dem Besonderen“126 , ist seinem mikrologischen Interesse diametral entgegengesetzt. Erst der Verlust der Entwicklung, der in der Differenz im Vermittlungsbegriff beschlossen liegt, gibt die Möglichkeit des mikrologischen Verweilens vor dem Einzelnen frei, eines Verweilens, das nicht bloß temporär ist und des Ganzen wegen vorgenommen wird, sondern eines Verweilens, das das Besondere selbst aufschließen soll. Das Verweilen wird so zu einer zentralen Erkenntniskatego‑ rie aufgewertet, wie Adorno in den Minima Moralia ausführt: Das Verderben kommt vom Gedanken als Gewalt, dem Abkürzen des Wegs, der einzig durchs Undurchdringliche hindurch das Allgemeine findet, dessen Gehalt in der Un‑ durchdringlichkeit selber bewahrt ist, nicht in der abgezogenen Übereinstimmung ver‑ schiedener Gegenstände. Fast könnte man sagen, daß vom Tempo, der Geduld und Aus‑ dauer des Verweilens beim Einzelnen, Wahrheit selber abhängt.127

Das mikrologische Verweilen ist weder mit der Orientierung an einem Konzept der Totalität im Widerspruch noch ist es als Sprung aus der dialektischen Struk‑ tur zu verstehen. Verweilen ist ein Modus der Erkenntnis, der sich in der Tota‑ lität und damit innerhalb der hegelschen Dialektik von Allgemeinem und Be‑ sonderem vollzieht. Aus diesem Grund ist Seels Versuch, Adornos Philosophie als Philosophie der Kontemplation zu verstehen und gleichzeitig von ihrer „un‑ glücklichen Fixierung auf Hegel“ abzusehen, selbst unglücklich.128 Das Verwei‑ len ist nicht jenseits von Hegel zu verstehen, sondern markiert gerade die Pointe gegen diesen; es vollzieht sich innerhalb der Struktur der hegelschen Erkenntni‑ spraxis als Einspruch gegen deren Dynamik. Geduld und Ausdauer sind die Momente, die Adorno innerhalb der dialektischen Bewegung gegen Hegel ins Feld führt, ohne dadurch die Struktur der hegelschen Erkenntnisbewegung aufzugeben. Dennoch verändert die Unauflöslichkeit des Besonderen den adornoschen Totalitätsbegriff einschneidend. Hat bereits Lukács hervorgehoben, dass die Möglichkeit eines Systems als Totalität daran hängt, dass das Gegebene restlos in die Bestimmungen des Systems aufgelöst werden kann,129 so folgt – denken wir an das Gewicht des Nichtidentischen – für Adornos Totalitätsbegriff: Die Totalität ist nicht total; sie ist, dialektisch gesprochen, Moment des Ganzen und das heißt, dass Totalität „eben wirklich nur ein Moment ist, daß es also nicht etwa das Ganze ist“.130 Wie bei Hegel die Totalität sowohl eine Kategorie der Dialektik wie auch selbst dialektische Kategorie ist, so ist Totalität bei Adorno zugleich eine Kategorie negativer Dialektik und negativ-dialektische Kategorie. 126 Adorno:

Minima Moralia, S.  82. Ebd., S.  86. 128  Seel: „Adornos kontemplative Ethik“, S.  29. 129  Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Darmstadt/Neuwied 1970, S.  220 (= Geschichte und Klassenbewußtsein). 130 Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  142. 127 

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2. Totalität

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Negativ ist ihre Dialektik nicht nur, weil sie das Negative, das Unwahre und Nichtseinsollende ist, sondern sie ist auch strukturell negativ-dialektischen We‑ sens. Sie ist nie Totalität, wie eine Stelle aus der Negativen Dialektik deutlich macht: „Der Totalität ist zu opponieren, indem sie der Nichtidentität mit sich selbst überführt wird, die sie dem eigenen Begriff nach verleugnet.“131 Totalität ist an sich selbst nichtidentisch, das heißt: sie entspricht ihrem eigenen Begriff nicht, weil sie das Nichtidentische nicht vollends in sich auflösen kann, weil die totale begriffliche Identifikation nicht gelingt. Totalität ist Vermittlungskatego‑ rie, sie ist selbst die Vermittlung, nämlich die Vermittlung des Einzelnen durch die Totalität; als solche kann sie aufgrund der Differenz in der Vermittlung das Einzelne nicht in sich auflösen; sie vermag nie ihrem eigenen Begriff zu entspre‑ chen, da ihr eigenes Prinzip das ihr Widersprechende erzeugt: „Was kein Parti‑ kulares erträgt, verrät damit sich selber als partikular Herrschendes. [. . .] Sie ist nicht bloß Einheit innerhalb der Mannigfaltigkeit sondern, als Stellung zur Re‑ alität, aufgeprägt, Einheit über etwas. Damit aber der puren Form nach in sich antagonistisch. Einheit ist die Spaltung.“132 Als Vermittlung ist Totalität eine Reflexionskategorie; und als solche kann sie nicht gegenüber dem durch sie Ver‑ mittelten hypostasiert werden. Totalität ist nicht ontologisch zu verstehen, da sie als gesetzte Totalität sich selbst aufheben würde, wie Adorno im in den Zu‑ sammenhang der Negativen Dialektik gehörenden Aufsatz „Fortschritt“ sagt: „Würde sie eine Totalität, die in sich selbst kein begrenzendes Prinzip mehr enthält, so wäre sie zugleich ledig des Zwangs, der alle ihre Glieder einem sol‑ chen Prinzip unterwirft, und wäre damit Totalität nicht länger.“133 Die dialekti‑ sche Struktur weist sie nicht bloß als Totalität des identifizierenden Geistes auf, sondern auch die Totalität der Gesellschaft wird von Adorno als Kategorie der Vermittlung konzipiert. Totalität ist in den demokratisch verwalteten Ländern der industriellen Gesellschaft eine Kategorie der Vermittlung, keine unmittelbarer Herrschaft und Unterwerfung. Das schließt ein, daß in der industriellen Tauschgesellschaft keineswegs alles Gesellschaftli‑ che ohne weiteres aus ihrem Prinzip zu deduzieren ist. Sie enthält in sich ungezählte nicht-kapitalistische Enklaven.134

Gegen die Vorwürfe, Adorno würde sich mit dem Gebrauch der Totalitätskate‑ gorie in Widersprüche verwickeln, lässt sich nun vorbringen: Adornos Rekurs auf Totalität verwickelt ihn nicht in Widersprüche, sondern die Totalität ist an sich selbst widersprüchlich. Damit wird der von Habermas an Adorno (und Horkheimer) geübten Kritik das Fundament entzogen: Die „Rationalisierung der Welt“,135 den „Ideologieverdacht“ oder die „Kritik“ zu totalisieren, führt 131 Adorno:

Negative Dialektik, S.  150. Ebd., S.  311. 133  Adorno: „Fortschritt“, GS 10.2, S.  617–638, hier S.  619. 134  Adorno: „Zur Logik der Sozialwissenschaften“, GS 8, S.  5 47–565, hier S.  5 49. 135 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, S.  505 f. 132 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

nun nicht mehr in den „performativen Widerspruc[h]“136 oder in die „Aporie der selbstbezüglichen Vernunftkritik“137 und damit ist Habermas des Argu‑ ments verlustig gegangen, mit dem er das gesamte Spätwerk Adornos abzuferti‑ gen gedachte. Um diesen und ähnliche Vorwürfe der „Totalisierung“ zu wider‑ legen, ist es nun nicht einmal mehr notwendig, auf den stets prekären Hinweis auf die Kunst der Übertreibung zurückzugreifen. Die Alternative, nach der die Totalität, wie Jay es ausdrückt, entweder „completely watertight“ ist oder Adornos Beschreibungen davon „exaggerations“ sind,138 greift zu kurz, eben weil Totalität weder total noch eine Übertreibung, sondern eine Kategorie der Vermittlung ist und damit auch selbst vermittelt ist durch das, was sie vermit‑ telt: Totalität ist nur tendenziell total, wie Adorno in einer Vorlesung ausführt: „Das Ganze ist nur im Sinne eines Fluchtpunktes.“139 Nur als in diesem Sinne dialektische Kategorie ist Totalität zugleich eine Kategorie der dialektischen Er‑ kenntnispraxis. Die Frage nach der Rolle der Totalität in der Erkenntnispraxis negativer Dia‑ lektik bedarf einer Differenzierung des Totalitätsbegriffs. An den verwendeten Zitaten ist auffällig, dass Adorno den Totalitätsbegriff für verschiedene Sphären benutzt. Unterscheiden lässt sich mindestens eine logische Totalität von einem gesellschaftlichen Totalitätsbegriff. Die logische Totalität ist die Totalität der be‑ grifflichen Bestimmungen oder der einzelnen Vermittlungen durch den Begriff; in dieser Dimension entspricht die Totalität dem hegelschen Begriff des Gan‑ zen. Dass das Wahre das Ganze sei, meint nach Adorno: [D]aß der Inbegriff aller Vermittlung, also der Inbegriff all jener Bewegungen, die durchgeführt werden müssen, damit die wesentlichen Begriffe ihre Konzeption empfan‑ gen, daß dieser Inbegriff, also der Zusammenhang der Begriffe, oder das, was am Ende aus ihnen hervorgeht, eben doch in der Tat jenes Absolute sei.140

Gegen die Folgerung, das Ganze sei das Absolute, ist Adornos Umkehrung, dass das Ganze das Unwahre sei, gerichtet. Der Inbegriff der begrifflichen Ver‑ mittlungen ist das Unwahre und die Erkenntnis hätte auf das zu gehen, was den begrifflichen Bestimmungen immer entschlüpft. Der zweite Totalitätsbegriff fasst die Gesellschaft als Totalität. Hier meint Totalität den Funktionszusam‑ menhang der Gesellschaft, der jede einzelne soziale Tatsache vermittelt. Die Frage nach dem Verhältnis der beiden Totalitätsbegriffe führt so zu einer zent‑ ralen Frage nachhegelscher und damit auch negativer Dialektik: der Frage nach dem Verhältnis von Begriffsdialektik und Realdialektik. 136 Habermas:

Der philosophische Diskurs der Moderne, S.  144. Habermas: „Nachwort von Jürgen Habermas“, S.  289. 138 Jay: Marxism and Totality. The Adventures of a Concept from Lukács to Habermas, S.  265. 139 Adorno: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft, S.  41. 140 Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  35. 137 

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Erster Einschub: Begriffsdialektik vs. Realdialektik Die Frage gehört zu den irritierendsten Problemen, die von der Negativen Dialektik aufgeworfen werden. Bereits vor dem Erscheinen von Adornos Haupt‑ werk hat Müller‑Strömsdörfer das Verhältnis von „Begriffsdialektik (Methodo‑ logie)“ und „Realdialektik (Ontologie)“ als das „Grunddilemma der Dialektik“ Adornos identifiziert; 141 Klein zählt das Verhältnis: „Dialektik der Methode vs Dialektik der Realität“ zu den Grundproblemen Adornos, die „bis heute auch nicht annähernd aufgearbeitet“ sind.142 Das liegt zum einen am Umstand, dass Adorno dieses Problem selbst nicht explizit behandelt und dass die wenigen Aussagen über das Verhältnis der in Frage stehenden Sphären notorisch undeut‑ lich sind; zum anderen hat man es sich in der Rezeption vielfach zu leicht ge‑ macht und ist Schnädelbachs Vorgehen gefolgt, negative Dialektik nur „als Lo‑ gik eines kritischen philosophischen Diskurses“ zu verfolgen und sie als „Onto‑ logie des falschen Zustandes“ zu verabschieden.143 Damit wird das Problem bloß aufgelöst, nicht gelöst. Adorno war es mit der Verbindung der beiden Sphären ernst; bereits Henrich hat in seiner Rezension festgestellt, dass Ador‑ nos „Kritik der Theoreme, wie das ganze Werk, auf Kritik der Wirklichkeit abzielt. Es wird jedem Einwand entgehen, der nicht mit dieser Konstellation rechnet“.144 Tatsächlich wird der von Henrich behauptete Anspruch bereits auf den ersten Seiten der Negativen Dialektik erhoben. Im zweiten Abschnitt ent‑ wickelt Adorno zunächst den Begriff der begrifflichen Totalität. Leitmotiv die‑ ses Abschnittes ist, wie der Titel „Dialektik kein Standpunkt“ andeutet, der Nachweis, dass Dialektik keine bloß äußerlich den Gegenständen aufgezwängte Methode ist. „Ihr Name sagt zunächst nichts weiter, als daß die Gegenstände in ihrem Begriff nicht aufgehen, daß diese in Widerspruch geraten mit der herge‑ brachten Norm der adaequatio.“145 Dialektik wird gefordert von der Natur der begrifflichen Identifikation selbst, weil diese auf Widersprüche führt, zugleich aber unhintergehbar ist. „Denken heißt identifizieren.“146 Adorno führt nun aus, dass man den Schein begrifflicher Identifikation nicht beseitigen kann, in‑ dem man auf ein Ansichseiendes jenseits des Begriffs hinweist. Deshalb bleibt nur ein Weg: „Dem Bewußtsein der Scheinhaftigkeit der begrifflichen Totalität ist nichts offen, als den Schein totaler Identität immanent zu durchbrechen.“147 Totalität ist hier explizit als begriffliche Totalität und, gegen Ende des Ab‑ schnitts, als „totale Identifikation“ bestimmt.148 Der nächste Abschnitt jedoch 141 

Müller-Strömsdörfer: „Die helfende Kraft bestimmter Negation“, S.  101. Klein: „Deutschland II: Philosophische plus politische Resonanz“, S.  4 43. 143  Schnädelbach: „Dialektik als Vernunftkritik“, S.  86. 144  Henrich: „Diagnose der Gegenwart“. 145 Adorno: Negative Dialektik, S.  16 f. 146  Ebd., S.  17. 147 Ebd. 148  Ebd., S.  18. 142 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

– er trägt den Titel: „Realität und Dialektik“ – beginnt mit der Behauptung, das Gesetz der totalen Identifikation sei kein Gesetz „von Denken, sondern real“.149 Damit ist gleichsam unvermittelt ein Sprung in die Realität gemacht und das Gesetz der begrifflichen Identifikation wird als Gesetz der Realität bestimmt. Auf den ersten Blick erläutert der Abschnitt diesen Sprung nicht, sondern geht auf den Erfahrungsbegriff und dessen Bedeutung für die Dialektik ein. Der Erfahrungsbegriff aber ist, wie erst im zweiten Kapitel vollends expliziert wer‑ den kann, der Schlüssel zu Adornos Begriff der Dialektik, mithin auch zur Fra‑ ge nach dem Verhältnis von Dialektik und Realität. Erinnern wir uns an die beim Vermittlungsbegriff vorgenommene Verortung negativer Dialektik im nachhegelschen Dualismus von Begriffs- und Realdialektik. Negative Dialektik wurde dort als Dialektik von Begriff und Realität beschrieben; mithin wäre sie weder reine Begriffs- noch reine Realdialektik, sondern eine Dialektik zwi‑ schen Begriff und der nichtbegrifflichen Sphäre. Objekt der Erkenntnis in nega‑ tiver Dialektik ist die Realität, verstanden als gesellschaftliche Sphäre. Adorno spricht das in der Bemerkung aus, „daß das Objekt der geistigen Erfahrung an sich, höchst real, antagonistisches System sei“.150 Negative Dialektik ist die Di‑ alektik, die durch die Kritik der begrifflichen Sphäre zu einer Erkenntnis des Nichtbegrifflichen kommen will: „Philosophische Reflexion versichert sich des Nichtbegrifflichen im Begriff.“151 Dialektische Erkenntnis setzt notwendig im‑ manent, innerhalb der Sphäre der Begriffe an, hat ihr Telos aber daran, den Schein dieser Totalität zu durchbrechen auf das Nichtbegriffliche hin. Damit ist zunächst nicht mehr geleistet, als das verhängnisvolle Missver‑ ständnis abgewehrt, Adorno führe den Identitätszwang auf das Tauschprinzip zurück und leite, ähnlich wie Alfred Sohn-Rethel, die Denkform aus der Wa‑ renform ab. Dialektik ist demnach nicht bloß Ausdruck gesellschaftlicher Pro‑ zesse, nicht einfach real; ebenso wenig ist sie reine Methode, weil sie zum Ziel hat, die Dichotomie von Methode und Sache aufzuheben. Dieses „weder – noch“ ist aber gerade das, was negative Dialektik ausmacht: Tatsächlich ist Dialektik weder Methode allein noch ein Reales im naiven Verstande. Keine Methode: denn die unversöhnte Sache, der genau jene Identität mangelt, die der Gedanke surrogiert, ist widerspruchsvoll und sperrt sich gegen jeglichen Versuch ihrer einstimmigen Deutung. Sie, nicht der Organisationsdrang des Gedankens veranlaßt zur Dialektik. Kein schlicht Reales: denn Widersprüchlichkeit ist eine Reflexionskategorie, die denkende Konfrontation von Begriff und Sache. Dialektik als Verfahren heißt, um des einmal an der Sache erfahrenen Widerspruches willen und gegen ihn in Widersprü‑ chen zu denken. Widerspruch in der Realität, ist sie Widerspruch gegen diese.152

149 Ebd. 150 

Ebd., S.  22. Ebd., S.  23. 152  Ebd., S.  148. 151 

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Dialektik wäre demnach als Vermittlung der Sphäre des Begriffs und der Sphä‑ re der Realität zu verstehen, insofern sie der Versuch ist, die Sphäre der Realität in Begriffen zu erfassen. Da sie aber kein unbegriffliches Wissen von der Reali‑ tät hat, kann sie nur beim Begriff ansetzen. Fraglich ist nun, wie sie im Ausgang von der begrifflichen Sphäre den Widerspruch an der Sache erfahren kann und wie die unversöhnte Sache zur Dialektik veranlassen kann. Adorno rekurriert dazu auf den „immanent antinomischen Charakte[r]“ des Begriffs: „Der Ge‑ gensatz des Denkens zu seinem Heterogenen reproduziert sich im Denken selbst als dessen immanenter Widerpruch [sic].“153 Diese Unterstellung, auf die beim Begriff der Nichtidentität zurückzukommen sein wird, erlaubt Adorno die Behauptung, dass sich in dem Widerspruch, welcher der begrifflichen Sphä‑ re immanent ist, zugleich der Widerspruch von Begriff und Sache ausdrückt. So wäre der an der Sache erfahrene Widerspruch immer noch als Widerspruch des Begriffs zu verstehen, in dem sich jedoch der Widerspruch von Begriff und Sa‑ che ausdrückt. Neben diesen beiden Widerspruchsbegriffen schiebt Adorno hier noch einen dritten Widerspruchsbegriff unter. Die Aussage, die unversöhnte Sache sei widerspruchvoll, zielt weder auf einen begrifflichen Widerspruch noch auf einen Widerspruch zwischen Begriff und Sache ab, sondern auf einen Widerspruch in der Sache. Dieser besteht darin, dass der Sache die Identität mangelt, die ihr im identifizierenden Denken unterstellt wird. Die Frage, warum die Sache über‑ haupt unversöhnt und nicht mit sich selbst identisch sein soll, führt uns endlich zum Verhältnis der Totalitätsbegriffe. Rekapitulieren wir: Totalität meint zu‑ nächst die scheinhafte Totalität der begrifflichen Sphäre. Scheinhaft ist sie, weil sie selbst nicht das Ganze ist, sondern nur ein Moment nichtbegrifflicher Rea­ lität, aber notwendig als Ganzes erscheint, weil die nichtbegriffliche Realität immer nur in ihrer Vermittlung durch den Begriff erfahren wird. Die andere Totalität ist die Totalität des Funktionszusammenhangs der Gesellschaft. Sie konstituiert sich durch das Tauschprinzip, welches Adorno analog dem Identifi‑ kationsprinzip, das die begriffliche Totalität konstituiert, denkt. Das Verhältnis von Tausch und Identität, mithin das Verhältnis von begrifflicher und gesell‑ schaftlicher Totalität bestimmt Adorno unscharf als „Urverwandtschaft“: Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemein‑ begriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist urverwandt mit dem Identifikationsprin‑ zip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch. Die Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität.154

Was heißt nun in diesem Zusammenhang „urverwandt“? Es griffe zu weit, dar‑ in eine kausale Ableitung des einen Prinzips aus dem anderen zu vermuten; eher 153 

Ebd., S.  149.

154 Ebd.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

deutet Verwandtschaft auf so etwas wie Strukturgleichheit hin. Sowohl das Identifikationsprinzip wie auch der Tausch setzen Identität und abstrahieren vom Nichtidentischen. Genauer müsste man sagen: der Tausch verläuft nach der Struktur des Identifikationsprinzips und ist dessen Realisierung in der Praxis. Adorno sieht den Akt des Tausches selbst als begrifflichen Akt, als Akt logischer Identifikation an. Dabei besteht keine kausale Verbindung zwischen Tausch und Identitätsdenken, wie es die Rede von der Ontologie des falschen Zustandes suggerieren mag; die Praxis des Austausches von Gütern ist nicht der praktische Ursprung begrifflicher Identifikation, sondern der Tausch realisiert sich als be‑ griffliche Identifikation. Theorie und Praxis fallen im Tausch in gewissem Sinne zusammen. Der Äquivalententausch besteht gerade darin, dass im Tauschakt die Waren durch einen Abstraktionsprozess einander kommensurabel gemacht werden; „ihr Austausch bezieht sie als Werte aufeinander und realisiert sie als Werte“, heißt es im Kapital.155 20 Ellen Leinwand sind nur insofern einen Rock wert, mit ihm identisch, als beide auf das ihnen Gemeinsame, ihren Tauschwert reduziert werden und von ihren sonstigen Merkmalen abstrahiert wird. Der im Tausch vollzogene Abstraktionsprozess macht ihn zu einem „Begrifflichen“, wie Adorno in Fragen der Dialektik sagt.156 Deshalb wird nicht nur das Den‑ ken, sondern auch die Gesellschaft vom Identifikationsprinzip regiert. Urver‑ wandt heißt also, dass die Praxis des Tausches selbst ein begrifflicher, weil iden‑ tifizierender Akt ist. Es ist nun auch verständlich, warum Adorno von der unversöhnten Sache und ihrer Nichtidentität reden kann; weil die Sache immer eine Sache innerhalb des Funktionszusammenhangs der Gesellschaft ist, wird sie durch dessen konstituierendes Prinzip, das des Tausches, vermittelt und ist dadurch nicht mit sich identisch. Der Tausch abstrahiert von ihren qualitativen Momenten und reduziert sie auf ihren gesellschaftlichen Wert. Das Verhältnis von begrifflicher und gesellschaftlicher Totalität stellt sich nun so dar, dass die begriffliche Totalität sich im Widerspruch als scheinhaft offenbart, denn der Widerspruch ist der Ausdruck des Widerspruchs von Be‑ griff und Realität und weist als solcher darauf hin, dass der Begriff nur ein Mo‑ ment in der Realität ist. Der Widerspruch von Begriff und Realität kommt aber 155 Marx:

Kapital, S.  100. Objekt selber ist buchstäblich Begriff, Begriff an sich selbst, aber nun Begriff nicht in dem Sinn, daß es das Leben des Absoluten wäre, sondern daß es in sich, nämlich als die in sich objektiv zusammengeschlossene Gesellschaft, wesentlich und konstitutiv ein be‑ griffliches Element enthält, nämlich eben das des Tausches; und insofern kann man wirklich sagen, daß in einem ironischen Sinn die Welt, in der wir leben, Subjekt-Objekt ist, das heißt, gerade die Objektivität, der wir gegenüberstehen, und der wir als einem uns gegenüber Hete‑ ronomen und Unverständlichen ausgeliefert sind, die das geworden gerade dadurch, daß sie selber nach einem Begrifflichen gemodelt, gestutzt, nivelliert, ausabstrahiert ist, eben nach dem Prinzip des Tausches, als welches ja darin besteht, daß zwei Waren miteinander kom‑ mensurabel werden auf Grund eben der in ihnen investierten durchschnittlichen gesellschaft‑ lichen Arbeitszeit, also unter Absehung von ihren spezifischen Bestimmungen.“ Adorno: Fragen der Dialektik, Vo 9038. 156  „Das

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nur zustande, weil die Sache an sich selbst widersprüchlich und nicht sie selbst ist; somit entzieht sie sich einer begrifflichen Identifikation. Widersprüchlich ist die Sache, weil sie vom Tauschprinzip auf ihren gesellschaftlichen Wert redu‑ ziert wird, mithin durch die Totalität der Gesellschaft vermittelt ist. Über die Stufe des Widerspruchs zwischen Begriff und Sache drückt sich der reale Wi‑ derspruch im Denken als immanenter Widerspruch aus. Negative Dialektik ist mithin weder Begriffs- noch Realdialektik, sondern der Versuch, der nichtbe‑ grifflichen Realität in der Sphäre des Begriffs gerecht zu werden.

II.  Totalität als Kategorie der dialektischen Erkenntnispraxis Im Fokus auf das mikrologische Interesse Adornos unter Ausblendung seines Totalitätsbegriffs, wie U. Müller es vorschlägt,157 liegt eine doppelte Verkür‑ zung: Einerseits wird die für das Einzelne konstitutive Funktion der Totalität übergangen; andererseits wird ausgeblendet, dass Adornos Verweilen beim Ein‑ zelnen ein doppeltes Erkenntnisziel verfolgt. Folgende Passage zeigt das an: „Das Verweilen beim Konkreten ist unauslöschliches Moment dessen, was von der Partikularität sich befreit, während doch deren Bestimmtsein in solcher Be‑ wegung ebenso als beschränkt bestimmt wird wie die blinde Herrschaft eines Totalen, das der Partikularität nicht achtet.“158 Die im Verweilen vorgenomme‑ ne Bestimmung ist eine zweifache: nicht nur die des Konkreten, Einzelnen, Be‑ sonderen als solchen, sondern zugleich die des Totalen. Bekundet Adorno in Absetzung gegen Hegel und die Tradition, dass die Philosophie ihr Interesse, wie es der berühmte Passus der Negativen Dialektik will, „beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen; bei dem, was seit Platon als vergänglich und uner‑ heblich abgefertigt wurde“, hat,159 so darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Adorno ebenso um eine Erkenntnis des Ganzen geht. Das mikrologi‑ sche Verfahren zielt nicht bloß auf eine adäquate Erkenntnis des Einzelnen ab, die das Anzeigen der Vermittlung durch die Totalität voraussetzt, sondern es visiert über diese Vermittlung zugleich eine Erkenntnis des Ganzen in seiner Erscheinung im konkreten Einzelnen an. Vorausgesetzt ist in einem solch ge‑ doppelten Erkenntnisanspruch die wechselseitige Vermittlung von Besonderem und Ganzem, mithin der Kerngedanke der Dialektik, „daß in jedem dialektisch richtig erfaßten Moment die ganze Totalität enthalten [. . .] ist“.160 Ohne diese Voraussetzung könnte Adorno weder das Besondere in seiner Vermittlung be‑ stimmen noch über diese des Ganzen habhaft werden. Angehrn bestimmt im Lichte dieser Voraussetzung die Differenz der adornoschen zur hegelschen Er‑ 157  Vgl. Müller: Erkenntniskritik und Negative Metaphysik, S.  9 ; ders.: Theodor W. Adornos „Negative Dialektik“, S.   196. 158  Adorno: „Zur Schlußszene des Faust“, GS 11, S.  129–138, hier S.  135. 159 Adorno: Negative Dialektik, S.  19 f. 160 Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, S.  186.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

kenntnispraxis so: „Es geht nicht mehr darum, im geschlossenen Bogen und in systematischer, analytisch-synthetischer Artikulation das Ganze zu durch‑ dringen, sondern dieses in der Konkretion des Einzelnen zu erfassen und zu vergegenwärtigen.“161 Diese Vermittlung von Einzelnem und Ganzem erklärt nicht nur das von Sighard Neckel diagnostizierte „interpretative Muster abrup‑ ter Sinnschlüsse aufs Ganze“,162 das den materialen Analysen Adornos eigen ist, sondern meldet auch die Problematik des doppelten Erkenntnisanspruchs von Adornos mikrologischer Analyse an: Das Ganze, das erst in der Versenkung ins Einzelne gefunden werden soll, ist zugleich Voraussetzung der Erkenntnis des Einzelnen. Der Vorgriff auf die Totalität ist ein zentrales methodisches Problem der ma‑ terialen und das heißt auch immer: gesellschaftlichen Analysen negativer Dia‑ lektik. Die gesellschaftliche Dimension der adornoschen Erkenntnispraxis er‑ gibt sich aus deren Erkenntnisziel: der begrifflichen Erkenntnis nichtbegriffli‑ cher Gehalte. Dabei liegt das primäre Interesse nicht bei der Realität als Ganzer, sondern bei der besonderen, einzelnen Sache. Diese jedoch ist als Sache in der Realität immer auch durch die Gesellschaft vermittelt und wird durch sie ge‑ prägt. Die unreduzierte Erkenntnis der Sache hat der gesellschaftlichen Di‑ mension deshalb Rechnung zu tragen. So behandeln die Modelle, in denen die Sachen negativer Dialektik verhandelt werden – Freiheit, Geschichte, Metaphy‑ sik – diese Sachen auch in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die mikrologi‑ sche Erkenntnispraxis negativer Dialektik besteht im engeren philosophischen Sinne in der Erkenntnis der besonderen Sache in ihren konkreten Zusammen‑ hängen; das zweite Moment, nämlich die Erkenntnis der gesellschaftlichen To‑ talität über die einzelne Sache, kommt erst in den soziologischen Analysen Adornos vollends zum Tragen. Jedoch verlangen beide Erkenntnismodi glei‑ chermaßen eine Antwort auf das Problem des Vorgriffs auf die Totalität der Gesellschaft, denn auch die philosophische Erkenntnis konkreter Probleme in ihrer gesellschaftlichen Vermittlung operiert mit einem Begriff der gesell‑ schaftlichen Totalität. In der Einführung in die Dialektik bezeichnet Adorno die Frage, „wie ich den Teil schon aus einem Ganzen begreifen soll, das als solches nie vollkommen gegeben ist“,163 mithin den Vorgriff auf die Totalität als eine „Zumutung“164 der Dialektik. Insofern trifft Schnädelbachs Vorwurf, Adorno habe „den totalisie‑ renden Vorgriff auf das Ganze nicht problematisiert“,165 nicht zu. Bereits die 161 

Angehrn: „Kritik und Versöhnung“, S.  279. Neckel, Sighard: „Die Verwilderung der Selbstbehauptung. Adornos Soziologie: Veral‑ ten der Theorie – Erneuerung der Zeitdiagnose“, in: Honneth, Axel (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt a. M. 2005, S.  188–204, hier S.  190. 163 Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  130. 164  Ebd., S.  135. 165  Schnädelbach: „Dialektik als Vernunftkritik“, S.  89 f. 162 

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Rede von einem „Vorgriff“ auf die Totalität wird von Adorno zurückgewiesen: „[S]ie visiert die Totalität in Erinnerung an Kant als ein zwar unendlich Aufge‑ gebenes und Verschobenes, aber prinzipiell durch Gegebenheiten zu Erfüllen‑ des, ohne Rücksicht auf den qualitativen Sprung zwischen Wesen und Erschei‑ nung in der Gesellschaft.“166 Der Rückgriff auf das Begriffspaar „Wesen“ und „Erscheinung“ mag einen Hinweis auf den ontologischen Status der Totalität liefern. Totalität ist das Wesen, das sich nur in seiner Erscheinung im Einzelnen manifestiert. Totalität ist kein positiv Gegebenes, noch kann sie als Totalität positiv erfasst werden; als Wesen im Einzelnen ist Totalität bloß über das Ein‑ zelne zu erfassen und niemals abgelöst von diesem. Indem Adorno zudem den Übergang vom Wesen zur Erscheinung als qualitativen Sprung bezeichnet, deu‑ tet er an, dass die Totalität nicht kumulativ aus Einzelnem sich zusammenset‑ zen lässt, sondern dass, wie er in der Einführung in die Dialektik sagt, die „Kraft des Totalen gewissermaßen fensterlos [. . .] innerhalb der jeweils einzelnen Ge‑ gebenheiten aufzusuchen“ sei.167 Die auf die leibnizsche Monadenlehre anspie‑ lende Formulierung hat wiederum eine doppelte Bedeutung – für das Einzelne wie auch für das Ganze. Das Ganze ist als Ganzes nicht gegeben, sondern wirkt als Kraft in jedem Einzelnen; dessen Vermittlung durch das Ganze wiederum verläuft nicht außerhalb des Einzelnen, sondern ist eine dem Einzelnen imma‑ nente Vermittlung. Die Dialektik von Ganzem und Teilen ist eine der Nich‑ tidentität. Adorno selbst spricht von einem „doppelschlächtigen Verhältnis“ der Totalität zu den Fakten: „Die Fakten sind nicht identisch mit ihr, aber sie exis‑ tiert nicht jenseits von den Fakten.“168 Jenseits dieser Alternative wird Totalität von Adorno als Kraftzentrum vorgestellt, das in den Fakten wirkt. Dadurch eignet ihr ein „Moment von spekulativer Willkür“.169 Das heißt: Die Totalität ist zunächst ein erkenntnispraktisches Konstrukt, das der Entschlüsselung der einzelnen Phänomene dient. Adorno stellt diesen hermeneutischen Aspekt der Totalität in seinem Begriff der Deutung in den Vordergrund: „Deuten heißt primär: an Zügen sozialer Gegebenheit der Totalität gewahr werden.“170 Da im Konzept der Deutung Fakten, also soziale Gegebenheit, und Totalität als durch‑ einander vermittelte Momente gedacht werden, kann Adorno nicht beim bloß spekulativen Begriff des Ganzen stehen bleiben, sondern muss diesen in der Konfrontation mit den Fakten modifizieren: Die Konstruktion der Totale hat zur ersten Bedingung einen Begriff von der Sache, an dem die disparaten Daten sich organisieren. Sie muß, aus der lebendigen, nicht selber schon nach den gesellschaftlich installierten Kontrollmechanismen eingerichteten Er‑ 166 Adorno: „Einleitung zum ‚Positivismusstreit in der deutschen Soziologie‘“, GS 8, S.  280–353, hier S.  315 (= Positivismusstreit). 167 Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  169. 168  Adorno: „Positivismusstreit“, S.  315. 169 Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  40. 170  Adorno: „Positivismusstreit“, S.  315.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

fahrung; aus dem Gedächtnis des ehemals Gedachten; aus der unbeirrten Konsequenz der eigenen Überlegung jenen Begriff immer schon ans Material herantragen und in der Fühlung mit diesem ihn wiederum abwandeln.171

Der Begriff des Ganzen, der gleichsam von außen an das Einzelne herangetra‑ gen wird, stammt aus der lebendigen Erfahrung. Die lebendige Erfahrung meint hier die vorwissenschaftliche Erfahrung, die Erfahrung des natürlichen Be‑ wusstseins, die – so Adorno in einer Vorlesung – nicht in der Erfahrung von isolierten Einzelphänomenen besteht, denn diese sind bereits Produkte eines Abstraktionsvorganges, sondern eher in der Erfahrung allgemeiner Verhältnis‑ se: „Ich weiß eher, in welcher Welt ich lebe, als daß ich sogenannte Einzeldaten weiß.“172 Dieser noch vage Begriff eines Ganzen wird als Konstrukt gleichsam von außen an das Einzelne herangebracht. Zugleich ist in der Innenperspektive vom Einzelnen selbst auszugehen und dieses seiner immanenten Vermittlung durch das Ganze zu überführen. „Nur dort vermag Erkenntnis zu erweitern, wo sie beim Einzelnen so verharrt, daß über der Insistenz seine Isoliertheit zer‑ fällt. Das setzt freilich auch eine Beziehung zum Allgemeinen voraus, aber nicht die der Subsumtion, sondern fast deren Gegenteil.“173 Die Isoliertheit des Ein‑ zelnen zerfällt dadurch, dass es sich als widerspruchsvoll zeigt. „Dieser Wider‑ spruch [. . .] nötigt mich dazu, über die Gegebenheit hinauszugehen und an die Stelle dieser Gegebenheit ein Übergreifenderes und Allgemeineres anzuset‑ zen.“174 Dieser zweite Weg, die immanente Überschreitung des Einzelnen zur Totalität, setzt den ersten Weg zur Totalität, die Konstruktion, immer schon voraus: „[D]ie Bewegung, die wir in dem Gegenstand wahrnehmen, setzt im‑ mer schon ein Wissen von dem voraus, was außerhalb des Gegenstandes sich zuträgt, also von dem Zusammenhang, in dem der Gegenstand selbst steht.“175 Der Totalitätsbegriff Adornos ist so nicht nur in seiner Vermittlung durch das Einzelne dialektisch, sondern auch in seinem prozessualen Charakter: Er verän‑ dert sich im Fortgang der Erkenntnis und ist wesentlich dynamischer Begriff. Dieser Totalitätsbegriff ist der Schlüssel zu Adornos mikrologischem Vorge‑ hen, sowohl nach der Seite des Einzelnen als auch nach der Seite des Ganzen. Auf der Seite der Erkenntnis des Einzelnen ist die Vermittlung durch die Tota‑ lität unabdingbares Element der Mikrologie und nicht etwa deren Gegenteil. Verkürzt wäre es, das Verhältnis – wie U. Müller176 – als Widerspruch zu sehen. 171 

Adorno: „Soziologie und empirische Forschung“, S.  197. Einführung in die Dialektik, S.  138. 173 Adorno: Minima Moralia, S.  83. 174 Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  182. 175  Ebd., S.  181. 176  „[I]ch halte den Holismus, das konstitutive Verwenden der Totalitätskategorie, für das größte Problem der ND. Dieses auf Hegel und Lukács gestützte systemphilosophische Erbe wird nun aber konterkariert durch das Denken von Singularitäten und Individualitäten, für das Siegfried Krakauer [sic] und Walter Benjamin Adornos wichtigste Inspirationsquellen waren. Es sei bereits hier als erster Orientierungssatz bemerkt, dass sich die nachfolgende In172 Adorno:

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U. Müller blendet aus, dass Adorno Benjamin und Kracauer, die in der Tat einen zentralen Einfluss auf sein mikrologisches Verfahren darstellen, für ihren undi‑ alektischen Fokus auf das Einzelne einschneidend kritisiert. Sowohl Benjamin als auch Kracauer verfehlen im starren Blick auf das Besondere dessen Vermitt‑ lung durch das Allgemeine und damit auch dessen Besonderheit.177 Adorno selbst hat an einschlägigen Stellen auf die brieflich geführte Auseinanderset‑ zung mit Benjamin hingewiesen,178 in der er die benjaminsche Mikrologie kri‑ tisiert, weil sie der Vermittlung durch die Totalität nicht in genügendem Maß Rechnung trägt. Den „theoretischen Grund“ seiner Kritik gibt Adorno in einer brieflichen Stellungnahme zum Manuskript eines Teils von Benjamins Baude‑ lairestudie an: Der ist aber kein anderer, als daß ich es für methodisch unglücklich halte, einzelne sinn‑ fällige Züge aus dem Bereich des Überbaus ‚materialistisch‘ zu wenden, indem man sie zu benachbarten Zügen des Unterbaus unvermittelt und wohl gar kausal in Beziehung setzt. Die materialistische Determination kultureller Charaktere ist möglich nur vermit‑ telt durch den Gesamtprozeß.179

Die Vermittlung durch die Totalität ist somit für beide Momente von Adornos Erkenntnispraxis konstitutiv: Das Einzelphänomen ist nur bestimmbar über die Vermittlung durch das Ganze, denn diese Vermittlung macht das Einzelne und Besondere erst zu dem, was es ist. Umgekehrt ist zur Erkenntnis des Gan‑ zen wiederum die mikrologische Insistenz unverzichtbar. Das Ganze selbst ist niemals unmittelbar zu erkennen, sondern nur in seiner Erscheinungsform, gleichsam in seiner Wirkung im Einzelnen. Indem nun die Erkenntnis bei Adorno konstitutiv an das Phänomen der Vermittlung durch die gesellschaftli‑ che Totalität gebunden ist, gewinnt oder verliert sie an Erkenntniskraft propor‑ tional zum Grad dieser Vermittlung, wie Adorno an einer Stelle in der Negativen Dialektik andeutet: Je vergesellschafteter die Welt, je dichter ihre Gegenstände mit allgemeinen Bestimmun‑ gen übersponnen sind, desto mehr ist, nach einer Bemerkung von Günther Anders, ten‑ denziell der einzelne Sachverhalt unmittelbar durchsichtig auf sein Allgemeines; desto mehr läßt sich gerade durch mikrologische Versenkung in ihn herausschauen.180

terpretation dem konstitutiven Totalitätsdenken gegenüber kritisch verhalten und die mit diesem Systemdenken zugleich vertretene Hermeneutik von Einzelphänomenen stark machen wird.“ Müller: Theodor W. Adornos „Negative Dialektik“, S.  12. 177  Vgl. zu Benjamin: Adorno: „Charakteristik Walter Benjamins“, GS 10.1, S.  238–253, hier S.  247; ders.: „Positivismusstreit“, S.  323; vgl. zu Kracauer: ders.: „Der wunderliche Rea‑ list“, GS 11, S.  388–408, hier S.  394. 178  Adorno: „Positivismusstreit“, S.  323; ders.: „Charakteristik Walter Benjamins“, S.  247; ders.: Einführung in die Dialektik, S.  130. 179  Brief vom 10.11.1938. Adorno/Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, S.  367. 180 Adorno: Negative Dialektik, S.  9 0.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

In diesem Sinne ist die mikrologische Analyse nicht nur eine von der Realität geforderte, sondern eine durch die Struktur der Realität erst möglich gemachte Form der Erkenntnis. Die Parallelstelle in der Vorlesung Ontologie und Dialektik zeigt, dass Adorno bei dieser Struktur die „Immergleichheit der verwalteten Welt meint, von der man tendenziell nur ein Stück unter die Lupe zu nehmen braucht, um in ihr gleichsam die Formel des Ganzen zu finden“.181 Unglückliche Formulierungen wie diese haben zum Vorurteil geführt, Adorno halte die Ge‑ sellschaft für fugenlos geschlossen; die Immergleichheit der verwalteten Welt meint aber nichts anderes als das Prinzip des Tausches, das sich tendenziell in alle Gesellschaftssphären ausbreitet, ohne jemals die Gesellschaft zu einer ge‑ schlossenen Totalität zusammenschließen zu können.

III.  System und Modell Adornos Negativierung der Totalität belastet die negative Dialektik nicht bloß normativ, sondern auch auf der Darstellungsebene. Wenn die Isoliertheit des Einzelnen falsch ist und die Kritik im Nachweis seiner immanenten Vermitt‑ lung durch das Ganze besteht, folglich die Bestimmung des Einzelnen nur über diese Vermittlung dargestellt werden kann, stellt sich die Frage nach der Dar‑ stellung des Einzelnen in seiner Vermittlung. Indem das Ganze nicht wie bei Hegel in der Totalität der Bewegung besteht und indem kein Stufengang von einer Bestimmung zur Anderen möglich ist, kann Adorno nicht mehr die Form des Systems bemühen. Fraglich ist also, ob Dialektik ohne die Darstellungsform des Systems möglich ist.182 Zunächst sind zwei verschiedene Formen des philo‑ sophischen Systems zu unterscheiden, auf die Adorno sich bezieht: das hegel‑ sche System und das System als Klassifikationsschema, das bereits Hegel ob seines Formalismus als „Gewürzkrämerbude“ abgetan hat.183 Adornos Ausein‑ andersetzung mit dem Systemgedanken ist als Auseinandersetzung mit dem hegelschen System zu verstehen; nur dieses entspricht dem dialektischen Totali‑ tätsbegriff, den Adorno von Hegel übernimmt. Das hegelsche System ist nicht ein Ordnungsschema, in das der Reichtum der Erfahrung hineingezwängt wer‑ den soll, sondern es ist ein „Sich-Selbst-Erzeugen des Ganzen“,184 das heißt, es ist die Darstellungsform der Gesamtheit der Bewegung der Momente, die das hegelsche Ganze ausmacht. Diese Form der Darstellung ist für Adorno verlo‑ ren, denn sie hängt am hegelschen Verständnis des Ganzen als Totalität aller Momente. Dennoch verzichtet Adorno nicht einfach auf Systematik; sein mik‑ rologisches Verfahren bleibt daran gebunden. 181 Adorno: Ontologie und Dialektik, hg. von Rolf Tiedemann, NaS IV 7, Frankfurt a. M. 2002, S.  284. 182  Vgl. Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  247. 183 Hegel: Phänomenologie, S.  51. 184 Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  246; vgl. auch: ders.: Negative Dialektik, S.  35.

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2. Totalität

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Die spekulative Kraft, das Unauflösliche aufzusprengen, ist aber die der Negation. Ein‑ zig in ihr lebt der systematische Zug fort. Die Kategorien der Kritik am System sind zugleich die, welche das Besondere begreifen. Was einmal am System legitim das Einzel‑ ne überstieg, hat seine Stätte außerhalb des Systems.185

In der Negation der Isoliertheit des Einzelnen weist dieses zugleich über sich selbst hinaus. Das, was legitim das Einzelne übersteigt, ist die immanente Ver‑ mittlung des Allgemeinen durch Anderes, die Adorno an anderer Stelle „Kons‑ tellation“ oder „immanente Allgemeinheit des Einzelnen“ nennt; 186 wieder an anderer Stelle spricht er von einer „inneren Einheit der Momente“, einer „Affi‑ nität der Gegenstände zueinander“ oder einer „Kohärenz des Nichtidenti‑ schen“.187 Diese dem Einzelnen gleichsam immanente Systematik entzieht sich sowohl dem hegelschen als auch dem klassifikatorischen System. Beide Formen des Systems zeichnen sich durch ihre Ausschließlichkeit aus.188 Ausgeschlossen wird das Nichtidentische, das „heterogen Seiende“,189 und damit gerade das, dem Adornos Interesse gilt. Deshalb kann Adorno auch nicht den Weg von Marx gehen, dessen System einen ironischen oder gebrochenen Charakter hat. Marx habe „das System, und zwar eben jenes letzte und großartigste, das He‑ gelsche System, ganz streng als das genommen, was es ist, und hat es in sich selber überführt, dass es seinem eigenen Identitätsanspruch nicht genügt“.190 So ist die Darstellungsform des Systems bei Marx zugleich immanente Kritik am System, aber nicht Darstellung dessen, was vom System verdrängt wird. Auch als kritisches bleibt das System noch gebunden an den hegelschen Begriff des Ganzen als Totalität der Bewegung durch alle Momente. Die Systematik über‑ lebt daher in negativer Dialektik auch nicht in einem kritischen System, sondern im Modell. Problematisch ist der Modellbegriff aufgrund seiner semantischen Implikati‑ onen: Er suggeriert Unverbindlichkeit, lässt an ein bloßes Beispiel denken, wie etwas zu machen wäre, und erinnert als Modell, das für viele besondere Fälle steht, an schlechte Allgemeinheit. Verstärkt wird dieser Eindruck von Adorno selbst, wenn er die Modelle „Proben dialektischer Philosophie“191 oder negative Dialektik als „ein Ensemble von Modellanalysen“192 bezeichnet. Auch Jameson hält den Begriff für unglücklich, weil er ihm dem Diskurs verdinglichter Wis‑ 185 Adorno:

Negative Dialektik, S.  38. Ebd., S.  165. 187  Ebd., S.  36. 188  „Für das philosophische System darf nichts sein, was draußen ist. [. . .] Deshalb haben die Systeme immer etwas von der Königin aus dem Schneewittchen; den Gedanken, daß da über den Bergen bei den sieben Zwergen eine lebt, die schöner sein soll als sie selber – und wenn es auch ein armes Kind ist – kann sie schlechterdings nicht ertragen.“ Adorno: Philosophische Terminologie 2, S.  264. 189 Adorno: Negative Dialektik, S.  37. 190 Adorno: Philosophische Terminologie 2, S.  265. 191 Adorno: Geschichte und Freiheit, S.  10. 192 Adorno: Negative Dialektik, S.  39. 186 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

senschaft entlehnt scheint.193 Tatsächlich ist der Modellbegriff zentral für Ador‑ nos Philosophie: Erst durch ihn kann Adorno die zentralen Erkenntnisansprü‑ che der negativen Dialektik einlösen und vom Schein ihrer Paradoxie befreien. So muss das Modell als Nachfolger des hegelschen Systems verstanden werden, als eine Darstellung, die der Erkenntnispraxis Adornos genauso angemessen ist wie das System derjenigen Hegels. Das Modell ist das „makrologische Mit‑ tel“194 des mikrologischen Verfahrens; es ist Darstellung des Besonderen in sei‑ ner Besonderheit und damit auch in seiner Vermittlung durch das Ganze. Das Modell erreicht nicht bloß den Begriff des Besonderen, sondern auch das, was im Begriff nicht aufgeht, nämlich die Konstellation, in der das Besondere steht und die erst seine Besonderheit ausmacht. Die Konstellation, immanente Syste‑ matik des Besonderen, kommt weder im identifizierenden Denken, noch in der Erkenntnispraxis Hegels zur Geltung. Die Identifikation des Besonderen durch einen Begriff schneidet notwendig die Konstellation ab, in der dieses Besondere steht, während im hegelschen Stufengang die Besonderheit des Besonderen in eine höhere Allgemeinheit aufgehoben wird. Das Modell hingegen erfasst das Besondere nicht durch Identifikation über einen einzigen Begriff, sondern es stellt die Konstellation, in der das Besondere steht, durch eine Konstellation von Begriffen dar. Dadurch kann Adorno seine zentralen Erkenntnisansprüche, „gegen Wittgenstein zu sagen, was nicht sich sagen läßt“,195 oder „über den Be‑ griff durch den Begriff hinauszugelangen“,196 einlösen. Unter anderem haben Sätze wie diese zum ad nauseam kolportierten Klischee der aporetischen Ver‑ fassung von Adornos Denken geführt; 197 beide Aporien sind jedoch nicht der Sache geschuldet, sondern Adornos Vorliebe für extrem pointierte Formulie‑ rungen. Sie lösen sich im Hinblick auf differenzierte Formulierungen in der Vorlesung über Negative Dialektik auf. Das Unsagbare, das gegen Wittgenstein zu sagen wäre, ist nicht das schlechthin Unsagbare, sondern das, „was nicht unmittelbar, was nicht in einem einzelnen Satz oder in einzelnen Sätzen, son‑ dern nur in einem Zusammenhang sich sagen lässt“.198 Und zum Begriff, der durch den Begriff überwunden werden soll, notiert Adorno in den Stichworten zur Vorlesung: „Der Begriff hat bestimmbare Fehler. Das veranlaßt zu seiner Korrektur durch andere. Die Hoffnung des Namens liegt in der Konstellation

193 Jameson:

Late Marxism, S.  60. Negative Dialektik, S.  39. 195  Ebd., S.  21. 196  Ebd., S.  27. 197  So meint Sandkaulen zur Negativen Dialektik: „Auf Anhieb könnte es überflüssig sein, der Negativen Dialektik ihr Scheitern eigens noch einmal vorzusagen. [. . .] Ihr paradoxes Pro‑ gramm, ‚über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen‘, hat insofern in sich selbst die strukturelle Unmöglichkeit eingebaut, beim Anderen des Begriffs je positiv anzukommen.“ Sandkaulen: „Adornos Ding an sich“, S.  397. 198 Adorno: Vorlesung über Negative Dialektik, S.  112. 194 Adorno:

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2. Totalität

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der Begriffe, die ein jeder zu seiner Korrektur um sich versammelt.“199 Beide Differenzierungen beseitigen den Schein der Paradoxie, der Adornos Ansprü‑ chen anhaftet. Das Modell ist die Einlösung dieser Ansprüche: Es verwirklicht die Hoffnung des Namens, das Besondere genau zu treffen, indem es seine im‑ manente Vermittlung äußerlich darstellt. Ich verstehe die Modelle als Adornos Einlösung für die unterbestimmten Konstellationen und somit die Konstellation nicht als der negativen Dialektik entgegengesetzte „Denkpraktik“, 200 sondern vielmehr als Einlösung des Er‑ kenntnisziels negativer Dialektik, dem Nichtbegrifflichen in der Sphäre des Be‑ griffs gerecht zu werden, es begrifflich zu erfassen, ohne es auf seinen Begriff zu reduzieren. Die Konstellation ist dabei nicht nur dem abstrahierenden Vorgehen identifizierenden Denkens, sondern auch dem hegelschen System entgegen­ gesetzt: „Das einigende Moment überlebt, ohne Negation der Negation, doch auch ohne der Abstraktion als oberstem Prinzip sich zu überantworten, da‑ durch, daß nicht von den Begriffen im Stufengang zum allgemeineren Oberbe‑ griff fortgeschritten wird, sondern sie in Konstellation treten.“201 Die Konstel‑ lation soll weder den Gegenstand bloß auf seinen Begriff reduzieren noch soll sie eine positive Bestimmung des Gegenstandes über die Negation der Negation liefern. Stattdessen treten die Begriffe in Konstellationen und leisten damit eine begriffliche Bestimmung der Sache, die sie nicht auf einen Begriff reduziert. „Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte.“202 Die Konstellation besteht nicht aus widersprüchlichen Begriffen, denn der Widerspruch im Begriff entsteht erst, wenn er sich identifizierend vor eine Sache schiebt; gerade das jedoch verhindert die Konstellation, da in ihr kein Begriff prätendiert, die Sache selbst allein zu treffen. Der Versuch aber, mit einem Begriff die Sache zu treffen, führt auf Widersprüche, weil die Sache eben nicht sie selbst ist, wie Adorno im Anschluss ausführt: „Der Hegelsche Ge‑ brauch des Terminus konkret, demzufolge die Sache selbst ihr Zusammenhang, nicht ihre pure Selbstheit ist, registriert das, ohne doch, trotz aller Kritik an der diskursiven Logik, diese zu mißachten.“203 Der Zusammenhang der Sache, den Adorno als deren „sedimentierte Geschichte“ bestimmt, 204 kann zwar nicht von einem einzelnen Begriff getroffen werden, wohl aber von einer Konstellation von Begriffen, die diesen Zusammenhang entwickelt. 199 

Ebd., S.  220. Sonderegger, Ruth: „Essay und System“, in: Klein, Richard, Kreuzer, Johann und Mül‑ ler-Doohm, Stefan (Hgg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, S.  427–430, hier S.  429. 201 Adorno: Negative Dialektik, S.  164. 202  Ebd., S.  164 f. 203  Ebd., S.  165. 204 Ebd. 200 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Die Modelle führen das aus: In ihnen wird die Sache zwar nicht so auf den Begriff gebracht, dass am Schluss, gleichsam als Resultat, ein einfaches Urteil steht. Stattdessen behandeln die Modelle das Problem der Freiheit, das Problem der Geschichte und das Problem der Metaphysik in einer Weise, die nicht auf eine einfache Begriffsbestimmung abzielt, wohl aber einen Zusammenhang ar‑ tikuliert, der eine positive Bestimmung von Freiheit, von Geschichte und von Metaphysik enthält. Wie im dritten Kapitel am Geschichts- und Metaphysik‑ modell ersichtlich werden soll, verhandeln die Modelle die Sache in der Konstel‑ lation, die sie prägt, so dass am Schluss zwar kein einfaches Urteil steht, wohl aber eine theoretische Behandlung von Geschichte und Metaphysik, die sie nicht ungedacht lässt, sondern sie gerade in ihrer Relation zu den sie bestim‑ menden Momenten denkt. Programmatisch heißt es in der Einleitung der Negativen Dialektik: „Das Modell trifft das Spezifische und mehr als das Spezifi‑ sche, ohne es in seinen allgemeineren Oberbegriff zu verflüchtigen.“205 Das über das Spezifische hinaus Getroffene ist zunächst die geschichtliche Konstel‑ lation, in der das Spezifische steht: Freiheit in der verwalteten Welt, Geschichte im Zeitalter der Atombombe, Sterben, Hoffnung und das Absolute nach Ausch‑ witz. Zugleich trifft das Modell aber auch, wie Adorno in der Einführung in die Dialektik sagt, ein „Gesamtgebiet“.206 In der Negativen Dialektik sind diese Gebiete die Moralphilosophie, die Geschichtsphilosophie und die Metaphysik. Das mikrologische Vorgehen besteht nun darin, dass nicht versucht wird, diese Gebiete möglichst vollständig zu behandeln, sondern dass von einem spezifi‑ schen Punkt aus Modelle entworfen werden, „von denen aus dann über das Ge‑ samtgebiet allerdings ein derartiges Licht fällt, daß dadurch in gewisser Weise das Gesamtgebiet auch modifiziert oder bestimmt wird“.207 Die Problematik der Moralphilosophie wird am Begriff der Freiheit und, noch spezifischer, an der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft behandelt, die Geschichts‑ philosophie am Problem der Universalgeschichte und dieses konkret in Ausein‑ andersetzung mit dem hegelschen Weltgeist, die Probleme der Metaphysik kon‑ zentrieren sich auf Kants Kopernikanische Wende. In der Erleuchtung der Ge‑ samtgebiete erschöpft sich aber das Licht der Modelle nicht. Mag der Ausdruck „Ensemble von Modellanalysen“ eine Unverbundenheit der Modelle suggerie‑ ren, so weist Adorno diesen Gedanken in der Einführung in die Dialektik zu‑ rück: Die Modelle stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern kommunizieren miteinander über „unterirdische Gänge“. Der Zusammenhang der Modelle ist kein äußerlicher, wie die Struktur der Negativen Dialektik nahe legen könnte, sondern „muß seinerseits aus der Komplexion der Sache selbst sich fügen“.208 Für Adorno ist es ein Kriterium der „Verbindlichkeit von Erkenntnis“, ob diese 205 

Ebd., S.  39. Einführung in die Dialektik, S.  240. 207 Ebd. 208  Ebd., S.  241. 206 Adorno:

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3. Negativität

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Kommunikation äußerlich hergestellt wird, oder ob sie sich von selbst her‑ stellt.209 Der Zusammenhang der einzelnen Modelle ist daher nicht der Zusam‑ menhang eines Systems: Weder ergibt sich aus allen Modellen eine Totalität noch haben die Modelle den Anspruch, die Totalität der Wirklichkeit zu erfas‑ sen. Nach Adorno hat der Zusammenhang der Modelle eher den „Charakter eines Labyrinths“, den er an den Werken von Balzac, Kafka und Heimito von Doderer expliziert.210 Das 1958 formulierte Ideal einer labyrinthischen Er‑ kenntnispraxis hat Adorno in der Negativen Dialektik zu realisieren versucht: Tatsächlich stehen deren Modelle nicht isoliert nebeneinander, sondern die Frei‑ heitsproblematik führt in ihrer Verlängerung auf die Problematik der Geschich‑ te und der hegelschen Staatslehre, während diese wiederum auf die Freiheits‑ problematik zurückweist; 211 darüber hinaus kulminieren die geschichtsphilo‑ sophischen Überlegungen in einer Renunziation des Ewigen, von der das Metaphysikmodell ausgeht. Durch diese labyrinthische Kommunikation ent‑ werfen die Modelle ein Gesamtbild, das zwar nicht die Totalität der Wirklich‑ keit umgreift, doch aber mehr als bloß das Spezifische trifft. Das Ensemble mit‑ einander kommunizierender Modellanalysen ist so die der negativen Dialektik, ihrem mikrologischen Programm und ihrer Ausrichtung auf geistige Erfahrung angemessene Darstellungsweise.212

3. Negativität Mit den Begriffen der Negativität und des Negativen wird die Differenz zur hegelschen Dialektik am nachdrücklichsten artikuliert. Der Titel des Haupt‑ werks spricht das aus. Sein Programm lautet: „Dialektik von derlei affirmativen Wesen befreien.“213 Derlei affirmatives Wesen ist die hegelsche Negation der 209 Ebd. 210 

Ebd., S.  242 ff. Kommunikation des Freiheits- und des Geschichtsmodell wird auch dadurch be‑ zeugt, dass Adorno beide in einer Vorlesung abhandelt, dort allerdings in umgekehrter Rei‑ henfolge. 212  Das gilt freilich nicht mehr für die Ästhetische Theorie, die eine andere Form der Dar‑ stellung verfolgt. Überhaupt scheint Adornos Darstellungsideal das wandelbarste Moment seiner ganzen Theorie zu sein. In „Der Essay als Form“, der Negativen Dialektik und der Ästhetischen Theorie predigt und praktiziert Adorno drei divergente Darstellungsideale; Adorno selbst hat diese Diskrepanz höchstens brieflich reflektiert. In den Werken selbst schlägt sich der Wandel bloß in der ausgeführten Darstellung nieder. So heißt es in einem Brief über die Darstellungsschwierigkeiten der Ästhetischen Theorie, „daß die einem Buch fast un‑ abdingbare Folge des Erst-Nachher sich mit der Sache als so unverträglich erweist, daß des‑ wegen eine Disposition im traditionellen Sinn, wie ich sie bis jetzt noch verfolgt habe (auch in der ‚Negativen Dialektik‘ verfolgte), sich als undurchführbar erweist.“ Bedeutend daran ist vor allem das Eingeständnis, dass die Negative Dialektik noch einem linearen Darstellungsi‑ deal folgt. Zitiert nach: Adorno/Tiedemann: „Editorisches Nachwort (GS 7)“, S.  541. 213 Adorno: Negative Dialektik, S.  9. 211  Die

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Negation, durch die sich Positives wiederherstellen soll. In dieser Oberflächen‑ differenz ist der facettenreiche Negativitätsbegriff Adornos bei weitem nicht erschöpft; ebenso wenig ist darin das Verhältnis zum hegelschen Negativitäts‑ begriff ausgedrückt. Adornos Negativitätsbegriff schillert nicht nur wegen mannigfaltiger Bezüge – positiv und negativ – zur hegelschen Dialektik, son‑ dern auch weil Negativität bereits bei Hegel sowohl eine formale Eigenschaft dialektischer Theorie bezeichnet als auch mehr als andere dialektische Kategori‑ en in die Erfahrung übergreift. Im Negativitätsbegriff äußert sich das Anliegen der Dialektik, über die Trennung von Form und Inhalt hinauszukommen in eminenter Weise. Ist der Negativitätsbegriff bereits in der hegelschen Dialektik schwer greifbar, so gilt das mit Nachdruck für die negative Dialektik, deren Qualifizierung als negative den Anspruch ausdrückt, Negativität gegenüber ih‑ rem Vorgänger noch stärker zu betonen. Der emphatische Anspruch auf Nega‑ tivität hat Adorno nicht nur den Ruf eines Pessimisten und Miesmachers, eines Schwarzmalers und Kulturmandarins eingebracht; weil er – wie Heidbrink ge‑ sehen hat – trotz aller Negativität noch an einer Spur des Positiven festhält, wird ihm auch der Vorwurf gemacht, „in seiner Philosophie nicht negativ genug zu sein“.214 Die Konstellation von absoluter Negativität und einer Spur des Positi‑ ven hat ihm in Folge den mittlerweile verbreiteten Vorwurf eingebracht, er kön‑ ne seine Position nicht einlösen.215 Im Folgenden sollen primär die formalen Ei‑ genschaften des Negativitätsbegriffs behandelt werden und – soweit es möglich ist – seine Erfahrungsdimension bloß in ihren formalen und allgemeinen Be‑ stimmungen einbezogen werden; die inhaltliche Behandlung des Negativitäts‑ begriffs wird dann gegen Ende des zweiten Kapitels sowie im dritten Kapitel in den Vordergrund rücken. Unter formalen Gesichtspunkten ist es geboten, sich zunächst der Struktur und der Problematik von Adornos Negativitätsbegriff im Rückgriff auf Differenzen zum hegelschen Negativitätsbegriff zu versichern (I); das führt auf die Relation des Negativitätsbegriffs zu seinem Anderen: dem Po‑ sitiven, das ein integrales Moment von Adornos Negativismus ist. Dieser ist durch drei Momente bestimmt: erstens durch die methodische Operation der bestimmten Negation (II); zweitens durch die These der Selbstevidenz des Fal‑ schen (III); drittens durch ein spezifisches Verhältnis von Negativität und Spe‑ kulation (IV); im Anschluss gibt sich die Utopie als der oberste spekulative Be‑ griff Adornos zu erkennen (V). Dazwischen soll in zwei Einschüben die nega­ tive Dialektik gegen zwei verbreitete Verkürzungen positioniert werden: Im zwei­ten Einschub gegen die These, negative Dialektik sei eine Dialektik ohne Spekulation; im dritten gegen die erlösungsphilosophische Lesart negativer Dialektik, die das Spekulative bei Adorno als normative Absicherung versteht. 214 

Heidbrink: „Grenzen kritischer Negativität“, S.  98. Vgl. etwa: Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, S.  505 f.; Bubner: „Ador‑ nos Negative Dialektik“, S.  38; Theunissen: „Negativität bei Adorno“, S.  57. 215 

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3. Negativität

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I.  Negativität bei Adorno: Struktur und Problematik Die auffälligste Differenz zum Negativitätsbegriff Hegels liegt in Adornos In‑ sistenz auf der Negativität des Ganzen; eine Insistenz, die zugleich auch die größten Probleme für die Struktur negativer Dialektik beinhaltet. Ähnlich wie beim Totalitätsbegriff deutet die Formel „Das Ganze ist das Unwahre“ auch hier bloß eine Oberflächendifferenz an, unter der sich subtilere Differenzen verbergen, die für den Negativitätsbegriff Adornos entscheidend sind. Diese Unterschiede zum hegelschen Negativitätsbegriff möchte ich in vier Schritten rekonstruieren: 1)  als Unterschied im Verhältnis von normativer und ontologischer Negativität. 2)  als Unterschied zwischen positiver Negativität und negativer Negativität. 3)  als unterschiedliche Bedeutung von absoluter Negativität. 4)  als unterschiedliche Zentrierung der Negativität. Adornos spezifisches Verständnis von Negativität ergibt sich aus dem Zusam‑ menspiel der in diesen Dimensionen stattfindenden kritischen Aneignung des hegelschen Negativitätsbegriffs. (1) Der erste Unterschied zwischen dem adornoschen und dem hegelschen Negativitätsbegriff artikuliert sich im jeweiligen Verhältnis der Negativität als formaler Kategorie der Dialektik zu ihrem normativen Gehalt. Theunissen un‑ terscheidet eine „Negativität des Nichtseienden“ von einer, die das „Nichtsein‑ sollende“ bezeichnet; in der ersten „ist das Negative einem Positiven entgegen‑ gesetzt, in dessen Begriff das ponere über die subjektive Setzung hinaus, bloß Sein als objektives Gesetztsein meint“. Dagegen bezeichnet das Negative als Nichtseinsollendes „den Gegensatz zu einem Positiven, in dem zum ponere ein affirmare hinzukommt“.216 Im Anschluss an diese Differenz möchte ich eine ontologische Negativität von einer normativen Negativität unterscheiden.217 Zwar treten die beiden Seiten in negativer Dialektik emphatisch auseinander; aber Theunissens These, alle Bedeutungen von Negativität würden sich bei Adorno auf normative Negativität beziehen,218 übergeht die Rolle, welche die ontologische Negativität in Adornos Denken spielt. Die beiden Negativitäten stehen bei Adorno in einem spiegelbildlichen Verhältnis: Was ist, soll nicht sein, und was (noch) nicht ist, soll sein. Theunissen hat insofern Recht mit seiner These, als Adornos Werk sich hauptsächlich mit der Kritik dessen beschäftigt, was ist, aber nicht sein soll, während das Nichtseiende als Seinsollendes nur 216 

Theunissen: „Negativität bei Adorno“, S.  41. Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich betonen, dass ontologische Negativi‑ tät nichts weiter meint als eine Negativität, die sich auf (Gesetzt-)Sein oder Nichtsein bezieht; nicht gemeint ist eine Ontologisierung der Negativität, so als ob diese eine Grundstruktur der Welt oder des Daseins sei. 218  Theunissen: „Negativität bei Adorno“, S.  42. 217 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

selten und dann wiederum nur negativ in den Blick kommt: als Versöhnung, Erlösung oder Utopie. Aber gerade an dem für Adorno zentralen Begriff der Utopie, dem Nicht-Ort, zeigt sich die zwar marginale, aber dennoch unver‑ zichtbare Stellung der ontologischen Negativität im Werk Adornos: Erst durch sie lässt sich die normative Negativität bei Adorno legitimieren. Zugleich ist damit ein zentrales Problem von Adornos Negativismus ausgesprochen: Im Auseinandertreten von ontologischer und normativer Negativität wird fraglich, woher die normative Negativität ihren Maßstab nimmt, nach dessen Vorgabe sie das Nichtseinsollende als solches denunzieren kann.219 Die Behandlung dieser Frage kann erst im Rückgriff auf Adornos Verhältnis zur Spekulation erfolgen. Deshalb möchte ich hier bloß auf die Differenz zum hegelschen Negativitätsbe‑ griff eingehen. Wenn auch bei Hegel Negativität, so Theunissen, „in erster Li‑ nie Tätigkeit“ bezeichnet, 220 so liegt gerade in der Negativität als Tätigkeit auch ein normatives Moment. Deutlich wird das an einer Passage aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, in der Hegel, nachdem er die Negativität als Prin‑ zip der Bewegung expliziert hat, unvermittelt auf die Erfahrungsebene, gleich‑ sam ins Existentielle springt und von Schmerz, Leid und Tod redet: „Das Leben Gottes und das göttliche Erkennen mag also wohl als ein Spielen der Liebe mit sich selbst ausgesprochen werden; diese Idee sinkt zur Erbaulichkeit und selbst zur Fadheit herab, wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen darin fehlt.“221 Gerade als Prinzip der Bewegung, als Selbstbezug, der im Gegensatz zum Selbstbezug als Spielen der Liebe mit sich selbst ein Ver‑ hältnis ist, das über das Negative, nämlich die Entzweiung und deren Aufhe‑ bung verläuft, hat die Negativität bei Hegel eine für sie konstitutive Erfah‑ rungsseite. Adorno meint, dass in „einer solchen Formulierung wie dieser die landläufige Trennung zwischen der Sphäre der Logizität [. . .] und der Sphäre der eigentlichen menschlichen Erfahrung [. . .] [aufgehoben ist] [Konjektur des He‑ rausgebers, d. Verf.]“.222 In dieser Sphäre der Erfahrung von Schmerz und Leid liegt auch im hegelschen Negativitätsbegriff ein dezidiert normatives Moment – die Entzweiung oder Zerrissenheit ist das Nichtseinsollende, das aufgehoben werden muss. Der Geist erkennt sich nur selbst, wenn er den Schmerz des Ne‑ gativen auf sich nimmt und ihn überwindet, wie Hegel an anderer Stelle der Vorrede sagt: Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert. Die kraftlose Schönheit haßt den 219  Theunissen sieht in dieser Frage das Scheitern des dialektischen Denkens nach Hegel beschlossen: „Es bewältigt die wertmäßige Negativität nicht.“ Theunissen: „Dialektik der Endlichkeit“, S.  63. 220  Theunissen, Michael: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt a. M. 1980, S.  173. 221 Hegel: Phänomenologie, S.  24. 222 Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  66.

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3. Negativität

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Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. 223

Die absolute Zerrissenheit, diese Negativität im emphatischen Sinne, ist auch bei Hegel das Nichtseinsollende, das, was überwunden und aufgehoben werden soll. Die Differenz zu Adorno liegt deshalb nicht in der normativen Dimension des Negativitätsbegriffs. Wie Adorno denkt auch Hegel im Negativitätsbegriff die Erfahrung von Leid und Schmerz mit und trennt nicht streng zwischen lo‑ gischer Ebene und menschlicher Erfahrung. Der Unterschied ist vielmehr im jeweiligen Verhältnis von ontologischer und normativer Negativität zu suchen. Stehen die beiden Negativitäten oder, wie man jetzt vielleicht sagen sollte: die beiden Seiten der Negativität bei Adorno in einem spiegelbildlichen Verhältnis, so dass das Seiende gerade das Nichtseinsollende und umgekehrt das Nichtsei‑ ende gerade das Seinsollende ist, so sind bei Hegel beide Seiten nicht verkehrt, sondern parallel zueinander gedacht: das Nichtseiende ist zugleich das Nichts‑ einsollende und das Seiende ist das Seinsollende. So ist der Tod, der das Nichts‑ einsollende bezeichnet, zugleich als Unwirklichkeit, mithin als Nichtseiendes gedacht. Gewiss, die Differenz zwischen Adorno und Hegel im Verhältnis von onto‑ logischer und normativer Negativität ist damit bloß schematisch angezeigt; aus‑ gespart bleibt zumal der dynamische Charakter hegelscher Negativität. Das Nichtseinsollende ist nicht einfach das Nichtseiende in einem ontologischen Sinn als schlechthin Nichtseiendes, sondern es ist das auf einer Stufe der dialek‑ tischen Bewegung Seiende, aber als solches auf der nächsten Stufe Aufgehobene und wiederum Nichtseiende. Deshalb ist es besser, zur Kennzeichnung dieses dynamischen Charakters den statischen Ausdruck „Nichtseiendes“ durch den Ausdruck „Verschwindendes“ zu ersetzen, in dem die Bewegung von einem Seienden auf einer Stufe zu einem Nichtseienden auf der nächsten Stufe ausge‑ drückt ist. Zum anderen ist die bloß schematische Fassung des Unterschieds im Verhältnis der zwei Seiten der Negativität zu präzisieren und die strukturellen Konsequenzen sind herauszustellen, die Adornos Umkehrung des Verhältnis‑ ses der Negativitätsdimensionen hat. Der Nachteil dieser Umkehrung wurde bereits angesprochen: Wenn das Seiende das Nichtseinsollende ist, wie lässt es sich in diesem Fall als solches ausweisen? Diese normative Problematik wird jedoch erst im Hinblick auf den Begriff der Spekulation verständlich. Unabhän‑ gig davon müssen hier die strukturellen Differenzen und deren inhaltliche Kon‑ sequenzen weiter verfolgt werden, die sich aus Adornos spiegelbildlichem Ver‑ hältnis der Negativitätsdimensionen ergeben.

223 Hegel:

Phänomenologie, S.  36.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

(2) Zunächst artikuliert sich das Verhältnis der Negativitätsdimensionen auf der logischen Ebene, auf der Negativität eine Bewegung bezeichnet. Als solche ist Negativität eine zentrale Kategorie dialektischen Denkens: Bei Adorno und bei Hegel gleichermaßen wird sie in engem Bezug zur Kategorie der Vermitt‑ lung gedacht. So bezeichnet Hegel in der Phänomenologie des Geistes die Ver‑ mittlung „als die sich bewegende Sichselbstgleichheit, oder sie ist die Reflexion in sich selbst, das Moment des fürsichseienden Ich, die reine Negativität“; 224 in einer Klammerbemerkung in der Wissenschaft der Logik spricht er davon, dass die Vermittlung „eine Beziehung aufeinander, damit Negation enthält“.225 Ein Rückgriff auf den Begriff des Unmittelbaren, wie er von Henrich definiert wird, mag den Zusammenhang von Negativität und Vermittlung verdeutlichen: „Unmittelbares ist gleich nur mit sich, frei von Gleichheit mit oder Ungleichheit gegen Anderes.“226 In der Vermittlung gedacht, wird die Gleichheit mit sich des Unmittelbaren negiert und insofern ist Vermittlung dasselbe wie Negativität; ebenso ist das Unmittelbare bei Hegel das Positive, insofern es ohne Relation auf anderes existiert. Der Nachweis der Vermittlung hebt den Schein der Suisuf‑ fizienz des Unmittelbaren auf und so stellt „die ungeheure Macht des Negati‑ ven“227 eine für die Dialektik unverzichtbare Kraft dar. Adorno beschreibt die Bewegung der Negativität bei Hegel als „die Verflüs‑ sigung der einzelnen Begriffe, die Reflexion des Unmittelbaren und dann wie‑ der die Aufhebung der Reflexion“.228 Es fällt auf, dass Adorno hier explizit die doppelte Bewegung der Negativität bei Hegel erwähnt – sowohl die Reflexion des Unmittelbaren als auch die gegenläufige Bewegung der Aufhebung der Re‑ flexion –, die er in seiner Kritik am hegelschen Negativitätsbegriff oft übergeht. In der Tat bezeichnet Hegel mit dem Begriff der Negativität ausdrücklich zwei Bewegungen: Die Bewegung des Seienden ist, sich einesteils ein Anderes und so zu seinem immanen‑ ten Inhalte zu werden; andernteils nimmt es diese Entfaltung oder dies sein Dasein in sich zurück, d. h. macht sich selbst zu einem Momente und vereinfacht sich zur Be‑ stimmtheit. In jener Bewegung ist die Negativität das Unterscheiden und das Setzen des Daseins; in diesem Zurückgehen in sich ist sie das Werden der bestimmten Einfachheit. 229

An dieser Stelle zeigt sich die gewichtigste formale Differenz zwischen dem hegelschen und adornoschen Negativitätsbegriff; verdunkelt wird sie durch den Umstand, dass Adorno die in der hegelschen Negativität gelegene doppelte Be‑ wegung verschleift. Aber die Differenz liegt dem Vorwurf zugrunde, Hegel meine es mit der Negativität nicht wirklich ernst: „Bei allem Nachdruck auf 224 

Ebd., S.  25. Logik I, S.  86. 226  Henrich: „Hegels Logik der Reflexion“, S.  110. 227 Hegel: Phänomenologie, S.  36. 228  Adorno: „Aspekte“, S.  259. 229 Hegel: Phänomenologie, S.  51. 225 Hegel:

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3. Negativität

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Negativität, Entzweiung, Nichtidentität kennt Hegel deren Dimension eigent‑ lich nur um der Identität willen, nur als deren Instrument.“230 Was Adorno hier kritisiert, ist die doppelte Bewegung innerhalb der Negativität; die Negativität ist nicht nur Entzweiung und Kritik, sondern als deren abermalige Negation auch die Wiederherstellung der Position, der bestimmten Einfachheit. In der Vorlesung über Negative Dialektik redet Adorno an dieser Stelle von einer „po‑ sitiven Negativität“231 und bezeichnet damit die zweite, rückläufige Bewegung in der Negativität. Ich möchte versuchen, die von Adorno kritisierte positive Negativität im Rückgriff auf die These der Hypostasis der Vermittlung zu erläutern. Die Hy‑ postasis der Vermittlung wurde als die Operation interpretiert, die im Schema der Dialektik als Synthese oder Aufhebung bezeichnet wird, mithin als das dritte Moment der Dialektik. Nun ist die positive Negativität, die Negation der Negation, ebenfalls die Bewegung, durch die die Synthese vollzogen wird. Po‑ sitive Negativität und Hypostasis der Vermittlung bezeichnen danach dasselbe; ebenso bezeichnen Vermittlung und reine Negativität dasselbe, nämlich einen Zustand, in dem die durcheinander vermittelten Momente nicht positiv gegeben sind, sondern bloß negativ: nur in Relation auf ihr Anderes, mithin nur als Beziehung. Die Synthese oder die Bewegung zum dritten Moment nun wird ent‑ weder über eine Hypostasis der Vermittlung oder über die Negation der reinen Negativität vollzogen, die dadurch in ihr Positives übergehen soll. Dieser Über‑ gang jedoch kann, wie Theunissen herausgestellt hat, nicht ein Übergang der Negativität in ein ihr entgegengesetztes Positives sein; ein solches hat sie als reine Negativität nicht: „Sie positiviert sich vielmehr durch sich selbst. Positiv ist sie nur, weil sie ist, und sie ist als reine Negativität.“232 Auf die Formel von der Negation der Negation bezogen bedeutet das: Die erste Negation ist selbst ein Verhältnis, nämlich die Vermittlung des ersten Moments durch das zweite. Die zweite Negation ist nun nicht eine von außen an der ersten Negation vollzogene Negation, denn die Negation hat als immanente Vermittlung des ersten Mo‑ ments durch sein Anderes kein Außen; vielmehr ist die zweite Negation die Selbstreflexion der Negativität, die dadurch ins Positive übergeht: Das zweite Negative, das Negative des Negativen, zu dem wir gekommen, ist jenes Auf‑ heben des Widerspruches, aber ist sowenig als der Widerspruch ein Tun einer äußerlichen Reflexion, sondern das innerste, objektivste Moment des Lebens und Geistes, wo‑ durch ein Subjekt, Person, Freies ist. – Die Beziehung des Negativen auf sich selbst ist als die zweite Prämisse des ganzen Schlusses zu betrachten. 233

230 

Adorno: „Skoteinos oder Wie zu lesen sei“, GS 5, S.  326–375, hier S.  375. Vorlesung über Negative Dialektik, S.  28. 232  Theunissen: „Dialektik der Endlichkeit“, S.  53. 233 Hegel: Logik II, S.  563. 231 Adorno:

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Die Negation der Negation ist als Selbstreflexion des Negativen, als Beziehung des Negativen auf sich selbst gedacht, eine Beziehung, die zugleich die Positivie‑ rung des Negativen ist. Diese Selbstpositivierung ist nichts anderes als die Hy‑ postasierung der Vermittlung: die positive Setzung des Verhältnisses und damit die Wiederherstellung der Unmittelbarkeit, wie Theunissen ausführt: „Unmit‑ telbarkeit ist in dieser Theorie, als bedeutungsgleich mit dem Sein der sich re‑ flektierenden Negativität, nur die Rückseite der Reflexion und damit der Ver‑ mittlung selber.“234 Mithin bezeichnen die Ausdrücke „Positivierung absoluter Negativität“ und „Hypostasis der Vermittlung“ denselben Vorgang. Indem das Verhältnis, das die zweite Bestimmung der Dialektik ausmacht, als positives, das heißt als seiendes Verhältnis gesetzt wird, wird erneut Unmittelbarkeit her‑ gestellt. Deshalb ist die von Adorno „positiv“ genannte Negativität bei Hegel die sich selbst positivierende Negativität und damit die gesetzte Vermittlung als Unmittelbarkeit. Diese Selbstpositivierung der Negativität ist bei Hegel jedoch nur möglich, weil die Momente der Negativität Momente des Geistes sind und weil diese Negativität selbst eine Negativität des Geistes ist, weil also zwischen der absoluten Negativität und ihren Momenten keine qualitative Differenz be‑ steht. Der, so Theunissen, „seit Kierkegaard anhaltende, am leidenschaftlichste von Adorno vorgetragene Protest gegen die an uns ergehende Zumutung, die Selbstnegierung der autonomen Negation als Affirmation denken zu sollen“, 235 zeigt sich mithin als Absage an die sich selbst setzende Negativität, die bei Hegel als Werden der bestimmten Einfachheit noch zum Negativitätsbegriff dazuge‑ hört. Adorno fasst deshalb unter Negativität nur noch die erste, wahrhaft nega‑ tive Bewegung des Scheidens, der Entzweiung und der Kritik. (3) Das wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, was bei beiden Den‑ kern jeweils unter der absoluten Negativität verstanden wird. Bei Hegel meint der Ausdruck einen primär formalen Prozess, wie Theunissen festhält: „Als absolute Negativität bezeichnet Hegel die Tätigkeit, die durch Reflexion reine Tätigkeit wird, ein in sich selbst ruhender, substratloser Prozeß.“236 Weil Ador‑ no, wie wir gesehen haben, in der Vermittlung an der Unauflöslichkeit des Un‑ mittelbaren festhält, gibt es bei ihm keine absolute Negativität als substratlosen Prozess. Insofern ließe sich die These vertreten, Hegels Negativitätsbegriff sei umfassender, gar radikaler als derjenige Adornos. So ist nach Henrich die abso‑ lute Negativität geradezu das, „was Hegel eigentümlich ist und was ihm selber das Wesentliche war“, wogegen „[a]lles Reden über Dialektik, bestimmte Nega‑ tion und Einheit der Gegensätze“ zurückbleibe.237 Ausgerechnet beim Negati‑ 234 

Theunissen: „Dialektik der Endlichkeit“, S.  53. Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, S.  378. 236  Theunissen, Michael: Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung. Kierkegaards negativistische Methode, Frankfurt a. M. 1991, S.  33 (= Das Selbst auf dem Grund der Verzweif‑ lung). 237  Henrich: „Hegels Logik der Reflexion“, S.  134. 235 Theunissen:

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3. Negativität

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vitätsbegriff scheint Adorno hinter Hegel und dessen Dialektik zurückzublei‑ ben. Dieser Eindruck täuscht: Die Absolutheit der Negativität, ihre Substratlo‑ sigkeit, ist bei Hegel, wie Fulda es formuliert: „Ursprung der auf Auflösung der Besonderungen gerichteten Bewegung“,238 mithin Ursprung des versöhnenden Moments der Dialektik, indem die Dialektik dadurch ihre eigene Positivierung ermöglicht und vorbereitet. Dagegen bringt Adorno einen anderen Begriff der absoluten Negativität ins Spiel, der dem hegelschen in bestimmter Hinsicht dia‑ metral entgegengesetzt ist. Meint absolute Negativität bei Hegel einen substrat‑ losen Prozess und den Ursprung der Auflösung des Besonderen, so bezeichnet absolute Negativität bei Adorno gerade das, was sich seiner Auflösung im Be‑ griff konstitutiv entzieht. Absolute Negativität ist bei Adorno keine formale Kategorie, sondern bezeichnet in Folge der Achsendrehung der Dialektik ein Verhältnis zwischen Begriff und Realität. Greifbar wird das auf den ersten Sei‑ ten des Metaphysikmodells, wo Adorno sich gegen die Behauptung eines sinn‑ vollen Weltgeschehens nach Auschwitz wendet: Das Gefühl, das nach Auschwitz gegen jegliche Behauptung von Positivität des Daseins als Salbadern, Unrecht an den Opfern sich sträubt, dagegen, daß aus ihrem Schicksal ein sei’s noch so ausgelaugter Sinn gepreßt wird, hat sein objektives Moment nach Ereignis‑ sen, welche die Konstruktion eines Sinnes der Immanenz, der von affirmativ gesetzter Transzendenz ausstrahlt, zum Hohn verurteilen. Solche Konstruktion bejahte die abso‑ lute Negativität und verhülfe ihr ideologisch zu einem Fortleben, das real ohnehin im Prinzip der bestehenden Gesellschaft bis zu ihrer Selbstzerstörung liegt.239

Absolute Negativität meint hier das reale Grauen von Auschwitz, das jeglicher Versöhnung im und durch den Begriff widersteht. Das in der absoluten Negati‑ vität gelegene Verhältnis ist in gewissem Sinne ein negatives; durch sie wird „dem spekulativen metaphysischen Gedanken die Basis seiner Vereinbarkeit mit der Erfahrung“ zerschlagen.240 Absolut aber ist die Negativität durch ihren vollkommenen Gegensatz zum Positiven: weder enthält sie es als Moment in sich, noch kann ihr ein Positives abgewonnen werden. Mithin vertritt Adorno einen radikaleren Negativitätsbegriff als Hegel. Absolute Negativität ist bei Adorno im Gegensatz zur hegelschen positiven Negativität eine im emphati‑ schen Sinne negative Negativität. Das schließt einen Bezug auf das Positive kei‑ neswegs aus; auch Adorno kennt eine Form der positiven Negation, die auf das Positive verweisen kann, es aber nicht als Seiendes setzen kann: die bestimmte Negation. Sie wird für Adorno zur zentralen methodischen Operation, die ihm einen Bezug auf das Positive erlaubt, ohne von der Absolutheit der Negativität abzulassen. Hegels Dialektik löst die Absolutheit der Negativität gleichsam auf, 238  Fulda, Hans Friedrich: „Hegels Dialektik als Begriffsbewegung und Darstellungswei‑ se“, in: Horstmann, Rolf-Peter (Hg.): Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, Frank‑ furt a. M. 1978, S.  124–174, hier S.  153. 239 Adorno: Negative Dialektik, S.  354. 240 Ebd.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

indem sie Negativität als Ganze positiviert. Negativer Dialektik ist diese Mög‑ lichkeit durch die Differenz in der Vermittlung systematisch verbaut. So wie ohne den Primat des Geistes nicht die Vermittlung hypostasiert werden kann, so wenig vermag sich die absolute Negativität in ihrer Selbstreflexion selbst zu positivieren. Der scheinbare Verlust der Kraft zur Versöhnung resultiert in ei‑ nem im Vergleich zu Hegel nicht nur emphatischeren, sondern auch differen‑ zierteren Negativitätsbegriff. (4) Das zeigt sich in dem, was ich die Zentrierung der Negativität nenne. Zen‑ trierung zeigt an, auf was die Negativität gerichtet ist, was das Opfer der Nega‑ tivität ist. In der Zentrierung des Negativitätsbegriffs zeigt sich eine Differenz zwischen Hegel und Adorno, die nicht nur die Differenz im Verhältnis der Ne‑ gativitätsdimensionen in sich begreift; auch die untergründige Differenz zwi‑ schen Hegels umfassendem Negativitätsbegriff als Einheit von negativer und positiver Negativität und Adornos radikal negativem Negativitätsbegriff kommt an die Oberfläche. Diese Differenzen zwischen Adornos und Hegels Negativitätsbegriff artikulieren sich nochmals darin, dass bei Hegel das Opfer der Negativität der Geist ist, während es bei Adorno das Einzelne und Beson‑ dere, das Individuum ist. Auch wenn Hegel in den zitierten Stellen zur Negati‑ vität mit Begriffen wie Schmerz und Tod eine existentielle Seite anspricht, so ist doch diese Negativität schließlich nicht Negativität für das Individuum, das Schmerz und Tod erleidet, sondern Negativität des Geistes. Für den Geist ist die doppelte Bewegung der Negativität, die Entzweiung und die Aufhebung dieser Entzweiung, notwendig: „[N]ur diese sich wiederherstellende Gleichheit oder die Reflexion im Anderssein in sich selbst – nicht eine ursprüngliche Einheit als solche oder unmittelbare als solche – ist das Wahre.“241 Negativität hat bei Hegel somit eine gleichsam epistemologische Funktion; erst sie ermöglicht die Selbst‑ erkenntnis des Geistes. Das wird an der bereits zitierten Passage ersichtlich, wenn Hegel sagt, der Geist gewinne „seine Wahrheit nur, indem er in der abso‑ luten Zerrissenheit sich selbst findet“.242 Die Selbstfindung des Geistes schließt zwar eine Anerkennung der Negativität ein, hebt aber zugleich die Negativität dieses Negativen auf: Tod, Schmerz, Leid werden zwar vom Geist erfahren, aber in der Bewegung der sich positivierenden Negativität aufgehoben und ver‑ söhnt. So heißt es bei Hegel über die Selbstfindung des Geistes weiter: Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu ir‑ gend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt. 243

241 Hegel:

Phänomenologie, S.  23. Ebd., S.  36. 243  Ebd., S.  36. 242 

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3. Negativität

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Dagegen drückt der negative Negativitätsbegriff gerade die Unversöhnlichkeit des Negativen aus; dem Geist ist nicht mehr die Zauberkraft gegeben, das Ne‑ gative aufzuheben; die Vernunft hat nicht mehr die Kraft der Versöhnung in sich; die Theorie kann sich nicht mehr damit begnügen, die Vernünftigkeit des Wirklichen zu demonstrieren. Insofern Negativität nicht durch den Geist besei‑ tigt werden kann, ist der negative Negativitätsbegriff zum einen radikaler als der hegelsche, angesichts von Adornos Programm aber auch realitätsgerechter. Denn verstehen wir Adornos Philosophie als kritische Rettung Hegels, mithin als eine Reflexion des Geistes, die das neue Zeitalter, das mit Auschwitz ange‑ brochen ist, auf den Begriff bringt, so ist offensichtlich, dass gegenüber Ausch‑ witz die Versöhnung im Begriff nicht mehr zulangt. Die Abkopplung der Negativität von ihrer positiven Gegenbewegung zeitigt sowohl inhaltliche wie strukturelle Konsequenzen. Inhaltliche Kehrseite der rückhaltlosen Anerkennung von Negativität und Zerrissenheit ist die Ohn‑ macht des Geistes gegenüber dem Negativen, gleichsam der Verlust seiner Zau‑ berkraft. Weil negative Dialektik nicht vor dem Negativen resignieren darf, sondern genauso wie Hegel an dessen Aufhebung festhält, muss Adorno diese Motive, in Nachfolge von Marx, von der Theorie auf die Praxis übertragen. Versöhnung ist jetzt das, was sich in einer geschichtlichen Dimension erst her‑ stellen soll; die Vernunft wäre in dieser Fluchtlinie erst zu sich selbst zu brin‑ gen. Fluchtpunkt dieser geschichtlichen Bewegung ist bei Adorno der Begriff der Utopie. Mithin ist Geschichtsphilosophie nicht bloß ein integrales Moment negativer Dialektik, sondern negative Dialektik ist nur als Geschichtsphiloso‑ phie möglich. Die bedeutendste strukturelle Konsequenz aus Adornos kritischer Aneig‑ nung des hegelschen Negativitätsbegriffs ist die Belastung des Strukturgefüges der Dialektik mit einem emphatischen Begriff der Negativität. Dieser extrem gesteigerte Begriff von Negativität provoziert die Frage nach dem Positiven als seiner unverzichtbaren Kehrseite. Dass Adorno die Berufung auf das Positive und das Verlangen danach mit einem von Gottfried Keller geprägten Ausdruck als „Pfefferkuchenausdruck“ zu bezeichnen pflegte,244 darf nicht über die Be‑ deutung hinwegtäuschen, die dem Positiven in Adornos Philosophie zukommt. Die Kritik am Positiven gilt nicht diesem an sich, sondern der allzu unmittelba‑ ren Berufung auf das Positive. Dringlich bleibt Frage nach dem Positiven an sich auf formaler Ebene in mindestens drei Stoßrichtungen: zunächst in normativer Hinsicht als Frage nach dem Maßstab einer zum Extrem gesteigerten Negativi‑ tät. Zum Zweiten ist das Positive auch jenseits der normativen Dimension ein integrales Moment der formalen Struktur negativer Dialektik. So wie die abs‑ 244  Adorno: „Die Aktualität der Philosophie“, GS 1, S.  325–344, hier S.  339; ders.: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, GS 6, S.  413–526, hier S.  439 (= Jargon der Eigent‑ lichkeit).

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

trakte Positivität kritisiert Adorno auch die abstrakte Negativität, der alles von vornherein negativ, Nichtseinsollendes ist: „Negativität an sich ist kein Gut, das zu verteidigen wäre. Sie schlüge damit sogleich ihrerseits in schlechte Positivität um.“245 Zur Negativität gehört deshalb das Moment des Positiven „korrelativ“ dazu.246 Nur die Beziehung auf das Positive als ihr unaufhebbar Anderes, ihr Nichtidentisches, bewahrt die Negativität davor, im hegelschen Sinne absolut und damit positiv zu werden. Zur normativen und strukturellen Rolle des Posi‑ tiven in Adornos negativer Dialektik kommt ein drittes Moment hinzu, über das Adorno in einem Brief an Thomas Mann Auskunft gibt: „Wenn mir etwas von Hegel und denen, die ihn auf die Füße stellten, in Fleisch und Blut überge‑ gangen ist, dann ist es die Askese gegen die unvermittelte Aussage des Positiven; wahrhaft eine Askese, glauben Sie mir, denn meiner Natur läge das Andere, der fessellose Ausdruck der Hoffnung, viel näher.“247 Negativität ist kein Selbst‑ zweck, sondern dient der vermittelten Aussage des Positiven. Mithin ist das Positive als integrales, der Negativität mindestens gleichgestelltes Moment von Adornos Philosophie zu verstehen; aber nicht als Teil der Negativität, sondern als deren dialektisch Anderes. Seine Marginalisierung in den Schriften Adornos verdankt sich einem methodischen Desiderat: das Positive nur vermittelt, nur über das Negative, auszusagen, mittels der bestimmten Negation.

II.  Negativismus I: bestimmte Negation und positive Negation Die bestimmte Negation ist die wichtigste methodische Operation von Ador‑ nos Negativismus, der unter diesem Aspekt als methodischer Negativismus zu verstehen ist, da er das Positive nicht direkt, sondern nur über das Negative er‑ schließt. Seltsam ist, dass Theunissen, der die Unterscheidung von inhaltlichem und methodischem Aspekt des Negativismus geprägt hat,248 die methodische Ausrichtung von Adornos Negativismus übersieht. Stattdessen sieht er in Ador‑ nos Werk einen inkonsequenten Negativismus am Werk, der Adorno zum „Übergang in Metaphysik“ nötige, weil seine Versuche, das Positive, auf das er sich beziehen muss, auszuweisen, „als gescheitert zu betrachten“ seien.249 Ne‑ ben anderen Verkehrungen – prominent darunter die der Relation von Ge‑ schichtsphilosophie und Metaphysik – führt diese These Theunissen zur Be‑ hauptung, Adornos Philosophie sei „in gewisser Weise nicht negativistisch ge‑ nug [. . .]. Hinter der Idee des Negativismus bleibt sie aber zurück, weil sie sich 245 Adorno:

Vorlesung über Negative Dialektik, S.  4 4. Ebd., S.  46. 247 Brief vom 1.12.1952. Adorno, Theodor W. und Mann, Thomas: Briefwechsel 1943– 1955, hg. von Christoph Gödde und Thomas Sprecher, Briefe und Briefwechsel, Bd. 3, Frank‑ furt a. M. 2002, S.  128. 248  Vgl. Theunissen: Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung, S.  17 f. 249  Theunissen: „Negativität bei Adorno“, S.  57. 246 

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3. Negativität

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infolge ihrer Abhängigkeit von Metaphysik auch an pränegativistische Deu‑ tungsmuster bindet.“250 Dieser Schluss drängt sich Theunissen auf, weil er die „dialektischen Strategien“ Adornos, also die Versuche, das Positive über die Negation des Negativen zu erreichen, undifferenziert mit ihrem hegelschen Vorbild gleichsetzt und Adorno unterstellt, er schleppe „das Mythische mit, das schon in die spekulative Negationstheorie eingegangen“ sei, nämlich dass der Geist durch Verweilen beim Negativen dieses in das Sein umkehren könne; in anderen Worten: die Negation der Negation, aus der die Position entspringen soll.251 Angehrn hält zu Recht dagegen, dass gerade das die Stelle ist, „wo ver‑ sucht werden muss, über die bloße Statuierung der Denkfigur hinauszukom‑ men“.252 Dazu müssen wir Rechenschaft ablegen über die der Philosophie Adornos eigentümliche Form des Negativismus. Ansetzen können wir bei den bereits gemachten Differenzierungen des Ne‑ gativitätsbegriffs; sie sind nun auf den Begriff des Positiven auszuweiten. Wäh‑ rend Adorno ohne Zweifel an der Möglichkeit eines Andern festhält, ist es frag‑ würdig, ob er diesem, wie Theunissen behauptet: „auch Wirklichkeit zuspricht, und zwar Wirklichkeit in der bestehenden Welt“.253 Unbestreitbar ist, dass er ihm Wirklichkeit im Sinne von Wirksamkeit zuspricht, wie eine Stelle aus der Negativen Dialektik verdeutlicht: „Bewußtsein könnte gar nicht über das Grau verzweifeln, hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt.“254 Aber der ontologische Status dieses Positiven ist nicht so klar, wie Theunissen glauben machen will. Denn die versprengte Spur ist nicht als positiv in der Welt gegebene gedacht, wie am unmittelbar folgenden Satz ersichtlich wird: „Stets stammt sie aus dem Ver‑ gangenen, Hoffnung aus ihrem Widerspiel, dem, was hinab mußte oder verur‑ teilt ist.“255 Noch deutlicher wird in der Einleitung der Negativen Dialektik die Farbe als Metapher für das Positive mit dem Nichtseienden enggeführt: „Die unauslöschliche Farbe kommt aus dem Nichtseienden.“256 Der ontologische Status des Positiven ist damit angedeutet: In der bestehenden Welt ist das Posi‑ tive zwar wirksam, es ist als Farbe erkennbar, existiert aber nicht als Positives; die Farbe, die hier nur Erscheinung des Seienden ist, kommt aus dem Nichtsei‑ enden. Adornos Disjunktion von ontologischer und normativer Negativität er‑ laubt an dieser Stelle, das Positive als Seinsollendes mit dem Negativen als Nichtseiendem zu identifizieren. Diese begriffliche Distinktion ist zentral, denn vor ihrem Hintergrund zeigt die Figur des Verweilens beim Negativen 250 

Ebd., S.  61. Ebd., S.  51 f. 252  Angehrn: „Kritik und Versöhnung“, S.  269 f. 253  Theunissen: „Negativität bei Adorno“, S.  50. 254 Adorno: Negative Dialektik, S.  370. 255 Ebd. 256  Ebd., S.  66. 251 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

eine Differenz zu Hegel, die es nicht mehr gestattet, Adorno und Hegel in den‑ selben mythischen Topf zu werfen. So ist Theunissens Vermutung, Adorno greife auf die hegelsche Negation der Negation zurück, 257 zwar zutreffend, verschleift aber den Doppelcharakter, den diese hegelsche Figur in Adornos Augen hat. Theunissen stützt seine Vermu‑ tung auf eine Fußnote im Abschnitt „Kritik der positiven Negation“ aus der Negativen Dialektik, 258 in der Adorno den Wahrheitsgehalt der positiven Nega‑ tion herausarbeitet; den Haupttext des Abschnittes, der, wie die Überschrift schon sagt, der Kritik der hegelschen Denkfigur gewidmet ist, übergeht er. Nä‑ her besehen zeigt sich in diesem Abschnitt, dass Adorno die positive Negation aus dem hegelschen Idealismus herausoperiert und sie nur noch in ihrer kriti‑ schen Funktion, als bestimmte Negation, festhält. So nimmt das Verweilen beim Negativen bei Adorno die Form der bestimmten Negation an; Adornos Negativismus setzt nicht das Positive als Existierendes oder als metaphysische Spekulation voraus, sondern setzt beim Negativen der bestehenden Welt an und zeichnet in dessen bestimmter Negation das Bild des Positiven. Was Theunissen an Kierkegaards Negativismus unterscheidet, nämlich „einen inhaltlichen, ma‑ terialen und einen methodischen, formalen Aspekt“, lässt sich also auch für Adorno geltend machen. Der inhaltliche Aspekt meint „die Ausrichtung an Phänomenen, in denen sich die ‚Negativität‘ im Sinne der Defizienz des Mensch‑ seins zeigt“, während der methodische Aspekt des Negativismus darin bestehe, „daß Kierkegaard an den ‚negativen‘ Phänomenen, an denen er sich ausrichtet, auch ansetzt, um aus ihnen gelingendes Menschsein zu erschließen“.259 Das for‑ male Gerüst dieser Unterscheidung lässt sich auf Adorno übertragen; auch Adorno geht von Phänomenen aus, in denen sich die Negativität zeigt und setzt an diesen Phänomenen an, um aus ihnen die Möglichkeit eines Positiven zu er‑ schließen. Mithin ist Adornos Negativismus ein inhaltlicher und ein methodi‑ scher zugleich: Inhaltlich ist Adornos Negativismus, weil er an der realen Er‑ fahrung von Negativität ansetzt; methodisch ist er, weil er in der Auseinander‑ setzung mit diesen Erfahrungen immer auch die Möglichkeit des Positiven entwirft, ohne jedoch die Negativität dadurch als versöhnte beiseite zu schie‑ ben. Als normativer Maßstab der Negativität wird das Positive von Adorno nicht vorausgesetzt, sondern erst in bestimmter Negation der Negativität er‑ schlossen. Damit ist die normative Frage von Adornos Negativismus zwar nicht gelöst, aber wir haben die Möglichkeit sie richtig zu stellen: als Frage nach der Möglichkeit der bestimmten Negation jenseits des hegelschen Idealismus. Die Beantwortung dieser Frage verlangt einen Rückgriff auf den hegelschen Begriff der bestimmten Negation. Denn obwohl Adorno selbst die zentrale 257 

Theunissen: „Negativität bei Adorno“, S.  51. Negative Dialektik, S.  161 ff. 259 Theunissen: Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung, S.  17. 258 Adorno:

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3. Negativität

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Stellung dieses Begriffs hervorhebt – „Der Nerv der Dialektik als Methode ist die bestimmte Negation.“260 – werden seine Ausführungen, wie Friedemann Grenz bemerkt, „der zentralen Stellung dieses Begriffs in seiner Philosophie nicht gerecht“.261 Als zentrale methodische Operation Adornos bleibt die be‑ stimmte Negation theoretisch unterbestimmt. Ihre Bedeutung ist kaum zu überschätzen: An ihr hat nichts weniger als die Möglichkeit von Metaphysik ihren Halt; aber auch andere positive Inhalte wie ästhetische Tradition oder Freiheit sind für Adorno nur in bestimmter Negation zu fassen.262 Aufgrund der extremen Belastung der bestimmten Negation fällt es schwer ins Gewicht, dass Adorno dazu keine ausgeführte Theorie besitzt, sondern die Kategorie so von Hegel übernimmt, als ob sie sich von selbst erkläre.263 Adornos spezifisches Konzept der bestimmten Negation muss deshalb über die Konfrontation mit dessen hegelschen Ursprung rekonstruiert werden. Gewiss, auch Hegel besitzt keine im herkömmlichen Sinn ausgeführte Theo‑ rie der bestimmten Negation, zumal der Begriff der bestimmten Negation selbst bei Hegel vergleichsweise selten vorkommt; 264 dennoch wird an den wenigen Ausführungen Hegels zur bestimmten Negation deren Ort im Strukturgefüge der Dialektik greifbar. Bedeutsam ist in dieser Hinsicht eine Stelle aus der Ein‑ leitung zur Wissenschaft der Logik: Das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen – und um dessen ganz einfache Einsicht sich wesentlich zu bemühen ist –, ist die Erkenntnis des logischen Sat‑ zes, daß das Negative ebensosehr positiv ist oder daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besonderen Inhalts, oder daß eine solche Negation nicht alle Negation, sondern die Negation der bestimmten Sache, die sich auflöst, somit bestimmte Negation ist; daß also im Resultate wesentlich das enthalten ist, woraus es resultiert, – was eigentlich eine Tautologie ist, denn sonst wäre es ein Unmittelbares, nicht ein Resultat. Indem das Re‑ sultierende, die Negation, bestimmte Negation ist, hat sie einen Inhalt.265

Gegenübergestellt ist die bestimmte Negation der abstrakten Negation, die, weil sie nicht auf den besonderen Inhalt dessen eingeht, was sie negiert, sondern es nur von außen negiert, als Resultat nur ein leeres Nichts produziert. Die be‑ 260 

Adorno: „Erfahrungsgehalt“, GS 5, S.  295–325, hier S.  318. Grenz, Friedemann: „Negative Dialektik mit offenen Karten: Der Zweite Teil der ‚Ne‑ gativen Dialektik‘“, in: Naeher, Jürgen (Hg.): Die Negative Dialektik Adornos. Einführung – Dialog, Opladen 1984, S.  235–272, hier S.  251 f. 262  Vgl. zur ästhetischen Tradition: Adorno: „Über Tradition“, GS 10.1, S.  310–320, hier S.  318; zur Freiheit: ders.: Negative Dialektik, S.  230. 263  Gerade weil Adorno selbst immer wieder auf die Herkunft dieser Kategorie hinweist (vgl. etwa Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S.  41; Adorno: „Erfahrungsge‑ halt“, S.  320.), scheint mir U. Müllers Versuch, die bestimmte Negation „anhand von Kants Theorie der Privation“ zu präzisieren, diesen Begriff bereits im Ansatz zu verfehlen. Vgl. Müller: Erkenntniskritik und Negative Metaphysik, S.  258. 264  Vgl. Hegel: Phänomenologie, S.  74; ders.: Logik I, S.  49; ders.: Logik II, S.  18. 265 Hegel: Logik I, S.  49. 261 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

stimmte Negation ist dagegen die Negation der bestimmten Sache. Als solche hat sie ein Resultat, oder wie Hegel sagt, einen Inhalt. In der Phänomenologie des Geistes und in der Wissenschaft der Logik dient die bestimmte Negation der begrifflichen und vernünftigen Entwicklung der Sache: in der Phänomenologie des Geistes der Gestalten des Bewusstseins, in der Wissenschaft der Logik der Gestalten des Begriffs. Die Funktionsweise der bestimmten Negation ist in bei‑ den Werken dieselbe: Indem eine Gestalt negiert wird, und zwar bestimmt ne‑ giert, ist gleichzeitig eine neue Gestalt entstanden. Dabei sind zwei Momente von Bedeutung: die Vollständigkeit der Reihe der Gestalten und die Notwendigkeit der Entwicklung. An den beiden Momenten wird der Unterschied zur abs‑ trakten Negation greifbar. Terminiert diese im leeren Nichts, so kann die Ent‑ wicklung nur durch einen von außen beigefügten neuen Inhalt stattfinden, der aber als äußerlich zugefügter Inhalt nicht mit Notwendigkeit entstanden ist. Die bestimmte Negation dagegen entwickelt den Inhalt immanent, ohne Rück‑ griff auf ein dem Prozess Äußeres. Das garantiert die Notwendigkeit und die Vollständigkeit der Entwicklung: Der Skeptizismus, der mit der Abstraktion des Nichts oder der Leerheit endigt, kann von dieser nicht weiter fortgehen, sondern muß es erwarten, ob und was ihm etwa Neu‑ es sich darbietet, um es in denselben leeren Abgrund zu werfen. Indem dagegen das Re‑ sultat, wie es in Wahrheit ist, aufgefaßt wird, als bestimmte Negation, so ist damit unmit‑ telbar eine neue Form entsprungen und in der Negation der Übergang gemacht, wo‑ durch sich der Fortgang durch die vollständige Reihe der Gestalten von selbst ergibt.266 Sie [die bestimmte Negation, d. Verf.] ist ein neuer Begriff, aber der höhere, reichere Begriff als der vorhergehende; denn sie ist um dessen Negation oder Entgegengesetztes reicher geworden, enthält ihn also, aber auch mehr als ihn, und ist die Einheit seiner und seines Entgegengesetzten. – In diesem Wege hat sich das System der Begriffe überhaupt zu bilden und in unaufhaltsamem, reinem, von außen nichts hereinnehmendem Gange sich zu vollenden. 267

Die bestimmte Negation besorgt die Selbstentwicklung des Inhalts von alleine, so dass Hegel und uns nur das berühmte „reine Zusehen“268 bleibt. Die be‑ stimmte Negation hat folglich eine systematische Funktion: Sie vollführt die Selbstorganisation des Inhalts in völliger Immanenz, das heißt: ohne von außen etwas Neues in den Gang aufzunehmen; sie erst ermöglicht den Übergang von einer Gestalt zur nächst höheren; somit ist sie die Aufhebung in ihrer dreifachen Bedeutung: als tollere, conservare und elevare. Als Aufhebung aber ist die be‑ stimmte Negation wiederum nichts anderes als die positive Negation, also die Negation der Negation, die in Position übergeht. Ein Zusatz in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften zeigt den Zusammenhang an: 266 Hegel:

Phänomenologie, S.  74. Logik I, S.  49. 268 Hegel: Phänomenologie, S.  7 7. 267 Hegel:

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3. Negativität

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Die Philosophie bleibt dann aber bei dem bloß negativen Resultat der Dialektik nicht stehen, wie dies mit dem Skeptizismus der Fall ist. Dieser verkennt sein Resultat, indem er dasselbe als bloße, d. h. als abstrakte Negation festhält. Indem die Dialektik zu ihrem Resultat das Negative hat, so ist dieses, eben als Resultat, zugleich das Positive, denn es enthält dasjenige, woraus es resultiert, als aufgehoben in sich und ist nicht ohne dasselbe. Die aber ist die Grundbestimmung der dritten Form des Logischen, nämlich des Spekulativen oder Positiv-Vernünftigen. 269

Was Adorno also bei Hegel als positive Negation kritisiert, ist bei diesem nichts anderes als die bestimmte Negation, an der Adorno festhalten will. Das zwingt Adorno dazu, in der Negation der Negation zwischen der bestimmten Nega­ tion und der positiven Negation zu unterscheiden. Adornos Konzept der be‑ stimmten Negation gewinnt sein spezifisches Gewicht durch die Trennung von der positiven Negation und von deren Voraussetzung: dem spekulativen Idea‑ lismus. Die Trennung betrifft nicht die Struktur der bestimmten Negation: Auch bei Adorno hat das Negierte einen Inhalt; er akzeptiert den Satz aus der hegelschen Logik, „daß das Negative ebensosehr positiv ist“.270 Die Trennung manifestiert sich erst an den Begriffen des Negativen und des Positiven. Hegels bestimmte Negation ist zugleich positive Negation, weil sie den Inhalt in ontologischer Positivität setzt, oder genauer: weil in der bestimmten Negation die Negativität sich selbst positiviert. Dass Adorno nicht die Kraft der positiven Negativität bemühen kann, bedeutet jedoch nicht, dass er auf die erlösende Kraft der Nega‑ tivität ganz verzichtet. Wie Angehrn hervorhebt, eignet auch bei Adorno der Negativität noch ein transzendierendes Moment: „Ohne der Negativität selbst die Zauberkraft des Umschlags ins Positive zuzusprechen, insistiert Adorno da‑ rauf, dass allein das Negative der Ort und Grund solcher Umkehrung sein kann.“271 Die Nuance, die hier die Differenz zu Hegel ausmacht, besteht einer‑ seits in der Kraft der Negativität, andererseits im ontologischen Status des Posi‑ tiven. Die Kraft der Negativität kann bei Adorno das Negative zwar nicht ins Sein umkehren, aber sie kann auf das Positive verweisen; dieses Positive ist bei Adorno nur ein normativ Positives, ontologisch dagegen ein Negatives. Es ist nur negativ, als abwesend gegeben. Nach Adorno reicht das Denken an die Far‑ 269 Hegel: Enzyklopädie I, S.  176, §  81 Z. Aufgrund ihres philologisch unsicheren Status sollte den Zusätzen nicht zu viel an Beweislast aufgebürdet werden. Bedeutsam ist diese Stelle, weil Adorno selbst sich in seiner Kritik der hegelschen Spekulation darauf bezieht. Vgl. Ador‑ no: Negative Dialektik, S.  27. Zudem findet sich dieselbe Argumentation in der Anmerkung zum folgenden Paragraphen: „Die Dialektik hat ein positives Resultat, weil sie einen bestimmten Inhalt hat oder weil ihr Resultat wahrhaft nicht das leere, abstrakte Nichts, sondern die Negation von gewissen Bestimmungen ist, welche im Resultate eben deswegen enthalten sind, weil dies nicht ein unmittelbares Nichts, sondern ein Resultat ist.“ Hegel: Enzyklopädie I, S.  176f, §  82 A. 270 Hegel: Logik I, S.  49. 271  Angehrn: „Kritik und Versöhnung“, S.  275.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

be, das Positive als Nichtseiendes, heran, aber nur „negativ“,272 und die be‑ stimmte Negation ist bei Adorno deswegen eine negative Negation. Der Begriff der „negativen Negation“ ist nicht tautologisch, wenn wir darun‑ ter eine bestimmte Negation verstehen, die ihr positives Resultat wiederum nur negativ hat, nämlich nur als das Andere des Negierten, als das Andere des Ne‑ gativen. Somit wäre es verkürzt, die Differenz zwischen hegelscher und negati‑ ver Dialektik daran festzumachen, dass die negative Dialektik die Negation der Negation nicht mitmache. Da Adorno an der bestimmten Negation festhält, kann er sich nicht gegen die Negation der Negation an sich wenden; wohl aber gegen die „Gleichsetzung der Negation der Negation mit Positivität“.273 Den‑ noch findet er in der Negation der Negation ein positives Moment: „Ihr Positi‑ ves wäre allein die bestimmte Negation, Kritik, kein umspringendes Resultat, das Affirmation glücklich in Händen hielte.“274 Implizit wird darin die be‑ stimmte Negation von der positiven Negation getrennt: Negation des Negati‑ ven ist nicht Affirmation eines Positiven, sondern Kritik des Negativen. Adorno selbst macht hier den grundlegenden Unterschied zu Hegel fest: „Das Negierte ist negativ, bis es verging. Das trennt entscheidend von Hegel.“275 Insofern die Aufhebung der Negation nicht aus der Kraft der Negativität erfolgen kann, muss das Positive bei Adorno von außen kommen; das bedeutet auch: Die Ver‑ söhnung kann nicht aus der Kraft des Begriffs allein erfolgen, sondern ist auf Praxis verwiesen. Trotz dieser entscheidenden Einschränkung ist die Kraft der Negativität, die sich in der bestimmten Negation äußert, nicht nur in kritischer Hinsicht für Adornos Philosophie von zentraler Bedeutung. Jenseits ihres kritischen Mo‑ ments ermöglicht die bestimmte Negation den Entwurf normativer Leitbilder da, wo deren positive Formulierung nicht möglich ist. Das gute Leben oder die gerechte Gesellschaft können positiv nicht ohne weiteres bestimmt werden, weil die moderne Vernunft ihr Pathos gerade daran hat, jeglichen normativen Gehalt zu hinterfragen. Spätestens seit Kant ist das Gute und Gerechte, auch das Wahre, nicht mehr das, was als solches von irgendwelchen Autoritäten de‑ kretiert wird, sondern nur noch das, was begriffen und vor der Vernunft ge‑ rechtfertigt ist. Habermas sieht darin ein gewichtiges Problem der Moderne und zugleich das Grundproblem, das den philosophischen Diskurs der Moderne seit Hegel motiviert: „die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen.“276 Adornos Negativismus ist als Antwort auf die‑ se Fragestellung und deren Verschärfung durch den geschichtlichen Prozess zu 272 Adorno:

Negative Dialektik, S.  66. Ebd., S.  161. 274  Ebd., S.  161. 275  Ebd., S.  162. 276 Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S.  16. 273 

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verstehen; nicht zuletzt dürfte es die Verkehrung der positiven Leitidee des Kommunismus in den Totalitarismus des real existierenden Sozialismus gewe‑ sen sein, die Adorno veranlasste, das Bilderverbot über die Utopie noch stren‑ ger zu verhängen als Marx. Weil sich der geschichtlichen Erfahrung zufolge kein Gutes und Gerechtes als normative Leitidee positiv formulieren lässt, das nicht Gefahr läuft, in sein Gegenteil umzuschlagen – die Tugend in den Terreur; die Welt, die der Proletarier zu gewinnen hat, in das Archipel GULAG –, be‑ dient sich Adorno eines methodischen Negativismus, um das Positive über die Negativität zu gewinnen. So schreibt er in „Individuum und Organisation“: „Wir mögen nicht wissen, was der Mensch und was die rechte Gestaltung der menschlichen Dinge sei, aber was er nicht sein soll und welche Gestaltung der menschlichen Dinge falsch ist, das wissen wir, und einzig in diesem bestimmten und konkreten Wissen ist uns das Andere, Positive, offen.“277 Die bestimmte Negation leistet zwar nicht den Übergang in die Utopie, aber sie negiert die falsche Gesellschaft und hält in dieser Negation die Möglichkeit der Utopie fest und damit auch den Weg zu ihr offen. Dieses Offenhalten des Weges ist gleich‑ sam die praktische Dimension negativer Dialektik; ihr Zentralbegriff des Nich‑ tidentischen verweist auf die Unmöglichkeit totaler Identifikation und damit auch auf die Unmöglichkeit totaler und geschlossener Negativität. Was Adorno vom metaphysischen Pessimismus und vom Nihilismus gleichermaßen trennt, ist dieses „Vertrauen auf die helfende Kraft der bestimmten Negation“.278 Das rückt zwar nahe an Hegel, trennt aber ebenso entscheidend von ihm. Adornos bündigste Formulierung des Verhältnisses von positiver und bestimm‑ ter Negation und zugleich der Ort, an dem das Vertrauen in die bestimmte Ne‑ gation am deutlichsten ausgesprochen wird, findet sich in einer Fußnote zur Kritik der positiven Negation: Wie fast eine jegliche der Hegelschen Kategorien hat auch die der negierten und dadurch positiven Negation einigen Erfahrungsgehalt. Nämlich für den subjektiven Fortgang philosophischer Erkenntnis. Weiß der Erkennende genau genug, was einer Einsicht fehlt oder worin sie falsch ist, so pflegt er kraft solcher Bestimmtheit das Vermißte bereits zu haben. Nur darf dies Moment der bestimmten Negation, als ein seinerseits Subjektives, nicht der objektiven Logik und gar der Metaphysik gutgeschrieben werden. Immerhin ist jenes Moment das Stärkste, das für die Zulänglichkeit emphatischer Erkenntnis spricht; dafür, daß sie es doch vermag, und daran hat die Möglichkeit von Metaphysik, über die Hegelsche hinaus, eine Stütze. 279

Während Hegel die bestimmte Negation als objektives Prinzip fasst, das die Selbstbewegung des Inhalts bis zum Absoluten beinhaltet, ist sie bei Adorno ein subjektives Prinzip und kann aus sich heraus nicht Objektivität setzen. Als in diesem Sinne subjektives Prinzip setzt die bestimmte Negation zwar nicht das 277 

Adorno: „Individuum und Organisation“, GS 8, S.  4 40–456, hier S.  455. Philosophie der neuen Musik, GS 12, S.  11. 279 Adorno: Negative Dialektik, S.  161. 278 Adorno:

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Positive als Seiendes, hält aber dessen unreduzierte Möglichkeit offen. Das geht so weit, dass bei Adorno an der bestimmten Negation die Möglichkeit emphati‑ scher, das heißt inhaltlicher Erkenntnis und gar die Möglichkeit der Metaphysik selbst hängt. An dieser Stelle deutet Adorno bereits an, dass er ein dezidiert hegelsches Programm – emphatische Erkenntnis und die Möglichkeit der Meta‑ physik – jenseits von Hegel, aber mit hegelschen Mitteln einzulösen gedenkt. Hegelsche Mittel jenseits von Hegel einzusetzen, heißt an dieser Stelle: die bestimmte Negation jenseits des spekulativen Idealismus zu benutzen. Das führt zu einer einschneidenden Veränderung dieser Kategorie, die deren Mög‑ lichkeit selbst in Frage stellt. Denn bei Hegel ist es gerade der spekulative Idea‑ lismus, verstanden als die spekulative Identität von Subjekt und Objekt, welcher der Negation ihre Bestimmtheit verleiht. Gunnar Hindrichs hat das zu Recht als bedeutendes Problem der adornoschen Aneignung der bestimmten Negati‑ on hervorgehoben: Allein, der Rückgriff auf Hegels bestimmte Negation wirft das Problem auf, daß diese hegelisch nur funktioniert, wenn der Begriff des absoluten Wissens hinzugezogen wird. Die negierende Kritik der Verstandesbestimmungen orientiert sich daran, dass deren eigener Anspruch auf Wahrheit zu Ende gedacht wird; Wahrheit heißt für Hegel aber absolutes Wissen, an dessen Maß die Bestimmungen sich als unzulänglich erweisen. Der Bezug auf ein solches ist also nicht abzulösen. 280

Das normative Problem von Adornos Negativismus läuft auf die Frage hinaus, wie die bestimmte Negation überhaupt möglich sein soll, wenn das absolute Wissen ihr nicht mehr als Bezugspunkt dienen kann. Hegels bestimmte Nega‑ tion wird vom obersten Begriff des absoluten Wissens, der Identität von Subjekt und Objekt, geleitet; die bestimmten und zugleich positiven Negationen treiben unweigerlich auf dieses Spekulative zu und heben sich letztlich in ihm, dem Positiv-Vernünftigen, auf und setzen dieses zugleich als Positives. Wie die be‑ stimmte Negation ohne die Voraussetzung spekulativer Identität möglich sein soll, hat Adorno in der Negativen Dialektik etwas stiefmütterlich behandelt. So kritisiert er im Abschnitt „Kritik der positiven Negation“, dass die positive Ne‑ gation nur vollziehen kann, „wer Positivität, als Allbegrifflichkeit, schon im Ausgang supponiert“.281 Dass Adornos eigener Rekurs auf die bestimmte Nega‑ tion ebenso an einer spekulativen Positivität zu hängen scheint, wird höchstens im Zugeständnis angesprochen, dass mit der Kritik der positiven Negation die hegelsche Dialektik sich einschneidend verändert: Unversöhnlich verwehrt die Idee von Versöhnung deren Affirmation im Begriff. Wird dagegen eingewandt, Kritik an der positiven Negation der Negation versehre den Le‑ bensnerv von Hegels Logik und lasse überhaupt keine dialektische Bewegung mehr zu, 280  Hindrichs, Gunnar: „Unendliche Vorgeschichte. Zur Modernitätsdiagnose der Dialek‑ tik der Aufklärung“, Zeitschrift für kritische Theorie, 4. Jg./H. 7 (1998), S.  41–61, hier S.  52. 281 Adorno: Negative Dialektik, S.  162.

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so wird diese autoritätsgläubig auf Hegels Selbstverständnis eingeengt. Während fraglos die Konstruktion seines Systems ohne jenes Prinzip zusammenstürzte, hat Dialektik ihren Erfahrungsgehalt nicht am Prinzip sondern am Widerstand des Anderen gegen die Identität; daher ihre Gewalt. 282

Vieles liegt hier auf engem Raum und kann in seinen Konsequenzen nur im Rückgriff auf Parallelstellen in Vorlesungen entfaltet werden. Adorno gesteht ein, was wir bereits aus seinem Vermittlungsbegriff abgeleitet haben: Dialekti‑ sche Bewegung im hegelschen Sinne gibt es in einer negativen Dialektik nicht mehr. Hegels System stürzt mit dem Prinzip der positiven Negation; Dialektik aber ist nicht gleichzusetzen mit diesem Prinzip. Das bedeutet auch: Dialektik ist nicht abhängig von der Voraussetzung spekulativer Identität; vielmehr kon‑ stituiert sie sich negativ, durch den Widerspruch zwischen Identität und ihrem Anderen. Eine Stelle aus der Vorlesung über Negative Dialektik mag das expli‑ zieren. Anders als in der Negativen Dialektik stellt Adorno hier explizit die Frage nach der Möglichkeit von Dialektik jenseits der Voraussetzung spekulati‑ ver Identität und er stellt sie als Frage nach der Bestimmtheit der bestimmten Negation: Die eine [Frage, d. Verf.] ist die, ob negative Dialektik überhaupt möglich sei, das heißt: ob man eigentlich von einem dialektischen Prozeß reden kann, wenn die Bewegung nicht selber dadurch ins Spiel gebracht wird, daß im Grunde immer schon das Objekt, das da in seiner Differenz vom Geist begriffen werden soll, seinerseits selbst Geist ist. Woher also soll die Bestimmtheit der Negation stammen, ohne daß die positive Setzung, nämlich die des Geistes, in dem alles aufgehe, von vornherein sie geleitet? 283

Die Möglichkeit negativer Dialektik, die Dialektik jenseits des spekulativen Idealismus sein soll, hängt an der Möglichkeit der bestimmten Negation, mithin an der Möglichkeit, das Negative als solches zu bestimmen, ohne es an einem vorgegebenen, spekulativen Maßstab zu messen und die dialektische Bewegung daran auszurichten. Insofern langt es nicht zu, zur Lösung des Problems der bestimmten Negation auf den letzten Aphorismus der Minima Moralia („Zum Ende“) zu rekurrieren, in dem Adorno fordert, „alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten“284, und daraus zu schließen, Adorno müsse sich auf Messianismus und Metaphysik zurückziehen, um seinen Negativismus noch ausweisen zu können. Diese verbreitete, im Fol‑ genden näher zu betrachtende, erlösungsphilosophische Interpretation greift zu kurz, weil sie bloß die hegelsche spekulative Identität durch Erlösung ersetzt; damit würde Dialektik wiederum von vornherein durch eine positive Setzung, diesmal die der Erlösung, geleitet werden. In der Metaphysikvorlesung erklärt Adorno, dass gerade die Voraussetzung einer normativen Leitidee an sich, also 282 

Ebd., S.  163. Vorlesung über Negative Dialektik, S.  48. 284 Adorno: Minima Moralia, S.  53. 283 Adorno:

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eines Positiven, dass die Negation leitet und ihr Bestimmtheit und Sicherheit gibt, falsch ist, weil man damit „in jener Sphäre der falschen, der trügerischen, [. . .] der mythischen Sicherheit“ wäre, weil man durch positive spekulative Vor‑ aussetzung das Absolute oder die Erlösung bereits hat und man von dieser War‑ te aus die Negativität als solche bestimmen kann.285 Dagegen soll die negative Dialektik gerade nicht ein bereits definiertes Positives einlösen, sondern aus der Negation des Falschen ein Positives gewinnen, das bloß möglich, aber (noch) nicht wirklich ist. Da das Positive nur in der Negation gewonnen wird und gleichsam erst aus der Negation entsteht, ist Spekulation bei Adorno nicht die Voraussetzung der bestimmten Negation und der Negativität, sondern deren Konsequenz. Fragen wir also nach dem normativen Ausweis von Adornos Ne‑ gativismus, so kann dieser nicht in der Spekulation gesucht werden, da erst der Negativismus die Spekulation zeitigt. Adorno stellt das Fundierungsverhältnis von Negativität und Spekulation auf den Kopf; das setzt aber voraus, dass die Negativität sich auf einem anderen Weg als solche ausweisen lässt und die be‑ stimmte Negation ihre Bestimmtheit von anderer Warte empfängt. Sonst wäre, wie Adorno in der Vorlesung über Negative Dialektik sagt, negative Dialektik überhaupt nicht möglich. Die Lösung, die er an dieser Stelle bloß anspricht, lautet: die Negativität bestimmt sich selbst als solche, weil „das Falsche, das was nicht sein soll, tatsächlich der Index seiner selbst ist“.286

III.  Negativismus II: das Falsche als Index seiner selbst Mit dieser These sind wir ins Zentrum des adornoschen Negativismus gelangt; jetzt kann nicht mehr davon die Rede sein, dass Adornos Denken hinter der Idee des Negativismus zurückbleibe, weil es von der Metaphysik abhängig sei und auf pränegativistische Argumentationsformen zurückgreifen müsse. Lässt sich die These halten, dass das Negative tatsächlich Index seiner selbst ist, so wäre Adornos Philosophie ein radikaler Negativismus, insofern dieser nicht vom Positiven abhängig ist, um sich als Negativismus zu legitimieren, sondern erst aus dem Negativen heraus überhaupt den Begriff eines Positiven gewinnt. Radikal wäre er auch insofern, als dieses Positive nicht Moment des Negativen wäre, sondern sein Anderes und sein äußerster Gegensatz. Da weder das Positi‑ ve im Negativen noch das Negative im Positiven enthalten ist, sondern die bei‑ den sich gleichsam als Totalitäten in schärfstem Widerspruch gegenüber stehen, ist Adornos Negativismus als dialektischer Negativismus zu qualifizieren. Die These, das Falsche sei Index seiner selbst und des Wahren, wird von Adorno an verschiedenen Stellen seines Werks artikuliert.287 Obwohl der kon‑ 285 Adorno:

Metaphysik, S.  225. Vorlesung über Negative Dialektik, S.  49. 287  Vgl. Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S.  57; Adorno: „Skoteinos oder Wie zu lesen sei“, S.  339; ders.: Negative Dialektik, S.  16 f., S.  198, S.  311; ders.: „Zur Logik der 286 Adorno:

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krete Kontext jeweils ein anderer ist, ist all diesen Stellen die Denkfigur gemein‑ sam: Das Falsche als Nichtseinsollendes ist Evidenz seiner selbst und des Wah‑ ren als des Seinsollenden. Die Formulierung, auf die Adorno an diesen Stellen anspielt, findet sich in einem Brief Spinozas an Albert Burgh: „Est enim verum index sui, & falsi.“288 Ihren systematischen Ort findet diese These, in anderen Worten – ohne das von Adorno stets benutzte index –, in Spinozas Ethik: „Dein‑ de quid idea vera clarius et certius dari potest, quod norma sit veritatis? Sane sicut lux seipsam et tenebras manifestat, sic veritas norma sui et falsi est.“289 In ihrer Umkehrung ist Adornos Formel mit derjenigen Spinozas strukturell iden‑ tisch: ein Moment soll aus seinem Gegenteil abgeleitet werden. Um nicht in ei‑ nen Zirkel der Verweisung zu geraten, muss das eine aus sich selbst ablesbar sein, oder in der Formulierung Spinozas: Eines muss die Norm seiner selbst sein. Die gesamte normative Problematik negativer Dialektik, die sich aus dem Komplex von Totalität und Negativität ergibt, findet in dieser These ihre Antwort. Eindeutig ist die Antwort keineswegs. Ansetzen lässt sich am ehesten bei der dialektischen Verweisungsstruktur zwischen Falschem und Wahrem. In der Vorlesung über Negative Dialektik spricht Adorno nicht nur davon, dass das Falsche Index seiner selbst ist, sondern auch dass es sich „in einer gewissen Un‑ mittelbarkeit“ kundgibt.290 Die Unmittelbarkeit der Entbergung des Falschen ist jedoch insofern ein Trug, als der Begriff des Falschen als isolierter gar nicht verwendet werden kann, sondern nur in Relation zum Begriff des Wahren. Eine Stelle aus der Einführung in die Dialektik zeigt dagegen, dass diese gewisse Un‑ mittelbarkeit, in der sich das Falsche zeigt, nicht dieses selbst betrifft, sondern bloß den Modus seiner Erscheinung. Adorno meint da, „daß die Wahrheit ge‑ sucht wird in dem Leben der Phänomene selber, daß also das einzelne Phäno‑ men auf sich selbst, auf seine eigene Stimmigkeit hin befragt und eben dadurch seiner Unwahrheit überführt wird“.291 Unmittelbar zeigt sich das Falsche inso‑ Sozialwissenschaften“, S.  565; ders.: „Aufzeichnungen zu Kafka“, GS 10.1, S.  254–287, hier S.  256; ders.: „Kritik“, GS 10.2, S.  785–793, hier S.  793; ders.: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, GS 14, S.  169–433, hier S.  347 (= Einleitung in die Musiksozio‑ logie); ders.: Einführung in die Dialektik, S.  269; ders.: Ästhetik (1958/1959), hg. von Eberhard Ortland, NaS IV 3, Frankfurt a. M. 2009, S.  127; ders.: Probleme der Moralphilosophie, S.  261; ders.: Vorlesung über Negative Dialektik, S.  49; auch im Gespräch mit Bloch: Adorno, Theo‑ dor W. und Bloch, Ernst: „Etwas fehlt . . . Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno“, in: Bloch, Ernst: Gespräche mit Ernst Bloch, hg. von Rainer Traub und Harald Wieser, Frankfurt a. M. 1975, S.  58–77, hier S.  70 (= Etwas fehlt . . .). 288  Spinoza, Baruch de: Epistolae, hg. von Carl Gebhardt, Nachdruck der Ausgabe von 1925, Heidelberg 1972, S.  320. 289  „Ferner, was kann es geben, das klarer und gewisser wäre, um als Norm der Wahrheit zu dienen, als eine wahre Idee? Wahrlich, wie das Licht sich selbst und die Finsternis deutlich macht, so ist die Wahrheit die Norm ihrer selbst und des Falschen.“ Spinoza, Baruch de: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, hg. und übers. von Wolfgang Bartuschat, Hamburg 2 2007, S.  186 f. 290 Adorno: Vorlesung über Negative Dialektik, S.  49. 291 Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  268.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

fern, als es sich als Widersprüchliches zeigt und zwar nach seinem eigenen Maß; Wahrheit wird dem Falschen nicht von außen gegenüber gestellt, sondern das Phänomen gibt sich selbst ein Maß vor, nämlich im Postulat seiner Stimmigkeit und zeigt sich, sofern es sich selbst widerspricht, unmittelbar als Falsches. Mit‑ hin gibt sich das Falsche als Widerspruch kund. Adorno greift diesen Gedanken in der Einleitung zur Negativen Dialektik auf: „Der Widerspruch ist nicht, wozu Hegels absoluter Idealismus unvermeid‑ lich ihn verklären mußte: kein herakliteisch Wesenhaftes. Er ist Index der Un‑ wahrheit von Identität, des Aufgehens des Begriffenen im Begriff.“292 Die Kri‑ tik an Hegels angeblicher Schematisierung des Widerspruchs darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Adornos Begriff des Widerspruchs und damit auch im‑ plizit derjenige der Identität noch dem hegelschen Vorgehen verpflichtet sind. Denn auch für Hegel ist der Widerspruch Index der Unwahrheit von Identität, verstanden als Aufgehen des Begriffenen im Begriff und ebenso ist auch bei He‑ gel der Widerspruch als Nachweis der Unwahrheit zugleich das Vehikel der Wahrheit, wie Pirmin Stekeler-Weithofer betont: „Widersprüche bilden dabei die einzig wirklich verfügbare Richtschnur für den Begriff der Wahrheit, näm‑ lich als negative Ausgrenzung: Sie zeigen, daß irgend etwas nicht stimmt.“293 Der Widerspruch ist insofern die unmittelbare Erscheinung des Falschen, als der Widerspruch zeigt, dass irgend etwas nicht stimmt. Was genau nicht stimmt, wird aus Adornos Aussage zunächst nicht klar. Einerseits könnte die Identität als Norm an sich das Falsche sein; andererseits aber auch das Einzelne, das sich als Identisches qua Stimmiges gibt, sich im Fortgang des Denkens aber als Wi‑ dersprüchliches zeigt. Eine spätere Stelle der Negativen Dialektik zeigt, dass in gewissem Sinne nur das Erste gilt: Durch ihre Kritik verschwindet Identität nicht; sie verändert sich qualitativ. Elemente der Affinität des Gegenstandes zu seinem Gedanken leben in ihr. Hybris ist, daß Identi‑ tät sei, daß die Sache an sich ihrem Begriff entspreche. Aber ihr Ideal wäre nicht einfach wegzuwerfen: im Vorwurf, die Sache sei dem Begriff nicht identisch, lebt auch dessen Sehnsucht, er möge es werden. Dergestalt enthält das Bewußtsein der Nichtidentität Identität. 294

Zunächst scheint Adorno hier selbst einer Art Identitätsphilosophie nachzu‑ hängen, insofern er am Ideal der Identität festhalten will. Die Differenz zu He‑ gel ist hier nur an Nuancen greifbar: Einerseits ist Hegels Vorgehen für Adorno darin verbindlich, dass Hegel dem dualistischen Denken konsequent Wider‑ sprüche und damit Nichtidentität nachweist; andererseits ist die hegelsche Phi‑ losophie für Adorno gerade dadurch eine Identitätsphilosophie, dass sie in die‑ 292 Adorno:

Negative Dialektik, S.  17. Pirmin: Philosophie des Selbstbewußtseins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie, Frankfurt a. M. 2005, S.  178 (= Philosophie des Selbst‑ bewußtseins). 294 Adorno: Negative Dialektik, S.  152. 293  Stekeler-Weithofer,

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sem Nachweis immer noch am Ideal der spekulativen Identität orientiert ist und damit das Nichtidentische abermals der Identität unterordnet. Gerade darin besteht für Adorno der Grundwiderspruch der hegelschen Philosophie: der zwischen Dialektik (Nichtidentität) und Idealismus (Identität). Wenn Adorno jetzt scheinbar wie Hegel am Ideal der Identität festhalten will, so verwickelt er sich nicht selbst in diesen Widerspruch, weil Adornos Ideal der Identität in einer qualitativ veränderten Identität besteht. Später präzisiert Adorno, was er unter dem Ideal der Identität versteht: nicht formale Identität selbst, sondern nur noch „die Anweisung, daß kein Widerspruch, kein Antagonismus sein solle“.295 Das ist im formalen Bereich das utopische Moment negativer Dialektik; wie Adorno ausführt, ist diese Utopie ein Drittes neben Identität und Widerspruch: „Utopie wäre über der Identität und über dem Widerspruch, ein Miteinander des Ver‑ schiedenen.“296 Mithin ist das Falsche, das sich im Widerspruch zeigt, die Iden‑ tität, verstanden als Aufgehen des Begriffenen im Begriff. Der Widerspruch ist zunächst Kritik des identifizierenden Denkens, er ist, wie Adorno in Fragen der Dialektik ausführt, zu verstehen als „die destructio destructionis, gleichsam als das Präsentieren der Rechnung, das dem identifizierenden Denken vorgehalten wird.“297 Da Hegel die Widersprüchlichkeit dieser Identitätsform ebenso kon‑ sequent verfolgt, ist die Differenz zu ihm, wie beim Identitätsbegriff deutlich werden wird, nicht so sehr im Konzept des identifizierenden Denken zu suchen, sondern in der Absage an die spekulative Identität. Auch diese Absage erfolgt nicht bloß abstrakt, sondern insofern immanent, als auch die Kritik an der spekulativen Identität von der These ausgeht, dass sich diese in einer gewissen Unmittelbarkeit als falsch zeigt. Prominent kommt die Falschheit der spekulativen Identität im Phänomen des somatischen Leidens zu‑ tage, im unerträglichen Schmerz, der nach seiner eigenen Auflösung verlangt, der von sich aus sagt: Ich soll nicht sein. An dieser Stelle kommt die in diesem Kapitel favorisierte Darstellung, insofern sie von der Trennung von Form und Inhalt ausgeht und hier nur die formale Ebene negativer Dialektik berücksich‑ tigt, an ihre Grenze: Die Tragweite des somatischen Leidens für Adornos He‑ gelkritik kann erst im zweiten Kapitel entfaltet werden und hier lässt sich nicht mehr als anzeigen, in welcher Form die Erfahrung von Leid in die formale Ebe‑ ne hineinreicht. Die Erfahrung von Leid erweist die Unwahrheit der These von der Identität, weil diese Identität impliziert, dass das Leiden sinnvoll ist. Das somatische Leiden ist der nachdrücklichste Einspruch gegen die Identitätsthese und hier zeigt sich der normative Ausweis von Adornos Negativitätsbegriff in seiner deutlichsten Form.

295 

Ebd., S.  153.

296 Ebd.

297 Adorno:

Fragen der Dialektik, Vo 9059.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Dennoch lässt sich auch auf der formalen Ebene eine Instanz angeben, in der sich das Falsche unmittelbar als solches zeigt, denn die spekulative Identitäts‑ these hat auch formale Implikationen. Adorno führt das in der Kantvorlesung am Postulat der Widerspruchslosigkeit aus, das nach ihm eine „philosophische Vorentscheidung von unendlicher Tragweite“ beinhalte, nämlich dass Subjekt und Objekt identisch seien: Denn nur wenn das zu Erkennende und das Erkennende miteinander eins sind, dann können wir uns vorstellen, daß die Erkenntnis widerspruchslos gerät; daß alle Wider‑ sprüche in der Einheit unserer Vernunft deshalb sich schlichten, in der Einheit des logi‑ schen Gedankens deshalb versöhnt werden, weil das, was wir erkennen, vorweg selber dieser Einheit unseres eigenen Denkens gehorcht. 298

Setzt Widerspruchslosigkeit die Identitätsthese voraus, so impliziert die Identi‑ tätsthese ihrerseits, dass sich Denken und Erkenntnis ohne Widersprüche voll‑ ziehen lässt. Wer die Identität von Denken und Sein behauptet, wer behauptet, dass die Welt der Logik entspricht, behauptet damit auch die prinzipielle Mög‑ lichkeit von Widerspruchslosigkeit. Ein Widerspruch, der nicht einfach schlam‑ pigem Denken anzulasten ist, ein notwendiger Widerspruch, ist unter dieser Voraussetzung ein Index der Falschheit dieser These, auch wenn, wie bei He‑ gel, erst auf der höchsten Stufe die Widerspruchslosigkeit erreicht wird; denn dass sie schließlich erreicht wird, impliziert auch, dass ihre Möglichkeit von Anfang an vorausgesetzt wird. Im Widerspruch, der sich begrifflicher Aufhe‑ bung entzieht, zeigt sich unmittelbar das Falsche auch der spekulativen Identi‑ tätsthese. Gerade weil Denken unabdingbar Identität setzt, kann nur Identität selbst das Maß ihrer eigenen Unwahrheit werden; Identität wird nicht durch gegenteilige Versicherung widerlegt, sondern im Nachweis der Unstimmigkei‑ ten, auf die sie führt.299 Jenseits der spekulativen Identitätsthese verändert sich auch der von Hegel übernommene Widerspruchsbegriff: „Er wiegt schwerer als für Hegel, der erst‑ mals ihn visierte. Einst Vehikel totaler Identifikation, wird er zum Organon ihrer Unmöglichkeit.“300 Zwar diente auch bei Hegel der Widerspruch dazu, die Unwahrheit des einfachen Urteils für bestimmte Inhalte nachzuweisen, aber in letzter Instanz stellt sich doch wieder Identität her. Adornos Widerspruchsbe‑ griff wiegt schwerer, weil er in dieser Form der Identität nicht wieder auflösbar ist. Schwerer wiegt er auch, weil an ihm zugleich das Positive haftet; er soll ja nicht nur index falsi, sondern zugleich auch der Index der Wahrheit sein. Nach Hindrichs stellt der Widerspruch bei Adorno „ein Zeichen des Tatbestandes dar, daß das, was das Denken zu bestimmen sucht, vom Denken verschieden 298 Adorno:

Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  128 f. und Widerspruch sind dabei nur die prominentesten dieser Unstimmigkeiten. Eine weitere besteht für Adorno im Problem der Kontingenz. Vgl. Adorno: Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  9 0. 300 Adorno: Negative Dialektik, S.  156. 299 Leid

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bleibt.“301 Das ist im Begriff des Nicht-Identischen ausgedrückt, der zunächst nicht mehr als eine Negation des Begriffs der Identität oder des Identischen darstellt. Ist aber die Identität das Falsche, dann ist in der bestimmten Negation die Nichtidentität das Wahre, allerdings in verkehrter Gestalt, weil es immer noch durch die Identität vermittelt ist: „Die Kategorie Nichtidentität gehorcht noch dem Maß von Identität.“ 302 Ist Identität das Negative, so ist Nichtidentität das Positive, aber in negativer Gestalt, das negativ Positive, das heißt: das bloß in Relation auf sein Anderes gedachte Positive, nicht das gesetzte, autonom exis‑ tierende Positive. So ist das Nichtidentische keineswegs als positives Maß jen‑ seits aller Identifikationen behauptet; das Positive zeigt sich vielmehr imma‑ nent, aber da es unter der Norm der Identität erscheint, nur als Widerspruch gegen diese: Dem Bewußtsein der Scheinhaftigkeit der begrifflichen Totalität ist nichts offen, als den Schein totaler Identität immanent zu durchbrechen: nach ihrem eigenen Maß. Da aber jene Totalität sich gemäß der Logik aufbaut, deren Kern der Satz vom ausgeschlossenen Dritten bildet, so nimmt alles, was ihm nicht sich einfügt, alles qualitativ Verschiedene, die Signatur des Widerspruchs an. Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identität; der Primat des Widerspruchsprinzips in der Dialektik mißt das Heterogene am Einheitsdenken. Indem es auf seine Grenze aufprallt, übersteigt es sich.303

Die Bewegung des Übersteigens ist die der bestimmten Negation, die als Nega‑ tion eines bestimmten Falschen auf das diesem Falschen korrespondierende Wahre verweist; mithin ist die bestimmte Negation das spekulative Moment negativer Dialektik. Abgetrennt vom Begriff des absoluten Wissens verändert die bestimmte Negation ihre Funktion einschneidend: Bestimmt ist sie nicht mehr durch eine positive Leitidee, sondern weil sich das Negative als solches bestimmt und in der Negation dessen, was nicht sein soll, verweist die bestimm‑ te Negation auf das, was anders als das Negative wäre, ohne dass dieses Andere vorher bereits bestimmt oder gesetzt wäre. Das ist die Differenz zur positiven Negation, die als positive nicht nur von der Spekulation als Positiv-Vernünfti‑ gem abhängt, sondern auch die Bewegung der Aufhebung der Dialektik in Spe‑ kulation besorgt. Deshalb ist die Differenz zwischen bestimmter und positiver Negation für Adorno überhaupt die entscheidende Differenz zu Hegel.304 Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch bei Adorno die Negation der Negation oder des Negativen das eigentlich spekulative Moment der Dialek‑ tik und die negative Dialektik insofern auch eine spekulative Dialektik ist. Frei‑ 301  Hindrichs, Gunnar: Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, Frankfurt a. M. 22011, S.  307 (= Das Absolute und das Subjekt). 302 Adorno: Negative Dialektik, S.  193. 303  Ebd., S.  17. 304 Adorno: Metaphysik, S.  2 24.

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lich mit einem gewichtigen Unterschied: Das Spekulative als Versöhnung, Ab‑ solutes, Utopie wird von der bestimmten Negation nicht vorausgesetzt, sondern konstituiert sich erst in ihr; sie ist gleichsam negative Spekulation, deren Inhalt und Ausgang offen ist. Die Differenz zwischen bestimmter und positiver Nega‑ tion artikuliert sich so als Umkehrung des Fundierungsverhältnisses zwischen Negativität und Spekulation; Adorno macht seine Kritik der positiven Negati‑ on gerade daran fest, dass diese nicht über das Bestehende hinausweist, sondern in der von Anfang an gesetzten Geschlossenheit verharrt, die ihr Sicherheit gibt; demgegenüber zielt die bestimmte Negation als spekulative Bewegung auf das Offene, das sie jedoch nur in der Negation des Negativen bestimmen kann. Zweiter Einschub: negative Dialektik vs. spekulative Dialektik Prima facie mag es verlockend erscheinen, gerade im Begriff der Spekulation die zentrale Differenz zwischen hegelscher und negativer Dialektik zu suchen. Schließlich ist die Spekulation bei Hegel das Positiv-Vernünftige, der Endpunkt der dialektischen Bewegung, die sich im Übergang zur Spekulation selbst auf‑ hebt. Angesichts Adornos Aversion gegen das Positive scheint es nur konse‑ quent, dass er die negative Dialektik gegen dieses Positiv-Vernünftige abgrenzt. Tatsächlich ist die Absage an die spekulative Identität von Subjekt und Objekt die auffälligste und in mancher Hinsicht auch gewichtigste Differenz, die Ador‑ no gegen Hegel geltend macht. Dennoch wäre es verkürzt, vom Verzicht auf spekulative Identität auf einen Verzicht auf Spekulation zu schließen, so als ob Spekulation und spekulative Identität dasselbe wären. Die Probleme einer sol‑ chen Verkürzung lassen sich paradigmatisch ablesen am Vorwurf von Gillian Rose, Adorno würde spekulatives Denken auf dialektisches Denken reduzie‑ ren.305 Einleitend zitiert sie aus einem Privatgutachten über den Philosophieun‑ terricht an Gymnasien, das Hegel für Immanuel Niethammer verfasst hat; die von Hegel in diesem Gutachten unter propädeutischen Gesichtspunkten darge‑ stellte Aufteilung des Denkens in die abstrakte, die dialektische und die speku‑ lative Stufe306 überträgt Rose in ihrer Abstraktheit unmittelbar auf Adorno: „Adorno, true to Hegel’s distinction, confines himself to ‚dialectic‘, which is the second, negative stage of reason.“307 Simon Jarvis und Josh Robinson haben bei‑ de mit Verweis auf die in der Wissenschaft der Logik vorgenommene Bestim‑ mung der Spekulation als „Seite“ des Logischen308 die Problematik dieser Tren‑ 305  Rose, Gillian: „From Speculative to Dialectical Thinking – Hegel and Adorno“, in: dies.: Judaism and Modernity. Philosophical Essays, Oxford/Cambridge, Massachusetts 1993, S.  53–63, hier S.  54. 306  Vgl. Hegel: „Über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien. Privatgutachten für den Königlich Bayrischen Oberschulrat Immanuel Niethammer“, TWA 4, S.  403–416, hier S.  412. 307  Rose: „From Speculative to Dialectical Thinking – Hegel and Adorno“, S.  61. 308 Hegel: Logik I, S.  52.

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nung hervorgehoben.309 Seltsam an Roses Vorgehen ist: Erstens weist sie selbst darauf hin, dass in Hegels Gutachten die drei Stufen bloß äußerlich unterschie‑ den werden,310 und zweitens macht sie Adorno den Vorwurf, er würde die Dia‑ lektik bloß abstrakt und äußerlich betrachten.311 Obwohl Rose auf den Unter‑ schied einer bloß abstrakten Betrachtung und einer wahren, spekulativen Be‑ trachtung der drei Stufen hinweist und selbst glaubt, gegen Adorno die letztere zu vertreten, kommt sie selbst nie über die abstrakte Betrachtung hinaus. Das ist bereits am Titel ihres Beitrags – „From Speculative to Dialectical Thinking – Hegel and Adorno“ – zu erkennen; die Verkürzung ist denn auch in der These eingebaut, Adorno reduziere spekulatives Denken auf dialektisches: „This ar‑ gument turns on the distinction between ‚speculative‘ and ‚dialectical thinking‘, which will itself be developed in the course of this paper abstractly, dialectically and speculatively.“312 Es ist offensichtlich, dass Rose die angepriesene Entwick‑ lung nicht leisten kann, weil die Unterscheidung eines dialektischen Denkens von einem spekulativen Denken immer abstrakt ist. In anderen Worten: Es gibt keine Unterscheidung zwischen einem dialektischen und einem spekulativen Denken, sondern nur zwischen einem dialektischen und einem spekulativen Moment des Denkens. Insofern verfehlt sie nicht nur Adorno, sondern auch Hegel, der denn auch selbst auf die Verfehlung hinweist, derer sie sich schuldig macht. In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften unterscheidet Hegel zwar auch drei Seiten des Logischen: „α) die abstrakte oder verständige, β) die dialektische oder negativ-vernünftige, γ) die spekulative oder positiv-vernünftige“,313 warnt jedoch in der Anmerkung davor, diese drei Momente äußer‑ lich, das heißt nach dem abstrakten Moment zu betrachten: „Diese drei Seiten [. . .] können sämtlich unter das erste Moment, das Verständige, gesetzt und da‑ durch abgesondert auseinandergehalten werden, aber so werden sie nicht in ih‑ rer Wahrheit betrachtet.“314 Rose begeht diesen Fehler: Indem sie ein dialekti‑ sches Denken von einem spekulativen unterscheidet, trennt sie die drei Momen‑ te, so als ob es ein dialektisches Denken ohne Spekulation geben könnte. Verschliffen wird dabei die Doppeldeutigkeit, die der Begriff der Dialektik bei Hegel annimmt: Im engeren Sinn bezeichnet Dialektik nur das zweite Moment 309  Vgl. Jarvis, Simon: „What Is Speculative Thinking?“, Revue Internationale de Philosophie, Nr.  227/H. 1 (2004), S.  69–83, hier S.  70 f.; Robinson, Josh: „Dialektik und Spekulation. Über die Grenzen der spekulativen Vernunft“, in: Müller, Stefan (Hg.): Probleme der Dialektik heute, Wiesbaden 2009, S.  229–246, hier S.  229 f. 310  „[A] letter in which the three stages of thinking are themselves stated abstractly and somewhat dialectically but not speculatively.“ Rose: „From Speculative to Dialectical Thin‑ king – Hegel and Adorno“, S.  61. 311  „It sounds as if Adorno has taken his lesson from the form not the content of Hegel’s letter to Niethammer.“ Ebd. 312  Ebd., S.  5 4. 313 Hegel: Enzyklopädie I, S.  168, §  79. 314  Ebd., S.  168, §  79 A.

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des Denkens, im weiteren und, man könnte sagen: herkömmlichen Sinn be‑ zeichnet Dialektik aber die gesamte Bewegung des Denkens durch die drei Mo‑ mente hindurch. Theunissen hat dazu treffend bemerkt, dass die Dialektik von der Mitte, das heißt vom zweiten Moment, in das Ganze ausstrahlt.315 Ebenso, möchte man ergänzen, strahlt das spekulative Moment in das Ganze zurück; es bezeichnet zwar den Ort, an dem die Selbstaufhebung der Dialektik stattfindet und Dialektik sich in Spekulation aufhebt; dennoch wirkt das spekulative Mo‑ ment auf jeder Stufe in die Dialektik zurück und ist damit ein unabdingbares Moment der Dialektik selbst, wie Angehrn betont: Nicht bezeichnet spekulative Logik die Art, wie erst am Schluß der Logik vorgegangen würde, sondern sie ist in jeder Bestimmung der ganzen Logik, sofern diese in ihrer Wahrheit – d. h. als Einheit ihrer Bestimmung mit ihrem Gewordensein, somit unter dem Aspekt der absoluten Methode – gefasst wird, als fundamentales Moment vorhan‑ den. Wenn das Spekulative nur über das Dialektische wirklich sein kann, so ist es ande‑ rerseits – vielleicht in einem noch eminenteren Sinn – für das Dialektische selber grün‑ dend.316

Ist Spekulation aber in jeder Bestimmung als Moment vorhanden, so ist auch eine negative Dialektik, die den Widerspruch nicht auflöst, die Vermittlung nicht hypostasiert, die Negativität nicht positiviert, nicht ohne das spekulative Moment. Adorno selbst hat angemerkt, dass ohne die Präsenz des spekulativen Moments in jedem Schritt gar keine Bewegung, keine Dialektik stattfände.317 So macht es keinen Sinn, ein bloß dialektisches Denken von einem spekulativen Denken abzugrenzen oder das dialektische Moment, weil es das Negativ-Ver‑ nünftige ist, mit negativer Dialektik gleichzusetzen. Adorno kritisiert an Hegel nicht das spekulative Denken, oder die spekulative Seite der Dialektik an sich, sondern kritisiert diese als „allzu positiv“.318 Das heißt: er kritisiert die aus der Negation der Negation entstehende Positivität, die Umkehrung des Negativen ins Sein. Die Differenz ist von Bedeutung nicht nur für das Verständnis von Adornos Verhältnis zu Hegel, sondern für das Konzept einer negativen Dialek‑ tik überhaupt. Die Residualtheorie negativer Dialektik, die in dieser bloß eine defizitäre Form hegelscher Dialektik sieht, verschleift die Nuance im Verhältnis zur hegelschen Spekulation: dass die Absage an die spekulative Identität von Subjekt und Objekt nicht eine Kritik der Spekulation an sich ist, sondern an dieser festhält. Indem sie diese Nuance übergeht, manövriert sich die Residual‑ theorie in exegetische Sackgassen, die sie notgedrungen Adorno selbst zuschrei‑ ben muss.319

315 

Vgl. Theunissen: „Dialektik der Endlichkeit“, S.  49. Freiheit und System bei Hegel, S.  125. 317  Vgl. Adorno: „Aspekte“, S.  259. 318 Adorno: Negative Dialektik, S.  27. 319  Vgl. etwa: O’Connor: „Adorno’s Reconception of the Dialectic“, S.  553. 316 Angehrn:

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Freilich wird durch die Absage an die spekulative Identität das Konzept der Spekulation, das auch in negativer Dialektik noch präsent ist, einschneidend verändert. Was Angehrn in diesem Zusammenhang über die Dialektik bei Marx sagt, ist auch für die negative Dialektik verbindlich: Es leuchtet ein, daß, wo keine abschließende für-sich-seiende Einheit vorhanden ist, auch nicht von Spekulation, weder im Sinne einer Erkenntnis dieser Einheit noch im Sinne einer Versöhnung mit dem Wirklichen die Rede sein kann. Der interessante Punkt aber sind die der Einheit vorgelagerten Kategorien. In der Hegelschen Logik ist ihre Dialektik selber nur als spekulative verstehbar, insofern – diese Einsicht wird allerdings erst durch den Abschluß der Logik möglich – das Ganze, das sich in ihnen konstituiert, auch der letztliche Grund für ihre Selbstdefizienz und Weiterentwicklung ist.320

In der Tat ist das Spekulative bei Adorno nicht als abschließende Einheit ge‑ dacht und demnach nicht einmal formal bestimmt, wie bei Hegel durch die For‑ mel von der „Identität der Identität und Nichtidentität“; 321 in diesem Sinne ist das Spekulative bei Adorno ein Offenes, Unbestimmtes, eine Leerstelle. Die eigentlich spekulative Bewegung ist in den, wie Angehrn sagt, der Einheit vorgelagerten Kategorien zu suchen. Adorno deutet das in der Einleitung zur Philosophie der neuen Musik an, wenn er sagt, dass nach der Absage an die speku‑ lative Identität von Subjekt und Objekt „die Erkenntnis an den bestimmten Widerspruch gefesselt“ bleibe.322 Erkenntnis vollzieht sich nicht mehr in der Bewegung zur spekulativen Identität hin, sondern als Abstoßen vom bestimm‑ ten Widerspruch. Deshalb assoziiert Adorno in der Einleitung zur Negativen Dialektik das spekulative Moment mit dem Widerstand: Die Macht des Bestehenden errichtet die Fassaden, auf welche das Bewußtsein aufprallt. Sie muß es zu durchschlagen trachten. Das allein entrisse das Postulat von Tiefe der Ideologie. In solchem Widerstand überlebt das spekulative Moment: was sich sein Ge‑ setz nicht vorschreiben läßt von den gegebenen Tatsachen, transzendiert sie noch in der engsten Fühlung mit den Gegenständen und in der Absage an sakrosankte Transzen‑ denz.323

Adorno formuliert damit nicht nur sein Verhältnis zur Spekulation, sondern, gleichsam in einer Nussschale, auch das Programm einer negativen Dialektik: Transzendieren in engster Fühlung mit den Gegenständen und in der Absage an sakrosankte Transzendenz. Die Absage an Transzendenz in ihrer sakrosankten Gestalt ist die Absage an eine festgelegte, eine inhaltlich bestimmte Transzen‑ denz. Gerade diese Absage verbietet es, wie wir noch sehen werden, Adornos Philosophie erlösungsphilosophisch zu verstehen. Wolfram Ettes Formulie‑ 320 Angehrn:

Freiheit und System bei Hegel, S.  128. Logik I, S.  74. 322 Adorno: Philosophie der neuen Musik, S.  34 f. 323 Adorno: Negative Dialektik, S.  29; vgl. dazu: Jarvis: „What Is Speculative Thinking?“, S.  77 f.; Angehrn: „Kritik und Versöhnung“, S.  273 f.; Robinson: „Dialektik und Spekulation. Über die Grenzen der spekulativen Vernunft“, S.  29. 321 Hegel:

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rung, bei Adorno bleibe ein „Transzendieren ohne Transzendenz“,324 trifft in‑ sofern den Sachverhalt, als die transzendierende Bewegung nicht von einer zu erreichenden Transzendenz ausgeht, sondern dass die Transzendenz erst in der Bewegung entsteht. Gekennzeichnet wird sie durch den Begriff des „Offenen“, der zwar im Werk Adornos vergleichsweise selten benutzt wird, aber dennoch als ein zentraler Begriff negativer Dialektik, zumal der Meditationen zur Meta‑ physik, verstanden werden muss. Nach der Einleitung zur Negativen Dialektik ist das Offene „das Telos der Philosophie“325 und damit auch die richtige Gestalt dessen, was nach dem Maß der Identität nur als Nichtidentisches bezeichnet werden kann. Deshalb kann das Offene auch nur negativ erreicht werden, über den Widerspruch. Adorno führt das in der Vorlesung Fragen der Dialektik aus: Der Widerspruch ist der Begriff des Nichtidentischen, das als Nichtidentisches gerade unbegrifflich ist. Darum ist jeder Begriff, der Nichtidentisches subsumiert, immer auch falsch. Negative Dialektik als Methode stellt das Bewußtsein jener Falschheit her. Die Bahn, die der Gedanke dabei beschreibt, ist die einzige, die in das Offene und Unregle‑ mentierte geleiten könnte.326

Verstehen wir das Offene als das Ziel der transzendierenden Bewegung und verstehen wir diese wiederum als das spekulative Moment negativer Dialektik, dann lässt sich die Beziehung von negativer und spekulativer Dialektik wie folgt zusammenfassen: Die Frage nach dem Unterschied zwischen negativer und spe‑ kulativer Dialektik ist falsch gestellt, weil auch die negative Dialektik ein unab‑ dingbar spekulatives Moment besitzt. War bei Hegel die Spekulation als ab‑ schließende Einheit, als übergreifende Identität von Subjekt und Objekt, zu‑ gleich Endpunkt und Fundament der dialektischen Bewegung und ragte sie dadurch in jedes einzelne Moment hinein, so kehrt sich bei Adorno das Fundie‑ rungsverhältnis um. Nicht mehr ist die Negativität durch Spekulation fundiert, sondern die Spekulation ist von der Negativität abhängig. Das eigentlich speku‑ lative Moment negativer Dialektik ist die transzendierende Bewegung bestimm‑ ter Negation und erst in dieser konstituiert sich das Spekulative bei Adorno. Somit ist das Spekulative in seiner Doppelbedeutung – als Telos der Bewegung und als diese Bewegung selbst – auch bei Adorno vorhanden. Dass Adorno das spekulative Moment im Widerstand lokalisiert, darf nicht darüber hinwegtäu‑ schen, dass er in seiner Orientierung am Offenen letztlich auch am Begriff der Spekulation als Endpunkt der Dialektik festhält.

324  Ette, Wolfram: „Beckett als philosophische Erfahrung“, in: Klein, Richard, Kreuzer, Johann und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, S.  214–218, hier S.  217. Wie im Metaphysikabschnitt ersichtlich wird, greift Ettes Formulierung in anderer Hinsicht zu kurz. 325 Adorno: Negative Dialektik, S.  31. 326 Adorno: Fragen der Dialektik, Vo 9049–Vo 9050.

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IV.  Negativismus III: der Bergmann und sein Licht In negativer Dialektik mag sich die Kategorie der Spekulation einschneidend verändern; dennoch ist auch negative Dialektik eine spekulative Dialektik und das ist sie in gewissem Sinne noch mehr als ihr hegelsches Gegenstück. Auf den ersten Blick scheint Adorno ja, wenn er auch das spekulative Moment nicht aufgibt, dieses im Vergleich zu Hegel doch empfindlich zu reduzieren, indem er es auf das Moment des Widerstandes verkürzt. Das hegelsche Spekulative, wie Angehrn es definiert, hat Adorno damit aufgegeben: „Dies [das Spekulative, d. Verf.] ist nicht ein der dialektischen Bewegung Nachfolgendes, sondern das Ganze dieser Bewegung selber; man könnte sagen, sie ist die Einheit, deren Ent‑ faltung und Herstellung die Dialektik ist.“327 In diesem nachdrücklichen Sinn gibt es bei Adorno kein Spekulatives und damit auch keine Dialektik als Entfal‑ tung und Herstellung des Spekulativen mehr. Aber das spekulative Moment ist bei Adorno mehr als der blinde Widerstand; da der Widerstand bestimmt ist, ist er immer auch bestimmtes Transzendieren des Bestehenden in Richtung dessen, was anders wäre. Adorno verzichtet zwar auf den positiven Begriff der Speku‑ lation im Sinne Hegels, hält aber an der Orientierung auf ein spekulatives Ziel, in dem die Dialektik sich aufhebt, fest. Und weil dieses Ziel nicht bereits be‑ stimmt ist, weil es nicht das Ganze selbst ist, sondern gar noch jenseits des Gan‑ zen liegt, ist negative Dialektik in gewissem Sinne noch spekulativer als die he‑ gelsche – sie zielt noch weiter. Ist Hegels Negativismus abgestützt und konter‑ kariert durch das Spekulative, so wird dieses Verhältnis bei Adorno nicht aufgelöst, sondern umgedreht und radikalisiert. Der Negativismus stützt sich selbst und wird zu einem extremen Negativismus zugespitzt, der das Positive, nämlich die Spekulation, erst aus dem Negativen erschließt. In anderen Worten: Während bei Hegel das spekulative Hinausgehen über das Bestehende, das Hier und Jetzt, die Kritik des Bestehenden als Falschem ermöglicht, eben weil es dem Spekulativen nicht entspricht, so ist es bei Adorno gerade die Kritik des Beste‑ henden als Falschen, die das spekulative Hinausgehen über das Bestehende er‑ möglicht. Adornos Negativismus ist negativer als der hegelsche, weil die Aufhe‑ bung des Negativen nicht gelingt und das Positive nur als Seinsollendes gedacht, nicht aber als Seiendes gesetzt werden kann; er ist zugleich spekulativer, weil er sich seines Ziels und seiner Bewegung nicht a priori sicher ist, sondern das Spe‑ kulative als solches erst in der Auseinandersetzung mit dem Negativen und aus diesem gewinnt. Erst in der Radikalisierung der Struktur von Negativität und Spekulation erreicht Adornos Negativismus sein spezifisches Gewicht. Die Negativität ist nun nicht mehr ein im spekulativen Ganzen aufgehobenes Moment, sondern selbst ein Ganzes. So kommt dem negativen Moment in negativer Dialektik 327 Angehrn:

Freiheit und System bei Hegel, S.  122.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

mehr Gewicht zu als in der hegelschen; auch deshalb heißt sie negative Dialek‑ tik. Die Radikalisierung der Dialektik hört aber hier nicht auf; auch korreliert der verstärkten Emphase auf das Negative keine verminderte Orientierung am Positiven. Ist das Positive, die Versöhnung, bei Hegel das Ganze, so ist sie bei Adorno jenseits des Ganzen und damit in gewissem Sinne noch mehr als das Ganze. Negative Dialektik heißt jetzt also: in der Totalisierung der Negativität noch an der Möglichkeit der Versöhnung jenseits dieser Totalität festhalten. Ist die hegelsche Dialektik in ihrer größten Allgemeinheit gefasst die Bewegung durch die Extreme hindurch, die aber als Bewegung selbst das positive Ganze ist, so ist negative Dialektik die Bewegung durch die Extreme von Negativität und Spekulation hindurch, ohne dass diese Bewegung ihrerseits positiviert und als Positive stillgestellt werden könnte. Diese formale Struktur gilt es im Folgenden zu entfalten. Zunächst folgt aus der Umkehr des Fundierungsverhältnisses von Negativität und Spekulation und aus der Totalisierung der Negativität eine Radikalisierung des Negativi‑ tätspathos. Das Negative ist zunächst einmal das Ganze und die Bewegung kann nur vom Negativen ihren Ausgang nehmen. Deshalb bezeichnet Adorno sein Vorgehen in einer Vorlesung als das des Bergmanns ohne Licht: Es gibt also wirklich für den Gedanken keine andere Möglichkeit, keine andere Chance, als das zu tun, was das Bergwerkssprichwort einem verbietet: daß man nämlich als ein Bergmann ohne Licht, also ohne daß man bereits durch den Oberbegriff der Negation der Negation des Positiven mächtig wäre, durch das Dunkel sich hindurcharbeitet und in das Dunkle so tief sich versenkt, wie man es eben nur vermag.328

Bedeutsam an dieser Stelle ist die spezifische Verwendung der Metaphorik von Licht und Dunkel als erkenntnisleitende Begriffe. Traditionell ist die philoso‑ phiegeschichtlich bis zu Platons Sonnengleichnis verfolgbare Assoziation von Licht mit dem erkenntniskonstitutiven Prinzip, das erst überhaupt das Chaos trennt in erkennbare, klare Dinge und in Verworrenes, Dunkles und damit Un‑ verständliches.329 So illustriert Spinoza seine für Adorno so wichtige These von der Wahrheit als Index ihrer selbst durch einen Vergleich mit dem Verhältnis von Licht und Dunkel: Lux seipsam et tenebras manifestat – es ist das Licht, das erst das Dunkel manifestiert und nicht umgekehrt. Adorno scheint dieses Ver‑ hältnis nicht einfach umzudrehen, sondern scheint das Licht überhaupt abzu‑ schaffen. Aber dem Bergmann ohne Licht, der sich durch das Dunkel hindurch wühlt, stehen andere Passagen gegenüber, in denen das Licht als Erkennt‑ nisprinzip im traditionellen Sinne herbeizitiert wird. Allen voran der letzte Aphorismus der Minima Moralia „Erkenntnis hat kein Licht, als das von der

328 Adorno:

Metaphysik, S.  225 f. die Tragweite der Metaphorik von Licht und Dunkel bin ich durch Benno Wirz aufmerksam gemacht geworden. 329  Auf

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Erlösung her auf die Welt scheint.“330 Mithin hat der adornosche Bergmann doch eine Art Licht, das seinen Gang leitet; aber es ist nicht das der vorausge‑ setzten spekulativen Identität, sondern das Spekulative, das sich erst in der Ar‑ beit am Negativen konstituiert. Im einleitenden Essay der kleinen Ästhetik Adornos, der Sammlung Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, beschreibt Adorno auch künstlerische Produktion und Erkenntnis mit dem Bild des Bergmanns ohne Licht, der, so erklärt Adorno, „zwar nicht sieht, wohin es ihn treibt, dem aber doch sein Tastsinn genau die Beschaffenheit der Stollen, die Härte der Wi‑ derstände, die schlüpfrigen Stellen und gefährlichen Kanten anzeigt und seine Schritte lenkt, ohne daß sie je dem Zufall überantwortet wären“.331 Der Gang des Bergmanns ist, um im Bilde zu bleiben, durch das Negative bestimmt und insofern hat er ein Licht; aber sein Licht ist nicht mehr als die Funken, die er mit seiner Hacke aus dem Negativen schlägt. Er ist der Bergmann, der sich sein Licht erst herstellt. Dass die in der Einleitung der Negativen Dialektik vollzogene Reduktion des spekulativen Moments auf den Widerstand nur die Hälfte von Adornos Speku‑ lationsbegriff trifft, zeigen zwei spätere Stellen aus der Negativen Dialektik: Deren Geschichte [der deduktiven Systeme, d. Verf.] schon ist reich an Begriffen, die vom gedanklichen Fortgang gezeitigt werden, auch wenn kein Zeigefinger auf den Sach‑ verhalt sich legen läßt, der ihnen entspräche; in der Nötigung, sie zu bilden, entspringt das spekulative Moment der Philosophie.332 Die Idealisten haben, in ihrer Rebellion gegen Kant, übereifrig das Prinzip vergessen, dem sie gegen jenen folgten: daß die Konsequenz des Gedankens zur Konstruktion von Begriffen nötige, die keinen Repräsentanten an positiv bestimmbarer Gegebenheit ha‑ ben. Der Spekulation zuliebe denunzierten sie Kant als Spekulanten, schuldig des glei‑ chen Positivismus, dessen sie ihn bezichtigten.333

In Abgrenzung vom spekulativen Moment des Widerstands, das eine negative Bewegung der Spekulation bezeichnet – ein Sichabstoßen vom Falschen –, könnte man dieses Moment der Spekulation als ihr positives Moment bezeich‑ nen – positiv freilich bloß im normativen, nicht im ontologischen Sinne. Es han‑ delt sich hierbei nicht um vollzogene Versöhnungen im Begriff, sondern um Konstruktionen. Prinzip dieser Konstruktionen ist nicht ein positiv Gegebenes, sondern die Extrapolation aus dem Negativen. Die Konstruktionen sind speku‑ lative und damit transzendente Begriffe, weil sie etwas bezeichnen, was in der Immanenz keinen Repräsentanten an positiv bestimmbarer Gegebenheit hat. Dennoch sind sie in ihrer Transzendenz durch die Immanenz vermittelt. Das betrifft zunächst ihre Produktion: Sie werden nicht nur aus der negativen Im‑ 330 Adorno:

Minima Moralia, S.  283. Adorno: „Ohne Leitbild. Anstelle einer Vorrede“, GS 10.1, S.  291–301, hier S.  298. 332 Adorno: Negative Dialektik, S.  104. 333  Ebd., S.  286. 331 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

manenz extrapoliert, sondern diese nötigt den Gedanken auch zu ihrer Bildung. Die Nötigung wiederum verweist auf die Funktion der spekulativen Begriffe, in der sie abermals durch die Immanenz vermittelt sind, insofern sie in der Imma‑ nenz wirksam sind. Als transzendente Begriffe sind die spekulativen Konstruk‑ tionen mithin in doppelter Weise an die Immanenz gebunden, nämlich über ihre Konstruktion und in ihrer Funktion. Während die Konstruktion des Spekulativen in der Sekundärliteratur igno‑ riert wurde, bestimmen zahlreiche Interpreten die Funktion des Spekulativen, indem sie es als erkenntniskonstitutives Prinzip interpretieren. Dabei fällt es an dieser Stelle nicht ins Gewicht, ob das Spekulative wie bei Schnädelbach hegeli‑ anisch, das heißt als totalisierender Vorgriff auf das Spekulative gedacht wird,334 ob es in der verbreiteten erlösungsphilosophischen Lesart, die ich an späterer Stelle näher betrachten möchte, gedacht wird, ob es wie vom späten Wellmer postmetaphysisch interpretiert wird,335 oder ob es wie bei Bubner rhetorisch, das heißt als Ausweichen in „apotropäische Beschwörungsvokabeln, in Katast‑ rophenmetaphern und in Erahnen des namenlos Richtigen ex negativo“336 ver‑ standen wird. Folgenschwer ist hier bloß die allen Interpretationen gemeinsame Behauptung einer erkenntniskonstitutiven Funktion des Spekulativen. Diese besteht darin, dass erst aus der spekulativen Perspektive die Negativität des Be‑ stehenden als solche erkannt werden kann. Die These scheint im Widerspruch zur oben entwickelten These zu stehen, nach der die Negativität sich ihr Maß selber gibt. Entweder wird die Negativität erst aus der spekulativen Perspektive als solche erkennbar oder sie erweist sich selber als solche. Ich möchte versu‑ chen, dieses Problem über Adornos Wahrheitsbegriff zu differenzieren und zei‑ gen, wie die erkenntniskonstitutive Funktion des Spekulativen – die sich nicht leugnen lässt – und die sich selbst als solche offenbarende Negativität zusam‑ menkommen. Adorno selbst betont immer wieder, dass die negative Dialektik an einem emphatischen Begriff von Wahrheit festhält. So in der Negativen Dialektik an einer Stelle, an der er die negative Dialektik von der Wissenssoziologie mann‑ heimscher Prägung abgrenzt: „In der Idee objektiver Wahrheit wird materialis‑ tische Dialektik notwendig philosophisch, trotz und vermöge aller Philoso‑ phiekritik, die sie übt.“337 Bereits an der Formulierung „Idee objektiver Wahr‑ heit“ wird deutlich, dass Adorno den objektiven Wahrheitsbegriff nicht ontologisch denkt. In der Einführung in die Dialektik präzisiert Adorno diese Idee der Wahrheit. Zunächst bestimmt er den Wahrheitsbegriff der Dialektik als „negative[n] Wahrheitsbegriff“ und verweist auf die Umkehrung der Formel Spinozas. Diese interpretiert er hier so: 334 

Schnädelbach: „Dialektik als Vernunftkritik“, S.  87. Wellmer: „Negativität und Autonomie der Kunst“, S.  239 ff. 336  Bubner: „Adornos Negative Dialektik“, S.  38. 337 Adorno: Negative Dialektik, S.  198. 335 

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3. Negativität

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[D]as heißt, daß es einen positiven, tangiblen, dinghaften Begriff der Wahrheit nicht gebe, wie er eben ja nur in dem Anspruch der unmittelbaren Identität der Ordnung der Dinge und der Sachen garantiert wäre. Aber auf der anderen Seite ist selbstverständlich die Kraft, von der die Einsicht in die Unwahrheit lebt, eben doch die Idee der Wahrheit – nur daß wir nicht diese Idee selber als eine gegebene haben, sondern daß sie nur gleich‑ sam die Lichtquelle ist, von der aus die bestimmte Negation, die Einsicht in das be‑ stimmte Unwahre eigentlich geschieht.338

Es scheint also nicht die bestimmte Negation die Wahrheit zu konstituieren, sondern umgekehrt: erst die Idee der Wahrheit ermöglicht die bestimmte Nega‑ tion. Der Rekurs auf die Idee der Wahrheit widerspricht so der These, Adornos Negativität finde ihr Maß in sich selbst. Allein, bereits beim Widerspruch als Index der Unwahrheit haben wir gesehen, dass Adorno aus dem Postulat der Identität, das sich im Widerspruch als das Falsche zeigt, ein utopisches Moment ableitet: „Bereits im einfachen identifizierenden Urteil gesellt sich dem pragma‑ tistischen, naturbeherrschenden Element ein utopisches. A soll sein, was es noch nicht ist.“339 Dieses utopische Moment präzisiert Adorno in der Hegelstu‑ die „Erfahrungsgehalt“ zur Idee der Wahrheit, die in jedem einzelnen Urteil a priori präsent ist: „Jede Erkenntnis, nicht erst die ins Unendliche sich vorwa‑ gende, meint, schon durch die bloße Form der Kopula, die ganze Wahrheit und keine erlangt sie.“340 Mithin gewinnt Adorno die Idee der Wahrheit als ganzer aus der Form der Kopula. Die Kopula enthält die Idee der absoluten Wahrheit, wie Adorno in der Vorlesung über Philosophische Terminologie ausführt: „In meinem Satz, A ist gleich B, steckt im Grunde bereits [. . .] die Idee einer ganzen, einer absoluten Wahrheit. Diese mag sich erst realisieren, indem ich von diesem Urteil zu ungeheuer vielen anderen Urteilen fortschreite, aber sie ist bereits in dem einfachsten Urteil enthalten.“341 In der Negativen Dialektik schließlich präzisiert Adorno den diesen Stellen zugrundeliegenden Begriff der Idee und, was noch von Bedeutung sein wird, führt den Wahrheitsbegriff mit dem der Hoffnung eng: Solche Hoffnung [A soll sein, was es noch nicht ist, d. Verf.] knüpft widerspruchsvoll sich an das, worin die Form der prädikativen Identität durchbrochen wird. Dafür hatte die philosophische Tradition das Wort Ideen. Sie sind weder χωρίς noch leerer Schall sondern negative Zeichen. Die Unwahrheit aller erlangten Identität ist verkehrte Gestalt der Wahrheit. Die Ideen leben in den Höhlen zwischen dem, was die Sachen zu sein be‑ anspruchen, und dem, was sie sind.342

338 Adorno:

Einführung in die Dialektik, S.  269. Negative Dialektik, S.  153. 340  Adorno: „Erfahrungsgehalt“, S.  315. 341 Adorno: Philosophische Terminologie. Zur Einleitung. Band 1, hg. von Rudolf zur Lip‑ pe, Frankfurt a. M. 1973, S.  113 f. (= Philosophische Terminologie 1). 342 Adorno: Negative Dialektik, S.  153. 339 Adorno:

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Adorno grenzt den Ideenbegriff sowohl gegen das platonische Verständnis als auch gegen die extreme Gegenposition, die des Nominalismus, ab und macht ihn an immanenter Kritik, mithin der bestimmten Negation fest. Adornos Ge‑ brauch des Terminus χωρίς verweist auf den Platon seit Aristoteles unterstellten Gedanken einer absoluten Trennung der ontologisch verstandenen Ideen und dem Reich der Erscheinungen.343 Die Idee wird in diesem Verständnis als reali‑ ter seiend, gar als das höchste Seiende gedacht. Die extreme Gegenposition ist der Nominalismus, für den die Ideen nichts als ein Hauch der Stimme, flatus vocis, sind, also nur Begriffe ohne jegliche selbstständige Realität. Adorno vi‑ siert ein Drittes zwischen diesen Extremen an. Als eine Mitte zwischen den Extremen von Sein und Nichts ist der ontologische Status des Dritten in beson‑ derem Maße fragwürdig. Ideen als negative Zeichen wären weniger als die im nachdrücklichen Sinn seienden Ideen Platons, aber auch mehr als der leere Schall des Nominalismus. Weniger als positiv seiend sind sie, weil sie bloße Zei‑ chen sind; mehr, weil sie negative Zeichen sind, mithin an die seiende Negativi‑ tät, nämlich an die Unwahrheit aller erlangten Negativität gebunden sind. Als negative Zeichen sind die Ideen nicht positiv seiend wie die platonische Idee, dennoch sind sie seiend, nämlich negativ seiend, also bloß in Relation auf ihr Gegenteil; damit sind sie in gewissem Sinne immer noch seiender als der bloße Stimmhauch des Nominalismus. Die Idee der Wahrheit ist ein immanent kons‑ tituiertes und an die Immanenz gebundenes negatives Zeichen. Die Art der Konstitution wird von Adorno auch gleich angegeben: Denn die Höhle zwischen dem, was die Sachen zu sein beanspruchen und dem, was sie sind, ist nichts anderes als der Widerspruch, die Nichtidentität zwischen immanenter Norm und Faktizität. Die Idee als negatives Zeichen lebt gleichsam negativ im Nich‑ tidentischen und damit im Negativen als dessen Kehrseite. Ideen als negative Zeichen existieren nicht jenseits der Immanenz, sondern sind in dieser, aber nur negativ, als Kehrseite des Negativen; als negative Zeichen des Positiven sind sie aber auch immer transzendent, weil sie auf das verweisen, was sie jenseits der Negativität wären. Die erkenntniskonstitutive Funktion des Spekulativen steht somit nicht im Widerspruch zur These, dass falsum index sui et veri ist, sondern ist nur ein anderer Ausdruck derselben. Wenn das Licht, dem Adornos Bergmann folgt, die Idee der Wahrheit ist, so lebt diese Idee nur negativ als Kehrseite der Un‑ wahrheit. Adorno versucht das in der Einführung in die Dialektik im Rekurs auf die Metapher der Erkenntnis als Licht zu präzisieren. Dabei verweist er auf ein Zitat Goethes, das er auch der Arbeit „Der Essay als Form“344 vorangestellt hat: „Bestimmt Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht!“345 Das Sein der Idee der 343 

Vgl. Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewußtseins, S.  119. Adorno: „Der Essay als Form“, GS 11, S.  9 –33, hier S.  9. 345 Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  269. 344 

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Wahrheit beschränkt sich auf ihre Manifestation am Unwahren; sie existiert nicht an sich, sondern immer nur als Licht auf dem, was unwahr ist. Gerhard Schweppenhäuser vergleicht diesen Ideenbegriff in einer etwas problematischen Weise mit dem kantischen, zeigt aber zugleich an, dass die Funktion des Speku‑ lativen sich nicht auf die Sphäre der Erkenntnis beschränkt: Die Kritische Theorie bewegt sich in der modernen Trümmerlandschaft, die der unver‑ meidliche Zerfall der klassischen Ontologie und ihrer Idee objektiver Wahrheit hinter‑ lassen hat. Nachdem sie auch den objektiven Ideologiebegriff relativiert hat, bleibt ihr als Kompass zur Unterscheidung von bloßem Meinen, wahnhafter Projektion und Wahr‑ heit nichts als die durch keine Autorität verbürgte Gewissheit, dass Wahrheit als be‑ stimmte Negation des Falschen muss gedacht werden können. Aus Platons an sich seien‑ der Idee ist Wahrheit bei Adorno zu einer ‚heuristischen Fiktion‘ im Sinne Kants gewor‑ den, ohne die gehaltvolles Denken nicht möglich ist und verändernde Praxis schon gar nicht – ohne dass wir uns auf ihre Kraft verlassen könnten.346

Die Idee als negatives Zeichen aber ist mehr als bloß eine heuristische Fiktion, weil sie durch bestimmte Negation aus der konkreten Wirklichkeit gewonnen wird und weil sie bei Adorno nicht bloß als erkenntnisleitende Fiktion, sondern auch als zu realisierendes Ziel vorgestellt wird. Treffend bestimmt Schweppen‑ häuser jedoch die Funktion der Idee der Wahrheit bei Adorno über deren er‑ kenntniskonstitutiven Rahmen hinaus. Die spekulative Idee der Wahrheit ist nicht bloß die imaginäre Perspektive, in der sich das Bestehende als Negatives zeigt, sondern zugleich auch das, was überhaupt Denken und in Verlängerung davon Praxis erlaubt. Das Spekulative ist mithin nicht bloß als Licht, sondern auch als Hoffnung von Bedeutung. Adorno deutet dies, noch sehr vage, in der Einleitung zur Negativen Dialektik an: Ein wie immer fragwürdiges Vertrauen darauf, daß es der Philosophie doch möglich sei; daß der Begriff den Begriff, das Zurüstende und Abschneidende übersteigen und da‑ durch ans Begriffslose heranreichen könne, ist der Philosophie unabdingbar und damit etwas von der Naivetät, an der sie krankt. Sonst muß sie kapitulieren und mit ihr aller Geist. Nicht die einfachste Operation ließe sich denken, keine Wahrheit wäre, empha‑ tisch wäre alles nur nichts.347

So ist das Spekulative in seiner weitesten Bedeutung: als Hoffnung auf das, was in der Immanenz nicht eingelöst werden kann, unabdingbares Moment des phi‑ losophischen Gedankens innerhalb der Immanenz. In der Engführung des Spe‑ kulativen mit der Hoffnung liegt die eigentliche Bedeutung des spekulativen Moments negativer Dialektik beschlossen: Hoffnung auf das Positive als das Andere der totalen Negativität ist dem Denken unabdingbar, das von der Nega‑ 346  Schweppenhäuser, Gerhard: „Das Glück ‚jenseits des Pedestren‘ und die Ehre der Fuß‑ gänger. Anmerkungen zu Adornos Wahrheitsbegriff“, Zeitschrift für kritische Theorie, 9. Jg./H. 17 (2003), S.  27–72, hier S.  33 f. (= Wahrheitsbegriff). Das Zitat im Zitat stammt aus: Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 771/B 799. 347 Adorno: Negative Dialektik, S.  21.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

tivität der Immanenz ausgeht. Deshalb führt Adorno die Idee der Wahrheit mit dem Begriff der Hoffnung zusammen: „Am Ende ist Hoffnung, wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indem sie diese negiert, die einzige Gestalt, in der Wahrheit erscheint.348 Das Spekulative ist in der Immanenz nur als Hoffnung präsent, weil es selbst nur negativ gedacht werden kann: als Kehrseite der Nega‑ tivität. Hoffnung ist aber ihrerseits nur möglich, wenn das Positive von der Imma‑ nenz her überhaupt gedacht werden kann. Die allgemeine Bedeutung des Posi‑ tiven im Konzept negativer Dialektik haben wir bereits festgestellt: Deren Struktur bringt es mit sich, dass sie, um nicht selbst zur absoluten Negativität und damit wieder positiv zu werden, auf einen emphatischen Begriff des Positi‑ ven verwiesen ist; jenseits dieser strukturellen Problematik aber stellt sich ihr auch das Problem, dass trotz eines exterritorialisierten Spekulativen die negati‑ ve Immanenz nicht als ganz geschlossen gedacht werden darf, weil sonst das Positive abstrakt dem Negativen gegenüberstände. Von jeglicher Beziehung auf Immanenz abgeschnitten, wäre das Positive kein Bezugspunkt mehr; weder für das kritische Denken, dass sein Pathos gerade daran hat, das es im Namen des Positiven kritisiert; noch für verändernde Praxis, die ohne die Möglichkeit der Veränderbarkeit keinen Bezugspunkt mehr hat. Ihren Ort hat die Beziehung des Spekulativen zur Immanenz im Begriff des Nichtidentischen, durch den das Positive als negatives Zeichen denkbar ist. Denn das Nichtidentische hat zu‑ nächst keine andere Funktion als die Unmöglichkeit totaler Identifikation und damit totaler Geschlossenheit aufzuzeigen. Es markiert die Lücke im Negati‑ ven, durch die das Positive als das die Negativität Transzendierende überhaupt denkbar bleibt. Indem negative Dialektik die Nichtidentität festhält, schafft sie sich ihr Licht in Gestalt der Hoffnung; der Hoffnung, dass das Positive möglich, und das heißt in letzter Konsequenz auch: realisierbar ist. Ohne das Positive als negatives Zeichen gäbe es keine Hoffnung mehr auf die Überwindung des Ne‑ gativen und damit wäre das Negative total. Negative Dialektik denkt so nicht, wie die erlösungsphilosophische Lesart es will, das Positive als messianischen Maßstab, sondern als negatives Zeichen. Dritter Einschub: erlösungsphilosophische Dialektik vs. postmetaphysische Dialektik Von den zahlreichen Interpretationen des Spekulativen ist die erlösungsphilo‑ sophische bei weitem die verbreitetste. Zum einen ist die Vorherrschaft dieser Lesart zweifellos dem berühmten Schlussaphorismus der Minima Moralia ge‑ schuldet, in dem die Forderung erhoben wird, „alle Dinge so zu betrachten, wie

348 Adorno:

Minima Moralia, S.  110.

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3. Negativität

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sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten“.349 Zum anderen entwi‑ ckelte diese Interpretation in der deutschen Rezeptionsgeschichte eine Eigendy‑ namik, die Rentsch Mitte der 90er Jahre zu der Behauptung verführte, sie sei „in der Forschung wohl nicht länger umstritten“.350 Ihre Ubiquität und angeb‑ liche Unumstrittenheit hat sie jedoch keineswegs ihrem Gehalt zu verdanken; eher einem eingespielten und unkritisch reproduzierten Interpretationsmuster. Wellmer fasst die Struktur dieser Interpretation folgendermaßen zusammen: „[I]n ihr schießen jüdisch-messianische, christliche und Motive der Metaphysik zusammen; ihr Korrelat ist die Diagnose eines totalen Verblendungszusam‑ menhangs der gegenwärtigen Gesellschaft, der nur noch eine Hoffnung auf Er‑ lösung und keine verändernde Praxis mehr zulässt.“351 Negativität und Speku‑ lation korrelieren in dieser Lesart: Das maßlose Negativitätspathos kann Ador‑ no nicht mehr normativ begründen; deshalb sucht er Zuflucht in einem immanent nicht ausweisbaren Spekulativen: der Erlösung, von deren Stand‑ punkt aus sich das Ganze als das Unwahre zeigen soll. Als Wellmer einst selbst noch diese Lesart praktizierte, warf er Adorno vor, so werde „die Wirklichkeit gleichsam transzendental, vor aller Erfahrung, auf Negativität fixiert“.352 Nega‑ tivität und Spekulation sind in diesem Verständnis nicht in Spannung, sondern einander abstrakt gegenübergestellt. Schnädelbach spricht von einem „theoreti‑ schen Radikalismus“, der davon herrühre, „dass Adorno das Recht wie alles Bestehende an einem utopischen Maßstab misst: dem der Versöhnung und Erlösung; so lange die Welt nicht dem entspricht, ist bei ihm Kritik a priori im Recht, und zwar um so mehr, je kritischer sie auftritt“.353 Als abstrakt gesetztes ist das Spekulative nicht von der Negativität her gedacht, sondern nur als deren äußer‑ licher Maßstab; so sind, wie Bolz es ausdrückt, „Heilsversprechen und Elend‑ spropaganda zwei Seiten derselben Medaille“.354 Die erlösungsphilosophische Lesart findet sich in ihrer allgemeinen Struktur in zahllosen Interpretationen wieder. Allen gemeinsam ist die These, dass Adorno die Negativität an einem nicht ausweisbaren Maßstab misst; sie unter‑ scheiden sich nur in der konkreten Art, in der dieser Maßstab interpretiert wird: theologisch mit Betonung des Messianischen beim frühen Wellmer und bei

349 

Ebd., S.  283. Rentsch: „Vermittlung“, S.  91. 351  Wellmer: „Negativität und Autonomie der Kunst“, S.  239. 352  Wellmer, Albrecht: „Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der Modernität“, in: ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a. M. 1985, S.  9 –47, hier S.  20 (= Wahrheit, Schein, Versöhnung). 353  Schnädelbach: „Adorno und die Geschichte“, S.  150. 354  Bolz: „Lust der Negation“, S.  760. 350 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Bittner,355 mit Akzent auf der Prolepse bei Theunissen,356 als „eine Variante des apokalyptischen Messianismus der zwanziger Jahre“ bei Brumlik; 357 als „Hori‑ zont eschatologischer Erwartung“ bei Heidbrink; 358 daneben aber auch meta‑ physisch bei Ziermann,359 oder auch, zwischen Theologie und Metaphysik, als „theologisierte Metaphysik“ bei Bozzetti.360 Der in all diesen Varianten prakti‑ zierten starren Lesart setzt Wellmer eine postmetaphysische entgegen, in der die spekulative Perspektive als kritisches Konzept verstanden wird: Die Rettung besagt, dass die Ideen der Wahrheit [. . .], der Freiheit, der Gerechtigkeit und des ‚Schönen‘, daß heißt die Idee der Kunst, alles Empirische transzendierende Ideen im folgenden Sinn sind: Als durch nichts Empirisches einlösbar, bedeuten sie zugleich ein kritisches Ferment gegenüber allem, was sich geschichtlich als ihre Einlösung versteht. Sie sind maßlos transzendierend – daher die Versuchung sie erlösungsphilosophisch zu deuten – und zugleich gesellschaftlich immanent wirksam. [. . .] Das heißt, wie Derrida es postuliert hat, sie weder messianisch noch als regulative Ideen (mit der zugehörigen Idee einer unendlichen Approximation an ein Ideal), sondern eben: kritisch zu verstehen.361

Hier existiert zwischen Negativität und dem Spekulativen, dessen Begriff bei Adorno die von Wellmer genannten Ideen umfasst, kein unüberbrückbarer Hi‑ atus mehr, sondern Immanenz und Transzendenz, Negativität und Spekulation sind jeweils in doppelter Hinsicht miteinander verbunden. Das Spekulative konstituiert sich von der Immanenz her und ist zugleich als Spekulatives imma‑ nent wirksam. Wellmer versteht freilich die immanente Bestimmung der Ideen nicht aus dem Gedanken der Dialektik, sondern sieht die transzendenten Ideen bestimmt „durch die zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Räumen aner‑ kannten sprachlichen und gesellschaftlichen Normen, durch Wirklichkeitsdeu‑ tungen und durch Paradigmen des Wahren, Gerechten und ästhetisch Gelunge‑ nen“.362 Das ist bereits eine positive, beinahe schon kommunikationstheoreti‑ sche Umdeutung des Ideenbegriffs Adornos: Wahres, Gutes und ästhetisch Gelungenes konstituiert sich nicht, indem dessen Paradigmen aus der Gesell‑ schaft übernommen werden, sondern ausschließlich negativ: als Negation des 355  Wellmer: „Wahrheit, Schein, Versöhnung“, S.  13; ders.: „Dialektik von Moderne und Postmoderne“, S.  76; ders.: „Anwalt des Nicht-Identischen“, S.  154 f.; ders.: „Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“, in: ders.: Endspiele. Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt a. M. 1993, S.  204–223, hier S.  212; ders.: „Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute. Fünf The‑ sen“, S.  228; Bittner, Rüdiger: „Kritik, und wie es besser wäre“, in: Jaeggi, Rahel und Wesche, Tilo (Hgg.): Was ist Kritik?, Frankfurt a. M. 2009, S.  134–149, hier S.  147. 356  Theunissen: „Negativität bei Adorno“, S.  5 4. 357  Brumlik, Micha: „Theologie und Messianismus“, in: Klein, Richard, Kreuzer, Johann und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/ Weimar 2011, S.  295–309, hier S.  296. 358  Heidbrink: „Grenzen kritischer Negativität“, S.  106, S.  110. 359  Ziermann: „Dialektik und Metaphysik bei Marx und Adorno“, S.  46 f. 360 Bozzetti: Hegel und Adorno, S.  94. 361  Wellmer: „Negativität und Autonomie der Kunst“, S.  239 f. 362  Ebd., S.  239.

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Falschen, Schlechten und ästhetisch Missratenen; dabei sind die Ideen, wenn sie auch als Zeichen maßlos transzendierend sind, dennoch immanent, nämlich als negative Zeichen, als Kehrseiten des Falschen zu denken. Dennoch ist offensichtlich, dass einzig eine postmetaphysische Lesart der Philosophie Adornos gerecht werden kann. Der Fehler der erlösungsphiloso‑ phischen Interpretation ist ein doppelter: Einerseits glaubt sie, Adorno könne die totalisierte Negativität diskursiv nicht ausweisen und sei durch dieses „Scheitern“ zum „Übergang in die Metaphysik“ genötigt: 363 „In der Metaphy‑ sik soll der Negativismus den Halt gewinnen, den er anders nicht findet.“364 Andererseits werde, gleichsam als Kehrseite, durch die Exterritorialisierung des Spekulativen die Wirklichkeit a priori auf Negativität fixiert: „Adorno [. . .] be‑ schwört mit dem ‚ganz Anderen‘ die abstrakte Negation des Bestehenden, die nackte Alternative zum Hier und Jetzt: eine Apokalypse im Stile Richard Wag‑ ners, der immer wieder den Tod des endlichen Individuums als angebliche Erlö‑ sung im Nirwana anpreist.“365 Überzogenes Versprechen der Erlösung und übertriebener Pessimismus korrelieren in dieser Lesart: zum einen hält sie die Trennung zwischen Spekulation und Negativität für transzendental festgesetzt und damit unüberbrückbar. Zum anderen glaubt sie auch, dass die Radikalisie‑ rung der beiden Momente auf beiden Seiten einen Nachteil hervorbringt: Das Bestehende ist zum Verzweifeln schlecht, das zu Hoffende ist so überzogen, dass es lächerlich wirkt. Dagegen haben wir gesehen, dass die Radikalisierung des hegelschen Zusam‑ menhangs von Negativität und Spekulation der negativen Dialektik erst ihr spe‑ zifisches Gewicht verschafft; zugleich zeigt sich in dieser Radikalisierung auch die Stärke der negativen Dialektik gegenüber ihrem hegelschen Vorgänger. Durch die Exterritorialisierung des Spekulativen als des Positiven vermag sie einen radikalen Negativismus zu vertreten, der auch der absoluten Negativität des realen Grauens von Auschwitz gewachsen ist, gerade weil er nicht, wie der hegelsche, über die Möglichkeit der Versöhnung im Begriff verfügt; auf der an‑ deren Seite ermöglicht die Exterritorialisierung dem adornoschen Negativis‑ mus, angesichts der absoluten Negativität am Moment der Versöhnung festzu‑ halten, ohne zugleich, wie der hegelsche, die geschichtliche Wirklichkeit als an sich bereits versöhnte denken zu müssen. Zwar lassen sich diese Thesen erst im dritten Kapitel in einer Auseinandersetzung mit der hegelschen Geschichtsphi‑ losophie vollständig einlösen; die gewonnenen Begriffsdifferenzierungen zei‑ gen aber bereits hier, dass die erlösungsphilosophische Lesart negativer Dialek‑ tik den für diese so wichtigen Zusammenhang von Negativität und Spekulation weit unter dessen Komplexitätsniveau behandelt. 363 

Theunissen: „Negativität bei Adorno“, S.  48. Ebd., S.  57. 365  Schnädelbach: „Adorno und die Geschichte“, S.  152. 364 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Noch schwerer wiegt aber, dass sie das Verhältnis negativer Dialektik zur Metaphysik verdreht und sich damit den Zugang zum eigentlichen Fluchtpunkt negativer Dialektik systematisch verbaut. Gegenüber Scholem hat Adorno die‑ sen als Rettung der Metaphysik bestimmt. Die erlösungsphilosophische Lesart kann nicht sehen, dass es in negativer Dialektik um eine Rettung der Metaphy‑ sik geht, weil sie glaubt, die negative Dialektik sei ihrerseits durch die Metaphy‑ sik abgestützt. Habermas schlägt sie deswegen unentwegt dem metaphysischen Denken, manchmal gar dem Irrationalismus zu.366 Dabei können weder Meta‑ physik noch Theologie eine fundierende Rolle in Adornos Denken überneh‑ men, wie eine Reflexion auf den Stellenwert zeigt, den der geschichtliche Pro‑ zess der Säkularisierung bei Adorno besitzt. Im Gegensatz zu den meisten sei‑ ner Kritiker unterscheidet Adorno ziemlich deutlich zwischen Metaphysik und Theologie. Die Differenz betrifft dabei nicht die Erkenntnisinhalte, sondern den Modus der Erkenntnis. Metaphysik im traditionellen Sinn versteht er dabei als Versuch, aus reinem Denken das Absolute oder die konstitutiven Strukturen des Seins und der Erkenntnis zu bestimmen; also nicht dogmatisch, nicht aus Offenbarung und nicht als ein Positives, mir schlechterdings, nämlich durch die Offenbarung oder die überlieferte Offenbarung, Gegebenes, unmittelbar Seiendes, sondern, wenn ich das wiederholen darf, durch den Begriff.367

Metaphysik unterscheidet sich von der Theologie dadurch, dass sie ihre Er‑ kenntnisse nur durch den Begriff gewinnt und dass sich ihre Theoreme begriff‑ lich ausweisen lassen müssen. Da die Theologie und die Metaphysik eine große Schnittmenge an Fragen teilen, muss die Metaphysik beinahe mit Notwendig‑ keit eine kritische und auflösende Wirkung auf das theologische Denken haben; zugleich versucht sie, das von der Theologie Intendierte mit begrifflichen Mit‑ teln zu erhalten.368 Adorno differenziert das Verhältnis von Metaphysik und Theologie zwar weiter aus und geht auch auf die versuchten Synthesen von Theologie und Metaphysik ein; aber im Kern bleibt die Metaphysik bei Adorno die rationale, aufgeklärte Variante der Theologie: ihre „Verbegrifflichung“.369 Zweifellos benutzt Adorno theologische Lehrgehalte, beispielsweise die Auf­ erstehung des Fleisches,370 aber er benutzt sie immer als bereits säkularisierte, mithin unter Preisgabe ihrer Bindung an das religiöse Gebäude, in dem sie ste‑ hen. So kann die Theologie gar keine fundierende Rolle in diesem Denken über‑ nehmen; Metaphysik ist die einzige Gestalt, in der Theologie bei Adorno vor‑ 366  Vgl. Habermas: „Motive nachmetaphysischen Denkens“, S.  45; ders.: „Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen“, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1992, S.  153–186, hier S.  185. 367 Adorno: Metaphysik, S.  18. 368  Vgl. Ebd., S.  19. 369  Ebd., S.  155. 370  Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  393.

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3. Negativität

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handen ist. Aber auch die Metaphysik kann die ihr zugewiesene fundierende Rolle nicht spielen, da der Prozess der Säkularisierung auch vor ihr nicht Halt macht. Metaphysik ist nicht Fundament, sondern der prekäre Fluchtpunkt ne‑ gativer Dialektik. Eine erlösungsphilosophische Perspektive auf Adornos Werk macht es sich zu leicht; sie sieht dort unreflektierte Dogmatik, wo Adorno die größten ge‑ danklichen Anstrengungen unternimmt. Diese bestehen in einer kritischen An‑ eignung des hegelschen Gedankenkomplexes, in dem sich das Verhältnis von Negativität und Spekulation abspielt. Eine postmetaphysische Interpretation negativer Dialektik ist daher nicht bloß, wie Georg Kohler mit relativierender Konzilianz meint, eine „hermeneutisch wohlwollende“371 Interpretation, son‑ dern die einzige, die der Komplexität des adornoschen Denkens an dieser Stelle gerecht werden kann. Das postmetaphysische Moment erstreckt sich dabei bloß auf die Struktur, nicht die Inhalte des Denkens. Adornos Denken ist postmeta‑ physisch, insofern es sich von jeglichen metaphysischen Prämissen freimacht; es ist metaphysisch, weil es an metaphysischen Fragen festhält. Das im Konzept der negativen Dialektik anvisierte Programm besteht weder in einer Überwin‑ dung der Metaphysik noch in ihrer Restitution, sondern in Solidarität mit der Metaphysik im postmetaphysischen Zeitalter.

V.  Negativität und Utopie I Der bis hier unter dem Leitbegriff der Negativität entwickelte Komplex von Negativität und Spekulation bildet den Hintergrund, vor dem der letzte Apho‑ rismus der Minima Moralia zu lesen wäre. Zwar heißt es dort: „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten.“; aber es steht auch, wie dieser Standpunkt der Erlösung herzu‑ stellen ist: „Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denken an.“ Ohne Willkür und Gewalt bedeutet dasselbe wie: in Absage an sakrosankte Transzendenz. Die spekulativen Perspektiven werden nicht einfach gesetzt oder bezogen; sie „müßten hergestellt werden“. Es geht nicht um eine messianische Perspektive (Singular), sondern um Perspektiven (Plural), „in de‑ nen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offen‑ bart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird“. Mithin bezieht Adorno nicht einen messianischen Standpunkt, sondern will Perspektiven herstellen, die einer imaginierten messianischen Perspektive 371  Kohler, Georg: „Wozu Adorno? Über Adornos Verfahren, Motiv, und Aktualität“, in: Kohler, Georg und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2008, S.  9 –27, hier S.  21.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

ähnlich sind. Aber die Problematik, die Adorno in Folge artikuliert, ist beiden Perspektiven gemein, weil beide strukturgleich sind: Sie betrachten die Welt als Ganze von außen. So sei die Herstellung einer solchen Perspektive zwar ein‑ fach, weil sie aus der Negativität heraus konstituiert werden könne, „weil die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt.“, weil also die Negativität als Ganze auf ihr Ge‑ genteil verweist; andererseits sei diese Herstellung auch das „ganz Unmögliche, weil es einen Standpunkt voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist“. Die Unmöglichkeit ist kein Einge‑ ständnis des Scheiterns, sondern stellt nach dem letzten Satz eine „Forderung“ dar, die an den Denkenden gestellt wird. Die absoluten Perspektiven können im intendierten Sinn nicht hergestellt werden, gerade weil sie aus der Fühlung mit den Gegenständen gewonnen werden. Dadurch sind sie, wie Adorno im An‑ schluss sagt, „mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen“, wie das, das sie transzendieren sollen.372 Die spekulativen Perspektiven, wenn sie denn wie die messianischen sein sollen, hätten Perspektiven zu sein, die jenseits der Welt sind, um die Welt aus einer ganz anderen Perspektive zu betrachten. Da sie aber unweigerlich immanent gewonnen sind, entkommen sie der immanen‑ ten Perspektive nicht. Adorno bezieht hier nicht nur keinen messianischen Standpunkt, sondern behauptet gerade die Unmöglichkeit eines solchen. Wenn Adorno gegen Hegel auch die Versöhnung als noch ausstehende stark macht, unterschreibt er doch dessen Satz, es sei „ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum über‑ springe seine Zeit“.373 Deshalb versteht Adorno die Ideen als negative Zeichen, mithin als in der Negativität als ihr Gegenbild enthaltene, nicht jedoch als feste, transzendente Standpunkte, von denen aus man die Immanenz im Blick hat. Was Adorno im letzten Aphorismus der Minima Moralia auseinanderfaltet, ist nicht eine argumentative Absicherung, auf der negative Dialektik aufbaut, sondern das zu entfaltende Programm derselben; Helmuth Plessner hat das in einer frühen Reaktion auf die Negative Dialektik erkannt: „Es gibt keine kür‑ zere Fassung des Programms der negativen Dialektik.“374 Erst die Negative Dialektik ist als die Einlösung dieses Programms zu verstehen; sie geht denn auch vom in den Minima Moralia formulierten Problemrahmen aus: dass die Negati‑ vität der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit eine Philosophie ver‑ langt, die diese Negativität nicht in einer imaginären Erlösung aufhebt, sondern aus der Negativität Perspektiven gewinnt, in denen die Wirklichkeit sich im Licht der Möglichkeit zeigt. Die Fluchtlinie eines solchen Denkens ist ohne Zweifel die Metaphysik, nicht jedoch als Fundament, sondern als Ziel: als Ver‑ 372 Adorno:

Minima Moralia, S.  283, alle Hervorh. d. Verf. Rechtsphilosophie, S.  26. 374 Plessner, Helmuth: „Adornos Negative Dialektik. Ihr Thema mit Variationen“, Kant-Studien, 61. Jg./H. 4 (1970), S.  507–519, hier S.  509. 373 Hegel:

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3. Negativität

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such, im Bewusstsein der realen Negativität den Gedanken des Absoluten fest‑ zuhalten. Angedeutet wird das im nächsten Satz des Aphorismus: „Je leiden‑ schaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich abdichtet um des Unbe‑ dingten willen, um so bewußtloser, und damit verhängnisvoller, fällt er der Welt zu. Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der Möglich‑ keit willen.“375 Adorno kritisiert hier den Irrglauben, angesichts der realen Ne‑ gativität könne man unverändert Metaphysik betreiben und vom Unbedingten oder von der Erlösung reden, ohne die Bedingtheit zu bedenken, die dem Den‑ ken als Moment einer konkreten Wirklichkeit zukommt. Die Metaphysik, als Denken den Unbedingten, ist unmöglich, weil in einer Welt des maßlosen Lei‑ dens das Absolute nicht gedacht werden kann. Diese Unmöglichkeit wird von Adorno im Metaphysikmodell der Negativen Dialektik expliziert; sie soll nicht überwunden werden, sondern begriffen, das heißt entfaltet werden, da nur in der Entfaltung der Unmöglichkeit die Möglichkeit gerettet werden kann. Das steckt hinter dem Satz: „Metaphysik möchte gewinnen allein, wenn sie sich wegwirft.“376 Die Möglichkeit der Metaphysik wird nicht gerettet, indem die Unmöglichkeit der Metaphysik widerlegt wird, sondern, wie im dritten Kapitel gezeigt wird, indem mit dem Nachweis der Unmöglichkeit die falsche Verwirk‑ lichung der Metaphysik aufgelöst und damit die Möglichkeit der Metaphysik für die Zukunft gerettet wird; das ist nur möglich, wenn Metaphysik geschichts‑ philosophisch gedacht wird. Geschichte und mit ihr die Geschichtsphilosophie sind nicht als Fundament negativer Dialektik noch als ihre Anwendungsgebiete, sondern als integrales Moment negativer Dialektik zu verstehen. Das aber bedeutet: Negative Dialek‑ tik kann nur als Geschichtsphilosophie gedacht werden. Die Notwendigkeit, negative Dialektik geschichtsphilosophisch zu denken, ergibt sich aus dem strukturellen Defizit, dass ohne die Kraft der positiven Negation die Negativi‑ tät durch Denken nicht überwunden werden kann. Deshalb muss negative Dia‑ lektik die Versöhnung von der Theorie in die Praxis verlagern und als praktische denken. Versöhnung in die Praxis zu legen, heißt aber: sie gesellschaftlich zu denken, auch wenn ihre konkreten Gehalte, Erlösung oder das Absolute, auf den ersten Blick mit Gesellschaft nichts zu tun haben. Wenn aber diese Gehalte deshalb nicht denkbar sind, weil sie durch die Negativität der Wirklichkeit be‑ dingt sind, dann wären sie in einer Wirklichkeit, die nicht mehr negativ ist, denkbar. Die Unmöglichkeit des Gedankens um seiner Möglichkeit willen zu begreifen, heißt also: die Unmöglichkeit des Gedankens in der gegebenen Wirk‑ lichkeit zu begreifen um der Möglichkeit des Gedankens in einer anderen Wirk‑ lichkeit willen; einer anderen Wirklichkeit, die im Gegebenen eine Utopie ist. So verstanden legt der letzte Aphorismus der Minima Moralia die Unmöglich‑ 375 Adorno: 376 Adorno:

Minima Moralia, S.  283. Negative Dialektik, S.  357.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

keit dar, eine Erkenntnis aus der Perspektive der Erlösung oder einer ähnlich transzendenten Beobachterperspektive zu formulieren und verpflichtet den Er‑ kennenden darauf, in jedem Moment auf seine eigene Stellung in der Immanenz zu reflektieren und zu bedenken, dass er die Erlösung nicht denken kann; gera‑ de dadurch aber arbeitet er der Möglichkeit der Erlösung zu, weil er sie in einer anderen Verfassung der Immanenz für möglich hält. Das Spekulative, das Adorno in bestimmter Negation gewinnen will, ist deshalb im nachdrücklichen Sinn als Utopie zu verstehen. Nachdrücklich heißt: die Utopie ist der oberste spekulative Begriff, weil er für diejenige Verfassung der Wirklichkeit steht, in der erst alle anderen spekulativen Begriffe möglich oder denkbar sind. Als spekulativer Begriff folgt der Utopiebegriff bei Adorno den bisher unter‑ suchten Strukturen. Das heißt: Utopie ist nur von der Negativität her zu den‑ ken. Adorno notiert dazu in einem Notizbuch im Jahre 1968: „Die Utopie steckt streng, ausschließend nur in der bestimmten Negation. Der Rest ist Schinder‑ hannes – Ché Guevara.“377 Die ausschließliche Fundierung der Utopie in der bestimmten Negation ist der Grund, warum Seel mit dem Utopiebegriff Ador‑ nos größte Mühe bekundet. Seels revisionistische Lektüre, in der Adorno so‑ wohl von der Fixierung auf Negativität als auch von der Fixierung auf Hegel befreit werden soll, muss aufgrund dieser Vorentscheidungen das in ihr anvisier‑ te „positive Zentrum der negativen Philosophie Adornos“378 verfehlen und zeigt damit indirekt, dass das Positive in Adornos Denken nur in den Blick kommt, wenn Negativismus und Hegelianismus dieses Denkens nicht als Selbstmissver‑ ständnisse abgetan werden. Seel aber kritisiert an Adornos Philosophie die „blinden Utopien“, die „statischen Miniaturen, in denen für die Anliegen und Aussichten endlicher Wesen, für das Spiel von Erwartung und Enttäuschung keinerlei Platz mehr bleibt“379. Er liest die utopischen Bilder, die Adorno – wie dem Bilderverbot zum Trotz – in sein Werk einstreut, als Gesamtdarstellungen: als „utopische[s] Nirwana“ und als „das Bild einer Praxis, die jenseits geschicht‑ licher Verhältnisse steht“.380 Seels Kritik zielt auf folgende Passage aus dem hun‑ dertsten Aphorismus der Minima Moralia („Sur l’eau“): „Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ‚sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung‘ könnte an Stelle von Pro‑ zeß, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen 377 Adorno: Notizbuch α, S.   29. Zitiert nach: Tiedemann: „Begriff, Bild, Name. Über Adornos Utopie der Erkenntnis“, S.  110. In diesem Abschnitt greife ich zurück auf: Sommer, Marc Nicolas: „Utopie und Negativität. Adornos negative Dialektik als Paradigma utopi‑ schen Denkens“, Philosophisches Jahrbuch, 121. Jg./H. 2 (2014), S.  271–288, hier S.  275 f. 378  Seel, Martin: „‚Jede wirklich gesättigte Anschauung‘. Das positive Zentrum der negati‑ ven Philosophie Adornos“, in: ders.: Adornos Philosophie der Kontemplation, Frankfurt a. M. 2004, S.  20–28. 379  Seel: „Adornos kontemplative Ethik“, S.  38. 380  Seel: „Anerkennende Erkenntnis“, S.  61 f.

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3. Negativität

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Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden.“381 Deutlich weist Adorno auf die dialektische Natur dieser Utopie hin. Stasis wird nicht abstrakt als Paradies angepriesen, sondern nur als Negation allgegenwärtiger Dynamik. Das nicht kenntlich gemachte Zitat „sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung“ stammt aus „Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“, einem einleitenden Abschnitt der hegelschen Logik.382 Das Sein der hegelschen Logik erweist sich jedoch als ein Sein, das immer weiter bestimmt und erfüllt wird. Im Gegensatz zur Dynamik einer von kapitalistischen Pro‑ duktionsverhältnissen bestimmten Gesellschaft findet der Bestimmungs- und Erfüllungsprozess der hegelschen Logik ein Ende, an dem der Prozess wieder zur Form der einfachen Unmittelbarkeit des Seins – nun erfüllt und in sich be‑ stimmt – zurückkehrt. Die von Adorno anvisierte Stasis ist nicht die abstrakte Utopie einer Gesellschaft von Müßiggängern, sondern Kritik eines Produktions­ paradigmas, in dem ständige Dynamik in Form schlecht unendlicher Erhö­hung der Produktivkraft eine Notwendigkeit ist. Zugleich wird indirekt, in bestimm‑ ter Negation, die Vision einer Gesellschaft gewonnen, die Produk­tivität nicht bloß quantitativ, sondern qualitativ misst und deshalb der Dynamik der Steige‑ rung der Produktivkräfte ein qualitativ bestimmtes Ende setzen kann. Der Pri‑ mat des kritischen Gehalts der Stelle wird deutlich, wenn sie auf die einleitenden Sätze des Aphorismus bezogen wird, in denen Adorno eine Kritik an positiven Bestimmungen der Utopie übt; zu bezeichnen sei sie bloß negativ. Zart wäre einzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll. Alles andere setzt für einen Zustand, der nach menschlichen Bedürfnissen zu bestimmen wäre, ein menschliches Verhalten an, das am Modell der Produktion als Selbstzweck gebildet ist. In das Wunsch‑ bild des ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen ist eben der Feti‑ schismus der Ware eingesickert, der in der bürgerlichen Gesellschaft Hemmung, Ohn‑ macht, die Sterilität des Immergleichen mit sich führt.383

Adorno visiert keineswegs ein utopisches Nirvana an, sondern einen Zustand, in dem die Erwartung, etwas zu essen zu bekommen, nicht enttäuscht wird. Erst in bestimmter Negation der Verhältnisse, in denen Menschen trotz ausrei‑ chender Nahrungsmittel verhungern, lässt sich eine Utopie konzipieren, die über den gedanklichen Rahmen des Gegenwärtigen hinausgeht. Gerade Ador‑ nos Dogma der Negativität und seine angeblich unglückliche Fixierung auf He‑ gel machen seinen Utopiebegriff greifbar: die Utopie ist die bestimmte Negati‑ on der negativen Wirklichkeit.384 381 Adorno:

Minima Moralia, S.  179. Logik I, S.  68. 383 Adorno: Minima Moralia, S.  178. 384  Das gilt nicht bloß für die adornosche Ausprägung des Utopiebegriffs, sondern kann in gewisser Weise als konstitutives Element jeglicher Utopie angesehen werden. Vgl. dazu An‑ gehrn: „Utopisches Transzendieren ist nicht formelle Negation oder schematische Setzung des Anderen. Es ist eine Negation, die als wertende Zurückweisung, als Kritik fungiert. Sozi‑ 382 Hegel:

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Diese strukturellen Bestimmungen machen die synchrone Dimension des Utopiebegriffs aus; im dritten Kapitel wird im Rahmen von Adornos Ge‑ schichtsphilosophie das Verhältnis von Negativität und Utopie in diachroner Perspektive behandelt. Hier möchte ich abschließend nochmals auf den Kom‑ plex von Negativität und Spekulation unter dem Leitbegriff der Utopie als dem obersten spekulativen Begriff zurückkommen. Dazu bieten sich die abschlie‑ ßenden Sätze der Hegelstudie „Erfahrungsgehalt“ an, die in Absetzung von der hegelschen Philosophie die gesamte Problematik von Negativität und Spekula‑ tion in äußerst gedrängter Form abhandeln: Indem aber Philosophie wider Hegel die Negativität des Ganzen bestimmt, erfüllt sie zum letztenmal das Postulat der bestimmten Negation, welche die Position sei. Der Strahl, der in all seinen Momenten das Ganze als das Unwahre offenbart, ist kein anderer als die Utopie, die der ganzen Wahrheit, die noch erst zu verwirklichen wäre.385

Zunächst wird hier nochmals die These, das Ganze sei das Unwahre, gegen Hegel ins Spiel gebracht; aber nicht gegen die These, das Wahre sei das Ganze, sondern gegen die, das hegelsche Ganze sei bereits das Wahre. Die Wahrheit, die Adorno intendiert, ist demgegenüber wirklich die ganze Wahrheit; allerdings ist diese ganze Wahrheit nicht bloß als Idee, sondern als zu verwirklichende Utopie gedacht. Ganz wäre die Wahrheit erst, wenn sie verwirklicht, mithin praktisch geworden wäre. Das bedeutet aber, dass Adorno, wie Schweppenhäu‑ ser sagt, „in gewisser Hinsicht am überlieferten ontologischen Wahrheitsbegriff festhielt. Wahrheit war für ihn nicht (nur) eine Eigenschaft von Sätzen, sie sollte (vor allem) als eine Qualität der Wirklichkeit denkbar bleiben.“386 Wurde die Wahrheit von Adorno an anderer Stelle als Idee bestimmt, so holt die Bestim‑ mung der Wahrheit als Qualität der Wirklichkeit diese Bestimmung ein. Idee ist die Wahrheit als negatives Zeichen, das in den Phänomenen selbst lebt, nämlich in der Nichtidentität zwischen dem, was die Phänomene sind, und dem, was sie zu sein vorgeben. Das Schließen dieser Differenz wäre die Aufhebung der Wahrheit als negatives Zeichen in ihrer Verwirklichung. In Adornos Negativismus ist das Positive als Ganzes gedacht: als die ver‑ wirklichte Utopie, als Versöhnung, Erlösung, die ganze Wahrheit, zugleich als Abschaffung des Leidens und als richtiges Bewusstsein vom Absoluten. Ob‑ wohl an einem emphatischen Begriff des Positiven orientiert, ist negative Dia‑ alutopien sind Kehrseiten der Gesellschaftskritik. Sie gründen auf der Erfahrung von Un‑ recht und Leiden, sie sind Negation eines Negativen, das nicht sein soll; sie gewinnen ihre Kraft und Rechtfertigung aus dem Widerstand.“ Angehrn, Emil: „Dialektik der Utopie. Von der Unverzichtbarkeit und Fragwürdigkeit utopischen Denkens“, in: Hofmann-Riediger, Monika und Thurnherr, Urs (Hgg.): Anerkennung. Eine philosophische Propädeutik. Festschrift für Annemarie Pieper, Freiburg/München 2001, S.  186–199, hier S.  188 (= Dialektik der Utopie). 385  Adorno: „Erfahrungsgehalt“, S.  324 f. 386  Schweppenhäuser: „Wahrheitsbegriff“, S.  60.

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4. Nichtidentität

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lektik ein ebenso emphatischer Negativismus. Sie legt sowohl auf Negativität als auch auf das Positive einen größeren Nachdruck als ein Negativismus, der das Positive als Moment der Wirklichkeit oder als Totalität der Wirklichkeit denkt. Ihr extremer Negativismus erkennt die reale Negativität des geschicht‑ lich sich perpetuierenden Leidens ohne Rückhalt an; er verweigert, die Negati‑ vität durch den Verweis auf positive Entwicklungen zu verkleinern; er verwei‑ gert aber ebenso anthropologische Fixierungen der Negativität, indem er zu‑ gleich an einem emphatischen Begriff des Positiven festhält. Die formale Struktur dieses extremen Negativismus ist die negativer Dialektik, der Bewe‑ gung durch die Extreme hindurch. Diese Struktur impliziert, dass ein Extrem nicht ohne das andere gedacht werden kann: das Positive als Kehrseite des Ne‑ gativen und das Negative nur in der Fluchtlinie des Positiven. Damit aber der Umschlag überhaupt gelingen kann, muss das Negative in gewissem Sinne durchlässig sein für das Positive; es darf nicht ganz geschlossen sein, sondern muss das Positive als negatives Zeichen zulassen; deshalb kommt dem Nich‑ tidentischen eine zentrale Stellung in der Philosophie Adornos zu. Es markiert die Lücke in der Totalität der Negativität und hält damit den Ort offen, an dem die Ideen als negative Zeichen ihren Platz haben.

4. Nichtidentität Mehr als in allen anderen Kategorien scheint sich in der Nichtidentität oder im Nichtidentischen das Eigentliche negativer Dialektik zu konzentrieren. Gerade weil hier die Fäden negativer Dialektik zusammenlaufen, bietet sich der Begriff des Nichtidentischen an, um den Begriff negativer Dialektik zu exemplifizie‑ ren. Die Emphase, die in der Rezeption auf diesen Begriff gelegt wurde, lässt sich leicht erklären: Adorno selbst benutzt, zumindest in der Negativen Dialektik, den Begriff des Nichtidentischen oder der Nichtidentität geradezu infla‑ tionär und an so vielen verschiedenen Stellen, dass ihm bescheinigt wurde, das Nichtidentische sei eine bloße „Chiffre“,387 ein Symbol für vollkommen dispa‑ rate Sachverhalte. Problematisch wird die Orientierung am Begriff des Nich‑ tidentischen da, wo die dialektische Struktur dieses Begriffs vergessen geht. Negative Dialektik lässt sich weder auf den Begriff des Nichtidentischen noch überhaupt auf irgendeinen einzelnen Begriff reduzieren. Doch auch wer den Begriff Nichtidentität auf sein dialektisch Anderes, den Begriff der Identität, bezieht, kommt dem Begriff des Nichtidentischen nicht unbedingt näher. Der Komplex von Identität und Nichtidentität ist selbst nur ein Moment innerhalb des Strukturgefüges negativer Dialektik. Der Begriff der Nichtidentität ist zu‑ gleich als dialektischer Begriff und als Begriff der Dialektik zu verstehen. Des‑ 387 

Schnädelbach: „Dialektik als Vernunftkritik“, S.  70.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

halb folgt die Behandlung dieses Komplexes erst an dieser Stelle – nach Ver‑ mittlung, Totalität und Negativität. Erst vor dem Hintergrund der dort vorge‑ nommenen Differenzierungen lässt sich das Problem der Nichtidentität in Adornos Philosophie verstehen. Wer das Nichtidentische nicht aus der Topographie negativer Dialektik zu verstehen sucht, nimmt beinahe zwangsläufig Verzerrungen und Simplifizie‑ rungen in Kauf. Zwei Beispiele mögen das illustrieren: Das erste findet sich bei Habermas, der den Begriff des Nichtidentischen a priori als aporetischen Be‑ griff bestimmt und damit zugleich die Negative Dialektik als Übung, die diese Aporetik vorführe, disqualifiziert.388 Die angebliche Aporetik des Nichtidenti‑ schen ist dabei nichts anderes als die seither zum Dogma verfestigte These der Aporetik von Adornos Programm: das Nichtidentische zu identifizieren, das Nichtbegriffliche dem Begriff zuzueignen. Die Aporetik soll sich zwischen dem Begriff der Identität und dem Nichtidentischen abspielen: Weil das Nichtiden‑ tische das ist, was sich emphatisch der Identität entzieht, lässt es sich nie der Identität einverleiben und deshalb ist Adornos Philosophie aporetisch und das Nichtidentische muss entweder kommunikationstheoretisch eingelöst werden oder es bleibt ein leerformelhaft eingesetzter Begriff. Eine solche Kritik ist be‑ quem – erspart sie doch die Mühe, sich mit der umfangreichen Übung, welche die Negative Dialektik darstellen soll, befassen zu müssen. Ironisch, dass Ha‑ bermas der Wahrheit sehr nahe kommt, wenn er sagt, dass die Negative Dialektik „den paradoxen Begriff des Nicht-Identischen entfaltet“.389 Er geht aber fehl, wenn er das Paradoxe des Nichtidentischen und seine Entfaltung als gegenein‑ ander indifferent betrachtet. Gerade weil der Begriff des Nichtidentischen para‑ dox ist, muss er entfaltet werden.390 Das Moment der Entfaltung ist nicht nur das Lebenselement der Dialektik bereits bei Hegel – auch dessen Werke gewin‑ nen, wie er selbst betont, ihre Legitimation erst in der Durchführung –, sondern explizit das Programm der Negativen Dialektik: „Die Entfaltung seines para‑ doxen Titels ist eine seiner Absichten.“391 Die Aufgabe scheut Habermas – er beurteilt das Buch nach seinem Einband. Schon Jahre vor der Kommunikativen Wende deutet er das Verhältnis von Identität und Nichtidentität zu einem inter‑ subjektiven Verhältnis um; das Nichtidentische wird zum „emphatischen Be‑ griff des Individuellen“,392 Dialektik zum Dialog verkürzt und das erlaubt Ha‑ 388 

Vgl. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, S.  515. Der philosophische Diskurs der Moderne, S.  156. 390  Vgl. Adornos Stichworte zu Einführung in die Dialektik, in denen er den Versuch der Identifikation des Nichtidentischen als paradox bezeichnet: „Die Paradoxie dieses Versuchs zwingt ihn zur Entfaltung, d. h. er ist nicht als einfaches Urteil zu vollziehen.“ Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  319. 391 Adorno: Negative Dialektik, S.  9. 392  Habermas, Jürgen: „Was Theorien leisten können – und was nicht. Ein Interview“, in: ders.: Kritik der Vernunft, Philosophische Texte. Studienausgabe in fünf Bänden, Bd. 5, Frankfurt a. M. 2009, S.  81–99, hier S.  99. 389 Habermas:

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4. Nichtidentität

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bermas zu behaupten, das Nichtidentische sei in der Theorie des kommunikati‑ ven Handelns „auf eine triviale Weise zugänglich“.393 Begnügt man sich nicht mit dieser „profanen Rettung des Nichtidenti‑ schen“,394 so ist man gezwungen, diesen Begriff zu differenzieren; Schnädel‑ bach, das zweite Beispiel, sieht sich jedoch gezwungen, die Differenzierung nicht mit, sondern gegen Adorno vorzunehmen: „Der Begriff des Nichtidenti‑ schen erscheint so als der Schlüssel, mit dem uns Adorno sein Dialektikkonzept erschließt. Wer ihn dazu benutzt, wird feststellen, daß er präzisiert werden muß, und wer ihn zu präzisieren versucht mit Adornos eigenen Mitteln, wird scheitern.“395 Wird aber das Scheitern von Adornos eigenen Präzisierungen a priori festgestellt, so können die von Adorno selbst vorgenommenen Differen‑ zierungen nicht in den Blick geraten und die unabhängig von Adornos eigenem Verständnis vorgenommenen Differenzierungen drohen, Adornos eigentliche Problemstellung zu verfehlen. Zwar differenziert Schnädelbach den Begriff der Identität in mehreren Bedeutungen aus; allein, diese Differenzierung verschleift die für Adornos Verständnis maßgeblichen Momente und der Versuch, die jen‑ seits negativer Dialektik gewonnene Differenzierung gegen Adorno fruchtbar zu machen, verfehlt notwendig das von Adorno Intendierte. Schnädelbachs Differenzierung zwischen „Etwas identifizieren als . . .“ und „Etwas identifizie‑ ren mit . . .“ verleitet ihn zur Behauptung, dass in „Identifikationen von etwas als etwas [. . .] nicht bloß Identität ausgesagt“ wird.396 Wie weit er damit an Adornos Begriff des Nichtidentischen vorbeiredet, zeigt die erläuternde Klammer: „(Wer mich als den und den identifiziert, identifiziert mich hoffentlich nicht mit dem, als den er mich identifiziert.)“397 Unglücklich ist bereits das Beispiel, weil die Identifikation einer Person auch über Eigennamen erfolgen kann, die das Prob‑ lem des Begriffs umgehen, ohne es zu lösen.398 Foster benutzt ein weitaus glück‑ licheres Beispiel: „[T]o identify the rose as red is not to identify the rose with the property of redness.“399 Dass es Adorno in seiner Kritik identifizierenden Denkens nicht darum geht, liegt auf der Hand. Denken ist für Adorno identifi‑ zierend, weil es zwangsläufig etwas als etwas identifizieren muss – unabhängig davon, ob es auch noch etwas mit etwas identifiziert. Schnädelbach differen‑ ziert zugleich zu wenig und zu viel: zu wenig angesichts Adornos eigener Dif‑ ferenzierungen; zu viel angesichts der von Adorno artikulierten Problematik. Die Präzisierung des Nichtidentischen gelingt nur im Komplex mit der Identität und die Präzisierungen dieses Komplexes wiederum gelingen nur anhand und 393 

Habermas: „Motive nachmetaphysischen Denkens“, S.  57.

394 Ebd. 395 

Schnädelbach: „Dialektik als Vernunftkritik“, S.  69. Ebd., S.  72. 397 Ebd. 398  Deshalb spricht Adorno auch von der „Hoffnung des Namens“. Adorno: Negative Dialektik, S.  62. 399 Foster: Adorno. The Recovery of Experience, S.  164. 396 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

nicht jenseits von Adornos eigener Behandlung desselben. So ist in einem ersten Schritt der Begriff der Identität, wie Adorno ihn versteht, zu präzisieren (I), um dann in einem zweiten Schritt an der Frage nach Adornos Begriff des Begriffs die Kritik identifizierenden Denkens zu behandeln (II), bevor in einem dritten Schritt auf die Bedeutung des Nichtidentischen im Strukturgefüge einer negati‑ ven Dialektik eingegangen wird (III).

I.  Spekulative Identität und identifizierendes Denken Als dialektischer Gegenpart des zentralen Begriffs der Nichtidentität kommt der Identität eine nicht minder prominente Rolle in Adornos Denken zu. Auch hier bestehen Schwierigkeiten im Versuch der Differenzierung. Simplifizierun‑ gen, die das bezeugen, gibt es zuhauf. Und meist sind diese nicht einem Mangel, sondern einem Überschuss an Differenziertheit geschuldet, zumal einer Diffe‑ renzierung verschiedenster Formen der Identität, die zwar in sich selbst schlüs‑ sig sein mag, aber für die Interpretation von Adorno nicht fruchtbar gemacht werden kann, weil sie nicht in Auseinandersetzung mit Adorno gewonnen, son‑ dern abstrakt gegen ihn vorgebracht wird. Das bedeutet nicht, dass der Begriff der Identität bei Adorno eindeutig wäre; er ist in der Tat ein schillernder Begriff sondergleichen. Dennoch gibt es bei Adorno fundamentale Differenzierungen, die zwar nicht explizit vollzogen werden,400 aber in der Sache liegen. Diese Sa‑ che betrifft die Abgrenzung zur hegelschen Dialektik, jedoch nicht ausschließ‑ lich: Markiert die Kritik an der spekulativen Identität eine emphatische Kritik an der hegelschen Philosophie, so ist die Kritik des identifizierenden Denkens nicht als Kritik an Hegel, sondern vielmehr im Anschluss an diesen konzipiert. Spekulative und begriffliche Identität sind zu unterscheiden, aber in dieser Un‑ terscheidung zugleich in ihrem Abhängigkeitsverhältnis zu begreifen. In der Kritik des identifizierenden Denkens bezeichnet „Identität“ die Iden‑ tität zwischen einem Begriff und dem darunter subsumierten Gegenstand. Der Begriff gibt vor, mit dem Gegenstand identisch zu sein und verdeckt dabei den Gegenstand selbst. Das geht über das Problem hinaus, dass die Sprache durch ihre notwendigen Abstraktionen immer nur Allgemeines und nicht Besonderes trifft. Nietzsche hat das in einer Frühschrift festgehalten.401 Adorno, der an der 400  Eine Ausnahme bildet eine Fußnote in der negativen Dialektik, in der Adorno vier Bedeutungen von Identität unterscheidet: die Einheit des persönlichen Bewusstseins (1); das Denken als logische Allgemeinheit (2); die Sichselbstgleichheit eines jeglichen Denkgegen‑ standes (3); die erkenntnistheoretische Identität von Subjekt und Objekt (4). Wie sich in Folge zeigen wird, ist die vierte Bedeutung für Adorno die zentrale, was nicht heißt, dass die ande‑ ren Bedeutungen nicht mitschwingen. Äquivokationen sind für Adorno nicht zwangsläufig Resultat schlampigen Denkens, sondern verweisen auf einen Zusammenhang der Bedeutun‑ gen in der Sache. Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  145. 401 Nietzsche, Friedrich: „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, in: ders.: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen. Nachgelassene Schriften 1870–

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4. Nichtidentität

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Idee der Wahrheit konsequent festhält, geht in der Kritik identifizierenden Den‑ kens nicht von Nietzsche, sondern von Hegel aus; denn das Problem identifizie‑ renden Denkens besteht nicht darin, dass der Begriff „Blatt“ dem individuellen Blatt nicht gerecht werden kann, sondern dass durch die Form des Begriffs ein verstecktes Urteil vollzogen wird: Der Begriff an sich hypostasiert, vor allem Inhalt, seine eigene Form gegenüber den In‑ halten. Damit aber schon das Identitätsprinzip: daß ein Sachverhalt an sich, als Festes, Beständiges, sei, was lediglich denkpraktisch postuliert wird. Identifizierendes Denken vergegenständlicht durch die logische Identität des Begriffs.402

Dergestalt vollzieht der Begriff ein Urteil der Identität, eine Identität, die O’Connor als „de facto Identität“ bezeichnet: „No claim is made with respect to the identity of object and concept, but since concepts alone are explained as the meaning element of the relationship it follows, de facto, that the object is what it is only as articulated through concepts. The object is thereby identical with its concepts, from the point of view of meaning.“403 Die spekulative Iden‑ tität von Subjekt und Objekt ist von dieser de facto Identität grundverschieden, denn sie behauptet explizit die Identität zwischen Vernunft und Wirklichkeit oder Subjekt und Objekt. O’Connor nennt diese Form der Identität „de jure“ Identität.404 Adornos Kritik am identifizierenden Denken muss deshalb, als Kritik an einer de facto Identität, von der Kritik der spekulativen Identität, als Kritik an einer de jure Identität, unterschieden werden.405 Die de facto Identität des Begriffs ist unhintergehbar; ohne sie würde es gar keinen Sinn machen, Begriffe zu verwenden. Wer mit Begriffen über Objekte spricht, unterstellt, auch wenn er nie behauptet, dass seine Begriffe dem Objekt tatsächlich entsprechen, dass seine Begriffe dem Objekt entsprechen, weil dieses nie anders als durch Begriffe bestimmt werden kann. Folglich ist identifizieren‑ des Denken nicht einfach eine mangelhafte Ausübung des Denkens, sondern

1873, KSA 1 [= Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgo Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1988], S.  873–890, hier S.  880 f. 402 Adorno: Negative Dialektik, S.  156 f. Vgl. auch folgende Stelle aus der Metakritik der Erkenntnistheorie: „Die Invarianz des Begriffs, die nicht wäre ohne das Absehen von der zeitlichen Bestimmtheit des unter jenem Befaßten, wird verwechselt mit der Unveränderlich‑ keit des Seins an sich.“ Adorno: Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  25. 403 O’Connor: Adorno’s Negative Dialectic, S.   18; vgl. auch: Jameson: Late Marxism, S.  20 f. 404 O’Connor: Adorno’s Negative Dialectic, S.  18. 405  Es zeigt sich hier, dass Schnädelbachs Vorwurf, Adorno würde „identifizieren als“ (de facto) und „identifizieren mit“ (de jure) in einen Topf werfen, nicht haltbar ist; denn die Dif‑ ferenz zwischen dem identifizierenden Denken und dem Identitätsdenken enthält unter ande‑ rem diese Differenz in sich. Auch Robert B. Pippin übersieht diese Unterscheidung bei Ador‑ no, wenn er ihm vorhält, er hätte „zwischen ‚identifizierendem Denken‘ und ‚Identitätsden‑ ken‘ unterscheiden sollen“. Pippin: „Negative Ethik. Adorno über falsches, beschädigtes, totes, bürgerliches Leben“, S.  94.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

dessen Grundbestimmung: „Denken heißt identifizieren.“406 Daraus folgt: Kri‑ tisches Denken ist nicht als ein zweites, richtiges Denken gegen das identifizie‑ rende konzipiert,407 sondern als die Selbstreflexion des notwendig identifizie‑ renden Denkens zu verstehen. Das meint die Formel: „gegen sich selbst zu den‑ ken“.408 Selbstreflexion ist hier durchaus im Anschluss an Hegel als Dialektik im Sinne der Phänomenologie des Geistes verstanden: als Konfrontation eines Begriffs mit seinem Gegenstand. Wie bei Adorno dreht sich auch bei Hegel die‑ se Konfrontation um das implizite Urteil des Begriffs, mit seinem Gegenstand identisch zu sein. Das Urteil ist problematisch, weil die angebliche Identität so‑ wohl am Begriff wie auch am Gegenstand nicht alle Momente erfasst: Das Urteil ist eine identische Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat; es wird dabei davon abstrahiert, daß das Subjekt noch mehrere Bestimmtheiten hat als die des Prädi‑ kats, sowie davon, daß das Prädikat weiter ist als das Subjekt. Ist nun aber der Inhalt spekulativ, so ist auch das Nichtidentische des Subjekts und Prädikats wesentliches Mo‑ ment, aber dies ist im Urteile nicht ausgedrückt.409

Auch Hegel geht von einer grundlegenden Nichtidentität von Subjekt und Prä‑ dikat im identifizierenden Urteil aus. Nichtidentität ist aber nicht nur Voraus‑ setzung des identifizierenden Urteils, sondern wird für eine bestimmte Klasse von Inhalten – bei Hegel die spekulativen – zu einem wesentlichen Moment; einem Moment, das vom einfachen Urteil nicht ausgedrückt werden kann. Adornos Kritik am identifizierenden Denken folgt dieser Struktur: Für eine bestimmte Klasse von Inhalten ist der identifizierende Begriff mit seinem impli‑ ziten Identitätsurteil unzureichend und diese Unzulänglichkeit drängt zur Kri‑ tik, zu dialektischer Kritik des identifizierenden Begriffs. Adorno geht es kei‑ neswegs darum, begriffliches, und das heißt: identifizierendes Denken als an sich selbst unzulänglich zu kritisieren; wie Hegel kritisiert er nicht das identifi‑ zierende Urteil an sich, sondern die unkritische Anwendung dieser Urteilsform auf eine ihr nicht adäquate Klasse von Inhalten. Die emphatische Kritik an Hegels Identitätsbegriff täuscht darüber hinweg, wie sehr Adorno in der Kritik des identifizierenden Denkens Hegel verpflichtet bleibt: Adorno geht weder in der Struktur noch in der Vehemenz über die von Hegel formulierte Kritik hinaus. Es dürfte schwierig sein, bei Adorno eine strengere Verurteilung des identifizierenden Denkens zu finden, als Hegel sie in seiner Kritik des Formalismus vorbringt.410 Auch die strukturellen Gemein‑ 406 Adorno:

Negative Dialektik, S.  17. Theunissen scheint eine solche Dualität von gutem und schlechtem Denken zu postu‑ lieren: „Ist das identifizierende Denken schlechte Herrschaft über das Ohnmächtige, so das kritische die gute Macht des Widerstands gegen das übermächtige Unmittelbare.“ Theunis‑ sen: „Negativität bei Adorno“, S.  4 4. 408 Adorno: Negative Dialektik, S.  144. 409 Hegel: Logik I, S.  93. 410 Hegel: Phänomenologie, S.  50. 407 

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4. Nichtidentität

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samkeiten reichen tief: Bei Hegel und Adorno steht die Kritik am identifizieren‑ den Denken gleichermaßen im Dienst inhaltlicher Erkenntnis, der Erkenntnis eben gerade des Nichtidentischen, das sich dem identifizierenden Denken ent‑ zieht. Diese Erkenntnis kann aber nur eine dialektische sein: „Dialektisch ist Erkenntnis des Nichtidentischen auch darin, daß gerade sie, mehr und anders als das Identitätsdenken, identifiziert. Sie will sagen, was etwas sei, während das Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Reprä‑ sentant, was es also nicht selbst ist.“411 Hegel und Adorno konzipieren dialekti‑ sche Erkenntnis als Konfrontation des Begriffs mit dem Gegenstand, so dass die Nichtidentität beider dazu nötigt, über das einzelne identifizierende Urteil hin‑ auszugehen. Weder in dieser Struktur, noch in ihrem Ziel, der Identifikation des Gegenstandes, der Sache selbst, unterscheidet sich Adornos Kritik von ihrem hegelschen Vorbild. Die Trennlinie zu Hegel wird vielmehr in den Vorausset‑ zungen dieser Kritik gezogen. Hegels Voraussetzung bestimmt Adorno als die spekulative Identität von Subjekt und Objekt: „Hegels inhaltliches Philosophie‑ ren hatte zum Fundament und Resultat den Primat des Subjekts oder, nach der berühmten Formulierung aus der Eingangsbetrachtung der Logik, die Identität von Identität und Nichtidentität.“412 Die Differenz zu Hegel ist dabei als eine der Gewichtung zu verstehen. Zunächst ist auch in der Dialektik Hegels das Nichtidentische – zumindest bei spekulativen Inhalten – das Wesentliche. Die Differenz zu Hegel macht Adorno daran fest, dass bei Hegel das Nichtidenti‑ sche schlussendlich doch nicht so wesentlich ist, dass es dem hegelschen Den‑ ken, wie er sagt, „mit dem Nichtidentischen, also mit all dem an unserer Erfah‑ rung, was eigentlich nicht Geist ist, doch nicht ganz ernst ist“.413 Das Nich‑ tidentische ist zwar wesentlich, aber wie das Verschwindende ist es nicht wesentlich für sich, sondern wesentlich für anderes, die Identität: „Bei allem Nachdruck auf Negativität, Entzweiung, Nichtidentität kennt Hegel deren Di‑ mension eigentlich nur um der Identität willen, nur als deren Instrument.“414 Spekulative Inhalte zeichnen sich gerade dadurch aus, dass in ihnen die Nich‑ tidentität ihrer Momente innerhalb einer umfassenderen Einheit gedacht wird.415 In negativer Dialektik dagegen soll das Nichtidentische um seiner selbst willen Gegenstand der philosophischen Erkenntnis werden. Der Primat der Identität ist bei Hegel bereits in der abstrakten Formel von der „Identität der Identität und Nichtidentität“416 enthalten, auf die Adorno ebenso abstrakt antwortet: „Ihr wäre zunächst die Nichtidentität in der Identität zu

411 Adorno:

Negative Dialektik, S.  152. Ebd., S.  19. 413 Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  124. 414  Adorno: „Skoteinos oder Wie zu lesen sei“, S.  375. 415  Vgl. etwa die erste Anmerkung zur affirmativen Unendlichkeit. Hegel: Logik I, S.  168. 416  Ebd., S.  74. 412 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

kontrastieren.“417 Die Differenz zu Hegel liegt somit, abstrakt, nicht im Gedan‑ ken einer Dialektik von Nichtidentität und Identität; auch bei Adorno ist Nich‑ tidentität immer durch Identität vermittelt, wie bereits der Begriff „Nicht-Iden‑ tität“ ausdrückt. Die Differenz liegt vielmehr in der übergreifenden Einheit dieser dialektischen Struktur von Identität und Nichtidentität. Bei Hegel ist diese Einheit als Identität gedacht, bei Adorno als Nichtidentität, wenn auch Nichtidentität als übergreifende Einheit ein in sich inkonsistenter Gedanke ist. Denn die Nichtidentität in der Beziehung von Identität und Nichtidentität be‑ zeichnet eben gerade keine Einheit, sondern eine unaufhebbare Differenz, eine Differenz aber, die nicht Gleichgültigkeit von Identität und Nichtidentität ge‑ geneinander ausdrückt, sondern ihren Widerspruch. Die Einheit von Identität und Nichtidentität in negativer Dialektik ist deshalb eine Einheit des Wider‑ spruchs; in hegelscher Dialektik ist sie eine der Versöhnung. So wird Nichtiden‑ tität nicht auf der Ebene des einzelnen Urteils, sondern erst auf der Ebene des Ganzen zum Zankapfel. Die abstrakte Formel Hegels ist bereits eine Definition seines Systems, die – wenn das Absolute einfache Definitionen zuließe – „erste, reinste, d. i. abstrakteste Definition des Absoluten“.418 Die Formel bedeutet auch, dass im Absoluten der Widerspruch zwischen Identität und Nichtidenti‑ tät in einer höheren Identität aufgehoben wird, dass im Geist das Nichtidenti‑ sche aufgeht. Dieses Aufgehen impliziert für Adorno die Identität von Denken und Sein und deshalb nennt er die hegelsche Philosophie, mit einem Ausdruck, den er selbst als „ganz roh und ganz primitiv“ bezeichnet, „Geistesmetaphysik. Der Geist ist in ihr das Absolute. Alles, was überhaupt ist, erweist sich schließ‑ lich doch als eine Bestimmung des Geistes.“419 Adorno ist sich bewusst, in welchem Maße dieses Urteil eine Verkürzung darstellt. Bevor an dieser Stelle von hegelscher Warte gegen Adorno durchaus berechtigte Differenzierungen, entweder der Rede von der Identität von Den‑ ken und Sein oder der Bestimmung des Geistes, vorgebracht werden, ist die abstrakte Struktur festzuhalten, gegen die Adorno sich ungeachtet ihrer mögli‑ chen Konkretisierungen wendet. Sie besteht im Gedanken, dass zwischen Welt und Geist eine Versöhnung hergestellt werden kann, dass das Denken der Welt zu entsprechen vermag, kurz im Gedanken, dass die Welt an sich vernünftig ist. Hegel selbst spricht diesen Gedanken als Voraussetzung seiner Philosophie in der Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte ziemlich unverblümt aus: „Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei.“420 Derselbe Ge‑ 417 Adorno:

Negative Dialektik, S.  157. Logik I, S.  74. 419 Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  123. 420 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, TWA 12, S.  20; vgl. die Paral‑ lelstelle in der von Adorno benutzten Textausgabe: Hegel, G.W.F.: Die Vernunft in der Ge418 Hegel:

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4. Nichtidentität

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danke ist in dem berüchtigten Zweizeiler aus der Vorrede der Rechtsphiloso‑ phie – „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist ver‑ nünftig.“421 – ausgesprochen. Gegen die Trivialisierung dieser Sentenz, nach der alles was existiert, schon vernünftig ist, weil es halt da ist, hat sich bereits Hegel selbst gewehrt.422 Wirklich ist für Hegel nicht diese oder jene empirische Exis‑ tenz, sondern vielmehr die Idee, die sich in dieser oder jener empirischen Exis‑ tenz – wie unvollständig auch immer – realisieren mag. Wie Stekeler-Weithofer betont, geht es dabei „nicht um kontingente Fakten, sondern um jeweils aner‑ kannte und institutionelle Formen der humanen Welt und um faktisch aner‑ kannte Standards vernünftigen Urteilens in diesen oder über diese Institutio‑ nen“.423 Dass das Wirkliche vernünftig ist, heißt demnach, dass den Institutio‑ nen und Praktiken der empirischen Welt, die noch nicht in vollem Maße vernünftig sind, doch ein vernünftiger Kern zugrunde liegt. Die Welt ist ver‑ nünftig, aber sie ist erst an sich vernünftig. Vorgedacht findet Hegel diesen Gedanken zum ersten Mal bei Anaxagoras, auf den er sich an verschiedenen Stellen seines Werks beruft.424 Wichtig ist fol‑ gende Stelle aus der Wissenschaft der Logik: Anaxagoras wird als derjenige gepriesen, der zuerst den Gedanken ausgesprochen habe, daß der Nus, der Gedanke, das Prinzip der Welt, daß das Wesen der Welt als der Gedan‑ ke zu bestimmen ist. Er hat damit den Grund zu einer Intellektualansicht des Univer‑ sums gelegt, deren reine Gestalt die Logik sein muß. Es ist in ihr nicht um ein Denken über etwas, das für sich außer dem Denken zugrunde läge, zu tun, um Formen, welche bloße Merkmale der Wahrheit abgeben sollten; sondern die notwendigen Formen und eigenen Bestimmungen des Denkens sind der Inhalt und die höchste Wahrheit selbst.425

Ein solches Denken ist nicht Denken über ein dem Denken Äußerliches, son‑ dern es ist ein sich in sich entwickelnder Gedanke, der nicht subjektiver, son‑ dern objektiver Gedanke ist: „Hierbei müssen wir uns nicht den subjektiven Gedanken vorstellen; wir denken beim Denken sogleich an unser Denken, wie es im Bewußtsein ist. Hier ist dagegen der ganz objektive Gedanke gemeint, das Allgemeine, der tätige Verstand; wie wir sagen, es ist Verstand, Vernunft in der Welt.“426 Hegel nennt deshalb diese Gedanken, die Formen der Logik, auch schichte, hg. von Johannes Hoffmeister, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 1, Hamburg 51955, S.  28; und eine ähnliche Stelle in: ders.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, TWA 10, S.  347 f., §  549 A (= Enzyklopädie III). 421 Hegel: Rechtsphilosophie, S.  24. 422  Vgl. Hegel: Enzyklopädie I, S.  47, §  6 A. 423 Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewußtseins, S.  297. 424  Vgl. Hegel: Phänomenologie, S.  5 4; ders.: Logik I, S.  4 4; ders.: Enzyklopädie III, S.  45 f., §  389 Z.; eine ausführliche Behandlung der Philosophie des Anaxagoras findet sich in den Vorlesungen zur Philosophiegeschichte: ders.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, TWA 18, S.  369 ff. 425 Hegel: Logik I, S.  4 4. 426 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S.  369.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

„objektive Gedanken“: 427 ein Ausdruck, der nichts anderes besagt, als dass Ver‑ nunft in der Welt ist, wie Hegel in der Anmerkung verdeutlicht: „Daß Verstand, Vernunft in der Welt ist, sagt dasselbe, was der Ausdruck ‚objektiver Gedanke‘ enthält.“428 Deshalb fällt für Hegel die Logik, als Wissenschaft der objektiven Gedanken mit der Metaphysik, „der Wissenschaft der Dinge in Gedanken ge‑ fasst“,429 zusammen. Voraussetzung der hegelschen Philosophie ist also: Das Wesen der Welt ist Gedanke und die Welt ist an sich vernünftig. Dass sie an sich vernünftig ist, ist streng im Sinne der hegelschen Terminologie zu verstehen: Sie ist bloß an sich vernünftig und nicht an und für sich vernünftig. Das Geschäft der Philosophie, ihr höchster Endzweck, ist es, diese an sich vernünftige Welt zur Erkenntnis ihrer Selbst zu bringen oder, wie Hegel es ausdrückt: „durch die Erkenntnis dieser Übereinstimmung die Versöhnung der selbstbewußten Ver‑ nunft mit der seienden Vernunft, mit der Wirklichkeit hervorzubringen“.430 Hegel unterscheidet zwei Momente im Vernunftbegriff: die bereits existierende Vernunft der Wirklichkeit und die selbstbewusste Vernunft, nämlich die Philo‑ sophie. Versöhnung heißt also nicht, dass die Wirklichkeit vernünftig wird, sondern dass die an sich vernünftige Wirklichkeit in der Philosophie selbstbe‑ wusst wird und sich als bereits vernünftige erkennt. Mithin ist die These von der Vernünftigkeit des Wirklichen die Grundlage der Versöhnung; erst sie gibt überhaupt die Möglichkeit einer vernünftigen Einrichtung der Welt, eines ge‑ schichtlichen Prozess, der zu seinem Ziel die vernünftige Welt hat, frei. Unge‑ achtet der Frage, ob der Geist metaphysisch verstanden wird, als säkularisierte Gottheit, oder, weniger mystifizierend, als im Prozess der Geschichte sich rea‑ lisierende Vernunft – die Formel der Identität der Identität und Nichtidentität und damit die These, dass die Wirklichkeit an sich vernünftig ist und dass diese Vernunft die Kraft zu ihrer Realisierung hat, ist die Voraussetzung des hegel‑ schen Programms. Die Kritik an der spekulativen Identität, mit der sich Adorno so vehement gegen Hegel abgrenzt, läuft demnach auf die Kritik an der These von der Ver‑ nünftigkeit der Wirklichkeit hinaus. Adorno kritisiert nicht bloß die vollzogene Versöhnung als ideologisch, sondern richtet sich schon gegen die Möglichkeit dieser Versöhnung: den Gedanken der Vernünftigkeit des Wirklichen. Die For‑ mel von der Nichtidentität der Identität und Nichtidentität besagt nichts ande‑ res, als dass die Wirklichkeit nicht einmal an sich vernünftig, sondern der Ver‑ nunft wesenhaft fremd ist, wie Adorno in der Hegelstudie „Erfahrungsgehalt“ sagt: „Ohnmächtig wird die Vernunft, das Wirkliche zu begreifen, nicht bloß um der eigenen Ohnmacht willen, sondern weil das Wirkliche nicht die Ver‑ 427 Hegel:

Enzyklopädie I, S.  80 f., §  24. Ebd., S.  81, §  24 A. 429  Ebd., S.  81, §  24. 430  Ebd., S.  47. 428 

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nunft ist.“431 Diese der hegelschen These abstrakt entgegengesetzte Grundan‑ nahme von der Nichtidentität von Vernunft und Wirklichkeit rückt Adorno in die Nähe von Nietzsche; dennoch bleibt Adornos Position hegelianisch moti‑ viert, da er am Fluchtpunkt einer vernünftigen Einrichtung der Welt festhält. Adornos Gewährsmann ist deshalb nicht Nietzsche, sondern Marx. Dessen Denken hält an der Möglichkeit der Versöhnung fest, macht jedoch die Nich‑ tidentität zum entscheidenden Moment. So hebt Adorno als zentrales Moment der marxschen Dialektik hervor, daß die Welt, mit der wir es zu tun haben, und die Welt, mit der bis heute die Menschheit überhaupt es zu tun gehabt hat, eine in sich widerspruchsvolle Welt ist, und daß jene Identität, die der spekulative Begriff bei Hegel behauptet gewissermaßen in der Tasche zu haben und die in der Totalität des Systems aufgesucht wird, daß die überhaupt eine erst herzustellende sei, das heißt, daß die Herstellung einer widerspruchslosen Verfas‑ sung der Wirklichkeit eine Sache der menschlichen Praxis ist und nicht eine Sache der Philosophie.432

So ist die von Adorno behauptete Nichtidentität von Wirklichkeit und Vernunft nicht eine ontologische Nichtidentität, mithin nicht eine Nichtidentität, die in der Verfassung der menschlichen Vernunft liegt, sondern eine Nichtidentität, die der gesellschaftlichen Einrichtung der Welt geschuldet ist. Die Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit bleibt als Möglichkeit bestehen. Der teleologische Vernunftgedanke Hegels überlebt in negativer Dialektik, indem er in die geschichtliche Wirklichkeit verlagert wird. So markiert die Kri‑ tik an der These von der Identität von Identität und Nichtidentität weniger eine formale, sondern eher eine geschichtsphilosophische Differenz zu Hegel. An‑ gehrn sieht an dieser Stelle eine „theologische[n] Differenz“ am Werk, die sich in der Frage artikuliert, „ob die Erlösung vollzogen oder die Ankunft des Mes‑ sias noch ausstehend ist“; 433 das jedoch impliziert eine erlösungsphilosophische Lektüre der negativen Dialektik, die gerade die materialistischen Implikationen der Differenz verdeckt. Die Differenz kreist zweifellos um die Frage nach der Versöhnung, ob diese schon in Grundzügen erfolgt ist, oder erst noch aussteht; aber Versöhnung ist bei Adorno nicht messianisch, sondern materialistisch ge‑ dacht; sie wird nicht durch den Messias bewirkt, sondern durch eine vernünfti‑ ge Praxis. Eine in diesem Sinne geschichtsphilosophische Differenz hat freilich auch systematische Implikationen. Wenn die Versöhnung auch in Grundzügen erst noch bewirkt werden muss, so kann die Identität von Subjekt und Objekt nicht vorausgesetzt werden. Man könnte sagen: Adornos systematische Kritik, formuliert in der These von der Nichtidentität von Identität und Nichtidentität, gilt; aber sie gilt nur für den geschichtlichen Augenblick und ist in der ge‑ 431 

Adorno: „Erfahrungsgehalt“, S.  323. Einführung in die Dialektik, S.  125. 433  Angehrn: „Kritik und Versöhnung“, S.  287. 432 Adorno:

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

schichtsphilosophischen Perspektive nicht gegen die hegelsche Idee der Versöh‑ nung gerichtet, sondern steht in deren Dienst. Negative Dialektik hält an der Nichtidentität von Vernunft und Wirklichkeit fest, weil sie die Möglichkeit of‑ fen halten will, dass die Wirklichkeit vernünftig werden kann. Wie aber Ador‑ nos Kritik an Hegels Konzept spekulativer Identität erst in seiner Kritik der hegelschen Geschichtsphilosophie vollends zur Geltung kommt, so kann über die Triftigkeit seiner Kritik erst im dritten Kapitel, das auf Adornos Auseinan‑ dersetzung mit der hegelschen Geschichtsphilosophie zurückgreift, entschie‑ den werden. An dieser Stelle möchte ich mich damit begnügen, die Folgen der Kritik der spekulativen Identität für das Konzept einer negativen Dialektik zu skizzieren. Zum einen manifestieren sich diese Folgen in Momenten, die über die formale Struktur negativer Dialektik hinausweisen und deshalb erst in späteren Kapi‑ teln greifbar werden. Neben der bereits angesprochenen Frage nach der Ver‑ nunft in der Geschichte betreffen diese Momente vor allem das erkenntnistheo‑ retische und das metaphysische Programm Adornos. In der erkenntnistheoreti‑ schen Sphäre ist Hegel durch die spekulative Identität die inhaltliche Erkenntnis des Objekts verbürgt. Adorno verliert die Möglichkeit emphatischer Erkennt‑ nis scheinbar mit seiner Kritik an der spekulativen Identität; im zweiten Kapitel möchte ich zeigen, wie Adorno jenseits spekulativer Identität an einer emphati‑ schen Form der Erkenntnis, an inhaltlicher Erfahrung, festhält. Auf dem Gebiet der Metaphysik liegt die Bedeutung der spekulativen Identität darin, dass durch sie die Logik zur eigentlichen Metaphysik wird. Adorno verliert diesen Zusam‑ menhang und Metaphysik wird bei ihm angesichts der Metaphysikkritik Kants zu einem von Beginn weg problematischen Unterfangen, wie im dritten Kapitel weiter ausgeführt wird. Neben diesen über die Struktur negativer Dialektik hi‑ nausweisenden Momenten gibt es auch im engeren Sinne strukturelle Folgen der Kritik an der spekulativen Identität; in den bis hier verfolgten Verschiebun‑ gen der Strukturbegriffe negativer Dialektik haben sie sich bereits gezeigt. Im Umfeld des Nichtidentischen zeigt sich diese Verschiebung zunächst an der Differenz von identifizierendem Denken und spekulativer Identität. Da das Nichtidentische sowohl im identifizierenden Denken wie auch in der Kritik der spekulativen Identität eine zentrale Rolle spielt, ist anzunehmen, dass sich die Differenz von identifizierendem Denken und spekulativer Identität auch im Begriff des Nichtidentischen als eine jeweils spezifische Gewichtung des Begriffs manifestiert. Ich möchte mich dem schillernden Begriff des Nich‑ tidentischen deshalb von der Differenz von identifizierendem Denken und spe‑ kulativer Identität her nähern. In beiden Dimensionen bezeichnet das Nich‑ tidentische einen Einspruch gegen die jeweils zur Kritik stehende Form der Identität; in der Kritik des identifizierenden Denkens gegen die de facto Identi‑ tät des Begriffs und in der Kritik der spekulativen Identität gegen die de jure Identität von Subjekt und Objekt. Die Trennung dieser beiden Identitäts- und

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4. Nichtidentität

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damit auch Nichtidentitätsbegriffe darf nicht über ihre Verbindung hinwegtäu‑ schen. Ritsert, der in seinem Text über das Nichtidentische sechs Hauptdimen‑ sionen des Nichtidentischen unterscheidet, rechnet sowohl das Problem identi‑ fizierenden Denkens wie auch das Problem spekulativer Identität der ersten Hauptdimension des Nichtidentischen zu. Er sieht das Nichtidentische hier als Einspruch gegen den „Inklusionsmythos“, wie er nicht nur in der hegelschen Philosophie am Werke ist, sondern in neuerer Zeit auch „in der Form des Sprachspielimperialismus“.434 Thomä hat auf ein in diesem Zusammenhang be‑ deutendes Protokoll einer Diskussion von Horkheimer und Adorno hingewie‑ sen,435 in der es um den für Adorno so wichtigen „Sprung aus der Logik in die Realität“ geht. Adorno meint: „Nur wenn wir zeigen können, daß der Sinn der Bewußtseinskategorien notwendig auf ein über das Bewußtsein Hinausgehen‑ des verweist, können wir wirklich den Idealismus überwinden anstatt ihm dog‑ matisch den Materialismus bloß entgegenzusetzen.“436 In diesem Anspruch kommen Kritik der spekulativen Identität und Kritik des identifizierenden Denkens zusammen. Beide sind auf den Nachweis angewiesen, dass der Inklu‑ sionsmythos falsch ist, dass es jenseits der Bewusstseinskategorien und der Be‑ griffe etwas gibt, auf das sich diese Begriffe beziehen, und dass die Welt mit dem Denken nicht vollends identisch ist. Ritsert nennt dies „das Problem der Refe‑ renz, also des Bezugs von Empfindungen, Wahrnehmungen, Denk- und Sprach‑ mustern auf Sachverhalte ‚draußen in der Welt‘, die mit Operationen und Kom‑ petenzen des Machens und des Ausdrückens von äußeren Erfahrungen nicht identisch sind“.437 Trotz dieser Gemeinsamkeiten möchte ich im Folgenden das Nichtidentische als Moment der Hegelkritik von seiner Funktion in der Kritik identifizierenden Denkens unterscheiden, da beide, wenn sie auch im Problem der Referenz zusammenkommen, letztlich auf verschiedene Dinge zielen: In der Hegelkritik dient das Nichtidentische dem Einspruch gegen die hegelsche Philosophie, gegen die These von der Vernünftigkeit des Wirklichen und gegen das Konzept einer idealistischen Dialektik – zugleich ist es damit ein zentraler Strukturbegriff negativer Dialektik; in der Kritik des identifizierenden Den‑ kens dagegen dient das Nichtidentische einer Kritik des falschen Gebrauchs von

434  Ritsert, Jürgen: „Das Nichtidentische bei Adorno – Substanz- oder Problembegriff?“, Zeitschrift für kritische Theorie, 3. Jg./H. 4 (1997), S.  29–51, hier S.  31 (= Das Nichtidentische). 435  Vgl. Thomä, Dieter: „Verhältnis zur Ontologie. Adornos Denken des Unbegrifflichen“, in: Honneth, Axel und Menke, Christoph (Hgg.): Negative Dialektik, Berlin 2006, S.  29–48, hier S.  36. 436  Adorno, Theodor W. und Horkheimer, Max: „Rettung der Aufklärung. Diskussionen über eine geplante Schrift zur Dialektik“, in: Horkheimer, Max: Nachgelassene Schriften 1931–1949. Vorträge und Aufsätze, Memoranden, Versuche, Diskussionsprotokolle, hg. von Gunzelin Schmid Noerr, Gesammelte Schriften, Bd. 12, Frankfurt a. M. 1985, S.  587–605, hier S.  604. 437  Ritsert: „Das Nichtidentische“, S.  32.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Begriffen und zugleich – weil dieser Gebrauch eng mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zusammenhängt – der Kritik der Gesellschaft. Ich möchte diesen Unterschied an einer Unterscheidung festmachen, die Rits‑ ert seinem Ansatz zugrunde legt. Er unterscheidet das Nichtidentische als Problembegriff vom Nichtidentischen als Substanzbegriff. Als Substanzbegriff wäre das Nichtidentische ein Begriff mit bestimmbarem Substrat, nach Ritsert „eine typisch deutsche Antwort auf die Frage der Metaphysik: ‚Was kann ich wissen?‘“.438 Gegen diese Interpretation setzt sich Ritsert mit seiner These ab, das Nichtidentische sei primär ein Problembegriff ohne bestimmbares Substrat: „Es stellt einen zusammenfassenden Ausdruck für eine komplexe Fülle philoso‑ phischer und soziologischer Probleme dar.“439 Dennoch streitet Ritsert dem Nichtidentischen eine substantielle Dimension nicht schlechthin ab: „Das Nichtidentische bedeutet allenfalls in Grenzen einen Substanzbegriff, und die Ontologie des Nichtidentischen bekommt es bestenfalls mit einem engen Teil‑ bereich dieses vielschichtigen Problems zu tun.“440 Ich möchte die beiden Grunddimensionen des Nichtidentischen weniger scharf trennen und zeigen, dass das Nichtidentische primär Substanzbegriff ist und als Substanzbegriff auch einen Problembegriff in Ritserts Sinn darstellt. Die Funktion des Nich‑ tidentischen in der Hegelkritik und in der Formulierung einer negativen Dia‑ lektik ist von seiner Substanzdimension nicht zu trennen. Als Substrat des Nichtidentischen wird in der Negativen Dialektik sowohl die Materie als auch das Absolute angegeben. Die Stellung des Nichtidentischen in der Kritik des identifizierenden Denkens dagegen ist von seiner Substanzdimension weitge‑ hend unabhängig, denn hier bezeichnet es das, was im identifizierenden Ge‑ brauch emphatischer Begriffe verloren geht, und ist damit Vehikel einer umfas‑ senden Begriff- und Gesellschaftskritik, in der es nicht an bestimmte Substrate gebunden ist. Im Folgenden möchte ich zunächst anhand Adornos Begriff des Begriffs auf die Rolle des Nichtidentischen in der Kritik identifizierenden Den‑ kens eingehen; danach soll das Nichtidentische als Substanzbegriff behandelt werden.

II.  Adornos Begriff des Begriffs In Adornos Kritik philosophischer Begriffe ist der Terminus „Begriff“ mehr‑ deutig. Die verschiedenen Begriffsarten werden von Adorno nicht explizit ge‑ geneinander abgegrenzt. Um die Problematik in den Griff zu bekommen, möchte ich dennoch begriffliche Schneisen durch Adornos Begriff des Begriffs schlagen und die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs zunächst voneinan‑ 438 

Ebd., S.  29. Ebd., S.  30. 440 Ebd. 439 

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4. Nichtidentität

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der trennen. Dabei möchte ich zwei verschiedene Begriffe voneinander abgren‑ zen: 1) den klassifikatorischen Begriff; 2) den emphatischen oder nachdrückli‑ chen Begriff. Von diesem Unterschied her lassen sich Umfang und Tragweite der Kritik des identifizierenden Denkens bestimmen. a.  Klassifikatorischer und emphatischer Begriff Im Anschluss an die Behandlung der hegelschen Kritik des identifizierenden Denkens wurde festgestellt, dass sowohl für Hegel als auch für Adorno das dem Begriff implizite Identitätsurteil nur für eine bestimmte Klasse von Inhalten problematisch wird. Hegel hat diese Inhalte als spekulative Inhalte bestimmt. Von Adorno wird die Differenzierung dieser Inhalte nicht explizit vollzogen, sondern erfolgt indirekt über eine Differenzierung verschiedener Formen des Begriffs: Das Moment der Nichtidentität in dem identifizierenden Urteil ist insofern umstandslos einsichtig, als jeder einzelne unter eine Klasse subsumierte Gegenstand Bestimmungen hat, die in der Definition seiner Klasse nicht enthalten sind. Beim nachdrücklicheren Begriff, der nicht einfach Merkmaleinheit der einzelnen Gegenstände ist, von denen er abgezogen ward, gilt indessen zugleich das Entgegengesetzte.441

Explizit wird hier zwischen einem Begriff, der bloße Merkmaleinheit der Ge‑ genstände ist, von denen er abgezogen wurde, also einem, wie ich ihn nennen möchte, klassifikatorischen Begriff und einem nachdrücklicheren oder empha‑ tischen Begriff unterschieden. In den beiden Begriffsklassen besitzt das Moment der Nichtidentität ein jeweils anderes Gewicht. Im klassifikatorischen Begriff spielt das Moment der Nichtidentität keine gewichtige Rolle; da es umstandslos einsichtig ist, ist die Problematik des identifizierenden Begriffs beim klassifika‑ torischen Begriff vernachlässigbar. Das ist besonders gegen die nicht selten vor‑ gebrachte Kritik zu betonen, Adorno sei in seiner Kritik des identifizierenden Denkens zu radikal, weil sich von seiner Position aus ein nicht identifizierendes Denken nicht mehr denken lasse.442 Tatsächlich ist nach Adorno jedes Denken identifizierend, weil es Begriffe benutzt; aber diese Identifikation steht nur bei bestimmten Begriffen zur Kritik. Adorno totalisiert zwar den Identifikations‑ zwang, jedoch nicht die Kritik desselben. Die Kritik betrifft nur diejenigen Be‑ griffe, die Adorno die nachdrücklicheren, an anderen Stellen: die emphatischen Begriffe nennt.443 Um über den Stellenwert dieser Kritik zu befinden, reicht es 441 Adorno:

Negative Dialektik, S.  153. Vgl. Wellmer: „Anwalt des Nicht-Identischen“, S.  155 f.; Rentsch: „Vermittlung“, S.  94; Sandkaulen: „Adornos Ding an sich“, S.  398 f. 443  Vgl. Adorno: Minima Moralia, S.  291; ders.: Negative Dialektik, S.  298; ders.: Ästhetische Theorie, GS 7, S.  10, S.  280, S.  399; ders.: „Gesellschaft“, GS 8, S.  9 –19, hier S.  10; ders.: „Zur Logik der Sozialwissenschaften“, S.  565; ders.: „Wozu noch Philosophie?“, S.  461; ders.: „Philosophie und Lehrer“, GS 10.2, S.  474–494, hier S.  492; ders.: „Meinung Wahn Gesell‑ 442 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

deshalb nicht, sie einfach als Kritik identifizierender Begriffe zu nehmen, son‑ dern sie muss als Kritik identifizierender emphatischer Begriffe verstanden wer‑ den. Die Tragweite der Kritik des identifizierenden Denkens wird bestimmt durch die Frage, was den emphatischen Begriff ausmacht. Um diesen Begriff, von dem Adorno keine explizite Definition gibt, zu erschließen, möchte ich ein doppeltes Verfahren anwenden. Zunächst möchte ich ein Vorverständnis des emphatischen Begriffs anhand der von Adorno so bezeichneten Begriffe erar‑ beiten. Dieses induktiv gewonnene Vorverständnis lässt sich im Rückgriff auf die Frühschrift „Thesen über die Sprache des Philosophen“ präzisieren. Als emphatischen Begriff bestimmt Adorno in der Negativen Dialektik den der Freiheit. Die Grundbestimmung des emphatischen Begriffs erschließt sich jedoch, so mein Eindruck, am deutlichsten an folgender Stelle aus der Einleitung in die Musiksoziologie: Von der autonomen Kunstsprache der Musik ist im Geist der Zeit eine kommunikative übrig. [. . .] Sie ist der Rest, der von der Kunst bleibt, wenn das Moment der Kunst an ihr einmal zerging. [. . .] Man kann die Funktion von Musik nach dem gesellschaftlichen Verlust dessen, was sie zu großer Musik prägte, nur dann recht verstehen, wenn man sich nicht verschweigt, daß sie in ihrem emphatischen Begriff nie ganz aufging. Stets gesellte ihr das Außerkünstlerische des Wirkungszusammenhangs sich zu.444

Ohne näher auf den konkreten Gehalt der Stelle einzugehen, lässt sich ihr etwas über die formalen Bestimmungen des emphatischen Begriffs entnehmen. Der emphatische Begriff enthält implizit ein normatives Moment: hier das der Auto‑ nomie. Der emphatische Begriff von Musik bezeichnet Musik als autonome Kunstsprache. Weil aber in die Musik stets das außerkünstlerische Moment des gesellschaftlichen Wirkungszusammenhangs hineinwirkt, entspricht Musik nie ganz ihrem emphatischen Begriff. Seel bezeichnet aufgrund dieses normativen Moments im Begriff die emphatischen Begriffe als „dezidiert normative Begrif‑ fe“.445 In ihnen ist immer eine Norm enthalten, an denen das konkrete Phäno‑ men sich zu messen hat. So auch im Begriff der Freiheit, an dessen Beispiel Adorno in der Negativen Dialektik den emphatischen Begriff erläutert. Er be‑ nutzt dort den Begriff der Freiheit bezogen auf das Urteil, „jemand sei ein freier Mann“.446 Ich schließe im Folgenden an die klarer formulierten Ausführungen zum selben Beispiel in der Einführung in die Dialektik an, in denen Adorno vom Begriff des Menschen ausgeht und dadurch das Verhältnis von klassifika‑ torischem und emphatischem Begriff deutlicher hervortritt als in der Negativen Dialektik. schaft“, GS 10.2, S.  573–594, hier S.  575; ders.: „Der Essay als Form“, S.  29; ders.: Einleitung in die Musiksoziologie, S.  220; ders.: „Rede beim Empfang anläßlich des 15. Deutschen Soziolo‑ gentages“, GS 20.2, S.  703–707, hier S.  705. 444 Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie, S.  2 20. 445  Seel: „Anerkennende Erkenntnis“, S.  56. 446 Adorno: Negative Dialektik, S.  153.

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4. Nichtidentität

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Adorno beginnt mit dem Satz: „X ist ein Mensch“.447 Zunächst ist dieser Satz, wie Adorno hervorhebt, ein richtiger Satz, wenn X tatsächlich der Gattung Mensch angehört. Hier aber ist der Begriff „Mensch“ noch als klassifikatori‑ scher Begriff verwendet. Die Subsumtion von X unter die Gattung Mensch ist unproblematisch, solange wir „Mensch“ als bloß klassifikatorischen Begriff ge‑ brauchen. Das bedeutet: Klassifikatorischer und emphatischer Begriff sind nicht zwei verschiedene Arten von Begriffen, sondern bezeichnen zwei ver‑ schiedene Aspekte und damit auch zwei verschiedene Gebrauchsarten dessel‑ ben Begriffs. Zwar ist nicht jeder klassifikatorische Begriff auch ein emphati‑ scher Begriff, aber von jedem emphatischen Begriff kann auch bloß ein klassifi‑ katorischer Gebrauch gemacht werden, nämlich dann, wenn er bloß der Subsumtion dient. Zugleich kann dieser Begriff aber auch anders, eben nach‑ drücklich, mithin implizit normativ verwendet werden. Im Begriff des Men‑ schen sind dann nach Adorno „Kategorien wie Freiheit, wie Individuation, Au‑ tonomie, Vernunftbestimmtheit“ mitgedacht, und zwar „implizit als dessen objektive Bestimmungen“.448 Denkt man nun diesen Begriff des Menschen emphatisch, so nimmt der Satz: „X ist ein Mensch“, problematische Züge an, die er in bloß klassifikatorischer Verwendung des Begriffs nicht aufwies. Der Satz ist dann zugleich wahr, denn X gehört der Gattung Mensch an, wie auch un‑ wahr, weil X nicht frei ist, weil X kein Individuum ist, weil X nicht autonom und vernunftbestimmt handelt. So liegt im emphatischen Begriff des Menschen ein normatives Moment, hinter dem das X, das darunter subsumiert werden soll, notwendig zurückbleibt. Notwendig hier, weil Adorno diese Nichtidenti‑ tät zwischen X und dem emphatischen Begriff des Menschen nicht dem X als persönlichen Fehler anlastet oder als anthropologischen Mangel bestimmt, son‑ dern diese Nichtidentität als konstitutives Merkmal des emphatischen Begriffs in der gegenwärtigen Gesellschaft versteht: „Man könnte beinahe sagen, daß es so etwas wie Mensch noch gar nicht gibt, so wie der Begriff des Menschen es von sich aus, objektiv eigentlich begreift.“449 So ist im emphatischen Begriff zu‑ gleich ein utopisches Moment enthalten: Seine Verwirklichung, mithin seine Identität mit seinem Gegenstand ist erst einer veränderten Wirklichkeit vorbe‑ halten.450 Die Problematik des identifizierenden Denkens liegt in diesem Bei‑ spiel darin, dass einem real existierenden Menschen X durch die Identifikation mit dem emphatischen Begriff des Menschen Gewalt angetan wird, in dem Sin‑ ne, dass er an einem Begriff gemessen wird, dem er nicht genügen kann. Was ihn als dieses bestimmte X ausmacht, ist weder sein bloßes X-Sein noch die Identi‑ fikation mit dem Begriff „Mensch“, sondern die Nichtidentität zwischen sei‑ nem X-Sein und seinem Begriff. Diese Nichtidentität ist zugleich das Wesentli‑ 447 Adorno:

Einführung in die Dialektik, S.  101. Ebd., S.  102. 449  Ebd., S.  103. 450  Vgl. dazu: Iber: „Begriff und Kategorien negativer Dialektik bei Adorno“, S.  7 7 f. 448 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

che und das, was dem Begriff „Mensch“ notwendig entschlüpft. Deshalb ist der Begriff des Nichtidentischen keineswegs aporetisch, denn, wie sich hier bereits erkennen lässt, kann diese Nichtidentität wohl durch weitere Begriffe und Ur‑ teile bestimmt werden. Aporetisch ist diese Bestimmung nur als einzelner Satz: X ist ein Mensch. Nichts hindert uns aber daran, über diesen Satz hinauszuge‑ hen und zu sagen: X ist kein Mensch, denn er ist nicht frei; frei ist er nicht, weil er in Struktur Y und Struktur Z gefangen ist. Diese Bestimmungen kulminieren in einer Begriffskonstellation, in der das Nichtidentische, das X ausmacht, zwar nicht identifiziert, das heißt: nicht in einem Urteil ausgedrückt wird, aber durch die Konstellation bestimmt wird. Es erhellt bereits aus dieser kursorischen Er‑ klärung, dass die Erkenntnis des Nichtidentischen nicht a priori aporetisch ist. b.  Die Objektivität des Begriffs Mit der These der Objektivität des Begriffs setzt sich Adorno sowohl vom iden‑ tifizierenden Denken als auch vom hegelschen Begriffsverständnis ab. Die Ob‑ jektivität des Begriffs ist weder bloß subjektiv gesetzt noch durch spekulative Identität abgestützt; vielmehr ist sie im weitesten Sinne materialistisch zu den‑ ken – als Werk geschichtlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit, besorgt durch die „begriffliche Arbeit der Gattung Mensch“.451 Dadurch hat jeder Begriff Inhalte oder Bestimmungen, die ihm nicht einfach per Definition zugeteilt werden, sondern als historisch entstandene Bestimmungen bereits im Begriff enthalten sind. Es ist gerade dieser historische Inhalt, der die Begriffe, wie Adorno im Anschluss an Nietzsche vorbringt, undefinierbar macht.452 Bekannt ist Nietz‑ sches Beispiel des Begriffs der Strafe in der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral. Weil sich der Sinn der Strafe geschichtlich wandelt, hat ihr Begriff nicht mehr einen Sinn, sondern „eine ganze Synthesis von ‚Sinnen‘“, eine Viel‑ zahl von Bedeutungen, die sich zu einer undefinierbaren Einheit kristallisie‑ ren.453 Nietzsche kommt so zur These der Undefinierbarkeit geschichtlich über‑ lieferter Begriffe: „[A]lle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat.“454 Adorno übernimmt diese Einsicht Nietzsches, gewinnt ihr aber auch ein anderes Moment ab: die vorgegebene Objektivität des Begriffs. Durch den geschichtlichen Prozess, der sich semiotisch im Begriff zusammen‑ fasst, ist der Begriff bei Adorno nicht als subjektiv gebildeter, sondern als objek‑ tiv gegebener verstanden. Der Begriff ist durch die geschichtlich-gesellschaftli‑

451 Adorno:

Einführung in die Dialektik, S.  113. Ebd., S.  279. 453  Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, KSA 5, S.  245–412, hier S.  317. 454 Ebd. 452 

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che Wirklichkeit vorgebildet und die Philosophie muss die Begriffe mit den ih‑ nen immanenten, objektiven Bestimmungen als zunächst gegeben hinnehmen. Dieser Gedanke steht im Zentrum des Schriftstücks Adornos, das am ehesten eine Sprach- und Begriffstheorie enthält: den zu Adornos Lebzeiten unpubli‑ zierten „Thesen über die Sprache des Philosophen“.455 Die Thesen stellen den Versuch dar, den geschichtsphilosophischen Ort der philosophischen Sprache zu bestimmen und die Konsequenzen dieser Bestimmung für die Philosophie zu entwickeln. Dabei skizziert Adorno eine Sprachtheorie, die ich als materia‑ listische Sprachtheorie bezeichnen möchte. Materialistisch meint hier einerseits den Anteil gesellschaftlich-geschichtlicher Wirklichkeit an der Konstitution der Sprache, andererseits auch das Moment der vom Subjekt unabhängigen Objek‑ tivität der Sprache. Adorno grenzt diese Sprachtheorie zunächst von einer no‑ minalistischen Begriffstheorie ab, die er hier mit der idealistischen Disjunktion von Form und Inhalt verbindet: Die Unterscheidung von Form und Inhalt der philosophischen Sprache ist keine Dis‑ junktion in geschichtsloser Ewigkeit. Sie gehört spezifisch dem idealistischen Denken zu: entspricht der idealistischen Unterscheidung von Form und Inhalt der Erkenntnis. Ihr liegt zugrunde die Meinung, es seien die Begriffe und mit ihnen die Worte Abbrevi‑ aturen einer Vielheit von Merkmalen, deren Einheit Bewußtsein bloß konstituiere. [. . .] Für ein Denken, das die Dinge ausschließlich als Funktionen von Denken faßt, sind die Namen beliebig geworden: sie sind freie Setzungen des Bewußtseins.456

Gegenüber der Disjunktion von Sache und Begriff insistiert Adorno auf einem Moment der Objektivität des Begriffs, das jenseits der Konstitutionsleistungen des sprechenden und denkenden Subjekts liegt und diesem als bereits konstitu‑ ierte Bedeutung entgegentritt. Adorno visiert damit nicht eine Ursprache an, sondern versucht Sprache als Produkt gesellschaftlich-geschichtlicher Wirk‑ lichkeit zu denken. Sprache ist so nicht etwas, was das Subjekt erschafft, son‑ dern etwas, was ihm als Moment der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer bereits in einer spezifischen geschichtlichen Gestalt gegenübertritt. Dabei greift es zu kurz, Adorno vorzuwerfen, er halte an einer „Philosophie des sinn-kons‑ titutiven Subjekts“ fest.457 Adorno konzipiert Sprache als intersubjektive Praxis, wie eine Passage in den Minima Moralia zeigt: „Sprache ist der eigenen objekti‑ ven Substanz nach gesellschaftlicher Ausdruck, auch wo sie als individueller schroff von der Gesellschaft sich sonderte. Veränderungen, die in der Kommu‑ nikation ihr widerfahren, reichen in das unkommunikative Material des Schrift‑ stellers hinein.“458 Gegenüber der intersubjektiven Praxis, in der sich Sprache konstituiert und aktualisiert, denkt Adorno jedoch auch noch an ein Phäno‑ 455 

Adorno: „Thesen über die Sprache des Philosophen“, GS 1, S.  366–371. S.  366. Es ist offensichtlich, dass der hegelsche Idealismus, der selbst die Tren‑ nung von Form und Inhalt aufs Schärfste kritisiert, an dieser Stelle nicht gemeint ist. 457  Wellmer: „Dialektik von Moderne und Postmoderne“, S.  87. 458 Adorno: Minima Moralia, S.  250. 456  Ebd.,

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men, das seine sprachphilosophisch geschulten Kritiker gerne vergessen: Sprachliche Bedeutungen mögen zwar wesenhaft offen sein,459 können sich aber durch Wiederholung verfestigen und treten dann dem Subjekt nicht als offene, sondern als verfestigte Bedeutungen gegenüber. Maurice Merleau-Ponty hat mit Nachdruck auf dieses Moment der „Sedimentation“ von Bedeutungen hinge‑ wiesen. Ohne Sedimentation, Verfestigung von Bedeutungen, wäre Kommuni‑ kation unmöglich, weil wir nie von einigermaßen festen Bedeutungen ausgehen könnten, sondern unsere Begriffe in jedem Sprechen neu bilden müssten. Erst die Sedimentation macht Begriffe als Mittel der Kommunikation verfügbar, „disponible“, wie es bei Merleau-Ponty heißt.460 Eine solche Sedimentation sieht auch Adorno am Werk, wenn er behauptet, dass die Sprache dem Philosophen als eine bereits Konstituierte, als „Sediment von Geschichte“ gegenübertritt.461 Als in diesem Sinne geschichtliche ist die überlieferte Terminologie nicht zufäl‑ lig, sondern enthält im emphatischen Sinn ein Wahrheitsmoment, wie Adorno in der zweiten These behauptet: Philosophische Sprache, die Wahrheit intendiert, kennt keine Signa. Durch Sprache ge‑ winnt Geschichte Anteil an Wahrheit, und die Worte sind nie bloß Zeichen des unter ihnen Gedachten, sondern in die Worte bricht Geschichte ein, bildet deren Wahrheits‑ charaktere, der Anteil von Geschichte am Wort bestimmt die Wahl jeden Wortes schlechthin, weil Geschichte und Wahrheit im Worte zusammentreten.462

Im Unterschied zur nominalistischen Begriffstheorie markiert das eine radika‑ le Umkehr im Gebrauch der Sprache durch den Philosophen: Er kann nicht mehr souverän über die Begriffe verfügen, sie autonom bilden und auflösen, sondern er muss die Begriffe in der Bedeutung hinnehmen, die ihnen als ge‑ schichtlichen Begriffen immer schon gegeben ist: Der Philosoph hat nicht wählend Gedanken auszudrücken, sondern muß die Worte fin‑ den, die nach dem Stande der Wahrheit in ihnen einzig legitimiert sind, die Intention zu tragen, die der Philosoph aussprechen will und nicht anders aussprechen kann, als indem er das Wort trifft, dem zur geschichtlichen Stunde solche Wahrheit innewohnt.463

Das bedeutet freilich nicht, dass die objektiv vorgegebenen Bedeutungen die Sache genau treffen würden; vielmehr wird durch diesen objektiven Charakter die philosophische Sprache selbst in höchstem Maße problematisch. Dass an vorgegebenen Begriffen festzuhalten ist, impliziert lediglich, dass diese ge‑ schichtlichen Begriffe das einzige Material darstellen, das dem Philosophen ge‑ geben ist; dass er weder die Sprache als bloße Signa ansehen kann, noch – wie 459 

Vgl. Wellmer: „Dialektik von Moderne und Postmoderne“, S.  85. Maurice: „Sur la phénoménologie du langage“, in: ders.: Signes, Paris 2000, S.  136–158, hier S.  149. 461  Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  742. 462  Adorno: „Thesen über die Sprache des Philosophen“, S.  366 f. 463  Ebd., S.  367. 460  Merleau-Ponty,

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Adorno Heidegger vorwirft – in eine neue Terminologie flüchten darf.464 Ador‑ no sieht sich deshalb vor das Problem gestellt, „neue Gehalte in der alten Spra‑ che verdeutlichend mitzuteilen“.465 Das Dilemma lautet: Die Sprache des Philo‑ sophen ist durch ihren geschichtlichen Gehalt, durch den sie allein an Wahrheit teilhat, zugleich immer schon veraltet und den neuen Gehalten nicht adäquat. Das Veralten ist aber nicht ein bloß sprachphilosophisches Problem; deshalb kann es auch nicht durch neue Begriffe behoben werden. Wie Adorno in der Vorlesung zur Ästhetik am Begriff des Naturschönen ausführt, werden Begriffe nicht unbrauchbar, weil sie widerlegt werden, sondern durch ein spezifisches Veralten. Sie sind, so Adorno, „dadurch nicht mehr verwendbar [. . .], daß ihnen gewissermaßen von dem fortschreitenden geschichtlichen Bewußtsein die Sub‑ stanz entzogen worden ist“.466 Was veraltet, ist demnach nicht der Begriff selbst, sondern seine Substanz, nämlich das, was er bezeichnet, die Sache. Der Begriff des Naturschönen ist veraltet, weil das, was er bezeichnet, heute nicht mehr substantiell ist – im hegelschen Sinn des Wortes: es hat sich nicht in Praktiken, Institutionen, Diskursen niedergeschlagen, es hat sich nicht objektiviert. Ador‑ no drückt das in der Metaphysikvorlesung in dem Satz aus, „daß das geschichts‑ philosophische Schicksal der Sprache zugleich das geschichtsphilosophische Schicksal der Sache selbst“ sei.467 Weil das Veralten der Sprache zugleich das Veralten der Sache ist, treten Geschichte und Wahrheit für Adorno in der Spra‑ che zusammen. Wenn auch der Begriff des Naturschönen veraltet ist, so sagt doch gerade sein Veralten etwas über die gesellschaftliche Wirklichkeit aus, in der er nicht mehr substantiell ist. In den Begriffen schlägt sich ein Doppeltes nieder: sowohl Wahrheit, wie auch eine bestimmte geschichtliche Stunde, wodurch die Begriffe immer auch überholt und veraltet sind. Deshalb kommt für Adorno der Sprachkritik eine philosophische Bedeutung zu: Alle philosophische Kritik ist heute möglich als Sprachkritik. Diese Sprachkritik hat sich nicht bloß auf die ‚Adäquation‘ der Worte an die Sachen zu erstrecken, sondern ebensowohl auf den Stand der Worte bei sich selber; es ist bei den Worten zu fragen, wie weit sie fähig sind, die ihnen zugemuteten Intentionen zu tragen, wieweit ihre Kraft ge‑ schichtlich erloschen ist, wie weit sie etwa konfigurativ bewahrt werden mag.468

Sprachkritik versucht die Objektivität der Begriffe in ihrer Gedoppeltheit zu kritisieren; sie prüft, inwiefern der geschichtliche Gehalt dieser Begriffe über‑ holt ist und ob und wie sich durch konstellative Anordnung ihr Wahrheitsgehalt retten lässt. Ihr Kriterium ist nach Adorno „die ästhetische Dignität der Wor‑ 464 

Ebd., S.  368. Ebd., S.  369. 466 Adorno: Ästhetik (1958/1959), S.  42. 467 Adorno: Metaphysik, S.  193. 468  Adorno: „Thesen über die Sprache des Philosophen“, S.  369 f. 465 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

te“.469 Dabei geht es nicht um die ästhetische Qualität des Textes, sondern – so Schweppenhäuser – um „ihre Fähigkeit, Erfahrungsspeicher und Initiatoren von Erfahrung zu sein.“470 Adorno spricht von ästhetischer Dignität, weil in der Ästhetik eine solche Form der Kritik bereits praktiziert wird, während sie für die philosophische Kritik noch nicht fruchtbar gemacht wurde und auch nicht fruchtbar gemacht werden konnte, solange nicht von einer objektiven Bedeu‑ tung der Begriffe ausgegangen wurde. Diese früh formulierte Form der Sprachkritik liegt, so möchte ich zeigen, auch noch der Begriffskritik in der Negativen Dialektik zugrunde; wie im Falle der anderen frühen Schriften hat Adorno seine Einsichten nicht preisgegeben, sondern entwickelt. Schlüssel zur Begriffskritik Adornos ist auch im reifen Werk der Gedanke einer objektiven Bedeutung der Begriffe, die ihnen als Pro‑ dukt geschichtlich-gesellschaftlicher Realität zukommt, mithin der Gedanke der Objektivität des Begriffs. Dieses Moment ist konstitutiv für das Verständnis von Adornos Begriff des Begriffs und für seine Kritik am identifizierenden Denken. Vor dem Hintergrund der materialistischen Sprachtheorie Adornos möchte ich in einem Exkurs versuchen, Adornos Kritik am identifizierenden Denken gegen zwei Einwände zu verteidigen und damit zu einer Bestimmung der Kritik des identifizierenden Denkens überzuleiten. Exkurs: Metakritik der Kritik des identifizierenden Denkens bei Habermas und Wellmer Die Kritik am identifizierenden Denken hat immer wieder den Einwand provo‑ ziert, sie würde den Identitätszwang totalisieren und damit andere Rationali‑ tätsformen ausblenden. Meist wird dabei, auf die Dialektik der Aufklärung ge‑ stützt, das identifizierende Denken bloß als Folge einer aus dem Ruder gelaufe‑ nen Aufklärung gelesen. Dann ist es freilich ein Leichtes, Adorno die Totalisierung des Identitätszwanges als Fehler vorzurechnen und ihm eine an‑ dere, nicht identifizierende Rationalität entgegenzuhalten.471 Doch die Tren‑ nung von guter und schlechter Rationalität verfehlt die Grundbestimmung von Adornos Kritik. Greifbar wird das bei Habermas, der in seiner Kritik zeigen will, dass sich Adornos Aporien seinem Festhalten am Paradigma der Bewusst‑ seinsphilosophie verdanken.472 Was Adorno mit dem Nichtidentischen inten‑ diert, lässt sich, so Habermas, nur vernünftig einholen, wenn man dieses Para‑ digma, „ein die Objekte vorstellendes und an ihnen sich abarbeitendes Subjekt, zugunsten des Paradigmas der Sprachphilosophie, der intersubjektiven Ver‑ 469 

Ebd., S.  370. Schweppenhäuser: „Wahrheitsbegriff“, S.  43. 471  Vgl. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, S.  489 ff., besonders S.  522 f.; ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne, S.  144 f.; Wellmer: „Anwalt des Nicht-Identi‑ schen“, S.  156 f.; Rentsch: „Vermittlung“, S.  94; Sandkaulen: „Adornos Ding an sich“, S.  398 f. 472 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, S.  518. 470 

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ständigung oder Kommunikation aufgibt und den kognitiv-instrumentellen Teilaspekt einer umfassenderen kommunikativen Rationalität einordnet“.473 Mit dem Wechsel zu einem sprachphilosophisch begründeten Paradigma glaubt Habermas dem identifizierenden Denken bereits entronnen zu sein, denn das kommunikative Paradigma legt nicht mehr ein einsames Subjekt zugrunde, das sich instrumentell auf ein Objekt bezieht, sondern „die intersubjektive Bezie‑ hung, die sprach- und handlungsfähige Subjekte aufnehmen, wenn sie sich mit‑ einander über etwas verständigen.“474 Im letzten Teilsatz offenbart sich die ge‑ samte philosophische Problematik dieses Paradigmas: Die sich zwar miteinander verständigenden Subjekte entrinnen dem identifizierenden Denken nicht, weil sie sich miteinander immer noch über etwas verständigen; Adorno dagegen visiert in seiner Kritik nicht die Verständigung über etwas an, sondern vielmehr die Verständigung mit etwas. Was die Sache jenseits begrifflicher Identifikation ist, geht nicht im Konsens intersubjektiver Verständigung auf. Diese Verständi‑ gung über etwas verläuft immer noch mittels der Begriffe, die implizit identifi‑ zierend sind. In „Zu Subjekt und Objekt“, neben der Negativen Dialektik der wichtigste Text zu Adornos theoretischer Philosophie, formuliert Adorno eine Kritik am Kommunikationsbegriff, die zwar nicht eine vorweggenommene Kritik der kommunikativen Wende darstellt, doch immerhin auf ihre Probleme aufmerksam macht. Es heißt dort: Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt, so ließe in ihm weder die ununterschiedene Einheit von Subjekt und Objekt noch ihre feindselige Antithetik sich vorstellen; eher die Kommunikation des Unterschiedenen. Dann erst käme der Begriff von Kommunikation, als objektiver, an seine Stelle. Der gegenwärtige ist so schmählich, weil er das Beste, das Potential eines Einverständnisses von Menschen und Dingen, an die Mitteilung zwischen Subjekten nach den Erfordernissen subjektiver Vernunft verrät. An seiner rechten Stelle wäre, auch erkenntnistheoretisch, das Verhältnis von Subjekt und Objekt im verwirklichten Frieden sowohl zwischen den Menschen wie zwischen ihnen und ihrem Anderen.475

Auch die kommunikative Vernunft, wenn sie auch nicht auf den durch Adorno kritisierten Kommunikationsbegriff reduzierbar ist, verrät das Potential einer Kommunikation von Menschen und Dingen an die intersubjektive Mitteilung. Joel Whitebook hat das bemerkt: „Trotz der Versöhnung zwischen Subjekten bleibt das sprachlos Seiende allein Gegenstand einer objektivierenden Hal‑ tung.“476 Habermas übersieht das, weil er bereits vor der kommunikativen Wen‑ de die Dialektik von Subjekt und Objekt in eine intersubjektive Beziehung um‑ 473 

Ebd., S.  523. Ebd., S.  525; Hervorh. d. Verf. 475  Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  743. 476  Whitebook, Joel: „Von Schönberg zu Odysseus: Ästhetische, psychische und soziale Synthesis bei Adorno und Wellmer“, in: Menke, Christoph und Seel, Martin (Hgg.): Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter, Frankfurt a. M. 1993, S.  103–126, hier S.  117. 474 

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gedeutet hat; damit verschleift er auch den Unterschied zwischen einem philo‑ sophischen Gebrauch der Begriffe und ihrem bloß alltäglichen Gebrauch – ein Unterschied, der für Adorno einer ums Ganze ist, wie eine Stelle aus der Philosophischen Terminologie zeigt: „Dieser Unterschied kommt in weitem Maß überein mit dem Unterschied einer objektiven Bedeutung der Sprache, die ver‑ sucht, den Sachen selber gerecht zu werden, gegenüber der kommunikativen Funktion der Sprache, die damit sich bescheidet, in einem gewissen Horizont von Vagheit irgendwelche Vorstellungen an jemanden weiterzugeben.“477 Der Paradigmenwechsel löst das Problem des identifizierenden Denkens keines‑ wegs; er gleitet bloß über es hinweg. Die Achsendrehung von einer vertikalen Subjekt-Objekt-Dialektik zu einer Subjekt-Subjekt-Beziehung verliert nicht nur die Problematik des Nichtidentischen aus dem Blick, sondern verfehlt wei‑ tere zentrale Gehalte der Philosophie Adornos. Da sie den Gedanken der Dia‑ lektik vollständig aufkündigt, verschwinden ihr auch alle Gehalte, die sich an den Dialektikbegriff Adornos knüpfen. Mag die kommunikative Wende für die Kritische Theorie als Gesellschaftstheorie auch einen Fortschritt darstellen, so kann die Wende die im engeren Sinne philosophischen Probleme Adornos nicht lösen; mehr noch, die Theorie des kommunikativen Handelns ist nicht einmal in der Lage, diese Probleme zu formulieren. Dasselbe gilt für die von Wellmer in den 80er Jahren vertretene Variante der kommunikativen Wende. Wellmer versucht, die Kritik an Adornos Kritik des identifizierenden Denkens durch ausgefeiltere Sprachtheorien zu untermauern. Er hält, besonders auf die Philosophie Wittgensteins gestützt, dem identifizie‑ renden Begriff bei Adorno, den er als „rationalistische Fiktion“ kritisiert, „die ‚Offenheit‘ sprachlicher Bedeutungen“ entgegen.478 Wie Habermas lokalisiert er die Ursache von Adornos Scheitern in den bewusstseinsphilosophischen Vo‑ raussetzungen seiner Philosophie und will die adornosche Problematik durch einen Paradigmenwechsel lösen. Ritsert hält diesem Vertrauen auf die helfende Kraft des Paradigmenwechsels entgegen, „daß es philosophische Probleme gibt, die sich durch alle Neuerungen und Verbesserungen hindurch als gute alte Be‑ kannte begrüßen lassen.“479 Ein solches Problem sieht er in Adornos Begriff des Nichtidentischen: „das Problem der Referenz“.480 Wellmers Rückgriff auf Witt‑ genstein kann dieses Problem ebenso wenig lösen wie Habermas mit seinem Entwurf kommunikativer Rationalität: Wittgenstein hat darauf hingewiesen, daß die Grammatik unserer Sprache uns in der Regel eine vielfältige Verwendungsweise von Worten zeigt, ohne daß wir dabei immer auf eine ‚grundlegende‘, ‚eigentliche‘ oder ‚primäre‘ Bedeutung von Worten stoßen wür‑ den. Wittgenstein benutzt das Bild der ‚Familienähnlichkeit‘ und auch das des Seils, das 477 Adorno:

Philosophische Terminologie 2, S.  53. Wellmer: „Dialektik von Moderne und Postmoderne“, S.  85. 479  Ritsert: „Das Nichtidentische“, S.  32. 480 Ebd. 478 

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4. Nichtidentität

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aus lauter einzelnen Fasern besteht, um anzudeuten, wie die verschiedenen Verwen‑ dungsweisen eines Wortes ineinandergreifen.481

Solche Einsichten gehören zum Grundbestand moderner Linguistik, die längst erkannt hat, dass Polysemie bei Begriffen die Norm ist und die Bedeutungen der Begriffe sich durch den Kontext, in dem die Begriffe stehen, präzisieren. Adorno würde das nicht bestreiten und es ist keineswegs unvereinbar mit seiner Sprachtheorie oder gar ein Einspruch gegen sie. Das Problem, das Adorno mit dem Begriff des Nichtidentischen anspricht, betrifft jedoch nicht das Verhältnis der Worte untereinander, nicht die verschiedenen Bedeutungen eines Wortes, nicht deren Ineinandergreifen, nicht die Regeln, nach denen sie verwendet wer‑ den, nicht die commitments und entitlements, die mit ihrem Gebrauch einher‑ gehen, sondern den Umstand, dass es Begriffe und damit Urteile gibt, die sich auf etwas „draußen in der Welt“ beziehen,482 mag sich auch ihre Bedeutung unabhängig von diesem Bezug konstituieren. Auch der Inferentialismus Robert Brandoms hat das Problem der Referenz nicht einfach beiseite geschafft; für Brandom ist die Referenz zwar erst von inferentiellen Beziehungen her ver‑ ständlich; das ändert aber nichts daran, dass unsere Urteile als „being about something“ gedacht werden.483 Wir haben gesehen, dass Adorno weder, wie ihm Wellmer vorwirft, an der „Philosophie des sinn-konstitutiven Subjekts“484 noch an einer adamitischen Ursprache festhält. Zuzugestehen ist, dass Adornos Skizze einer materialistischen Sprachtheorie hinter den sprachphilosophischen Einsichten Wittgensteins oder Brandoms weit zurücksteht; das hat aber keine Auswirkungen auf das Problem des Nichtidentischen. Für die Frage, wie sich Begriffe auf das Nichtbegriffliche beziehen, ist es nicht von Belang, ob Begriffe kommunikativ, in intersubjektiver Verständigung, als Teil eines Sprachspiels, inferentiell oder als geschichtlich überlieferte Terminologien benutzt werden. Habermas und Wellmer entzieht sich aufgrund des Paradigmenwechsels die im Begriff des Nichtidentischen verkapselte Problemstellung. Beide glauben, den Begriff des Nichtidentischen in die Sprache einholen zu müssen; die An‑ nahme eines Nichtidentischen jenseits der Sprache erscheint ihnen als „ein Rest sprachphilosophischer Naivität“.485 In dieser Naivität jedoch liegt das eigentli‑ che Problem negativer Dialektik. Einerseits geht sie von der Annahme aus, dass es etwas gibt, das sich den identifizierenden Begriffen notwendig entzieht; an‑ dererseits geht sie als Stellung des Gedankens zur Objektivität tatsächlich vom Paradigma der Bewusstseinsphilosophie aus. Wellmer selbst spricht diese Prob‑

481 

Wellmer: „Dialektik von Moderne und Postmoderne“, S.  85. Ritsert: „Das Nichtidentische“, S.  32. 483  Brandom, Robert B.: Reason in Philosophy. Animating Ideas, Cambridge, Massachu‑ setts/London 2009, S.  45. 484  Wellmer: „Dialektik von Moderne und Postmoderne“, S.  87. 485 Ebd. 482 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

lemstellung an, erkennt sie jedoch nicht als die eigentliche Aufgabe negativer Dialektik: Zwar hat Adorno gesehen und immer wieder betont, daß die Philosophie keinen Stand‑ punkt außerhalb der Sprache beziehen kann, um eine Kritik des begrifflichen Denkens zu formulieren; aber schon der bloße Gedanke einer Kritik des identifizierenden Begriffs setzt einen solchen Standpunkt außerhalb der Sprache voraus. Adornos Philosophie ist ein Anrennen gegen die Grenzen der Sprache – der Subjektphilosophie; sie spricht das Geheimnis der Subjektphilosophie aus, ohne es zu verstehen.486

Treffendes und Irrendes liegen hier nahe beieinander: Richtig ist, dass Adorno den Primat des Begriffs immer betont hat; falsch dagegen, dass der Gedanke einer Kritik des identifizierenden Denkens einen Standpunkt außerhalb der Sprache voraussetzt. Das im Nichtidentischen artikulierte Problem besteht ge‑ rade darin, von einem Standpunkt innerhalb der Sprache nach außen zu kom‑ men, ohne einen Standpunkt außerhalb der Sprache vorauszusetzen. Deshalb ist auch die Designation von Adornos Programm als Anrennen gegen die Grenzen der Sprache höchst treffend; falsch jedoch wiederum, dass Adorno das Geheim‑ nis der Subjektphilosophie nicht verstehen würde. Negative Dialektik ist der Versuch einer immanenten Überschreitung der Subjektphilosophie; 487 die In‑ tention verbindet Adorno mit so unterschiedlichen Zeitgenossen wie Heidegger und Merleau-Ponty. Sie teilen die Einsicht, dass die objektivierende Einstellung auf die Welt, die der Bewusstseinsphilosophie eigen ist, das Seiende oder die Sache nur in einer reduzierten und eingeschränkten Form erscheinen lässt: als Objekt oder als Gegen-Stand. Die Überwindung oder der Überstieg dieser Ein‑ stellung nimmt dabei jeweils verschiedene Formen an – keiner glaubt jedoch, dass sich das Problem durch einen einfachen Paradigmenwechsel aus der Welt schaffen lässt. Zu Recht wendet deshalb Whitebook ein, daß die Kritische Theorie nach der linguistischen Wende nicht energisch genug gegen die Grenzen der Sprache stößt. Während ein vollständiges Überschreiten jener Grenzen be‑ deuten würde, entweder in eine vorkritische Metaphysik oder in einen delirierenden Diskurs zurückzufallen, verweilt die Kommunikationstheorie allzu bequem in den in‑ neren Regionen des Sprachreichs auf dieser Seite der Grenze.488 486 Ebd.

487 Vgl. dazu auch Iber: „Der Rückgriff auf das tradierte Subjekt-Objekt-Schema ent‑ spricht Adornos Ideal von immanenter Kritik, die das Kritisierte an seinem eigenen Anspruch messen will – ein Vorhaben, das mit einer Terminologie, die den kritisierten Ansätzen fremd geblieben wäre, nicht durchführbar gewesen wäre.“ Iber: „Begriff und Kategorien negativer Dialektik bei Adorno“, S.  83. 488  Whitebook: „Von Schönberg zu Odysseus: Ästhetische, psychische und soziale Syn‑ thesis bei Adorno und Wellmer“, S.  121. In einem späteren Text sieht Wellmer die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit als eine Problemstellung an, die im Paradig‑ menwechsel nicht aufgehen kann: „Wenn Adorno gelegentlich von ‚gewaltloser Synthesis‘ spricht, so meint er nicht – oder doch nicht nur – die Gewaltlosigkeit einer Kommunikation, die gleichsam jederzeit zum rationalen Diskurs hin offen ist; er meint vielmehr Bedingungen der Möglichkeit einer kommunikativen Rationalität, die das Verhältnis zwischen Sprache und

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Sowohl Habermas wie auch (der frühe) Wellmer setzen in die kommunikative Dimension der Sprache zu viel Hoffnung; während sie Adorno Naivität vor‑ werfen, weil er an subjektiv konstituierten Bedeutungen festhalte, ist angesichts Adornos Gedanken einer materialistischen Sprachtheorie das Vertrauen auf kommunikative Vernunft und die Offenheit sprachlicher Bedeutungen seiner‑ seits als naiv zu kritisieren, weil dadurch der für Adorno beinahe kategorische Unterschied zwischen einem philosophischen Gebrauch der Sprache und dem alltäglichen Gebrauch der Sprache als Kommunikationsmittel verschliffen wird. Adornos Objektivität des Begriffs ist nicht nur keine bloß subjektiv kon‑ stituierte Objektivität, sie ist auch nicht in kommunikativer Verständigung oder in einem offenen Sprachspiel gebildet. Alle drei Formen der Objektivität des Begriffs stellen die subjektive Intention und die subjektive Freiheit der Sprecher zu sehr in den Mittelpunkt. Gegen eine fetischisierte kommunikative Vernunft und gegen das Vertrauen auf die Offenheit sprachlicher Bedeutung stellt Ador‑ no das Moment der Objektivität der sedimentierten Bedeutungen in den Mittel‑ punkt. Habermas und Wellmer ist zuzugestehen, dass nicht der einzelne Mensch die Sprache macht, sondern immer eine Pluralität von Menschen: Die Menschen machen ihre eigene Sprache, aber – dies wäre von Adornos Warte kritisch hinzuzufügen – sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. c.  Kritik des identifizierenden Denkens Während das Nichtidentische in der Kritik hegelscher Dialektik den Einspruch gegen Hegel markiert, stellt es in der Kritik identifizierenden Denkens keine Abgrenzung gegenüber Hegel dar. Vielmehr wird die Kritik identifizierenden Denkens mit der hegelschen Dialektik im Rücken geführt; freilich unter Absage an die spekulative Identität. Dennoch bleibt die Kritik identifizierenden Den‑ kens an den Gedanken der Dialektik gebunden. Deshalb möchte ich diese Kri‑ tik vor dem Hintergrund einiger Bestimmungen negativer Dialektik lesen. Grundlegend ist die Bestimmung negativer Dialektik als Grenzdialektik. Auf den Begriff bezogen besagt dies: Negative Dialektik ist nicht eine Dialektik in‑ nerhalb der begrifflichen Sphäre, sondern eine Dialektik zwischen der begriff‑ lichen Sphäre und dem, was jenseits dieser Sphäre liegt – eine Dialektik von

Wirklichkeit betreffen und nicht – primär – das Verhältnis zwischen Sprecher und Sprecher; die die nichtkommunikativen Aspekte der Konstitution kommunizierbarer sprachlicher Be‑ deutungszusammenhänge betreffen und nicht – primär – den Umgang der Sprecher mit dem jeweils Kommunizierten. Vielleicht läßt sich an diesem Punkte auch Adornos Beharren auf einem Subjekt-Objekt-Modell der Erkenntnis noch rechtfertigen.“ Wellmer: „Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute. Fünf Thesen“, S.  234 f.

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Begriff und Nichtbegrifflichem, Identität und Nichtidentität.489 Genauer ließe sie sich als eine Dialektik von Begriff und Grenzbegriff bezeichnen, denn auch das Nichtidentische und das Nichtbegriffliche sind noch Begriffe und nicht un‑ mittelbar Seiendes. Mit dem Nichtidentischen visiert Adorno keineswegs eine unbegriffliche oder unmittelbare Erfahrung an oder setzt den Gedanken an ein unmittelbar Gegebenes voraus, wie ihm auch schon vorgehalten wurde.490 Das von Adorno Intendierte kann daher nur über die Vermittlung und zwar über die Vermittlung des Begriffs erreicht werden. Zwar beklagt Adorno diesen un‑ hintergehbaren Primat des Begriffs, setzt sich aber an keiner Stelle dogmatisch über ihn hinweg: „Weil das Seiende nicht unmittelbar sondern nur durch den Begriff hindurch ist, wäre beim Begriff anzuheben, nicht bei der bloßen Gege‑ benheit.“491 Wie Hindrichs betont, kann das Nichtidentische „nur in dem Vor‑ gang der begrifflichen Interpretation thematisch werden“; deshalb ist das Nich‑ tidentische nicht eine positive Bestimmung, sondern „der gegen sich selbst ge‑ kehrte Begriff“.492 Das heißt: Das Nichtidentische ist zwar Begriff, zeigt aber gerade das Ungenügen des Begriffs an und verweist dadurch negativ auf das Andere des Begriffs; die Vermittlung durch den Begriff macht den Begriff zum Vehikel des Nichtidentischen. Das Merkmal seines Vermittlungsbegriff, das Adorno sich an dieser Stelle zunutze macht, ist das der Wechselseitigkeit der Vermittlung. Obwohl alle fun‑ damentalen Begriffspaare der negativen Dialektik von einem Vorrang der sub‑ jektiven Seite ausgehen, also auch von einem Vorrang des Begriffs, findet über die Differenz in der Vermittlung eine Umkehrung statt, die diesen Vorrang auf‑ hebt. Nicht bloß ist das Nichtbegriffliche durch den Begriff vermittelt, sondern der Begriff ist seinerseits durch das Nichtbegriffliche vermittelt. In dieser Struktur ist keines der Momente für sich denkbar, noch kann eines in das ande‑ re aufgelöst werden. Das gilt im Besonderen für die begriffliche Identifikation des Nichtidentischen: Wohl wird das Nichtidentische, Unerkannte durch Erkennen auch identisch, das Nicht‑ begriffliche durch Begreifen zum Begriff des Nichtidentischen. Kraft solcher Reflexion indessen ist das Nichtidentische selber doch nicht nur Begriff geworden, sondern bleibt dessen von ihm unterschiedener Gehalt. [. . .] Durch ihre Aufhebung wird die Wechsel‑ 489  In einer Vorlesung spricht Adorno auch von einer Dialektik von Nominalismus und Realismus: „Die Dialektik ist kein Nominalismus, sie ist aber eigentlich auch kein Realismus [. . .] – diese beiden Vorstellungen unterliegen gleichermaßen der dialektischen Kritik, das heißt es gibt in ihr begriffliches Sein nur insoweit, wie es sich auf bestimmtes faktisches Sein bezieht, und es gibt umgekehrt faktisches Sein überhaupt nicht anders denn als durch Er‑ kenntnis vermitteltes Sein, und Erkenntnis ist nun einmal gar nicht anders zu denken [denn] als begriffliche Erkenntnis.“ Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  291. 490  Fulda, Hans Friedrich: „Unzulängliche Bemerkungen zur Dialektik“, in: Horstmann, Rolf-Peter (Hg.): Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, Frankfurt a. M. 1978, S.  33–69, hier S.  38; Wellmer: „Dialektik von Moderne und Postmoderne“, S.  87. 491 Adorno: Negative Dialektik, S.  156. 492 Hindrichs: Das Absolute und das Subjekt, S.  155 f.

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seitigkeit in Einseitigkeit zurückgebildet. Aus der Wechselseitigkeit ist auch nicht ins Nichtidentische zu springen; sonst vergäße Dialektik ihre Einsicht in die universale Ver‑ mittlung.493

Von den zwei in dieser Wechselseitigkeit unterschiedenen Momenten: der Ver‑ mittlung des Nichtidentischen durch den Begriff und der Vermittlung des Be‑ griffs durch das Nichtidentische, ist an dieser Stelle das zweite von Interesse. Über dieses Moment versucht Adorno die Bestimmung des Nichtidentischen verständlich zu machen. Genauso wenig wie diese wechselseitige Vermittlung von Begriff und Nichtbegrifflichem im Begriff aufgehoben werden kann, ist durch die Wechselseitigkeit bereits das Nichtidentische verbürgt. Als von ihm unterschiedener Gehalt bleibt das Nichtidentische jenseits des Begriffs; begriff‑ liche Identifikation schiebt das Nichtidentische nur weiter hinaus in die nicht‑ begriffliche Sphäre. Aber in der Vermitteltheit des Begriffs durch das Nichtbe‑ griffliche ist die Suisuffizienz des Begriffs aufgehoben und damit die Immanenz der begrifflichen Sphäre aufgeweicht. Der Begriff verweist nach außen. Adorno entwickelt diese Problemstellung bereits in der Einleitung der Negativen Dialektik, im Abschnitt „Entzauberung des Begriffs“, in dem er die Selbstgenügsamkeit des Begriffs mit Verweis auf die doppelte Perspektive auf den Begriff, von innen und von außen, kritisiert: In Wahrheit gehen alle Begriffe, auch die philosophischen, auf Nichtbegriffliches, weil sie ihrerseits Momente der Realität sind, die zu ihrer Bildung – primär zu Zwecken der Naturbeherrschung – nötigt. Das, als was die begriffliche Vermittlung sich selbst, von innen her, erscheint, der Vorrang ihrer Sphäre, ohne die nichts gewußt sei, darf nicht mit dem verwechselt werden, was sie an sich ist. Solchen Schein des Ansichseienden verleiht ihr die Bewegung, welche sie aus der Realität eximiert, in die sie ihrerseits eingespannt ist.494

Adorno unterscheidet die Innenperspektive der begrifflichen Sphäre, eine An‑ sicht, die dem Bewusstseinsparadigma verhaftet bleibt, von der Perspektive von außen, die er als an sich bezeichnet. Die angedeutete Außenperspektive ist ei‑ gentlich bereits eine materialistische, die der bloß subjektiven Sphäre des Be‑ wusstseins ihre Vermittlung mit der Realität entgegenhält. Adorno nimmt aber explizit die Kritik vorweg, diese materialistische These sei eine „dogmatische, gar naiv realistische These“.495 Er versucht die These deshalb durch die Vermitt‑ lung des Begriffs zu erhärten; die Vermittlung impliziert, dass der Begriff seine eigene Sphäre immer schon auf das Nichtbegriffliche hin transzendiert hat. „Begriffe wie der des Seins am Anfang der Hegelschen Logik bedeuten zu‑ nächst emphatisch Nichtbegriffliches; sie meinen, mit Lasks Ausdruck, über sich hinaus. Ihr Gehalt ist ihnen sowohl immanent: geistig, wie ontisch: ihnen 493 

Adorno: „Skoteinos oder Wie zu lesen sei“, S.  375. Negative Dialektik, S.  23. 495 Ebd. 494 Adorno:

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transzendent.“496 Das unglückliche Beispiel verdeckt das eigentliche Argument. Gerade der Begriff des Seins meint in der hegelschen Logik die völlige Unbe‑ stimmtheit, die vollkommene Abstraktion von jeglicher Bestimmung. Die Be‑ wegung, die ihn über sich hinaustreibt ist überhaupt nur nachvollziehbar, wenn er vollkommen substratlos, ohne Verweis auf ein Nichtbegriffliches gedacht wird. Adorno jedoch wählt das Beispiel, weil er gerade an diesem allerabstrak‑ testen Begriff versucht, die Vermittlung durch das Nichtbegriffliche nachzu‑ weisen. Durchgeführt wird dieser Nachweis erst im ersten Teil: „Verhältnis zur Ontologie“; dort allerdings am heideggerschen Seinsbegriff. Der hegelsche Seinsbegriff, den Adorno an dieser Stelle herbeizieht, ist jedoch zum Nachweis dieser Vermittlung ungeeignet. Das wird ersichtlich, wenn wir die Vermittlung näher betrachten: „Der Begriff ist ein Moment wie ein jegliches in dialektischer Logik. In ihm überlebt sein Vermitteltsein durchs Nichtbegriffliche vermöge seiner Bedeutung, die ihrerseits sein Begriffsein begründet.“497 Das hegelsche Sein entzieht sich dieser Vermittlung, weil es zu seiner „Bestimmung“ gehört, keine Bedeutung zu haben – um das auszudrücken, unterdrückt Hegel in der ersten Bestimmung des Seins die Kopula: „Sein, reines Sein, – ohne alle weitere Bestimmung.“498 Das Fehlen der Kopula unterbindet den Vorgang der Prädika‑ tion selbst; so hat das Sein überhaupt keinen Inhalt. Durch das unvorteilhafte Beispiel wird aber der Gedanke Adornos nicht widerlegt. Der Gedanke einer Vermittlung durch das Nichtbegriffliche vermöge seiner Bedeutung ist vor dem Hintergrund der skizzierten materialistischen Sprachtheorie und Ritserts Aus‑ führungen zum Problem der Referenz zu verstehen. Für manche Begriffe mag die Referenz auf Nichtbegriffliches erst in zweiter oder dritter Potenz gegeben sein; nichtsdestoweniger ist es gerade eine Formulierung von Habermas, die diese Vermittlung vermöge der Bedeutung ausdrückt. Begriffe werden dazu verwendet, sich über etwas zu verständigen, und in diesem über etwas liegt die Referenz auf eine letztlich nichtbegriffliche Sphäre. Die Vermitteltheit des Be‑ griffs durch das Nichtbegriffliche führt so zu einer Verdoppelung seines Ge‑ halts in einen immanenten und einen transzendenten Gehalt. Immanent ist der Gehalt dem Begriff als seine Bedeutung, transzendent ist er ihm als das, worauf er vermöge dieser Bedeutung verweist. Am Gedanken dieser Vermitteltheit des Begriffs durch das Nichtbegriffliche, durch die der Begriff über sich hinaus‑ weist, setzt Adornos Kritik des identifizierenden Denkens an. Emphatische Begriffe besitzen im Gegensatz zu bloß klassifikatorischen Be‑ griffen einen objektiven, geschichtlich-gesellschaftlichen Inhalt, den sie immer schon mitbringen. Die Kritik des identifizierenden Denkens setzt bei solchen Begriffen an ihren immanenten Bedeutungen an. Diese immanenten Bedeutun‑ 496 Ebd. 497 

Ebd., S.  24; Hervorh. d. Verf. Logik I, S.  82.

498 Hegel:

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gen treten in Widerspruch zu dem Nichtbegrifflichen, auf das der Begriff ver‑ weist. Der Widerspruch, so könnte man aufgrund der oben festgestellten Dis‑ tinktion argumentieren, ist eigentlich ein Widerspruch zwischen dem imma‑ nenten Gehalt des Begriffs, seinen Bedeutungen, und dem transzendenten Gehalt des Begriffs, dem Nichtbegrifflichen, auf das der Begriff vermöge seiner Bedeutung verweist. Der Widerspruch zwischen Begriff und Nichtbegriffli‑ chem weist zwar über den Begriff hinaus; er ist aber, weil dieses Hinausweisen eigenes Moment des Begriffs ist, auch ein immanenter Widerspruch, ein Wider‑ spruch im Begriff selbst. Wäre er ein äußerer Widerspruch, zwischen Begriff und nichtbegrifflicher Sache, so würde naiv dem Begriff ein unmittelbares Wis‑ sen vom Nichtbegrifflichen gegenübergestellt. Als innerer Widerspruch des Be‑ griffs aber ist er nicht Widerspruch zwischen Begriff und einem ihm äußerlich entgegengesetzten, sondern der Widerspruch zwischen einem Gehalt des Be‑ griffs, seiner Bedeutung, und seinem anderen, ihm äußerlichen Gehalt, auf den er aber notwendig verweist. Es ist nun verständlich, wie Adorno einen imma‑ nent antinomischen Charakter des Begriffs unterstellen kann und behaupten kann, dass sich der Gegensatz von Begriff und Sache im Begriff als immanenter Widerspruch manifestiert.499 Der Verweis auf das dem Denken Heterogene, die Realität, ist mithin kein Sprung aus der Dialektik, sondern in der Bewegung der Dialektik selbst angelegt. Ritsert versteht deswegen das Nichtidentische als Ausdruck des Problems der Referenz zu Recht vor dem Hintergrund von He‑ gels Dialektik von Wissen und Wahrheit.500 Wie Hegel den Gegenstand zugleich als bewusstseinsimmanent, als für das Bewusstsein, und als bewusstsein‑ stranszendent, als an sich, diese Unterscheidung aber wiederum als Unterschei‑ dung innerhalb des Bewusstseins denkt, so ist bei Adorno der Begriff als imma‑ nenter auch seinen transzendenten Gehalt einschließend gedacht. Deshalb ist die Kritik am Begriff eine immanente Kritik: Sie misst seinen immanenten Ge‑ halt an seinem transzendenten Gehalt. Es ist diese Bewegung negativer Dialek‑ tik, die Adorno als „Logik des Zerfalls“ bezeichnet: Mit Hegel aber läßt solche Dialektik nicht mehr sich vereinen. Ihre Bewegung tendiert nicht auf die Identität in der Differenz jeglichen Gegenstandes von seinem Begriff; eher beargwöhnt sie Identisches. Ihre Logik ist eine des Zerfalls: der zugerüsteten und verge‑ genständlichten Gestalt der Begriffe, die zunächst das erkennende Subjekt unmittelbar sich gegenüber hat.501

Das Ziel dieser Bewegung ist hier festgehalten: Der Zerfall betrifft nicht die Begriffe an sich, so dass am Schluss eine unbegriffliche Erkenntnis stehen wür‑ de, sondern er betrifft die Gestalt der Begriffe, die Adorno hier als zugerüstet und vergegenständlicht bezeichnet. Ziel negativer Dialektik als Kritik identifi‑ 499 

Vgl. oben S.  72 ff. und: Adorno: Negative Dialektik, S.  149. Vgl. Ritsert: „Das Nichtidentische“, S.  33. 501 Adorno: Negative Dialektik, S.  148. 500 

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zierenden Denkens ist es, diesen Zerfall herbeizuführen und das Nichtidenti‑ sche einer nicht vergegenständlichten und nicht vergegenständlichenden, aber dennoch begrifflichen Erkenntnis zuzueignen. Möglich wird das durch die Be‑ griffskonstellationen der Modellanalyse; bereits in den „Thesen über die Spra‑ che des Philosophen“ ist dieses Moment, die Konfiguration, das einzige Mo‑ ment der Sprache, das unter der Verfügungsgewalt des Philosophen steht. Negative Dialektik bleibt aber nicht bei bloßer Begriffskritik stehen, sondern ist von Anfang an als wechselseitige Kritik gedacht, wie Adorno in der Negativen Dialektik andeutet: „Reziproke Kritik von Allgemeinem und Besonderem, identifizierende Akte, die darüber urteilen, ob der Begriff dem Befaßten Ge‑ rechtigkeit widerfahren läßt, und ob das Besondere seinen Begriff auch erfüllt, sind das Medium des Denkens der Nichtidentität von Besonderem und Be‑ griff.“502 So bezeichnet die Nichtidentität zwischen Besonderem und Begriff nicht bloß die Insuffizienz des identifizierenden Begriffs, sondern auch die In‑ suffizienz des Besonderen gegenüber seinem emphatischen Begriff. In dieser normativen Dimension des emphatischen Begriffs rückt negative Dialektik wie‑ der nahe an ihr hegelsches Vorbild heran. Normativ ist der emphatische Begriff, weil er eine Reihe von Bestimmungen enthält, die das Besondere gleichsam er‑ füllen muss, wenn es unter diesen Begriff subsumiert werden soll. Die Nich‑ tidentität zwischen dem emphatischen Begriff des Menschen und den konkreten Menschen ist nicht bloß ein Indiz für die Insuffizienz des Begriffs, sondern auch dafür, dass die konkreten Menschen dem normativen Gehalt ihres eigenen Be‑ griffs nicht entsprechen. Aber die Insuffizienz der Sache, die ihrem Begriff nicht entspricht, wird von Adorno nicht in der Sache gesucht, sondern in den Verhält‑ nissen, welche die Sache bestimmen. Weil diese Verhältnisse zugleich diejenige gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit sind, durch die der emphatische Begriff erst zu seinem normativen Gehalten kommt, ist die Begriffskritik Ador‑ nos zugleich Gesellschaftskritik: Kritik an der Gesellschaft, die einen Begriff von etwas erschafft, das sie ihrer eigenen Struktur nach nicht zur Wirklichkeit kommen lässt. Adorno praktiziert Begriffskritik nicht nur als Kritik der identi‑ fizierenden Begriffe, sondern zugleich als Gesellschaftskritik.503 Die Doppelschlächtigkeit von Begriffskritik und Gesellschaftskritik ist im emphatischen Begriff selbst angelegt, in seinem doppelten Status als deskripti‑ ver Begriff und normativer Begriff.504 In der Verwendung als deskriptiver Be‑ 502 

Ebd., S.  149. Vgl. Müller-Doohm, Stefan: „Sagen, was einem aufgeht. Sprache bei Adorno – Adornos Sprache“, in: Kohler, Georg und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2008, S.  28–50, hier S.  33. Da Müller‑Doohm nicht auf die Differenz von klassifikatorischem und emphatischem Begriff eingeht, wird in seiner Darstellung nicht klar, wie die Verbindung von Sprach- und Gesellschaftskritik funktionieren soll. 504  Vgl. dazu auch die Unterscheidung eines deskriptiven und eines normativen Wahrheits‑ begriffs bei Jay: „[T]ruth in what might be called a descriptive sense meant correspondence 503 

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griff, der die Dinge bezeichnet, wie sie sind, ist der emphatische Begriff immer ungenügend, weil die Dinge mehr sind als ihr Begriff; als normativer Begriff dagegen, der die Dinge bezeichnet, wie sie sein sollten, ist er Kritik an der Ver‑ fassung der Gesellschaft, die die Dinge nicht das sein lässt, was sie sein sollten. In der Kritik identifizierenden Denkens steht das Nichtidentische zugleich für die Insuffizienz des Begriffs und für die Insuffizienz der Sache. In der Kritik des identifizierenden Denkens markiert das Nichtidentische die Diskrepanz zwischen dem Bild, das die Gesellschaft von sich hat, und dem, was sie in Wirk‑ lichkeit ist. So ist das Nichtidentische wesentlich kritischer Begriff und bleibt im emphatischen Sinne negativ: Es erfährt keine positive Bestimmung, sondern bleibt das noch Ausstehende, das Negative der Begriffe zu einer bestimmten geschichtlichen Stunde.

III.  Das Nichtidentische in der negativen Dialektik Die Funktion des Nichtidentischen in der Hegelkritik besteht im Nachweis der Unmöglichkeit totaler Identifikation; es bezeichnet das, was sich der hegelschen Dialektik notwendig entzieht, weil diese eine idealistische Dialektik ist. In die‑ ser Fluchtlinie assoziiert Adorno in der Negativen Dialektik das Nichtidenti‑ sche mit der Materie: „Die Kategorie Nichtidentität gehorcht noch dem Maß von Identität. Emanzipiert von solchem Maß, zeigen die nichtidentischen Mo‑ mente sich als materiell, oder als untrennbar fusioniert mit Materiellem.“505 Es ist kein Zufall, dass sich diese Passage in dem Abschnitt befindet, der den Titel „Übergang zum Materialismus“ trägt. Das Nichtidentische markiert hier das, was der Idealismus vergebens zu bestimmen sucht und damit das, was ihn schließlich zur Selbstüberschreitung in den Materialismus nötigt. Adorno hat dieses Programm bereits 1946 in einer Diskussion formuliert: Wir kommen nicht darum herum, den Anspruch unserer Philosophie auszusprechen. Wir unterziehen den Hegelschen Anspruch, durch Dialektik die Identität von Sein und Denken zu bestimmen, der Kritik. Die Aufgabe des Sich-am-eigenen-Schopf-aus-demSumpf-Ziehens heißt in Bezug auf die Dialektik eigentlich die Entscheidung darüber, ob und wie eine dialektische Philosophie möglich sei, ohne daß sie das, was sie beweisen soll, voraussetzt, also ohne daß sie den Standpunkt des Absoluten einnimmt. Ist eine materialistische Dialektik im philosophischen Sinn möglich? 506

with things as they are, whereas in a normative sense it meant with things as they might be.“ Jay, Martin: Adorno, London 1984, S.  61. Auch Bowie weist auf den Doppelcharakter der adornoschen Begriffe hin: „Concepts can cut off dimensions of the object that do not accord with a dominant ideology, but they can also keep alive what is missing in a given state of un‑ derstanding of the object.“ Bowie: Adorno and the Ends of Philosophy, S.  67. 505 Adorno: Negative Dialektik, S.  193. 506 Adorno/Horkheimer: „Rettung der Aufklärung. Diskussionen über eine geplante Schrift zur Dialektik“, S.  600 f.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Im Begriff des Nichtidentischen geht es um die Frage nach der Möglichkeit ei‑ ner negativen Dialektik; das Nichtidentische ist nicht einfach eine polemische Abgrenzung gegen Hegel, sondern der zentrale Begriff einer Dialektik, die we‑ der den Primat des Geistes voraussetzt, noch eine subjektlose Dialektik in der Materie annimmt, sondern eine materialistische Dialektik im philosophischen Sinn ist, mithin eine materialistische Dialektik, die sich nicht von der Reflexion auf den Geist dispensiert.507 Denn Dialektik ist, wie Adorno in der Einführung in die Dialektik sagt, als „Prinzip [. . .] der Negation oder der Reflexion notwen‑ dig ein geistiges Prinzip“; 508 ohne Negation und Reflexion gibt es keine Dialek‑ tik und mit diesem Moment ist doch wiederum der Geist als unaufhebbares und gar primäres Moment gesetzt. Dieses Grundproblem negativer Dialektik ist im Begriff des Nichtidentischen ausgedrückt und kommt für Adorno mit dem Pro‑ blem einer materialistischen Dialektik im philosophischen Sinn zusammen. Darin aber erschöpft sich der Begriff des Nichtidentischen nicht; Flucht‑ punkt negativer Dialektik bildet die Rettung der Metaphysik. Bestimmt Ador‑ no diese als „Wissen vom Absoluten“,509 so ist es nur konsequent, wenn er im Anschluss das Nichtidentische als das Absolute bezeichnet.510 Diese doppelte Spezifikation des Nichtidentischen, einmal als Materie, das andere Mal als das Absolute, zeigt, in welchem Maße der Begriff des Nichtidentischen der Zentral‑ begriff der adornoschen Philosophie ist. Er enthält ein doppeltes Programm: die Formulierung einer materialistischen Dialektik und die Rettung des Absoluten. Ziermann sieht auf Grundlage dieser doppelten Spezifikation des Nichtidenti‑ schen in der Negativen Dialektik zwei gegenläufige Intentionen am Werk, de‑ ren eine die andere verdeckt: Tatsächlich verhält sich die innere Konstruktion des zweiten Teils gegenläufig zu der Gesamtkonstruktion der Negativen Dialektik. Geht diese von der Dialektik zurück auf einen tradierten Begriff von Metaphysik, so führt jene den erkenntniskritischen Ansatz beim Subjekt zurück in eine materialistische Gestalt der Dialektik als ihrem inneren Ziel.511

Demgegenüber möchte ich die These verfolgen, dass die beiden Bestimmungen des Nichtidentischen sich nicht nur nicht widersprechen, sondern dass sie am Ende zusammen kommen; dass also in der negativen Dialektik nicht ein unge‑ 507  Adorno spricht in der Vorlesung über Philosophische Terminologie auch von der „Zu‑ rückgebliebenheit“ des Materialismus, der sich unmittelbar auf die Wirklichkeit zu beziehen versucht, eine Zurückgebliebenheit, die es notwendig macht, das subjektive Moment in den Materialismus einzubringen: „Auch wenn der Materialismus selber durch seinen Ansatz von vornherein an jenem Primat des Geistes oder des Subjekts zweifelt, müssen wir dennoch ver‑ suchen, seinen Begriff gegenüber der subjektiven Erfahrung zu vermitteln.“ Adorno: Philosophische Terminologie 2, S.  175. 508 Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  126. 509 Adorno: Negative Dialektik, S.  397. 510  Ebd., S.  398. 511  Ziermann: „Dialektik und Metaphysik bei Marx und Adorno“, S.  36.

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löster Streit zwischen materialistischer Dialektik und dem tradierten Begriff von Metaphysik stattfindet, sondern dass auf der Grundlage einer materialisti‑ schen Dialektik eine Rettung der Metaphysik versucht wird. Auch diese These bestimmt den restlichen Gang der Untersuchung: Im zweiten Kapitel wird die Spezifikation des Nichtidentischen als Materie im Mittelpunkt stehen und da‑ mit soll auch die Bestimmung negativer Dialektik als materialistische Dialektik erhellt werden; im dritten Kapitel wird vor dem Hintergrund der Bestimmung negativer Dialektik als materialistischer Dialektik die Rettung der Metaphysik untersucht und die Engführung des Nichtidentischen mit dem Absoluten be‑ handelt. Obwohl sich diese These erst im Verlauf des dritten Kapitels einlösen lässt, können wir bereits hier Argumente angeben, die für die These sprechen. Sie kann sich nicht allein auf Stellen aus den „Meditationen zur Metaphysik“ stüt‑ zen,512 sondern lässt sich auch aus dem Programm einer Überschreitung der Bewusstseinssphäre ableiten. Beide Spezifikationen des Nichtidentischen erfol‑ gen explizit unter der Voraussetzung einer Perspektive jenseits der Identität, mithin einer Perspektive, welche die Bewusstseinssphäre bereits überschritten hat. Gegenüber der Sphäre der Identität, welche die Sphäre des Bewusstseins ist, bezeichnen die Spezifikationen etwas dieser Sphäre Transzendentes. Im Falle des Absoluten geht es um metaphysische Transzendenz, im Falle der Materie um erkenntnistheoretische Transzendenz. Adorno weist in einer Vorlesung auf den engen Zusammenhang beider Transzendenzbegriffe hin: „Die erkenntnis‑ theoretische Bedeutung [. . .] und die metaphysische Bedeutung hängen insofern miteinander zusammen, als das erkenntnistheoretisch absolut Transzendente, das, was seiner eigenen Möglichkeit nach im Bewußtseinszusammenhang über‑ haupt nicht mehr ausweisbar ist, immer zugleich auch im metaphysischen Sinn transzendent ist.“513 Gerade dieses erkenntnistheoretisch absolut Transzenden‑ te ist für Adorno die Materie,514 deren Sphäre auch im metaphysischen Sinne relevant wird. Die Parallelisierung von Erkenntnistheorie und Metaphysik er‑ laubt es Adorno, sowohl das Problem materialistischer Dialektik als auch das Problem des Absoluten als Problem der Transzendenz zu fassen. Das Problem des Nichtidentischen ist in diesem Sinne das Problem der Transzendenz, das Problem dessen, was außerhalb wäre und zwar außerhalb des identifizierenden Denkens, aber auch außerhalb der Dialektik.

512 

Vgl. etwa: Adorno: Negative Dialektik, S.  358. Philosophische Terminologie 2, S.  318. 514  Vgl. etwa folgende Passage aus Zur Metakritik der Erkenntnistheorie: „Damit aber ver‑ weisen die logischen Sätze zugleich auf eine Materie, die gerade nicht im Denken aufgeht, das an ihr sich betätigt. Indem Husserl das subjektive Moment, Denken, als Bedingung der Logik unterschlägt, eskamotiert er auch das objektive, die in Denken unauflösbare Materie des Den‑ kens.“ Adorno: Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  74. 513 Adorno:

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

In der strukturellen Topographie negativer Dialektik nimmt das Nichtidenti‑ sche einen Grenzbereich ein. Negative Dialektik bezahlt ihren Fokus auf das Nichtidentische damit, dass sie an ihm ihre Grenze findet. Zwar ist auch das Nichtidentische ein Begriff negativer Dialektik, gar ihr zentraler, aber es mar‑ kiert zugleich ihre Grenze, indem es innerhalb der Dialektik die Erscheinung dessen ist, was jenseits der Dialektik ist. Es ist zwar ein dialektischer Begriff, nämlich die Kehrseite der Identität, aber zugleich ist es das Undialektische, das, was über die Dialektik hinausgeht und der Dialektik ihre Grenzen vorschreibt; das macht die strukturelle Bedeutung des Nichtidentischen in einer negativen Dialektik aus. Negativ ist diese auch, weil sie das, worauf sie ausgerichtet ist, nie positiv erreicht: es bleibt immer ihr Jenseits. Der Umstand, der Adorno oft ge‑ nug als Scheitern negativer Dialektik vorgeworfen wurde und selbst von wohl‑ wollenden Interpreten noch als Mangel negativer Dialektik angesehen wird,515 zeigt sich jetzt als konstitutives Element ihres Begriffs; was Habermas als „Aporetik des Begriffs des Nicht-Identischen“ kritisierte,516 nämlich das „Scheitern“, so Sandkaulen, „beim Anderen des Begriffs je positiv anzukom‑ men“,517 markiert das Erkenntnisziel negativer Dialektik. Dieses bestimmt die Einleitung Zur Metakritik der Erkenntnistheorie als die Erkenntnis ihrer Gren‑ zen: „Sie erreicht die Einsicht, daß der geschlossene Prozeß auch das nicht Ein‑ geschlossene einschließt, und damit eine Grenze von Erkenntnis selber. Sie selbst würde erst von verändernder Praxis überschritten.“518 Indem die negative Dialektik die Grenze ihres Erkenntnisanspruchs am Nichtidentischen respek‑ tiert, hält sie an der Möglichkeit des Nichtidentischen jenseits der Identifikation in praktisch-utopischer Perspektive fest. Unter diesen Vorzeichen verkehrt sich das Scheitern negativer Dialektik in ihr Gelingen und das Gelingen der hegel‑ schen Dialektik in ihr Scheitern. Hegels Dialektik findet ihre Grenze ebenso an ihrem Ziel, der spekulativen Identität; auch ihre Grenzen sind das, was über sie als Dialektik hinausgeht, nur dass sie im Gegensatz zu ihrem negativen Nach‑ folger ihr Ziel erreicht. Sie übersteigt ihre Grenze, indem sie von der Dialektik in die Spekulation übergeht. Allerdings bezahlt sie diesen Übergang mit ihrer Selbstaufhebung. Die hegelsche Dialektik erreicht ihr Ziel nur, indem sie sich als Dialektik aufhebt und aufhört, Dialektik zu sein; ihr Erfolg ist aber ein trüge‑ rischer, da die Versöhnung, die sie erreicht, falsch ist, weil die wahre Versöh‑ nung noch gar nicht möglich ist. Adorno spricht das im 152. Aphorismus („Vor Mißbrauch wird gewarnt“) der Minima Moralia an: Die negative Philosophie, universale Auflösung, löst stets auch das Auflösende selber auf. Aber die neue Gestalt, in der sie beides, Aufgelöstes und Auflösendes, aufzuheben 515 Hindrichs: Das Absolute und das Subjekt, S.  311; ders.: „Theologie als Provokation der Philosophie“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 57. Jg./H. 2 (2009), S.  211–225, hier S.  225. 516 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, S.  515. 517  Sandkaulen: „Adornos Ding an sich“, S.  397. 518 Adorno: Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  46.

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4. Nichtidentität

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beansprucht, kann in der antagonistischen Gesellschaft nie rein hervortreten. Solange Herrschaft sich reproduziert, solange kommt in der Auflösung des Auflösenden die alte Qualität roh wieder zutage: in einem radikalen Sinn gibt es da gar keinen Sprung. Der wäre erst das Ereignis, das hinausführt.519

Es erhärtet sich hier, was wir bereits in der Behandlung der Kritik am Theorem von der Vernunft in der Geschichte konstatiert haben: Adornos Differenz zu Hegel ist letztlich eine geschichtsphilosophische Differenz, ein Streit um die Frage, ob in der Gegenwart schon eine Versöhnung möglich ist, oder ob die Versöhnung nur praktisch verwirklicht werden kann. Deshalb ist Adornos Kri‑ tik der hegelschen Geschichtsphilosophie und damit auch seine eigene Ge‑ schichtsphilosophie nicht Adjunkt, sondern integrales Moment des Konzepts negativer Dialektik. Die strukturelle Bedeutung des Nichtidentischen ist mithin darin zu suchen, dass es als undialektisches Moment der negativen Dialektik ihre Grenze vorgibt und sie damit vor ihrer verfrühten Aufhebung bewahrt. Das Undialektische in Gestalt des Nichtidentischen ist konstitutives Moment der negativen Dialektik; hebt die zur Totalität ausgeweitete Dialektik sich selbst auf, so kann eine nega‑ tive Dialektik nur dann Dialektik bleiben, wenn sie auf Totalität verzichtet. So sagt Adorno in der Negativen Dialektik: „Dialektik muß sich einschränken aus dem Bewußtsein von sich selbst heraus.“520 Das bedeutet: die Dialektik schränkt sich nicht regressiv zugunsten eines mystischen Nichtidentischen ein, um es vor dem beschmutzenden Zugriff des Begriffs zu bewahren; sie schränkt sich ein im Bewusstsein, dass sie nur durch diese Selbsteinschränkung Dialektik bleiben kann. Adorno greift diesen Gedanken zum Schluss der Negativen Dialektik nochmals auf, wenn er angesichts des Absoluten eine „Selbstreflexion der Dia‑ lektik“ – so der Titel des letzten Abschnittes – fordert: Diese Selbstreflexion geschieht, das soll im dritten Kapitel klar werden, nicht bloß um der Dialektik selbst, sondern auch um des Absoluten willen; paradoxerweise muss die Dialek‑ tik darauf verzichten, sich auf das Absolute auszuweiten und selbst zum Abso‑ luten zu werden, um am Absoluten festhalten zu können. Negative Dialektik erfüllt ihren paradoxen Titel nur, indem sie sich den letzten Schritt, die Identifi‑ kation des Nichtidentischen, verbietet.

519 Adorno:

520 Adorno:

Minima Moralia, S.  280. Negative Dialektik, S.  184.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Abschließende Reflexion: negative Dialektik vs. hegelsche Dialektik Die Rekonstruktion negativer Dialektik war von der Überzeugung getragen, dass die wesentlichen Bestimmungen negativer Dialektik am deutlichsten im Kontrast zu ihrem hegelschen Vorbild hervortreten. Eine abschließende Refle‑ xion auf das Verhältnis von negativer und hegelscher Dialektik bietet sich des‑ halb an, um die einzelnen Motive negativer Dialektik nochmals zu bündeln und den Versuch einer Gesamtschau zu geben. Gewiss, nochmals die gewonnenen Differenzen im Einzelnen aufzuzählen ist weder fruchtbar noch erbaulich; loh‑ nender scheint es, die beiden Modelle dialektischen Denkens von ihrer Grenze her zu betrachten und sich dadurch ihrer Differenz nähern. Soll diese Gegen‑ überstellung das Konzept einer negativen Dialektik erhellen, so kann nicht bei einem bloßen Vergleich zwischen hegelscher und negativer Dialektik stehen‑ geblieben werden. Da die negative Dialektik nicht nur den Anspruch erhebt, eine eigenständige Form der Dialektik, sondern die Rettung der dialektischen Gehalte Hegels jenseits des spekulativen Idealismus zu sein, so ist negative Di‑ alektik an nichts weniger als am Anspruch zu messen, die einzige und eigentli‑ che Dialektik zu sein. Die exponierte These weckt Zweifel an ihrer Haltbarkeit; schwierig genug ist es bereits, gegen zahlreiche Kritiken zu zeigen, dass negative Dialektik über‑ haupt eine Dialektik und gar eine eigenständige, nicht defizitäre Dialektik ist. Mehr als die Aussage von Hindrichs, es gebe „zwei große Modelle des dialekti‑ schen Denkens“,521 nämlich die hegelsche und die negative, scheint man nicht verlangen zu können. Allein, der Anspruch negativer Dialektik zwingt, über die Behauptung der Ebenbürtigkeit von negativer und hegelscher Dialektik hi‑ nauszugehen. Dabei kann die Leitfrage nicht sein, welches die bessere, weil brauchbarere Dialektik sei. Die Antwort bestände in trockenen Versicherun‑ gen, deren eine so gut wäre wie die andere. Leitend muss der Anspruch sein, den die negative Dialektik selbst erhebt, wenn sie sich als die kritische Rettung der hegelschen Dialektik versteht: dass Dialektik nur als negative möglich ist. Das aber verlangt eine Verständigung darüber, worin das Wesen der Dialektik besteht. Dass man sich bei dieser Frage am allerwenigsten auf einfache Bestimmun‑ gen verlassen kann, wurde bereits in der Auseinandersetzung um den Vermitt‑ lungsbegriff ersichtlich. Die Dreigliedrigkeit, die sowohl Rentsch als auch Sandkaulen zum Wesen der Dialektik machen wollen, hat sich als bloße Ober‑ flächendifferenz erwiesen. Eine ähnlich oberflächliche Bestimmung nimmt Pippin vor, wenn er behauptet, Adorno sei ein Kantianer: „Die ‚Negative Dia‑ lektik‘ ist überhaupt keine Dialektik, sondern eine Philosophie der Endlichkeit 521 

Hindrichs: „Theologie als Provokation der Philosophie“, S.  225.

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Abschließende Reflexion: negative Dialektik vs. hegelsche Dialektik

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und ein Aufruf zur Anerkennung einer solchen Endlichkeit.“522 So befremd‑ lich das Urteil, negative Dialektik sei keine Dialektik, weil sie eine Philosophie der Endlichkeit ist, auch anmutet, so weist es doch in die richtige Richtung: auf die Frage nach Reichweite und Grenze der Dialektik. Pippin unterstellt, dass nur das Denken ein dialektisches ist, das zugleich ein unendliches Denken ist, mithin ein Denken, das keine Grenze am Anderen des Denkens findet, son‑ dern alles andere in sich aufgenommen hat; wir sind dagegen zum Schluss ge‑ kommen, dass ein Denken nur solange dialektisches Denken ist, wie es die Grenze der Dialektik nicht überschreitet. Wie die Frage sich auch entscheiden mag: Dialektik bestimmt sich über die Beziehung zu ihrem Anderen, zum Un‑ dialektischen. Die Gegenüberstellung von negativer und hegelscher Dialektik muss deshalb beide Dialektiken von ihrem Ende her denken, da sie sich an dieser Stelle ihrem Anderen stellen. Dabei müssen wir über die Feststellung hinausgehen, negative Dialektik bleibe Dialektik, weil sie sich nicht auf das Absolute ausweite – ver‑ buchten wir das unmittelbar als Gewinn gegenüber der hegelschen Dialektik, so unterstellten wir, Dialektik sei ein Selbstzweck und das Ziel der Dialektik sei es, möglichst lange Dialektik zu bleiben. Dagegen wäre einzuwenden, dass auch die negative Dialektik ihr eigenes Ende intendiert; sie richtet sich nicht gegen die Figur der Versöhnung an sich, sondern gegen den Gedanken, dass die Ver‑ söhnung in der Kraft der Dialektik selbst liegt und damit auch gegen den Ge‑ danken, dass im gegenwärtigen Zustand die Versöhnung bereits möglich ist. Gewiss, sie unterscheidet sich von der hegelschen Dialektik dadurch, dass sie sich nicht im Absoluten aufhebt, sondern vor dem Absoluten innehält und Dia‑ lektik bleibt; aber sie bleibt Dialektik nur um der Versöhnung und damit, wie im dritten Kapitel ersichtlich wird: um des Absoluten willen. Tendieren aber beide Dialektiken zu ihrer eigenen Aufhebung angesichts des Absoluten, so kann ihre Differenz nicht in der Stellung zur Versöhnung und zum Absoluten an sich ausgemacht werden. Ohne auf Geschichtsphilosophie und Metaphysik vorzu‑ greifen, lässt sich hier zu einer Entscheidung über die eingangs formulierte Fra‑ ge kommen, ob Dialektik tatsächlich nur als negative möglich ist, wenn wir die Form der Aufhebung, mithin die Figur der Selbstreflexion ins Zentrum stellen. Denn das Besondere an der Selbstreflexion der Dialektik ist, dass sich in ihr die Dialektik selbst als Dialektik zum Thema wird. Die Selbstreflexion ist diejenige Operation der Dialektik, in der diese sich selbst in Relation zu ihrem Anderen, dem Undialektischen, bestimmt. Somit konzentriert sich in der Figur der Selbstreflexion das Eigentümliche der Dialektik in besonderem Maße. Die Selbstreflexion ist eine Reflexion, die über die Dialektik insofern hinaus‑ geht, als sie von spekulativer Warte aus auf die Dialektik blickt. Ist das Spekula‑ 522  Pippin: „Negative Ethik. Adorno über falsches, beschädigtes, totes, bürgerliches Le‑ ben“, S.  108.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

tive in jedem einzelnen Moment der Dialektik als Strahl, der vom Spekulativen selbst ausgeht und die Mangelhaftigkeit des einzelnen Moments beleuchtet, prä‑ sent, so besteht die Selbstreflexion der Dialektik im Übergang von der Dialektik ins Spekulative selbst. Erst von der Selbstreflexion, die den Übergang ins Undi‑ alektische vollzieht, kommt die Dialektik als solche in den Blick. Adorno hat diese Bewegung unter dem Titel der „Doppelschlächtigkeit der Methode“ ange‑ sprochen. Darunter versteht er die in der Phänomenologie des Geistes erhobene “Forderung, gleichzeitig die Phänomene als solche sprechen zu lassen – das ‚rei‑ ne Zusehen‘ – und doch in jedem Augenblick ihre Beziehung auf das Bewußt‑ sein als Subjekt, die Reflexion präsent zu halten“.523 In anderen Worten: die For‑ derung in jedem Moment zugleich in der Sache und außerhalb der Sache zu sein. Hegel erfüllt diese gegensätzlichen und sich widersprechenden Forderungen nur durch die Konstruktion der spekulativen Identität von Subjekt und Objekt, wie Adorno im Anschluss festhält: „Wie viel schwieriger aber ist es geworden, ihr nachzukommen, wenn man nicht mehr die Identität von Subjekt und Objekt sich vorgeben darf, in deren endlicher Annahme Hegel die antagonistischen Forderungen des Zusehens und Konstruierens noch zur Deckung brachte.“524 Das Denken Hegels ist zugleich in der Sache und außerhalb der Sache, weil die innere Bestimmung der Sache nichts anderes als Denken ist. So ist die Doppel‑ schlächtigkeit der Methode bei Hegel noch eine Doppelschlächtigkeit in der Dialektik. Er hatte es nicht nötig, die Dialektik zu überschreiten, weil er sich, wie Adorno es ausdrückt, „auf die vollständige Vermittlung in den Gegenstän‑ den“ verließ.525 Die Spekulation ist deshalb, obwohl sich in ihr die Dialektik aufhebt, dieser nicht entgegengesetzt. Sie ist, wie Angehrn sagt, „die Einheit, deren Entfaltung und Herstellung die Dialektik ist“.526 In anderen Worten: Das Spekulative ist das Ganze der dialektischen Bewegung selbst. Die Selbstreflexi‑ on der hegelschen Dialektik ist eine Reflexion auf das Ganze der dialektischen Bewegung, eine Reflexion, in der die Dialektik ihrer selbst als übergreifender Einheit gewahr wird und sich damit selbst positiviert; das Spekulative ist nichts anderes als die gesetzte Dialektik in ihrer Gesamtheit. Die Selbstreflexion der hegelschen Dialektik setzt diese nicht in Bezug zu ihrem Anderen, sondern setzt die Dialektik als das Ganze und macht sie dadurch zu ihrem Anderen. Streng genommen geht die Dialektik in ihrer Selbstreflexion nicht ins Undialek‑ tische über, sondern wird selbst undialektisch. Adorno fasst dieses Undialekti‑ schwerden der Dialektik als ihre Hypostasis. In diesem Sinne sagt er in der Einleitung zum Positivismusstreit: „Hypostasierte Dialektik wird undialek‑ tisch.“527 Die Selbstreflexion der hegelschen Dialektik, ihre Positivierung zum 523 Adorno: 524 Ebd.

525 Adorno:

Minima Moralia, S.  83.

Negative Dialektik, S.  39. Freiheit und System bei Hegel, S.  122. 527  Adorno: „Positivismusstreit“, S.  308. 526 Angehrn:

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Abschließende Reflexion: negative Dialektik vs. hegelsche Dialektik

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Undialektischen ist mithin nichts anderes als die Hypostasis der Dialektik selbst. Freilich ist diese Hypostasis von Anfang an intendiert, da, wie Angehrn festhält, „Dialektik nach der Hegelschen Konzeption sich gar nicht zu Ende führen oder denken läßt, ohne sich in Spekulation aufzuheben“.528 In Adornos Augen ist diese Konsequenz der Dialektik nicht ihre Vollendung, sondern ihre unkritische Aufhebung durch ihre Totalisierung. Diese Gefahr droht der Dialektik auch jenseits ihrer idealistischen Prämissen; sie ist ihr nicht äußerlich, sondern folgt aus ihrem eigenen Wesen, wie Adorno es am Ende der Negativen Dialektik bestimmt: „Dialektik, Inbegriff negativen Wissens, möchte kein anderes neben sich haben; noch als negative schleppt sie das Gebot der Ausschließlichkeit aus der positiven, dem System, mit sich fort.“529 Dialektik löst sich selbst auf, nicht weil sie zu wenig dialektisch ist, sondern gerade weil sie ihrem Prinzip treu ist; ihre Ausdehnung zum Ganzen schlägt notwendig um in ihre Auflösung. Der 98. Aphorismus („Vermächtnis“) der Minima Moralia leitet denn auch die Auflösung der Dialektik, ihre Positi‑ vierung, aus der grenzenlosen Ausdehnung ihrer Negativität her: „Durch die Alleinherrschaft der Negation wird nach dem Schema des immanenten Gegen‑ satzes die Bewegung des Gedankens wie der Geschichte eindeutig, ausschließ‑ lich, mit unerbittlicher Positivität geführt.“530 Absolute Negativität schlägt um in Positivität. In einer Vorstufe dieses Aphorismus, aus der Adorno in einem Brief an Horkheimer zitiert, heißt es deshalb noch explizit: „[D]as dialektische Denken muß zugleich die Kritik der Dialektik enthalten.“531 Dass die Dialektik noch ihre eigene Kritik enthalten muss, macht die Figur der Selbstreflexion in negativer Dialektik aus; sie besteht in der „Nötigung“, wie es am Schluss des Aphorismus heißt, „dialektisch zugleich und undialektisch zu denken“.532 Kon‑ kret bedeutet das: in der Vermittlung des Objekts zugleich das Objekt jenseits der Vermittlung zu denken. Anders als im Fall der hegelschen Dialektik nötigt die Doppelschlächtigkeit der Methode in negativer Dialektik zum Schritt aus der Dialektik; negative Dialektik ist nicht mehr das Ganze, dadurch aber davor gefeit, sich selbst zum Positiven zu werden. Die Paradoxie, dass Dialektik sich als Dialektik einschränken muss, um als Dialektik zu überleben, führt uns zum Wesen der Dialektik. Deutlicher als Adorno hat Merleau-Ponty das paradoxe Wesen der Dialektik in seiner Kritik der Dialektik Jean-Paul Sartres bestimmt. Paradox ist Dialek‑ tik, weil sich in ihr zwei einander ausschließende Wesensmerkmale kreuzen: „Il lui est essentiel d’être autocritique – et il lui est essentiel aussi de l’oublier dès

528 Angehrn:

Freiheit und System bei Hegel, S.  121. Negative Dialektik, S.  397. 530 Adorno: Minima Moralia, S.  172. 531  Brief vom 2.7.1945. Adorno/Horkheimer: Briefwechsel 1945–1949, S.  141. 532 Adorno: Minima Moralia, S.  173. 529 Adorno:

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

qu’elle devient ce qu’on appelle une philosophie.“533 Die erste Bestimmung lau‑ tet, dass es der Dialektik wesentlich ist, selbstkritisch zu sein; streng genommen bedeutet das, dass Dialektik ohne Selbstkritik keine Dialektik mehr ist. Die zweite Bestimmung ist, dass es der Dialektik ebenso wesentlich ist, ihr selbst‑ kritisches Wesen zu vergessen. Paradox ist Dialektik, weil es ihre Bestimmung ist, ihre Bestimmung zu vergessen; und diese Paradoxie erklärt, warum Dialek‑ tik wesentlich negative Dialektik sein muss. Es gilt nun, die Paradoxie in ihren beiden Bestimmungen zu entfalten. 1) Wie Adorno und Hegel sieht Merleau-Ponty die Vermittlung als das be‑ stimmende Prinzip der Dialektik an; ebenso bemerkt er, dass diese Vermitt­lung nicht die Vermittlung von zwei letztlich identischen Momenten sein kann: „[C]ar alors, en l’absence de toute différence, il n’y aurait pas médiation, mouve­ ment, transformation, on resterait en pleine positivité.“534 Aus diesem Grund betont auch Hegel das Moment der Nichtidentität in der Identität. Allerdings geht das dialektische Moment bei Hegel da verloren, wo die Dialektik selbst zum Ganzen wird; zwischen der Dialektik und ihrem Anderen gibt es keine Vermittlung, weil die Dialektik als Dialektik kein Anderes mehr hat. In anderen Worten: die Synthese als Positivierung der Dialektik ist selbst nicht Teil der Dialektik, sondern dieser äußerlich. Merleau-Ponty macht das gegen Sartre gel‑ tend: „Mais il n’y a pas davantage médiation par soi, si le médiateur est negation simple ou absolue du médiatisé : la négation absolue l’anéantirait simplement, et, se tournant contre elle-même, s’anéantirait aussi, de sorte qu’il n’y aurait tou‑ jours pas médiation, mais pur et simple recul vers la positivité.“535 Die Dialektik Hegels ist undialektisch, insofern sie sich selbst nicht dialektisch, sondern un­ dialektisch, nämlich als einfache Positivität denkt; freilich ist in ihr Nicht­ identität aufgehoben. Aber diese Dialektik denkt sich nicht selbst dialektisch, sondern nur undialektisch; darin liegt nach Adorno und Merleau-Ponty ihre Inkonsequenz. Sie versäumt es, ihr Prinzip – in Vermittlungen zu denken – auf sich selbst anzuwenden, sobald sie sich selbst als suisuffizient und damit als Unmittelbares denkt. So folgt sie in der Bewegung, an deren Ende sie sich selbst in den Blick bekommt, nicht dialektischer, sondern nichtdialektischer Logik. In ihrer Selbstreflexion ist hegelsche Dialektik eine nichtdialektische Dialektik. 2) Merleau-Ponty behauptet, dass es der Dialektik ebenso wesentlich ist, zu vergessen, dass ihre Selbstkritik ihr wesentlich ist. Wesentlich ist der Dialektik die Selbstkritik, weil sie nur so ihrem Prinzip, in Vermittlungen zu denken, treu bleibt. Ebenso aber liegt es in ihrem Prinzip, das zu vergessen; denn sobald Di‑ alektik sich selbst durch das Undialektische vermittelt denkt, muss sie die un‑ hintergehbare Differenz zwischen sich und dem Undialektischen anerkennen. 533  Merleau-Ponty, Maurice: Le visible et l’invisible, hg. von Claude Lefort, Paris 1979, S.  124. 534 Ebd. 535  Ebd., S.  124 f.

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Abschließende Reflexion: negative Dialektik vs. hegelsche Dialektik

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Als Dialektik hat sie, wie Adorno festhält, „nichtdialektisches Bewußtsein zu negieren als endlich und fehlbar“; 536 sie kann das Undialektische nicht stehen‑ lassen, ohne damit sich selbst einzuschränken. Würde sie aber das Undialekti‑ sche negieren und aufheben, so würde sie zum Ganzen werden und sich selbst als Dialektik in Positivität aufheben; sie wäre dann nicht mehr Dialektik, son‑ dern undialektisch und mithin genau das, was sie nach ihrem eigenen Prinzip negieren muss. Dass Dialektik ihr eigenes Prinzip aus ihrem eigenen Prinzip vergisst, macht ihre fundamentale und wesenhafte Paradoxie aus. Dialektik kann die Paradoxie nur auflösen, wenn sie auf der einen oder ande‑ ren Seite gegen ihr eigenes Prinzip verstößt: Entweder sie negiert das Undialek‑ tische und wird selbst undialektisch oder sie findet ihre Grenze am Undialekti‑ schen und denkt sich selbst dialektisch. Hegel wählte die erste Variante; Adorno und Merleau-Ponty die zweite. Dass es, wie Hindrichs sagt, zwei große Model‑ le dialektischen Denkens gibt, ist kein historischer Zufall, sondern folgt aus dem Wesen der Dialektik; sie kann entweder hegelsche, das heißt: idealistische, oder negative Dialektik sein. Damit präzisiert sich die Kritik, die Adorno an der he‑ gelschen Dialektik vornimmt und damit lässt sich auch die These rechtfertigen, negative Dialektik sei die einzig mögliche Dialektik. Bestimmten wir Adornos Kritik der hegelschen Dialektik dahingehend, dass Adorno die Verbindung von Dialektik und Idealismus bei Hegel kritisiert, so müssen wir jetzt ergänzen, dass Dialektik und Idealismus nicht erst von Hegel zusammengebracht werden, sondern dass diese Verbindung im Wesen der Dialektik selbst liegt, nämlich in ihrer Tendenz, sich selbst zum Absoluten auszubreiten. Die Tendenz entspringt dem idealistischen Schluss von der Vermitteltheit des Unmittelbaren auf die Su‑ isuffizienz der Vermittlung. Weil Dialektik notwendig in der begrifflichen Sphäre ansetzt, tendiert sie dazu, die universelle Vermittlung durch den Begriff für das Ganze zu halten. So kritisiert Adorno nicht, dass Hegel Dialektik mit Idealismus kombiniert, sondern dass er dem der Dialektik immanenten Idealis‑ mus nicht entgegenwirkt. Selbstkritik der Dialektik und Kritik der hegelschen Dialektik zielen auf dasselbe: das Konzept der Dialektik vor seiner Totalisie‑ rung zum Prinzip des Geistes zu retten. Schlüssel dazu ist die Differenz in der Vermittlung: Im Bewusstsein dieser Differenz hält das Denken in der Vermitt‑ lung des Unmittelbaren zugleich dessen Unmittelbarkeit fest, denkt mithin di‑ alektisch und undialektisch zugleich und setzt der Dialektik mit dem Undialek‑ tischen ihre Grenze. Paradox ist das Konzept der Dialektik seiner eigenen Bestimmung nach, weil es nicht konsequent gedacht werden kann, ohne inkonsequent zu werden und nur als inkonsequent gedachtes Konzept konsequent ist. Die paradoxen Wen‑ dungen, mit denen Adorno negative Dialektik als notwendige Selbstkritik der

536 Adorno:

Negative Dialektik, S.  397.

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Dialektik beschreibt, sind deshalb nicht rhetorische Floskeln, sondern Bestim‑ mungen der Sache selbst: Nur verletzt er [Hegel, d. Verf.] seinen eigenen Begriff von Dialektik, der gegen ihn zu verteidigen wäre, indem er ihn nicht verletzt, ihn zur obersten widerspruchsfreien Ein‑ heit zusammenschließt. Summum ius summa iniuria. Durch ihre Aufhebung wird die Wechselseitigkeit in Einseitigkeit zurückgebildet. Aus der Wechselseitigkeit ist auch nicht ins Nichtidentische zu springen; sonst vergäße Dialektik ihre Einsicht in die uni‑ versale Vermittlung. Aber das Moment des Nichtaufgehenden, das in ihr mitgesetzt ist, vermag sie nicht ohne Münchhausenkunststück wegzuschaffen. Was ihr Ärgernis berei‑ tet, ist der Wahrheitsgehalt, der ihr erst abzugewinnen wäre. Stimmig würde sie einzig in der Preisgabe von Stimmigkeit aus der eigenen Konsequenz.537

Negative Dialektik erscheint nun als die notwendige Selbstkritik der hegelschen Dialektik; notwendig, weil die hegelsche Dialektik erst durch ihre Kritik sich erfüllt. Sie muss verletzt werden, damit sie nicht verletzt wird; sie muss Stim‑ migkeit preisgeben, um stimmig zu werden. Der Selbstwiderspruch, den Ador‑ no in diesen paradoxen Wendungen der hegelschen Dialektik unterstellt, lautet: in der konsequenten Durchführung ihres Programms widerspricht sich die Di‑ alektik selbst. Auch Merleau-Ponty beschreibt diesen Selbstwiderspruch in ei‑ ner paradoxen Wendung: „La mauvaise dialectique est celle qui ne veut pas per‑ dre son âme pour la sauver, qui veut être dialectique immédiatement, s’autono‑ mise, et aboutit au cynisme, au formalisme, pour avoir éludé son propre double sens.“538 Demgegenüber muss die „gute Dialektik“ sich gegen sich selbst rich‑ ten, ihre Seele verlieren, um ihre Seele zu retten, sich als Dialektik einschrän‑ ken, um als Dialektik zu überleben. Wenn aber die Dialektik an sich paradox ist und sich konsequent nur als Inkonsequente oder als Konsequente nur inkonse‑ quent denken lässt, so ist doch immer noch fraglich, ob die konsequente Inkon‑ sequenz Hegels oder die inkonsequente Konsequenz Adornos und Mer‑ leau-Pontys das Wesen der Dialektik ausmacht. Jenseits der geschichtsphilosophischen Perspektive und jenseits der Bezie‑ hung auf das Absolute, welches das Programm sowohl hegelscher wie negativer Dialektik motiviert, zeigt sich die negative Dialektik als die eigentliche Dialek‑ tik, weil nur die negative Dialektik in ihrer gesamten Bewegung nach dialekti‑ scher Logik verfährt, wenn sie auch diese Logik einschränken muss, um ihr letztlich zu genügen. Der 98. Aphorismus der Minima Moralia ist an dieser Stel‑ le aufschlussreich: „Dialektisches Denken ist der Versuch, den Zwangscharak‑ ter der Logik mit deren eigenen Mitteln zu durchbrechen. Aber indem es dieser Mittel sich bedienen muß, steht es in jedem Augenblick in Gefahr, dem Zwangs­ charakter selber zu verfallen: die List der Vernunft möchte noch gegen die Dia‑ lektik sich durchsetzen.“539 Nach dieser Maßgabe scheitert Hegels Dialektik, 537 

Adorno: „Skoteinos oder Wie zu lesen sei“, S.  375. Le visible et l’invisible, S.  127. 539 Adorno: Minima Moralia, S.  171. 538 Merleau-Ponty:

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Abschließende Reflexion: negative Dialektik vs. hegelsche Dialektik

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weil sich in seiner Dialektik der Zwangscharakter der Logik am Ende doch durchsetzt. Die hegelsche Dialektik verfährt zwar in jedem Schritt nach dialek‑ tischer Logik, aber ihre Bewegung als Ganze folgt undialektischer Logik: Die Formel von der Identität der Identität und der Nichtidentität ist streng genom‑ men nicht eine Formel dialektischer Logik, da sie zwischen der übergreifenden Identität und der Vermittlung von Identität und Nichtidentität keine Vermitt‑ lung, sondern Identität behauptet; die übergreifende Identität ist nichts anderes als die Vermittlung von Identität und Nichtidentität als Ganze. In anderen Wor‑ ten: In dem Moment, in dem die hegelsche Dialektik auf sich selbst reflektiert, denkt sie nicht mehr dialektisch, sondern nach herkömmlicher Logik. Deshalb besteht ihr Fehler nach Merleau-Ponty darin, dass sie unmittelbar Dialektik sein will; dass sie nicht sieht, dass sie Dialektik nur vermittelt durch das Undia‑ lektische sein kann. Merleau-Ponty sagt deshalb auch: „[I]l n’est de bonne dia‑ lectique que celle qui se critique elle-même et se dépasse comme énoncé séparé ; il n’est de bonne dialectique que l’hyperdialectique.“540 Unter Hyperdialektik versteht Merleau-Ponty eine selbstreflexive Dialektik, die sich selbst als Dialek‑ tik dialektisch denkt und sich erst damit zur Dialektik im strengen Sinn macht.541 Damit haben wir eine abschließende Bestimmung negativer Dialektik insofern erreicht, als wir negative Dialektik als Ganze in den Blick bekommen. 540 Merleau-Ponty:

Le visible et l’invisible, S.  127. Die Konvergenz der Dialektikbegriffe Adornos und Merleau-Pontys ist auffällig und es ist erstaunlich, dass angesichts dieser Nähe noch keine Studie erschienen ist, die Adorno und Merleau-Ponty zueinander in Beziehung setzt. Von Adornos Selbstverständnis darf man sich auf jeden Fall nicht einschüchtern lassen: Wenn auch Adorno gegenüber dem französischen Germanisten Robert Minder auf „tiefen theoretischen Differenzen“ (Brief an Robert Minder vom 16.5.1961) zwischen Merleau-Pontys Position und seiner eigenen bestand und er in sei‑ nem Notizbuch anlässlich seines Vortrags über „Le besoin d’une ontologie“ notierte: „Mer‑ leau-Ponty chokiert“ (Notizbuch J, 15. März 1961) und er sich gar mitschuldig an Mer‑ leau-Pontys Tod fühlte, weil er „kurz vor seinem Tod Positionen bis ins Innerste angriff, die ihm wesentlich waren“, (Brief an Robert Minder vom 16.5.1961, alle zitiert nach: Tiedemann: „Nachbemerkung des Herausgebers (Ontologie und Dialektik)“, S.  427.), so macht man es sich doch zu leicht, wenn man die Frage, ob sich zwischen Merleau-Ponty und Adorno ein Dialog ergeben hätte, für „müßig“ erklärt, wie Dieter Thomä das tut. Thomä: „Verhältnis zur Ontologie. Adornos Denken des Unbegrifflichen“, S.  33. Ein Vergleich von Adorno und ­Merleau-Ponty kann auf eine gemeinsame Problembasis und auf die beiden gemeinsame Aus‑ einandersetzung mit der Phänomenologie Husserls bauen, zumal bei beiden diese Beschäfti‑ gung in einem dialektischen Denken resultiert, das sich der Aufhebung in einer hegelschen Identität entzieht. Merleau-Ponty kommt in Auseinandersetzung mit der Einleitung der Phänomenologie des Geistes in der Vorlesung „Philosophie et non-philosophie depuis Hegel“ Merleau-Ponty, Maurice: Notes de cours 1959–1961, hg. von Stéphanie Ménasé, Paris 1996, S.  269–352, besonders S.  288 ff. zur Figur der „Reversibilität“ (réversibilité), die in Le visible et l’invisible eine zentrale Stellung einnimmt. Freilich darf man über den begrifflichen und strukturellen Gemeinsamkeiten die Differenzen nicht vergessen: Merleau-Ponty verfolgt in Le visible et l’invisible den Begriff der Hyperdialektik nicht über die Kritik an Sartre hinaus, sondern spricht nur noch von Reversibilität; das erklärt sich daraus, dass er nicht wie Adorno beim bewusstseinsphilosophischen Paradigma ansetzt, sondern versucht, gleichsam unter diesem bei der somatischen Schicht anzusetzen. Diese und zahlreiche andere Differenzen sind 541 

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

Negative Dialektik unterscheidet sich von der hegelschen dadurch, dass ihre Relation zum Undialektischen nicht eine der Identität ist, sondern selbst eine dialektische Beziehung. Besteht die Selbstreflexion hegelscher Dialektik darin, dass die Dialektik als Ganze undialektisch wird und damit Dialektik und Un‑ dialektisches in Identität gesetzt werden und ist deshalb die Selbstreflexion der hegelschen Dialektik eine undialektische Reflexion, so wendet die negative Di‑ alektik in ihrer Selbstreflexion ihr eigenes Prinzip auf sich selbst an und setzt sich in eine dialektische Beziehung zum Undialektischen. Ihr Prinzip ist der Nachweis der Vermittlung; allem, was sich selbst als Ganzes gibt, weist sie seine Vermittlung durch sein Anderes nach. In ihrer Selbstreflexion reflektiert sie auf ihre eigene Vermittlung durch ihr Anderes: das Undialektische. Die Selbstrefle‑ xion negativer Dialektik ist ihre eigene Dialektisierung, in der sie in Bezug auf ihr Anderes gedacht wird. Negative Dialektik bestimmt sich so als die Form der Dialektik, die sich selbst auch noch dialektisch denkt, damit sie nicht zur abso‑ luten Dialektik wird; sie fasst die Momente des Dialektischen und des Undia‑ lektischen in einer Dialektik, die weder die Momente unvermittelt, dualistisch einander gegenüberstellt, noch die Momente in der absoluten Vermittlung, die nichts anderes als Identität ist, untergehen lässt. Negative Dialektik ist auch des‑ halb negativ, weil sie nur das Negative des Undialektischen ist. Mit dieser Bestimmung sehen wir uns in die Lage versetzt, ein weiteres der von Klein genannten „Grundprobleme Adornos“ anzusprechen: „die Idee eines ‚Endes‘ der Dialektik bei gleichzeitiger Steigerung dialektischer Reflexions‑ ansprüche“.542 Leicht liest sich das als Widerspruch. So meint S. Müller, die These von Angehrn, die Versöhnung bilde auch bei Adorno „den Fluchtpunkt der Kritik“,543 würde Adornos Hegelkritik ihrer Substanz berauben: Dialektik, die der Versöhnung dient und in dieser endet, steht im Widerspruch zu einer reflexiven vermittlungslogischen Konzeption, die das stillgestellte Ende der Dialektik als Schrecken der Geschichte begreift. Vergesellschaftung ist zwar historisch höchst un‑ terschiedlich zwischen den beiden Polen Subjekt und Objekt vorstellbar, aber weder in der Barbarei noch in der Versöhnung ist Dialektik, verstanden als unhintergehbare Sub‑ jekt-Objekt-Konstellation, aufgelöst.544

In der Versöhnung werde „nicht das die jeweilige Gesellschaft fundierende Subjekt‑Objekt‑Verhältnis, sondern die darin enthaltenen Herrschaftsdimensi‑ onen“ aufgehoben, erklärt er an anderer Stelle.545 Adorno aber warnt davor, das Subjekt‑Objekt‑Verhältnis als fundierende Struktur zugrundezulegen; damit würde das Verhältnis als solches, mithin die Vermittlung hypostasiert. Das ist hier vernachlässigbar, wo es nur um die der Dialektik eigene Paradoxie geht, die Merleau-Pon‑ ty ebenso scharfsinnig wie Adorno gesehen hat. 542  Klein: „Deutschland II: Philosophische plus politische Resonanz“, S.  4 43. 543  Angehrn: „Kritik und Versöhnung“, S.  273. 544 Müller: Logik, Widerspruch, Vermittlung, S.  92. 545  Müller: „Halbierte oder negative Dialektik. Vermittlung als Schlüsselkategorie“, S.  194.

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Abschließende Reflexion: negative Dialektik vs. hegelsche Dialektik

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nun gerade das, was Adorno Hegel vorwirft: die Vermittlung zum Zugrunde‑ liegenden, zum ὑποκείμενον zu machen und damit die Nichtidentität der Mo‑ mente in die Identität des sub-jectums aufzulösen. Somit ist es nicht die Idee der Versöhnung, sondern die Behauptung der Unhintergehbarkeit der Sub‑ jekt-Objekt-Relation, die Adornos Hegelkritik ihrer Substanz beraubt. Die Kritik an der hegelschen Versöhnung setzt an als Kritik an der Hypostasis der Vermittlung; sie erfolgt im Namen der praktisch erst zu realisierenden Versöh‑ nung. Somit ist die Idee eines Endes der Dialektik die causa finalis der Steige‑ rung dialektischer Reflexionsansprüche. Negative Dialektik kehrt sich gegen die hegelsche, weil sie die Dialektik vor ihrer verfrühten Selbstauflösung be‑ wahren will; das aber geschieht um willen eines Endes der Dialektik in der noch zu vollbringenden Versöhnung. Die Utopie ist nicht bloß methodisches Konstrukt, sondern in einem emphatischen Sinn auch das praktische Ziel der Philosophie Adornos: sie soll sich verwirklichen. Dazu aber kann Dialektik nicht mehr dem hegelschen Duktus folgen, sondern muss sich in einer zweiten Reflexion selbst reflektieren und sich damit in Beziehung zu dem setzen, über das sie nichts vermag. Indem negative Dialektik ihre Grenze am Undialektischen findet, wird sie, wie Pippin sagt, zu einer Philosophie des Endlichen – und dennoch ist sie Dia‑ lektik. Pippin, der ihr als Philosophie der Endlichkeit den Titel „Dialektik“ ab‑ sprechen möchte, reduziert Dialektik auf die Überwindung des Endlichen, mit‑ hin auf die Spekulation. Hegels Anmerkung zur affirmativen Unendlichkeit macht deutlich, dass die Überwindung des Endlichen nicht dem dialektischen, sondern dem spekulativen Moment des Denkens entspricht: „Die Natur des spekulativen Denkens zeigt sich hieran als einem ausgeführten Beispiele in ihrer bestimmten Weise.“546 Als Überwindung der Endlichkeit ist die affirmative Unendlichkeit mithin weniger dialektisch als spekulativ; sie steht im Zentrum von Hegels idealistischer Vernunftkonzeption. Deshalb ist es nur konsequent, wenn Adorno die negative Dialektik explizit als Philosophie des Endlichen be‑ zeichnet: „Man muß also zunächst jedenfalls sagen, daß die Dialektik, insofern sie die Widerspruchshaftigkeit und Unzulänglichkeit der endlichen Erkenntnis darstellt, das Bewußtsein vom Endlichen ist, und daß sie nur von Endlichem einfach sich prädizieren, nicht sich selbst verabsolutieren läßt.“547 Die Abhän‑ gigkeit vom Endlichen macht Dialektik nicht undialektisch, sondern negativ, indem es ihre Selbstpositivierung zum Absoluten verhindert. Die Stichworte zu einer nicht erhaltenen Vorlesung über negative Dialektik sprechen das an: „Sie [scil. die negative Dialektik] befestigt das Denken an dem, was es nicht selber ist, gegen die Illusion seiner Autarkie.“548 Dadurch verändert sich auch das Ver‑ 546 Hegel:

Logik I, S.  168. Fragen der Dialektik, Vo 8972. 548 Adorno: Vorlesung über Negative Dialektik, S.  195. 547 Adorno:

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Kapitel 1:  Zur Logik negativer Dialektik

hältnis zum Unendlichen: Negative Dialektik erkennt das Endliche an, um das Unendliche nicht zu verendlichen und hält so negativ am Unendlichen fest. Deshalb ist das Nichtidentische der Schlüsselbegriff negativer Dialektik. Er verhindert den Zusammenschluss der Dialektik zum Absoluten und ist die Er‑ scheinung des Undialektischen in der Dialektik. Die angesprochenen inhaltli‑ chen Spezifikationen des Nichtidentischen erfolgen erst vor dem Hintergrund der Doppelschlächtigkeit der Methode. Jenseits der Dialektik zeigt sich das Nichtidentische als fusioniert mit dem Materiellen und als das Absolute. Das mit dem Materiellen Fusionierte und das Absolute sind das Undialektische, aber sie sind das Undialektische der Dialektik. Innerhalb der Dialektik zeigen sie sich nur als Negatives: als Nichtaufgehendes – als das, was die Dialektik daran hindert, ihren Begriff zu erfüllen, und sie dadurch erst zur Dialektik macht. Die beiden folgenden Kapitel laufen jeweils auf eine Form des Undialekti‑ schen zu und versuchen, seine Rolle in der negativen Dialektik zu bestimmen. Das zweite Kapitel widmet sich der Theorie der geistigen Erfahrung; das Undi‑ alektische zeigt sich dabei als Erfahrung, die, so die Fluchtlinie des Kapitels, als Erfahrung von somatischem Leid untrennbar fusioniert ist mit Materiellem. Negative Dialektik bestimmt sich in ihrer Dialektik mit der Erfahrung als der Versuch, die Erfahrung realen Leidens dem Begriff anzueignen. Vom Erfah‑ rungskonzept führt eine Linie zum dritten Kapitel, das der Geschichts- und Metaphysikkonzeption Adornos gewidmet ist. Ihr Fluchtpunkt ist das Undia‑ lektische in Gestalt des Absoluten. So bestimmt sich negative Dialektik zuletzt als Versuch, angesichts der Negativität der geschichtlichen Welt am Begriff des Absoluten festzuhalten.

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Kapitel 2

Eine Theorie der geistigen Erfahrung 1. Exposition: Elemente einer Theorie der geistigen Erfahrung Seit dem Jubiläumsjahr 2003 zeichnet sich in der Rezeption der Schriften Ador‑ nos ein wachsendes Interesse an seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen ab. Bedeutung und Problematik des neuen Interesses lassen sich an der zweiten Frankfurter Adorno-Konferenz paradigmatisch ablesen. Bemerkt Honneth in der Vorbemerkung zum Konferenzband, dass sich aus einer Weiterentwicklung aktueller Debatten unter anderem in der Erkenntnistheorie theoretische Positi‑ onen abzeichnen würden, „die Adorno in den verschiedenen Teilen seines Wer‑ kes schon vor vierzig oder fünfzig Jahren entwickelt hat“,1 so bezeugt das die Relevanz der erkenntnistheoretischen Theoreme Adornos für die zeitgenössi‑ sche Erkenntnistheorie. Die Beiträge selbst zeigen jedoch, dass die Rezeption der adornoschen Erkenntnistheorie vor Probleme stellt, die in einem erkennt‑ nistheoretischen Rahmen nicht zu lösen sind. Bezeichnend ist bereits, dass – im Vergleich mit der ersten Frankfurter Adorno-Konferenz – das Kolloquium zur negativen Dialektik ersetzt wurde durch ein Panel zur Erkenntnistheorie. Die darin zum Ausdruck gekommene Gewichtsverlagerung macht sich auch in den Beiträgen bemerkbar, insofern die der Erkenntnistheorie Adornos inhärente Dialektik nicht berücksichtigt wird: weder als der Erkenntnistheorie immanen‑ te Dialektik von Subjekt und Objekt noch als die Erkenntnistheorie letztlich sprengende Dialektik von Geltung und Genesis. Das Problem aber reicht tiefer als bisweilen durchaus gerechtfertigte Verkürzungen einer bei Adorno die Dis‑ ziplinen überschreitenden Theorie; bereits das Konstrukt einer adornoschen Erkenntnistheorie ist problematisch, da es die Sache zugleich trifft und verfehlt. Sie trifft, da Adorno einen beträchtlichen Teil seines im engeren Sinne philoso‑ phischen Werkes der Erkenntnistheorie gewidmet hat. Bereits seine frühesten philosophischen Bemühungen gelten erkenntnistheoretischen Fragestellungen. Die 30er Jahre in Oxford sind von der Arbeit an dem Manuskript des erst 1956 erschienenen Werks Zur Metakritik der Erkenntnistheorie dominiert. Die Vor‑ lesungen in den 50er Jahren schließlich greifen immer wieder erkenntnistheore‑ 1 Honneth, Axel: „Vorbemerkung“, in: ders. (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt a. M. 2005, S.  7–10, hier S.  9.

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

tische Probleme auf.2 Die Behandlung der Erkenntnistheorie erreicht in der Metakritik der Erkenntnistheorie – gegenüber dem Oxforder Manuskript um ein Kapitel und die Einleitung erweitert – ihre bündigste Gestalt, dominiert aber auch noch weite Teile der späteren Arbeiten. Dass diese Thematik nicht peripher zu behandeln ist, belegt die hohe Bedeutung, die Adorno selbst der Metakritik der Erkenntnistheorie beimaß: nach Tiedemanns Auskunft bezeich‑ nete Adorno die Metakritik der Erkenntnistheorie „noch 1968 als das ihm selbst nächst der ‚Negativen Dialektik‘ wichtigste seiner Bücher“,3 und gegenüber Kracauer nannte er es eines von „den belastetesten Dingen“, die er je geschrie‑ ben habe und eine „Rampe“ zur Negativen Dialektik: „Zu deren vollem Ver‑ ständnis dürfte aber die ‚Metakritik‘ fast unentbehrlich sein.“4 Die zentrale Stellung der Erkenntnistheorie darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass Adorno – mit Ausnahme seiner Dissertation und dem ersten Habilitationsver‑ such5 – die Erkenntnistheorie rückhaltlos kritisiert hat. Die in der Metakritik der Erkenntnistheorie an Husserl geübte Kritik gilt der Kritik der Erkenntnis‑ theorie im Allgemeinen: „Husserls Philosophie ist Anlaß, nicht Ziel.“6 Ziel ist vielmehr die Überwindung der Erkenntnistheorie als „wissenschaftliche Ge‑ stalt der Ursprungsphilosophie“,7 der prima philosophia. Insofern ist die Rede von Adornos Erkenntnistheorie verfehlt: Nicht bestimmte Gestalten der Er‑ kenntnistheorie sollen überwunden werden, sondern die Erkenntnistheorie als solche. Doch die Kritik der Erkenntnistheorie als Ursprungsphilosophie impli‑ ziert nicht Abschaffung der Erkenntnistheorie. Gegen die unreflektierte Liqui‑ dation der Erkenntnistheorie im Marxismus der Oststaaten insistiert Adorno auf der Notwendigkeit der erkenntnistheoretischen Reflexion: „Die Erkennt‑

2  „Probleme der zeitgenössischen Erkenntnistheorie“ (1951), „Das Problem des Idealis‑ mus“ (1953/54), „Das Problem des Idealismus II: Einleitung in Kants Kritik der reinen Vernunft“ (1954), „Kants transzendentale Logik“ (1955), „Erkenntnistheorie“ (1957/58). Vgl. Müller-Doohm: Adorno. Eine Biographie, S.  944 ff. 3  Tiedemann, Rolf: „Editorische Nachbemerkung (GS5)“, in: Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien zu Hegel, GS 5, S.  383–386, hier S.  386. 4  Brief vom 28.9.1966. Adorno, Theodor W. und Kracauer, Siegfried: Briefwechsel 1923– 1966, hg. von Wolfgang Schopf, Briefe und Briefwechsel, Bd. 7, Frankfurt a. M. 2008, S.  716. Adornos Selbsteinschätzung steht in einem eigentümlichen Missverhältnis zur Rezeption dieses Buches, die getrost als praktisch inexistent beschrieben werden kann. Petra Gehring konzediert dies in ihrem Beitrag zur Metakritik der Erkenntnistheorie und versteht das Buch, durchaus mit Recht, als „ein Dokument der programmatischen Selbstverständigung Ador‑ nos“. Gehring, Petra: „Metakritik der Erkenntnistheorie: Husserl“, in: Klein, Richard, Kreu‑ zer, Johann und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, S.  354‑364, hier S.  354. 5  Adorno: „Die Transzendenz des Dinglichen und des Noematischen in Husserls Phäno‑ menologie“, GS 1, S.  7‑77; ders.: „Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen See‑ lenlehre“, GS 1, S.  79–322. 6 Adorno: Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  9. 7  Ebd., S.  30.

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1.  Exposition: Elemente einer Theorie der geistigen Erfahrung

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nistheorie kritisieren heißt auch: sie festhalten.“8 Der doppelte Anspruch ist die Wurzel der Probleme, die Adornos Erkenntnistheorie bereitet. Die Übergänge zwischen Kritik und Festhalten sind fließend und besonders in der Metakritik der Erkenntnistheorie sind die Zielsetzungen nicht immer klar. An dieser Stelle mag ein Rekurs auf Hegel hilfreich sein, der auch in der Auseinandersetzung mit Husserl den eigentlichen Leitfaden bildet, wie Adorno gegenüber Horkhei‑ mer bemerkt.9 Vorbild der Kritik an Husserl ist die hegelsche Kritik der Er‑ kenntnistheorie in der Phänomenologie des Geistes, die von einer Kritik er‑ kenntnistheoretischer Positionen fortschreitet zu einer umfassenden Theorie des Geistes, die schließlich die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit einbe‑ greift. Eine derartige Erweiterung visiert auch Adorno an und eine Beschäfti‑ gung mit der Erkenntnistheorie Adornos muss sich dessen zumindest bewusst sein, um nicht bereits im Ansatz schief zu geraten. Foster hat mit Recht darauf hingewiesen, dass sich die erkenntnistheoretischen Probleme in Adornos Ver‑ ständnis nicht innerhalb der Erkenntnistheorie lösen lassen.10 Adorno betont das in seiner Kritik der husserlschen Theorie: Husserl has set for himself a task which, in his terms, is insoluble. The paradoxical terms are but the expression of the insolubility of his problem. Roughly his problem may be stated as follows: he rebels against idealist thinking while attempting to break through the walls of idealism with purely idealist instruments, namely, by an exclusive analysis of the structure of thought and of consciousness.11

Das impliziert nicht, dass Erkenntnistheorie bei Adorno in anderen Disziplinen aufgelöst wird. Will Adorno an der Erkenntnistheorie festhalten, dann formu‑ liert er damit einen nachdrücklichen Anspruch: die objektive Gültigkeit der er‑ kenntnistheoretischen Reflexion. Eingelöst wird dieser Anspruch freilich erst in der Negativen Dialektik, denn die Metakritik der Erkenntnistheorie war in ihrer Behandlung der Erkenntnistheorie in vielem, wie Adorno bemerkt, „noch zu einseitig-kritisch, nicht dialektisch genug“.12 Nachgeholt ist das im Begriff der „geistigen Erfahrung“, der zwar den Gegenstand bloß der Einleitung der Negativen Dialektik bilden soll,13 in Wahrheit jedoch im ganzen Werk Adornos von hoher Bedeutung ist. Die Theorie der geistigen Erfahrung ist, so möchte ich zeigen, das, was als Adornos Erkenntnistheorie zu gelten hat. Dabei geht diese Theorie in mehrerer Hinsicht über den Begriff der Erkenntnistheorie hinaus: nicht bloß, indem sie die Grenzen der klassischen Erkenntnistheorie erweitert, sondern vor allem, weil die Theorie für Adornos Philosophie nicht nur in er‑ kenntnistheoretischer Hinsicht grundlegend ist. Die Theorie der geistigen Er‑ 8 

Ebd., S.  34. Brief vom 23.7.1938. Adorno/Horkheimer: Briefwechsel 1938–1944, S.  38. 10  Vgl. Foster: Adorno. The Recovery of Experience, S.  193. 11  Adorno: „Husserl and the Problem of Idealism“, GS 20.1, S.  119–134, hier S.  133. 12  Brief vom 28.9.1966. Adorno/Kracauer: Briefwechsel 1923–1966, S.  716. 13  Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  10. 9 

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

fahrung vereint divergente Elemente in einer einzigen Theorie, die aber von Adorno in der Einleitung, die bisweilen den Titel „Zur Theorie einer geistigen Erfahrung“ tragen sollte,14 keineswegs bündig entwickelt werden. Zur Rekons‑ truktion dieser Theorie wird es deshalb zum einen notwendig sein, ihre diver‑ genten Elemente zunächst gegeneinander abzugrenzen, zum anderen erfordert die Entfaltung, von der Einleitung zur Negativen Dialektik auf weitere Texte Adornos auszugreifen. Daraus ergibt sich folgender Aufbau: Einleitend werden die Momente entwickelt, die in der Erweiterung der Erkenntnistheorie zur Theorie der geistigen Erfahrung zum Tragen kommen (I); der Begriff der geis‑ tigen Erfahrung wird hinsichtlich seiner Bedeutung für die Philosophie Ador‑ nos und in seiner Struktur behandelt (II); im zentralen Teil wird Adornos Kri‑ tik der Erkenntnistheorie rekonstruiert in Bezug auf den Subjektbegriff (III) sowie hinsichtlich der Bedingungen der Möglichkeit von geistiger Erfahrung (IV); abschließend wird auf die Bedeutung geistiger Erfahrung für Adornos Philosophie im Ganzen anhand der Interdependenz von Geist und Erfahrung reflektiert (V) und es wird die sich abzeichnende Fluchtlinie skizziert, die zu den im dritten Kapitel besprochenen Modellen führt (VI).

I.  Von der Erkenntnistheorie zur Theorie der geistigen Erfahrung Der Schritt, der von der Erkenntnistheorie zur Theorie der geistigen Erfahrung führen soll, ist durch die Erkenntnistheorie selbst motiviert. Zu ihrer Über‑ schreitung sieht sich Adorno gezwungen, weil sie in ihren bisherigen Gestalten ihrem eigenen Begriff nicht gerecht geworden ist. Die Erkenntnistheorien blei‑ ben „der lebendig vollzogenen Erkenntnis“ unangemessen und verfehlen damit ihre eigentliche Aufgabe, nämlich „darauf zu reflektieren, wie denn nun eigent‑ lich erkannt werde, anstatt die Erkenntnisleistung vorab nach einem logischen oder szientifischen Modell zu beschreiben, dem produktive Erkenntnis in Wahrheit gar nicht entspricht“.15 Ich verstehe diese Kritik Adornos als eine Kri‑ tik aus transzendentalen Bedingungen. Charles Taylor definiert eine solche Kri‑ tik so: „We argue the inadequacy of the epistemological construal, and the necessity of a new conception, from what we show to be the indispensable con‑ ditions of there being anything like experience or awareness of the world in the first place.“16 In diesem Sinn ist ein Fluchtpunkt der Theorie der geistigen Er‑ fahrung die Rekonstruktion der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt. So be‑ dingt der Anspruch der Erkenntnistheorie ihre eigene Überschreitung in Rich‑ 14  Tiedemann, Rolf: „Nachbemerkung des Herausgebers (Vorlesung über Negative Dia‑ lektik)“, in: Adorno: Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66, hg. von Rolf Tiedemann, NaS IV 16, S.  335–346, hier S.  337. 15  Adorno: „Zur Logik der Sozialwissenschaften“, S.  554. 16 Taylor, Charles: „Overcoming Epistemology“, in: ders.: Philosophical Arguments, Cambridge, Massachusetts/London 1995, S.  1–19, hier S.  9.

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1.  Exposition: Elemente einer Theorie der geistigen Erfahrung

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tung einer umfassenderen Theorie, die, so möchte ich im Folgenden zeigen, nicht nur selbst eine wesentlich dialektische Theorie ist, sondern deren Haupt‑ begriff, der der geistigen Erfahrung, ein integrales Moment des Konzepts nega‑ tiver Dialektik ist. Die Möglichkeit zu geistiger Erfahrung ist das, was Adorno mit seiner Kritik der hegelschen Dialektik anvisiert und damit ein gewichtiger Fluchtpunkt negativer Dialektik. Um die prominente Rolle der geistigen Erfahrung im Konzept einer negati‑ ven Dialektik zu verstehen, muss zunächst die Reichweite der Theorie der geis‑ tigen Erfahrung geklärt werden. Was bedeutet die Rede von der Überschreitung der Erkenntnistheorie? Dabei geht es nicht bloß um die Aufzählung von ande‑ ren Disziplinen, die zur Erkenntnistheorie dazukommen, sondern vor allem um das genaue Verhältnis der Disziplinen zueinander. An erster Stelle steht da‑ bei das in der Sekundärliteratur prominent verhandelte Problem des Verhältnis‑ ses von Erkenntnistheorie und Gesellschaftstheorie. Die Verwirrung, die über die Natur der Verbindung herrscht, gründet zum größten Teil darin, dass Ador‑ no dieses Problem während seiner gesamten philosophischen Entwicklung im Hintergrund mitgeschleppt hat, um sich erst ganz spät wirklich Rechenschaft darüber abzulegen. Zunächst möchte ich die Entwicklung dieses Problems in der adornoschen Philosophie kurz nachzeichnen und dasjenige Verhältnis von erkenntnistheoretischer Geltung und gesellschaftlicher Genesis der erkenntnis‑ theoretischen Kategorien rekonstruieren, das Adorno in seinen letzten Texten entwirft (a); von da aus ergibt sich eine weitere Dimension der Verknüpfung von Erkenntnistheorie und Gesellschaftstheorie: Adornos Versuch, das empirische Subjekt als Erkenntnissubjekt zu vindizieren (b); schließlich wird daraus er‑ sichtlich, wie Adorno mit der Kritik der Erkenntnistheorie zugleicht versucht, aus der Kritik des Idealismus zu einem undogmatischen Materialismus zu ge‑ langen (c). a.  Erkenntnistheorie und Gesellschaftstheorie In der Verbindung von Erkenntnistheorie und Gesellschaftstheorie geht es Adorno nicht um eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Gesellschafts‑ theorie, sondern um die gesellschaftlichen Momente, die sich in der Erkenntnis‑ theorie geltend machen. Bereits die frühe Arbeit an der Metakritik der Erkenntnistheorie war vom Gedanken „der Interpretation von Logik als gesellschaftli‑ chem Ausdruck“ beherrscht; 17 in einer Vorlesung aus dem gedanklichen Umfeld der Negativen Dialektik bemerkt Adorno, dass „die soziologischen Probleme den philosophischen immanent sind“,18 was in der Negativen Dialektik zur konkreten Forderung wird: „In gesellschaftliche Kategorien ist philosophisch 17 

Brief vom 28.5.1936. Adorno/Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, S.  179. Metaphysik, S.  73.

18 Adorno:

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

überzugehen allein durch Dechiffrierung des Wahrheitsgehalts der philosophi‑ schen.“19 Wir sehen: Die Verbindung wird von der Philosophie, das heißt der Erkenntnistheorie her konzipiert und steht im Dienste der Erkenntnistheorie, insofern diese ihre Erweiterung verlangt, um ihrem Begriff gerecht zu werden. Kern hält das in ihrem Beitrag zur Adorno-Konferenz 2003 fest, legt sich aber keine Rechenschaft über die Figur der immanenten Überschreitung ab: Gesell‑ schaftstheorie erscheint in ihrer Interpretation als bloße Behelfslösung für die Aporien der Erkenntnistheorie, die, so Kern, „aus einem Missverständnis dar‑ über resultier[en], was es heißt, ein Subjekt begrifflicher Fähigkeiten zu sein“.20 Anstatt, wie sie es zu Beginn fordert,21 die Verbindung von Erkenntnistheorie und Gesellschaftstheorie aus der immanenten Problematik der Erkenntnisthe‑ orie zu verstehen, konstruiert sie die Verbindung äußerlich als Notbehelf. Dagegen stößt eine immanente Rekonstruktion der Problematik der Er‑ kenntnistheorie bei Adorno bald auf die in seinen Augen grundlegende Aporie der Erkenntnistheorie: die Reziprozität von Constituens und Constitutum. Das transzendentale Subjekt, Bewusstsein überhaupt, welches als Constituens Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung sein soll, ist seinerseits auf sein Constitutum, das empirische Subjekt und die Welt verwiesen.22 Damit ist die Verbindung der beiden Sphären bereits angezeigt. Die Untersuchung des Er‑ kenntnissubjekts führt auf empirische Momente, die unweigerlich gesellschaft‑ licher Natur sind. Unklar bleibt, wie diese gesellschaftlichen Momente zur Sphäre der Erkenntnistheorie stehen. Verbreitet ist die Ansicht, Adorno setze die beiden Sphären in unmittelbare Identität. So kritisiert Schnädelbach an Adorno, „daß er das Absolute des Idealismus mit Marx unmittelbar als das ge‑ sellschaftliche Ganze in mystifizierter Gestalt interpretiert“23 und U. Müller wirft ihm vor, er falle „in jene schlechte marxistische Tradition des Reduktio‑ nismus zurück, die unsere Denkformen auf nichts anderes als die Formstruktur gesellschaftlich produzierter Waren zurückführen wollte“.24 Andere hingegen meinen, dass Adorno diesen Schritt gerade nicht macht: Thyen besteht darauf, dass Adorno in Absetzung von Sohn-Rethels Rückführung des transzendenta‑ len Subjekts auf die Gesellschaft „einen emphatischen Subjektbegriff“ vertritt, 25 während Habermas darauf hinweist, dass „Horkheimer und Adorno keines‑ 19 Adorno:

Negative Dialektik, S.  198. Kern: „Freiheit zum Objekt“, S.  54. 21  „Die Einsicht in die Relevanz der Gesellschaftstheorie für die Erkenntnistheorie kann nur eine Einsicht innerhalb der Erkenntnistheorie sein und nicht eine, die dieser vorhergeht.“ Ebd., S.  53. 22  Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  180 ff.; ders.: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  744 ff.; ders.: Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  227 ff.; ders.: Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  209 ff. 23  Schnädelbach: „Dialektik als Vernunftkritik“, S.  86. 24 Müller: Erkenntniskritik und Negative Metaphysik, S.  177. 25 Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung, S.  159. 20 

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wegs wie Lukács (und Sohn-Rethel) die Denkform aus der Warenform ablei‑ ten“.26 Solch divergente Meinungen erklären sich nicht aus einem Gefälle exege‑ tischer Kompetenz, sondern sind weitgehend Adornos eigener Unentschieden‑ heit in der Frage nach dem Verhältnis der Erkenntniskategorien zur gesellschaftlichen Wirklichkeit geschuldet. Bemerkt er in einer Vorlesung zu Kant, dass die Versuchung, das kantsche Transzendentalsubjekt als die Gesell‑ schaft zu interpretieren, ihm „zuzeiten sehr nahe gelegen hat“,27 so ist das ein Eingeständnis eines jahrelangen Ringens mit den Forschungen von Lukács und Sohn-Rethel. Um sich Adornos endgültiger Position in dieser Frage zu versi‑ chern, ist es hilfreich, kurz die wichtigsten Stationen seiner Beschäftigung mit den Thesen Sohn-Rethels nachzuzeichnen.28 Grob kann man von drei Stationen sprechen: Die erste dauert vom ersten Kontakt zwischen Sohn-Rethel und Adorno und dauert bis in etwa die Mitte der 50er Jahre an; hier findet der Übergang von euphorischer Begeisterung zu einer vorläufigen Ernüchterung statt, die in der zweiten Phase resultiert, welche die Arbeit an der Negativen Dialektik, also etwa die Jahre 1960–1966 umfasst; hier zeichnet sich eine ambivalente Stellung Adornos zu den Thesen Sohn-Ret‑ hels ab, die erst in der dritten Phase, nach der Negativen Dialektik, in eine eini‑ germaßen konsistente Position mündet. Als Adorno 1936 von Sohn-Rethel ein Exposé erhält, bekundet er Mühe mit dem komplexen Text und erbittet sich eine „Skizze des Gedankenganges“, die ihm als „Leitfaden“ dienen soll.29 Sohn-Rethel antwortet im so genannten „Nottingham-Brief“, in dem er sein gesamtes Vorhaben ausführlich erklärt. Ausgehend von der „grund-marxistische[n] Einsicht, daß alle Probleme der menschlichen Theorie in Wirklichkeit auf Probleme der menschlichen Praxis zurückgehen und daß deshalb die Aufgabe der marxistischen Ideologienkritik sich in der Aufgabe zusammenfaßt, die Probleme der Theorie auf die zugrunde‑ liegenden Probleme der Praxis zurückzuführen“,30 entwickelt Sohn-Rethel ein Forschungsprogramm, das demjenigen Adornos in vielen Punkten nahesteht. Dessen Reaktion ist zunächst euphorisch: [I]ch glaube nicht zu übertreiben, wenn ich Ihnen sage, daß ihr Brief die größte geistige Erschütterung bedeutete, die ich in Philosophie seit meiner ersten Begegnung mit Ben‑ jamins Arbeit – und die fiel ins Jahr 1923! – erfuhr. Diese Erschütterung registriert die Größe und Gewalt ihrer Konzeption – sie registriert aber auch die Tiefe einer Überein‑ stimmung, die unvergleichlich viel weiter geht als Sie ahnen konnten und auch als ich 26 Habermas:

Theorie des kommunikativen Handelns, S.  506. Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  261. 28  Dass im Folgenden die Beschäftigung mit Sohn-Rethel im Vordergrund steht, verdankt sich einzig dem praktischen Grund, dass sich der Wandel von Adornos Position an seiner Beschäftigung mit Sohn-Rethel deutlicher darstellen lässt als an seiner Beschäftigung mit Lukács. 29  Brief vom 3.11.1936. Adorno/Sohn-Rethel: Briefwechsel 1936–1969, S.  9. 30  Brief von Sohn-Rethel an Adorno vom 4.11. bis 12.11.1936. Ebd., S.  13. 27 Adorno:

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selber ahnte. [. . .] So hätte es Leibniz zumute sein müssen, als er von der Newtonischen Entdeckung hörte, und vice versa.31

Adorno sieht die Übereinstimmung, wie er an Horkheimer schreibt, vor allem in der Intention: „den Idealismus von innen, auf Grund seiner eigenen Voraus‑ setzungen zu sprengen“.32 Horkheimer aber zeigt sich skeptisch und unter sei‑ nem Einfluss weicht Adornos anfängliche Begeisterung einer zunehmenden Skepsis gegenüber der Haltbarkeit von Sohn-Rethels Thesen. Horkheimer be‑ steht bereits in seiner ersten Reaktion auf Divergenzen zwischen Sohn-Rethels Ansatz und Adornos Denken und wirft diesem vor, „gegen den ungeheuren Unterschied [. . .] blind geworden“ zu sein.33 Adorno antwortet nach einer wei‑ teren Kritik Horkheimers mit deutlich gedämpfter Begeisterung und scheint die von Horkheimer hervorgehobenen Differenzen zuzugestehen, will aber dennoch an der Intention Sohn-Rethels festhalten. Aufschlussreich ist, wie er gegenüber Horkheimer versucht, die ursprüngliche Intention von einer verfehl‑ ten Methode abzukoppeln: „Der Unterschied unserer Auffassungen ist bloß der, daß ich trotz allem und unter allem Schutt einen sehr fruchtbaren Gedan‑ ken sehe, während Sie [. . .] das Was durch das Wie so kompromittiert finden, daß sie an das Was selber nicht mehr glauben.“34 In den folgenden Jahren ver‑ sucht Adorno, am Anspruch Sohn-Rethels, der Ableitung erkenntnistheoreti‑ scher Kategorien aus der Warenform, in Form einer immanenten Kritik des Idealismus festzuhalten. Bedeutend ist in diesem Zusammenhang vor allem das erste Kapitel der späteren Metakritik, in dem, wie der Titel „Zur Kritik des lo‑ gischen Absolutismus“ schon sagt, die Logik mit Verweis auf ihre Genesis kri‑ tisiert wird. Im Lichte einer späteren Selbstkritik Adornos ist besonders auf den Umstand zu achten, dass Adorno hier der Geltung der Logik ihr Eigenrecht nicht explizit zuspricht.35 In der zweiten Phase ändert sich das. In der im Umfeld der Negativen Dialektik zu situierenden Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit kritisiert Adorno, dass dieses gesamte erste Kapitel noch zu einseitig for‑ muliert war. Er hält zwar am Nachweis des genetischen Moments der Logik fest, wendet aber ein, dass er in seiner Kritik das hegelsche Moment des Ver‑ schwindens vernachlässigt habe: „daß nämlich die Logik selber, trotz ihrer Ver‑ wiesenheit auf jene genetischen Momente, zugleich – und das ist wirklich etwas was Hegel sehr scharf gesehen hat – den Charakter der objektiven Gültigkeit 31 

Brief vom 17.11.1936. Ebd., S.  32. Brief vom 23.11.1936. Adorno, Theodor W. und Horkheimer, Max: Briefwechsel 1927– 1937, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Briefe und Briefwechsel, Bd. 4.1, Frankfurt a. M. 2003, S.  226. 33  Brief von Horkheimer an Adorno vom 8.12.1936. Ebd., S.  247. 34  Brief vom 21.1.1937. Ebd., S.  273. 35  Vgl. vor allem den Abschnitt: „Genesis und Psychologie“. Adorno: Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  82 f. 32 

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besitzt; [. . .] daß also die Logik zugleich ein Absolutes wie ein Gewordenes, wie ein Entsprungenes ist.“36 Mit der Einsicht in den Doppelcharakter der Katego‑ rien hat Adorno seine endgültige Position bereits erreicht. Zwar hebt Adorno auch in der Negativen Dialektik den „eigentümlichen Doppelcharakter“ der hegelschen Kategorien hervor: „Sie sind entsprungene, sich aufhebende und zu‑ gleich apriorische, invariante Strukturen.“37 Das hält ihn nicht davon ab, immer wieder eine Beziehung zwischen dem logischen Prinzip der Identität und dem gesellschaftlichen Prinzip des Tausches zu insinuieren. Die Art der Beziehung bleibt undeutlich; so ist bloß davon die Rede, das Tausch und Identität „urver‑ wandt“ seien, ohne dass bündig das eine aus dem anderen abgeleitet würde. Eine solche Strukturgleichheit ist als Korrelation ohne Kausalität weit von den beab‑ sichtigten Ableitungen Sohn-Rethels entfernt und dieser findet deshalb auch seine Intentionen in der Negativen Dialektik nur in allgemeinster Form gewür‑ digt, wenn Adorno schreibt: „Alfred Sohn-Rethel hat zuerst darauf aufmerk‑ sam gemacht, daß in ihm, der allgemeinen und notwendigen Tätigkeit des Geis‑ tes, unabdingbar gesellschaftliche Arbeit sich birgt.“38 Da Adorno selbst nicht mehr an die Möglichkeit einer konzisen Ableitung glaubte,39 belässt er es bei der Feststellung einer Urverwandtschaft von Logik und Gesellschaft über Identi‑ täts- und Tauschprinzip, ohne dabei der Logik ihr Eigenrecht abzusprechen.40 In der dritten Phase, nach der Negativen Dialektik, verschwinden auch noch die Hinweise auf diese angebliche Urverwandtschaft. Dabei dürfte auch die nachdrückliche Kritik, die Scholem in einem Brief an der Negativen Dialektik übt, eine Rolle gespielt haben. Während Scholem die Kritik der Immanenzphi‑ losophie für überzeugend hält, durchschaut er, dass der Zusammenhang zwi‑ schen Identität und Tausch nicht wirklich hergestellt wird. Und so geht es auch mir, wenn ich bei Ihnen jene ach wie unbewiesenen Behauptungen über den Zusammenhang des Tauschvorganges mit den Abstraktionsprozessen des Be‑ wusstseins sozusagen gläubig wiederholt finde, als ob irgendeiner Ihrer Vorgänger die‑ sen Zusammenhang jemals jenseits von Metaphorik und dubiosen Analogien schon ins Klare gestellt hätte. Ich will nicht a priori in Abrede stellen, dass es einen gesellschaftli‑ chen Inhalt der Kategorien geben könne; was mir nicht einleuchtet ist die Behauptung, dass es wirklich eine Methode gäbe, die ihn stringent ableiten kann.41

Wie wenn Adorno sich diese Kritik zu Herzen genommen hätte, insistiert er in den Texten, die er nach der Negativen Dialektik verfasst hat, mit Nachdruck auf 36 Adorno:

Geschichte und Freiheit, S.  359 f. Negative Dialektik, S.  48. 38  Ebd., S.  178. 39  Vgl. auch die briefliche Auskunft über die Negative Dialektik vom 14.3.1967: „Eine on‑ tologische Bestimmung des Verhältnisses von Sein und Bewußtsein liegt dem anti-ontologi‑ schen Buch fern.“ Adorno/Scholem: Briefwechsel 1939–1969, S.  415. 40 Adorno: Negative Dialektik, S.  50, S.  182. 41  Brief von Scholem an Adorno vom 1.3.1967. Adorno/Scholem: Briefwechsel 1939–1969, S.  409 f. 37 

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dem Doppelcharakter der Kategorien, die, obwohl gesellschaftlich entstanden, objektiv gültig seien. In einer sonst äußerst kritischen Einleitung zu einer Über‑ setzung von Schriften Emile Durkheims lobt Adorno diesen dafür, dass er den Doppelcharakter des Geistes erkannt habe: „daß er, gesellschaftlich entsprun‑ gen und Moment innerhalb des gesellschaftlichen Lebensprozesses, in der ge‑ sellschaftlichen Dynamik dem Dasein, auf das er ihn sonst geflissentlich redu‑ ziert, als Neues gegenübertritt und nach eigener Gesetzmäßigkeit sich entfal‑ tet.“42 In „Zu Subjekt und Objekt“, dem erkenntnistheoretischen Haupttext von Adornos später Philosophie, bezeichnet er den Doppelcharakter als Paradoxie, die darin bestehe, „daß [. . .] die konstitutiven Formanten gesellschaftlich ent‑ sprungen sind, andererseits jedoch, worauf die gängige Erkenntnistheorie po‑ chen kann, objektiv gültig“.43 Adorno stellt nun explizit heraus, was er in der Metakritik der Erkenntnistheorie noch unterschlagen hatte: dass die Logik sich nicht durch den Nachweis ihrer Genesis aufheben lässt, sondern trotz ihrer Ge‑ wordenheit objektiv gültig ist. Für eine Rekonstruktion der Theorie der geistigen Erfahrung ist daraus fol‑ gender Schluss zu ziehen: Adornos Theorie der geistigen Erfahrung, seine „Er‑ kenntnistheorie“, lässt sich immanent, das heißt ohne Rekurs auf die Gesell‑ schaftstheorie rekonstruieren. Ist das Ziel dieser Theorie die immanente Über‑ schreitung der Sphäre der Erkenntnistheorie, so kann die Verbindung zur Gesellschaftstheorie erst post festum, nach erfolgter Überschreitung, in den Blick geraten. Wie die Rekonstruktion der Dialektik im engeren Sinne bei einer immanenten Kritik an Hegel, so kann auch die Rekonstruktion der Theorie der geistigen Erfahrung bei der immanent vollzogenen Kritik der Erkenntnistheo‑ rie ansetzen. Auch der Umstand, dass Adorno selbst in der Kritik an Husserl wie auch in der Kritik an Hegel immanent verfährt, spricht dafür, Adornos Theorie der geistigen Erfahrung immanent zu rekonstruieren. Wenn uns das Theorem vom Doppelcharakter der Kategorien die Möglich‑ keit eröffnet, Adornos Theorie der geistigen Erfahrung als in diesem Sinne au‑ tonome Theorie zu interpretieren, so stellt sich die Frage, warum Adorno, wenn er die objektive Geltung der Logik in seinen späten Texten so emphatisch be‑ tont, dennoch an der genetischen Perspektive festgehalten hat. Anders gefragt: Warum überhaupt die Möglichkeit einer Genesis des Logischen behaupten, wenn die Logik unabhängig von ihrer Genesis objektive Geltung besitzen soll? Die genetische Perspektive stellt dabei, wie sich vor allem in der Besprechung von Adornos Geschichtsphilosophie zeigen wird, zwar keine Auflösung, so doch eine bestimmte Relativierung der objektiven Gültigkeit der Kategorien dar. Ich spreche von einer bestimmten Relativierung, da Adorno nicht versucht, 42  Adorno: „Einleitung zu Emile Durkheim, ‚Soziologie und Philosophie‘“, GS 8, S.  245–279, hier S.  274. 43  Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  757.

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die Gültigkeit der Erkenntniskategorien zu relativieren, sondern bloß ihren Charakter der Absolutheit aufzuheben, wie er in „Zu Subjekt und Objekt“ an‑ deutet: „Daß sie vergehen könnten, ist nicht jenseits aller Möglichkeit. Ihre Ab‑ solutheit zu prädizieren setzte die Erkenntnisfunktion, das Subjekt absolut; sie zu relativieren widerriefe die Erkenntnisfunktion dogmatisch.“44 Adorno fasst die Kategorien zwar als objektiv gültige auf, reduziert diese Gültigkeit aber auf den geschichtlichen Augenblick und relativiert damit den Ewigkeitscharakter der Kategorien. Die Kategorien sind zwar hier und jetzt unhintergehbar und nicht auf Gesellschaft zu reduzieren, aber sie sind der Möglichkeit nach verän‑ derbar. Wie Adorno in Bezug auf Durkheim sagt, enthält die These des Doppel‑ charakters die Möglichkeit, „daß das Wahre gesellschaftlich vermittelt sei, ohne daß Wahrheit darüber zerginge“,45 in anderen Worten die Möglichkeit, dass das, was als wahr gilt, sich im Zuge der Veränderung der gesellschaftlichen Struktu‑ ren selbst verändert, ohne dass dabei der Begriff der Wahrheit relativiert würde. Adorno richtet sich gegen das „Vorurteil [. . .], daß das Gewordene nicht wahr sein kann“ und damit gegen den Gedanken einer ewigen Wahrheit.46 Für die Kritik der Erkenntnistheorie ist aber weniger bedeutend, dass etwas, was ge‑ worden ist, wahr sein kann – erst in der Ästhetischen Theorie rückt diese Frage in den Mittelpunkt –, sondern vielmehr, dass die Kategorien zwar objektiv gül‑ tig, nicht aber überzeitliche Kategorien sind, die für die Erkenntnis bis in alle Ewigkeit gültig wären. Adorno schließt dadurch, so Klaus Günther, „verabso‑ lutierende Fixierungen“ aus, „wie sie die Unterscheidung zwischen Genesis und Geltung nahelegt“.47 In der Kritik am Absolutheitscharakter der erkenntnisthe‑ oretischen Kategorien ist der kritische Beitrag der gesellschaftlichen Ableitung der Kategorien bei Adorno zu suchen. Was Honneth von der Gesellschaftskri‑ tik der Frankfurter Schule sagt, lässt sich auf Adornos Kritik der Erkenntnis‑ theorie übertragen: dass sie unter einem „genealogischen Vorbehalt“ steht.48 Der Vorbehalt besteht darin, dass die objektive Gültigkeit der Kategorien in einer geschichtsphilosophischen Linie prinzipiell der Möglichkeit von Verände‑ rungen offensteht. Ohne einen solchen Vorbehalt könnte Adorno gar nicht an der Möglichkeit der Utopie oder an der Möglichkeit von Metaphysik festhalten. Freilich beweist das nicht, dass Dialektik der Ausdruck einer bestimmten Ge‑ sellschaftsform ist und mit dieser untergeht. Dazu müsste tatsächlich die Ablei‑ tung des Identitätsprinzips aus dem Tauschprinzip stringent durchgeführt wer‑ 44 Ebd. 45 

Adorno: „Einleitung zu Emile Durkheim, ‚Soziologie und Philosophie‘“, S.  275. Philosophie und Soziologie, S.  282. 47  Günther, Klaus: „Modell 1: Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vernunft I. Dialek‑ tik der Aufklärung in der Idee der Freiheit“, in: Honneth, Axel und Menke, Christoph (Hgg.): Negative Dialektik, Berlin 2006, S.  120‑150, hier S.  129. 48  Honneth, Axel: „Rekonstruktive Gesellschaftskritik unter genealogischem Vorbehalt. Zur Idee der ‚Kritik‘ in der Frankfurter Schule“, in: ders.: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt a. M. 2007, S.  57–69, hier S.  60. 46 Adorno:

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den. Das wird von Adorno keineswegs geleistet, noch, so möchte ich behaupten, hat er es in der Negativen Dialektik ernsthaft intendiert. Der genealogische Vorbehalt ist in diesem Sinne als eine Hypothese zu verstehen, die zwar nicht konzise beweisbar ist, jedoch auch nicht in ihrer Unmöglichkeit bewiesen wer‑ den kann. Dass die Erkenntniskategorien nicht ewig sind und damit veränder‑ bar sind, ist nicht nur möglich, sondern wurde – wie Adorno in der Negativen Dialektik betont49 – von Einsteins Revolution der Physik bereits vollzogen. Wurden sie aber bereits einmal verändert, so ist es möglich, dass sie sich wieder ändern werden und nur auf diese Möglichkeit – wie am Begriff der Utopie zu zeigen sein wird – kommt es Adorno an. Ist der Rekurs auf die Gesellschaftstheorie bei Adorno keine bloße Behelfslö‑ sung einer ungenügenden Reflexion auf die Erkenntnistheorie, sondern viel‑ mehr gerade die Konsequenz einer insistenten Reflexion der erkenntnistheore‑ tischen Kategorien, so ist der Frage nachzugehen, bei welchen Kategorien der Übergang zur Gesellschaftstheorie virulent wird. Vornehmlich ist das bei der Kategorie des Erkenntnissubjekts der Fall. b.  Der Standpunkt der kritischen Theorie Die Bedeutung der Frage nach dem Subjekt der Erkenntnis geht über dessen Rolle in der Erkenntnis hinaus. Nicht bloß, weil Adornos Reflexion auf das Erkenntnissubjekt in die Sphäre der Gesellschaftstheorie treibt, sondern vor al‑ lem, weil das Erkenntnissubjekt einer Theorie zu ihren grundlegenden Bestim‑ mungen gehört. Adornos Kritik jeglicher Form von prima philosophia und sei‑ nem Verzicht, irgendein Erstes zum Fundament zu machen, zum Trotz, gibt die Frage nach dem Erkenntnissubjekt auch eine Antwort die Frage nach dem Standpunkt der kritischen Theorie Adornos. Ein Blick in die Rezeptionsge‑ schichte zeigt, dass damit kein ephemeres Problem angesprochen wird: Der von Habermas ad nauseam wiederholte Vorwurf, Adorno könne seinen Stand‑ punkt nicht ausweisen, ist nicht allein einer Fetischisierung normativer Absi‑ cherung geschuldet, sondern verweist auf ein Problem in der Sache. Adorno verweigert sich dem Desiderat, klipp und klar zu sagen, was sein Standpunkt eigentlich sei. Spricht er im programmatischen letzten Aphorismus der Minima Moralia vom Versuch, alle Dinge vom „Standpunkt der Erlösung“ zu betrach‑ ten,50 so liest sich das leicht als Eingeständnis der Standpunktlosigkeit; das ent‑ schuldigt nicht die pauschalen Vorwürfe, die sich weder auf einen weiteren wichtigen Aphorismus der Minima Moralia noch auf die Einleitung der Negativen Dialektik einlassen. Im 46. Aphorismus „Zur Moral des Denkens“ entwi‑ ckelt Adorno das Desiderat der Doppelschlächtigkeit der Methode, das im ers‑ 49 

Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  188. Minima Moralia, S.  283.

50 Adorno:

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ten Kapitel bereits angesprochen wurde. Wenn auch dieser Aphorismus eher ein Problem entfaltet, das noch zu lösen ist, so zeigt er doch, dass Adorno sich der Problematik des Standpunkts bewusst war. Nur verweigert er einfache Antworten und versucht, das Problem in seiner ganzen Tragweite zu entfalten: Wie kann der Denkende zugleich in den Sachen und außerhalb ihrer sein, wenn der hegelsche Standpunkt der spekulativen Identität von Subjekt und Objekt nicht mehr zur Verfügung steht? Der Standpunkt der Erlösung ist dabei nur die eine Hälfte dieses Programms, nämlich der Standpunkt außerhalb der Sa‑ che; zugleich jedoch muss der Denkende innerhalb der Sache und das heißt: innerhalb der Totalität sein. Der gesuchte Standpunkt wäre also einer, der in‑ nerhalb der Totalität liegt, aber zugleich über sie hinausblickt. Das ist das Prob‑ lem des Standpunkts, vor das Adornos Anspruch stellt. Zu lösen vermag Ador‑ no das Problem erst in der Negativen Dialektik, mit der darin entwickelten Theorie der geistigen Erfahrung. Das Erkenntnissubjekt der Theorie der geistigen Erfahrung konstituiert sich in der Kritik des Erkenntnissubjekts der klassischen Erkenntnistheorie. Ador‑ no bringt sowohl gegen Husserl wie gegen Kant und in gewisser Weise auch gegen Hegel vor, dass weder eidos ego noch das transzendentale Subjekt und auch nicht der absolute Geist des Verweises auf das empirische Subjekt entraten können. Was Adorno anstelle des weltlosen Subjekts der Erkenntnistheorie setzt, ist das empirische, somatische und damit auch gesellschaftliche, kurz: das materialistische Subjekt.51 Ich verwende diesen Begriff mit allen drei Bedeu‑ tungsschattierungen, die der Begriff des Materialismus bei Adorno annimmt: 1) materialistisch ist das Subjekt insofern es leiblich ist und leiblich wahrnimmt, fühlt und – vermittelt – auch denkt. In erkenntnistheoretischer Hinsicht ist das seine bedeutendste Eigenschaft: Es ist ein rezeptives Erkenntnissubjekt, das die Dinge erfährt, anstatt sie zu konstituieren. Nur das leibliche Subjekt besitzt die „Fähigkeit zur Erfahrung“, die dem transzendentalen Subjekt fehlt, „denn kein rein Logisches könnte irgend erfahren“.52 Im Lichte dieser Wiederentdeckung der kognitiven Rolle des erfahrenden Subjekts53 lässt sich der programmatische Satz aus der Vorrede der Negativen Dialektik präzisieren: „Seitdem der Autor den eigenen geistigen Impulsen vertraute, empfand er es als seine Aufgabe, mit der Kraft des Subjekts den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen.“54 Den Satz, den ich Folge als Leitmotiv verwenden werde, verstehe ich so: Adorno versucht mit der Kraft des erfahrenden, individuellen Subjekts den Trug konsti‑ tutiver Subjektivität zu durchbrechen. Diese definiert Bernstein so: „Konstitu‑ 51 Vgl. Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung, S.   209; Jarvis: „What Is Speculative Thinking?“, S.  77; O’Connor: Adorno’s Negative Dialectic, S.  72; Foster: Adorno. The Recovery of Experience, S.  6 . 52  Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  756. 53  Vgl. Foster: Adorno. The Recovery of Experience, S.  6 . 54 Adorno: Negative Dialektik, S.  10.

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tive Subjektivität heißt, daß das Ich die Quelle oder der Grund der Einheit von Erfahrung ist, so wie diese durch kategoriale und begriffliche Synthesis vermit‑ telt wird.“55 In dieser Hinsicht ist das leibliche Subjekt nicht bloß ein Ersatz oder eine Ergänzung zum konstituierenden Subjekt, sondern als dessen Gegen‑ kraft konzipiert. Trug ist konstitutive Subjektivität, wie sich zeigen wird, weil sie einerseits ein unhintergehbares Moment des Erkenntnisaktes ist, zugleich aber die Tendenz hat, sich zum Ganzen zu machen: das ist ihr Scheincharakter. 2) Weiterhin ist das materialistische Subjekt als leibliches Subjekt immer auch ein normativ affizierbares, und das heißt sowohl Lust empfindendes als auch Schmerzen erleidendes Subjekt. Das macht die normative Dimension der Er‑ kenntnistheorie Adornos aus. 3) Nicht zuletzt ist das Subjekt auch materialis‑ tisch als ein in den materiellen Reproduktionsprozess der Gesellschaft verfloch‑ tenes Subjekt, als gesellschaftliches Subjekt. Mit dem materialistischen Subjekt liegt demnach auch eine konkrete Instanz der Verbindung von Erkenntnistheo‑ rie und Gesellschaftstheorie vor. Die Theorie des materialistischen Erkenntnissubjekts stellt so vor Probleme, die nicht in der Erkenntnistheorie gelöst werden können, da das Subjekt als leibliches und gesellschaftliches immer bereits über die Grenzen der Erkennt‑ nistheorie hinaus ist. Auch hier verlangt die Analyse zunächst einmal, schema‑ tisch und äußerlich zu trennen. So möchte ich vorschlagen, ein die Erkenntnis‑ theorie sprengendes Problem von einem im engeren Sinne erkenntnistheoreti‑ schen Problem zu unterscheiden. Dabei stütze ich mich auf den Gedankengang der Einleitung, in der zunächst das die Erkenntnistheorie sprengende Problem angesprochen wird, bevor auf die erkenntnistheoretische Problematik einge‑ gangen wird, wenn auch die beiden Probleme von Adorno nicht explizit den verschiedenen Sphären zugeordnet werden. Der erste Aspekt findet sich im Ab‑ schnitt „Privileg der Erfahrung“. Adorno rechtfertigt dort sein Vorgehen, indi‑ viduelle Erfahrung als der Philosophie angemessene Erkenntnisweise zu be‑ haupten, gegen den möglichen Einwand, eine solche Erfahrung sei undemokra‑ tisch und das Vorrecht von besonders begabten Individuen. Adorno konzediert das zunächst, führt diese Begabung aber auf gesellschaftliche Wurzeln zurück: Fiktiv wäre es, zu unterstellen, unter gesellschaftlichen Bedingungen, zumal solchen der Bildung, welche die geistigen Produktivkräfte gängeln, zurechtstutzen, vielfach ver‑ krüppeln; unter der vorwaltenden Bilderarmut und den von der Psychoanalyse diagnos‑ tizierten, keineswegs indessen real veränderten pathogenen Prozessen der frühen Kind‑ heit könnten alle alles verstehen oder auch nur bemerken.56

Die gewagte These eines privilegierten Zugangs zu Erfahrungen, die gerne als „Autorität aus elitärer Gesinnung“ interpretiert wird,57 möchte ich bis zum 55 

Bernstein: „Begriff und Kategorien III“, S.  94. Negative Dialektik, S.  51. 57  Meyer: „Eine Welt des Unerlösten. Über Theodor W. Adorno“, S.  161. 56 Adorno:

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Ende dieses Kapitels zurückstellen, da Adornos These den Begriff der Erfah‑ rung bereits voraussetzt. Neben dem Problem des elitären Gestus wird in die‑ sem und dem folgenden Abschnitt auch ein anderes angesprochen, nämlich in Form der Frage, in welcher Hinsicht der Rekurs auf individuelle Erfahrung an‑ deren Erkenntnismodi überlegen sein soll. Während Adorno im folgenden Ab‑ schnitt erklärt, dass das Individuum besser zum Erkenntnissubjekt taugt als das wissenschaftliche Verfahren der Objektivierung, weil einzig das Individuum den qualitativen Momenten des Objekts gerecht werden kann,58 deutet er im Abschnitt „Privileg der Erfahrung“ an, was das Individuum vor der idealisti‑ schen Konzeption des Erkenntnissubjekts voraus hat. Je weniger die Theorie definitiv, allumfassend sich geriert, desto weniger vergegenständ‑ licht sie sich auch gegenüber dem Denkenden. Ihm gestattet die Verflüchtigung des Sys‑ temzwangs, aufs eigene Bewußtsein und die eigene Erfahrung unbefangener sich zu verlassen, als die pathetische Konzeption einer Subjektivität es duldete, die ihren abs‑ trakten Triumph mit dem Verzicht auf ihren spezifischen Gehalt zu bezahlen hat.59

Adornos Aufwertung des Individuums zum Subjekt der Erkenntnis hat dem‑ nach nicht nur den geschichtsphilosophischen Grund, dass der Rekurs auf den absoluten Geist nicht mehr möglich ist, sondern soll auch den spezifischen Gehalt der hegelschen Subjektivität aufbewahren. Die spezifische Erkenntnis‑ funktion, die das Individuum vor dem absoluten Geist oder auch dem transzen‑ dentalen Subjekt auszeichnen soll, bleibt Adorno an Ort und Stelle jedoch schuldig. Ich werde diese Funktion in Abschnitt III. a. entwickeln und zeigen, dass das Individuum bei Adorno seine spezifische Erkenntnisfunktion, die es vor dem hegelschen Geist auszeichnet, gerade nicht als autonomes, sondern nur als beschädigtes Individuum vollziehen kann. Das erkenntnistheoretische Problem stellt sich zunächst in der Frage, wie die individuelle Erfahrung erkenntnistheoretische Gültigkeit erreichen kann, kon‑ kret: wie sie Allgemeinheit beanspruchen kann. Denn als radikal individuelle Erfahrung, zu der nicht alle Menschen fähig sind, wäre sie zugleich esoterisch. Damit wäre aber auch die Erkenntnistheorie abgeschafft und nicht in ihrer Kri‑ tik festgehalten, wie Adorno es fordert. Deshalb weist er im Abschnitt „Quali‑ tät und Individuum“ darauf hin, dass die individuelle Erfahrung durch ihre begriffliche Natur immer schon ein allgemeines Moment in sich birgt: „Durch ihre Teilhabe am diskursiven Medium ist sie der eigenen Bestimmung nach im‑ mer zugleich mehr als nur individuell. [. . .] Weil sie in sich allgemein ist, und soweit sie es ist, reicht individuelle Erfahrung auch ans Allgemeine heran.“60 Die Teilhabe am diskursiven Medium ist – so möchte ich vorschlagen – nicht als Versprachlichung einer primär unbegrifflichen Erfahrung zu verstehen, son‑ 58 

Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  53 f. Ebd., S.  52. 60  Ebd., S.  56. 59 

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dern zielt auf den begrifflichen Charakter jeglicher Erfahrung ab. Erfahrung ist begrifflich strukturiert, weil das individuelle Subjekt nur über die logische All‑ gemeinheit der Kategorien etwas erfährt: Noch in der erkenntnistheoretischen Reflexion bedingen logische Allgemeinheit und die Einheit individuellen Bewußtseins sich wechselfältig. Das betrifft aber nicht nur die sub‑ jektiv-formale Seite von Individualität. Jeder Inhalt des individuellen Bewußtseins wird ihm zugebracht von seinem Träger, dessen Selbsterhaltung zuliebe, und reproduziert sich mit ihr. Durch Selbstbesinnung vermag das individuelle Bewußtsein davon sich zu befreien, sich zu erweitern. Dazu treibt es die Qual, daß jene Allgemeinheit die Tendenz hat, in der individuellen Erfahrung die Vorherrschaft zu erlangen.61

Damit hat Adorno zwar eine vorläufige Antwort auf die Frage nach der Allge‑ meinheit der individuellen Erfahrung gegeben, doch stellt sich jetzt die Frage, wie das individuelle Bewusstsein sich von der Vermittlung durch die logische Allgemeinheit befreien kann; denn nur wenn es sich davon befreit, ist es zur Erfahrung der Sache fähig. Den Satz der Einleitung aufgreifend könnte man sagen, dass das individuelle Bewusstsein die Konstitution des Objekts durch die logische Allgemeinheit durchschlagen muss, um zu einer Erfahrung zu kom‑ men. Erfahrung und Konstitution wären dann zwei unterschiedlich konzipierte Erkenntnismodi. Doch die Pointe von Adornos Standpunkt besteht gerade da‑ rin, dass individuelles Bewusstsein und konstitutive Subjektivität nicht vonein‑ ander zu trennen sind. Das individuelle Bewusstsein ist ein gedoppeltes: zu‑ gleich Bewusstsein in logischer Allgemeinheit und Bewusstsein der Insuffizi‑ enz logischer Allgemeinheit. Adorno vergleicht es mit einer Bewusstseinsgestalt aus der Phänomenologie des Geistes: „Individuelles Bewußtsein ist stets fast, und mit Grund, das unglückliche.“62 In Abschnitt III. b. möchte ich der Gestalt des unglücklichen Bewusstseins in Adornos Theorie der geistigen Erfahrung nachgehen, konkret an der Frage, wie sich die Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem in diesem unglücklichen Bewusstsein darstellt. Die Frage nach dem Standpunkt der kritischen Theorie lässt sich vorläufig so beantworten: Ihr Standpunkt ist das materialistische Subjekt, das zugleich un‑ glückliches Bewusstsein ist. Materialistisches Subjekt ist es als Subjekt einer bestimmten Gesellschaft, aber auch als leibliches, leiblich erfahrendes und lei‑ densfähiges Subjekt. Unglückliches Bewusstsein ist es in seiner erkenntnistheo‑ retischen Reflexion, in der es das Ungenügen seiner konstituierenden Leistun‑ gen erfährt. Dieser Standpunkt überschreitet die Erkenntnistheorie, insofern das materialistische Subjekt zugleich ein gesellschaftliches und ein leibliches Subjekt ist; er bleibt der erkenntnistheoretischen Reflexion immanent, insofern das materialistische Subjekt als unglückliches Bewusstsein auf die Grenzen der konstituierenden Erkenntnis reflektiert. Auch hier ist der Rekurs auf gesell‑ 61 Ebd. 62 

Ebd., S.  55.

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schaftstheoretische Momente keine äußerlich an die Erkenntnistheorie heran‑ getragene Behelfslösung, sondern ergibt sich aus der immanenten Reflexion auf das Subjekt der Erkenntnis. c.  Vom Idealismus zum Materialismus Eine weitere Dimension der adornoschen Kritik der Erkenntnistheorie ist der Übergang vom Idealismus zum Materialismus. Wie für die meisten Begriffe, die Adorno von der Tradition übernimmt, gilt für den Begriff des Materialismus, dass er in seiner Bedeutung nicht einfach gleichgesetzt werden kann mit dem von der Tradition überlieferten Verständnis. Adornos Materialismus deckt sich weder mit den Materialismen von Demokrit bis Hobbes noch mit dem histori‑ schen Materialismus der marxistischen Tradition. Statt dem Idealismus dogma‑ tisch den Materialismus entgegenzusetzen, versucht Adorno in einer immanen‑ ten Kritik, den Idealismus in Richtung eines Materialismus zu überschreiten. Dieses Programm motiviert, wie Adorno an Thomas Mann schreibt, bereits die Metakritik der Erkenntnistheorie: Sie hält sich an die Thematik der offiziellen Erkenntnistheorie, aber meint es recht grim‑ mig – ein Versuch, den Idealismus immanent, aus der Konsequenz seiner eigenen Dialek‑ tik zu durchbrechen. Im Grunde geht es darum, den dialektischen Materialismus nicht dogmatisch der Philosophie von außen entgegenzustellen, sondern als deren eigene Wahrheit in ihrer Objektivität zu begreifen. Daß das nie geschah, trägt nach meiner Überzeugung viel Schuld an dem, was aus dem Marxismus wurde.63

Die Gründe für die Notwendigkeit, die materialistische Position allein durch eine Überschreitung des Idealismus zu erreichen, erschöpfen sich weder in der Abgrenzung gegen den dogmatischen Materialismus noch in einer generellen Abneigung gegen das Standpunktdenken. Stringent folgt die Notwendigkeit der immanenten Überschreitung des Idealismus erst aus Adornos Verständnis des Idealismus. Wie Adorno in der Metakritik der Erkenntnistheorie erklärt, sind alle Philosophien, die ein erstes Prinzip behaupten, idealistisch: Wann immer solche Identität behauptet wird, ein monistisches Prinzip von Welterklä‑ rung, das der bloßen Form nach den Primat des Geistes aufrichtet, der jenes Prinzip diktiert, ist Philosophie idealistisch. Selbst wo als solches Prinzip Sein gegen Bewußt‑ sein ausgespielt wird, meldet sich im Anspruch der Totalität des Prinzips, das alles ein‑ schließe, der Vorrang des Geistes an; was in ihm nicht aufgeht, ist unabschließbar und entschlüpft noch dem Prinzip seiner selbst. Idealismus herrscht, auch wenn das ὑποκείμενον Sein oder Materie oder wie immer genannt wird, vermöge der Idee des ὑπο­ κείμενον. Totales Begreifen aus einem Prinzip etabliert das totale Recht von Denken.64

63 

Brief vom 1.8.1950. Adorno/Mann: Briefwechsel 1943–1955, S.  82 f. Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  186.

64 Adorno:

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Idealismus und Identitätsphilosophie sind in diesem Verständnis dasselbe. Das erklärt die Notwendigkeit des Übergangs zum Materialismus. Wenn der Idea‑ lismus diejenige Philosophie ist, die versucht, alles auf ein monistisches Prinzip zurückzuführen und damit die totale Identifikation fordert, dann ist eine auf das Nichtidentische gerichtete Philosophie dazu gezwungen, den Idealismus zu verlassen. Nur eine Philosophie der Nichtidentität kann im strengen Sinn mate‑ rialistisch sein: „Die theoretische Grenze gegen den Idealismus liegt nicht im Inhalt der Bestimmung ontologischer Substrate oder Urworte, sondern zu‑ nächst im Bewußtsein der Irreduktibilität dessen was ist auf einen wie immer auch gearteten Pol der unaufhebbaren Differenz.“65 Was aber zur immanenten Überschreitung zwingt, ist noch nicht dieses Bewusstsein. Schließlich könnte man dem Idealismus auch von außen eine Position entgegenhalten, die auf der unaufhebbaren Differenz gründet. Aber auch eine solche Position wäre für Adorno noch idealistisch, weil sie die Differenz, oder wenn sie streng dialek‑ tisch ist, die Vermittlung, hypostasieren würde und damit wieder ein Grund‑ prinzip setzen würde, aus dem der Geist alles begreifen könnte. Adorno ver‑ schweigt an dieser Stelle, dass dieses Verständnis von Idealismus auf Hegel zu‑ rückgeht. In der zweiten Anmerkung zur affirmativen Unendlichkeit – eine Schlüsselbestimmung des hegelschen Idealismus –, wird der Idealismus zum Prinzip jeglicher Philosophie erklärt: Der Satz, daß das Endliche ideell ist, macht den Idealismus aus. Der Idealismus der Phi‑ losophie besteht in nichts anderem als darin, das Endliche nicht als ein wahrhaft Seien‑ des anzuerkennen. Jede Philosophie ist wesentlich Idealismus oder hat denselben we‑ nigstens zu ihrem Prinzip, und die Frage ist dann nur, inwiefern dasselbe wirklich durchgeführt ist. [. . .] Der Gegensatz von idealistischer und realistischer Philosophie ist daher ohne Bedeutung. [. . .] Prinzipien älterer oder neuerer Philosophien, das Wasser oder die Materie oder die Atome, sind Gedanken, Allgemeine, Ideelle, nicht Dinge, wie sie sich unmittelbar vorfinden, d. i. in sinnlicher Einzelheit, selbst jenes Thaletische Was‑ ser nicht; denn obgleich auch das empirische Wasser, ist es außerdem zugleich das Ansich oder Wesen aller anderen Dinge, und diese sind nicht selbständige, in sich gegründete, sondern aus einem Anderen dem Wasser, gesetzte, d. i. ideelle.66

Auch Hegel argumentiert, dass jedes Prinzip, sei es Materie oder, was er hier nicht nennt, die Vermittlung, unabhängig von seinem Inhalt, bereits als Prinzip idealistisch ist, da das Prinzip dasjenige darstellt, das alles andere zu bloß ideel‑ len, das heißt unselbständigen Momenten herabsetzt. So verstanden besteht die Differenz zwischen Materialismus und Idealismus in der Antwort auf die Fra‑ ge, ob irgendetwas als Urprinzip anerkannt wird oder nicht. Im Gedanken ei‑ ner in diesem Sinne antiidealistischen Philosophie steht Adorno in schärfstem Gegensatz zu Hegel, der eine nicht idealistische Philosophie für unmöglich hält. Adorno nimmt Hegels Zweifel ernst, wenn er betont, dass eine solche Philoso‑ 65 

Ebd., S.  186 f. Logik I, S.  172.

66 Hegel:

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phie sich nur in ihrer Entfaltung bewähren kann: „Dies Bewußtsein muß sich in der konkreten Erfahrung entfalten; bleibt es bei der abstrakten Beteuerung von Polarität stehen, so ist es immer noch dem Idealismus verhaftet. Kein ‚Entwurf‘ kann heute mit der dialektischen Methode gemeint sein.“67 Dialektik, recht ver‑ standen, ist inkompatibel mit dem Idealismus. Entfaltete Dialektik und Materi‑ alismus gehen Hand in Hand; negative Dialektik, die nichts als Urprinzip hy‑ postasiert, ist nur als Materialismus möglich und der Materialismus ist wieder‑ um nur als negative Dialektik möglich. Dieser Materialismus aber ist nur in einer Überschreitung des Idealismus zu erreichen, denn jede Philosophie ist zunächst idealistisch, indem sie dem Begriff und damit dem identifizierenden Prinzip den Vorrang geben muss. Wie eine Notiz zeigt, wollte Adorno diesen Gedanken in einer geplanten dritten Auflage der Negativen Dialektik klar her‑ ausstellen: Alle Philosophie trifft, vermöge ihrer Verfahrungsweise, eine Vorentscheidung für den Idealismus. Denn sie muß mit Begriffen operieren, kann nicht Stoffe, Nichtbegriffliches, in ihre Texte kleben. [. . .] Dadurch ist aber bereits dafür gesorgt, daß den Begriffen, als dem Material der Philosophie, der Vorrang verschafft wird. Selbst Materie ist eine Abs‑ traktion. Aber Philosophie vermag dies ihr notwendig gesetztes ψεῦδος selbst zu erken‑ nen, zu nennen; und wenn sie von dort weiterdenkt, zwar nicht es zu beseitigen aber so sich umzustrukturieren daß alle ihre Sätze ins Selbstbewußtsein jener Unwahrheit ge‑ taucht sind. Eben das ist die Idee einer negativen Dialektik.68

Die idealistische Vorentscheidung der Philosophie ist der Grund dafür, dass der Materialismus nur als Dialektik möglich ist und dass Dialektik ihrerseits nur in der Entfaltung der Widersprüche des Idealismus bestehen kann. Diese Überle‑ gung steckt hinter Adornos Figur der immanenten Überschreitung. Obwohl die Überwindung des Idealismus bereits das Ziel der Metakritik der Erkenntnistheorie darstellt, vollzieht die Negative Dialektik diese Überwin‑ dung noch einmal; möglich, dass Adorno die Metakritik der Erkenntnistheorie in dieser Hinsicht unzulänglich erschien. Im Folgenden fungiert die Negative Dialektik als Referenzpunkt und die Metakritik der Erkenntnistheorie wird nur an bestimmten Stellen hinzugezogen. 69 67 Adorno:

Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  187. Notizbuch U, zitiert nach: Tiedemann, Rolf: „Editorische Nachbemerkung (GS6)“, in: Adorno: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, GS 6, S.  529–531, hier S.  531. Vgl. auch die von Tiedemann angegebene, verwandte Formulierung in der Ästhetischen Theorie: „Von Philosophie, überhaupt vom theoretischen Gedanken kann gesagt werden, sie leide insofern an einer idealistischen Vorentscheidung, als sie nur Begriffe zur Verfügung hat; einzig durch sie handelt sie von dem, worauf sie gehen, hat es nie selbst.“ Adorno: Ästhetische Theorie, S.  382. 69  Dennoch halte ich Eva Picardis Behauptung, die Metakritik sei „Adornos eindrucks‑ vollstes Werk“, für keine Übertreibung. Jenseits der hier behandelten Frage wäre dieses Werk erst noch zu erschließen. Vgl. Picardi, Eva: „Ist der kritische Weg noch offen?“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 47. Jg./H. 3 (1999), S.  511–523, hier S.  513. 68  Adorno:

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Wie die immanente Überschreitung des Idealismus von einem spezifischen Begriff des Idealismus ausgeht, so resultiert sie in einem ebenso spezifischen Begriff des Materialismus. In Bezug auf das Erkenntnissubjekt wurden drei Momente dieses Materialismus bereits genannt. Sie bezeichnen jeweils eine an‑ dere Schattierung des Materialismusbegriffs; man kann sie als das erkenntnis‑ theoretische, das normative und das gesellschaftstheoretische Moment bezeich‑ nen. Ihre wichtigsten Merkmale sind: 1) Erkenntnistheoretisch: Hier bezieht sich der Materialismus auf das materia‑ listische Moment der Erkenntnis, einerseits auf den Leib als erfahrenden, affizierbaren Leib, andererseits auf die Materie als das Affizierende. 2) Normativ: In dieser Dimension ist der affizierbare Leib zugleich auch der Schmerzen erleidende und Lust empfindende Leib. Dieses Moment ist inso‑ fern normativ, als das somatische Leiden von sich aus die eigene Aufhebung will. 3) Gesellschaftstheoretisch: Das empirische Subjekt ist immer ein Subjekt in einer Gesellschaft. In dieser Dimension ist der Materialismus die Reflexion auf die gesellschaftlichen Bedingungen der menschlichen Existenz. Materialismus meint bei Adorno immer eine Kommunikation dieser drei Mo‑ mente in einem einzigen Begriff. Ich spreche hierbei von Momenten, weil die drei Dimension nicht voneinander isoliert bestehen und vielfach ineinander übergehen. Zudem führt die dialektische Natur des Materialismus dazu, dass weder Gesellschaft noch der Leib als Urprinzipien fungieren, sondern immer auch durch den Geist vermittelt sind. Geist wird nicht aufgegeben im Übergang zum Materialismus, sondern er behält als Moment der Dialektik ein Eigenrecht. Adornos Materialismus kann deshalb auch als eine materialistische Theorie des Geistes verstanden werden, die am Geistbegriff die Momente sichtbar macht, die Hegel eskamotiert: das Somatische und die Gesellschaft. In Abschnitt V möchte ich zeigen, dass Adornos Materialismus eine dialektische Theorie des Geistes beinhaltet, die gleichermaßen gegen Kants Prinzip transzendentaler Subjektivität wie gegen Hegels absoluten Geist gerichtet ist.

II.  Der Begriff der geistigen Erfahrung Geistige Erfahrung, der Begriff, in dem die verschiedenen Momente von Ador‑ nos Kritik der Erkenntnistheorie konvergieren, ist im Verhältnis zu seiner Be‑ deutung in Adornos Werk ein unterbestimmtes Konzept. Kaum findet sich eine bündige Definition dessen, was Adorno mit geistiger Erfahrung eigentlich meint, zumal Adorno nicht konsequent von geistiger Erfahrung, sondern auch von inhaltlicher oder unreglementierter Erfahrung redet. Um sich des Begriffs zu versichern, ist sowohl auf die Herkunft von Adornos Erfahrungsbegriff zu reflektieren wie auf die Kritik, die er an den Erfahrungsbegriffen anderer Den‑

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ker übt. Zur Frage steht dabei einerseits der Erfahrungsbegriff selber in seinen spezifischen Bestimmungen: geistig, inhaltlich und unreglementiert (a), ande‑ rerseits aber auch die dialektisch konzipierte Struktur dieses Begriffs (b). a.  Erkenntnis und Erfahrung Die Herkunft des Begriffs der geistigen Erfahrung erschließt sich aus der Be‑ deutung, die Adorno ihm für die Philosophie zumisst. Schwerlich kann sie hoch genug eingeschätzt werden: Nichts weniger als die Möglichkeit von Philosophie überhaupt steht mit dem Erfahrungsbegriff zur Debatte. Hatte Adorno bereits 1931 in seiner Antrittsvorlesung den Anspruch der Philosophie, „daß es mög‑ lich sei, in Kraft des Denkens die Totalität des Wirklichen zu ergreifen“, als il‑ lusionär kritisiert,70 so greifen die ersten Seiten der Negativen Dialektik diesen Gedanken auf, wenn sie die Frage nach der Möglichkeit der Philosophie nach dem Sturz des hegelschen Idealismus stellen. Was die Philosophie zu ihrer Selbstkritik treibt, ist nicht bloß ihre versäumte Verwirklichung, sondern auch der Schwund ihrer welterschließenden Kraft: ihre Rückbildung von ihrem Weltbegriff auf ihren Schulbegriff.71 Der Prozess dieser Rückbildung datiert vom Sturz der hegelschen Philosophie und dem unaufhaltsamen Aufstieg der Naturwissenschaften. Im Anschluss an Kant, der den Schulbegriff der Philoso‑ phie, dem es bloß um „System der Erkenntnis“ zu tun ist, also um bloßes Wis‑ sen um seiner selbst willen, nicht als Philosophie bezeichnet und nur den Welt‑ begriff, „der das betrifft, was jedermann notwendig interessiert“, im nach‑ drücklichen Sinn als Philosophie versteht,72 versucht Adorno durch die Selbstkritik der Philosophie eine Rückbesinnung auf ihren Weltbegriff zu leis‑ ten. Die Selbstreflexion nimmt die Form einer Reflexion auf die „höchsten Er‑ hebungen“ der Philosophie, namentlich der Philosophie Hegels an.73 Die Be‑ deutung Hegels in diesem Unterfangen liegt für Adorno im Erfahrungskon‑ zept, durch das Hegel der Philosophie die Fähigkeit verschafft habe, „inhaltlich zu denken, anstatt mit der Analyse leerer und im emphatischen Sinn nichtiger Formen von Erkenntnis sich abspeisen zu lassen“.74 Diese Fähigkeit zum inhalt‑ lichen Denken war bei Hegel aber nur auf der Basis des absoluten Idealismus möglich: „Das bestimmte Einzelne war ihm vom Geist bestimmbar, weil seine immanente Bestimmung nichts anderes als Geist sein sollte.“75 In Analogie zu seinem Versuch, eine Dialektik ohne Idealismus zu konzipieren, fragt Adorno an dieser Stelle nach der Möglichkeit inhaltlichen Denkens jenseits des Idealis‑ 70 

Adorno: „Die Aktualität der Philosophie“, S.  325. Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  16. 72 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 838 ff./B 866 ff. 73 Adorno: Negative Dialektik, S.  16. 74  Ebd., S.  19. 75 Ebd. 71 

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mus. An dieser Frage hängt die Möglichkeit einer Philosophie, die mehr ist als bloßer Schulbegriff: Birgt der idealistisch gewonnene Begriff der Dialektik nicht Erfahrungen, die, entgegen der Hegelschen Emphase, unabhängig sind von der idealistischen Apparatur, so bleibt der Philosophie eine Entsagung unausweichlich, die inhaltliche Einsicht sich verwehrt, sich auf die Methodik der Wissenschaften einschränkt, diese für Philosophie erklärt und sich virtuell durchstreicht.76

Die Bedeutung des Erfahrungsbegriff ist darin zu suchen, dass allein er einen emphatischen Begriff der Philosophie ermöglicht: eine Philosophie, die nicht bloß Methodenreflexion leistet, sondern auch welterschließende Kraft hat. Deutlich wird das, wenn wir auf die Hegelstudie „Erfahrungsgehalt“ zurück‑ greifen, in der Adorno die geistigen Erfahrungen zu bestimmen sucht, die He‑ gels Philosophie motivieren. Den Erfahrungsbegriff fasst Adorno an dieser Stelle als den „Zwang des objektiv Erscheinenden, das in seiner [Hegels, d. Verf.] Philosophie sich reflektierte und niederschlug“ und der Erfahrungsgehalt ist das, „was seine Philosophie als Philosophie ausdrückt“.77 „Erfahrung“ meint hier nichts anderes als die Erfahrung der Zeit, die sich in der Philosophie reflek‑ tieren soll und die Philosophie ist nichts anderes als die Erfassung der Zeit im Begriff. Als solche ist die Erfahrung oder der Erfahrungsgehalt gerade das, was „in einzelwissenschaftlichen Befunden sich nicht erschöpft“.78 Es ist dieser äu‑ ßerst breite Erfahrungsbegriff, den Adorno nun der Erkenntnistheorie und ih‑ rem Prinzip konstitutiver Subjektivität entgegensetzt. Ich möchte im Folgenden versuchen, den Erfahrungsbegriff am Leitfaden dieser Entgegensetzung zu prä‑ zisieren. An der Erkenntnistheorie kritisiert Adorno vor allem, dass sie über den For‑ malismus nicht hinauskommt. In Erfahrung geht es um den Inhalt und dieser Inhalt soll gerade die Beschränktheit der Erkenntnistheorie durchbrechen, wie Adorno in der Vorlesung über Negative Dialektik andeutet: „Die Inhalte einer solchen Erfahrung sind keine Exempel für Kategorien, sondern sie werden ge‑ rade dadurch relevant, daß an ihnen jeweils ein Neues aufgeht.“79 Das inhaltlich Neue ist gerade das, was nicht in den Kategorien aufgeht, und zwingt deshalb, über die Sphäre der Erkenntnistheorie, verstanden als Reflexion auf die forma‑ len Konstituenten von Erkenntnis oder Erfahrung, hinauszugehen. Geistige Erfahrung ist in diesem Sinne inhaltliche Erfahrung; sie meint nicht die forma‑ len Bedingungen von Erfahrung, sondern deren Inhalte. Adorno verweist an dieser Stelle der Vorlesung auf einen kleinen Text, in dem er diesen Begriff geis‑ tiger Erfahrung expliziert. In „Henkel, Krug und frühe Erfahrung“ zeichnet er 76 

Ebd., S.  19. Adorno: „Erfahrungsgehalt“, S.  296. 78 Ebd. 79 Adorno: Vorlesung über Negative Dialektik, S.  123. 77 

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an der Gegenüberstellung von Bloch und Simmel nach, was geistige Erfahrung als inhaltliche von bloßer Scheinkonkretion trennt. Das „Unvergleichliche“ der blochschen Erfahrung, der sich Adorno verpflichtet fühlt, konstituiere sich im Vergleich mit Simmel.80 An Simmel kritisiert Adorno, dass dieser über konkre‑ te Gegenstände philosophiere und nicht aus ihnen heraus: „Das dürftige Skelett invarianter Grundbegriffe wie Form und Leben und die Blindheit für das am Phänomen, was Philosophie erst einzuholen hätte, entsprechen sich dabei.“81 Inhaltliche Erfahrung besteht demnach nicht in der Wahl der Gegenstände, so als ob die Behandlung eines konkreten Gegenstandes zugleich garantieren wür‑ de, dass auch die Erfahrung konkret ist. Wie Adorno an Bloch expliziert, wird Erfahrung inhaltlich durch die Berücksichtigung der geschichtlichen Zusam‑ menhänge, die sich in der Sache verbergen: „Hegelisch reißt Blochs Erfahrung den Inhalt in sich hinein. Schön sind ihm nicht länger die Maßverhältnisse sei‑ nes Kruges, sondern was, als dessen Werden und Geschichte, in ihm sich aufge‑ speichert hat, was darin verschwand, und was der Blick des Denkenden, so zart wie aggressiv, zum Leben erweckt.“82 Der Inhalt, der Erfahrung zur inhaltlichen Erfahrung macht, ist die geschichtliche Dimension der Sache, die gesell‑ schaftlichen Wirkungszusammenhänge, die in ihre Entstehung eingegangen sind, aber auch die geschichtlichen Veränderungen, die sich in der Sache nieder‑ geschlagen haben.83 Damit lässt sich der Erfahrungsbegriff über den Vergleich mit dem herkömm‑ lichen Erkenntnisbegriff präzisieren. Erkenntnis lässt geistige Erfahrung nicht zu, weil sie über das Neue, das erst die Erfahrung ausmacht, keine Rechenschaft ablegen kann. Das Neue ist, wie Adorno gegen Kant geltend macht, der Er‑ 80 

Adorno: „Henkel, Krug und frühe Erfahrung“, GS 11, S.  556–566, hier S.  558. Ebd., S.  561. 82  Ebd., S.  563. Auch bei Foster ist diese Passage zentral für das Verständnis geistiger Er‑ fahrung. Vgl. seine Interpretation in: Foster: Adorno. The Recovery of Experience, S.  19. 83  Im Folgenden wird oft pauschal vom „Objekt“ und von der „Sache“, gar der „Sache selbst“ die Rede sein, denn dies sind die Begriffe, die Adorno benutzt. Unglücklich ist, dass sich das notwendig Allgemeine dieser Begriffe gerade gegen die Prätention auf Sachhaltigkeit kehrt, die sie ausdrücken sollen. So dient ja der Begriff der „Sache selbst“, wie Bubner bemerkt hat, der Abgrenzung gegen Redeweisen, die eben gerade nicht von der Sache reden, sondern an ihr vorbei. Vgl. Bubner, Rüdiger: „Die ‚Sache selbst‘ in Hegels System“, in: ders.: Zur Sache der Dialektik, Stuttgart 1980, S.  40–69, hier S.  40. Die Berufung auf die Sache selbst hat aber ihrerseits die Tendenz, den Begriff der „Sache selbst“ vor die Sache selbst zu schieben. Auch Adorno ist von dieser Tendenz nicht frei. Das äußert sich in den bisweilen floskelhaft anmu‑ tenden Beschwörungen, besonders in der Einleitung und den ersten beiden Teilen der Nega‑ tiven Dialektik, die von der Sache reden und bei ihrem abstrakten Begriff verweilen. Freilich ist dies im Einklang mit dem Aufbau des Buches, der „durch die Eiswüste der Abstraktion hindurch“ zum Konkreten führen soll. Das Problem ergreift auch die Interpretation: Schnell vollzieht sich auch die Explikation der Sache selbst nur durch den Begriff der „Sache selbst“. Das entbindet in keiner Weise vom Versuch bündiger Bestimmung. Ich stimme mit Bernstein darin überein, dass die „Sache“ in der Negativen Dialektik konkret die Momente meint, die in den Modellen zum Tragen kommen: Freiheit, Geschichte, Metaphysik. Vgl. Bernstein: „Be‑ griff und Kategorien III“, S.  106. 81 

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kenntnistheorie inkommensurabel. „Man kann Kant keine Erkenntnistheore‑ me hinzufügen, die bei ihm nicht ausgeführt sind, weil seiner Erkenntnistheorie deren Ausschluß zentral ist.“84 Die Erkenntnistheorie weiß in diesem Sinne schon alles, weil sie nur das als Wissen zulässt, das ihre Kategorien konstituie‑ ren, aber gerade der Umstand, dass Erkenntnis durch Kategorien konstituiert wird, ist der Erfahrung entgegengesetzt. Adorno hat dieses Problem erstmals in einem Brief an Benjamin angesprochen, in dem er das Vergessen als notwendi‑ ges Moment der Erkenntnistheorie bestimmt: „Objekte werden dinghaft in dem Augenblick, wo sie festgehalten sind, ohne in allen ihren Stücken aktuell gegenwärtig zu sein: wo etwas von ihnen vergessen ist.“85 Die Einsicht, dass die Konstitution von Objekten als Dingen der Erkenntnis nur möglich ist, indem diese Objekte nicht in all ihren Momenten gegenwärtig sind, wird von Adorno seltsamerweise nicht explizit für seine Erfahrungstheorie herangezogen, son‑ dern taucht in der Negativen Dialektik nur im Bezug auf die Verdinglichungs‑ kritik auf. 86 Bloß in der Vorlesung Philosophie und Soziologie von 1960 greift er diesen Gedanken wieder auf und bezieht ihn dort ausdrücklich auf die Proble‑ matik der Erkenntnistheorie. Für die Erkenntnistheorie, sagt er, sei das Verges‑ sen eine „konstitutive Kategorie“: [D]as heißt also, daß so etwas wie Dingbewußtsein in der Philosophie nur insoweit möglich ist, als wir nicht die volle Aktualität der zu synthetisierenden Phänomene ge‑ genwärtig haben, sondern einige Aspekte von ihnen vergessen, vernachlässigen, und nur durch das, was uns nicht an ihnen gegenwärtig ist, also durch eine Art von στέρησις, durch eine Art von Beraubung überhaupt zu dem fähig werden, was die Erkenntnisthe‑ orien und Metaphysiken unter dem Titel der Synthesis so sehr gepriesen haben.87

Erfahrung kann als die Erkenntnisart verstanden werden, welche die vergesse‑ nen Elemente wieder bewusst macht. Durch die Synthesis, die Erkenntnisleis‑ tung des konstituierenden Subjekts, erscheint das „Gewordene als ein Absolu‑ tes“; 88 das impliziert, dass das konstitutive Vergessen hauptsächlich die ge‑ schichtliche Dimension der Sache betrifft. Kreuzer macht dagegen geltend, dass das Vergessen auch ein anderes Moment betreffen mag: „de[n] leiblichen Rest, der individuelles Dasein auszeichnet – ein kreatürlicher ‚Rest‘, der in Funktio‑ nen des Geistes nicht aufgeht“.89 Geistige Erfahrung ist demnach die Wiedere‑ rinnerung der vergessenen Momente, des Leiblichen und Geschichte und als 84 Adorno:

Negative Dialektik, S.  380. Brief vom 29.2.1940. Adorno/Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, S.  417. 86  Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  190 ff. Vgl. aber folgende Stelle aus der Dialektik der Aufklärung: „Verlust der Erinnerung als transzendentale Bedingung der Wissenschaft. Alle Verdinglichung ist ein Vergessen.“ Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S.  263. 87 Adorno: Philosophie und Soziologie, S.  2 27. 88 Ebd. 89  Kreuzer, Johann: „Das Gespräch mit Benjamin“, in: Klein, Richard, Kreuzer, Johann und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/ Weimar 2011, S.  373–389, hier S.  386. 85 

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solche die Verflüssigung der erstarrten Objekte. Mit dem Leib und der Ge‑ schichte wird zugleich die Gesellschaft vergessen: denn was auch immer die Sache ist, sie ist Produkt einer gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit; Gesellschaft ist, so Adorno in „Zu Subjekt und Objekt“, „der Erfahrung imma‑ nent, kein ἄλλο γένος“.90 Geistige Erfahrung lässt sich so als Erfahrung zu be‑ stimmen, die auch den Entstehungskontext einer Sache berücksichtigt, so dass, wie Foster es treffend ausdrückt, „the multilayered relations of a thing with other things outside it, and eventually the entirety of its context, are allowed to inform the cognitive significance of that thing“.91 Adorno formuliert das pro‑ grammatisch in der Einleitung der Negativen Dialektik: „Eine Sache selbst be‑ greifen, nicht sie bloß einpassen, auf dem Bezugssystem antragen, ist nichts an‑ deres, als das Einzelmoment in seinem immanenten Zusammenhang mit anderen gewahren.“92 Dieser immanente Zusammenhang betrifft, wie wir gese‑ hen haben, die gesellschaftliche, geschichtliche und auch leiblich-somatische Dimension der Sache. So verstanden wäre geistige Erfahrung die Antwort auf die Aporien der Er‑ kenntnistheorie und hätte zugleich den Bereich der subjektiven Immanenz, in‑ nerhalb dessen das Erkenntnissubjekt die Gegenstände konstituiert, überschrit‑ ten. Allein, geistige Erfahrung und konstituierende Erkenntnis sind weder wählbare Alternativen, noch einfach dualistisch gegeneinander zu positionie‑ ren; ein Verfahren, das Adorno in der Einleitung der Negativen Dialektik Berg‑ son vorwirft.93 Nach Adorno müssen die beiden Erkenntnisweisen als in hohem Grade durcheinander vermittelte angesehen werden. Bündig formuliert wird das Verhältnis in „Zu Subjekt und Objekt“: Die Schlüsselposition des Subjekts in der Erkenntnis ist Erfahrung, nicht Form; was bei Kant Formung heißt, wesentlich Deformation. Die Anstrengung von Erkenntnis ist überwiegend die Destruktion ihrer üblichen Anstrengung, der Gewalt gegen das Ob‑ jekt. Seiner Erkenntnis nähert sich der Akt, in dem das Subjekt den Schleier zerreißt, den es um das Objekt webt. Fähig dazu ist es nur, wo es in angstloser Passivität der eigenen Erfahrung sich anvertraut.94

Die Arbeit der Erkenntnis ist zunächst eine negative: die Destruktion der kon‑ stituierenden Erkenntnis, der Ausbruch aus den Formen der Erkenntnis, die das Objekt verstellen; das ist dem Subjekt nur möglich, wenn es mit seiner Kraft der Erfahrung den Trug konstitutiver Subjektivität durchschlägt. Der Rekurs auf Erfahrung dient mithin dazu, die Beschränkungen der Erkenntnistheorie zu überschreiten. Adorno spricht in der Negativen Dialektik von den fehlgeschla‑ 90 

Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  748. Adorno. The Recovery of Experience, S.  2. 92 Adorno: Negative Dialektik, S.  36. 93  Ebd., S.  20. 94  Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  752. 91 Foster:

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

genen „Ausbruchsversuchen“ von Husserl und Bergson.95 Gemeint ist der Aus‑ bruch aus den Formen des konstituierenden Bewusstseins hin, getreu der Paro‑ le Husserls: Zu den Sachen selbst! Hier gilt es ein folgenschweres Missverständnis abzuwehren, das Adornos Rede von einem „Ausbruchsversuch“ nahelegt. Geistige Erfahrung mag dahin‑ gehend verstanden werden, dass sie eine unbegriffliche Erfahrung der Gegen‑ stände jenseits der Kategorien ist, eine Erfahrung des von den Kategorien des erkennenden Subjekts unversehrten Objekts. So wäre geistige Erfahrung die Stellung des Gedankens zur Objektivität, die Hegel als unmittelbares Wissen bezeichnet. Zu diesem Schluss kommt Fulda, wenn er meint, Sartre und Ador‑ no würden gegen Hegel auf die „dem wissenschaftlichen Begreifen gegenüber unmittelbare Erfahrung“ als Erkenntnisquelle zurückgreifen.96 Dabei übersieht er, dass Adorno an der begrifflichen Vermittlung der Erfahrung festhält. Gegen Bergson beharrt Adorno in der Metakritik der Erkenntnistheorie auf der be‑ grifflichen Natur der vermeintlich unmittelbaren Intuition: Die mit Begriffen und ordnenden Formen durchwachsenen Intuitionen gewinnen an Recht, je mehr das vergesellschaftete und organisierte Dasein sich expandiert und ver‑ härtet. Nicht aber machen jene Akte eine absolute, vom diskursiven Denken durch einen ontologischen Abgrund getrennte Quelle der Erkenntnis aus.97

Erfahrung des Objekts ist nicht ohne die Vermittlung durch die Kategorien des Subjekts möglich und geistige Erfahrung ist zwar, wie Thyen festhält, „eine unreduzierte, unreglementierte, aber diskursive Erfahrung“.98 Diskursiv ist Er‑ fahrung nicht durch nachträgliche Versprachlichung, sondern sie ist bereits als Erfahrung begrifflich strukturiert. Missverständlich ist die Rede von einem Ausbruchsversuch, weil sie den Anschein erweckt, Erfahrung finde jenseits der Kategorien des Erkenntnissubjekts statt. Geistige Erfahrung aber ist eine be‑ stimmte Weise der Erkenntnis und wie jegliche Erkenntnisfunktion muss sie sich in Kategorien vollziehen: „Sie [die Erkenntnisfunktion, d. Verf.] besteht wesentlich in jenen Formanten; soweit es Erkenntnis gibt, muß sie nach ihnen sich vollziehen, auch wo sie darüber hinausblickt.“99 Auch dass Erkenntnis über die Formanten hinausblicke ist streng genommen eine schiefe Ausdrucksweise. Nicht soll Erfahrung über die Kategorien hinausblicken in das Jenseits der Ka‑ tegorien; vielmehr benennt Erfahrung den Einbruch des Jenseits in die Katego‑ rien. Hullot‑Kentor hat das als das Geheimnis von Adornos Kritik des identifi‑ zierenden Denkens entziffert: „What Adorno wanted to comprehend was the capacity of thought – of identity itself – to cause reality to break in on the mind 95 Adorno:

Negative Dialektik, S.  21. Fulda: „Unzulängliche Bemerkungen zur Dialektik“, S.  38. 97 Adorno: Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  52 f. 98 Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung, S.  281 f. 99  Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  757. 96 

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that masters it.“100 Für das Verständnis des antagonistischen Verhältnisses von herkömmlicher Erkenntnis und Erfahrung bedeutet das: Erfahrung durch‑ bricht nicht die Kategorien konstituierender Erkenntnis, sondern erfährt das Objekt jenseits der Konstitution, aber in denselben Kategorien wie die konsti‑ tuierende Erkenntnis. Konstitution ist nach Adorno gerade das, was das Objekt der Erfahrung des Subjekts entrückt: „Als in Wahrheit Nichtidentisches wird das Objekt dem Subjekt desto ferner gerückt, je mehr das Subjekt das Objekt ‚konstituiert‘.“101 Paradox an der von Adorno anvisierten Erfahrungsweise ist, dass sie ein negatives und ein positives Moment der Erfahrung unterscheidet, diese Momente aber in einem Erfahrungsbegriff und in einem Erfahrungsakt zusammenfasst. Erfahrung ist einerseits die Erfahrung des Ungenügens subjek‑ tiver Konstitution, der Unangemessenheit der Kategorien an das Objekt, ande‑ rerseits ist sie aber auch die Erfahrung des Objekts selber in den unangemesse‑ nen Kategorien. Damit die positive Erfahrung in der negativen überhaupt mög‑ lich ist, müssen die unangemessenen Kategorien fähig sein, das Objekt in sich aufzunehmen; dazu müssen sie sich verändern. Adorno führt das gegen Kants Erkenntniskonzept an. Über die Kategorien herkömmlicher Erkenntnis lässt sich Erfahrung nicht begründen: „Denn eine solche Begründung in einem Star‑ ren und Invarianten widerstreitet dem, was Erfahrung von sich selbst weiß, die ja, je offener sie ist und je mehr sie sich aktualisiert, immer auch ihre eigenen Formen verändert.“102 Erfahrung bezeichnet demnach diejenige Erkenntnis, die nicht bloß über die herkömmlichen Kategorien hinausgeht, sondern diese Kate‑ gorien dabei verändert. Fraglich ist, wie Adorno sich diese Veränderung vorstellt. Foster weist im Kontext von Adornos Bergsonkritik auf den wichtigen Abschnitt „Zum Intui‑ tionsbegriff“ in der Metakritik der Erkenntnistheorie hin, in dem Adorno zei‑ gen wolle, „that the new can be brought to the surface in the self-articulation of concepts“.103 Untypisch für Adorno handelt es sich in diesem Abschnitt weniger um eine Begriffsbestimmung der Intuition, sondern um eine gleichsam phäno‑ menologische Beschreibung der Intuition, die Adorno als Einbruch der Sache in die Logik bestimmt: „Wohl erscheinen sie [die Intuitionen, d. Verf.], unwillkür‑ lich zuweilen – die Künstler wissen, daß sie sich auch kommandieren lassen – und sprengen den geschlossenen Zusammenhang des Schlußverfahrens auf.“104 Intuitionen sind der Beleg dafür, dass sich die Sache den ihr unangemessenen Kategorien immer auch mitteilt. Geistige Erfahrung besteht in dieser Mittei‑ lung der Sache an die Kategorien. Die Form der Erkenntnis konstituiert in geis‑ 100  Hullot-Kentor, Robert: „Introduction. Origin Is the Goal“, in: ders.: Things Beyond Resemblance. Collected Essays on Theodor W. Adorno, New York 2006, S.  1–22, hier S.  15. 101  Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  753. 102 Adorno: Negative Dialektik, S.  380. 103 Foster: Adorno. The Recovery of Experience, S.  133. 104 Adorno: Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  53.

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

tiger Erfahrung nicht bloß den Inhalt, sondern Form wird ihrerseits vom Inhalt konstituiert. Adorno spricht das in der Metakritik der Erkenntnistheorie be‑ reits an: „Aber was immer in rationaler Erkenntnis am Werk ist, geht auch in sie, sedimentiert und wiedererinnert, ein, um für einen Augenblick gegen die Appa‑ ratur sich zu wenden, über deren Schatten Denken allein nicht zu springen ver‑ mag.“105 Die These impliziert bereits die dialektische Natur des adornoschen Erfahrungsbegriffs. Geistige Erfahrung ist in dieser Hinsicht die Erfahrung der Sache, die sich den Formen in den Augenblicken mitteilt, in denen die Formen als dem Inhalt unangemessen sich erweisen. Eine solche Erfahrung ist negativ, weil sie die Erfahrung der Unangemessenheit der Formen an den Inhalt ist; sie ist positiv, weil sich trotz der Unangemessenheit die Sache in ihrem immanenten Zusammenhang den Formen mitteilt. b.  Erfahrung und Dialektik In der Gleichzeitigkeit von negativem und positivem Erfahrungsmoment ist das spezifisch Dialektische an Adornos Erfahrungsbegriff zu suchen. Es macht sich hier das bemerkbar, was im ersten Kapitel als Doppelschlächtigkeit der Metho‑ de bezeichnet wurde, nämlich dass das Bewusstsein immer zugleich in den Sa‑ chen wie außerhalb der Sachen sein muss. Das Zusammenkommen der beiden Standpunkte, des dialektischen und des undialektischen, macht die Struktur geistiger Erfahrung aus. Wie Adorno in der Vorlesung Fragen der Dialektik ausführt, ist das Verhältnis der beiden Standpunkte als Vermittlungsverhältnis zu denken. Er unterscheidet zunächst die beiden Stellungen zum Objekt: [A]uf der einen Seite die immanente oder die dialektische, die das Objekt in seiner Wi‑ dersprüchlichkeit bestimmt, und auf der anderen Seite die sozusagen dadurch, durch diesen Engpaß, wie ich es genannt habe, ins Freie gelangte, die der Sache selbst sich überläßt, und diese beiden Betrachtungsweisen sind nur von außen gesehen, also nur formaliter so absolut dualistisch, so absolut unterschieden, sondern hängen in Wirklich‑ keit sehr eng miteinander zusammen, das heißt, es zeigt sich dabei, daß der Widerspruch, indem er das bestimmt, was bei Hegel das innere Leben des Begriffs heißt, daß er da‑ durch, daß er also in den Begriff, der die Sache ist, sich versenkt, eben dadurch auch das ergreift, was nun seinerseits selber nicht in dem Widerspruch sich erschöpft.106

Die undialektische oder freie Stellung zum Objekt ist demnach nicht als äußer‑ licher, der Dialektik vorgelagerter Standpunkt zu verstehen, sondern ist nur ne‑ gativ über die dialektische Stellung zum Objekt zu erreichen. Die dialektische Kritik, die ein negatives Resultat hat, nämlich die Nichtidentität von Begriff und Gegenstand, ist zugleich der Weg zur Sache selbst. So ist die undialektische Stellung zum Objekt durch die dialektische Stellung zum Objekt vermittelt und gerade durch diese Vermittlung unterscheidet sich 105 Ebd.

106 Adorno:

Fragen der Dialektik, Vo 9051 f.

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geistige Erfahrung von einem unmittelbaren Wissen als Stellung zur Objektivi‑ tät. So wird, wie Adorno an Hegel ausführt, „inhaltliches Philosophieren, das Erfahrungen zu ihrer Notwendigkeit und Stringenz zu bringen trachtet, durch die Selbstbesinnung eben des formalen Philosophierens bewirkt, das inhaltli‑ ches Philosophieren als bloß dogmatisch abgewehrt und verboten hatte“.107 Vor diesem Hintergrund lässt sich nun verstehen, was die Rede von einem Aus‑ bruchsversuch meint. In der Einleitung der Negativen Dialektik bezieht Ador‑ no diesen Begriff auf die Philosophien von Bergson und Husserl und wird ihnen vor, „im Umkreis subjektiver Immanenz“ zu verharren.108 Damit ist das negati‑ ve Moment des Ausbruchs angegeben, das, woraus auszubrechen ist. Das posi‑ tive Moment bezeichnet dagegen den Ort, an dem man nach dem Ausbruch steht. Diesen Ort hat Adorno in der Vorstufe zur Einleitung noch genannt, als er die Aufgabe der Philosophie dahingehend bestimmte, „den Ausbruch ver‑ bindlich zu vollziehen, in Hölderlins ‚Offenes‘“.109 Hier bezeichnet das Offene den Ort der unreglementierten Erfahrung. Der Weg zu diesem Offenen ist mit dem Begriff des Ausbruchs nur ungenau bezeichnet. Denn es ist kein Ausbruch aus der begrifflichen Sphäre im strengen Sinn, sondern ein Durchbruch des Of‑ fenen in die begriffliche Sphäre. Erfahrung ist nicht die Erfahrung der Sache jenseits des dialektischen Widerspruchs, sondern im Widerspruch wird auch das an der Sache erfahren, was sich nicht im Widerspruch erschöpft. An einer späteren Stelle in Fragen der Dialektik führt Adorno diese Gleichzeitigkeit von Widerspruch und Erfahrung näher aus. Dialektik bezeichnet er dort als den Versuch, „durch diese Disziplin der Erkenntnis der Widersprüchlichkeit der Phänomene, die sich zugleich dynamisiert und in sich aufsprengt, dadurch [sic] des Qualitativen habhaft zu werden“.110 Der Ausbruch ins Offene besteht darin, dass im Widerspruch von Begriff und Sache gleichsam eine Lücke bleibt, und diese Lücke ist das Offene, in dem die Sache erfahren werden kann. Deshalb sagt Adorno auch über den Weg des Ausbruchs: „Der Weg ins Offene ist imma‑ nent im Geschlossenen.“111 Die Theorie der geistigen Erfahrung ist dieser Weg. Die vorläufige Begriffsbestimmung scheint mehr Fragen aufzuwerfen, als zu beantworten. Fraglich ist, ob sich ein dermaßen emphatisches Erfahrungskon‑ zept als Kritik der Erkenntnistheorie durchführen lässt, ohne hinter die Er‑ kenntnistheorie zurückzufallen. Um zu behaupten, dass (1) geistige Erfahrung die Erfahrung der Nichtidentität von Begriff und Sache ist und dass (2) sich in dieser Erfahrung die Sache selbst mitteilt, muss Adorno zwei Aufgaben lösen, 107 

Adorno: „Erfahrungsgehalt“, S.  306. Negative Dialektik, S.  21. 109 Adorno: „Zur Theorie der geistigen Erfahrung“, in: ders.: Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente der Vorlesung 1965/66, hg. von Rolf Tiedemann, NaS IV 16, S.  227–262, hier S.  238. 110 Adorno: Fragen der Dialektik, Vo 9060. . 111 Adorno: Fragen der Dialektik, Vo 9051. 108 Adorno:

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

die sich als sein Beitrag zur erkenntnistheoretischen Diskussion im engeren Sin‑ ne verstehen lassen. Zum ersten Punkt: Die Erfahrung der Nichtidentität von Begriff und Sache setzt, wie Honneth bemerkt, „irgendeine Annahme über die Existenz eines sprachlich oder geistig unvermittelt ‚Gegebenen‘ voraus – ohne eine derartige Prämisse könnte Adorno ja gar nicht behaupten, daß wir eine Kenntnis vom unüberwindbaren Mißverhältnis zwischen Begriff und Gegen‑ stand, zwischen Gedanke und Sache besitzen“.112 Dass Adorno den Begriff des Gegebenen bereits in der Metakritik der Erkenntnistheorie stringent kritisiert hat,113 ändert zunächst nichts an der Triftigkeit von Honneths Diagnose. Die Konfrontation von Begriff und Sache in der Fluchtlinie, deren Nichtidentität nachzuweisen, setzt die Sache als vom Begriff unterschiedenen Maßstab voraus. Das sprachlich oder geistig unvermittelt Gegebene ist Bedingung dafür, dass überhaupt davon gesprochen werden kann, dass der Begriff der Sache nicht ent‑ spricht. Adorno jedoch kritisiert gerade den Begriff des Gegebenen mit dem Hinweis, dass der Begriff des Gegebenen immer schon die subjektive Vermitt‑ lung impliziert: „Gegebenheit erfordert ihrem eigenen Begriff nach ein Subjekt, auf das sie sich bezieht. Man kann von keinem Gegebenen schlechthin reden, sondern nur von dem, was ‚einem‘ gegeben ist oder, wie es der Sprache der Er‑ kenntnistheorie gefällt, ‚mir‘.“114 Im Lichte dieser Kritik müsste Adorno also zeigen können, dass das Objekt der Erkenntnis, das immer schon durch das Subjekt vermittelt ist, zugleich von dieser Vermittlung unabhängig gedacht wer‑ den kann, ohne dass es als Unmittelbares, als schlicht Gegebenes konzipiert wird. Zum zweiten Punkt: Honneth hat zudem gesehen, dass Adorno dieses Gegebene nicht bloß als Unbestimmtes vorauszusetzen scheint, sondern noch darüber hinausgeht, „indem er immer wieder Hinweise auf dessen rudimentäre Eigenschaften einstreut“,115 in anderen Worten: das Objekt auch noch als bereits inhaltlich bestimmt denkt. Die inhaltlichen Bestimmungen sollen sich in der Nichtidentität zwischen Begriff und Sache mitteilen, sie sollen in die Kategori‑ en eingehen. Adorno müsste mithin zeigen können, dass sich in den kategoria‑ len Formen, mit denen das Subjekt das Objekt konstituiert, das Objekt selber einbringt; er muss zeigen, dass die Formen vom Objekt her determiniert sind. Geistige Erfahrung ist nach Adorno „die volle, unreduzierte Erfahrung im Medium begrifflicher Reflexion“; 116 als solche bedarf sie der Entfaltung. Die unreduzierte Erfahrung der Sache verlangt eine Erfahrung derjenigen Momen‑ te, die in der Konstitution der Sache vergessen werden. Um die Sache unredu‑ ziert zu erreichen, muss das Subjekt innerhalb der Konstitution dieser Momen‑ te gewahr werden. Die herausgearbeiteten Aufgaben sind die erkenntnistheore‑ 112 

Honneth: „Gerechtigkeit im Vollzug“, S.  101. Vgl. Adorno: Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  131 ff. 114  Ebd., S.  146. 115  Honneth: „Gerechtigkeit im Vollzug“, S.  101 f. 116 Adorno: Negative Dialektik, S.  25. 113 

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tischen Bedingungen dafür, dass die Möglichkeit geistiger Erfahrung, wie sie von Adorno konzipiert wird, überhaupt gedacht werden kann. Wenn auch der Begriff geistiger Erfahrung und erst recht die Theorie geistiger Erfahrung als ganze über die Erkenntnistheorie hinausgehen, so sind diese Bedingungen das, was Adornos Erkenntnistheorie im engeren Sinn ausmacht und in dieser Di‑ mension, nicht im Konzept der Erfahrung als Ganzem, weist sein Ansatz, wie mehrfach bemerkt wurde,117 deutliche Parallelen mit der Erkenntnistheorie von John McDowell auf. Ich möchte im Folgenden keinen ausführlichen Vergleich von Adornos und McDowells Theorie leisten, sondern McDowells Position zur Erläuterung der Problemstellung Adornos benutzen. Die Ausgangslage von Adorno und McDowell ist dieselbe: beide Fragen nach der Bedingung der Möglichkeit dafür, dass die Welt überhaupt in unsere Be‑ griffe eingeht; beide interessiert, in McDowells Worten, „the way concepts me‑ diate the relation between minds and the world“.118 Die Frage stellt sich für Adorno, wie wir gesehen haben, in zwei Teilfragen, einerseits als Frage nach der Annahme einer unvermittelten Außenwelt, andererseits als Frage nach der Möglichkeit, über Begriffe die Welt zu erfahren. Der Unterschied zu McDowell ist, wie Foster bemerkt, im Begriff der „Selbstbesinnung“ zu suchen.119 Bei Adorno ist Erfahrung nur möglich als Selbstbesinnung des Subjekts, deren Ziel nach Foster darin besteht, die Abhängigkeit philosophischer Begriffe von ge‑ sellschaftlich-geschichtlicher Erfahrung aufzuzeigen; 120 McDowell dagegen versucht nicht, Erfahrung als Moment zu denken, das in der Konstitution ver‑ drängt wird, sondern denkt Erfahrung als in der Konstitution aufbewahrtes Moment. Erfahrung ist für Adorno das, was immer schon in die Begriffsbil‑ dung eingeht, was aber in der Immanenzsphäre nicht zur Geltung kommen kann, weil es in konstituierender Erkenntnis vergessen wird. Adornos „Aus‑ bruchsversuch“ besteht darin, im Rekurs auf die Erfahrung des Subjekts den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchschlagen, durch den Erfahrung zu Er‑ kenntnis verkürzt wird.

117  Vgl. Finke, Ståle: „Concepts and Intuitions. Adorno After the Linguistic Turn“, in: Delanty, Gerard (Hg.): Theodor W. Adorno, Bd. 1, SAGE Masters of Modern Social Thought, London/Thousand Oaks/New Delhi 2004, S.  103–133; Kern: „Freiheit zum Objekt“; Hon‑ neth: „Gerechtigkeit im Vollzug“, S.  101; Foster: Adorno. The Recovery of Experience, S.  167– 193; Short, Jonathan: „Experience and Aura: Adorno, McDowell, and ‚Second Nature‘“, in: Burke, Donald A. u. a. (Hgg.): Adorno and the Need in Thinking. New Critical Essays, Toro‑ nto/Buffalo/London 2007, S.  181–200. 118  McDowell, John: Mind and World, Cambridge, Massachusetts/London 1996, S.  3. 119  Vgl. Foster: Adorno. The Recovery of Experience, S.  169. Short sieht die Differenz von Adorno und McDowell darin, dass dieser im Rahmen der Erkenntnistheorie verbleibt, wäh‑ rend Adorno diesen Rahmen sprengt. Vgl. Short: „Experience and Aura: Adorno, McDowell, and ‚Second Nature‘“, S.  188 ff. 120 Foster: Adorno. The Recovery of Experience, S.  169.

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

Wenn auch der Begriff des Ausbruchs zu qualifizieren ist, so ist doch Ador‑ nos Rekurs auf das Erfahrungskonzept als Überwindung dessen zu verstehen, was Habermas als „Paradigma der Bewußtseinsphilosophie“ kritisiert hat, „nämlich ein die Objekte vorstellendes und an ihnen sich abarbeitendes Sub‑ jekt“.121 Das Paradigma des Subjekts, das sich Objekte vorstellt, ist aber nichts anderes als das, was Adorno als den Trug konstitutiver Subjektivität bezeich‑ net; in diesem Paradigma verbleibt Adorno nicht, sondern versucht, es mit der Kraft des Subjekts zu durchbrechen, um zu einer neuen Stellung zur Objektivi‑ tät zu gelangen, in der Objekte nicht vorgestellt, sondern erfahren werden. Die Bewegung ist weniger als Ausbruchs aus der Bewusstseinssphäre zu verstehen, denn als Nachweis, dass die dem Bewusstsein transzendente Sphäre immer schon in die Immanenz des Bewusstseins eingebrochen ist und dass die ver‑ meintliche Geschlossenheit der Immanenz sich einer Abstraktion verdankt, die im Konstitutionsvorgang selbst liegt; im Begriff des Nichtidentischen ist das kodiert. Denn das Nichtidentische bezeichnet gerade die Grenze konstituieren‑ der Erkenntnis, dasjenige an Erfahrung, was konstitutive Subjektivität nicht ganz wegschaffen kann. Weil Habermas einerseits nicht sieht, dass der Begriff des Nichtidentischen gerade dazu dienen soll, die Bewusstseinsphilosophie im‑ manent zu überwinden, weil er selbst meint, die Probleme der Bewusstseins‑ philosophie ließen sich nur durch einen Paradigmenwechsel lösen, kann er von der negativem Dialektik als einem „Exerzitium“ sprechen und behaupten, Adorno vollziehe „eine Abkehr vom Ziel theoretischer Erkenntnis.“122 Nicht nur ist das Konzept geistiger Erfahrung gerade der Versuch, die Immanenz der Bewusstseinsphilosophie zu überwinden, sondern es meldet als volle, unreduzierte Erfahrung einen emphatischen Anspruch auf theoretische Erkenntnis an. Einlösen kann Adorno diesen Anspruch freilich nur, indem er die erkennt‑ nistheoretischen Prämissen einlöst, die als Bedingung der Möglichkeit des Re‑ kurses auf Erfahrung angeführt wurden. Bevor ich mich diesen Prämissen zu‑ wende, möchte ich zusammenfassend auf die Bestimmung von Adornos Erfah‑ rungsbegriff als unreglementiert, inhaltlich und geistig zurückzukommen. Unreglementiert ist die Erfahrung, weil sie in den Kategorien der Erkenntnis nicht aufgeht, sondern über diese hinausgeht; inhaltlich ist sie, weil sie nicht eine bloß formale Erfahrung ist, sondern die Erfahrung der Sache in ihrem imma‑ nenten Zusammenhang; geistig schließlich ist sie, weil sie nicht dem Begriff äu‑ ßerlich bleibt, sondern ihn affiziert, zu ihm hintreibt, weil sie letztlich die Er‑ fahrung im Medium der begrifflichen Reflexion ist. Diese Form der Erfahrung ist grundlegender und umfassender als das Prinzip herkömmlicher Erkenntnis. Weil aber Erfahrung von herkömmlicher Erkenntnis beschnitten wird, weil konstitutive Subjektivität die Erfahrungsfähigkeit des Subjekts unterdrückt, 121 Habermas: 122 

Theorie des kommunikativen Handelns, S.  523. Ebd., S.  516.

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2.  Durchführung: Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins

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kann Erfahrung sich nur in einer aktiven Reflexion des Bewusstseins herstellen. Nur in der Reflexion auf seine Konstitution der Gegenstände kommt das Sub‑ jekt zur geistigen Erfahrung der Gegenstände selbst: Das ist die der geistigen Erfahrung eigentümliche Dialektik; sie mahnt nicht von ungefähr an Hegels Dialektik des Bewusstseins.

2. Durchführung: Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins Eine Rekonstruktion der Theorie der geistigen Erfahrung kann sich des Rekur‑ ses auf Adornos Konzept der Dialektik nicht entziehen. Nicht nur, weil der Vollzug geistiger Erfahrung ein eigentlich dialektischer Prozess ist, sondern auch, weil bereits die Bedingungen der Möglichkeit dieses Vollzuges von Ador‑ no nur innerhalb der Subjekt-Objekt-Dialektik ausgewiesen werden. So ver‑ steht O’Connor Adornos Erfahrungsbegriff mit Recht als Aktualisierung des Erfahrungsbegriffs, den Hegel in der Phänomenologie des Geistes entwirft.123 Adornos Theorie der geistigen Erfahrung ist wie die Phänomenologie des Geistes eine Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins. Freilich ist sie das jenseits des Idealismus, deshalb wäre der Begriff der geistigen Erfahrung „von seinen idealistischen Präsuppositionen“ zu befreien, wie Adorno programma‑ tisch in der Vorlesung über negative Dialektik sagt.124 Was Adorno in der Phänomenologie des Geistes findet, ist zum einen ein Erfahrungskonzept, in dem das Subjekt nicht bloß das Objekt konstituiert, sondern in einer Selbstreflexion auf sein eigenes Tun zu einer Erfahrung des Objekts kommt. Zum anderen fin‑ det mit der Befreiung des Erfahrungskonzepts von idealistischen Präsuppositi‑ onen eine Verschiebung der Kategorien statt, die Adorno erst die Bedingungen der Möglichkeit des Rekurses auf Erfahrung liefert. Die erste dieser Bedingun‑ gen ist den oben entwickelten erkenntnistheoretischen Problemen noch vorge‑ lagert und besteht im Rückgriff auf ein Erkenntnissubjekt, das als volles, unre‑ duziertes, leibliches Subjekt den Rekurs auf Erfahrung allererst erlaubt (III); die zweite Bedingung ist die dadurch in Gang gesetzte Verschiebung in der Dialek‑ tik von Subjekt und Objekt, die in der Immanenzsphäre in einen Vorrang des Objekts mündet, der über die mimetischen Impulse des vollen Erkenntnissub‑ jekts die Möglichkeit zur Überschreitung der Immanenzsphäre bietet (IV).

123 

Vgl. O’Connor: Adorno’s Negative Dialectic, S.  29. Vorlesung über Negative Dialektik, S.  123.

124 Adorno:

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

III.  Bedingungen der Möglichkeit I: Subjekt der Erfahrung Die Reflexion auf das Erkenntnissubjekt erfordert nicht bloß eine erkenntnis‑ theoretische Besinnung auf die Möglichkeit individueller, und dennoch allge‑ mein verbindlicher Erfahrung, sondern auch auf das diesem Rekurs zugrunde‑ liegende Konzept von Individualität. Dieses Konzept möchte ich in einer Re‑ konstruktion des von Adorno diagnostizierten geschichtsphilosophischen Niedergang des Subjekts explizieren (a), um in einem zweiten Schritt auf das erkenntnistheoretische Problem der Allgemeinheit individueller Erfahrung einzugehen (b). a.  Das beschädigte Individuum Individualität ist nach Adorno eine geschichtliche und gesellschaftliche Katego‑ rie. Geschichtlich datiere das Individuum nicht weiter als die „italienische Früh‑ renaissance“ zurück.125 Als Urbild des Individuums dient zumeist Hamlet, weil Hamlet die Grundstruktur von Individualität als Reflexionskategorie verkör‑ pere, wenn er „sich zu einem für sich Seienden wird und vom ungebrochenen Einklang mit vorgegebener Ordnung sich distanziert“.126 Hamm aus Becketts Endspiel, der „grimmig“ den Namen von Shakespeares Hamlet abkürze,127 steht am Ende des geschichtlichen Niedergangs des Individuums für dessen Liquidie‑ rung. Aber gerade das im Verschwinden begriffene Individuum soll nach Ador‑ nos Auskunft in der Zueignung der Minima Moralia als Erkenntnissubjekt fun‑ gieren.128 Diese Zueignung ist für die Frage nach dem Standpunkt der kritischen Theorie von einiger Bedeutung. Verstehen wir die Negative Dialektik als Ador‑ nos Versuch, sein Verfahren zu rechtfertigen,129 so lassen sich die Minima Moralia als Ausführung dieses Verfahrens verstehen. Indem sie von der individuel‑ len Erfahrung ausgehen, tun sie das, was Adorno in der Theorie der geistigen Erfahrung erst rechtfertigen möchte. Unglücklich ist, dass die Begründung, warum das Individuum und warum gerade das verschwindende Individuum das privilegierte Subjekt der Erkenntnis sein soll, in der Zueignung der Minima Moralia ausführlicher und gehaltvoller behandelt wird, als in der Einleitung der Negativen Dialektik. Das liegt auch daran, dass Adorno das Problem der Indi‑ vidualität in der Negativen Dialektik erst im zweiten Modell in der Auseinan‑ dersetzung mit Hegel ausführlich behandelt; aber an dieser Stelle sollte eigent‑ lich der Rekurs auf individuelle Erfahrung bereits ausgeführt und begründet sein. Die Antwort auf die Frage nach dem Individuum der Erfahrung bei Ador‑ 125 

Adorno: „Individuum und Organisation“, S.  450. Negative Dialektik, S.  227. 127  Adorno: „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, GS 11, S.  281–321, hier S.  312. 128  Vgl. Adorno: Minima Moralia, S.  15. 129  Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  9. 126 Adorno:

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2.  Durchführung: Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins

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no kann so nicht in der Einleitung allein gesucht werden, sondern muss auf die Minima Moralia und den ganzen Text der Negativen Dialektik ausgreifen. Die Gründe für Adornos Rekurs auf das Individuum als Erkenntnissubjekt hängen mit der geschichtlichen Bewegung zusammen, die dem Individuum seit der hegelschen Philosophie widerfahren ist: dem ökonomisch bedingten Nie‑ dergang des bürgerlichen Individualismus. Die Diagnose hat erkenntnistheore‑ tische Konsequenzen. Sie bedingt den Übergang von Hegels absolutem Geist zum Individuum als Subjekt der Erkenntnis. In der Einleitung der Negativen Dialektik nennt Adorno zwei Momente, die diese Verschiebung auszeichnen sollen: „Wohl hat der Individualismus des neunzehnten Jahrhunderts die objek‑ tivierende Kraft des Geistes – die zur Einsicht in die Objektivität und zu deren Konstruktion – geschwächt, aber auch ihm eine Differenziertheit erworben, welche die Erfahrung des Objekts kräftigte.“130 Dem Verlust von Einsicht und Konstruktion kontrastiert Adorno Differenziertheit und Erfahrung, der Spon‑ taneität des Geistes seine Passivität und Affizierbarkeit. In der von der ge‑ schichtlichen Bewegung bedingten Metamorphose des Erkenntnissubjekts ver‑ steckt sich so auch ein wertendes Moment: Das Individuum soll der Erfahrung des Objekts in höherem Maße mächtig sein als der absolute Geist. Um diese Verschiebung in ihrer allgemeinen Struktur zu verstehen, ist auf den Totalitätsbegriff zu rekurrieren. Der Sturz des absoluten Geistes ging mit dem Verlust der Kraft zur Einsicht in die Totalität einher, wie Adorno bereits in seiner Antrittsvorlesung festhält.131 Der Erkenntnisanspruch bleibt aber auch in Adornos Denken in gewisser Hinsicht total. Nur soll die Totalität Kraft des Denkens nicht im Durchgang durch die Momente, sondern am einzelnen Mo‑ ment ergriffen werden. Exemplarisch wird diese Methode in den Minima Moralia ausgeführt, in denen, wie Rahel Jaeggi festhält, „alles – vom Umgang mit Türen bis zum Schenken oder der Höflichkeit – zum Besonderen werden kann, das für das Allgemeine einer Lebensform steht, in dem sich diese spiegelt und manifestiert“.132 Angelpunkt der Methode, das Allgemeine aus dem Besonderen zu lesen, ist das Individuum, das in seinen besonderen Erfahrungen immer auch das Allgemeine erfahren soll. Nicht nur hinsichtlich der Dialektik von Allge‑ meinem und Besonderem kann man die Minima Moralia als exemplarisch für Adornos Methode verstehen; sie illustrieren auch das Konzept geistiger Erfah‑ rung, indem sie an vermeintlich banalen Gegenständen geschichtliche und ge‑ sellschaftliche Dimensionen freilegen und diese in die theoretische Reflexion eingehen lassen.

130 

Ebd., S.  52 f. Adorno: „Die Aktualität der Philosophie“, S.  325. 132  Jaeggi, Rahel: „‚Kein Einzelner vermag etwas dagegen.‘ Adornos Minima Moralia als Kritik von Lebensformen“, in: Honneth, Axel (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt a. M. 2005, S.  115–141, hier S.  117. 131 

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

Warum das Individuum zu solcher Erfahrung fähig sein soll, entwickelt Adorno in der Zueignung, die in einer Auseinandersetzung mit Hegel den Übergang der Erkenntnisfunktion vom absoluten Geist zum Individuum nach‑ zeichnet. Geistige Erfahrung ist dem Individuum möglich, weil die Gesellschaft nach Adorno „wesentlich die Substanz des Individuums“ sei.133 In der Negativen Dialektik nimmt Adorno diesen Gedanken auf: „Hegels Lehre, das Objekt reflektiere sich in sich selbst, überdauert ihre idealistische Version, weil einer veränderten Dialektik das Subjekt, seiner Souveränität entkleidet, virtuell erst recht zur Reflexionsform der Objektivität wird.“134 So soll es gerade die Ver‑ mittlung des Individuums durch die Gesellschaft sein, die seiner Erfahrung Objektivität verleiht. Weil sie durch und durch gesellschaftlich ist, „vermag die gesellschaftliche Analyse aber auch der individuellen Erfahrung unvergleichlich viel mehr zu entnehmen, als Hegel konzedierte“.135 Diese Erfahrung stellt nicht nur eine indirekte Rettung des Totalitätsan‑ spruchs der Erkenntnis dar, der zusammen mit der hegelschen Philosophie ge‑ stürzt ist, sondern sie soll zugleich eine adäquatere Form der Erkenntnis – näm‑ lich Erfahrung – sein als die des absoluten Geistes. Einerseits hängt dieser Zu‑ wachs an epistemologischer Kompetenz mit der empirischen Existenz des Individuums zusammen, das als leibliches Wesen in einer Weise affiziert werden kann, die dem absoluten Geist abgeht: Adorno bezeichnet dieses Moment in der Negativen Dialektik als das „mimetische Moment der Erkenntnis [. . .], das der Wahlverwandtschaft von Erkennendem und Erkanntem“.136 Andererseits, und dieses Moment lässt sich in der Einleitung der Negativen Dialektik höchstens zwischen den Zeilen ausmachen, gewinnt das Individuum gerade in seinem Niedergang nochmals an Erkenntniskraft, wie Adorno in den Minima Moralia ausführt: „Im Zeitalter seines Zerfalls trägt die Erfahrung des Individuums von sich und dem, was ihm widerfährt, nochmals zu einer Erkenntnis bei, die von ihm bloß verdeckt war, solange es als herrschende Kategorie ungebrochen posi‑ tiv sich auslegte.“137 Adorno meint mit dieser Erkenntnis nicht nur die Einsicht in den Prozess der ansteigenden Vergesellschaftung, die den Schein substantiel‑ ler Individualität aufdeckt. Vielmehr soll das beschädigte Individuum zu einer Erkenntnis im Stande sein, die dem autonomen Individuum des Liberalismus versagt ist; denn die Beschädigung des Individuums artikuliert sich in idiosyn‑ kratischen Reaktionsweisen, die zur Bedingung von Wahrheit werden. Das steckt hinter der Sentenz aus dem Aphorismus „Zwergobst“: „Der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrößerungsglas.“138 Bereits vor dem expliziten 133 Adorno:

Minima Moralia, S.  16. Negative Dialektik, S.  52. 135  Ebd., S.  16. 136  Ebd., S.  55. 137 Adorno: Minima Moralia, S.  16. 138  Ebd., S.  55. 134 Adorno:

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2.  Durchführung: Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins

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Erkenntnisurteil hat das Subjekt auf die Welt reagiert und diese Vor‑Urteile bilden eine Zugangsweise zur Welt, die nicht nur vom Primat konstitutiver Sub‑ jektivität verdrängt wird, sondern auch im Idealbild autonomer Subjektivität keinen Platz hat. So sind die Minima Moralia ihrem Untertitel gemäß nicht Re‑ flexion über das beschädigte Leben, sondern Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Der Gedanke wird von Adorno in der Negativen Dialektik, allerdings im zweiten Modell und nicht in der Einleitung, aufgegriffen, wenn er an Hegel kritisiert, dass dieser die Kräfte vernachlässigt habe, „die im Zerfall der Indivi‑ dualität erst heranreifen“.139 Eine Fußnote verweist auf eine Passage aus dem Versuch über Wagner, in dem diese Kräfte beschrieben werden. Auch dort spricht Adorno die Einsicht in den Scheincharakter monadenhaft verfasster In‑ dividualität an, geht aber darüber hinaus, indem er den Erkenntnisgewinn mit der „Preisgabe des Ich“ verbindet: Wohl überantwortet Subjektivität ihr Glück dem Tod; aber eben damit geht ihr die Ah‑ nung davon auf, daß sie nicht vollends sich selber gehört. Die Monade ist ‚krank‘, zu ohnmächtig im Mechanismus, um ihr eigenes Prinzip, das der Vereinzelung, noch durchzusetzen und bei sich auszuharren. So gibt sie sich preis. Ihre Preisgabe jedoch verhilft nicht bloß der schlechten Gesellschaft zum Sieg über ihren Protest, sondern durchschlägt schließlich den Grund der schlechten Vereinzelung selber.140

Beschädigt ist das Individuum, weil es das Ich oder die Ich-Stärke verliert, jene Kraft, welche die eigenen Regungen und Impulse unter Kontrolle hat und so den zweckgerichteten, den – nach der Dialektik der Aufklärung – männlichen Charakter, das Selbst erschafft.141 Der Verlust oder auch bereits die Aufwei‑ chung dieses Charakters ist ein Gewinn, insofern die zuvor kontrollierten Re‑ gungen das Potential einer anderen Subjektivität in sich bewahren. Adorno führt das im Versuch über Wagner aus: In der Liebe sterben: das heißt auch, der Grenze gewahr werden, die der Eigentumsord‑ nung am Menschen selber gesetzt ist: erfahren, daß der Anspruch der Lust, wäre er je‑ mals zu Ende gedacht, eben jene autonome, sich zugehörende und ihr eigenes Leben zum Ding erniedrigende Person sprengen würde, die verblendet glaubt, im Besitz ihrer selbst Lust zu finden, und der dieser Besitz Lust gerade entzieht.142

Das Potential ruht in den vom autonomen Ich bloß unterdrückten Regungen, hier der Lust. Zwar eignet diesen Regungen ein irrationalistisches Moment, aber es ist nach Adorno eine solche Irrationalität, welche „die Unvernunft der herrschenden Vernunft“ denunziere, wie er im Aufsatz „Fortschritt“ am Phä‑ nomen der Dekadenz ausführt.143 An einem Aphorismus Peter Altenbergs zur 139 Adorno:

Negative Dialektik, S.  344. Versuch über Wagner, GS 13, S.  7–148, hier S.  143. 141  Vgl. Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S.  50. 142 Adorno: Versuch über Wagner, S.  143. 143  Adorno: „Fortschritt“, S.  626. 140 Adorno:

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

Pferdemisshandlung144 und am Bild Nietzsches, der ein Pferd umarmt, um es vor den Schlägen des Kutschers zu schützen, führt Adorno aus, wie der Verlust des Ichs zur Unfähigkeit wird, die Misshandlung der Kreatur weiter ertragen zu können und zu einer irrationalen Handlung zwingt, die gerade in ihrer Irratio‑ nalität den Zustand kritisiert, für den Pferdemisshandlung alltäglich ist. Die denunzierte Vernunft ist die der bürgerlichen Kälte, die „das Äußerste mitan‑ zusehen erlaubt, weil es nach dem individualistischen Prinzip einen selber ja nichts angehe: eine Verhaltensweise, ohne die Auschwitz und was damit zusam‑ menhängt nicht möglich gewesen wäre und die in diesen Dingen eben sich voll‑ endet.“145 Der Verlust des Ich ist deshalb zumindest teilweise auch ein Verlust der Kälte und als solcher ein Gewinn der impulshaften Reaktionen, die das au‑ tonome Ich transzendieren. Im ersten Modell der Negativen Dialektik macht Adorno gerade in diesen Impulsen, die vom Ich nicht bewusst kontrolliert wer‑ den, das eigentlich Moralische aus,146 und die Kräfte, die im Verfall von Indivi‑ dualität frei werden, sind in diesem Sinne moralische Kräfte. So ist die zentrale Erkenntnisfunktion des beschädigten Individuums in der moralphilosophischen Dimension zu suchen: in der Empfänglichkeit für das Leiden. Eine solche Funktion geht sowohl dem transzendentalen Subjekt Kants als auch dem absoluten Geist Hegels ab; sie ist nur einem somatischen Subjekt möglich. Auch darin überschreitet Adorno die herkömmliche Erkenntnistheo‑ rie, dass er das Moralische als Moment der Erkenntnistheorie behandelt. Denn gerade im Impuls, der das Moralische ausmacht, wird die Sphäre des Bewusst‑ seins transzendiert: „Der Impuls, intramental und somatisch in eins, treibt über die Bewußtseinssphäre hinaus, der er doch auch angehört.“147 Darin liegt die im engeren Sinn erkenntnistheoretische Bedeutung des Impulses: Er schlägt eine Brücke zwischen dem Bewusstsein und der Außenwelt, die es zu erfahren gilt. Adorno hat das im Aufsatz zu Becketts Endspiel festgehalten: „Sobald aber das Subjekt nicht mehr zweifelsfrei mit sich identisch, kein in sich geschlossener Sinnzusammenhang mehr ist, verfließt auch seine Grenze gegen das Auswendi‑ ge, und die Situationen der Innerlichkeit werden zu solchen der Physis zu‑ gleich.“148 Im Impuls reicht die Außenwelt in das Bewusstsein hinein. Als „das

144  „Pferde-Mißhandlung. Sie wird aufhören, bis die Passanten so irritabel-dekadent sein werden, daß sie, ihrer selbst nicht mächtig, in solchen Fällen tobsüchtig und verzweifelt Ver‑ brechen begehen werden und den hündisch-feigen Kutscher niederschießen werden – – –. Pferde-Mißhandlung nicht mehr mit ansehen können, ist die Tat des dekadenten nerven‑ schwachen Zukunfts-Menschen! Bisher haben sie eben noch die armselige Kraft gehabt, sich um solche fremde Angelegenheiten nicht zu kümmern – – –.“ Altenberg, Peter: Auswahl aus seinen Büchern, hg. von Karl Kraus, Wien 1932, S.  122 f. 145 Adorno: Geschichte und Freiheit, S.  217. 146  Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  281 f. 147  Ebd., S.  2 28. 148  Adorno: „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, S.  294.

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Gefühl der Solidarität mit den, nach Brechts Wort, quälbaren Körpern“149 ist der Impuls eine Instanz der Erfahrung des Objekts, die über die konstituieren‑ de Erkenntnis hinausgeht. Zugleich geht er über die bloße Erkenntnis immer schon hinaus, weil er als moralischer Impuls immer schon ein normatives Mo‑ ment enthält. Die Theorie der geistigen Erfahrung unterscheidet sich nicht zu‑ letzt durch ihr normatives Moment von der herkömmlichen Erkenntnistheorie. So liegt die Bedeutung des beschädigten Individuums darin, dass nur ihm als somatischem und seiner Impulse nicht ganz mächtigen Individuum eine Bezie‑ hung zum Objekt möglich ist, die Adorno Mimesis nennt: die „organisch[e] Anschmiegung ans andere“.150 Als organische ist diese Anschmiegung keinem transzendentalen Erkenntnissubjekt möglich. Aber im Gegenzug kranken die Erfahrungen des individuellen Erkenntnissubjekts an Zufälligkeit. Um tatsäch‑ lich als Erkenntnissubjekt zu dienen, müssten die individuellen Erfahrungen Allgemeingültigkeit beanspruchen können: das macht im engeren Sinne das er‑ kenntnistheoretische Problem des Standpunkts der kritischen Theorie aus. b.  Das unglückliche Bewusstsein Das Erkenntnissubjekt ist bei Adorno nicht allein als beschädigtes Individuum bestimmt; als Bewusstsein, als Selbstbewusstsein, um genau zu sein, ist es zugleich das unglückliche Bewusstsein. Hegels unglückliches Bewusstsein zeichnet sich strukturell dadurch aus, dass es als „ungeteiltes Bewußtsein ein gedoppeltes“ Bewusstsein ist.151 Gedoppelt ist das Bewusstsein bei Adorno als konstituierendes, allgemeines Bewusstsein und als erfahrendes, besonderes Be‑ wusstsein, als Individuum. Unglücklich ist das Bewusstsein in dieser Doppe‑ lung, weil es seine zwei Momente nicht versöhnen kann, sondern diese beiden in ewigem Streit bleiben; so ist es – in Hegels Worten – „nur die widersprechende Bewegung, in welcher das Gegenteil nicht in seinem Gegenteile zur Ruhe kommt, sondern in ihm nur als Gegenteil sich neu erzeugt“.152 Um sich dieser Bewegung des unglücklichen Bewusstseins bei Adorno zu versichern, ist zu‑ nächst auf die Relation der beiden Bewusstseinsformen zu reflektieren. Frucht‑ bar scheint mir auch hier, dem Denkweg von Adorno zu folgen, konkret: zu verfolgen, wie Adorno zur Einsicht in diese Doppelgestalt des Bewusstseins kommt. Sie geht zurück auf die Beschäftigung mit der husserlschen Phänome‑ nologie und beginnt mit dem Nachweis, dass das Subjekt der Erkenntnistheorie nicht ohne Verweis auf das empirische Subjekt gedacht werden kann. Das führt zur Einsicht in die wesentliche Vermittlung der beiden Subjektbegriffe und von 149 Adorno:

Negative Dialektik, S.  281. Dialektik der Aufklärung, S.  205. 151 Hegel: Phänomenologie, S.  163 f. 152  Ebd., S.  164. 150 Adorno/Horkheimer:

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dieser Vermittlung her wird die Struktur dieses unglücklichen Bewusstseins verständlich. Ein bedeutender Kritikpunkt in der Metakritik der Erkenntnistheorie betrifft das husserlsche Erkenntnissubjekt. Die Kritik daran lässt sich insofern verallge‑ meinern, als Adorno ihm seine Verwiesenheit auf ein faktisches Ich nachweisen will, und diese Argumentation an Kants transzendentalem Subjekt wiederholt. Adornos Einwand lautet: „Der strengste Begriff des Transzendentalen ver‑ möchte aus der Interdependenz mit dem Faktum sich nicht zu lösen.“153 Adorno versucht diesen Nachweis über den Begriff der Einheit zu leisten, die sowohl das transzendentale Ego Husserls wie auch das transzendentale Subjekt Kants aus‑ zeichnet: „Die transzendentale Einheit bleibt, um nur einen ‚Sinn‘ zu haben, um nur als Einheit bestimmbar zu sein, auf Faktisches verwiesen. Faktisches gehört zum ‚Sinn‘ des Transzendentalen, das nicht verselbständigt und als absolutes Fundament behandelt werden darf.“154 In der Vorlesung über Philosophische Terminologie führt Adorno diese Kritik weiter aus. Er fasst dort das Phänomen der Erinnerung als konstitutiv für den Begriff der Erfahrung überhaupt auf. „Wenn ich mich nicht an Vergangenes erinnern und nicht entsprechend ein Zu‑ künftiges erwarten könnte, gäbe es gar keine Erfahrung, sondern nur eine unor‑ ganisierte, in sich unidentische Folge von einzelnen Erlebnissen.“155 Adorno ar‑ gumentiert nun: Wenn die Einheit des Bewusstseins nur über Erinnerung mög‑ lich ist,156 dann sind der Geist und das transzendentale Bewusstsein abgeleitet vom individuellen Bewusstsein: „[J]eder Einzelne von uns hat Erinnerung und hat Erwartung, und das ist nicht etwa eine vorgegebene, etwa logisch allgemeine Struktur, das ist kein logisches Gesetz, sondern es ist von dem individuellen, von dem psychologischen Bewußtsein der einzelnen Menschen abgeleitet.“157 Das individuelle Bewusstsein ist aber immer auch ein Stück Welt und als Abstraktion von individuellem Bewusstsein bleibt das transzendentale Bewusstsein auf die‑ ses und damit auf Faktisches verwiesen. In der Negativen Dialektik kritisiert Adorno den Glauben, „in der Bewegung der Abstraktion werde man dessen le‑ dig, wovon abstrahiert ist“, als den Urfehler des Idealismus.158 Dabei ist zu dif‑ ferenzieren: Adorno konzediert in der Kantvorlesung, dass für die „logische Gültigkeit der Abstraktionen“ diese Kritik nicht gilt, dass diese frei sei von den „Einzelmomenten, von den abstrahiert wird“.159 Davon unterscheidet er die 153 Adorno:

Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  228. Ebd., S.  227. 155 Adorno: Philosophische Terminologie 2, S.  61. 156  Husserl selbst behandelt die konstitutive Bedeutung der Erinnerung für das einheitli‑ che Bewusstsein von Objekten in seinen Schriften Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins. Vgl. Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893– 1917), hg. von Rudolf Boehm, Husserliana, Bd. 10, Den Haag 1966, S.  38 ff. 157 Adorno: Philosophische Terminologie 2, S.  61. 158 Adorno: Negative Dialektik, S.  139. 159 Adorno: Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  2 21. 154 

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„transzendentale Gültigkeit der Abstrak­tionen“, die sich in der Frage meldet, „ob solche obersten Abstraktionsbegriffe an sich gelten, ohne daß in sie selber wieder sachhaltige Voraussetzungen notwendig mit hereingenommen werden müssen“.160 Und als solchermaßen transzendentale, nicht als logische, kritisiert Adorno die Abstraktion, die vom individuellen Bewusstsein zu einem transzen‑ dentalen Bewusstsein gelangt, einem Bewusstsein also, das erst alles andere kon‑ stituieren soll, wie eine Passage aus der Hegelstudie „Aspekte“ zeigt: Das Resultat von Abstraktion ist nie gegen das, wovon es abgezogen ward, absolut zu verselbständigen; weil das Abstraktum auf das unter ihm Befaßte anwendbar bleiben, weil Rückkehr möglich sein soll, ist in ihm immer zugleich auch in gewissem Sinn die Qualität dessen, wovon abstrahiert wird, aufbewahrt, wäre es auch in oberster Allge‑ meinheit. Setzt daher die Bildung des Begriffs Transzendentalsubjekt oder absoluter Geist sich ganz hinweg über individuelles Bewußtsein schlechthin als raumzeitliches, woran er gewonnen ward, so läßt jener Begriff selber sich nicht mehr einlösen.161

Die Kritik am transzendentalen Subjekt oder am absoluten Geist gilt nicht die‑ sen Konzepten an sich, sondern bloß ihrer Hypostasierung zu einem ersten Prinzip, aus dem alles folgen soll. In dieser Hypostasierung besteht der Trug konstitutiver Subjektivität, den es zu durchschlagen gilt. In der Kritik werden transzendentales Subjekt oder Geist von Adorno als Moment festgehalten, als Moment, das sich freilich nur in der Wechselwirkung mit individuellem Be‑ wusstsein denken lässt. Das Konstrukt eines alles konstituierenden Subjekts gehört einer bestimmten geschichtlichen Epoche an, wie Adorno in der Ästhetischen Theorie ausführt: „Der χωρισμός von Subjekt und Individuum gehört einer sehr späten philosophischen Reflexionsstufe an, ersonnen, um das Sub‑ jekt ins Absolute zu überhöhen.“162 Mit der späten philosophischen Reflexions‑ stufe meint Adorno Kant und vor allem den nachkantischen Idealismus. Der Nachweis der Vermittlung des konstituierenden Subjekts durch das einzel‑ menschliche Individuum stellt für Adorno denn auch den Hebel dar, um den „Idealismus aus den Angeln zu heben“, wie er an Horkheimer schreibt.163 Das bedeutet nicht, dass Adorno das konstituierende Subjekt einfach durch das em‑ pirische Subjekt ersetzt, ohne die Vermittlung auch auf Seiten des empirischen Subjekts nachzuweisen. Dann wäre wirklich nicht mehr klar, wie Kern be‑ merkt, „worin seine Idealismuskritik bestehen könnte“,164 denn er hätte nur ein erstes Prinzip durch ein anderes ersetzt. Adorno deutet das an, wenn er in der Metakritik der Erkenntnistheorie ausführt, was der Nachweis der Vermittlung durch Faktizität für die Transzendentalphilosophie bedeutet: „Sie zerfällt als

160 

Ebd., S.  222. Adorno: „Aspekte“, S.  263. 162 Adorno: Ästhetische Theorie, S.  297. 163  Brief vom 30.10.1936. Adorno/Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S.  208. 164  Kern: „Freiheit zum Objekt“, S.  59 f. 161 

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prima philosophia.“165 Dass sie als prima philosophia zerfällt, bedeutet nicht, dass sie als ganze zerfällt. Wahr am transzendentalen Subjekt und seinem Vorrang vor dem individuel‑ len ist, dass das individuelle Subjekt keine Monade, sondern immer bereits durch die Allgemeinheit vermittelt ist. Das ist die Kehrseite der Einsicht in den Scheincharakter substantieller Individualität. Mit dem Schein, das Individuum wäre ein Unmittelbares, verschwindet auch der Schein „absoluter Kontingenz individueller Erfahrung“.166 Die Natur dieser Vermittlung, durch die das Indi‑ viduum immer auch schon allgemein ist, lässt sich nun näher bestimmen. Da die Kategorie des Individuums eine weitgehend gesellschaftstheoretische Kategorie ist, liegt es nahe, die Vermittlung als eine von Erkenntnistheorie und Gesell‑ schaftstheorie zu verstehen. Dies ist sie aber nur indirekt. In erster Instanz läuft die Vermittlung über das Denken und damit über Begriffe und Kategorien, über Sprache, wie Jameson bemerkt: „[O]bjectivity is present within the subject in the form of collective linguistic or conceptual forms which are themselves pro‑ duced by society, and thereby presuppose it.“167 Durch seine sprachliche Natur ist Denken eine dem Individuum vorgelagerte Allgemeinheit, so Adorno in der Metakritik der Erkenntnistheorie: Wäre in der Tat Denken bloß das von Monaden, so wäre es ein Wunder, daß diese nach denselben Gesetzen denken müssen, und die Theorie hätte keinen Ausweg, als dies Wunder durch den Platonischen Realismus der Logik sich zuzueignen. Aber Denken ist allein schon durch Sprache und Zeichen dem je Einzelnen vorgeordnet, und dessen Mei‑ nung, ‚für sich‘ zu denken, enthält noch in der äußersten Opposition zum Allgemeinen ein Moment des Scheins: was dem individuellen Denkenden von seinem Gedanken zu‑ gehört, ist dem Inhalt wie der Form nach ein Verschwindendes.168

Mittelbar verweist diese Allgemeinheit des Denkens freilich auf die Gesell‑ schaft. Allgemein ist Denken als sprachliches, weil Sprache nie rein individuell, nie Privatsprache ist. Sprache ist vielmehr intersubjektive Praxis und als solche gesellschaftlich: Produkt der begrifflichen Arbeit der Gattung. Für Adorno stellt Sprache nicht bloß das Gefäß des Denkens dar, sondern das Konstituens des Denkens, wie er in der Metaphysikvorlesung mit Verweis auf Wilhelm von Humboldt ausführt. Auch hier denkt er an eine Wechselwirkung, „daß nämlich die Sprache ebenso das Denken konstituiert wie umgekehrt“.169 Denken und Sprache sind nicht zu trennen. Als sprachlich konstituiertes ist Denken immer bereits gesellschaftlich und nicht monologisch; in ihm „steckt [. . .] die Ge‑ schichte der gesamten Gattung, und es steckt, darf man darüber hinaus sagen, 165 Adorno:

Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  228; Hervorh. d. Verf. Negative Dialektik, S.  55 f. 167 Jameson: Late Marxism, S.  41. 168 Adorno: Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  66. 169 Adorno: Metaphysik, S.  193; vgl. auch: ders.: „Auf die Frage: Was ist deutsch“, GS 10.2, S.  691–701, hier S.  701. 166 Adorno:

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die ganze Gesellschaft mit darin“.170 Denken ist zugleich gesellschaftlich und geschichtlich und als solches ein Medium, dessen Allgemeinheit die Besonder‑ heit des Individuums immer schon übersteigt. Die Vermittlung von Individuum und Allgemeinheit verweist auch in anderer Hinsicht auf Gesellschaft. Gegen Husserl bringt Adorno vor, was auch Kants „Ich denke“ trifft: dass der Ausdruck „Ich“ eine Abstraktion und kein Ur‑ sprüngliches ist: „Durch das Possessivverhältnis bestimmt es sich als höchst vermitteltes. In ihm ist ‚Intersubjektivität‘ mitgesetzt, nur nicht als beliebige reine Möglichkeit, sondern als die reale Bedingung von Ichsein, ohne welche die Einschränkung auf ‚mein‘ Ich nicht kann verstanden werden.“171 Da das einzel‑ menschliche Bewusstsein sich nur intersubjektiv konstituieren kann, ist es im‑ mer bereits mehr als nur einzelmenschlich. Dem „Ich“ als oberster Allgemein‑ heit wohnt immer schon das „Wir“ inne und das Subjekt der Erkenntnistheorie weist über seine monadologische Verfassung immer schon hinaus. Die Diffe‑ renz zu Sohn-Rethel tritt jetzt deutlich hervor: Adorno benutzt zwar, wie er sagt: Gesellschaft als „konstitutiven erkenntnistheoretischen Begriff“,172 jedoch immer nur mittelbar. Er ersetzt nicht das Erkenntnissubjekt durch die Gesell‑ schaft, sondern zeigt, dass das Erkenntnissubjekt immer schon durch die Ge‑ sellschaft vermittelt ist, weil es von realen, gesellschaftlichen Wesen gleichsam abgezogen ist. Auch sieht er diese Vermittlung als unhintergehbar an, so dass weder das einzelmenschliche und gesellschaftliche Bewusstsein noch Bewusst‑ sein überhaupt als Grundprinzip behauptet wird. Diese Vermittlung von Allge‑ meinem und Besonderem reicht – so Adorno in einer Notiz von 1961 – bis in die „obersten kategorialen Formen“ hinein: Die Allgemeinheit des transzendentalen Subjekts ist vermittelt durch die Besonderheit des individuellen Bewußtseins, denn nur dessen Einheit ist die der Apperzeption. So ist selbst in dieser Sphäre das Allgemeine durchs Besondere vermittelt und nicht an sich. Umgekehrt aber ist dieser Sachverhalt; d. h. die Struktur des individuellen Bewußtseins, allgemein für alle, aber nur Da im individuellen Bewußtsein.173

Diese Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem macht die Struktur des adornoschen Erkenntnissubjekts aus. Es ist individuelles Bewusstsein, aber als solches immer auch allgemein, weil seine Kategorien allgemeine sind, die aber nur im individuellen Bewusstsein da sind. Adorno hält so an der vorgängigen Allgemeinheit transzendentaler Subjektivität fest, aber er hypostasiert diese

170 Adorno: Einleitung in die Soziologie, hg. von Christoph Gödde, NaS IV 15, Frankfurt a. M. 1993, S.  32. 171 Adorno: Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  231; vgl. auch: ders.: Negative Dialektik, S.  185. 172 Adorno: Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  2 20. 173  Zitiert in: Theodor W. Adorno Archiv (Hg.): Adorno. Eine Bildmonographie, Frank‑ furt a. M. 2003, S.  272.

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

nicht zu einem autonomen Subjekt, sondern fasst sie als im individuellen Be‑ wusstsein sich aktualisierende Allgemeinheit. Es bleibt nun zu klären, warum dieses gedoppelte, zugleich besondere und allgemeine Bewusstsein ein unglückliches Bewusstsein ist. Sein Unglück liegt darin, dass es als gedoppeltes ein Bewusstsein, nämlich das individuelle Be‑ wusstsein ist und dass seine beiden Momente, das Allgemeine und das Besonde‑ re in ihm, sich widersprechen.174 Der Widerspruch ist diesem Bewusstsein we‑ sentlich und nicht in das eine oder das andere Moment auflösbar. Adorno stellt er sich als Widerspruch zwischen dem Allgemeinen, dem konstituierenden Mo‑ ment des Bewusstseins, und dem leiblichen Moment der Erfahrung, der Inten‑ tion auf das Besondere, dar. Erkenntnis will das Besondere der Erfahrung, er‑ reicht es aber nur über das Allgemeine; das Allgemeine rückt jedoch das Beson‑ dere wieder weg und beschneidet die Erfahrung. Das Unglück liegt in der Doppelschlächtigkeit des Allgemeinen: „In ihren unabdingbar allgemeinen Elementen schleppt alle Philosophie, auch die mit der Intention auf Freiheit, Unfreiheit mit sich, in der die der Gesellschaft sich verlängert. Sie hat den Zwang in sich; aber er allein schützt sie vor der Regression in Willkür.“175 Das Allge‑ meine der Begriffe ist das, was eine besondere Erfahrung erst gleichsam gültig macht, was sie erst geistig macht; zugleich ist das Allgemeine Zwang. Auf die Antithese von konstituierender Erkenntnis (Allgemeines) und Erfahrung (Be‑ sonderes) übertragen, bedeutet das, dass die Erfahrung des Besonderen nur als blinder Fleck der Konstitution stattfinden kann, nicht einfach jenseits oder vor der Konstitution. Konstitution ist unhintergehbar, wie Adorno an Kant aus‑ führt, weil sie nicht bewusste Tätigkeit des Denkens ist, sondern dem bewuss‑ ten Denkakt vorausgeht: Kants Größe jedoch, eine der kritischen Beharrlichkeit auch gegenüber den eigenen so‑ genannten Grundpositionen, hat sich nicht zuletzt daran bewährt, daß er, dem Tatbe‑ stand Denken höchst angemessen, die Spontaneität, die ihm Denken ist, nicht einfach mit bewußter Tätigkeit gleichsetzte. Die maßgeblichen, konstitutiven Leistungen des Denkens waren ihm nicht dasselbe wie Denkakte innerhalb der bereits konstituierten Welt. Ihr Vollzug ist dem Selbstbewußtsein kaum gegenwärtig.176

Da dem Bewusstsein die Objekte immer als bereits konstituierte entgegentre‑ ten, kann es nicht einfach die Konstitution unterlassen, um das Objekt zu erfah‑ ren. Insofern greift es zu kurz, einfach die These Adornos aufzugreifen, die zentrale Rolle des Subjekts sei Erfahrung und nicht Formung.177 Erfahrung kann nur über die Reflexion auf die Aporien der Formung erreicht werden. Un‑ glücklich ist das Bewusstsein, weil der Kampf gegen konstitutive Subjektivität 174 Hegel:

Phänomenologie, S.  163. Negative Dialektik, S.  58. 176 Adorno: „Anmerkungen zum philosophischen Denken“, GS 10.2, S.   599–607, hier S.  600. 177  Vgl. Bernstein: „Begriff und Kategorien III“, S.  117. 175 Adorno:

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in der Tat der Kampf gegen einen Feind ist, „gegen welchen der Sieg vielmehr ein Unterliegen, das eine erreicht zu haben vielmehr der Verlust desselben in seinem Gegenteile ist“.178 Visiert das individuelle Bewusstsein eine Sache an, so ist diese immer schon konstituiert durch die allgemeinen Kategorien und damit rückt die Sache wieder weg, wie Adorno in „Zu Subjekt und Objekt“ ausführt: „Als in Wahrheit Nichtidentisches wird das Objekt dem Subjekt desto ferner gerückt, je mehr das Subjekt das Objekt ‚konstituiert‘.“179 Das ist der Zwangs­ charakter des Denkens – Denken heißt identifizieren –, den es nicht wegräu‑ men, aber in einer Selbstreflexion zum Vehikel unreduzierter Erfahrung ma‑ chen kann. „Den ihm immanenten Zwangscharakter vermag Denken kritisch zu erkennen; sein eigener Zwang ist das Medium seiner Befreiung.“180 Schlüssel zu dieser Befreiung ist die Reflexion auf die Widersprüche, die konstituierende Erkenntnis mit sich bringt; Adorno muss anhand dieser Widersprüche den Nachweis erbringen, dass die Sache immer schon mehr ist als ihre Konstitution und dass sich dieses Mehr auch den Kategorien konstitutiver Subjektivität mit‑ teilen kann.

IV.  Bedingungen der Möglichkeit II: Subjekt-Objekt-Dialektik Die im Folgenden behandelten Bedingungen der Möglichkeit sind die im enge‑ ren Sinne erkenntnistheoretischen Bedingungen der Möglichkeit von inhaltli‑ cher Erfahrung; als solche sollen sie nicht mehr als die Möglichkeit aufzeigen, dass die Sache als inhaltliche in die Kategorien des Erkenntnissubjekts eingehen und sich in ihnen bemerkbar machen kann. Obwohl die Bedingungen erkennt‑ nistheoretische Probleme formulieren, sprengen sie zugleich die Erkenntnisthe‑ orie, weil sie diese ins Sachhaltige erweitern. Im Folgenden ist Adorno, wie oben entwickelt, um einen doppelten Nachweis bemüht: Einerseits muss er zei‑ gen, dass Begriff und Sache, Subjekt und Objekt nichtidentisch sind, dass die Sache nicht im Begriff, das Objekt nicht im Subjekt aufgeht. Zweitens muss er zeigen, dass die Bestimmungen des Objekts nicht rein subjektive sind, sondern dass sich in ihnen das Objekt geltend macht. Adorno versucht diese doppelte Problemstellung durch eine Revision der Subjekt-Objekt-Dialektik zu lösen. In der Revision bezieht Adorno sowohl systematisch als auch historisch eine Stellung zwischen den Stühlen: systematisch, wie Kern sagt, zwischen Idealis‑ mus und naivem Realismus, historisch im „Prozeß zwischen Kant und He‑ gel“,181 deren Positionen er jedoch nicht historisch, sondern ihrerseits systema‑ tisch versteht. So hält er gegen den Idealismus an der Unabhängigkeit der Ob‑ jekte im Erkenntnisakt fest; gegen den Realismus wiederum insistiert er auf der 178 Hegel:

Phänomenologie, S.  164. Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  753. 180 Adorno: Negative Dialektik, S.  58. 181  Adorno: „Erfahrungsgehalt“, S.  323. 179 

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

Vermittlung der Erkenntnisobjekte durch das Bewusstsein. Damit entsteht ein Problem, das McDowell als zentrales Dilemma der Erkenntnistheorie identifi‑ ziert hat. Die Frage nach dem Verhältnis von Geist und Welt führt zu einer Oszillation zwischen zwei unbefriedigenden Alternativen: „[O]n the one side a coherentism that threatens to disconnect thought from reality, and on the other side a vain appeal to the Given, in the sense of bare presences that are supposed to constitute the ultimate grounds of empirical judgements.“182 Adorno hat das Ungenügende beider Positionen erkannt. Den Mythos des Gegebenen hat er besonders in der Metakritik der Erkenntnistheorie mit dem Hinweis kritisiert, dass Gegebenheit „ihrem eigenen Begriff nach ein Subjekt, auf das sie sich be‑ zieht“, erfordere.183 Dieses Argument droht in den Kohärentismus überzuge‑ hen, der bei Adorno die Form des Idealismus annimmt. Von diesem setzt Ador‑ no sich ab, indem er trotz der Vermittlung von Subjekt und Objekt an einer substantiellen Unabhängigkeit des Objekts festhält. Wie McDowell will Ador‑ no zwei Desideraten genügen: Erstens will er Realität als vom Denken unab‑ hängig verstehen, so dass sie dem begrifflichen Denken eine Schranke setzt; zweitens will er jedes Wissen von dieser Realität als begriffliches Wissen verste‑ hen; wie McDowell zielt er auf eine „third option“ zwischen den Polen der Os‑ zillation.184 Adornos Ausweg aus diesem Dilemma liegt in seiner Konzeption der Vermittlung. Nur indem er eine Differenz in der Vermittlung von Subjekt und Objekt behauptet, vermag er das Objekt als substantiell unabhängig vom Subjekt konzipieren und trotzdem das Wissen vom Objekt als begrifflich ver‑ mittelt verstehen. Insofern er zeigen will, dass das Objekt nicht nur unabhängig ist von der Vermittlung des Subjekts, sondern dass dieses Objekt sachhaltig in den Akt der Erkenntnis eingeht, sprengt Adorno nicht nur den Rahmen der Erkenntnisthe‑ orie, sondern geht auch über McDowell hinaus. Mit dem doppelten Anspruch, sowohl dem von McDowell identifizierten Dilemma zu entgehen, als auch die objektive Determination der Erfahrung zu denken, versucht Adorno, eine sys‑ tematisch eigenständige Position zwischen Kant und Hegel zu beziehen. Weil Adorno seine eigene Position in Abgrenzungen gegen Kant und Hegel gewinnt, lässt sich diese Position adäquat nur über diese Abgrenzungen verstehen: sie machen Adornos Methode aus. Kant und Hegel werden über weite Strecken nicht als historische Stationen gelesen, sondern zu systematischen Standpunk‑ ten zugespitzt, die gegeneinander ausgespielt werden. Im Rahmen der Erkennt‑ nistheorie spielt sich dieses Vorgehen zwischen den Begriffen der Idee der Andersheit und dem Vorrang des Objekts ab. Die Idee der Andersheit bringt Ador‑ no mit Kant gegen Hegel vor. Sie bezeichnet zunächst nichts anderes als die 182 McDowell:

Mind and World, S.  24. Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  146. 184  Vgl. McDowell: Mind and World, S.  26 f. 183 Adorno:

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Unauflöslichkeit der Materie, des Sinnlichen, des Gegebenen, und geht nicht über den Gedanken Kants hinaus, dass der Erkenntnis notwendig ein Substrat zugrunde liegen muss, das von den kategorialen Formen der Subjektivität unab‑ hängig ist.185 Mit Hegel aber besteht Adorno gegen Kant und in letzter Konse‑ quenz auch gegen Hegel selbst auf dem Vorrang des Objekts, um über den blo‑ ßen Substratcharakter der Andersheit hinauszugehen. Der Vorrang des Objekts ist mehr als die Idee der Andersheit; mit ihm wird die inhaltliche Determination der Erfahrung durch das Objekt behauptet. Als ein solches Mehr bewahrt der Vorrang des Objekts die Idee der Andersheit in sich auf. Ich möchte im Folgenden Adornos Einlösung seiner erkenntnistheoretischen Prämissen anhand dieser beiden Momente behandeln. Mit der Idee der Andersheit versucht Adorno an der substantiellen Unabhängigkeit des Objekts in sei‑ ner Vermittlung festzuhalten (a); mit dem Vorrang des Objekts dagegen will Adorno zeigen, dass sich in der Erfahrung des Objekts dieses selbst geltend macht (b). Das führt schließlich auf den Begriff der Mimesis, in dem das Subjekt und das Objekt der Erfahrung bei Adorno zusammenkommen (c). Dabei geht die einigermaßen strikte Unterscheidung von Idee der Andersheit und Vorrang des Objekts über Adornos eigene Begrifflichkeit hinaus. Schließlich spricht er von „Idee der Andersheit“ nur an einer Stelle in der Negativen Dialektik,186 während der Vorrang des Objekts ein zentrales Motiv Adornos ist, das, in der Negativen Dialektik entwickelt, im späteren Werk eine zentrale Stellung ein‑ nimmt.187 Allein, der Sache nach unterscheidet Adorno die beiden Momente streng voneinander: „Vom Vorrang des Objekts ist legitim zu reden nur, wenn jener Vorrang, gegenüber dem Subjekt im weitesten Verstande, irgend bestimm‑ bar ist, mehr also denn das Kantische Ding an sich als unbekannte Ursache der Erscheinung.“188 Dementsprechend möchte ich an der begrifflichen Distinktion der beiden Momente festhalten, da vor diesem Hintergrund Adornos Positio‑ nierung gegenüber Kant und Hegel klarer hervortritt.189 Bereits in der Bestimmung der Idee der Andersheit als kantisches Moment, das Adorno gegen Hegel stark macht, zeigt sich Adornos komplexe Stellung zu den beiden Philosophen. Trotz kantianischer Momente bleibt seine Position in 185 

Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XXVII. Negative Dialektik, S.  185. 187  Vgl. vor allem den Abschnitt „Vorrang des Objekts“ in der Negativen Dialektik. Ebd., S.  184 f. Auch in der Ästhetischen Theorie und in „Zu Subjekt und Objekt“ spielt der Vorrang des Objekts eine bedeutende Rolle. 188  Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  748. 189  O’Connor macht in seiner Interpretation zwar keine begriffliche Unterscheidung zwi‑ schen Vorrang des Objekts und Idee der Andersheit. Dennoch unterscheidet er die beiden Momente der Sache nach, muss aber, weil er diese Unterscheidung selbst noch in den Vorrang des Objekts hineinnimmt, zwischen einem schwächeren und einem stärkeren Verständnis des Vorrangs unterscheiden, was schließlich auf Kosten der Klarheit, besonders in Bezug auf He‑ gel und Kant geht. Vgl. O’Connor: Adorno’s Negative Dialectic, S.  56. 186 Adorno:

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

ihren Grundzügen hegelianisch. Insistiert Adorno mit Kant auf der Idee der Andersheit, so ist zu bedenken, dass Adorno – nach Thyens Formulierung – „Kant gewissermaßen schon im Rücken haben muß, um die Ambivalenz des Kantischen Systems als kritischen Sachverhalt herauszustellen“.190 Deutlich wird das, wenn Adorno in der Kantvorlesung sagt, „daß, der objektiven Gestalt der Kantischen Philosophie selber nach, der Übergang zur Dialektik eigentlich erzwungen wird“.191 In diesem Sinne spricht Adorno von der „größere[n] Kon‑ sequenz“192 Hegels und der deutschen Idealisten gegenüber Kant und nennt He‑ gel den „zu sich selbst gekommene[n] Kant“.193 Dennoch geht Adornos Position nicht vollkommen in der hegelschen auf, sondern versucht in dieser kantische Momente geltend zu machen, ohne hinter den Gedanken der Dialektik zurück‑ zufallen. Adornos Position ist weder auf Kant noch auf Hegel reduzierbar, son‑ dern ergibt sich aus einer doppelten Frontstellung und mit dieser steht Adorno, so möchte ich argumentieren, nicht bloß zwischen Kant und Hegel, sondern auch als selbständiger Denker neben ihnen. a.  Der Prozess zwischen Kant und Hegel I: Idee der Andersheit Die Bedeutung der Idee der Andersheit für Adornos Denken erschließt sich am ehesten aus der Intention, die sich in ihr ausdrückt. Obwohl gegen Hegel ge‑ dacht, macht sie doch nicht den notwendigen Schritt von Kant zu Hegel rück‑ gängig, sondern zeigt bloß die Weigerung an, aus diesem Schritt die letzte Kon‑ sequenz zu ziehen. Deshalb ist zunächst auf Adornos Stellung zur hegelschen Kantkritik zu reflektieren. Über die von Hegel besonders im Vorbegriff der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften und in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie entwickelte Kritik sagt Adorno an mehreren Stellen, dass in ihr die „Konsequenz“ Hegels über die kantischen Brüche sie‑ ge.194 Damit schließt er gewissermaßen an Hegels eigene Beurteilung Kants, Fichtes und seiner eigenen Philosophie an; an Kants Philosophie kritisiert He‑ gel die „gedankenlose Inkonsequenz, durch die es dem ganzen System an spe‑ kulativer Einheit fehlt“, und hebt demgegenüber die größere Konsequenz Fich‑ tes hervor.195 Inkonsequent an der Philosophie Kants ist, dass sie zwischen Er‑ kennen und Sache eine Grenze setzt, ohne wissen zu wollen, was jenseits dieser Grenze ist. Das Ding an sich, das die Grenze des Erkennens markiert, holt He‑

190 

Vgl. Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung, S.  152. Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.   136. 192  Adorno: „Aspekte“, S.  259; ders.: Negative Dialektik, S.  180. 193  Adorno: „Aspekte“, S.  255. 194  Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  179 f., S.  375; ders.: „Aspekte“, S.  259; ders.: „Er‑ fahrungsgehalt“, S.  315, S.  323. 195 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, TWA 20, S.  388. 191 Adorno:

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gel in das Gebiet der Kategorien des Denkens zurück, indem er es als Produkt der Abstraktion identifiziert: Das Ding-an-sich (und unter dem Ding wird auch der Geist, Gott befaßt) drückt den Gegenstand aus, insofern von allem, was er für das Bewußtsein ist, von allen Gefühlsbe‑ stimmungen wie von allen bestimmten Gedanken desselben abstrahiert wird. Es ist leicht zu sehen, was übrigbleibt – das völlige Abstraktum, das ganz Leere, bestimmt nur noch als Jenseits; das Negative der Vorstellung, des Gefühls, des bestimmten Denkens usf. Ebenso einfach aber ist die Reflexion, daß dies caput mortuum selbst nur das Produkt des Denkens ist, eben des zur reinen Abstraktion fortgegangenen Denkens, des leeren Ich, das diese leere Identität seiner selbst sich zum Gegenstande macht.196

Hegels Konsequenz besteht darin, das Ding an sich als Grenze des Denkens in die Immanenz des Denkens hineinzuziehen und die Differenz zwischen Den‑ ken und Ansich zu einem Gegensatz innerhalb des Denkens zu machen, der, da er das Tun des Denkens selbst ist, in der Reflexion des Denkens auf sein Tun wieder aufgehoben werden kann: „Als Schranke, Mangel wird etwas nur ge‑ wußt, ja empfunden, indem man zugleich darüber hinaus ist.“197 Die Grenze wird für Hegel nur zur vorläufigen Grenze und gleichzeitig zum Vehikel der Erkenntnis. Adorno betrachtet die Konsequenz Hegels mit gemischten Gefüh‑ len: Einerseits erweitert Hegel die Erkenntnis ins Inhaltliche hinein, anderer‑ seits löst er jede Andersheit im Denken auf. Mit der Erweiterung ins Inhaltliche ist gleichzeitig der absolute Idealismus gesetzt. An dieser Ambivalenz der hegel‑ schen Kantkritik setzt Adorno an, wenn er die Idee der Andersheit wieder ge‑ gen Hegel geltend machen will, ohne hinter Hegels Dynamisierung der Dualis‑ men Kants – der entscheidende Schritt nachkantischer Philosophie198 – zurück‑ zufallen. Es geht Adorno mithin darum, an der Idee der Andersheit, der Idee der unaufhebbaren Differenz von Subjekt und Objekt, innerhalb der Dialektik, der Vermittlung von Subjekt und Objekt, festzuhalten. Fraglich ist, wie er gegen die von ihm selbst gelobte Konsequenz der hegel‑ schen Argumentation vorgeht. Hegels Argument ist gegen die Inkonsequenz jeglicher Annahme einer vom Denken selbst gesetzten Grenze gerichtet. Weil die Grenze vom Denken gesetzt wird, ist man im Denken der Grenze bereits über sie hinaus. Gewiss, Schnädelbach macht hier mit Recht auf den von Hegel verwischten Unterschied zwischen Denken und Erkennen aufmerksam: Mit dem Setzen der Grenze mag zwar ein Jenseits der Grenze bereits gedacht sein, aber das Erkennen ist damit nicht über die Grenze hinaus, weil dieses Jenseits nur gedacht und nicht erkannt ist.199 Adorno geht in gewissem Sinne weiter als dieser Einwand, wenn er das Moment der Andersheit als von Hegel selbst nicht 196 Hegel:

Enzyklopädie I, S.  120 f., §  4 4 A. Ebd., S.  144, §  60 A. 198  Vgl. Adorno: Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  248. 199  Vgl. Drüe u. a.: Hegels „Enzyklopädie Der Philosophischen Wissenschaften“ (1830) Ein Kommentar zum Systemgrundriss, S.  28. 197 

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

beachtete Bedingung seiner eigenen Philosophie zu vindizieren sucht. „Gegen‑ über der abgründigen Brüchigkeit des Kantischen Systems hat Hegel die größe‑ re Konsequenz von dessen Nachfolgern gerühmt und noch gesteigert. Ihm stieß nicht auf, daß die Kantischen Brüche eben jenes Moment der Nichtidentität ver‑ zeichnen, das zu Hegels eigener Fassung der Identitätsphilosophie unabdingbar hinzugehört.“200 Fragt Christa Hackenesch in ihrem Kommentar zur kleinen Logik Hegels, welchen Sinn es mache, „eine Wirklichkeit vorauszusetzen, die als solche von der Geformtheit durch unsere Kategorialität unberührt ist“,201 so speist sich Adornos Kritik an Hegel gerade aus dieser Frage. Nicht nur ist Nich‑ tidentität Bedingung der Identität, sondern die Idee der Andersheit ist Bedin‑ gung der Möglichkeit von Erkenntnis und Erfahrung überhaupt. Die Annahme eines bewusstseinsunabhängigen Moments in der Erkenntnis beruht, wie auch O’Connor betont, auf einem transzendentalen Argument, das heißt, die An‑ nahme wird als Bedingung der Möglichkeit verstanden, dass Erkenntnis oder Erfahrung überhaupt sinnvoll gedacht werden kann.202 Man könnte sagen, Adorno benutze, ähnlich wie Kant im Antinomiekapitel der Kritik der reinen Vernunft,203 die argumentatio e contrario, gehe von der Gegenthese aus: Es gibt keine Andersheit. So heißt es in der Negativen Dialektik: „Ohne sie verkäme Erkenntnis zur Tautologie; das Erkannte wäre sie selbst.“204 Adorno selbst merkt in einer Vorlesung an, dass dieser Schluss aus der Gegenthese logisch nicht unzweifelhaft ist; 205 dennoch scheint diese Argumentation der gangbarste Weg zu sein, die Annahme einer bewusstseinsexternen Andersheit zu verteidi‑ gen. Noch McDowell argumentiert weitgehend e contrario.206 Und wie McDo‑ well geht Adorno von einem emphatischen Erkenntnisbegriff aus, der die An‑ nahme einer bewusstseinsexternen Andersheit notwendig macht: „Erkennen heißt immer soviel wie: das, was uns fremd, unidentisch gegenübersteht, in un‑ ser eigenes Bewusstsein hineinzunehmen, gewissermaßen uns zuzueignen, zu unserer eigenen Sache zu machen.“207 Das gilt im nachdrücklichen Sinn für das 200 

Adorno: „Aspekte“, S.  259. Drüe u. a.: Hegels „Enzyklopädie Der Philosophischen Wissenschaften“ (1830) Ein Kommentar zum Systemgrundriss, S.  135. 202  Vgl. O’Connor: Adorno’s Negative Dialectic, S.  15. Dennoch würde ich nicht so weit gehen Adorno als „transcendental philosopher“ zu bezeichnen. Adorno bezieht keinen trans­ zendentalen Standpunkt, sondern greift bloß auf transzendentale Argumente zurück. Somit kann er auch nicht, wie O’Connor meint, Thomas Nagel gegenübergestellt werden: „Unlike Adorno, who offers a transcendental account of experience, Nagel bases his position on ­something he takes to be experientially self-evident, first-person experience.“ Ebd., S.  95. Die Pointe von Adornos Verfahren besteht, wie wir gesehen haben, gerade darin, dass transzen‑ dentale Subjektivität in ihrer Vermittlung durch individuelle Erfahrung gedacht wird. 203  Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 515/B 543–A 567/B 595. 204 Adorno: Negative Dialektik, S.  185. 205 Adorno: Probleme der Moralphilosophie, S.  55. 206  Vgl. etwa: McDowell: Mind and World, S.  5. 207 Adorno: Einführung in die Dialektik, S.  122. 201 

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Konzept der Erfahrung: Setzen wir nicht voraus, dass es etwas gibt, was nicht bereits Bewusstsein ist, sondern diesem fremd, so ist es nicht möglich, etwas zu erfahren, nämlich etwas Neues zu erkennen, das nicht in den bestehenden For‑ men aufgeht. Die Idee der Andersheit ist mithin transzendentale Bedingung, Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt. Dass die Idee der Andersheit gedacht werden muss, beweist noch nicht ihre Denkbarkeit. Dass das Ding an sich nur inkonsequent gedacht werden kann, macht gerade den Einwand aus, den Hegel gegen Kant vorbringt. Um der dro‑ henden Oszillation zwischen Kant, nach dem Andersheit gedacht werden muss, und Hegel, nach dem sie nicht konsequent gedacht werden kann, zu entgehen, muss Adorno die Andersheit durch das Subjekt vermittelt und vom Subjekt un‑ abhängig denken, als Vermitteltes und als Andersheit zugleich. An dieser Stelle kommt das im ersten Kapitel behandelte Moment der Differenz in der Vermitt‑ lung zum Tragen, zumal die Unterscheidung von modaler und substantieller Vermittlung. Das Objekt der Erkenntnis ist durch das Subjekt modal vermittelt, nicht substantiell; seine Vermittlung betrifft nur den Modus seiner Erkenntnis durch das Subjekt, nicht aber die Substanz des Objekts selbst. Damit ist das Objekt als durch das Subjekt vermittelt gedacht; es ist erkanntes Objekt. Zu‑ gleich ist es vom Subjekt unabhängig und markiert damit die Grenze der Er‑ kenntnis. So schreibt Adorno in der Negativen Dialektik: „Vermittlung des Unmittelbaren betrifft seinen Modus: das Wissen von ihm und die Grenze sol‑ chen Wissens.“208 In der Differenz der Vermittlung ist die Grenzen ziehende Funktion der Idee der Andersheit bewahrt, ohne dass die Vermittlung von Sub‑ jekt und Objekt preisgegeben wäre. So kann Adorno dem doppelten Desiderat genügen, mit Hegel an der Vermitteltheit jeglichen Erkenntnisobjekts durch das Subjekt festzuhalten, ohne in den absoluten Idealismus überzugehen. Mit der Differenz von Modus und Substanz stellt sich die Frage nach dem ontologischen Status des Objektbegriffs bei Adorno. Die Rede von einer subs‑ tantiellen Unabhängigkeit des Objekts, von einer Vermittlung, die bloß den Modus betreffen soll, suggeriert, dass Adorno trotz der Bedeutung, die er der Vermittlung beimisst, das Objekt ontologisch denkt. Gegen Adornos Kritik der Ontologie und wider seine eigene Beteuerung, dass der Vorrang des Objekts nicht die „alte intentio recta restauriert“,209 scheint sich in seinem Objektbegriff ein ontologisches Moment geltend zu machen, insofern dem vermittelten Ob‑ jekt durch die Differenz in der Vermittlung ein substantialistisch verstandenes Objekt zur Seite gestellt wird. Es entstehen, wie Iber bemerkt, zwei Objektbe‑ griffe: 1. Objekt als das dem Subjekt Entgegengesetzte (obiectum), das nur in Beziehung auf das Subjekt und vom Subjekt aus gedacht werden kann; 2. Objekt als unabhängig von jedem 208 Adorno: 209 

Negative Dialektik, S.  173. Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  746.

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

Subjektbezug, d.i. Objekt als das, was überhaupt ‚ist‘, d. h. insofern es als Daseiendes Inder-Welt-Sein ist, was auch von Subjekten gilt. Diese zweite ontologisch tingierte weite‑ re Bedeutung von Objekt soll die traditionell erste, die rein epistemisch ist, kritisch un‑ terlaufen. 210

Das erste Objekt ist das durch das Subjekt vermittelte Objekt, das durch das Subjekt erkannt wird. Subjekt ist hier Erkenntnisgrund, causa cognoscendi, des Objekts. Der zweite Objektbegriff ist ein substantialistischer. Das Objekt ist hier unabhängig von jeder Vermittlung durch das Objekt gedacht. Kritisch un‑ terlaufen soll dieser Objektbegriff den ersten, weil dadurch die Identität des Objekts mit dem, was das Subjekt als Objekt konstituiert, als Schein ersichtlich wird. Iber bemerkt zu Recht, dass durch diesen zweiten Objektbegriff, obwohl er ontologisch tingiert ist, nicht „das Objekt anstelle des Subjekts zum Ersten gemacht wird“.211 Die zwei Objektbegriffe bei Adorno rühren von der Diffe‑ renz der Vermittlung her und sind damit nicht streng voneinander geschieden. Adorno stellt nicht einem als vermittelt gedachten Objekt ein substantielles Ob‑ jekt entgegen, das außerhalb jeglichen Subjektbezugs steht; auch dieses Objekt wird vom Subjekt gedacht, zwar als außerhalb der Vermittlung, aber nicht als außerhalb der Vermittlung erkennbares. Adornos Objektbegriff bezieht sich auf ein Objekt und die zwei Bedeutungen des Begriffs folgen aus einem Pers‑ pektivenwechsel auf dieses eine Objekt. Wie aber soll dieser Perspektivenwech‑ sel von Modus zu Substanz sich vollziehen? Weil Adorno nicht außerhalb der Vermittlung des Subjekts auf ein unmittelbar gegebenes Objekt rekurrieren kann, muss sich dieser Perspektivenwechsel innerhalb der Bewusstseinspers‑ pektive, mithin innerhalb der Sphäre, in der das Objekt immer schon als Ver‑ mitteltes auftritt, vollziehen. Wie aber kann Adorno innerhalb dieser Sphäre zwischen einer Perspektive, in der das Objekt als Vermitteltes gedacht wird, und einer, in der es als unmittelbar gedacht wird, unterscheiden, ohne das Ob‑ jekt dogmatisch als bewusstseinstranszendentes zu setzen? Ich möchte versu‑ chen, die These des Perspektivenwechsels in Rückgang auf die Einleitung der Phänomenologie des Geistes zu erläutern, von der Adorno seine dialektische Konzeption der Erfahrung übernommen hat. In der Phänomenologie der Geistes findet Adorno das Modell einer Sub‑ jekt-Objekt-Dialektik, die es ihm ermöglicht, das Objekt als durch das Subjekt vermittelt und gleichzeitig als mit dieser Vermittlung nichtidentisch zu denken, ohne dass er auf einen ontologischen Objektbegriff zurückgreifen müsste. He‑ gel formuliert diese Dialektik bekanntlich unter den Begriffen „Bewusstsein“ und „Gegenstand“. Dabei ist der Gegenstand ein doppelter: Hegel unterschei‑ det den durch das Bewusstsein vermittelten Gegenstand, den Gegenstand für es, vom Gegenstand, wie er sich außerhalb dieser Beziehung auf das Bewusstsein 210 

Iber: „Begriff und Kategorien negativer Dialektik bei Adorno“, S.  85.

211 Ebd.

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zeigt, dem Gegenstand an sich. Die Differenz dient Hegel dazu, das Bewusst‑ sein seine Gegenstandskonzeption kritisch hinterfragen zu lassen, das heißt: es den Gegenstand für es mit dem Gegenstand an sich vergleichen zu lassen. Eben‑ so spricht Hegel das Problem an, dass die Prüfung, ob das Wissen des Bewusst‑ sein vom Gegenstand dem Gegenstand an sich, der Wahrheit, entspricht, nicht auf diesen Gegenstand als bewusstseinsexternen Maßstab rekurrieren kann: Untersuchen wir nun die Wahrheit des Wissens, so scheint es, wir untersuchen, was es an sich ist. Allein in dieser Untersuchung ist es unser Gegenstand, es ist für uns; und das Ansich desselben, welches sich ergäbe, [wäre] so vielmehr sein Sein für uns; was wir als sein Wesen behaupten würden, wäre vielmehr nicht seine Wahrheit, sondern nur unser Wissen von ihm. Das Wesen oder der Maßstab fiele in uns, und dasjenige, was mit ihm verglichen und über welches durch diese Vergleichung entschieden werden sollte, hätte ihn nicht notwendig anzuerkennen.212

Maßstab der Prüfung, ob das Wissen des Gegenstandes auch dem Gegenstand, wie er an sich ist, entspricht, kann nur der Gegenstand an sich sein. Allein, die‑ ser Gegenstand ist dem Bewusstsein nicht an sich gegeben, sondern er ist nur für es. Das Bewusstsein kann sich nicht auf den Gegenstand an sich unmittelbar beziehen. Hegels Lösung besteht darin, dass sich das Bewusstsein den Maßstab selbst gibt, weil die Unterscheidung von für es und an sich eine dem Bewusstsein immanente Unterscheidung ist. Es ist in ihm eines für ein Anderes, oder es hat überhaupt die Bestimmtheit des Moments des Wissens an ihm; zugleich ist ihm dies Andere nicht nur für es, sondern auch außer dieser Beziehung oder an sich; das Moment der Wahrheit. An dem also, was das Bewußt‑ sein innerhalb seiner für das Ansich oder das Wahre erklärt, haben wir den Maßstab, den es selbst aufstellt, sein Wissen daran zu messen. 213

Dieser Maßstab ist dem Bewusstsein nicht äußerlich, sondern es stellt ihn in sich selbst auf, durch die Reflexion auf sein Wissen vom Gegenstand, die darin besteht, dass dieses Wissen eben nur sein Wissen vom Gegenstand und nicht die Wahrheit des Gegenstands, nicht der Gegenstand selbst ist. Die Rede von einem an sich des Gegenstandes darf nicht im Sinne eines ontologisch gedeuteten Din‑ ges an sich verstanden werden: Das Bewusstsein hat den Gegenstand immer nur als Wissen, nie als Wahrheit. Und das Bewusstsein gibt sich diese Differenz selbst, ohne Rekurs auf einen ihm äußeren Gegenstand, wie Hegel weiter er‑ klärt: Der Gegenstand scheint zwar für dasselbe nur so zu sein, wie es ihn weiß; es scheint gleichsam nicht dahinterkommen zu können, wie er nicht für dasselbe, sondern wie er an sich ist, und also auch sein Wissen nicht an ihm prüfen zu können. Allein gerade darin, daß es überhaupt von einem Gegenstande weiß, ist schon der Unterschied vorhanden, daß ihm etwas das Ansich, ein anderes Moment aber das Wissen oder das Sein des Gegen‑ 212 Hegel: 213 

Phänomenologie, S.  76. Ebd., S.  76 f.

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

standes für das Bewußtsein ist. Auf dieser Unterscheidung, welche vorhanden ist, beruht die Prüfung. 214

Hegel sagt damit, dass jedem Wissen des Bewusstseins von einem Gegenstand zugleich das Bewusstsein der Differenz dieses Wissens von der Wahrheit des Gegenstandes beigemengt ist, ohne dass diese Wahrheit als positive vorausge‑ setzt zu werden braucht. Auch Adornos Subjekt-Objekt-Dialektik lässt sich anhand dieser Struktur verstehen. Der Perspektivenwechsel, der die Vermittlung des Objekts von seiner Substantialität jenseits dieser Vermittlung unterscheidet, braucht nicht eine Po‑ sition außerhalb der Vermittlung einzunehmen, sondern im Wissen um die Ver‑ mitteltheit des Objekts durch das Subjekt liegt auch das Wissen um die von der Vermittlung unabhängige Existenz des Objekts. Adorno drückt das sowohl in der Negativen Dialektik aus, wenn er sagt, dass jeglicher Begriff „die Differenz von Denken und Gedachtem“ reproduziere,215 als auch in „Zu Subjekt und Ob‑ jekt“, wenn er die Verdoppelung des Gegenstandes aus der Natur der Vermitt‑ lung selbst ableitet: „Das durch Bewußtsein Gewußte muß ein Etwas sein, Ver‑ mittlung geht auf Vermitteltes.“216 Indem in der modalen Vermittlung des Ob‑ jekts durch das Subjekt die substantielle Unabhängigkeit des Objekts vom Subjekt immer auch mitgedacht wird, ist die Idee der Andersheit dem Vermitt‑ lungsbegriff immanent. Der Zusammenhang der beiden von Iber unterschiedenen Bedeutungen des Objekts stellt sich nun wie folgt dar: Sobald ein Objekt nur in Beziehung auf das Subjekt und vom Subjekt aus gedacht wird, ein Objekt als durch das Subjekt Vermitteltes, ist dieses Objekt gleichzeitig auch als unabhängig von jedem Sub‑ jektbezug gedacht. An Hegels Konzeption des Maßstabes wird ersichtlich, wie Adorno die Differenz von Vermittlung und Unmittelbarkeit des Objekts auf‑ rechterhalten kann, ohne auf einen ontologischen Objektbegriff zu rekurrieren. Das Objekt als ansichseiendes ist als immanente Transzendenz zu verstehen. Mit diesem Begriff bezeichnet Theunissen die Transzendenz des Bewusstseins bei Hegel. Der Vorteil dieser immanenten Transzendenz liegt nach Theunissen darin, dass sie Platz schafft „für die ‚Transzendenz‘ des Ansichseienden, ohne dem Objektivismus anheimzufallen, dem die Annahme eines unvermittelten Ansichseins huldigt“.217 Die immanente Transzendenz ist eine Transzendenz, die von der Immanenz her als Transzendenz gedacht wird, obwohl sie uns als Transzendenz nie gegeben ist. Die Funktion der immanenten Transzendenz ist bei Adorno wie bei Hegel eine kritische: der ansichseiende Gegenstand, das 214 

Ebd., S.  78. Negative Dialektik, S.  176. 216  Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  746. 217 Theunissen, Michael: „Begriff und Realität. Hegels Aufhebung des metaphysischen Wahrheitsbegriffs“, in: Horstmann, Rolf-Peter (Hg.): Seminar. Dialektik in der Philosophie Hegels, Frankfurt a. M. 1978, S.  324–359, hier S.  335. 215 Adorno:

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Objekt als ansichseiend gedacht, dient – wie Iber bemerkt – dazu, den ersten Gegenstand, den Gegenstand wie er sich für das Bewusstsein zeigt, kritisch zu unterlaufen. Nur unter der Annahme, dass das Objekt auch außerhalb der Ver‑ mittlung durch das Subjekt sich erhält, kann das Subjekt seine Konzeption des Objekts kritisch hinterfragen. Die Wege Adornos und Hegels scheiden sich in der Handhabung dieser kritisch verwendeten Konzeption einer immanenten Transzendenz. Während Hegel die Selbstkritik des Bewusstseins nutzt, um eine Dialektik in Gang zu setzen, die in einem Punkt terminiert, „auf welchem es seinen Schein ablegt, mit Fremdartigem, das nur für es und als ein Anderes ist, behaftet zu sein, oder wo die Erscheinung dem Wesen gleich wird“,218 wo also die immanente Transzendenz sich aufhebt, hält Adorno an dem Unterschied zwischen Subjekt und Objekt fest. Seiner Hegelkritik gemäß trennt Adorno den Gedanken der Dialektik von Bewusstsein und Gegenstand vom Konzept einer spekulativen Identität von Subjekt und Objekt. An den Konsequenzen dieser Trennung wird der Gedanke eines Vorrangs des Objekts greifbar. b.  Der Prozess zwischen Kant und Hegel II: Vorrang des Objekts Der Vorrang des Objekts ist zunächst als Kritik an der Erkenntnistheorie Kants zu verstehen. Die Kritik zeigt die Notwendigkeit einer dialektischen Konzepti‑ on an, die gegen Hegel die Idee der Andersheit festhalten soll, zugleich aber darüber hinausgeht, indem das Objekt sich inhaltlich, mit seinen eigenen Be‑ stimmungen im Erkenntnisakt geltend macht: das ist der Vorrang des Objekts. An Kants Erkenntnistheorie kritisiert Adorno zunächst, dass sie Erkenntnis wegen des radikalen Bruchs zwischen Form und Inhalt nicht erklären kann: „Wie danach Form und Inhalt überhaupt sich zusammenfinden, zu einander passen; wie es zu jener Erkenntnis kommt, deren Gültigkeit Kant doch rechtfer‑ tigen wollte, wird angesichts des radikalen Bruchs zum Rätsel.“219 Das Ding an sich tritt bei Kant nicht inhaltlich in den Prozess der Erkenntnis ein, sondern bleibt ein bloßes Substrat der subjektiven Konstitutionsleistungen. Dadurch fällt das Objekt, der konstituierte Gegenstand, wiederum unter den Primat des Subjekts und Erkenntnis wird zu der Tautologie, gegen die der Dualismus von Form und Inhalt eigentlich ersonnen wurde. Darin verkapselt sich die zentrale Schwäche der Theorie Kants, die bei aller Kritik und Einschränkung der Ver‑ nunft insofern die Vernunft noch absolut setzt, als in ihr die Vernunft sich selbst ihre Grenzen vorschreibt. In diesem Gedanken liegt bereits der absolute Idea‑ lismus Hegels begraben; auch deshalb nennt Adorno Hegel den zu sich selbst gekommenen Kant.

218 Hegel: 219 

Phänomenologie, S.  81. Adorno: „Erfahrungsgehalt“, S.  306.

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

In der Erkenntnistheorie zeigt sich die Schwäche Kants nicht nur darin, dass Erkenntnis letztlich unverständlich wird, sondern auch im Verlust der Idee der Andersheit. Als völlig Unqualifiziertes zeigt sich das Ding an sich als Produkt der Abstraktion und insofern als subjektiv Gemachtes, wie Adorno in der Metakritik der Erkenntnistheorie ausführt: Eben dieses Ansichsein nun kommt dem Gegebenen nicht zu; Bewußtsein, das es zu haben behauptet, weiß von ihm bloß vermittelt durch Bewußtsein; das haben die nach‑ kantischen Idealisten durchschaut. Und selbst die Substitution des Gegebenen fürs An‑ sichsein des Dinges hilft der Erkenntnistheorie nicht aus der Not. Jene Abstraktheit des Gegebenen als des reduzierten Rests der vollen Erfahrung, die es dem undurchdringli‑ chen Substrat anähnelt, beraubt es zugleich dessen, was es verbürgen soll, nachdem es einmal durch die Spaltung der Erkenntnis nach Form und Inhalt verlorenging: der Dig‑ nität des absolut Seienden. An seiner Abstraktheit wird das Gegebene als Resultat von Abstraktion kenntlich, als selbst erst Produziertes. 220

An der Idee der Andersheit kritisiert Adorno einerseits, dass sie Erkenntnis nicht erklären kann, weil Andersheit bloß als völlig unbestimmtes Substrat ge‑ dacht wird, andererseits, dass diese völlig abstrakt gedachte Andersheit sich nicht gegen die Vermittlung erhalten kann. Der Vorrang des Objekts soll daher über den bloßen Substratcharakter der Andersheit hinausgehen und damit auch den Dualismus von Form und Inhalt überwinden. Um den Vorrang des Objekts zu verstehen, reicht es deshalb nicht, sich bloß seiner Struktur zu versichern; zunächst muss seine Genese aus dem Problem des Form‑Inhalt‑Dualismus verstanden werden. Damit kommen wir wieder von Kant zu Hegel, der von Adorno als Überwinder des Dualismus aufgeboten wird. Allerdings wird diese Überwindung mit der spekulativen Identität von Subjekt und Objekt erkauft. Der Vorrang des Objekts, so möchte ich vorschla‑ gen, lässt sich als Versuch verstehen, den Form‑Inhalt‑Dualismus zu überwin‑ den, ohne die Identität von Subjekt und Objekt vorauszusetzen. Aufschluss‑ reich ist ein Satz aus der Hegelstudie „Aspekte“, in dem Adorno die beiden Momente bei Hegel zusammenbringt: „Gerade durch den absoluten Idealismus, der nichts mehr außerhalb des zum Unendlichen erweiterten Subjekts stehen läßt, sondern alles in den Stromkreis der Immanenz hineinreißt, wird der Ge‑ gensatz zwischen form- und sinnverleihendem Bewußtsein und bloßem Stoff ausgelöscht.“221 Die Intention Adornos präzisiert sich: Aufgehoben werden soll der Gegensatz zwischen konstituierendem Bewusstsein und bloßem Stoff; die Differenz zwischen Subjekt und Objekt wird damit nicht aufgelöst, auch wenn es Formulierungen in Adornos Werk gibt, die daraufhin deuten. Adorno spricht vom Augenblick, „da die Intentionen des Subjekts erlöschen in dem Gegen‑ stand“,222 er verlangt vom Subjekt Entspannung, „bis es wahrhaft in dem Ob‑ 220 Adorno:

Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  145. Adorno: „Aspekte“, S.  254. 222  Ebd., S.  256. 221 

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jekt erlischt“, 223 und in der Negativen Dialektik redet er gar von einem Unter‑ gang: „Solche Nichtidentität ist keine ‚Idee‘; aber ein Zugehängtes. Das erfah‑ rende Subjekt arbeitet darauf hin, in ihr zu verschwinden. Wahrheit wäre sein Untergang.“224 Dennoch greift es zu kurz, solche Passagen als „Aufforderung zur Regression“225 zu verstehen oder in ihnen „das mystische Verschwinden des Subjektes“226 zu sehen. Adornos Formulierungen diametral entgegen steht die Emphase, mit der er am Subjekt und seiner Differenz zum Objekt festhalten will. An der Differenz von Subjekt und Objekt sei „kritisch festzuhalten“, merkt Adorno nur wenige Seiten zuvor in der Negativen Dialektik an.227 Unter‑ stellen wir ihm nicht, dass er innerhalb von weniger als fünfzehn Seiten diese Mahnung wieder vergisst, so müssen wir versuchen, die beiden Momente zu‑ sammenzudenken. Der Gegensatz von konstituierendem Subjekt und bloßem Stoff soll aufgehoben werden, indem das Subjekt in der Sache verschwindet, und dennoch muss an der Zweiheit von Subjekt und Objekt kritisch festgehalten werden. An dieser Stelle empfiehlt sich eine Differenzierung der Subjekt-Ob‑ jekt-Dialektik, wie Adorno sie im gleichnamigen Abschnitt der Negativen Dialektik ausführt. Adorno warnt gleich zu Beginn davor, die Subjekt-Objekt-Relation als „ih‑ rerseits undialektische Struktur“ zu verstehen und die beiden Begriffe als feste Entitäten, gleichsam als Dinge zu verstehen. „[B]eide Begriffe sind entsprunge‑ ne Reflexionskategorien, Formeln für ein nicht zu Vereinendes; kein Positives, keine primären Sachverhalte, sondern negativ durchaus, Ausdruck einzig der Nichtidentität.“228 Subjekt und Objekt sind nicht als Substanzbegriffe zu ver‑ stehen; sie sind Reflexionskategorien und damit Produkte des Denkens. Auf der Seite des Objekts ist das unmittelbar einleuchtend. Es ist, durchaus der Er‑ kenntnistheorie gemäß, durch das Subjekt konstituiertes Objekt. Dialektisch ist das Subjekt-Objekt-Verhältnis bei Adorno nun, weil diese Konstitution nicht unilateral bleibt, sondern auf das Subjekt zurückschlägt. Im Akt der Konstitu‑ tion wird es selbst durch das Objekt konstituiert. Adorno redet von einer wech‑ selseitigen Konstitution: „Sie konstituieren ebenso sich durch einander, wie sie vermöge solcher Konstitution auseinandertreten.“229 Dass sowohl Subjekt als auch Objekt nicht an sich sind, sondern durch ihr jeweils anderes konstituiert werden, wirkt sich auf ihren ontologischen Status aus. Als Reflexionskategorien sind sie nicht mehr als Begriffe. In „Zu Subjekt und Objekt“ drückt Adorno den 223 

Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  752. Negative Dialektik, S.  189 f. 225  Figal, Günter: „Über das Nichtidentische. Zur Dialektik Theodor W. Adornos“, in: Ette, Wolfram u. a. (Hgg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens, Freiburg 2004, S.  13–23, hier S.  21. 226  Ziermann: „Dialektik und Metaphysik bei Marx und Adorno“, S.  43. 227 Adorno: Negative Dialektik, S.  177. 228  Ebd., S.  176. 229 Ebd. 224 Adorno:

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fragwürdigen ontologischen Status dieser Momente in der These aus, dass es eigentlich weder Subjekt noch Objekt „‚gibt‘“.230 Damit drückt er aus, dass es beide nur gibt als durch das andere Moment konstituierte, dass Subjekt und Objekt erst in wechselseitiger Konstitution entstehen und auch erst in wechsel‑ seitiger Konstitution einander abstrakt gegenübergestellt werden. Damit ist be‑ reits angedeutet, dass in der inhaltlichen Erfahrung, die sich ja gerade in einer Reflexion auf den Konstitutionsvorgang bemerkbar macht, dieses Auseinander‑ treten von Subjekt und Objekt in irgendeiner Form aufgehoben werden soll. Diese Aufhebung wäre der Vorrang des Objekts. Die Rede von einem Vorrang des Objekts zeigt ein Ungleichgewicht in der gegenseitigen Konstitution von Subjekt und Objekt an. Adorno leitet das Un‑ gleichgewicht aus der Differenz in der Vermittlung ab. So schreibt er im Ab‑ schnitt „Vorrang des Objekts“ in der Negativen Dialektik: Vermöge der Ungleichheit im Begriff der Vermittlung fällt das Subjekt ganz anders ins Objekt als dieses in jenes. Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich aber diesem gegenüber immer als Anderes; Subjekt jedoch ist der eigenen Beschaffenheit nach vorweg auch Objekt. Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt. Zum Sinn von Subjektivität rechnet es, auch Objekt zu sein; nicht ebenso zum Sinn von Objektivität, Subjekt zu sein. 231

Das Objekt ist nur modal durch das Subjekt vermittelt, nämlich im Modus sei‑ ner Erkenntnis, und das bedeutet: es wird bloß als Objekt der Erkenntnis durch das Subjekt konstituiert, nicht an sich. Es ist gedoppeltes Objekt: zugleich ver‑ mittelt und unmittelbar gedacht. Ganz anders das Subjekt: Dieses ist substanti‑ ell durch das Objekt vermittelt, weil es selbst immer schon Objekt ist. Dass es als Subjekt substantiell durch das Objekt vermittelt ist, bedeutet, dass es nicht ein autonomes Subjekt ist, sich demnach nicht als von der Vermittlung durch das Objekt Unabhängiges konstituieren kann. Das Subjekt glaubt trotzdem, das tun zu können, indem es das Objekt konstituiert, wie Adorno in „Zu Subjekt und Objekt“ andeutet: „[T]atsächlich ist Subjekt auch Objekt, vergißt nur eben in seiner Verselbständigung zur Form, wie und wodurch es selbst konstituiert wird.“232 Die Verselbständigung zur Form ist aber nichts anderes als der Kons‑ titutionsakt, in dem das Subjekt das Objekt erst aus dem Material formt. Das Vergessen, das dem Konstitutionsakt eigen ist, wirkt sich also auf beiden Seiten aus. Das Subjekt vergisst nicht nur die Zusammenhänge, in denen das Objekt steht, sondern es vergisst auch seine eigene objektive Basis: die gesellschaftliche Basis in der Intersubjektivität seiner Kategorien, die materielle Basis im empiri‑ schen Bewusstsein. Es vergisst, in anderen Worten, seine präreflexive Situie‑ rung in der Welt, die es erst zu konstituieren glaubt – es vergisst sein In-der230 

Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  754. Negative Dialektik, S.  184. 232  Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  753. 231 Adorno:

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Welt-Sein. Nun wird greifbar, was Adorno mit der These wechselseitigen Kon‑ stitution von Subjekt und Objekt zum Ausdruck bringt: Das Subjekt konstituiert das Objekt und konstituiert sich damit selbst als bloße Form; es konstituiert zugleich sich als formverleihendes Bewusstsein und am objektiven Pol den blo‑ ßen Stoff, aus dem es das Objekt konstituiert: das ist der doppelte Trug konsti‑ tutiver Subjektivität.233 Am so konstituierten weltlosen Subjekt der Erkenntnistheorie soll nun die Reflexion auf den konstituierenden Akt die vergessenen Momente wieder ans Licht holen. In diesem Sinne hat Thyen Recht, wenn sie sagt, dass der Vorrang des Objekts auch das Subjekt betrifft: „Dem Vorrang des Objekts korrespon‑ diert das empirische Subjekt.“234 Vorrang des Objekts heißt, dass das Subjekt in der Reflexion auf den Konstitutionsvorgang der eigenen Vermittlung durch das Objekt gewahr wird und damit seine Faktizität, die es nicht aus sich setzen kann, als seine unhintergehbare Voraussetzung erkennt. Deshalb geht Bozzettis Einwand gegen Thyen – mit ihrer These werde „die Dialektik von Subjekt und Objekt abgebrochen, was Adorno nicht wollte“235 – an der Sache vorbei und zeigt ein Verständnis vom Vorrang des Objekts, das Adorno gerade abzuweh‑ ren versuchte. Vorrang des Objekts bedeutet nicht einfach, dass dem Objekt der Vorrang gegenüber dem Subjekt verschafft wird, sondern dass das Subjekt sei‑ ner Vermitteltheit durch das Objekt gewahr wird. Der Vorrang des Objekts ist dialektisch in dem Sinne, dass er nicht die Pole von Subjekt und Objekt stehen lässt, sondern sie in Identität und Nichtidentität denkt. Subjekt und Objekt sind nichtidentisch nicht bloß, weil sie in der Konstituti‑ on auseinandertreten, sondern weil sie in der Reflexion auch ihrer Identität mit sich zu einem gewissen Grade verlustig gehen. In der Negativen Dialektik drückt Adorno das so aus: „Subjekt ist in Wahrheit nie ganz Subjekt, Objekt nie ganz Objekt; dennoch beide nicht aus einem Dritten herausgestückt, das sie transzendierte.“236 Da sie nicht aus einem Dritten herausgestückt sind, muss das Andere an ihnen, durch das sie nie ganz sie selbst sind – more dialectico – ihr eigenes Anderes sein. Subjekt ist nie ganz Subjekt, weil es immer auch Objekt ist; Objekt ist nie ganz Objekt, weil es immer auch Subjekt ist. In „Zu Subjekt und Objekt“ heißt es: „Die Differenz von Subjekt und Objekt schneidet sowohl durch Subjekt wie durch Objekt hindurch.“237 Subjekt und Objekt sind in sich nochmals gespalten in subjektives und objektives Moment. Erst ihre wechselsei‑ 233  Dieselbe Problematik einer doppelten Konstitution der Sache als „Objekt“ und des Er‑ kennenden als das diesem zugrundeliegende „Subjekt“ hat Heidegger – freilich in anderer Begrifflichkeit – wiederholt angesprochen. Vgl. Heidegger, Martin: „Die Zeit des Weltbildes“, in: ders.: Holzwege, hg. von Friedrich-Wilhelm von Hermann, Frankfurt a. M. 82003, S.  75–113 besonders S.  92 und S.  109; ders.: Der Satz vom Grund, Stuttgart 92006, besonders S.  54 ff. 234 Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung, S.  209. 235 Bozzetti: Hegel und Adorno, S.  73. 236 Adorno: Negative Dialektik, S.  177. 237  Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  755.

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

tige Konstitution macht sie zu mit sich selbst Identischen. Deshalb sind Subjekt und Objekt an sich bloß der Schein von Subjekt und Objekt. Sie sind aber not‑ wendiger Schein, weil der Schein durch die Konstitution entsteht, die das Sub‑ jekt nicht unterlassen kann. Der Vorrang des Objekts besteht in der Reflexion auf diesen Schein, die ihn kritisch durchleuchtet: „Strenggenommen hieße Vor‑ rang des Objekts, daß es Objekt als ein dem Subjekt abstrakt Gegenüberstehen‑ des nicht gibt, daß es aber als solches notwendig erscheint; die Notwendigkeit dieses Scheins wäre zu beseitigen.“238 Fassen wir zusammen: Der Vorrang des Objekts ist die Reflexion auf die Konstitution von Subjekt und Objekt, die den Scheincharakter der abstrakten Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt durchleuchtet. Als Resultat dieser Reflexion muss das Verschwinden des Sub‑ jekts im Objekt verstanden werden, nämlich als Verschwinden des Scheins au‑ tonomer, konstitutiver Subjektivität. Jenseits dieses Scheins soll sich inhaltliche Erfahrung abspielen, deren Bedin‑ gung die Aufhebung der Differenz von formverleihendem Bewusstsein und bloßem Stoff ist. Mit der Reflexion, die sowohl am Subjekt wie auch am Objekt das jeweils Andere zum Vorschein bringt, wird die Aufhebung der Differenz greifbar. Die Differenz von Subjekt und Objekt bleibt dabei bestehen: Das Ob‑ jekt wird immer noch durch das Subjekt konstituiert und bedarf dieser Konsti‑ tution auch im Modus der Erfahrung. Adorno deutet das in der Vorstufe zur Einleitung der Negativen Dialektik an: „Ungedeckte Erkenntnis beseitigt nicht das vereinheitlichende Subjekt. In der Erfahrung des Objekts ist es unauslösch‑ lich.“239 Und in „Zu Subjekt und Objekt“ heißt es dazu: „Nach Eliminierung des subjektiven Moments ginge Objekt diffus auseinander gleich den flüchtigen Regungen und Augenblicken subjektiven Lebens.“240 In der Aufhebung der Differenz von formendem Subjekt und bestimmungslosem Stoff hält Adorno an einer Form des synthetisierenden Subjekts fest; ohne dessen Synthesen könnte das Objekt überhaupt nicht als Festes und Einheitliches erfahren werden. Ador‑ no scheint eine Form der Synthesis vorzuschweben, die zwar in der Erfahrung des Objekts eine konstitutive Funktion erfüllt, die dennoch nicht das Objekt aus unbestimmtem Material formt. Vergegenwärtigen wir uns Adornos Sub‑ jekt-Objekt-Dialektik: Das Subjekt kann gar nicht gedacht werden, ohne dass 238 

Ebd., S.  754. „Zur Theorie der geistigen Erfahrung“, S.  250. Der zitierte Satz stammt aus einer Passage zur Synthesis, die Adorno letztendlich nicht in die Einleitung, sondern in den zweiten Teil der Negativen Dialektik (vgl. S.  158 ff.) aufgenommen hat. Der genaue Wortlaut fehlt an dieser Stelle. Der Gedanke ist – ohne Bezug auf das Subjekt und deshalb weniger klar – ausgedrückt in folgender Stelle: „Auch deren [der Synthesis, d. Verf.] abstrakte Negation ziemt dem Denken nicht. Die Illusion, des Vielen unmittelbar habhaft zu werden, schlüge als mimetische Regression ebenso in Mythologie, ins Grauen des Diffusen zurück, wie am Ge‑ genpol das Einheitsdenken, Nachahmung blinder Natur durch deren Unterdrückung, auf mythische Herrschaft hinausläuft.“ Adorno: Negative Dialektik, S.  160. 240  Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  756. 239  Adorno:

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es zugleich auch Objekt und durch das Objekt vermittelt ist. Auf der objektiven Seite kann das Objekt nur durch eine subjektive Veranstaltung, die Synthesis, überhaupt konstituiert werden. Das Subjektive am Objekt sind die synthetisie‑ renden Akte des Subjekts, das Objektive am Objekt sind seine eigenen Bestim‑ mungen. Damit sich in den synthetisierenden Akten das Objekt geltend machen kann, muss Adorno eine Form der Synthesis behaupten, in der sich das Objekt als bereits bestimmtes geltend macht. Adorno versucht, diese Form der Synthe‑ sis über die These des „fundamentum in re einer jeden Synthesis“241 plausibel machen. In der Negativen Dialektik führt Adorno die These nicht im Abschnitt zur „Synthese“ ein, sondern im ersten Teil, in der Kritik der kategorialen Anschau‑ ung Heideggers. Dieses Verfahren habe trotz aller Fragwürdigkeit ein „funda‑ mentum in re“: Kategoriale Anschauung, das Innewerden des Begriffs, erinnert daran, daß den katego‑ rial konstituierten Sachverhalten, welche die traditionelle Erkenntnistheorie einzig als Synthesen kennt, immer auch, über die sinnliche ὕλη hinaus, ein Moment korrespondie‑ ren muß. Insofern haben sie stets auch etwas Unmittelbares, an Anschaulichkeit mah‑ nend. So wenig ein einfacher mathematischer Satz gilt ohne die Synthesis der Zahlen, zwischen denen die Gleichung aufgestellt wird, so wenig wäre – das vernachlässigt Kant – Synthesis möglich, wenn nicht das Verhältnis der Elemente dieser Synthesis entsprä‑ che. 242

Adorno macht in der Synthesis eine Vermittlung aus. Synthesis ist nur möglich, wenn das, was sie synthetisiert auch objektiv zusammengehört; andererseits kommt das Zusammengehörende nur zusammen, wenn es vom Subjekt synthe‑ tisiert wird. Auch hier argumentiert Adorno e contrario. So sagt er in „Zu Sub‑ jekt und Objekt“ nachdem er die These vom fundamentum in re der Synthese vorgebracht hat: „Sonst wäre Synthesis bloße klassifikatorische Willkür.“243 Genauso wie wir eine vom Bewusstsein unabhängige Realität annehmen müs‑ sen, damit wir im emphatischen Sinn von Erfahrung reden können, müssen wir auch annehmen, dass die Synthesen nicht rein subjektive Veranstaltungen sind. Denn sonst bliebe die Idee der Andersheit, wie Adorno einwendet, ohne Kon‑ sequenz und das Subjekt würde abermals nur sich, nämlich seine Synthesen, die es an einem völlig bestimmungslosen Material übt, erkennen. Das Konzept des fundamentum in re der Synthese ist eine Verlegenheitskon‑ struktion, mit der Adorno versucht, Spontaneität und Rezeptivität zusammen‑ zudenken. McDowell bringt die beiden Stämme zusammen, indem er den äu‑ ßersten Begriffen, denjenigen, die am dichtesten an der äußeren Realität sitzen, zuspricht, in ihnen seien Begriff und Welt unentwirrbar miteinander verbun‑ 241 Adorno:

Metaphysik, S.  104. Negative Dialektik, S.  87. 243  Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“, S.  755. 242 Adorno:

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den; 244 auch das ist eine bloße Verlegenheitskonstruktion. Bereits Kant versucht im Schematismuskapitel das Problem des Zusammenspiels Spontaneität und Rezeptivität zu lösen und auch er muss sich mit einer Verlegenheitskonstrukti‑ on behelfen: dem transzendentalen Schema. Allen drei Konstruktionen ist die transzendentale Argumentation gemein: Ohne die Annahme dieser Verlegen‑ heitskonstruktionen lässt sich Erfahrung nicht erklären. Die Unterschiede zwi‑ schen den Konstruktionen sind in ihrer inneren Struktur zu suchen: Kant be‑ zeichnet das transzendentale Schema als „ein Drittes“ zwischen Anschauung und Kategorien; 245 im Gegensatz zu Kants Vermittlung von Spontaneität und Rezeptivität über eine Mitte, ein Drittes, lässt sich Adornos fundamentum in re der Synthese als genuin dialektische Vermittlung verstehen. Die These vom fun‑ damentum in re impliziert, dass keine Form ohne Inhalt und kein Inhalt ohne Form gedacht werden kann. Was Adorno gegen Kants Synthese vorbringt, ist gerade, dass Kant darin Form und Inhalt, Spontaneität und Rezeptivität, abs‑ trakt und willkürlich trennt. Der Dualismus von Rezeptivität und Spontaneität ist nach Adorno ein Produkt der Abstraktion. Die Formen werden Formen nur durch Abstraktion vom Inhalt und sind deshalb immer bereits inhaltlich, ge‑ nauso wie der Inhalt immer eine Form hat. In der Negativen Dialektik impli‑ ziert Adorno, dass Kant sich dessen in einer Reflexion auf die eigene Methode hätte bewusst werden sollen: Hätte Kant das Verhältnis seiner Methode zur Theorie, das des erkenntnistheoretisch untersuchenden Subjekts zum untersuchten, in die Vernunftkritik hineingezogen, so wäre ihm nicht entgangen, daß die Formen, welche das Mannigfaltige synthesieren sol‑ len, ihrerseits Produkte der Operationen sind, welche der Aufbau des Werkes, auf‑ schlußreich genug, transzendentale Analytik betitelt. 246

Kant abstrahiert sozusagen vom Befund des fundamentum in re der Synthese, wenn er Synthese allein auf die subjektive Seite schlägt und das Objekt nur als passives Material in den Erkenntnisakt eintreten lässt, so dass er zur Konstruk‑ tion des Schemas als vermittelndes Drittes gezwungen wird. Den Schematismus der reinen Verstandesbegriffe versteht Adorno mithin als Kants Eingeständnis, dass in der Architektonik der Kritik der reinen Vernunft ein Problem liegt: „[I]n dieser Forderung der Gleichartigkeit von Anschauung und Begriff [. . .] steckt eben bei Kant doch das Bewußtsein drin, daß diese Trennung der beiden Quellen Rezeptivität und Spontaneität eigentlich eine willkürliche Trennung ist.“247 Gerade die willkürliche Trennung zeitigt den Dualismus von Form und Inhalt, der im Kern der Kopernikanischen Wende liegt. Ohne die Trennung hätte Kant das Prinzip transzendentaler Subjektivität gar nicht als Erkennt‑ 244 McDowell:

Mind and World, S.  9 f. Kritik der reinen Vernunft, A 137/B 176. 246 Adorno: Negative Dialektik, S.  177. 247 Adorno: Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  199. 245 Kant:

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nisprinzip vindizieren können. So ist es kein Zufall, dass Adorno den Gedanken einer dialektisch konzipierten Synthese in einer Philosophie wiederfindet, in der die Re­flexion auf das Erkenntnissubjekt noch nicht stattgefunden hat: bei Aristoteles. In der aristotelischen Bestimmung des Stoffes als Möglichkeit ist nach Adorno impliziert, „daß also jede Form ebenso von ihrem Material abhängt wie umgekehrt, – während wir ja, unter dem Einfluß der Kopernikanischen Wendung von Kant und der daran anschließenden Entwicklung, allesamt so gedrillt sind, sozusagen die Materie als das von der Form Bedingte anzuse‑ hen.“248 Freilich greift es zu weit, den Gedanken einer dialektischen Vermittlung in Aristoteles hineinzuprojizieren; die These eines fundamentum in re einer jeden Synthesis kann sich aber insofern auf ihn stützen, als durch die Bestim‑ mung des Stoffes als Möglichkeit ein Moment hervorgehoben wird, das mit der Reduktion des Stoffes zum unbestimmten Material verlorengeht. Aristoteles sagt im achten Buch (Η) der Metaphysik: „[U]nter Stoff verstehe ich nämlich dasjenige, was, ohne der Wirklichkeit nach ein bestimmtes Etwas zu sein, doch der Möglichkeit nach ein bestimmtes Etwas ist.“249 Zwar liegt darin der Gedan‑ ke, dass der Stoff nur durch die Form ein bestimmtes Etwas werden kann, aber zugleich ist mit der Bestimmung „Möglichkeit“ angezeigt, dass der Stoff als Möglichkeit bloß eine Abstraktion ist, wie auch die Form, von der Aristoteles an derselben Stelle sagt, dass sie „als ein individuell bestimmtes Etwas dem ­Begriff nach abtrennbar“ sei.250 Im neunten Buch (Θ), bei der Behandlung des Übergangs von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, weist Aristoteles auf einen ebenso einfachen wie folgenschweren Umstand hin: Die Verwirklichung einer Möglichkeit ist nur möglich, wenn die Verwirklichung selbst nichts Unmögli‑ ches ist, das heißt: wenn sie eben Verwirklichung der Möglichkeit ist. Aristoteles führt das für mehrere Arten der Verwirklichung aus, von denen uns die Ver‑ wirklichung des Stoffes interessiert. Er führt diese am Beispiel eines Hauses vor: „In ähnlicher Weise ist auch etwas ein Haus dem Vermögen nach, wenn in dem, was in ihm ist, und in dem Stoff kein Hindernis liegt, daß ein Haus wer‑ de.“251 Anders formuliert: Der Stoff muss die Formgebung zulassen, die Form muss ihm als Form gemäß sein und kann insofern keine willkürliche Formung sein. Gewiss, Aristoteles denkt sich dies nicht in erkenntnistheoretischer, son‑ dern in ontologischer Blickrichtung; dennoch lässt sich auch für die erkenntnis‑ theoretische Formgebung, die Synthesis, behaupten, dass, wie Adorno es for‑ muliert, „die Form trotz ihrer Selbständigkeit [. . .] nur dann Form einer Wirk‑ lichkeit sein kann, wenn in der Wirklichkeit selbst ihr etwas entspricht“.252 Synthesis wird damit zu einer subjektiven Tätigkeit, in der Subjekt und Objekt 248 Adorno:

Metaphysik, S.  104. Metaphysik, 1042a. 250  Ebd.; Hervorh. d. Verf. 251  Ebd., 1049a; Hervorh. d. Verf. 252 Adorno: Metaphysik, S.  105. 249 Aristoteles:

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

immer bereits durcheinander vermittelt sind. Diese Vermittlung, das fundamen­ tum in re einer jeden Synthesis, erlaubt es Adorno zu behaupten, dass sich in den Kategorien, nach denen das Subjekt das Objekt synthetisiert, das Objekt gel‑ tend macht. Die Differenz von formendem Bewusstsein und bloßem Stoff ist in diesem Synthesisbegriff insofern aufgehoben, als in ihm der bloße Stoff immer schon durch die Form vermittelt und das formgebende Bewusstsein immer schon durch den Stoff vermittelt ist. Dem Stoff oder, wie Adorno meistens sagt: der Materie, kommt mithin eine nicht zu unterschätzende Bedeutung in der Erkenntnistheorie Adornos zu. Ma‑ terie ist nicht nur das Andere des Bewusstseins, das, was Bewusstsein nicht aus sich heraus setzen kann, sondern auch das, was den Trug konstitutiver Subjek‑ tivität, ihren Scheincharakter, unterminiert. Der Schein besteht ja gerade darin, dass durch die Konstitution das Objekt dem Subjekt abstrakt gegenübergestellt wird. Die Reflexion auf die Synthese zeigt, dass in der Konstitution immer be‑ reits eine Kommunikation zwischen Subjekt und Objekt stattfindet, die ihre abstrakte Trennung unterläuft. Adorno bezeichnet diese Kommunikation als Mimesis oder als Affinität. So schreibt er in der Negativen Dialektik über die von ihm anvisierte Form der Synthese: „Einheit allein transzendiert Einheit. An ihr hat die Affinität ihr Lebensrecht, welche durch fortschreitende Einheit zurückgedrängt wurde und gleichwohl in ihr, zur Unkenntlichkeit säkulari‑ siert, überwinterte. Die Synthesen des Subjekts ahmen, wie Platon wohl wußte, mittelbar, mit dem Begriff nach, was von sich aus jene Synthese will.“253 Dass der Mimesis eine bedeutende erkenntnistheoretische Funktion bei Adorno zu‑ kommt, ist bekannt. Worin diese Funktion besteht, ist jedoch nicht immer klar, nicht zuletzt, weil Mimesis ein notorisch unterbestimmtes Konzept ist und in so disparaten Zusammenhängen vorkommt, dass man darin ein Allzweckmittel vermuten möchte. Um diesen Problemen zu begegnen, möchte ich mich im Fol‑ genden auf die erkenntnistheoretische Funktion der Mimesis beschränken und diese aus der Subjekt-Objekt-Dialektik Adornos verstehen. c.  Mimesis und Leib Obwohl Adorno den Begriff der Mimesis nicht nur häufig, sondern auch gerade an zentralen Stellen benutzt, gibt er nie eine konzise Definition dessen, was Mimesis eigentlich bedeutet. Eine Übersetzung der Mimesis in kommunikative Rationalität, wie sie Habermas und Wellmer vollzogen haben,254 ist jedoch pro‑ blematisch, weil sie die nicht ins Kommunikationsparadigma auflösbaren Ge‑ halte der Mimesis übergeht. Gerade diese Gehalte machen das Eigentümliche 253 Adorno:

Negative Dialektik, S.  161. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, S.  523; Wellmer: „Wahrheit, Schein, Versöhnung“, S.  150. 254  Vgl.

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der Mimesis aus: Als „organisch[e] Anschmiegung ans andere“255 und als im‑ pulshafte Reaktion schließt Mimesis eine somatische Dimension ein, die sich nicht in Sprache auflösen lässt. [M]imetisches Verhalten ist ja auch nicht ein Verhalten, das sich kausal nach gegenständ‑ lichen und als gegenständlich erkannten Momenten richtet, sondern eine unwillkürliche Anpassung an irgendwelches Extramentales, das aber gerade durch diese Unwillkürlich‑ keit notwendig ein Moment der Irrationalität besitzt, das [. . .] zur Bestimmung der Frei‑ heit selber hinzugehört. 256

Gerade weil der Mimesis konstitutiv ein irrationales Moment eignet, zielt die Behauptung von Habermas, nur durch einen Paradigmenwechsel ließe sich der „vernünftige Kern“ an den „mimetischen Leistungen“ ausgraben, 257 bereits im Ansatz daneben. Als unwillkürliche Anpassung an Extramentales lässt sich die Mimesis nur im Paradigma der Bewusstseinsphilosophie verstehen und ihr ver‑ nünftiger Kern kann nur über ihr irrationales Moment, nicht mit dessen Ab‑ schaffung freigelegt werden. Irrational ist die Mimesis durch ihren Impulscharakter, der nur einem leibli‑ chen Subjekt möglich ist. Impulse sind diejenigen Reaktionsformen, die der ra‑ tionalen Kontrolle entzogen sind und so als Gegenstück der instrumentellen Rationalität fungieren. Deshalb werden nach Adorno mimetische Verhaltens‑ weisen, wie „undisziplinierte Mimik“, als „beschämende Rudimente“ erfah‑ ren.258 Hullot‑Kentor hat in diesem Zusammenhang die treffendste Definition von Mimesis formuliert: „Mimesis is the affinity of subject and object as it is felt in one’s knees on seeing someone else stumble on theirs.“259 Ausdruck dieser Mimesis wäre, wenn ich bei Anblick des Stolpernden zwar selbst nicht falle, doch unweigerlich zusammenzucke. Mimetische Reaktionsformen sind in ihrer Unwillkürlichkeit beschämend, weil sie innerhalb einer nach ökonomischen Gesichtspunkten durchrationalisierten Welt bloß Störfaktoren sind; nur in klar abgrenzten Sondersphären werden sie geduldet. Ichstärke bemisst sich dieser Logik zufolge gerade am Maß, wie weit mimetische Impulse der bewussten Kontrolle unterworfen werden, so dass sie nicht zum Ausdruck kommen. Mi‑ mesis aber ist, unabhängig davon, ob sie zum Ausdruck kommt oder nicht, Kör‑ pergefühl und als solches zwar unwillkürlich und irrational, phänomenologisch aber nicht zu leugnen. Das ungeschminkte Leiden anderer, auch von Tieren, affiziert uns als Körpergefühl. Kälte besteht in der Kontrolle dieser Körperge‑ fühle, nicht in ihrer Abwesenheit. Dabei ist dieses Gefühl, obwohl körperlich, 255 Adorno/Horkheimer:

Dialektik der Aufklärung, S.  205. Geschichte und Freiheit, S.  294. 257 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, S.  523. 258 Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S.  207. 259  Hullot-Kentor, Robert: „Suggested Reading. Jameson on Adorno“, in: ders.: Things Beyond Resemblance. Collected Essays on Theodor W. Adorno, New York 2006, S.  220–233, hier S.  228. 256 Adorno:

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nicht an leibhafte Anwesenheit gebunden. Wer ein für Adorno so bedeutsames Buch wie Eugen Kogons Der SS-Staat oder den für Adorno nicht minder be‑ deutenden Aufsatz von Jean Améry über „Die Tortur“ liest,260 dem stellt es sich ebenso ein, wie dem, der dem Leiden als Zeuge beiwohnt. Keineswegs werden direkte Zeugenschaft und Lektüre einander gleichgesetzt; aber überall, wo wir des Leidens anderer gewahr werden, stellt sich dieses somatische Moment ein, das Adorno als Mimesis bezeichnet. Als solche unwillkürliche, impulsive Ein‑ fühlung, als Identifikation mit dem Leiden, ist Mimesis bei Adorno eine Grund‑ lage des moralischen Verhaltens. Erkenntnistheoretisch ist dieser Begriff bedeutend weil er, wie Gunzelin Schmid Noerr es formuliert, „der Grenzbegriff des Rationalen“ ist.261 Als sol‑ cher markiert er den Übergang ins Andere der Vernunft, die somatische Schicht, die nicht vollkommen in Vernunft auflösbar ist. In Adornos Subjekt-Ob‑ jekt-Dialektik drückt sich das im Vorrang des Objekts aus. Das Objekt er‑ scheint zwar als durch das Subjekt konstituiertes, in Wahrheit aber ist Objekt selbst nochmals in ein subjektives und objektives Moment geteilt. Das Objekti‑ ve am Objekt ist dem Subjekt in gewissem Sinne inkommensurabel; es ist das, was sich jenseits der Vermittlung durch das Subjekt als Substantielles gegenüber diesem erhält. Dieses Objektive am Objekt bestimmt Adorno in der Negativen Dialektik als das Nichtgeistige, als Materie: Im Gegenstand, zugerüstet zu dem der Erkenntnis, ist vorweg das Leibliche vergeistigt durch seine Übersetzung in Erkenntnistheorie, reduziert derart, wie schließlich Hus­ serls Phänomenologie methodologisch generell es verordnete. Wenn die der Erkenntnis‑ kritik unauflöslichen Kategorien Subjekt und Objekt in jener als falsch: als nicht rein gegeneinander gesetzt hervortreten, so besagt das auch, es heiße das Objektive am Ob‑ jekt, das nicht zu Vergeistigende daran, Objekt nur unterm Blickpunkt der subjektiv gerichteten Analyse, welcher der Primat des Subjekts fraglos dünkt. 262

Der Trug konstitutiver Subjektivität ist mittlerweile ein dreifacher: Erstens stellt die Konstitution das Objekt dem Subjekt abstrakt gegenüber; zweitens wirft sich dadurch das Subjekt zum konstitutiven Subjekt auf; drittens wird dadurch vorweg das Materielle am Objekt eskamotiert, indem es in Geist ver‑ flüchtigt wird. Adorno zieht in dieser Passage die Konsequenzen aus der Dia‑ lektik der Reflexionskategorien Subjekt und Objekt: Wenn es weder Subjekt noch Objekt als Dinge „gibt“, wenn Subjekt immer auch Objekt und Objekt immer auch Subjekt ist, dann ist das, was sich der konstitutiven Subjektivität als 260  Kogon, Eugen: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 2006; Améry, Jean: „Die Tortur“, in: ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Unmeisterliche Wanderjahre. Örtlichkeiten, hg. von Gerhard Scheit, Werke, Bd. 2, Stuttgart, S.  599–622; Adorno erläutert die Bedeutung beider Texte in: Metaphysik, S.  166 f. und S.  170 f. 261  Schmid Noerr, Gunzelin: „Bloch und Adorno – bildhafte und bilderlose Utopie“, Zeitschrift für kritische Theorie, 7. Jg./H. 13 (2001), S.  25–55, hier S.  42. 262 Adorno: Negative Dialektik, S.  193. 43

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2.  Durchführung: Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins

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Objekt darstellt, ein Trug. Jenseits dieses Truges zeigt sich das Objektive am Objekt als Materie: „Von außen betrachtet wird, was in der Reflexion auf Geist spezifisch als nicht Geistiges, als Objekt sich darstellt, Materie.“263 „Von außen betrachtet“ halte ich für eine unglückliche Formulierung, weil sie einen Sprung aus der Dialektik suggeriert, der so nicht stattfindet. „Von außen“ soll lediglich bedeuten: außerhalb konstitutiver Subjektivität, der als solcher immer nur kon‑ stituierte Objekte begegnen können. Zwar kann auch das adornosche Erkennt‑ nissubjekt nicht aus seinem Bewusstsein herausspringen, aber gerade im Impuls transzendiert es die Sphäre bloßer Geistigkeit und erfährt das Objekt der Er‑ kenntnis auch somatisch. Mimesis ans Extramentale transzendiert bloßes Be‑ wusstsein, aber diese Mimesis ist nur als körperliche möglich. Von dieser somatischen Schicht der Erfahrung abstrahiert die herkömmliche Erkenntnistheorie vorweg. Selbst der Empfindungsbegriff, der gerade die Um‑ schlagsstelle von Geistigem und Somatischem anzeigen soll, wird von ihr, so Adorno, „in eine Tatsache des Bewußtseins uminterpretiert“.264 Adorno ver‑ steht den Begriff der Empfindung so, dass Empfindung nicht bloß dem Be‑ wusstsein angehört, sondern gleichzeitig auch „Körpergefühl“ ist, und „ein nicht in Bewußtsein Aufgehendes“ beschreibt.265 Die Theorie geistiger Erfah‑ rung geht mithin auch über die Erkenntnistheorie hinaus, indem Erfahrung das somatische Moment einbezieht, das im Begriff der Erkenntnis vorweg vergeis‑ tigt ist. Adorno wertet den Leib zu einem unhintergehbaren Moment der Er‑ kenntnistheorie auf; er ist im Prozess der Erkenntnis immer da, aber konstitu‑ tive Subjektivität hat immer schon von ihm abstrahiert. Auch darin ist das Be‑ wusstsein nach Adorno unglücklich, dass es sich zugleich als leibliches und als vom Leib getrenntes Bewusstsein erfährt.266 Trotz dieser Emphase, die nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch moralphilosophisch auf dem Begriff des Leibes liegt, wird der Leib selbst von Adorno kaum behandelt und bleibt als solcher unterbestimmt. Die bedeutendste Passage zur erkenntnistheoretischen Funktion des Leibes findet sich gar in einer Fußnote in der Metakritik der Erkenntnistheorie. Adorno zitiert dort eine Stelle aus Husserls Cartesianischen Meditationen, in der Husserl dem Leib „Empfindungsfelder“ zurechnet.267 Adorno meint, die Konsequenzen aus diesem Befund würden die Erkenntnis‑ theorie sprengen: Daß dem Leib Empfindungsfelder zugerechnet werden, wäre für den Ansatz der Phäno‑ menologie von unabsehbarer Tragweite, wenn aus der Deskription Folgerungen gezogen würden; Zurechnung ist dabei ein vager Ausdruck für die unauflösliche Einheit von 263 Ebd.

264 Ebd. 265 

Ebd., S.  194. Vgl. Ebd., S.  203. 267  Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hg. von Stephan Strasser, Husserliana, Bd. 1, Den Haag 1950, S.  128. 266 

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

Organ und sinnlicher ὕλη. Das Zugeständnis solcher Einheit liefe aber auf nichts Gerin‑ geres hinaus, als daß die Empfindung, nach Husserls Doktrin unmittelbarer irreduktib‑ ler Tatbestand des transzendentalen ego, gar nicht isoliert werden kann von den Sin‑ nesorganen. Sie wäre phänomenal verschmolzen mit einem als Tatsache des Bewußtseins nicht Ausdrückbaren. 268

In dieser Substratschicht der Erkenntnis kommunizieren Subjekt und Objekt immer schon bevor sie als Subjekt und Objekt sich wechselseitig konstituieren. Erst durch die Konstitution wird von der Einheit von Organ und Stoff abstra‑ hiert und Erkenntnis vergeistigt. Erfahrung, als Reflexion auf die Abstraktion konstitutiver Subjektivität, ist so auch Wiedererinnerung der somatischen Schicht der Erkenntnis. Als immer auch somatische geht Erfahrung in mehrerer Hinsicht über her‑ kömmliche Erkenntnis hinaus. Adorno deutet das in der Negativen Dialektik an: „Daß die cognitiven Leistungen des Erkenntnissubjekts dem eigenen Sinn nach somatisch sind, affiziert nicht nur das Fundierungsverhältnis von Subjekt und Objekt sondern die Dignität des Körperlichen. Am ontischen Pol subjekti‑ ver Erkenntnis tritt es als deren Kern hervor.“269 Zunächst wird das Körperliche als Erkenntnisfunktion aufgewertet: Es ist Kern des ontischen Pols subjektiver Erkenntnis, weil nur über die Sinnesorgane überhaupt Erkenntnis von der Welt möglich ist. Zwar ist Erkenntnis ohne den Begriff nicht möglich, aber auch nicht ohne leibliche Affizierbarkeit. In dieser Dimension geht Erfahrung zwar über den herkömmlichen Erkenntnisbegriff hinaus, verbleibt aber noch in ei‑ nem erkenntnistheoretischen Rahmen. Dieser Rahmen wird erst überschritten, wenn neben der bloßen Affizierbarkeit die damit unweigerlich assoziierten Lust- und Unlustgefühle berücksichtigt werden. Haben wir oben eine moral‑ philosophische von einer erkenntnistheoretischen Dimension der Mimesis un‑ terschieden, so war das eine bloß begriffliche Abstraktion. In der Mimesis als Körpergefühl fließen die Dimensionen ineinander: Licht, Ton, Geruch, Ge‑ schmack, Berührung sind nicht neutrale Informationsträger; Licht blendet, Lärm schmerzt, Gestank reizt, Schärfe brennt, Schläge peinigen; genauso kann Licht beruhigen, Musik entspannen, Duft erfrischen, Essen schmecken, eine Umarmung trösten. Die beiden Dimension lassen sich in der Erfahrung nicht trennen: „Die vermeintlichen Grundtatsachen des Bewußtseins sind ein ande‑ res als bloß solche. In der Dimension von Lust und Unlust ragt Körperliches in sie hinein.“270 Erfahrung geht so nicht nur über Erkenntnis, sondern auch über Erkenntnistheorie überhaupt hinaus, indem sie die somatische Schicht als ganze beinhaltet, von der die Erkenntnis immer bereits abstrahiert hat. Erfahrungen sind nie die neutralen Erkenntnisse, die die Konstitution aus ihnen macht, son‑ 268 Adorno:

Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  149. Negative Dialektik, S.  194. 270  Ebd., S.  202. 269 Adorno:

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3.  Reprise: Elemente einer materialistischen Theorie des Geistes

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dern über Lust und Unlust immer auch normativ aufgeladen. Die Theorie der geistigen Erfahrung mündet in eine materialistische Theorie des Geistes.

3. Reprise: Elemente einer materialistischen Theorie des Geistes Im Folgenden werde ich die Elemente einer Theorie der geistigen Erfahrung zusammenfassen und die materialistische Theorie des Geistes, die als Flucht‑ punkt der Theorie der geistigen Erfahrung zu verstehen ist, in ihren Grundzü‑ gen nachzeichnen. Drei Einschübe nehmen an den einschlägigen Stellen die in I. a., b. und c. angesprochenen Elemente einer Theorie der geistigen Erfahrung auf und versuchen, Antworten auf noch offene Fragen zu geben. Erster Einschub: Übergang zum Materialismus Der Übergang ist streng immanent nur möglich als Kritik des Prinzips konsti‑ tutiver Subjektivität. Jenseits der Konstitution von Subjekt und Objekt als ein‑ ander abstrakt gegenüberstehender Pole visiert Adorno einen Materialismus an, der zwar den Aporien der Bewusstseinsphilosophie entkommen ist, aber den‑ noch dem Geist ein Eigenrecht zusprechen kann. Dieser Übergang ist es, den Adorno als Ausbruchsversuch bezeichnet. Von einem Ausbruch kann man je‑ doch nur insofern sprechen, als die Reflexion auf das Prinzip konstitutiver Sub‑ jektivität auf die nicht assimilierbare Schicht des Somatischen stößt. Diese Schicht zeigt sich in der Immanenz des Bewusstseins nur als Nichtidentisches. Es scheint, als könne Adorno nur durch einen Perspektivenwechsel, durch einen Sprung, aus dem Idealismus entkommen und zum Materialismus übergehen. Adorno aber sieht den Übergang bereits durch den Vorrang des Objekts vollzo‑ gen: „Durch den Übergang zum Vorrang des Objekts wird Dialektik materia‑ listisch.“271 Den Vorrang des Objekts haben wir dahingehend bestimmt, dass sich innerhalb der Subjekt-Objekt-Dialektik ein Übergewicht bildet, in dem sich das Objekt als der substantiellere Pol erweist. Objekt zeigt sich einerseits als substantiell unabhängig vom Subjekt und nur als modal durch dieses vermit‑ telt, während andererseits das Subjekt seiner substantiellen Vermittlung durch das Objekt gewahr wird. Konstitutive Subjektivität erkennt so nicht bloß, dass sie nicht an alles am Objekt heranreicht, sondern auch, dass sie selbst immer schon Objekt ist. Über diese Erkenntnis reicht das konstitutive Subjekt nicht hinaus; alles, was ihm am Objekt nicht kommensurabel bleibt, was sich an ihm selbst als Objektivität zeigt, bleibt ihm bloß negativ bestimmt: ein Nichtidenti‑ sches. Adorno gesteht das ein, wenn er sagt, dass sich die nichtidentischen Mo‑ 271 

Ebd., S.  193.

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

mente als Materie zeigen, wenn sie vom Maß der Identität emanzipiert sind. Das Maß der Identität ist aber das Prinzip konstitutiver Subjektivität. Aus der Immanenz der Bewusstseinsphilosophie scheint man auf rein imma‑ nentem Weg nicht hinauszugelangen, da die Erkenntnis ihrer leiblichen Dimen‑ sion konstitutiver Subjektivität notwendig verborgen ist. Das hat auch Mer‑ leau-Ponty bemerkt. In einer Arbeitsnotiz zu seinem erst posthum erschiene‑ nen Werk Le visible et l’invisible formuliert er eine Selbstkritik an seinem Hauptwerk, der Phénoménologie de la Perception, die für das Problem Adornos relevant ist: „Les problèmes posés dans Ph.P. sont insolubles parce que j’y pars de la distinction ‚conscience‘ – ‚objet‘.“272 Konsequenterweise gibt das Fragment gebliebene Werk den Ausgang vom bewusstseinsphilosophischen Paradigma auf und setzt gleichsam unterhalb der Ebene der Konstitution direkt bei der somatischen Schicht an, beim Phänomen des leiblichen Selbstbezugs. Erst auf dieser Grundlage soll dann zur Schicht des Denkens und der Sprache über­ gegangen werden, wie Merleau-Ponty im letzten ausformulierten Kapitel von Le visible et l’invisible in Aussicht stellt: „Il nous faudra suivre plus près ce passage du monde muet au monde parlant.“273 Adorno versucht den umgekehr‑ ten Weg zu gehen, wenn er von der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt ausgeht und vermöge der dialektischen Vermittlung beider Pole über die ab­ strakte Gegenüberstellung hinauszugehen versucht. Dennoch gelingt ihm die‑ ser Ausbruch nur bis zu einem Grenzbereich, in dem sich das Somatische als Nichtidentisches zeigt, in dem am Subjekt die objektive Basis sichtbar wird und am Objekt das Objektive als das der subjektiven Vermittlung Jenseitige sich zeigt. Dass sich aber die der konstitutiven Subjektivität inkommensurable Schicht des Objektiven als Materie offenbart, setzt einen Perspektivenwechsel voraus. Adorno deutet das nicht bloß in der Formulierung von außen betrachtet an, sondern auch in einem Brief an Scholem: Was ich in der immanent erkenntnistheoretischen Diskussion, Vorrang des Objekts nen‑ ne, und was man sich tatsächlich sehr zart, nämlich nur innerhalb der Dialektik, nicht als krude Behauptung vorstellen darf, das scheint mir, ist man einmal dem Identitätsbann entronnen, dem Begriff des Materialismus gerecht zu werden. Die triftigen Argumente, die ich gegen den Idealismus glaube vorgebracht zu haben, präsentieren sich jenseits des Bannes, und, wie ich denke, stringent, als materialistische. 274

Der Materialismus wird mithin nicht streng immanent gewonnen; vielmehr zeigt sich der Vorrang des Objekts, der seinerseits innerhalb der erkenntnistheo­ retischen Sphäre gewonnen wird, jenseits dieser Sphäre als Materialismus, als materialistische Theorie des Geistes. Der Ausbruch gelingt, insofern der Vor‑ rang des Objekts bereits einen Ausbruch darstellt; und einen Ausbruch stellt er 272 Merleau-Ponty:

Le visible et l’invisible, S.  250. Ebd., S.  200. 274  Brief vom 14.3.1967. Adorno/Scholem: Briefwechsel 1939–1969, S.  414. 273 

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3.  Reprise: Elemente einer materialistischen Theorie des Geistes

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insofern dar, als er die Oberfläche konstitutiver Subjektivität aufbricht und die wechselseitige Vermittlung von Subjekt und Objekt ans Licht bringt. Mehr als das,– es wurde bereits bei der Doppelschlächtigkeit der Methode angesprochen – mehr als die immanenten Widersprüche immanent aufzuzeigen, hat sich Adorno trotz seiner Rede von Ausbruchsversuchen auch nicht vorgenommen. Er konzediert das bereits 1937 in einem Brief an Horkheimer: Was die Frage der immanenten Kritik anlangt, so möchte ich aus dieser am letzten einen Fetisch machen. Es ist ja wahrscheinlich vielmehr so, daß die Begriffe des logisch Imma‑ nenten und Transzendenten beide selber vom idealistischen Begriff des in sich geschlos‑ senen ‚systematischen‘ Begründungszusammenhangs abhängen und darum von uns nicht blanko übernommen werden können. Das bedeutet nun keineswegs ein Übergehen zur ‚transzendenten‘ und gegenüber jenem Begründungszusammenhang ohnmächtigen Kritik. Vielmehr ist unser Anliegen doch wohl ein drittes: nämlich mit der Kraft unserer eigenen ‚transzendenten‘ Einsicht die ‚immanenten‘ Gedankengänge des Feindes so zu operieren, daß sie darüber zerspringen.275

Der transzendente Zuschuss zur immanenten Kritik beschränkt sich aber nicht auf die transzendente Einsicht, dass die Sphäre der Immanenz selbst die Un‑ wahrheit ist, sondern er involviert auch ein Heraustreten aus der Immanenz und einen Blick auf sie von einem ihr transzendenten Standpunkt, eine Perspektive von außen. Auch dieses Moment gehört zur Doppelschlächtigkeit der Methode und damit zur negativen Dialektik dazu. Denn das Heraustreten ist das undia‑ lektische Moment, die Erfahrung, die Adorno auch den unreglementierten Ge‑ danken nennt. Dieser bezeichnet nicht bloß eine Dreingabe von außen, sondern ebenso ein Heraustreten aus der Immanenz. Adorno bemerkt das in der Einlei‑ tung zur Negativen Dialektik: „Beweglichkeit ist dem Bewußtsein essentiell, keine zufällige Eigenschaft. Sie meint eine gedoppelte Verhaltensweise: die von innen her, den immanenten Prozeß, die eigentlich dialektische; und eine freie, gleichwie aus der Dialektik heraustretende, ungebundene.“276 Der Übergang zum Materialismus gelingt so nur in einer Kombination aus immanenter, dia‑ lektischer Kritik und unreglementierten Gedanken, dem bewussten Heraustre‑ ten aus der Dialektik. Der unreglementierte Gedanke ist eine Instanz des Undi‑ alektischen, die konstitutiv zum Begriff einer negativen Dialektik dazugehört. Der Übergang in den Materialismus ist nur über die Doppelschlächtigkeit der Methode und mithin nur als negative Dialektik stringent zu vollziehen.

V.  Geist und Erfahrung Die Theorie der geistigen Erfahrung soll zeigen, wie sich in der Selbstkritik der konstituierenden Erkenntnis das Objekt als inhaltlich bestimmtes in den Kate‑ gorien der Erfahrung geltend machen kann. Die These vom fundamentum in re 275 

Brief vom 23.10.1937. Adorno/Horkheimer: Briefwechsel 1927–1937, S.  4 47. Negative Dialektik, S.  42.

276 Adorno:

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

der Synthese erlaubt es Adorno, eine Kommunikation zwischen den syntheti‑ sierenden Akten des Subjekts und den synthetisierten Momenten des Objekts zu behaupten. Die Kommunikation findet primär in der Sphäre der Mimesis statt: Nur über die Sinne gibt es Erfahrung, und die Sinne sind auch immer körperlich und können nicht restlos vergeistigt werden. In der Immanenzsphä‑ re zeigt sich die volle, unreduzierte Erfahrung der Sache nur in ihrer vergeistig‑ ten Form; das nicht zu Vergeistigende aber, die somatische Dimension der Er‑ fahrung, zeigt sich innerhalb der Bewusstseinssphäre nur als Widerspruch, als Nichtidentität. Jenseits dieser Sphäre zeigen sich die Erfahrungen als immer auch vom somatischen Moment durchdrungene Erfahrungen. Im Folgenden sollen die Konsequenzen einer Theorie skizziert werden, die nicht auf Erkennt‑ nissen, sondern auf Erfahrungen beruht, einer Theorie also, die die somatische Schicht der Erfahrung berücksichtigt und in sich aufnimmt. Das volle, unredu‑ zierte Subjekt ist als affizierbares immer bereits über die Sphäre der bloß identi‑ fizierenden Erkenntnis hinaus und die Modelle der Negativen Dialektik versu‑ chen, von der Erfahrung dieses Subjekts her philosophische Schlüsselprobleme zu behandeln. Obwohl im dritten Kapitel zwei Modelle vor dem Hintergrund dieser These besprochen werden, mag es an dieser Stelle hilfreich sein, an Ador‑ nos Lektüre von Amérys „Die Tortur“ die abstrakte Erklärung zu konkretisie‑ ren. Der Aufsatz führt geistige Erfahrung vor, weil er aus subjektiven Erfah‑ rungen objektive Erkenntnisse ableitet; bei Améry sind diese vorwiegend exis‑ tentialistischer Art: Es geht um die Körpererfahrung des Gequälten, um den Zusammenbruch des „Weltvertrauens“ durch die Folter und um die Fremdheit in der Welt, die das Los des Gefolterten ist.277 Zugleich wird der Aufsatz auch für Adorno zur Quelle geistiger Erfahrung; die darin beschriebenen Vorgänge führen immer bereits über die Erkenntnis hinaus, dass im Dritten Reich gefol‑ tert wurde; sie teilen sich auch als Körpergefühl mit. Geistig wird die Erfah‑ rung, indem sie zur Reflexion drängt und aus ihr theoretische Funken geschla‑ gen werden. Adorno zieht daraus etwa den Schluss: „Es ist eben heute das Schlimmere als der Tod zu fürchten.“278 Die Erfahrung mündet schließlich in der Einsicht, dass Metaphysik im traditionellen Sinn mit der innerweltlichen Erfahrung unvereinbar ist: dem Ansatzpunkt des dritten Modells.279 Geistige Erfahrung meint also eine Erkenntnisform, die der Theorie selbst nicht äußer‑ lich bleibt, die nicht bloß die begriffliche Bestimmung einer Sache ist, wie die konstituierende Erkenntnis, sondern eine, in der die Sache inhaltlich in die The‑ orie eingeht; sie ist unreglementiert, weil sie über deren Kategorien hinausgeht und sie im Fortgang verändert; sie ist inhaltlich, weil sie die geschichtliche Ver‑ änderung einbegreift, die mit Folter und Völkermord stattgefunden hat und 277 

Améry: „Die Tortur“, passim, besonders S.  608 und S.  622. Metaphysik, S.  166. 279 Adorno: Negative Dialektik, S.  354. 278 Adorno:

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3.  Reprise: Elemente einer materialistischen Theorie des Geistes

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diese geschichtliche Dimension als integrales Moment der Sache, nämlich der Metaphysik begreift. Fluchtpunkt der Theorie der geistigen Erfahrung ist damit ein Vernunftbe‑ griff, der sich der Erfahrung innerweltlichen Leidens gewachsen zeigt. In dieser Fluchtlinie lässt sich Adornos Reflexion auf den Vernunftbegriff als Kritik der reinen Vernunft in einem kantschen Sinne verstehen: als Reflexion auf die Gren‑ zen und Möglichkeiten der Vernunft. a.  Adornos Kritik der reinen Vernunft Auch in Bezug auf den Begriff der Vernunft lässt sich Adornos Philosophie als Wiederaufnahme des Prozesses zwischen Kant und Hegel denken. Adorno vi‑ siert eine Kritik der Vernunft im Sinne Kants an, aber eine, die der hegelschen Kritik standhalten kann. Problematisch an der Vernunftkritik Kants ist genau das, was Hegel ausgenutzt hat, als er die Vernunft zum Absoluten erweitert hat. Bei Kant urteilt die Vernunft, indem sie sich selbst ihre Grenzen vorschreibt, selbst absolut. Im Metaphysikmodell der Negativen Dialektik befasst sich Adorno eingehend mit diesem Problem und ich werde im dritten Kapitel darauf zurückkommen. Bereits der Übergang in den Materialismus im Rahmen von Adornos Theorie der geistigen Erfahrung stellt jedoch ein Moment von Ador‑ nos Kritik der reinen Vernunft dar; hier geht es weniger um die notwendige Selbstbegrenzung der Vernunft, als um die Kritik ihrer vermeintlichen Rein‑ heit. Dieses Moment soll im Folgenden im Vordergrund stehen. Adorno entwi‑ ckelt es im zweiten Teil der Negativen Dialektik vor allem in den Abschnitten „Zum Begriff des Geistes“ und „Reine Tätigkeit und Genesis“; diese Abschnit‑ te weisen zugleich vor auf Teile des ersten Modells und auf das dritte Modell der Negativen Dialektik. In der Vernunftkritik, die Adorno in der Negativen Dialektik entwirft, geht es, wie Habermas bemerkt hat, um eine Vernunft, „die aus der Natur entspringt und mit ihr verflochten bleibt“.280 Dazu setzt Adorno mit einer Kritik des idea‑ listischen Geistbegriffes an, dem er Marxens These entgegenhält, es sei „nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesell‑ schaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“.281 Adorno interpretiert den Satz nicht als abstrakte Gegenthese, sondern kritisch, „zugespitzt wider der Trug des Geistes, er sei an sich, jenseits des Gesamtprozesses, in dem er als Mo‑ ment sich findet“.282 Die Kritik am idealistischen Geistbegriff verläuft abermals immanent: über eine Selbstreflexion des Geistes. Sie setzt bei der Bestimmung des Geistes als Tätigkeit an, die für Adorno konstitutives Moment idealistischer 280  Habermas: „‚Ich selber bin ja ein Stück Natur‘ – Adorno über die Naturverflochtenheit der Vernunft. Überlegungen zum Verhältnis von Freiheit und Unverfügbarkeit“, S.  23. 281  Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S.  3 –160, hier S.  9. 282 Adorno: Negative Dialektik, S.  200.

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

Geistkonzepte ist: Geist ist Spontaneität. Dadurch verweise er auf zweierlei: auf Zeit und auf ein Substrat der Tätigkeit. „Ihrem einfachen Begriff nach ist seine Tätigkeit innerzeitlich, geschichtlich; Werden sowohl wie Gewordenes, in dem Werden sich akkumulierte. Gleich der Zeit, deren allgemeinste Vorstellung ei‑ nes Zeitlichen bedarf, ist keine Tätigkeit ohne Substrat, ohne Tätiges und ohne das, woran sie geübt wird.“283 Der Begriff des Substrats, seinerseits doppelt ge‑ fasst als Substrat des tätigen Prinzips selbst und als Substrat, an dem es tätig ist, verweist abermals auf die materielle Sphäre. Deshalb spricht Adorno in Folge von einem „Naturmoment“ des Geistes.284 Das Naturmoment ist darin dem materiellem Moment des Erkenntnisobjekts verwandt, dass es in der Tätigkeit der Konstitution verschwindet und sich deshalb nur einer Selbstreflexion auf diese Tätigkeit zeigt; an späterer Stelle spricht Adorno deshalb auch von „Anam‑ nesis“,285 von einer Wiedererinnerung an das, was in der Konstitution vergessen geht. Das Naturmoment des Geistes, mithin seine Körperlichkeit, ist insofern nicht eine abstrakte Gegenthese zum reinen Geist, als es eine fundamentalere Schicht bezeichnet, die bloß verdeckt wird: „Beides, Körper und Geist, sind Abstraktionen von ihrer Erfahrung, ihre radikale Differenz ein Gesetztes. Sie reflektiert das historisch gewonnene ‚Selbstbewußtsein‘ des Geistes und seine Lossage von dem, was er um der eigenen Identität willen negiert.“286 Darin mel‑ det sich auch an, dass sich der Geist erst in der Lossage von seinem Naturgrund ein Selbstbewusstsein von sich verschaffen kann, dass er sich nur als identischer erfahren kann, wenn er seine eigene Körperlichkeit negiert. Das heißt: Die Los‑ sage wird als notwendiger Emanzipationsprozess des Geistes von seinem Na‑ turgrund interpretiert. Im ersten Modell spricht Adorno in diesem Zusammenhang denn auch von einer Vorgeschichte der Vernunft, die als ein Moment in ihr aufgehoben sei: Daß Vernunft ein anderes als Natur und doch ein Moment von dieser sei, ist ihre zu ihrer immanenten Bestimmung gewordene Vorgeschichte. Naturhaft ist sie als die zu Zwe‑ cken der Selbsterhaltung abgezweigte psychische Kraft; einmal aber abgespalten und der Natur kontrastiert, wird sie auch zu deren Anderem. Dieser ephemer entragend, ist Ver‑ nunft mit Natur identisch und nichtidentisch, dialektisch ihrem eigenen Begriff nach. 287

Die Selbstreflexion der Vernunft als Wiedererinnerung ihrer Naturhaftigkeit ist als Erinnerung ihrer immanenten Vorgeschichte zu verstehen. Vernunft ist dia‑ lektisch nicht bloß in ihren Vollzügen, sondern an sich selbst, als mit der Natur identische und nichtidentische Vernunft: Sie kann nur dialektisch gedacht wer‑ den, weil sie zugleich als aus der Natur entstanden und als Anderes der Natur gedacht werden muss; sie kann weder vollständig naturalisiert werden noch 283 

Ebd., S.  201.

284 Ebd. 285 

Ebd., S.  220. Ebd., S.  202. 287  Ebd., S.  285. 286 

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3.  Reprise: Elemente einer materialistischen Theorie des Geistes

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lässt sie sich komplett von der Natur trennen; sie ist zugleich rein, nämlich au‑ tonom, und unrein, nämlich naturhaft und von Naturmomenten durchsetzt. In Kant drückt sich diese Dialektik im Vernunftbegriff als die Antinomie von Freiheit und Naturkausalität aus, wie Adorno in einer Vorlesung sagt. Die An‑ tinomie versteht er als Hinweis, dass sich dieser Vernunftbegriff nicht in einer „Logik der reinen Widerspruchslosigkeit“ ausdrücken lässt, „sondern erst in einer dialektischen Logik, in der das, was entsprungen ist, nicht dem gleicht, woraus es entsprang“.288 Der Verweis auf die dritte Antinomie der Kritik der reinen Vernunft ist bedeutend, da sich vor diesem Hintergrund Adornos Bemü‑ hungen um einen materialistischen Vernunftbegriff konturieren. Die anvisierte Vernunft soll eine freie Vernunft sein; frei im Sinne einer Freiheit von der Natur, dennoch aber nicht im Widerspruch mit dieser. Freiheit und Natur bilden in diesem Vernunftbegriff keine Antinomie, sondern durcheinander vermittelte Momente. Dem Gedanken liegt ein polymorpher Naturbegriff zugrunde, in dem Natur einerseits sowohl als Bedrohung wie auch als Opfer erscheint, der andererseits aber auch gerade das Naturhafte an dem bezeichnet, was das Andere der Natur ist. In diesem Sinne spricht Adorno erstens von der „blinde[n] Natur“, in Abset‑ zung von der sich überhaupt das Selbst bildet.289 Die blinde Natur, das Amor‑ phe, noch Unbewusste, ist die Natur als Bedrohung. Freilich ist selbst dieser eigentlich negative Naturbegriff noch ambivalent, denn er ist Grauen und Ver‑ lockung, wie Ute Guzzoni an der Sirenen- und der Lotophagenepisode der Dialektik der Aufklärung überzeugend dargelegt hat.290 Das Subjekt kann sich diesem Amalgam von Grauen und Verlockung nur entziehen, indem es über die äußere und innere Natur herrscht. Darin ist die zweite Bedeutung von Natur verborgen: Natur als Opfer, als unterdrückte und beherrschte. Natur ist hier das vom Subjekt in seiner Absetzung vom blinden Naturbegriff Unterdrückte. Vom Begriff der beherrschten Natur und dem der Naturbeherrschung führt eine Linie zur dritten Bedeutung von Natur, die sich im Begriff der Naturverfallenheit zeigt: „Naturverfallenheit besteht in der Naturbeherrschung, ohne die Geist nicht existiert“, 291 heißt es in der Dialektik der Aufklärung. Natur bezeichnet hier die Perpetuierung des ersten Naturbegriffs, der blinden Natur, innerhalb und durch den zweiten Naturbegriff qua Naturbeherrschung. Der von Adorno anvisierte Vernunftbegriff müsste sich jenseits der entwi‑ ckelten Dialektik von Natur und Freiheit situieren lassen, als eine Freiheit von der Natur, die nicht Beherrschung der Natur und damit auch nicht Naturverfal‑ 288 Adorno:

Probleme der Moralphilosophie, S.  153 f. Dialektik der Aufklärung, S.  71. 290  Guzzoni, Ute: „Grauen und Verlockung. Zur Natur im Odysseus-Exkurs der ‚Dialek‑ tik der Aufklärung‘“, in: Ette, Wolfram u. a. (Hgg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens, Freiburg 2004, S.  57–71. 291 Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S.  57. 289 Adorno/Horkheimer:

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

lenheit ist. Adorno spricht das in der Negativen Dialektik an, wenn er über den somatischen Impuls sagt: „Mit ihm reicht Freiheit in die Erfahrung hinein; das beseelt ihren Begriff als den eines Standes, der so wenig blinde Natur wäre wie unterdrückte.“292 Die anvisierte Freiheit wäre jenseits des ersten und des zwei‑ ten Naturbegriffs und auch jenseits des dritten Begriffs, indem die Natur weder bedrohlich noch ein Opfer und damit die Freiheit von der Natur nicht durch ihre Unterdrückung erkauft und keine naturverfallene Freiheit wäre. Diese Freiheitskonzeption setzt eine vierte Bedeutung von Natur voraus, der Gegen‑ begriff sowohl der bedrohlichen wie auch der unterdrückten Natur ist: eine versöhnte Natur. Die Versöhnung aber kann nur durch Selbstreflexion auf das eigene Tun der Vernunft erfolgen, denn deren Naturverfallenheit besteht ja ge‑ rade in ihrer Naturbeherrschung, ohne die es Vernunft überhaupt nicht gibt. Ist Naturbeherrschung notwendiger Bestandteil der Konstitution einer autonomen Vernunft, die durch diese Beherrschung wiederum ihre Autonomie durch‑ streicht, so kann eine wahrhaft autonome Vernunft die Naturbeherrschung nicht unterlassen, ohne selbst in blinde Natur zurückzufallen. Freiheit muss nach zwei Seiten verteidigt werden: einerseits gegen die blinde Natur, gegen‑ über der sich die Vernunft als autonomes Vermögen konstituieren muss, ande‑ rerseits aber auch gegen die Naturverfallenheit der notwendig naturbeherr‑ schenden Vernunft. Deshalb gibt es kein „Zurück zur Natur“, sondern nur eine Selbstreflexion der Vernunft, in der die Vernunft ihres eigenen Naturgrundes gewahr wird. In dieser Selbstreflexion wäre Vernunft frei von blinder Natur, weil sie immer noch autonome Vernunft wäre, sie würde aber auch nicht Natur als das ihr abstrakt gegenüberstehende beherrschen, sondern sich als selbst na‑ turhaft und doch anders als Natur begreifen. Adorno drückt das in der Vorle‑ sung zur Moralphilosophie in zugespitzter Form aus: „Wir sind eigentlich in dem Augenblick nicht mehr selber ein Stück der Natur, in dem wir merken, in dem wir erkennen, daß wir ein Stück Natur sind.“293 Die Paradoxie dieser Aus‑ sage lockert sich, wenn wir hier verschiedene Bedeutungen von Natur unter‑ scheiden. Wir wären sind nicht mehr ein Stück blinder Natur, wenn wir erken‑ nen, dass wir ein Stück nicht mehr unterdrückte, ein Stück versöhnte Natur sind – eine Versöhnung, die sich erst im Augenblick der Erkenntnis herstellt. Diese Vernunft ist keine reine Vernunft; sie ist zwar als Vernunft autonom, insofern sie ein Anderes als Natur und nicht durch Natur determiniert ist; sie ist aber nicht jenseits der Natur, weil ihre Entstehung aus der Natur ihr selbst als immanentes Moment noch innewohnt. Eine solche Vernunft kann sich nicht abgrenzen von der körperlichen Verfassung ihrer Träger, der Subjekte; sie kann auch nicht abstrahieren von den psychischen Energien, aus denen sie sich gebil‑ det hat, wie Adorno in der Negativen Dialektik schreibt: „Nicht bloß hat Ver‑ 292 Adorno: 293 Adorno:

Negative Dialektik, S.  228. Probleme der Moralphilosophie, S.  154.

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nunft genetisch aus der Triebenergie als deren Differenzierung sich entwickelt: ohne jenes Wollen, das in der Willkür eines jeden Denkaktes sich manifestiert und allein den Grund abgibt für dessen Unterscheidung von den passiven, ‚re‑ zeptiven‘ Momenten des Subjekts, wäre dem eigenen Sinn nach kein Denken.“294 Vernunft ist deshalb nicht rein, weil sie immer auch von somatischen und psy‑ chischen Impulsen bestimmt wird. Die reine Vernunft im Sinne Kants abstra‑ hiert fälschlicherweise von diesen Impulsen und ist eben gerade dadurch natur‑ verfallen, unfrei, weil sie sich ihrer Determination durch Anderes nicht bewusst ist. Freiheit von den Impulsen gibt es deshalb nur in einer Reflexion auf die Impulse, die sie als Momente der Vernunft erkennt. Adorno spricht in der Negativen Dialektik in dieser Hinsicht auch von einem qualitativen Umschlag: „Alles Geistige ist modifiziert leibhafter Impuls, und solche Modifikation der qualitative Umschlag in das, was nicht bloß ist.“295 In der Modifikation, in der sich das Geistige konstituiert, geht es über den Impuls als das, was bloß ist, hi‑ naus: Geist ist mehr als Impuls, aber darin auch immer noch Impuls. „Drang ist, nach Schellings Einsicht, die Vorform von Geist.“, heißt es anschließend.296 Weil dieser Drang als Vorform im Geist oder in der Vernunft aufgehoben ist, ist die‑ se Vernunft nicht bloß kontemplativ, sondern immer von einem bestimmten Interesse geleitet, gegenüber dem sich die Vernunft nur als autonom behaupten kann, wenn sie es reflektiert, nicht aber, indem sie davon abstrahiert. Im Meta‑ physikmodell wird Adorno deshalb an einer äußerst exponierten Stelle davon sprechen, dass die Metaphysik „sich auf das Wünschen verstehen“ muss.297 Das heißt nicht bloß, dass sie von einem bestimmten Wunsch geleitet sein muss – dies ist sie ohnehin –, sondern dass sie diesen Wunsch als Motor und Moment des Gedankens bewusst reflektiert und sich ihm nicht unkritisch hingibt. Da die Vernunft nie rein ist, sondern immer auch modifizierte leibhafte Im‑ pulse enthält, sind die Gedanken und Erkenntnisse dieser Vernunft weder rein noch neutral, sondern immer normativ aufgeladen. Hinter der Theorie stecken immer Bedürfnisse, die sie motivieren; das jedoch ist noch nicht das der adorno‑ schen Philosophie Eigentümliche. Schließlich bestimmen auch andere Philoso‑ phen Bedürfnisse, welche die Menschen erst zum Philosophieren veranlassen sollen: So steht bei Platon und Aristoteles das Staunen (θαυμάζειν) am Anfang der Philosophie,298 bei Hegel ist die Entzweiung „der Quell des Bedürfnisses der Philosophie“.299 Adorno unterscheidet sich von diesen Denkern nicht bloß durch ein anderes Bedürfnis, das am Anfang der Philosophie stehen soll, sondern 294 Adorno:

Negative Dialektik, S.  229. Ebd., S.  202. 296 Ebd. 297  Ebd., S.  399. 298  Platon: Theaet. 155d; Aristoteles: Metaphysik, 982b. 299 Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, TWA 2, S.  9 –138, hier S.  20. 295 

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durch ein anderes Verhältnis von Bedürfnis und Vernunft. Das Bedürfnis geht bei Adorno noch in den Vernunftbegriff selber ein, während es bei Platon, Aris‑ toteles und Hegel qua Bedürfnis vortheoretisch bleibt, ein empirisch-psycholo‑ gischer und deshalb äußerlicher Anstoß, der in der reinen Theorie restlos aufge‑ hoben werden kann. Bei Adorno dagegen bleibt das Bedürfnis stets das Nich‑ tidentische der Vernunft, es verkörpert, wie Adorno im Metaphysikmodell sagt, „in der innersten Zelle des Gedankens, was nicht seinesgleichen ist“.300 Es ist nicht in Denken auflösbar, weil es immer auch somatisch ist, als Lust und Un‑ lust. Deshalb ist die Frage nach der Wahrheit der Theorie keine wertneutrale Frage, sondern immer auch eine moralische Frage. Adorno spricht das in der Einleitung der Negativen Dialektik an: „Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.“301 b.  Leid und Wahrheit Vor dem Hintergrund von Adornos Kritik einer reinen Vernunft fällt es schwer, das Entsetzen zu teilen, das sich in einer – ironischerweise treffenden – Bemer‑ kung von Bolz ausspricht: „Adorno hat die Leiderfahrung als Wahrheitsbedin‑ gung deklariert.“302 Für Bolz ist Adorno damit erledigt; dabei liegt hier der Dreh- und Angelpunkt der Wendung gegen die hegelsche Philosophie. Das Ge‑ wicht, das dem Leidensbegriff damit bemessen wird, steht aber in einem eigen‑ tümlichen Missverhältnis zu seiner Unbestimmtheit. Geuss hat nicht ganz Un‑ recht, wenn er meint, das Motiv des Leidens sei bei Adorno „eigentlich ein un‑ dialektischer Gedanke“. Fraglich ist aber, ob seine Forderung an eine dialektische Theorie, „die Einseitigkeit einer Philosophie des Leidens zu überwinden“,303 den Leidensbegriff von Adorno tatsächlich trifft. Eher ist das Leid als undialek‑ tisches ein zentrales Moment von Adornos Dialektik und seine Funktion kann es nur Kraft seiner Unbestimmtheit erfüllen. Diese Funktion ist eine doppelte: Leid ist einerseits Motor dialektischen Denkens, andererseits und zugleich formuliert es dessen normative Orientie‑ rung. Bereits Henrich hat das in seiner Rezension der Negativen Dialektik ge‑ sehen: „Dies Praktische, das allererst das Bedürfnis der Theorie erzeugt, geht in sie ein, als ihre Motivation und als ihre Evidenz zugleich.“304 Beides, Motivation und Evidenz, ist das Leid nur als letztlich undialektisches Moment, mithin als nicht in die Dialektik vollkommen integrierbares Leid. Deshalb insistiert Ador‑ no auf der somatischen Dimension des Leidens; somatisches Leid entzieht sich, wie Angehrn bemerkt, im Unterschied zu psychischem Leiden jeglicher Mög‑ 300 Adorno:

Negative Dialektik, S.  400. Ebd., S.  29. 302  Bolz: „Lust der Negation“, S.  757. 303  Geuss: „Leiden und Erkennen (bei Adorno)“, S.  52. 304  Henrich: „Diagnose der Gegenwart“. 301 

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lichkeit der Aufhebung im Begriff: „Im körperlichen Schmerz scheint das Lei‑ den gleichsam direkter, unausweichlicher, unerbittlicher präsent. Aus diesem Grund beharrt ein Denken, das dem Schmerz gerecht werden will, auf dem so‑ matischen Moment des Leidens, das sich aller Beschwichtigung und interpreta‑ torischen Bewältigung entzieht.“305 Dementsprechend liegt das Ende der ador‑ noschen Philosophie – Ende im Sinne ihrer Aufhebung und Verwirklichung –, die Abschaffung des Leidens, nicht in der Macht der Dialektik, sondern kann nur durch gesellschaftliche Praxis herbeigeführt werden.306 So ist auch das Be‑ dürfnis, das in die negative Dialektik eingeht und sie motiviert, nicht die Ab‑ schaffung des Leidens an sich; vielmehr soll die Philosophie das Leiden ausdrü‑ cken: „man möchte fast sagen, sie wolle den Schmerz in das Medium des Be‑ griffs übersetzen“, heißt es in der Vorlesung über Philosophische Terminologie.307 Die Differenz ist zentral, nicht bloß weil sie eine Demarkationslinie gegen die hegelsche Dialektik zieht, sondern auch, weil sie für den Standpunkt und die normative Ausrichtung von Adornos Denken einige Konsequenz hat. Das Leiden geht als Impuls in die Philosophie ein und verlangt seinen Aus‑ druck in ihr; damit wird es aber nicht aufgehoben, sondern verlangt auch in der Praxis nach seiner Aufhebung. Die normative Orientierung der Philosophie Adornos ist gedoppelt in Ausdruck und Abschaffung des Leidens. Der Aus‑ druck des Leidens betrifft direkt die Aufgabe der Philosophie; die Abschaffung des Leidens dient ihr als kritischer Maßstab. Beides ist nicht disparat. Der Aus‑ druck des Leidens im Begriff ist zugleich die Kritik einer Praxis, in der das Leiden sich perpetuiert. „Ausdruck“ ist, wie so viele Begriffe Adornos, selbst nur ein Moment in der Dialektik; sein Gegenbegriff ist – zumindest in der Äs‑ thetik – der der „Konstruktion“. Ausdruck ist dabei ein eigentlich mimetisches Vermögen, während Konstruktion die Rationalität verkörpert. Der reine Aus‑ druck wäre nur mimetisch, eine beinahe differenzlose Angleichung an das Lei‑ den. In der Ästhetischen Theorie heißt es an dieser Stelle: „Absoluter Ausdruck wäre sachlich, die Sache selbst.“308 Er terminiert, wie Adorno dem Expressio‑ nismus vorwirft, „in einem ganz Armen, dem Schrei, oder in der hilflos ohn‑ mächtigen Geste“.309 Was aber hier für die Kunst gilt: dass sie sich nicht mit reinem Ausdruck begnügen kann, gilt für die Philosophie umso mehr. Wäre sie bloß reiner Ausdruck des Leids, so bliebe sie ohnmächtig der Realität gegen‑ über. Leid verlangt deshalb nicht reinen Ausdruck, sondern die Übersetzung in den Begriff, das Medium der Philosophie. „Ihr integrales Ausdrucksmoment, 305  Angehrn, Emil: „Das Leiden und die Philosophie“, in: Hühn, Lore (Hg.): Die Ethik Arthur Schopenhauers im Ausgang vom Deutschen Idealismus (Fichte/Schelling), Würzburg 2006, S.  119–131, hier S.  122. 306  Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  203. 307 Adorno: Philosophische Terminologie 1, S.  83. 308 Adorno: Ästhetische Theorie, S.  73. 309  Ebd., S.  51.

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unbegrifflich-mimetisch, wird nur durch Darstellung – die Sprache – objekti‑ viert.“310 Diese Objektivierung nimmt bei Adorno die Form eines rückhaltlosen Negativismus an, einer Kritik des Bestehenden, die das Bestehende an der Ab‑ schaffung des Leidens misst. Das Leiden kommt zum Ausdruck, indem es in die begriffliche Arbeit einer Philosophie eingeht, die sich der radikalen Kritik der‑ jenigen Zustände verschrieben hat, die das Leiden ignorieren und perpetuieren. Damit kommen wir an eine Stelle, an der sich eine Verzerrung korrigieren lässt, die sich durch die Darstellung, nämlich die Trennung von Form und In‑ halt negativer Dialektik, ergeben hat. Die Frage nach dem normativen Ausweis von Adornos Negativitätspathos wurde im ersten Kapitel allgemein mit dem Verweis auf Adornos Formel „falsum index sui et verum“ beantwortet. Gemäß der Formel zeigt sich das Falsche nicht in Bezug auf einen transzendenten Maß‑ stab, sondern an sich selbst in einer gewissen Unmittelbarkeit. Als konkrete Form dieser Unmittelbarkeit des Falschen wurde im ersten Kapitel nur der Wi‑ derspruch behandelt; in seiner beredtsten Form zeigt sich das Falsche aber im Moment des somatischen Leidens. Der Widerspruch, in dem sich die Norm der Identität als Falsches zeigt, ist zwar auf formaler Ebene der normative Ausweis des Negativitätsbegriff; Adornos Philosophie hat aber ihr Pathos gerade daran, dass sie versucht, formale Ebene und Erfahrungsebene zusammenzubringen, der formalen Ebene die reale Erfahrung von Leid zuzueignen: das motiviert die Theorie der geistigen Erfahrung im Innersten. Geistige Erfahrung von Leid ist nur einer Philosophie möglich, die sich formal nicht an die Identität, sondern an die Nichtidentität hält. In der Negativen Dialektik heißt es dazu: „Die kleinste Spur sinnlosen Leidens in der erfahrenen Welt straft die gesamte Identitätsphi‑ losophie Lügen, die es der Erfahrung ausreden möchte: ‚Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos‘; darum ist die Identitätsphilosophie Mythologie als Gedanke.“311 Die Identitätsphilosophie ist falsch, weil sie das Faktum sinnlosen Leidens nicht bewältigen kann.312 Denn wie formale Identität von Subjekt und Objekt potentiell Widerspruchslosigkeit impliziert, so impli‑ ziert sie auch die potentielle Sinnhaftigkeit allen Leidens. Das reale, innerwelt‑ liche Leiden wird in der Identifikation durch den Geist aufgehoben; es wird versöhnt, indem seine Faktizität noch als Notwendigkeit der vernünftigen Ent‑ wicklung des Geistes interpretiert wird. Leid wird zwar als Leid gedacht, aber als sinnvolles Leid, als Leid, das selbst noch dem Plan der Vernunft gemäß ist. Vor diesem Hintergrund ist das sinnlose Leid der Beweis der Unwahrheit der Identitätsthese und der Unwahrheit der hegelschen These der Vernünftigkeit des Wirklichen. Die Verwirklichung der Vernunft liegt nicht mehr in der Macht der Philosophie, weil das somatische Leiden sich nicht in einen vernünftigen 310 Adorno:

Negative Dialektik, S.  29. Ebd., S.  203. 312 Dieser gegen Hegel gemünzte Einwand trifft nach Bowie auch die zeitgenössischen Neohegelianer Pippin und Brandom. Vgl. Bowie: Adorno and the Ends of Philosophy, S.  58 ff. 311 

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Weltplan einordnen lässt. Die Verwirklichung der Vernunft ist möglich nur als Abschaffung des Leidens durch geschichtliche Arbeit. Die Notwendigkeit, das Leiden bei Adorno als somatisches zu verstehen, kommt an zwei Kritiken zutage, die in jüngerer Zeit gegen Adornos Begriff des Leidens erhoben wurden. In einer Auseinandersetzung mit Geuss wird ver‑ ständlich, dass das Leid nur als somatisches der Gefahr seiner Instrumentalisie‑ rung entgeht; an einer Kritik Honneths zeigt sich, dass nur das somatische Lei‑ den bereits an sich normativ ist. Geuss warnt vor der Möglichkeit einer Instrumentalisierung des Leidens, wie sie der zeitgenössische Liberalismus vornehme: „Man denke an den von vielen Liberalen unterstützten so genannten ‚humanitären Interventionismus‘, in dem Hinweise auf die leidenden Menschen benutzt werden, um politische und öko‑ nomische Zwangsmaßnahmen und gar militärische Angriffe zu legitimieren.“313 Deshalb hofft Geuss, Adorno würde, wäre er noch am Leben, differenzierter, nämlich dialektischer mit dem Begriff des Leidens umgehen. Aber die Gefahr einer Instrumentalisierung des Leidens war Adorno schon bewusst, bevor im Namen der Humanität Angriffskriege geführt wurden; er versucht ihr entge‑ genzuwirken nicht durch einen dialektischen, sondern durch einen undialekti‑ schen Leidensbegriff. Undialektisch ist das Leiden, weil es als somatisches nur um den Preis seiner Verfälschung diskursiv einholbar ist, wie Adorno im Frei‑ heitsmodell der Negativen Dialektik ausführt: Moralische Fragen stellen sich bündig, nicht in ihrer widerlichen Parodie, der sexuellen Unterdrückung, sondern in Sätzen wie: Es soll nicht gefoltert werden; es sollen keine Konzentrationslager sein, während all das in Afrika und Asien fortwährt und nur ver‑ drängt wird, weil die zivilisatorische Humanität wie stets inhuman ist gegen die von ihr schamlos als unzivilisiert Gebrandmarkten. Bemächtigte aber ein Moralphilosoph sich jener Sätze und jubelte, nun hätte er die Kritiker der Moral erwischt: auch sie zitierten die von Moralphilosophen mit Behagen verkündeten Werte, so wäre der bündige Schluß falsch. Wahr sind die Sätze als Impuls, wenn gemeldet wird, irgendwo sei gefoltert wor‑ den. Sie dürfen sich nicht rationalisieren; als abstraktes Prinzip gerieten sie sogleich in die schlechte Unendlichkeit ihrer Ableitung und Gültigkeit.314

Die Wahrheit des Leidens ist von seiner Bestimmung als somatisches nicht zu trennen. Nur als somatisches, nicht rationalisierbares, ist das Leiden und sein Ausdruck Bedingung von Wahrheit. Als rationalisierte sind die impulshaften Sätze immer auch instrumentalisierbar und das Leiden lässt sich in seinen Begriff verflüchtigen. Um dem zu entgehen, besteht Adorno auf dem somatischen Cha‑ rakter des Leids. Als solches ist es in Adornos Philosophie unhintergehbar und markiert, wie Angehrn betont, die „Grenze diskursiver Bewältigung, die für diese zugleich ein letzter Resistenzpunkt, ein fundamentum inconcussum ist“.315 313 

Geuss: „Leiden und Erkennen (bei Adorno)“, S.  52. Negative Dialektik, S.  281. 315  Angehrn: „Kritik und Versöhnung“, S.  274. 314 Adorno:

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Als ein solches Fundament ist das Leid bei Adorno immer bereits normativ, wie sich an einer Kritik Honneths an Adorno zeigen lässt. Honneth wirft Ador‑ no vor, es fänden sich zwar „Verweise auf die Unvermeidbarkeit somatischer Leidensimpulse an zahllosen Stellen, aber eine Begründung für deren normati‑ ve oder gesellschaftskritische Aufwertung bleibt regelmäßig aus“.316 Die Frage nach Gründen für die gesellschaftskritische Aufwertung möchte ich zunächst zurückstellen und auf die Fragen nach den Gründen für die normative Aufwer‑ tung der Leidensimpulse eingehen. Diese Gründe bleiben in Adornos Werk in der Tat regelmäßig aus; sie sind auch nicht notwendig. Denn die Leidensimpul‑ se sind als Impulse immer somatisch und als solche bereits normativ an sich selbst, wie Adorno im Rückgriff auf Nietzsche sagt: „Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle. ‚Weh spricht: vergeh.‘“317 Zarathustras Formel meint: Im körperlichen Schmerz ist immer schon der Imperativ seiner Aufhebung beschlossen; Faktizität und Normativität sind im somatischen Leiden untrennbar miteinander verschmol‑ zen. Honneth bezieht sich zwar auch auf diesen Satz, stellt aber die Frage nach der normativen Dimension immer schon im Rahmen der Gesellschaftskritik und nicht zunächst losgelöst von dieser. Deshalb interpretiert er das Leiden in seiner Analyse der Gesellschaftstheorie Adornos von Beginn an als Leiden an der Deformation rationaler Fähigkeiten durch den Kapitalismus, mithin als psychisches Leiden.318 Durch diese Vorentscheidung wird aber die normative Dimension somatischen Leidens verschliffen und deshalb meint Honneth spä‑ ter: „Die Empfindung von Leid muß nicht nur rudimentär die Erkenntnis ein‑ schließen, daß das eigene Vernunftpotential nur eingeschränkt zur Entfaltung gelangen kann, sondern zugleich den Wunsch beinhalten, von der damit ver‑ spürten Deformation befreit zu werden.“319 Im leibhaftem Moment aber, von dem Adornos spricht, ist nicht eine Erkenntnis eingeschlossen, sondern das leibhafte Moment der Erkenntnis meldet an: Leiden soll nicht sein. Adornos Leidensbegriff ist viel basaler als die komplexe Form von psychischem Leiden an den Zumutungen des Kapitalismus. Und von diesem basalen, noch an den niedersten Lebensformen beobachtbarem Leiden, kann ein normativer Ausweis schlechthin nicht verlangt werden. Selbst der Wurm windet sich unter dem Stie‑ fel; sein Leiden ist, wie das des Gefolterten, unmittelbar normativ aufgeladen, indem es sein eigenes Ende verlangt. Adorno kapriziert sich mithin auf das so‑ matische Moment des Leidens, weil es diskursiv nicht bewältigbar und vor je‑ dem Argument an sich selbst normativ ist.

316 

Honneth: „Physiognomie“, S.  89. Negative Dialektik, S.  203; das Zitat im Zitat stammt aus: Nietzsche, Fried‑ rich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, KSA 4, S.  404. 318  Honneth: „Physiognomie“, S.  72. 319  Ebd., S.  9 0 f. 317 Adorno:

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Gewiss, das erklärt noch nicht die von Honneth in Frage gestellte gesell‑ schaftskritische Aufwertung des Leidensbegriffs. Adorno liefert dafür keine Erklärungen, weil für ihn jedes Leiden, auch das psychische, auf somatisches Leiden und damit auf dessen Normativität zurückweist. Nicht weniger als der Gegenbegriff Glück ist Leid bei Adorno immer ein Physisches: „Aller Schmerz und alle Negativität, Motor des dialektischen Gedankens, sind die vielfach ver‑ mittelte, manchmal unkenntlich gewordene Gestalt von Physischem, so wie al‑ les Glück auf sinnliche Erfüllung abzielt und an ihr seine Objektivität ge‑ winnt.“320 Der kritische Punkt der gesellschaftskritischen Aufwertung von Adornos Leidensbegriff liegt hier begraben; die Plausibilität der Aufwertung hängt an der Frage, ob wirklich jegliches Leiden noch über somatische Momen‑ te verfügt, welche die Aufhebung des Leidens verlangen. Gewiss, schwere psy‑ chische Erkrankungen, Depressionen zumal, sind ein Leiden, das sich immer auch somatisch ausdrückt: Angstzustände und Panikattacken melden sich als körperliche Beklemmungen und von einem schwer depressiven Menschen rati‑ onale Gründe für seinen Wunsch nach Befreiung vom Leiden zu verlangen, wäre genauso absurd, wie von einem Gefolterten zu fordern, für seine Schreie nach Gnade einen normativen Ausweis zu erbringen. Anders liegt die Sache bei den von Honneth vornehmlich behandelten Formen des Leidens: den sozialen Pathologien.321 Das Leiden an diesen Pathologien denkt sich Honneth primär nach dem Modell der Neurose und hier stößt der Leidensbegriff Adornos in der Tat an seine Grenzen. Honneth spricht zu Recht von „einer riskante[n] Voraus‑ setzung“ der Autoren des inneren Kreises der Kritischen Theorie. Sie „rechnen mit einem latenten Interesse ihrer Adressaten an vernünftigen Erklärungen, an rationalen Interpretationen, weil der Wunsch nach Emanzipation von Leiden nur in einer Wiedergewinnung einer unzerstörbaren Rationalität Erfüllung fin‑ den kann“.322 Gerade weil diese Voraussetzung so riskant ist, stützt sich Adorno auf das somatische Moment des Leidens und dessen unmittelbare Erfahrung. Der Begriff einer richtigen Gesellschaft wird nicht an der Befreiung von psychi‑ schem, sondern zunächst an der Abschaffung somatischen Leidens gemessen: „Eine solche Einrichtung hätte ihr Telos an der Negation des physischen Lei‑ dens noch des letzten ihrer Mitglieder, und der inwendigen Reflexionsformen jenes Leidens.“323 Fraglich ist freilich, ob die Negation physischen Leidens und dessen inwendiger Reflexionsformen Hand in Hand gehen, oder ob nicht psy‑ 320 Adorno: Negative Dialektik, S.  202. Bereits der Abschnitt, aus dem dieses Zitat stammt, trägt den Titel: „Leid physisch“. 321  Vgl. zu diesem Begriff vor allem den Aufsatz „Eine soziale Pathologie der Vernunft“, der die Geschichte der Kritischen Theorie am Leitfaden des Begriffs der „sozialen Pathologie“ rekonstruiert: Honneth, Axel: „Eine soziale Pathologie der Vernunft. Zur intellektuellen Erbschaft der Kritischen Theorie“, in: ders.: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt a. M. 2007, S.  28–56 (= Pathologie der Vernunft). 322  Ebd., S.  5 4. 323 Adorno: Negative Dialektik, S.  203.

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chisches Leiden jenseits materieller Versagung sich perpetuieren mag. Ebenso ist problematisch, dass Adorno, wie eine Stelle in der Ästhetischen Theorie zeigt, auch dem Leiden an gesellschaftlichen Strukturen eine zentrale Rolle in der Er‑ kenntnis von Gesellschaft zuspricht: „Weil Individuation, samt dem Leiden, das sie involviert, gesellschaftliches Gesetz ist, wird einzig individuell Gesellschaft erfahrbar.“324 Der springende Punkt ist, dass es Adorno mit dem Leidensbegriff nicht um das latente Interesse der Subjekte an vernünftigen Erklärungen, son‑ dern um die individuelle Erfahrung von Gesellschaft als Basis der Theorie geht. Diese Erfahrung ist in dem Sinne elitär, dass sie nicht in allen Subjekten in glei‑ chem Maße vorausgesetzt, nicht „‚transzendental supponiert‘“325 werden kann. Das Problem liegt darin, dass Honneth und Adorno verschiedene Dinge anvi‑ sieren: Honneth interpretiert das Leid im Rahmen einer emanzipatorisch aus‑ gerichteten Gesellschaftstheorie, deren Problem in der Unterstellung besteht, dass ihre Adressaten ein latentes Interesse an Emanzipation haben; Adorno be‑ handelt es in breiterem Rahmen als Element der Philosophie an sich, als Moment einer diagnostischen Erkenntnistheorie des objektiven Geistes seiner Zeit, einer Theorie, die sich verpflichtet, „mit moralischem Effort, stellvertretend gleich‑ sam, auszusprechen, was die meisten, für welche sie es sagen, nicht zu sehen vermögen oder sich aus Realitätsgerechtigkeit zu sehen verbieten“.326 Es geht Adorno nicht um die normative Begründung einer bestimmten Form von Ge‑ sellschaftskritik, sondern um eine Philosophie, die, ganz hegelisch, ihre Zeit in Gedanken erfasst, sie auf den Begriff bringt. Das bedingt, dass sie auch nicht die kleinste Spur von Leiden unter den Tisch kehrt. Die basale Abneigung gegen‑ über physischem Schmerz ist zwar zur Begründung einer Gesellschaftstheorie ungenügend und bedarf, wie Honneth gezeigt hat, der argumentativen Aufwer‑ tung, etwa durch einen Rückgriff auf das normativ aufgeladene Kindheitsbild Adornos; 327 aber einer Philosophie, die sich an einem emphatischen Philoso‑ phiebegriff orientiert, gibt die im somatischem Leid enthaltene normative Kraft einen kategorischen Imperativ mit: dem Leiden gerecht werden. Könnte man Adornos Philosophie auf einen Spruch abdestillieren, wie er das einmal abwer‑ tend genannt hat,328 so wäre mehr als alle berühmten Sentenzen Adornos fol‑ gender Satz aus der Negativen Dialektik zu zitieren: „Scham gebietet der Philo‑ sophie, die Einsicht Georg Simmels nicht zu verdrängen, es sei erstaunlich, wie wenig man ihrer Geschichte die Leiden der Menschheit anmerkt.“329 Das Leid ist mithin nicht bloß normative Basis von Adornos Negativismus, sondern das hauptsächliche und man könnte beinahe sagen: einzige Thema sei‑ 324 Adorno:

Ästhetische Theorie, S.  385. Honneth: „Physiognomie“, S.  88. 326 Adorno: Negative Dialektik, S.  51. 327  Honneth: „Physiognomie“, S.  91 f. 328  Adorno: „Aspekte“, S.  252. 329 Adorno: Negative Dialektik, S.  156. 325 

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ner Philosophie. Nur wenn sie diesem Thema gerecht wird, wenn sie die Erfah‑ rung des Leidens bis in ihre begrifflichen Operationen hineinnimmt, kann sie Anspruch auf Wahrheit erheben und sich selbst noch als Philosophie bezeich‑ nen. Das impliziert nicht allein einen Verzicht auf Verklärung des Leidens um der Vernunft willen, sondern fundamentaler: dass die Theorie bis ins Innerste von der Erfahrung real existierenden Leidens affiziert wird. Wenn Adorno das Metaphysikmodell mit den Auswirkungen von Auschwitz auf den Begriff der Metaphysik eröffnet, so ist dies, wie Angehrn sagt, „nur die extreme Figur einer Interdependenz, die das Denken als solches affiziert“.330 So ist Negativität nicht ein Spleen Adornos, sondern ein objektiver Gehalt der Philosophie. Leid ist nicht ein Thema, das man sich aussuchen kann oder auch nicht, nicht ein Inhalt des Denkens wie jeder andere, sondern es ist in gewisser Hinsicht der bedeu‑ tendste Inhalt der Philosophie, weil es diese nicht bloß inhaltlich und in ihrer Form affiziert, sondern sie bis in ihre Daseinsberechtigung erschüttert. Adorno betont das in der Einleitung in die Soziologie: Ich erinnere mich daran, daß einmal eine Gesellschaftstheoretikerin, die Frau eines sehr berühmten Philosophen, mir ein überwertiges Interesse an Auschwitz und an den damit zusammenhängenden Fragen vorgeworfen hat. Ich würde denken, daß wenn sechs Mil‑ lionen unschuldiger Menschen aus einem wahnhaften Grund ermordet werden, daß, selbst wenn das im Sinn einer Theorie der Gesellschaft ein Epiphänomen sein sollte, ein bloß abgeleitetes und nicht der Schlüssel, daß es dann einfach durch die Dimension des Grauens, die es besitzt, ein solches Gewicht hat und ein solches Recht hat, daß allerdings an einem solchen Punkt der Pragmatismus recht hat, der fordert, die Erkenntnis zu‑ nächst einmal zu fördern und einer solchen Erkenntnis eine gewisse Priorität zu geben – wenn Sie mir das grauenhafte Wort verzeihen –, die darauf abzielt, solche Ereignisse zu verhindern.331

Der Negativismus ist die angemessene Reaktion auf einen Zustand, dessen Ne‑ gativität schlechterdings nicht geleugnet werden kann. Nach Auschwitz ist der Geist abermals, wie zu Hegels Zeiten, „über das substantielle Leben, das er sonst im Elemente des Gedankens führte, hinaus, – über diese Unmittelbarkeit seines Glaubens, über die Befriedigung und Sicherheit der Gewißheit, welche das Bewußtsein von seiner Versöhnung mit dem Wesen und dessen allgemeiner, der inneren und äußeren, Gegenwart besaß“; 332 Auschwitz und die damit be‑ zeichnete „Veränderung in den Gesteinsschichten der Erfahrung“333 verlangt eine Selbstreflexion des Geistes, die ihm erst wieder zu Substantialität verhelfen kann. Auch darin geht die erlösungsphilosophische Interpretation fehl, dass sie Adornos Negativismus nicht aus den Erfordernissen der Zeit versteht, sondern ihn einem metaphysisch überhöhten Begriff der Erlösung ankreidet. 330 

Angehrn: „Kritik und Versöhnung“, S.  274. Einleitung in die Soziologie, S.  36. 332 Hegel: Phänomenologie, S.  15. 333 Adorno: Metaphysik, S.  166. 331 Adorno:

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Hier ist nun der Punkt erreicht, an dem einsichtig wird, warum Adorno – horribile dictu – Leiderfahrung zur Wahrheitsbedingung erklärt; warum nur die Philosophie Anspruch auf Wahrheit erheben kann, die das Leiden zum Aus‑ druck bringt. Vorausgesetzt ist die Überzeugung, dass Philosophie ihre Zeit in Gedanken fassen muss. Die Erfahrung von Leid ist insofern Bedingung von Wahrheit, als diese Erfahrung real ist und mit Auschwitz ein solches Gewicht gewonnen hat, dass eine Philosophie, die darüber hinwegsieht an die Realität gar nicht mehr heranreicht. Adorno formuliert das mit Verweis auf die Diffe‑ renz von Wesentlichem und Unwesentlichem in der Negativen Dialektik: [T]atsächlich gibt es eine zwar fehlbare, doch unmittelbare, geistige Erfahrung des We‑ sentlichen und Unwesentlichen, welche das wissenschaftliche Ordnungsbedürfnis nur gewalttätig den Subjekten ausreden kann. Wo solche Erfahrung nicht gemacht wird, bleibt Erkenntnis unbewegt und fruchtlos. Ihr Maß ist, was den Subjekten objektiv als ihr Leiden widerfährt.334

Die Objektivität der Realität erschließt sich gewissermaßen nur, wenn die Rea‑ lität in ihrer Negativität erfahren wird; nicht wird dadurch die Realität der Ne‑ gativität und dem Leid gleichgesetzt und die Existenz von Glück schlechter‑ dings geleugnet. Aber dem Leid wird mehr Gewicht gegeben, nicht bloß weil es nach utilitaristischer Rechenmanier das Glück überwiegen mag; es ist wesent‑ lich, weil es sich von sich aus als Abzuschaffendes mitteilt und deshalb als Ne‑ gativität bestimmbar ist. Was Glück ist und nach was die Menschen zu streben hätten, was das gute Leben ist, kann nicht mehr verbindlich gesagt werden; das Leid jedoch kann als das Falsche bestimmt werden, weil es sich als somatisches bereits an sich selbst als Falsches zeigt. Somatisches Leid ist Adornos Antwort auf das, was Habermas unlängst als „ringsum verkümmerndes normatives Be‑ wusstsein“ bezeichnet hat.335 Leidererfahrung schließt nicht bloß die eigene un‑ mittelbare Erfahrung ein, sondern auch die mimetische Identifikation mit dem Leiden anderer. Sie meint die Erfahrung des geschichtlich anwachsenden Lei‑ dens, das sich in Adornos Begriff von Auschwitz verdichtet. Auschwitz ist da‑ bei, wie Seel mit Recht festhält, zu verstehen „nicht als etwas Vergangenes, son‑ dern als etwas irreversibel Gegenwärtiges: als Wissen um die Möglichkeit des organisierten Grauens auf jeder denkbaren Stufe der Zivilisation“.336 Hinzuzu‑ fügen wäre: Nicht bloß der Möglichkeit, sondern Wirklichkeit des organisierten Grauens; denn für Adorno meint Auschwitz „nicht Auschwitz allein, sondern die Welt der Tortur, die weitergeht nach Auschwitz und über deren Fortdauer 334 Adorno:

Negative Dialektik, S.  171 f. Jürgen: „Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsge‑ schichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie“, in: ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2009, S.  216–257, hier S.  218 (= Grenze zwischen Glauben und Wissen). 336  Seel, Martin: „Einleitung: Die Ambivalenz der Kontemplation“, in: ders.: Adornos Philosophie der Kontemplation, Frankfurt a. M. 2004, S.  9 –19, hier S.  17. 335 Habermas,

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wir ja aus Vietnam die entsetzlichsten Berichte empfangen“.337 Zusammen mit der „Atombombe“ bildet Auschwitz als Welt der Tortur eine „höllenhafte Ein‑ heit“338 und diese Einheit wird zur Bedingung der Wahrheit einer Philosophie, aber in gleichsam negativer Weise, nämlich insofern ein Denken, das sich an diesen Erfahrung nicht misst, nicht wahr sein kann. Eine wahre Philosophie muss diese Erfahrung noch in sich aufnehmen, sie muss das Äußerste noch dem Gedanken zueignen, so dass man, wie Adorno in der Metaphysikvorlesung sagt, „fähig ist, als Geist noch das Äußerste in sich hineinzunehmen, zu denken und, im Angesicht der geistigen Erfahrung, seiner mächtig zu bleiben“.339 Bedeutend an dieser Stelle ist, dass hier das Konzept der geistigen Erfahrung greifbar wird. Die Erfahrung ist zunächst die des real existierenden Leidens auf der Welt; geistig ist diese Erfahrung, so Henrich, „wegen des ihre innewohnenden Motivs zur Theorie“.340 Leid drängt zur Theorie, weil die vom Leid verlangte Praxis, seine Abschaffung, versperrt ist. Deshalb ist das Bedürfnis der Philosophie, Leiden beredt werden zu lassen; der Geist muss versuchen, sich die Erfahrung der Ne‑ gativität zuzueignen. Geistige Erfahrung heißt: Die Erfahrung von Leid geht in die Begriffe einer Philosophie ein und kommt in ihr zum Ausdruck. Als Inkorporation des Leidens in ihre kategorialen Operationen, als Zueig‑ nung der Erfahrung von Negativität ist negative Dialektik der Versuch, die Er‑ fahrungen ihrer Zeit in Gedanken zu fassen; insofern diese Erfahrung eine Er‑ fahrung unversöhnten Leidens ist, das aber potentiell abschaffbar wäre, ist ne‑ gative Dialektik die begriffliche Deskription eines Zustandes, der ist, aber nicht sein sollte und gemessen an diesem Maßstab falsch ist; in diesem Sinne ist nega‑ tive Dialektik „die Ontologie des falschen Zustandes“.341 Das verkehrt sich bei Thyen, wenn sie sagt: „Denn es ist die Hegelsche Dialektik, die ‚angesichts der konkreten Möglichkeit von Utopie‘ zur ‚Ontologie des falschen Zustandes‘ wird, nicht die negative Dialektik.“342 Die hegelsche Philosophie wäre gemessen am Maßstab, ihre Zeit in Gedanken zu erfassen und angesichts der konkreten Möglichkeit der Utopie nicht die Ontologie des falschen Zustandes, also die richtige, angemessene begriffliche Erfassung der Struktur der falschen Wirk‑ lichkeit; sie wäre vielmehr selbst falsch, nämlich die falsche Ontologie des fal‑ schen Zustands. Zwar hat sich Hegel wie kein Zweiter vor ihm dem innerweltli‑ chen Leiden gestellt und es gar zum Ausgangspunkt der Philosophie genom‑ men; es kommt jedoch in seiner Philosophie nur als bereits versöhntes Leiden zum Ausdruck, als Opfer für die Idee, in deren Lichte das Leiden wiederum sinnvoll und damit gerechtfertigt erscheint. Diese Kritik kann erst im dritten 337 Adorno:

Metaphysik, S.  160. Ebd., S.  162. 339  Ebd., S.  196. 340  Henrich: „Diagnose der Gegenwart“. 341 Adorno: Negative Dialektik, S.  2 2. 342 Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung, S.  266. 338 

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

Kapitel an Adornos Auseinandersetzung mit der hegelschen Geschichtsphilo‑ sophie beurteilt werden; ihre Pointe ist schon jetzt ersichtlich. Wird Adornos Negativismus, wie Angehrn es formuliert, „nicht durch eine negative Metaphy‑ sik, sondern durch die reale Geschichte gefordert, deren Permanenz des Leidens sich der denkenden Bewältigung entzieht und jede Versöhnung verbietet“,343 so lässt sich dieser Negativismus als kritische Rettung Hegels verstehen: Rettung, weil er versucht, dem hegelschen Anspruch gerecht zu werden, seine Zeit in Gedanken zu fassen; kritisch, weil diese Rettung die Wendung gegen Hegel und gegen die hegelsche Geschichtsphilosophie verlangt. Gemessen an Adornos Anspruch, Leiden beredt werden zu lassen, scheitert Hegels Philosophie an der Unversöhnlichkeit somatischen Leidens. Real existierendes Leid erheischt die Kritik an Hegel, den Schritt zu einer negativen Dialektik und zu einem extre‑ men Negativismus. Der Begriff des Leidens ist mithin ein integrales Moment negativer Dialektik: es ist der normative Ausweis der Negativität der Dialektik qualifiziert sie als negative. c.  Negativität und Autonomie. Zur Substantialität des Geistes Geistige Erfahrung ist ein hegelianisches Konzept nicht bloß, weil es sich inner‑ halb der Dialektik von Subjekt und Objekt artikuliert, sondern weil es einen genuin hegelianischen Gehalt für die Philosophie nach Auschwitz zu retten ver‑ sucht: die Substantialität des Geistes. Substantiell ist der Geist, insofern er zu‑ gleich autonom und gesättigt mit Erfahrung ist, insofern er die Erfahrung der realen Negativität in sich hineinnimmt und dabei seiner selbst mächtig bleibt, ohne seine Autonomie als seine Allmacht zu stilisieren und dadurch die Nega‑ tivität aufzuheben. Geist hat nach Auschwitz weder die Kraft zur Versöhnung der Widersprüche noch zur Abschaffung des Leidens. Es fehlt ihm die Zauber‑ kraft, das Negative in das Sein umzukehren; dennoch bleibt Adorno, wie An‑ gehrn betont, Hegel an dieser Stelle verpflichtet: „Auch Adorno kennt die Figur einer Rettung, die sich im Medium [. . .] des Verweilens beim Negativen ereig‑ net.“344 Nur ist das Verweilen bei Adorno eine andere Form der Rettung: keine Umkehr mehr ins Sein, keine Aufhebung, aber eine Form der Bewältigung, die in zweierlei Hinsicht noch ihrem hegelschen Vorbild verpflichtet ist. 1) Der hegelsche Geist gewinnt seine Wahrheit nur, wenn er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Bei Adorno wird daraus die Forderung, der Geist müsse angesichts des Negativen seiner selbst mächtig bleiben. Das kann er nur durch das Verweilen beim Negativen. Er darf sich dem Negativen nicht dadurch entziehen, dass er es als bloß empirisches, innerweltliches Leid aus sei‑ ner Sphäre verweist. Autonomie heißt nicht: Reinheit des Geistes von der inner‑ 343 

344 

Angehrn: „Das Leiden und die Philosophie“, S.  129. Angehrn: „Kritik und Versöhnung“, S.  268.

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weltlichen Erfahrung, sondern: sein Selbstbewusstseins angesichts dieser Er‑ fahrung. Da er die Zauberkraft, die das Negative versöhnt, nicht mehr besitzt, kann seine Autonomie auch nicht in diesem Sinne praktisch sein; er kann nicht mehr kraft seiner Autonomie als Geist die Wirklichkeit versöhnen oder als ver‑ söhnte erkennen. Seine Autonomie muss im theoretischen Bereich verbleiben, im Bereich der Kontemplation und der Reflexion. Im Gefolge Marxens verlagert Adorno so die Aufgabe der Versöhnung von der Theorie in die Praxis; damit wird die Philosophie nicht aufgehoben, sondern bleibt als theoretische Reflexi‑ on bestehen. 2) Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, die abstrakte, das heißt bloß seiende Unmittelbarkeit aufzuheben. Die bloß seiende Unmittelbarkeit meint bei Hegel wie bei Adorno die unversöhnte, unbegriffene, faktische Negativität. Bei Adorno geschieht die Aufhebung der abstrakten Unmittelbarkeit der Ne‑ gativität nicht durch deren Positivierung, sondern indem das Leiden in den Be‑ griff aufgenommen wird, indem es vom Geist gedacht wird. Aufgehoben ist die Negativität damit zwar nicht in Sinne einer Versöhnung, aber der Geist, indem er bei ihr verweilt und sie aushält, ist mit diesem Aushalten zugleich ein wenig über sie hinaus. Angehrn spricht an dieser Stelle von der „zweifache[n] Kraft des Geistes“, die sowohl eine „Kraft zum Aushalten des Negativen“ wie auch „unablösbar“ davon „eine Kraft der Transzendenz“ ist.345 Er verweist auf eine gewichtige Stelle in der Metaphysikvorlesung, in der Adorno davon spricht, dass der Geist im Angesicht der geistigen Erfahrung äußerster Negativität noch seiner selbst mächtig bleiben muss. Darin stecke zugleich „der Respekt vor der Möglichkeit des Geistes, trotz allem über das was ist um ein Geringes sich zu erheben“.346 Negative Dialektik ist in dieser Fluchtlinie eine Philosophie, die sich der Erfahrung von Negativität stellt, ohne sie in den Begriff zu verflüchti‑ gen und in der rückhaltlosen Akzeptanz des Leidens an der Möglichkeit der Transzendenz, der Hoffnung, letztlich der Utopie festhält. Die beiden Momen‑ te sind nicht disparat, sondern, wie Angehrn sagt, unlösbar zusammen gedacht: als durcheinander vermittelt. Der Geist hat mitnichten seine Kraft an die Praxis zediert, sondern gerade weil diese überall verstellt ist und die Utopie dennoch nicht anders als praktisch verwirklicht werden kann, erhält sich die Philosophie am Leben. Sie erhält sich nicht nur am Leben wie ein überflüssiges Relikt aus vergange‑ nen Tagen, sondern gewinnt gerade angesichts einer Situation, in der die Nega‑ tivität nicht bewältigt werden kann, ihre eigentliche Bestimmung. Der durch Auschwitz markierte Bruch erheischt eine konsequente Reflexion auf das Ge‑ schehene. Auch deshalb bezeichnet Adorno seine Zeit „in einem ironischen und

345 

Ebd., S.  274 f. Metaphysik, S.  196.

346 Adorno:

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

traurigen Sinn“ als „Zeit der Theorie“.347 Philosophie ist mithin nicht ein zähes Überbleibsel der abendländischen Geistesgeschichte, sondern gewinnt ange‑ sichts des ins Maßlose angewachsenen Leids eine neue Dignität. Indem sie das äußerste Leid denkt, hält sie zugleich an der Möglichkeit von dessen Versöh‑ nung fest. Denn gerade durch das Denken des Äußersten, wird es, wenn auch nicht aufgehoben, so doch zumindest seiner bloßen Faktizität entkleidet, wie Adorno in der Metaphysikvorlesung festhält: „[S]ogar das Alleräußerste ist noch etwas, was sich denken läßt und was dadurch, daß es in die Reflexion fällt, nicht als ein absolut Fremdes und absolut Verschiedenes mir gegenübersteht.“348 Figur und Pathos sind ohne Zweifel hegelianisch und die Differenz zu Hegel schrumpft hier zu einer Nuance zusammen. Gegen Hegel wird von Adorno ja gerade deswegen auf dem somatischen Moment des Leidens insistiert, weil es sich der Versöhnung durch den Begriff, allgemein der diskursiven Behandlung, entzieht; dennoch vertraut Adorno auf die befreiende Kraft der Reflexion. Die Nuance ist in der Stellung zur Versöhnung zu suchen. Während sie bei Hegel als an sich bereits vollzogen angesehen wird, so dass die Zauberkraft des Geistes darin besteht, die an sich vollzogene Versöhnung zu erkennen und dadurch ih‑ rer vollen empirischen Realisierung entgegenzuarbeiten, wird sie bei Adorno zur praktischen Aufgabe, ohne dass dem Geist dabei ein versöhnendes Moment vollkommen abgehen soll. Das versöhnende Moment lässt sich an zwei Stellen erläutern. Die erste findet sich in der Metaphysikvorlesung, gleich im Anschluss an die eben behandelte Passage. Adorno verweist dort auf Kants Lehre vom Dynamisch-Erhabenen und vergleicht das versöhnende Moment des Geistes mit dem Gefühl des Erha‑ benen. Adorno will dem Ich keineswegs „auch nur einen Rest jener Selbständig‑ keit und jenes Pathos“ zusprechen, aber – „unendlich eingeschränkt“ – sei noch ein Moment dieser Lehre des Erhabenen präsent: „[D]aß die Möglichkeit einer Änderung überhaupt daran hängt, daß man die äußerste Negativität, nämlich die Negativität in den Grundschichten und nicht nur in ephemeren Oberflä‑ chenphänomenen, selber einmal sich bewußt macht.“349 In Folge geht Adorno vom Erhabenen über zu einer Kritik vorschneller Praxis. Am Konzept des Er‑ habenen aber lässt sich, freilich unter dem von Adorno geäußerten Vorbehalt, das versöhnende Moment des Geistes auf den Begriff bringen. In der Ästhetikvorlesung bestimmt Adorno das Moment des „Widerstandes“ als den zentralen Tatbestand der kantschen Lehre vom Erhabenen; 350 unter die‑ sem Leitbegriff möchte ich auch das versöhnende Moment des Geistes verste‑ hen. Das Dynamisch-Erhabene stellt sich bei Kant in der Auseinandersetzung des Menschen mit der Macht der Natur ein; übertragen auf das vorliegende Pro‑ 347 

Ebd., S.  198. Ebd., S.  196. 349  Ebd., S.  197. 350 Adorno: Ästhetik (1958/1959), S.  51. 348 

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blem zeigt sich das versöhnende Moment des Geistes in der Auseinanderset‑ zung des Menschen mit der Macht des innerweltlichen Leidens: der Negativität. Kant sagt nun: „Macht ist ein Vermögen, welches großen Hindernissen überle‑ gen ist. Eben dieselbe heißt eine Gewalt, wenn sie auch dem Widerstande des‑ sen, was selbst Macht besitzt, überlegen ist.“351 Gewalt und Macht benennen die Grundkonstellation des Erhabenen: Die Gewalt der Natur steht gegen die Macht des Geistes und ist dieser gleichsam a priori überlegen. Dasselbe ist beim versöhnenden Moment des Geistes der Fall: Die Gewalt der Negativität ist der Macht des Geistes, Negativität zu bewältigen, überlegen. Das Erhabene stellt sich ein, wenn der Geist im Angesicht der überwältigenden Natur seiner eige‑ nen Widerstandskraft gewahr wird. Kant führt das am Beispiel von überwälti‑ genden Naturschauspielen an: Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen, und ein Vermögen zu widerste‑ hen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können.352

Hinsichtlich des versöhnenden Moment des Geistes sind an dieser Stelle zwei Momente von Bedeutung: Sicherheit und Mut. Zum einen ist der Widerstand des Geistes nur möglich, wenn sich der Mensch in Sicherheit befindet, wenn er nicht selbst der Gefahr oder dem Leiden unmittelbar ausgesetzt ist; zum ande‑ ren ist der Widerstand kein Selbstzweck, sondern er macht Mut, der in Adornos Terminologie zur Hoffnung wird; Hoffnung nämlich, dass die überwältigende Negativität nicht alles sein mag, weil der Geist sich ihr immerhin gewachsen zeigt, weil er gerade in seiner Beziehung auf die Negativität seiner selbst als autonomer Geist gewahr wird. So interpretiert Adorno in der Ästhetischen Theorie Kants Erhabenes als „die Autonomie des Geistes angesichts der Übermacht des sinnlichen Daseins“.353 Das versöhnende Moment des Geistes besteht in sei‑ ner Autonomie angesichts der Übermacht der Negativität. Autonom heißt dabei nicht Absolutheit oder Ewigkeit des Geistes – das ist nach Adorno gerade das Unhaltbare der kantschen Lehre vom Erhabenen: dass sie von der Hinfälligkeit des Einzelnen auf die Unendlichkeit des Geistes schließt. Wird der Geist bei Adorno seiner eigenen Naturhaftigkeit und damit Endlichkeit inne, so verän‑ dert sich auch der Begriff des Erhabenen: [A]n [. . .] der Hinfälligkeit des empirischen Einzelwesens, sollte die Ewigkeit seiner all‑ gemeinen Bestimmung, des Geistes, aufgehen. Wird jedoch Geist selber auf sein natur‑ haftes Maß gebracht, so ist in ihm die Vernichtung des Individuums nicht länger positiv 351  Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, hg. von Wilhelm Weischedel, Werkausgabe, Bd. X, Frankfurt a. M. 1974, im Folgenden zitiert unter Angabe der Seitenzahl der zweiten Auflage (B) von 1793, B 102. 352  Ebd., B 104. 353 Adorno: Ästhetische Theorie, S.  143.

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

aufgehoben. Durch den Triumph des Intelligiblen im Einzelnen, der geistig dem Tod standhält, plustert er sich auf, als wäre er, Träger des Geistes, trotz allem absolut.354

Autonomie des Geistes heißt also: im vollen Bewusstsein der Endlichkeit des Geistes und angesichts der realen Negativität noch an einem Eigenrecht des Geistes festzuhalten. Die von Adorno anvisierte Autonomie des Geistes bewegt sich in der Konstellation von besonderem und allgemeinem Moment des Geistes und darin ist sie freilich dem kantschen Vorbild mehr verpflichtet, als Adorno wahrhaben will. Denn Kant liest nicht einfach die Ewigkeit des allgemeinen Geistes aus der Hinfälligkeit des empirischen Einzelwesens, sondern das Erha‑ bene soll gerade darin bestehen, dass wir „unsere physische Ohnmacht“ erken‑ nen, in uns aber gleichzeitig ein Vermögen entdecken, „uns als von ihr unabhän‑ gig zu beurteilen“, also uns selbst nicht auf unsere physische Ohnmacht zu re‑ duzieren, sondern an einem Moment der Transzendenz angesichts dieser Ohnmacht festzuhalten, so dass nach Kant „die Menschheit in unserer Person unerniedrigt bleibt, obgleich der Mensch jener Gewalt unterliegen müßte“.355 Angesichts der absoluten Hinfälligkeit des Einzelnen soll sich das Bewusstsein der unerniedrigten Menschheit erhalten; diese Struktur macht die Substantiali‑ tät des Geistes bei Adorno aus. Sie erweist sich daran, dass der Geist, indem er angesichts der Negativität seiner selbst mächtig bleibt, an der Möglichkeit dessen festhält, was die Negati‑ vität transzendieren würde: an Versöhnung oder Utopie. Damit wirkt er der Resignation entgegen, wie Adorno im gleichnamigen Text zu erläutern ver‑ sucht. Adorno bestimmt in diesem 1969 entstandenen Essay das Denken im emphatischen Sinn als „Kraft zum Widerstand“.356 Was prima facie als philoso‑ phische Volte erscheint, in der Theorie zur Praxis umgedichtet wird, bestimmt sich in Rücksicht auf Adornos Definition des Erhabenen als Verteidigung eines substantiellen Geistbegriffs oder einer substantiellen Vernunft. Diese ist selbst zwar nicht Praxis, hat aber ihre praktische Dimension daran, dass sie durch ihre bloße Existenz einsteht für eine Praxis, die einst die Versöhnung leisten mag. Wie Kant hält Adorno trotz der Nichtigkeit des einzelnen Denkers am allge‑ meinen Moment der Vernunft und deren versöhnendem Moment fest. Denn Denken hat das Moment des Allgemeinen. Was triftig gedacht wurde, muß woan‑ ders, von anderen gedacht werden: dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken. Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert. Weil der Denkende es sich nicht antun muß, will er es auch den anderen nicht antun. Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Mensch‑ heit.357

354 

Ebd., S.  295. Kritik der Urteilskraft, B 105. 356  Adorno: „Resignation“, GS 10.2, S.  794–799, hier S.  798. 357 Ebd. 355 Kant:

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Zwei Momente sind an dieser Passage bemerkenswert. Das erste betrifft das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem. Das versöhnende Moment des Geistes, das Adorno hier als „Glück“ bezeichnet, ist zwar besonderes Glück, nämlich als Glück eines besonderen Trägers des Geistes, aber es ist zugleich das Glück der ganzen Menschheit. Angesichts der Negativität mag der Denkende sich seiner eigenen Nichtigkeit bewusst werden, aber indem er die Negativität bestimmt und sich in seinem Denken an ihr misst, hält er zugleich an der Mög‑ lichkeit der allgemeinen Versöhnung fest; die Menschheit bleibt in seinem Den‑ ken unerniedrigt. Bedeutsam ist zweitens der Begriff des Glücks selbst und das Moment der Sublimation durch das Denken. Daran wird ersichtlich, dass das versöhnende Moment dem Geist nicht äußerlich als ein Inhalt zukommt, so als ob er einfach nur angesichts der Negativität sich sagen müsste, dass alles gut kommt; vielmehr besteht das versöhnende Moment des Gedankens in seiner Autonomie angesichts der Negativität: „Glück ist er, noch wo er das Unglück bestimmt: indem er es ausspricht.“358 Autonomie des Geistes und Transzendenz gehen Hand in Hand. Das Negative seiner Unmittelbarkeit zu berauben, indem es in die Reflexion hineingenommen wird, heißt bereits: es seiner Absolutheit zu berauben. Wenn der Geist die Negativität in sich hineinnimmt und darüber nicht zergeht, wenn er gegenüber der Negativität selbständig bleibt, so ist er ein Anderes der Negativität und diese nicht total. Substantiell ist der Geist, indem er angesichts der Negativität an der Möglichkeit der Versöhnung festhält; für diese Möglichkeit steht er selbst ein, indem er die Negativität in seine Reflexion hineinnimmt und darüber seine Autonomie nicht verliert. Der Geist ist nicht selbst die Versöhnung, aber seine Substantialität hält die Möglichkeit einer ver‑ söhnenden Praxis offen. Die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis findet an dieser Stelle ihre Antwort: Praxis gibt es bei Adorno nur insofern der Geist substantiell ist und damit die Totalität der Negativität Lügen straft, weil er als substantieller Geist an der Hoffnung auf Veränderung festhält und diese zugleich verkörpert. Wenn das Glück des Gedankens nicht nur in der Bestimmung, sondern auch im Aussprechen des Unglücks besteht, schließt sich in gewissem Sinne der Kreis. Ist die Bedingung der Wahrheit von Adornos Philosophie das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, und besteht das Glück des Gedankens darin, das Unglück zu bestimmen und auszusprechen, so sind Wahrheit und Glück die gleichursprünglichen Leitideen von Adornos philosophischer Praxis: die Nega‑ tivität in den Begriff, in die Kategorien aufzunehmen, sie zu reflektieren und dadurch am Potential ihrer Aufhebung festzuhalten.

358 

Ebd., S.  799.

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

VI.  Negative Dialektik als geistige Erfahrung Die Fluchtlinie einer Theorie der geistigen Erfahrung besteht in der Durchdrin‑ gung von formaler Ebene und Erfahrungsebene. Adorno findet dieses Element bereits in der Tradition. Spricht Adorno von den Erfahrungsgehalten der hegel‑ schen oder auch der kantschen Philosophie, so meint er damit die Erfahrung, die in eine Theorie eingegangen ist. Die Hegelstudie „Erfahrungsgehalt“ hält das gleich im Eröffnungssatz fest: „Von einigen Modellen geistiger Erfahrung soll gehandelt werden, wie sie sachlich – nicht etwa biographisch und psycholo‑ gisch – die Hegelsche Philosophie motiviert und ihren Wahrheitsgehalt aus‑ macht.“359 Geistige Erfahrung haben wir als diejenige Erfahrung bestimmt, die in die Kategorien eingeht; sie ist die Erfahrung im Medium der begrifflichen Reflexion. Sie macht den Wahrheitsgehalt von Hegels Philosophie aus, weil sie – bisweilen gegen die begrifflichen Operationen Hegels – die reale Erfahrung im Medium des Begriffs und der Begriff Ausdruck der Erfahrung ist. Was nun die Differenz von Adornos eigener Handhabung dieses Konzeptes zu dessen Anwendung auf die hegelsche Philosophie ausmacht, ist, dass er sich der moti‑ vierenden Erfahrung der hegelschen Philosophie nicht sicher sein kann und Ge‑ fahr läuft, Hegel sachliche Motivationen unterzuschieben, die sich bei diesem nicht nachweisen lassen. Um ein Beispiel eines solchen Erfahrungsgehaltes der hegelschen Philosophie zu geben, sei auf Hegels Theorem vom absoluten Geist verwiesen. Adorno interpretiert es so: „Das Vertrauen des Geistes, die Welt ‚an sich‘ sei er selbst, ist nicht nur die beschränkte Illusion seiner Allmacht. Es nährt sich von der Erfahrung, daß nichts schlechthin außerhalb des von Men‑ schen Produzierten, nichts von gesellschaftlicher Arbeit schlechthin Unabhän‑ giges existiert.“360 Das wäre ein Beispiel dafür, wie die innerweltliche Erfah‑ rung der Vermittlung der Wirklichkeit durch gesellschaftliche Arbeit die Kon‑ zeption des absoluten Geistes motiviert. Aber eine solche Interpretation ist höchst prekär und sieht einem unbeholfenen Soziologismus ähnlich. Adorno hält zwar im gleichen Aufsatz fest, dass der „Erfahrungsgehalt“ einer Position nicht mit deren „erkenntnistheoretisch-metaphysischen“ Theoremen zusam‑ menfällt; 361 dennoch bleibt die Anwendung des Prinzips geistiger Erfahrung auf andere Denker problematisch und muss hinter deren Positionen zurückblei‑ ben. Zu spekulativ ist ihr Ansatz, über die Motivation einer Theorie durch Er‑ fahrung zu deren Wahrheitsgehalt vorzustoßen. Dass Adorno diese Motivation als sachliche von einer biographischen und psychologischen Motivation unter‑ scheiden will, ändert nichts. Plausibel nachzuweisen sind diese Motivationen nur an Werken, die von sich aus die Erfahrungen nennen, deren begriffliche Reflexion sie vollziehen, wie im Fall der Phänomenologie des Geistes und der 359 

Adorno: „Erfahrungsgehalt“, S.  295. Ebd., S.  307 f. 361  Ebd., S.  301. 360 

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französischen Revolution. In der Art, wie dieses Werk die formale Ebene mit der Erfahrungsebene zusammenbringt, bleibt es für Adornos Konzept geistiger Erfahrung leitend: „Was den unschuldigen Leser der Phänomenologie des Geis‑ tes am meisten schockiert, das Jähe der Blitze, die zwischen den obersten speku‑ lativen Ideen und der aktuellen politischen Erfahrung aus der Französischen Revolution und der Napoleonischen Zeit zucken, ist das eigentlich Dialekti‑ sche.“362 Eine solche Interdependenz von kategorialer Reflexion und der aktuel‑ len Erfahrung schwebt auch, wie sich im Folgenden an zwei Modellen der Negativen Dialektik zeigen wird, der Philosophie Adornos vor. Die Modelle sind, wie im ersten Kapitel entwickelt, als Einlösung von Ador‑ nos Erkenntnisanspruch zu verstehen. Das gilt auch für den mit dem Konzept geistiger Erfahrung erhobenen Erkenntnisanspruch: Geistige Erfahrung ist inhaltliche Erkenntnis, insofern die Sache in all ihren Facetten erfahren wird, in ihren Relationen zu anderen Sachen, in ihrer Geschichte und auch in ihrer af‑ fektiven Besetzung durch das Subjekt. Darin liegt einerseits die Pointe geistiger Erfahrung gegen die herkömmliche Erkenntnis, die in der begrifflichen Identi‑ fikation der Sache von ihren Relationen zu anderen Sachen, von ihrer Geschich‑ te und von der affektiven Besetzung durch das Subjekt absieht; andererseits ist auch geistige Erfahrung in ihrer Relation auf Theorie noch vom Anspruch der begrifflichen Identifikation getragen, weil sie diese Facetten der Sache nicht bloß registrieren, sondern der begrifflichen Reflexion zueignen möchte. Das ist nicht mit einzelnen Begriffen möglich, sondern nur über eine Konstellation von Begriffen und somit nur als Modellanalyse. Die Modelle versuche ich im Fol‑ genden in ihrem Doppelcharakter verstehen. Sie sind „keine Beispiele“, sondern sollen 1) „verdeutlichen [. . .], was negative Dialektik sei, und diese, ihrem eige‑ nen Begriff gemäß, ins reale Bereich hineintreiben“.363 In diesem Sinne verstehe ich die Modelle als Modelle einer durchgeführten Theorie der geistigen Erfah‑ rung und lese sie im Folgenden unter der in diesem Kapitel ausgeführten Inter‑ pretation: als Versuch der Durchdringung von formaler und Erfahrungsebene. Weltgeist und Atombombe, Absolutes und Auschwitz markieren die Extrem‑ pole der in den beiden Modellen ausgeführten Reflexion. Diese extremen Erfah‑ rungen motivieren zunächst die Reflexion auf die Kategorien der philosophi‑ schen Tradition. Wie Honneth bemerkt, ist es nur konsequent, dass die negative Dialektik als Selbstkritik der Philosophie „nie an einem Phänomen selber an[‑ setzt], sondern stets nur an dessen philosophisch tradierter Formulierung“.364 Die traditionellen Begriffe aber zeigen sich den gegenwärtigen Erfahrungen, die sie ausdrücken sollen, nicht mehr gewachsen und zwingen zu ihrer Revision; so gehen die Erfahrungen in die Begriffe ein und verändern sie dahingehend, dass 362 

Ebd., S.  319. Negative Dialektik, S.  10. 364  Honneth: „Gerechtigkeit im Vollzug“, S.  110. 363 Adorno:

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

der Begriff es nun vermag, die reale Erfahrung auszudrücken. Adorno wählt dieses Vorgehen der Veränderung scheinbar überkommener Begriffe – wo sich das Problem veralteter Begriffe prima facie effizienter durch eine neue Begriff‑ lichkeit lösen ließe – aus der Überzeugung, dass sich nur dadurch der hohe epi‑ stemologische Anspruch und die diagnostische Kraft der überkommenen Be‑ griffe retten lässt, während die neuen Begriffe Gefahr laufen, bloße Klassifika‑ tionen vorzunehmen. In den Modellen kommen die Kritik der überkommenen Tradition und die Rettung der Gehalte dieser Tradition in einer spezifischen Konfrontation von Begriff und Erfahrung zusammen. Die Modelle erörtern nach Adorno ebenso 2) „Schlüsselbegriffe philosophi‑ scher Disziplinen, um in diese zentral einzugreifen“.365 Ich verstehe diesen Ein‑ griff in philosophische Disziplinen nicht als Selbstzweck, sondern sehe in den Modellen zugleich für das Konzept einer negativen Dialektik tragende Theore‑ me entwickelt. Adorno macht das in der Vorrede nicht deutlich, wenn er diese Disziplinen bloß aufzählt: „Für die Philosophie der Moral will das eine Dialek‑ tik der Freiheit leisten; ‚Weltgeist und Naturgeschichte‘ für die der Geschichte; das letzte Kapitel umkreist tastend die metaphysischen Fragen, im Sinn einer Achsendrehung der Kopernikanischen Wendung durch kritische Selbstreflexi‑ on.“366 Freiheit, Geschichte und das Absolute sind aber nicht bloß Anwendun‑ gen negativer Dialektik, sondern zugleich integrale Momente dieses Denkens. Die Bedeutung der Freiheit wurde bereits in diesem Kapitel unter dem Begriff des mimetischen Impulses abgehandelt und wird zudem in der Behandlung des Metaphysikmodells nochmals aufgenommen. Geschichte und Metaphysik aber sollen im Folgenden als integrale und das heißt auch: nicht bloß inhaltliche, sondern auch strukturtragende Momente negativer Dialektik verstanden wer‑ den. Es wird sich zeigen, dass Adorno auch darin noch Hegel verpflichtet ist, dass er die Vernunft in der Geschichte in ihrem Doppelsinn, als geschichtliche Vernunft und als Vernunft der Geschichte, denkt, und dass er an einem Ver‑ nunftbegriff festhält, der angesichts der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts im‑ mer noch am Begriff des Absoluten orientiert ist. Bevor aber zu den Modellen übergegangen wird, sind nochmals einige Motive der Theorie der geistigen Er‑ fahrung engzuführen, um das für das folgende Kapitel leitende Theorem zu entfalten: dass geistige Erfahrung in der Durchdringung von formaler und Er‑ fahrungsebene besteht und damit nichts anderes als negative Dialektik selbst ist. Während das Konzept geistiger Erfahrung zunächst als neutrales Konzept erschien, das über gewisse Verkürzungen der klassischen Erkenntnistheorie hi‑ nausführen soll, zeichnet sich jetzt eine Engführung von Erfahrung und Leid ab, so dass der Eindruck entstehen mag, geistige Erfahrung sei immer die Erfah‑ rung von Leid: de facto ist sie dies in Adornos Werk beinahe ausschließlich. Die 365 Adorno: 366 Ebd.

Negative Dialektik, S.  10.

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3.  Reprise: Elemente einer materialistischen Theorie des Geistes

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Erfahrungen, die in der Negativen Dialektik verhandelt werden, sind die von Unfreiheit, von Geschichte als entfesselter Naturgewalt, von Auschwitz und Atombombe. An sich umfasst das Konzept geistiger Erfahrung jedoch auch die Möglichkeit positiver Erfahrungen, denn die Trennlinie gegen die herkömmli‑ che Erkenntnis liegt nicht in der Negativität, sondern im Umstand, dass über‑ haupt Lust und Unlust und damit Wertfragen als inhaltliche Momente in die Erkenntnis hineinreichen und deren Wesentlichkeit ausmachen. Dass die Er‑ fahrungen, die in Adornos Theorie eingehen, überwiegend negativer Art sind, ist vielmehr dem Problem normativer Absicherung geschuldet: Glück ist als po‑ sitiver Leitbegriff viel anfälliger für ideologische Verzerrungen als der negative Leitbegriff des somatischen Leidens. Dass die Stellen, in denen Adorno sich auf positive Erfahrungen stützt, zu den fragilsten und damit auch problematischs‑ ten in seinem Werk gehören, rührt daher. Das große Gegenbild zum somati‑ schen Leid ist das der erfüllten Kindheit.367 Diese positiven Leitbilder haben aber nicht dieselbe Funktion wie die in bestimmter Negation gewonnenen uto‑ pischen Miniaturen. Während sich diese auf einzelne, konkrete Erfahrungen beziehen, ist die Kindheit eher als Ganzes ein normatives Leitmotiv. Über die begriffliche Reflexion soll eine Naivität im Umgang mit den Dingen wiederge‑ wonnen werden, die in der Kindheit noch unmittelbar vorhanden war.368 Frei‑ lich ist nur um den Preis der infantilen Regression auf die kindliche Erfahrungs‑ stufe zurückzukehren; deshalb spricht Adorno auch davon, dass erst „zweite Reflexion Naivetät“ wiederherstelle.369 Kindheit mag als ein allgemeines „Er‑ fahrungsresiduum“370 der Theorie Adornos ein Leitmotiv liefern; wo es dage‑ gen um konkrete Erfahrungen geht, sind diese beinahe ausschließlich negativ und in den Minima Moralia behauptet Adorno gar: „Der Ausdruck des Ge‑ schichtlichen an Dingen ist nichts anderes als der vergangener Qual.“371 Was als geistige Erfahrung in die Theorie inhaltlich eingeht, verstehe ich im Folgenden ausschließlich als die Erfahrung von Negativität. Als Durchdringung von formaler Ebene und Erfahrungsebene meint geistige Erfahrung nicht bloß die der formalen Ebene äußerliche Motivation; geistig ist sie nur, indem sie in die Theorie sachlich eingeht. Geistige Erfahrung bestimmt 367 

Vgl. Adorno: „Amorbach“, GS 10.1, S.  302–309; ders.: Negative Dialektik, S.  366. Vgl. etwa: Adorno: Negative Dialektik, S.  117. Auch in der Orientierung an der unnai‑ ven Naivität des Kindes fühlt sich Adorno noch dem Vorbild Hegels verpflichtet, wie eine Stelle aus „Aspekte“ zeigt: „In der Naivetät des Gedankens, der seinem Gegenstand so nahe ist, als wäre er auf Du mit ihm, hat der sonst, nach Horkheimers Wort, so erwachsene Hegel ein Stück Kindheit sich gerettet, die Courage zur Schwäche, der ihr Ingenium eingibt, sie überwinde schließlich doch das Härteste.“ „Aspekte“, S.  288. 369 Adorno: Ästhetische Theorie, S.  47. 370  Auch Honneth findet in seinem Rückgriff keine konkreten Befunde, sondern spricht im Allgemeinen vom „Erfahrungsresiduum“ eines von der „sozial erzwungenen Instrumen‑ talisierung unseres Geistes“ noch freien Zustandes. Honneth: „Physiognomie“, S.  91. 371 Adorno: Minima Moralia, S.  55. 368 

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

sich jetzt als diejenige Form der Erfahrung, die als inhaltliches Moment die Theorie bestimmt im Unterschied zur Erfahrung, die für die Theorie und ihre Kategorien ohne Konsequenz bleibt. In der Negativen Dialektik verhandelt Adorno diese Differenz unter den Begriffen „Argument“ und „Erfahrung“. „Erfahrung“ meint dort: „Welterfahrung, jenen Blick für die Realität, dessen Moment auch der Gedanke ist. Nichts anderes ist Freiheit des Geistes.“372 Diese Welterfahrung ist aber noch nicht geistige Erfahrung, sondern steht noch gleich‑ sam außerhalb der Theorie; als Gegenkraft braucht sie deshalb das Argumenta‑ tive des Geistes. „Wann immer Philosophie substantiell war, traten beide Mo‑ mente zusammen. Aus einigem Abstand wäre Dialektik als die zum Selbstbe‑ wußtsein erhobene Anstrengung zu charakterisieren, sie sich durchdringen zu lassen.“373 Wie alle Einzelbestimmungen von Dialektik ist auch diese, nimmt man sie als Ganzes, falsch und gilt nur für einen Aspekt der Dialektik: den geis‑ tiger Erfahrung. Geistige Erfahrung besteht in der Dialektik, in der Erfahrung und Theorie durcheinander vermittelt sind. An einer etwas kryptischen Passage über den Standpunkt geistiger Erfahrung lässt sich das ablesen: Wird ihr ein Standpunkt abverlangt, dann wäre er der des Essers zum Braten. Sie lebt von ihm, indem sie ihn aufzehrt: erst wenn er unterginge in ihr, wäre das Philosophie. Bis dahin verkörpert Theorie in der geistigen Erfahrung jene Disziplin, die Goethe be‑ reits im Verhältnis zu Kant schmerzlich empfand.374

Vieles liegt hier auf engem Raum: 1) Geistige Erfahrung steht zu ihrem Stand‑ punkt, wie der Esser zum Braten. Sie zehrt von ihrem Standpunkt, nämlich dem des individuellen, vollen, aber auch zufälligen Erkenntnissubjekts, weil ihr kon‑ kreter Erfahrungsgehalt unweigerlich an dieses eine, konkrete Individuum ge‑ bunden ist. 2) Wenn der Standpunkt vollkommen in geistiger Erfahrung unter‑ geht, wäre das Philosophie. Das bedeutet: Wenn der Standpunkt als bloßer Standpunkt in seiner Zufälligkeit in geistiger Erfahrung aufgegangen ist, dann wäre diese objektiv und damit Philosophie. Eine solche Philosophie speiste sich aus unmittelbaren Erfahrungen, die zugleich objektiv verbindlich wären. 3) Weil das aber einstweilen nicht möglich ist, weil die Nichtidentität von Subjekt und Objekt keine Identität von Erfahrung und Begriff erlaubt, braucht es die Theo‑ rie als disziplinierende Gegenkraft in der geistigen Erfahrung: Theorie ist nicht der geistigen Erfahrung entgegengesetzt, sondern ist innerhalb ihrer der Gegen‑ part ihres bloß zufälligen Moments. Geistige Erfahrung ist selbst bereits die Vermittlung von Theorie und Erfahrung. Bisher wurde diese Vermittlung bloß auf der einen Seite betont, indem geistige Erfahrung definiert wurde als Ein­ gehen der Erfahrung in die Kategorien. Ebenso aber ist Erfahrung vermittelt durch das Argument, durch Denken und wird erst dadurch geistig. In der Ein372 Adorno: 373 Ebd. 374 

Negative Dialektik, S.  40.

Ebd., S.  41.

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3.  Reprise: Elemente einer materialistischen Theorie des Geistes

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führung in die Dialektik bestimmt Adorno die Rolle des Denkens in Bezug auf die Erfahrung als „die einer Art von disziplinierender Gegenkraft zur der le‑ bendigen Erfahrung“.375 Die Rolle des Denkens ist dieselbe, welche die Kon­ struktion gegenüber dem Ausdruck annimmt; sie ist die Gegenkraft zum Be‑ dürfnis, zum Motivierenden, zum voluntativen Element, das nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt durch diese Gegenkraft Stringenz und Überzeugung erlangen kann. In der Vorlesung Fragen der Dialektik fasst Adorno das Verhält‑ nis von Argument/Denken/Theorie und Ausdruck/Erfahrung zusammen: Man könnte sagen, dialektische Philosophie ist eine solche, die sich bewegt in der Span‑ nung zwischen zwei Momenten, dem einen, das ich als Moment der Stringenz, der Bün‑ digkeit, der Notwendigkeit bezeichnen möchte, und dem anderen, dem Moment des Ausdrucks oder der Erfahrung, und wenn Sie verstehen wollen, was eigentlich der Im‑ puls ist, dialektisch zu denken, dann ist es der auf der einen Seite, das Denken selber, die Stringenz, also die ganze Sphäre, die bei Kant das Notwendige und das Allgemeine heißt, selber wesentlich zu machen, zu dem zu bringen, daß sie die Sache selbst begreift, anstatt daß sie bloß die Formen bestimmt, in welche Sachen subsumiert werden, daß sie aber auf der anderen Seite ebenso danach ausgeht, dieses Moment der Erfahrung oder des Ausdrucks, das als Bedürfnis im Philosophieren zentral ist, dadurch zu erretten, daß es selber nun dem Moment der Stringenz, der Konstrolle [sic], der verpflichtenden und bündiger Einsicht kommensurabel gemacht wird.376

Die Beziehung von Theorie und Erfahrung macht sich mithin in zwei Richtun‑ gen geltend: Theorie ist die disziplinierende Gegenkraft zur Erfahrung und soll sie ihres rhapsodischen Charakters entledigen, ihr Notwendigkeit und Allge‑ meinheit verleihen, indem sie sie in eine argumentativ begründete und bündig nachvollziehbare Form bringt. Zugleich ist Erfahrung in die Theorie eingegan‑ gen, insofern diese sich nicht bei formalen Operationen befriedigt, sondern ver‑ sucht, das Erfahrene dem Begriff zukommen zu lassen und dadurch die forma‑ len Operationen dem Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, unterzuord‑ nen. Adorno fasst in der Negativen Dialektik die Verbindung zwischen den zwei Stellungen des Bewusstseins als „Kritik“ und nicht als „Kompromiß“.377 Theorie ist Kritik der Erfahrung, weil die Erfahrung sich nun ausweisen muss; sie muss sich den Regeln der Logik, der Unterscheidungen von gültigen und ungültigen Argumenten, von zulässigen und unzulässigen Schlüssen stellen. Erfahrung ist als Erfahrung von Leid ihrerseits Kritik an einer Erkenntnis, die formale Richtigkeit auf Kosten des Bezugs zur geschichtlich-gesellschaftlichen

375 Adorno:

Einführung in die Dialektik, S.  85. Fragen der Dialektik, Vo 8859. Vgl. eine ähnliche Stelle in der dritten Hegel‑ studie: “Das Ausdruckselement repräsentiert bei Hegel Erfahrung; das was eigentlich ans Licht möchte, aber anders als durchs begriffliche Medium, primär seinen Gegensatz, nicht hervortreten kann, wofern es Necessität erlangen soll.“ Adorno: „Skoteinos oder Wie zu lesen sei“, S.  367. 377 Adorno: Negative Dialektik, S.  42. 376 Adorno:

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

Realität fetischisiert und so zwar formal einwandfreie Schlüsse erlaubt, aber nicht mehr an die Realität heranreicht. Zweiter Einschub: Der Vorwurf des Elitismus Vor dem Hintergrund der Dialektik von Erfahrung und Theorie lässt sich der Vorwurf der elitären Gesinnung von Adornos Rekurs auf Erfahrung behan‑ deln. Am stimmgewaltigsten wurde diese Kritik in der jüngeren Vergangenheit von Schnädelbach vorgebracht, der sie mit einer Bilderbuchversion der erlö‑ sungsphilosophischen Lesart von Adornos Philosophie kurzschließt: Der „dogmatische Apriorismus“ werde stabilisiert „durch eine negative Elitetheo‑ rie, die nur den Randständigen und nicht ganz Angepassten ein Sensorium für die unmittelbaren Erfahrungen zuspricht, die allein zählen“.378 Dass die Beru‑ fung auf Erfahrungen, die nur Randständigen und nicht ganz Angepassten möglich sein soll, als elitär bezeichnet werden kann, ist Schnädelbach zu konze‑ dieren; auch Adorno würde das nicht leugnen. Erfahrung ist aber nur der An‑ satzpunkt von Adornos Philosophie; das Elitäre der Erfahrung muss sich an der Theorie als disziplinierender Gegenkraft der Erfahrung messen und löst sich in dieser Konfrontation auf. In der Einleitung der Negativen Dialektik heißt es dazu: „Elitärer Hochmut stünde der philosophischen Erfahrung am letzten an. Sie muß sich Rechenschaft darüber geben, wie sehr sie, ihrer Mög‑ lichkeit im Bestehenden nach, mit dem Bestehenden, schließlich dem Klassen‑ verhältnis kontaminiert ist.“379 Elitär ist Erfahrung nicht, weil Adorno ein be‑ sonders gescheiter Kopf ist, sondern weil seine Herkunft, seine finanzielle Un‑ abhängigkeit und seine behütete Kindheit ihm einen Bildungsstand und eine geistige Disposition ermöglichten, die ihn dazu befähigten, die Erfahrungen zu machen, die in seine Philosophie eingehen. In anderen Worten: Adorno ver‑ langt von seiner Fähigkeit zur Erfahrung, dass sie ihr eigenes Privileg aus der Gesellschaft versteht, die ihm das Privileg der Erfahrung nur gewähren konnte, indem sie am anderen Ende durch Ausbeutung die geistige Disposition ver‑ kümmern ließ.380 Die Schuld des Privilegs wird abgetragen, indem Erfahrung geistig wird, sich in Theorie objektiviert. Damit begibt sie sich in Begründungs‑ zusammenhänge, wird allgemein, von jedem nachvollziehbar, sie wird kritisier‑ bar und diskutierbar.

378 

Schnädelbach: „Adorno und die Geschichte“, S.  142. Negative Dialektik, S.  52. 380  Zu Recht gibt Honneth an dieser Stelle zu bedenken, dass bereits die Prämisse, das heißt: die „soziologische Behauptung, der zufolge die Mehrheit der Subjekte aufgrund von Tendenzen des Persönlichkeitsverlustes zu qualitativer, aufmerksamer Erfahrung nicht mehr in der Lage ist“, nicht ohne Weiteres konzediert werden kann. Empirisch, so meint er, spräche wenig dafür. Vgl. Honneth: „Gerechtigkeit im Vollzug“, S.  107. 379 Adorno:

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3.  Reprise: Elemente einer materialistischen Theorie des Geistes

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Dritter Einschub: Die Frage des Standpunkts Der Standpunkt von Adornos Theorie wurde bestimmt als der des materialis­ tischen Subjekts; dessen Doppelcharakter – es ist zugleich empirisches Indivi‑ duum und Subjekt der Erkenntnis – erlaubt Adorno die Paradoxie eines Stand‑ punkts inner- und außerhalb der Totalität konsistent zu denken. Denn die To‑ talität ist nichts anderes als die begriffliche Totalität konstitutiver Subjektivität; als konstitutive Subjektivität steht das materialistische Subjekt immer innerhalb der begrifflichen Totalität; als empirisches Individuum überschreitet es diese Totalität in seinen Impulsen, seinen somatischen Reaktionsformen. Innerhalb der Totalität ist es Denken, Theorie; außerhalb ist es Erfahrung. Als Stand‑ punkt ist diese Erfahrung in gewissem Sinne arbiträr. Sie ist ja bloß der Stand‑ punkt eines Individuums, der vor den Standpunkten anderer Individuen zu‑ nächst nichts voraushat. Auch um dieser Zufälligkeit ledig zu werden, braucht Erfahrung die disziplinierende Gegenkraft der Theorie. Die Theorie wiederum gewinnt ihre normativen Grundlagen aus der Erfahrung von realem Leid, das vor jeder diskursiven und rationalen Behandlung normativ aufgeladen ist; die‑ ser Rekurs auf die normative Kraft somatischen Leidens kann weder als perfor‑ mativer Widerspruch noch als „hemmungslos[e] Vernunftskepsis“ abgetan wer‑ den, so dass sich tatsächlich mit der Durchdringung von Theorie und Erfah‑ rung die „normativen Grundlagen“ der Kritik, wie Habermas es fordert, „so tief legen lassen“, dass sie der Kritik einen Boden bieten.381 In seiner Orientie‑ rung an formalen Bedingungen der Kritik hat Habermas weder die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass die Erfahrung realen Leidens als normative Orientie‑ rung dienen kann, noch berücksichtigt, dass der Rekurs auf diese Erfahrung sich nicht als formale Rahmenbedingung ausweisen lässt. Das liegt hinter der in drei Texten der 80er Jahre – Theorie des kommunikativen Handelns; Der philosophische Diskurs der Moderne; „Nachwort von Jürgen Habermas“ zur Dialektik der Aufklärung – kanonisierten Verzerrung der reifen Theorie Adornos. Erstaunlich ist nicht so sehr die Schwäche der Interpretation, sondern der Um‑ stand, dass die exegetischen Schwächen scheinbar Hand in Hand gehen mit der Konzentration auf die formalen Rahmenbedingungen der Gesellschaftstheorie. 1963, als die Theorie des kommunikativen Handelns noch in weiter Ferne lag, bereitete Adornos Rekurs auf Leiden und auf eigene Erfahrung Habermas noch keine Probleme. So schreibt er hinsichtlich der Unmöglichkeit einer Formalisie‑ rung des Standpunkts subjektiver Erfahrung: „Der Gedanke, der in eine Sache gerade darum eindringt, weil er den Resonanzboden des Subjekts, von dem er ausgeht, in seine Schwingungen mitaufnimmt, kann die eigene logische Genesis nicht regelrecht ausweisen.“382 Und der Text schließt mit dem Satz: „Wenn die 381 Habermas:

Der philosophische Diskurs der Moderne, S.  156. Habermas, Jürgen: „Ein philosophierender Intellektueller“, in: ders.: Philosophisch-Politische Profile. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1987, S.  160–166, hier S.  162. 382 

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Kapitel 2:  Eine Theorie der geistigen Erfahrung

Kraft analytischer Einsichten dem Leiden gleich ist, aus dessen Erfahrung sie stammen, dann ist das Maß der Verletzbarkeit und der Verletztheit Adornos philosophisches Potential.“383 Treffender könnte man den Standpunkt der kriti‑ schen Theorie Adornos kaum bestimmen. Die dialektische Beziehung von Erfahrung und Theorie macht den Begriff geis‑ tiger Erfahrung aus. Geistige Erfahrung ist somit nicht bloß als integrales Mo‑ ment negativer Dialektik zu verstehen; negative Dialektik ist nichts anderes als durchgeführte geistige Erfahrung, der Versuch, Form und Inhalt in wechselsei‑ tiger Durchdringung zu denken, ohne Form auf Inhalt oder Inhalt auf Form zu reduzieren. Negative Dialektik denkt die Nichtidentität von Theorie und Er‑ fahrung in deren Vermittlung. Was Adorno im Aufsatz Erfahrungsgehalt von der hegelschen Dialektik sagt, gilt umso mehr für die negative Dialektik, weil diese nicht mehr unter der These des Idealismus steht: „Sie bezieht den allge‑ meinen Begriff und das begriffslose τόδε τι – wie vielleicht schon Aristoteles die πρώτε οὐσία – je in sich selbst auf ihr Gegenteil, eine Art permanenter Explosi‑ on, zündend in der Berührung der Extreme.“384 Die Extreme aber sind die reale Erfahrung des geschichtlich angewachsenen Leidens und die höchsten Begriffe der überlieferten Philosophie: V1-Raketen und Vernunft, Auschwitz und das Absolute. Der Rekurs auf die traditionellen Begriffe ist dabei „unumgänglich“, wie Adorno in den Paralipomena der Ästhetischen Theorie betont: Die Beziehung auf die traditionellen Kategorien aber ist unumgänglich, weil allein die Reflexion jener Kategorien es erlaubt, die künstlerische Erfahrung der Theorie zu­ zubringen. In der Veränderung der Kategorien, die solche Reflexion ausdrückt und ­bewirkt, dringt die geschichtliche Erfahrung in die Theorie ein. Durch die historische Dialektik, welche der Gedanke in traditionellen Kategorien freisetzt, verlieren diese ihre schlechte Abstraktheit, ohne doch das Allgemeine zu opfern, das dem Gedanken inhäriert.385

Was Adorno hier für die künstlerische Erfahrung und die ästhetischen Katego‑ rien geltend macht, motiviert auch das Konzept geistiger Erfahrung. Erst die Reflexion auf die traditionellen Kategorien macht es möglich, die geschichtliche Erfahrung in die Theorie eingehen zu lassen. Philosophie kann nur noch als ihre Selbstkritik bestehen, weil nur durch Selbstkritik das Potential der überlie‑ ferten Kategorien über ihren eigenen geschichtlichen Horizont erweitert und in die Gegenwart eingeholt werden kann.

383 

Ebd., S.  166. Adorno: „Erfahrungsgehalt“, S.  319. 385 Adorno: Ästhetische Theorie, S.  393. 384 

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Kapitel 3

Metaphysik und Geschichte Einleitung Mögen die Beurteilungen von Adornos Geschichtsphilosophie noch so unter‑ schiedlich ausfallen, so sind sie sich zumindest darin einig, dass die Geschichts‑ philosophie in Adornos Denken eine zentrale Stellung einnimmt. Schmid Noerrs Satz, Adornos Philosophie sei „durch und durch Geschichtsphiloso‑ phie“,1 ist keine Übertreibung. Wie die hegelsche ist Adornos Philosophie ge‑ schichtlich auch dort, wo es vordergründig nicht um Geschichte geht. Die Dop‑ pelstruktur – Geschichte als Gegenstand des Denkens und das Denken als ge‑ schichtliches – lässt sich nicht auf die These reduzieren, Adornos Denken beruhe auf bestimmten geschichtsphilosophischen Grundlagen; Geschichte muss vielmehr als Element verstanden werden, in das dieses Denken eingelassen ist. Es ist nachdrücklich vom Anspruch getragen, die geschichtlichen Erfahrun‑ gen und die Erfahrung von Geschichte in sich aufzunehmen und denkend zu bewältigen. Der Einschnitt, der dem gesamten reifen Werk von Adorno seinen Stempel aufdrückt, ist der mit Auschwitz markierte Zivilisationsbruch. Für das Verständnis von Adornos Begriffen ist diese Einsicht grundlegend. Das mag erklären, warum im Folgenden Adornos Metaphysik- und Ge‑ schichtsmodell in einem Kapitel behandelt werden. Auch im Metaphysikmodell ist Adornos Denken durch und durch geschichtlich: Es beginnt mit einer Refle‑ xion auf den geschichtlichen Stand der Metaphysik und sowohl die Rettung als auch die Solidarität mit der Metaphysik, die Adorno in diesem Modell gleicher‑ maßen vollziehen will, gelingen nur in einer geschichtsphilosophischen Pers‑ pektive. Weil die Metaphysik traditionell mehr als andere Gebiete der Philoso‑ phie sich gerade in der Abkehr vom Geschichtlichen konstituiert, ist zu erwar‑ ten, dass sich die Pointe von Adornos Metaphysikbegriff erst dann erfassen lässt, wenn er in ständigem Bezug zum Geschichtsbegriff gedacht wird. So ste‑ hen in diesem Kapitel drei Momente zur Diskussion: 1) der Geschichtsbegriff Adornos; 2) die Geschichtlichkeit von Adornos Denken; 3) der Metaphysikbe‑ griff. Textgrundlage sind primär die beiden letzten Modelle der Negativen Dialektik: „Weltgeist und Naturgeschichte. Exkurs zu Hegel“ und „Meditationen

1 

Schmid Noerr: „Bloch und Adorno – bildhafte und bilderlose Utopie“, S.  50.

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

zur Metaphysik“.2 Beide Modelle haben in der Sekundärliteratur nicht selten für Kopfzerbrechen gesorgt; nicht zuletzt lag das daran, dass die Modelle je‑ weils isoliert voneinander und nicht in ihrem Wechselspiel untersucht wurden. Das Geschichtsmodell litt lange Zeit unter dem Vorurteil, Adornos Ge‑ schichtsphilosophie sei bereits in der Dialektik der Aufklärung entfaltet; das Modell muss aus dieser Perspektive als bloßes Exerzitium erscheinen. Seit dem Jubiläumsjahr 2003 aber ist das Modell zunehmend auch als eigenständiger Text untersucht worden – so von Sandkaulen und Schnädelbach; beide kommen zu keinem positiven Ergebnis. Bei Schnädelbach ist das vernichtende Urteil über Adornos Geschichtsphilosophie dem weitgehenden Verzicht auf sachliche Aus‑ einandersetzung zugunsten bloßer Polemik zu verdanken. „Adorno und die Geschichte – das ist Geschichte“3 lautet das Aperçu, in dem Schnädelbachs Un‑ tersuchung gipfelt. Sachlich verdankt sich sein Urteil der These, dass die Dialektik der Aufklärung die Geschichtsphilosophie Adornos bereits enthalte und dass die Geschichte in der Negativen Dialektik gar nicht mehr vorkomme. In der Tat wird damit ein fragwürdiger Punkt des Modells getroffen: Adorno redet in der Negativen Dialektik, wie Schnädelbach mit Recht betont, „gar nicht von der Vergangenheit, sondern unablässig von der Gegenwart“; deshalb sei Ador‑ nos Geschichtsphilosophie eine „Geschichtsphilosophie ohne Geschichte“.4 Verstehen wir aber die Negative Dialektik nicht bloß als Weiterführung der Dialektik der Aufklärung, sondern – bezogen auf den Geschichtsbegriff – als Metareflexion auf das Konzept der Geschichte, das der narrativen Geschichts‑ philosophie der Dialektik der Aufklärung zugrundeliegt, so lässt sich in Ausei‑ nandersetzung mit Schnädelbachs Thesen zeigen, dass Adornos Geschichtsphi‑ losophie es durchaus mit Geschichte zu tun hat und dass sie keineswegs Ge‑ schichte ist. Obwohl Sandkaulen Adorno auch nicht gerade wohlgesinnt ist, geht es in ihrem Text doch ungleich sachlicher zu. Dennoch kommt auch sie zu einem negativen Resultat. Weil sie die Hegelkritik Adornos in den Fokus rückt und zum Schluss kommt, diese sei „als Kritik an Hegel [. . .] grotesk“, erschließt sich ihr der von Adorno konstruierte Geschichtsbegriff nicht. So kann sie auch im zweiten Leitbegriff des Modells – dem der „Naturgeschichte“ – keinen Beitrag zur Sache erkennen: „Der letzte Abschnitt zur ‚Naturgeschichte‘ fügt dem nichts Neues hinzu.“, lautet Sandkaulens Fazit.5 Diese Schlussfolgerung muss im Hinblick auf den Titel des Modells, in dem „Weltgeist“ und „Naturgeschich‑ te“ auf Augenhöhe genannt werden, unzureichend erscheinen. Tatsächlich ist Adornos eigentliche Geschichtsphilosophie im marxschen Konzept der Natur‑ geschichte zu suchen. Wer diese These vertritt, muss freilich eine Antwort auf 2 Adorno:

Negative Dialektik, S.  295 ff.; 354 ff. Schnädelbach: „Adorno und die Geschichte“, S.  146. 4  Ebd., S.  134. 5  Sandkaulen: „Modell 2“, S.  186. 3 

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Einleitung

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die Frage geben können, warum die Naturgeschichte, wenn sie doch Adornos eigentliche Geschichtsphilosophie darstellt, im Modell nur auf wenigen Seiten entwickelt wird, während der größte Teil des Modells unter dem Leitbegriff „Weltgeist“ steht. Die Antwort, Adorno entlarve am Schluss des Modells den Weltgeist als die „Ideologie der Naturgeschichte“,6 wirft ihrerseits die Frage auf, warum der Weltgeist als ideologischer Begriff einen so breiten Raum einneh‑ men darf. Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich das Geschichtsmodell in ge‑ trennten, an den beiden Leitbegriffen orientierten Abschnitten behandeln; zwar wird im Abschnitt „Weltgeist“ dieser Begriff auch schon in der Fluchtli‑ nie der Naturgeschichtskonzeption gelesen, aber doch immer unter der Frage, was Adorno am Begriff „Weltgeist“ bis zum Schluss des Modells festhalten lässt. Es zeigt sich, dass der Begriff einen bestimmten Erfahrungsgehalt aus‑ drückt, der in anderen Geschichtsbegriffen verloren geht. Dabei lässt sich auch eine aus den ersten beiden Kapiteln mitgeschleppte Frage beantworten. Im ers‑ ten Kapitel sind wir zum Schluss gekommen, Adornos Kritik der spekulativen Identität Hegels und der These von der Vernünftigkeit des Wirklichen markie‑ re eher eine geschichtsphilosophische als eine systematische Differenz; das ver‑ bindet sich mit der im zweiten Kapitel geäußerten These, Hegels Philosophie könne die Negativität der Geschichte nicht bewältigen. Anhand von Adornos Kritik der hegelschen Geschichtsphilosophie sollen sich diese Thesen verifizie‑ ren (1. Weltgeist). Der Naturgeschichtsabschnitt macht dann den Übergang zur Naturgeschichtskonzeption, die als Adornos eigentliche Geschichtskonzeption zu verstehen ist. Näher betrachtet zeigt sich, dass die beiden Abschnitte, die dem Begriff der Naturgeschichte gewidmet sind, nur dem Begriff nach zusam‑ mengehören; der Sache nach weisen sie in verschiedene Richtungen. Der erste Abschnitt, dem Begriff der Naturgeschichte bei Marx gewidmet, schließt die Reflexion auf den Geschichtsbegriff ab; der zweite, an der Naturgeschichts‑ konzeption Benjamins orientiert, vollzieht den Übergang von der Geschichte zur Metaphysik. Der Begriff der Naturgeschichte ist deshalb auch als Junktim zwischen dem Geschichts- und dem Metaphysikmodell zu verstehen. Als sol‑ ches steht Naturgeschichte zugleich für die Geschichtlichkeit von Adornos Denken, die sich in der Spannung von Negativität und Utopie bewegt. Erst hier wird der Gehalt der These, negative Dialektik sei nur als Geschichtsphiloso‑ phie möglich, in vollem Umfang greifbar (2. Naturgeschichte). Der Abschnitt zum Metaphysikmodell baut auf den Ergebnissen der beiden vorhergehenden Abschnitte auf und versucht, nahe am Argumentationsgang des dritten Mo‑ dells die Bedeutung der Metaphysik für das Konzept einer negativen Dialektik zu erschließen (3. Metaphysik).

6 Adorno:

Negative Dialektik, S.  350.

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

1. Weltgeist Mit dem Weltgeist stellt Adorno einen der exponiertesten Begriffe Hegels ins Zentrum seiner Auseinandersetzung mit der hegelschen Geschichtsphiloso‑ phie. Mehr als jeder andere hat dieser Begriff eine beinahe schon instinktive Ablehnung der hegelschen Philosophie hervorgerufen. In keinem zweiten Be‑ griff drückt sich das Abstoßende der hegelschen Geschichtsphilosophie so deutlich aus wie im Weltgeist, der zu seinen Ehren die Individuen auf der Schlachtbank der Geschichte opfert. So scheint es befremdlich, dass Adorno diesen Begriff zu einem der beiden Leitbegriffe seiner Geschichtsphilosophie erhebt. Zu einer Theoretisierung von Geschichte scheint er nicht geeignet; eine Hegelkritik an ihm aufzuhängen, war bereits zu Adornos Zeiten überholt. Den‑ noch versucht Adorno auf gewisse Weise beides: die Geschichte als Weltgeist zu deuten und dennoch über den Begriff des Weltgeistes die hegelsche Philosophie zu kritisieren. Die beiden Momente sind nur in ihrer wechselseitigen Durch‑ dringung zu fassen. Denn der Begriff des Weltgeistes, der die Geschichte be‑ schreiben soll, ist der in der Kritik an Hegel gewonnene. Deshalb gilt es, diese Kritik nachzuzeichnen und zu differenzieren. Obwohl das zweite Modell be‑ reits vom materialistischen Standpunkt, der im zweiten Teil der Negativen Dialektik erreicht wird, ausgeht, verabschiedet Adorno den Weltgeist nicht als Begriffsmythologie; vielmehr beginnt er seine Behandlung der hegelschen Ge‑ schichtsphilosophie mit einer Verteidigung der Konzeption des Weltgeistes ge‑ gen positivistische Kritik. Im Licht der These, dass Adornos eigentliche Geschichtsphilosophie das auf Marx aufbauende Konzept der Naturgeschichte ist und vor dem Hintergrund der Umkehrung der hegelschen Geschichtsphilosophie durch Marx, in der die Geschichte, wie es so schön heißt, vom Kopf auf die Füße gestellt wird, ist zu fragen, warum Adorno noch an einem so idealistischen Konzept wie dem Welt‑ geist festhält. Denn gerade durch dieses Festhalten kann Adornos Geschichts‑ philosophie nicht allein als materialistische Umkehrung im Gefolge Marxens verstanden werden. Einleuchtend ist, wie Schnädelbach sagt, dass Adorno seine Hegelkritik „nicht als philologischen Ausflug, sondern als unmittelbaren Bei‑ trag zur Sache“ verstand; solange man aber nicht Schnädelbachs Abfertigung Glauben schenkt, dass sich durch diese Hegelkritik „das Gesamtbild“ nicht än‑ dere,7 ist es geboten, diesem Beitrag zur Sache nachzugehen. Dass Adornos Kri‑ tik an der hegelschen Rechts- und Geschichtsphilosophie von Verkürzungen geprägt ist, die drohen, den Gehalt seiner Kritik zu verwischen, erschwert die Aufgabe zusätzlich. Das bedingt, dass die Rekonstruktion der Kritik der hegel‑ schen Geschichtsphilosophie nicht streng dem Verlauf des Textes folgen kann. Vielmehr möchte ich versuchen, die gehaltvollen Kritikpunkte zu einer Argu‑ 7 

Schnädelbach: „Adorno und die Geschichte“, S.  144.

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1. Weltgeist

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mentationslinie zu rekonstruieren, in der mir die Kritik an der hegelschen Ge‑ schichtsphilosophie durchführbar erscheint. Folgendes Vorgehen bietet sich an: Adornos Ansatz bei der subjektiven Er‑ fahrung von Geschichte zeigt, welches die Anforderungen an den Geschichts‑ begriff sind, der diese Erfahrung ausdrücken soll (I); von diesen Anforderun‑ gen her lässt sich Adornos Kritik der hegelschen Geschichtsphilosophie rekon‑ struieren (II); schließlich wird aus dieser Kritik verständlich, inwiefern der Weltgeist für Adorno ein geschichtsphilosophisch relevanter Begriff ist: Ador‑ no will mit ihm nicht nur erklären, warum Geschichte sich scheinbar gegenüber den Individuen verselbständigt hat, sondern er will mit diesem Begriff auch am hegelschen Konzept der Universalgeschichte festhalten (III).

I.  Geschichte und Erfahrung Die doppelte Perspektive des zweiten Modells, zugleich eine Kritik der hegel‑ schen Geschichtsphilosophie zu formulieren und dadurch zu einem adäquaten Begriff von Geschichte zu kommen, geht in beiden Stoßrichtungen von der in‑ dividuellen Erfahrung aus; in beiden Dimensionen soll der Rekurs auf die Er‑ fahrung es ermöglichen, dieser Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Geht es um einen adäquaten Begriff von Geschichte, so bemisst sich dessen Angemessen‑ heit an die Geschichte gerade daran, ob er der individuellen Erfahrung von Ge‑ schichte gerecht werden kann; geht es um die Hegelkritik, dann wird der Re‑ kurs auf individuelle Erfahrung zum Einspruch gegen eine Geschichtsphiloso‑ phie, die das Leiden im Begriff zu versöhnen sucht. Wenn auch die beiden Linien letztlich konvergieren, ist es ratsam sie zunächst getrennt zu verfolgen: die Erfahrung zu behandeln, die im Weltgeist ausgedrückt sein soll (a) und an‑ schließend über den Rekurs auf das Leid den Zusammenhang von Negativität und Objektivität in der Reflexion auf Geschichte zu rekonstruieren (b). a.  Geschichte als Weltgeist In Adornos Aneignung des hegelschen Weltgeistes lässt sich die Interdependenz von Theorie und Erfahrung, die das Konzept geistiger Erfahrung ausmacht, modellhaft ablesen. So beginnt das zweite Modell mit dem Rekurs auf die sub‑ jektive Erfahrung der Geschichte: „Wogegen der durch seine Gesundheit er‑ krankte Menschenverstand am empfindlichsten sich sträubt, die Vormacht ei‑ nes Objektiven über die einzelnen Menschen, in ihrem Zusammenleben so wie in ihrem Bewußtsein, das läßt täglich kraß sich erfahren.“8 Mithin wird das Konzept geistiger Erfahrung im zweiten Modell bereits vorausgesetzt; 9 das be‑ 8 Adorno: 9  Deshalb

Negative Dialektik, S.  295. kann es gerade nicht, wie Sandkaulen meint, die Aufgabe des zweiten Modells

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deutet aber auch, dass die bloß subjektive Erfahrung nur der Ansatz von Ador‑ nos Geschichtsphilosophie ist, nicht ihr Resultat oder ihr „Beleg“.10 Der Welt‑ geist wird von Adorno eingeführt, weil er die subjektive Erfahrung von Ge‑ schichte eher auszudrücken vermag als eine Konstruktion, die Geschichte bloß als Anhäufung von Fakten versteht: Der Hegelsche objektive und schließlich absolute Geist, das ohne Bewußtsein der Men‑ schen sich durchsetzende Marxische Wertgesetz ist der ungegängelten Erfahrung evi‑ denter als die aufbereiteten Fakten des positivistischen Wissenschaftsbetriebs, der heute ins naive vorwissenschaftliche Bewußtsein hinein sich verlängert; nur gewöhnt dieser, zum höheren Ruhm von Objektivität der Erkenntnis, den Menschen die Erfahrung der realen Objektivität ab, der sie, auch in sich selbst, unterworfen sind.11

Damit ist nicht gesagt, dass Geschichte Weltgeist ist, sondern dass die subjektive Erfahrung von Geschichte diese eher als objektive Tendenz, denn als bloße An‑ häufung von Fakten erfährt. Dieser Erfahrung kommt eine gewisse Allgemein‑ gültigkeit zu; sie ist das, was, so Adorno in Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, „jeder erfährt, wenn er in die Geschichte und zumal wenn er in sogenannte große Zeiten hineingerät wie in einen Mahlstrom“.12 Geschichte wird von denen, die in ihr sind, zunächst als objektive Tendenz erfahren, die sich unabhängig von ihnen über ihren Köpfen ereignet. Diese Erfahrung, so Adornos Überlegung, ist im Begriff des Weltgeistes ei‑ nigermaßen adäquat ausgedrückt. Wie bereits der Titel des zweiten Abschnitts, „Zur Konstruktion des Weltgeistes“,13 anzeigt, stellt der Begriff des Weltgeistes eine Konstruktion dar, nämlich eine Konstruktion der sich dem Individuum sein, Adornos Standpunkt auszuweisen, da dieser Standpunkt die Grundlage der folgenden Ausführungen ist. Vgl. Sandkaulen: „Daß Adorno den Standpunkt nicht ausweisen kann, von dem aus er spricht, ist ein bekannter, insbesondere gegen die Dialektik der Aufklärung erho‑ bener Einwand. Ihn zu widerlegen, wäre das Modell 2 der rechte Ort. Im Gegenteil hat sich hier nun aber gezeigt, daß Adorno ihm strukturell ausgeliefert ist. Denn mit der Aufspaltung des Hegelschen Konzepts in Weltgeist und Freiheit scheitert die einzige Alternative, die er gegenüber Hegel wirklich ergreift, notwendig daran, daß er der alles entscheidenden ‚Wech‑ selbestimmung‘ der Vernunft nun weder mehr folgen noch ihr etwas anderes entgegensetzen kann.“ Sandkaulen: „Modell 2“, S.  176 f. Sandkaulen stellt die Sache von den Füßen auf den Kopf: Es soll nicht vom Begriff des Weltgeistes her der „Standpunkt“ Adornos ausgewiesen werden, sondern von diesem, nämlich dem Standpunkt des Individuums her, dessen Nach‑ weis Adorno in der Einleitung der Negativen Dialektik vollbringt, soll der Begriff des Welt‑ geistes ausgewiesen werden. 10  Schnädelbach dagegen reduziert diesen Erfahrungsbegriff auf das „Lieblingstopos der intuitionistischen Lebensphilosophie wie der Heideggerschule“ und meint Adorno versuche, „diese primäre Erfahrung unmittelbar als Beleg einer dialektischen Einsicht in das Wesen oder Unwesen oder Unwesen [sic] das [sic] Ganzen zu erheben“, was mit ein Grund dafür ist, dass er die Bedeutung der Geschichte bei Adorno verfehlen muss. Schnädelbach: „Adorno und die Geschichte“, S.  140 f. 11 Adorno: Negative Dialektik, S.  295. 12 Adorno: Geschichte und Freiheit, S.  17. 13 Adorno: Negative Dialektik, S.  297 ff.

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gegenüber verselbständigenden Totalität: „Der Weltgeist ist, aber ist keiner, ist nicht Geist, sondern eben das Negative, welches Hegel von ihm abwälzte auf diejenigen, die ihm parieren müssen und deren Niederlage das Verdikt, ihre Differenz von der Objektivität sei das Unwahre und Schlechte, verdoppelt.“14 Der Weltgeist ist kein Weltgeist im Sinne eines selbstbewussten Subjekts der Geschichte; dennoch ist der Weltgeist, nämlich als die sich über die Individuen hinwegsetzende Geschichte. Aber selbst dieser Begriff des Weltgeistes ist Ador‑ no noch zu fetischistisch. So sagt er an späterer Stelle: „Geschichte hat bis heute kein wie immer konstruierbares Gesamtsubjekt. Ihr Substrat ist der Funktions‑ zusammenhang der realen Einzelsubjekte.“15 Die damit vollzogene materialis‑ tische Umdeutung ist, ganz in der Linie der an dieser Stelle von Adorno zitier‑ ten Kritik von Marx und Engels,16 als Spitze gegen Hegels Geschichtsphiloso‑ phie zu verstehen, die den Menschen zum Handlanger einer sich listig durchsetzenden Vernunft erniedrigt. So wäre es hier nur konsequent, den Be‑ griff des Weltgeistes, der doch als personifizierte Geschichte gerade dieses Mo‑ ment der Herabsetzung der Menschen zu Handlangern der Geschichte aus‑ drückt, fallen zu lassen. Für Adorno aber wird der Umstand, dass der Weltgeist die Übermächtigkeit der Geschichte gegenüber den Individuen ausdrückt, zum Grund, an diesem Begriff festzuhalten. Dass er gegen die nominalistische Entleerung des Begriffs „Geschichte“ ausdrückt, wie sehr die Menschen bis heute nicht Herren, sondern Opfer der Geschichte sind, macht den Wahrheitsgehalt des Weltgeistes aus. Ausgerechnet das die wirkliche Geschichte scheinbar mystifizierende Konzept des Weltgeistes rückt in den Mittelpunkt, weil es ausdrückt, dass nicht bloß die große Masse der Menschen Opfer der Geschichte ist, sondern gerade die so ge‑ nannten großen Männer, die gerne zu den Machern der Geschichte stilisiert werden, auch als welthistorische Individuen der Dynamik der Geschichte un‑ terstehen und nicht über sie verfügen. Der Begriff des Weltgeistes markiert kei‑ nen unzeitgemäßen Hegelianismus, sondern ist ein kritischer Begriff in zweifa‑ cher Hinsicht: Er ist Kritik am vorherrschenden Positivismus, der von einer Übermacht der Geschichte über die Menschen nichts hören will, und zugleich Kritik an dieser Übermacht der Geschichte selbst, mithin Kritik an einer Ein‑ richtung der Gesellschaft, die diese Übermacht der Geschichte produziert und perpetuiert. Insofern greift Schnädelbach zu kurz, wenn er meint, Adorno ver‑ 14 

Ebd., S.  298. Ebd., S.  299. 16 „Die Geschichte tut nichts, sie ‚besitzt keinen ungeheuren Reichtum‘, sie ‚kämpft keine Kampfe‘! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, be‑ sitzt und kämpft; es ist nicht etwa die ‚Geschichte‘, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre – als ob sie eine aparte Person wäre – Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen.“ Marx, Karl und Engels, Friedrich: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, MEW 2, S.  3 –223, hier S.  98; vgl.: Ador‑ no: Negative Dialektik, S.  299. 15 

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binde in seiner Geschichtsphilosophie Idealismus- und Gesellschaftskritik; vielmehr ist die Verbindung die von Gesellschaftskritik und Positivismuskritik und setzt eine materialistische und normative Umdeutung des idealistischen Konzepts des Weltgeistes voraus. Das Ergebnis ist somit auch nicht „ein negati‑ ver Hegelianismus, der ganz idealistisch bleibt“, wie Schnädelbach folgert,17 sondern eine Kritik, die eine materialistische Umdeutung des Weltgeistes vor‑ nimmt, ohne ihn nominalistisch zu verabschieden. Adorno versteht die Macht des Allgemeinen in der Geschichte im Anschluss an Marx als Bewegungsgesetz der Gesellschaft, das den Individuen als äußeres Zwangsgesetz erscheint. Dieser „antinominalistisch[e] Aspekt“18 ist zugleich Kritik an der realen Übermacht der Geschichte und Kritik desjenigen Denkens, das eine solche Übermacht leugnet: des Positivismus, dessen Kritik bei Adorno, wie Jameson und Andreas Hetzel bemerkt haben, nicht auf im engeren Sinne positivistische Philosophien beschränkt ist, sondern eher als Kritik von positivistischen Tendenzen zu ver‑ stehen ist, die sich heute nicht etwa aufgelöst, sondern eher noch verstärkt ha‑ ben.19 Adorno konzediert die Weite seines Positivismusbegriffs in einer Fuß­ note zu einer Einleitung zu Schriften Durkheims: Vorgebracht kann werden, der Terminus sei, wie es auf Neudeutsch heißt, allzu global gebraucht; fraglos gilt er für Durkheim nicht in der Bedeutung, die er im Wiener Kreis und dann der sogenannten analytischen Philosophie hatte, und von der wiederum Witt‑ genstein differiert. Legitim mag er sein nach dem einfachen Wortsinn des Positiven als des Vorhandenen, faktisch Gegebenen. 20

Mithin bezeichnet der Begriff „Positivismus“ die tendenzielle Ausrichtung an Fakten und die damit korrelierende Kritik an Begriffen, die auf Zusammenhän‑ ge gehen, die sich nicht als Fakten aufzeigen lassen. In diesem Sinne ist Adornos Konzept des Weltgeistes kritisch gegen einen Nominalismus gemünzt, der mit der Herabsetzung der Allgemeinbegriffe zum flatus vocis zugleich die reale Vormacht des Allgemeinen verdeckt. Als Ausdruck der realen Vormacht der Objektivität und der Erfahrung dieser Vormacht durch die Individuen ist der Begriff „Weltgeist“ bei Adorno immer auch als ironischer Begriff zu verstehen. Denn er drückt auch die Tendenz aus, die Erfahrung einer Vormacht der Verhältnisse zu affirmieren und sie so zu hypostasieren: Die Ideologie vom Ansichsein der Idee ist so mächtig, weil sie die Wahrheit ist, aber sie ist die negative; Ideologie wird sie durch ihre affirmative Umwendung. Sind die Men‑ schen einmal über die Vormacht des Allgemeinen belehrt, so ist es ihnen fast unumgäng‑ 17 

Schnädelbach: „Adorno und die Geschichte“, S.  138. Negative Dialektik, S.  299. 19 Jameson: Late Marxism, S.  89; Hetzel, Andreas: „Dialektik der Aufklärung“, in: Klein, Richard, Kreuzer, Johann und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, S.  389–397, hier S.  392. 20  Adorno: „Einleitung zu Emile Durkheim, ‚Soziologie und Philosophie‘“, S.  246. 18 Adorno:

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lich, sie als das Höhere, das sie beschwichtigen müssen, zum Geist zu transfigurieren. [. . .] Dessen mythische Verehrung ist keine pure Begriffsmythologie: sie zollt den Dank dafür, daß in den entwickelteren geschichtlichen Phasen alle Einzelnen lebten nur ver‑ mittels jener gesellschaftlichen Einheit, die in ihnen nicht aufging und die je länger je mehr ihrem Verhängnis sich annähert. 21

Im Begriff des Weltgeistes sind mithin drei Phänomene ausgedrückt: 1) Die re‑ ale, objektive Vormacht der gesellschaftlichen Bewegung; 2) die Erfahrung die‑ ser Vormacht durch die Individuen; 3) die Personifizierung und ideologische Affirmation dieser Vormacht. Besonders die beiden letzten Punkte machen die kritische und zugleich ironische Bedeutung des Weltgeistes aus: die Mystifika‑ tion des Primats des gesellschaftlichen Allgemeinen zum Geist und die ideolo‑ gische Verklärung desselben ins Affirmative. Weit davon entfernt, ein idealisti‑ sches Residuum zu sein, ist der Weltgeist an dieser Stelle ein dezidiert materia‑ listischer Begriff, ein gesellschaftlich produziertes falsches Bewusstsein: Ideologie, nicht mehr der „Geist der Welt“,22 sondern der sogenannte Weltgeist, wie es bereits bei Marx und Engels mit unverhohlener Ironie heißt.23 b.  Negativität und Objektivität der Geschichte Der Rückgriff auf den Standpunkt der subjektiven Erfahrung will nicht nur den „Bann des vulgären und seiner eigenen Voraussetzung nicht länger bewußten Idealismus“ kritisch durchleuchten; 24 Adorno rückt damit auch diejenigen Mo‑ mente in den Blick der geschichtsphilosophischen Reflexion, die Hegel als un‑ wichtig abtut: die Erfahrungen von Leid und Glück. Diese Restitution ist kein Selbstzweck, sondern der Ansatzpunk von Adornos Gegenentwurf zur hegel‑ schen Geschichtsphilosophie. Für Hegel ist der Standpunkt „des Glücks oder Unglücks“ in der Weltgeschichte der „Standpunkt der Erscheinung“, mithin ein für die Erkenntnis der Geschichte nicht maßgebender Standpunkt: „Die Welt‑ geschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.“25 Für Adorno dagegen steht auf den leeren Blätter der Geschich‑ te gerade das Entscheidende: Sie sagen nicht nur mehr aus als nominalistische Geschichtstheorien, die eine Objektivität der Geschichte höchstens als Konst‑

21 Adorno:

Negative Dialektik, S.  310. Rechtsphilosophie, S.  503, §  340. 23  „In der bisherigen Geschichte ist es allerdings ebensosehr eine empirische Tatsache, daß die einzelnen Individuen mit der Ausdehnung der Tätigkeit zur Weltgeschichtlichen immer mehr unter einer ihnen fremden Macht geknechtet worden sind (welchen Druck sie sich denn auch als Schikane des sogenannten Weltgeistes etc. vorstellten), einer Macht, die immer mas‑ senhafter geworden ist und sich in letzter Instanz als Weltmarkt ausweist.“ Marx, Karl und Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie, MEW 3, S.  5 –530, hier S.  37. 24 Adorno: Geschichte und Freiheit, S.  101. 25 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S.  41 f. 22 Hegel:

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ruktion zulassen, als eine „Art Soße“, wie er in einer Vorlesung sagt, 26 sondern auch mehr als die hegelsche Geschichtskonzeption, in der Glück und Unglück als Befindlichkeiten partikularer Standpunkte nicht in Betracht kommen. Die Erfahrung von Geschichte ist vornehmlich eine der Negativität, mithin des Unglücks; zwar gibt es auch Perioden des „Mit dem Weltgeist sein“, wie Adorno einen Abschnitt des Geschichtsmodells betitelt, 27 doch das Glück, mit dem Weltgeist zu sein, ist nicht eins mit der Erfahrung seiner Objektivität. Es ist bloß „der Abglanz eines Glücks weit über das individuelle Unglück hin‑ aus“.28 Mit dem Weltgeist zu sein heißt die utopischen Potentiale einer geschicht‑ lichen Epoche zu erkennen und an ihnen trotz ihrer Nichterfüllung festzuhal‑ ten. Damit wird der Weltgeist nur in seinen utopischen Potentialen, nicht als Ganzer erfahren: “Den Weltgeist als Ganzes erfahren jedoch heißt, seine Nega‑ tivität erfahren.“29 Die Korrelation von Objektivität und Negativität scheint den Vorwurf zu bestätigen, Adorno würde die Geschichte a priori auf Negati‑ vität festlegen; 30 eine solche Lektüre macht es sich, wie wir gesehen haben, zu leicht: Adorno denkt Leiderfahrung und Wahrheit insofern zusammen, als nur das Denken Anspruch auf Wahrheit erheben kann, das die reale Negativität der geschichtlichen Welt in seinen Begriffen ausdrückt. Für den Begriff der Ge‑ schichte heißt das, dass Adorno ein Konzept von Geschichte entwerfen muss, das auch den Opfern der Geschichte gemäß ist, indem es deren Leiden gerade nicht als für die Bewegung der Geschichte unerheblich abtut. Mithin zielt die Parallelisierung von Negativität und Objektivität auf eine Geschichtsphiloso‑ phie aus Sicht der Opfer. Diese Konzeption geht aber noch über den allgemei‑ nen Zusammenhang von Leid und Wahrheit, von Negativität und Objektivität hinaus. Sie betrifft, wie Adorno in den Vorlesungen zum Geschichtsmodell an‑ deutet, auch die Stellung des Theoretikers zur Geschichte: „Man kann eigent‑ lich erst die Objektivität der Geschichte gegenüber den vorgeblichen subjekti‑ ven Stilisierungen recht erfahren, seit man sich selber als ein potentielles Opfer weiß,– und das ist wirklich erst seit den Kriegen und den totalitären Herr‑ schaftsgestalten für den einzelnen Menschen in dieser Weise möglich gewe‑ sen.“31 Die Geschichte aus Sicht des Opfers ist somit die einzige Art der Ge‑ schichtsphilosophie, die dem Phänomen Geschichte in der Form, die es seit dem Zweiten Weltkrieg angenommen hat, gerecht werden kann. Die Geschichte aus Sicht der Opfer macht nicht eine bestimmte Klasse, son‑ dern jedes Einzelsubjekt zum potentiellen Subjekt geschichtlicher Erkenntnis. Das setzt voraus, dass der Erfahrung der Negativität von Geschichte eine ge‑ 26 Adorno:

Geschichte und Freiheit, S.  33. Negative Dialektik, S.  300 f. 28  Ebd., S.  300. 29 Ebd. 30  Schnädelbach: „Adorno und die Geschichte“, S.  142. 31 Adorno: Geschichte und Freiheit, S.  35 f. 27 Adorno:

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wisse Allgemeingültigkeit zukommt. Das bedeutet: Jedes Subjekt muss sich als potentielles Opfer der Geschichte verstehen können. Gerade liberale Kritiker versuchen der Geschichtsphilosophie Adornos an dieser Stelle zu widerspre‑ chen, indem sie darauf hinweisen, dass die Geschichte doch so schlimm nicht sein kann. „Es geht uns eigentlich gut, vergleichsweise sehr gut.“32 , meint Mar‑ tin Meyer und versteht das als gleichsam empirische Widerlegung von Adornos Geschichtsphilosophie. Selbst wenn Meyers Diagnose zuträfe, wäre sie kein Einspruch gegen Adornos Negativitätsbegriff: Mit Negativität, deren potentiel‑ les Opfer man ist, meint Adorno nicht „die Nöte der Existenz“, zu denen Meyer Neid und zu wenig Anerkennung zählt,33 sondern die schlimmsten geschichtli‑ chen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts: „Mit Barbarei meine ich nicht die Be‑ atles, obwohl ihr Kult dazu gehört, sondern das Äußerste: wahnhaftes Vorur‑ teil, Unterdrückung, Völkermord und Folter; darüber soll kein Zweifel sein.“34 Die Erfahrung, die Adorno in seiner Geschichtsphilosophie anvisiert, besteht darin, dass sich potentiell jeder Einzelne als Opfer dieses Äußersten erfahren kann. Potentiell heißt, dass nicht jeder Einzelne sich tatsächlich als mögliches Opfer erfährt, sondern: dass ein geschichtlicher Augenblick erreicht ist, in dem die objektiven Voraussetzungen dieser Erfahrungen zum ersten Mal für alle Menschen gelten. Gewiss, man könnte mit Verweis auf den demokratischen Rechtsstaat darauf bestehen, dass wir uns heute nicht im selben Sinne als poten‑ tielles Opfer von Folter und Völkermord erfahren, wie Adorno, der eine Haus‑ durchsuchung der Nazis erlebt hat; 35 es lässt sich aber nicht leugnen, dass mit der Atombombe eine Macht aufgetreten ist, mit der sich die historische Bühne schlagartig verändert hat. Der Satz von Günther Anders, die „Drohung mit dem Atomkrieg“ sei „totalitär“, denn sie „verwandelt die Erde in ein ausfluchtloses Konzentrationslager“,36 trifft genau den von Adorno an dieser Stelle gemeinten Sachverhalt. Die Erfahrung, um die es Adorno geht, ist die der vollkommenen Hilflosigkeit gegenüber den geschichtlichen Ereignissen; um die Erfahrung, dass die eigenen Handlungen in keiner Relation mehr zu dem stehen, was einem objektiv zustoßen kann. Es ist die Erfahrung einer Zeit, in der jeden Moment die Gestapo klingeln kann und im nachdrücklichen Sinn ist es die Erfahrung des Konzentrationslagers: die Erfahrung der Lagerinsassen, dass über sie, voll‑ 32  Meyer, Martin: „Apokalypse ohne Ende. Theodor W. Adornos ‚Minima Moralia‘“, in: Kohler, Georg und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2008, S.  119–129, hier S.  119 (= Apokalypse ohne Ende). 33 Ebd. 34  Adorno: „Tabus über dem Lehrberuf“, GS 10.2, S.  656–673, hier S.  672 f. 35 Er bezieht sich darauf in: Negative Dialektik, S.   296; ders.: Geschichte und Freiheit, S.  30 ff. 36  Anders, Günther: „Thesen zum Atomzeitalter (1959)“, in: ders.: Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen zum atomaren Zeitalter, 6., durch ein Vorwort erweiterte Auflage von „Endzeit und Zeitenende“, München 1993, S.  93–105, hier S.  94 f.

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kommen unabhängig von ihrem Verhalten, jederzeit das Unheil in Form der Willkür der Wachmannschaften einbrechen kann. Die Atombombe macht die Welt zum Konzentrationslager, weil sie uns jeden Moment mit der Möglichkeit der totalen Vernichtung bedroht – unabhängig davon, wie wir uns verhalten. Gewiss, die Existenz von Atombomben bestimmt nicht mehr im gleichen Maße den Erfahrungshorizont wie noch vor fünfzig Jahren; aber die totale Vernich‑ tung der Menschheit durch Kernwaffen bleibt eine objektive Möglichkeit unab‑ hängig davon, ob sie von allen als solche erfahren wird; somit ist wie noch zu Adornos Zeiten allen Subjekten die Möglichkeit gegeben, sich als potentielles Opfer der Geschichte zu erfahren. Die Geschichte aus Sicht der Opfer lässt sich weiter bestimmen, wenn wir uns bewusst machen, wofür und wogegen sie konzipiert wurde. Adorno visiert nicht bloß eine Rettung der Opfer der Geschichte an, sondern will einen Begriff von Geschichte gewinnen, der dem „Horizont, in dem jeden Augenblick die Bombe fallen kann“,37 angemessen ist. Das ist der erste Grund dafür, dass Ador‑ no im Geschichtsmodell der Negativen Dialektik immer von der Gegenwart redet. Zugleich setzt sich diese Konzeption der Geschichte auch von Geschichts‑ philosophien ab, in denen Geschichte etwas ist, was anderen Menschen zustößt, die, wie Adorno sagt, sich zur Geschichte so verhalten „wie nach dem Scherz aus dem ‚Faust‘, wo hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen“.38 Was hier bloß in Bezug auf die geographische Ferne ausgesagt wird, gilt auch für die zeitliche. Die Geschichte aus Sicht des potentiellen Opfers ist Kritik an ei‑ nem Denken, das Geschichte bloß als räumlich und zeitlich entfernte betrachtet, nicht als etwas, das potentiell jedem geschehen kann. Das ist der andere Grund, warum Adornos Geschichtsphilosophie primär auf die Gegenwart bezogen ist – keineswegs haben wir es hier mit einer Geschichtsphilosophie ohne Geschich‑ te zu tun. Als Kritik an partikularen Geschichtskonzepten, die Geschichte nicht als das denken, was potentiell alle betrifft, ist die Geschichte aus Sicht der Opfer auch ein Einspruch gegen die hegelsche Geschichtsphilosophie: gegen ihren Anspruch, nicht bloß partikulare, sondern Weltgeschichte zum Gegenstand zu haben und gegen ihre These, die Weltgeschichte sei vernünftig.

II.  Zur Kritik der hegelschen Geschichtsphilosophie Diese doppelte Kritik soll im Folgenden rekonstruiert werden; dabei ist es rat‑ sam, auf die Probleme der adornoschen Hegelkritik im Geschichtsmodell hin‑ zuweisen, da diese Probleme drohen, Adornos Kritik als Ganze zu entwerten. Denn die Kritik geht, auch da wo sie gelingt, von derselben These aus: dass Hegels Geschichtsphilosophie trotz gegenteiliger Beteuerungen das Recht des 37 

Adorno: „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?“, GS 8, S.  354–370, hier S.  366. Geschichte und Freiheit, S.  35.

38 Adorno:

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Individuums nicht wahren kann. Problematisch ist, dass Adorno diese These nicht bloß für die Weltgeschichte, sondern – mit Ausnahme der Moralität – für alle Sphären des hegelschen objektiven Geistes geltend machen will; mithin be‑ hauptet er, dass auch Recht und die Sphären Sittlichkeit nicht vermögen, den individuellen Standpunkt zu berücksichtigen. Eine Metakritik dieser Kritik zeigt, dass Adorno in der Verteidigung des Standpunkts des Besonderen gegen das Allgemeine Hegel in größerem Maße verpflichtet bleibt, als er es selbst wahrhaben will (a); überspringen wir aber die Sphären der Rechtsphilosophie und setzen gleichsam direkt an der Weltgeschichte an, so lässt sich Adornos Kritik dahingehend rekonstruieren, dass die hegelsche Philosophie der Weltge‑ schichte als bloß partikulare Geschichte an ihrem Anspruch scheitert (b); von da aus lässt sich die gegen Hegel gerichtete These plausibel machen, dass die Geschichte nicht vernünftig, sondern unvernünftig ist (c). a.  Probleme der Kritik Da er nie im Individuum sei, sondern immer darüber hinaus,39 komme der indi‑ viduellen Erfahrung in Hegels Geschichtsphilosophie ein bloß subalterner Rang zu: so Adornos These. Letztendlich resultiere das im apologetischen Cha‑ rakter der hegelschen Geschichtsphilosophie: Wäre Philosophie, als was die Hegelsche Phänomenologie sie proklamierte, die Wissen‑ schaft von der Erfahrung des Bewußtseins, dann könnte sie nicht, wie Hegel in fort‑ schreitendem Maß, die individuelle Erfahrung des sich durchsetzenden Allgemeinen als eines unversöhnt Schlechten souverän abfertigen und zum Apologeten der Macht auf angeblich höherer Warte sich hergeben.40

Beides, die Abfertigung individueller Erfahrung von Negativität und die Affir‑ mation des geschichtlich sich Durchsetzenden, die Geschichte vom Standpunkt des Siegers, hängt für Adorno zusammen.41 In dieser Verbindung, nicht in der Kritik, Hegel bagatellisiere das Leiden in der Geschichte, ist der Kern von Adornos Kritik der hegelschen Geschichtsphilosophie zu suchen. Adorno ver‑ sucht, diese Verbindung durch eine immanente Kritik Hegels herauszustellen, aus der hervorgehen soll, dass Hegel zwar die Wahrheit des subjektiven Stand‑ punkts gesehen habe, aber über diese Einsicht hinweg geglitten sei. Leider ist die Durchführung dieser Kritik ungenau, da Adorno in ihrem Ver‑ lauf eine Stelle aus den Grundlinien der Philosophie des Rechts isoliert, ohne auf 39 

Vgl. Adorno: Minima Moralia, S.  14 f. Negative Dialektik, S.  302. 41  Vgl. auch folgende Stelle aus der Zueignung der Minima Moralia: „Je fragwürdiger der Übergang von der reflektierenden Vereinzelung zur verherrlichten Totalität wie in der Ge‑ schichte so auch in der Hegelschen Logik bleibt, desto eifriger hängt Philosophie, als Recht‑ fertigung des Bestehenden, sich an den Triumphwagen der objektiven Tendenz.“Adorno: Minima Moralia, S.  15. 40 Adorno:

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den Gesamtaufbau dieser Schrift zu achten. Darin zeigt sich ein generelles Pro‑ blem der Hegelkritik Adornos: Sowohl die Grundlinien der Philosophie des Rechts als auch Die Vernunft in der Geschichte gehören zu den eher exponierten Texten Hegels und bieten demjenigen, der Hegel diffamieren möchte, einen überaus reichen Fundus an Sätzen, die, aus dem Zusammenhang zitiert und mehr oder weniger geschickt zusammengeschustert, aus Hegel ein konservati‑ ves, staatsvergottendes, durch und durch preußisches Ungeheuer machen, des‑ sen Demontage in Folge zum effortlosen Triumphzug fortgeschrittener Philo‑ sophie wird. Keiner wird Adorno diesen Vorwurf machen; aber auch er hat die Tendenz, besonders problematische Sätze zu zitieren und sie, so wie sie daste‑ hen, zu kritisieren, ohne sie in der Gesamtheit des hegelschen Werkes zu veror‑ ten. Problematisch ist auch Adornos Neigung, den „jungen Hegel“ der Phänomenologie des Geistes (und, zu einem gewissen Grade, der Wissenschaft der Logik) gegen den „alten Hegel“ der Rechts- und Geschichtsphilosophie in einer Weise auszuspielen, die Hegels Entwicklung erheblich einebnet und besonders der Rechtsphilosophie nicht gerecht wird. Adorno erkennt in diesem Teil von Hegels Werk ausschließlich die Durchsetzung apologetischer und das heißt bei ihm: das Bestehende verteidigender, antikritischer Tendenzen gegen Hegels ei‑ gene Dialektik. Konkret werden diese Tendenzen im „Abbruch der Dialek‑ tik“42 durch „die Prärogative des Staats, der Dialektik enthoben zu sein“43. Bei‑ nahe handgreiflich wird Adornos Abneigung gegen die Rechtsphilosophie in „Skoteinos oder Wie zu lesen sei“: Immanente Treue zur Intention verlangt in besseren Fällen als dem ungeschickt ideolo‑ gischen der Rechtsphilosophie, daß man den Text, um ihn zu verstehen, ergänze oder überschreite. Dann hilft es nichts, über kryptische Einzelformulierungen zu brüten und sich in oftmals unschlichtbare Kontroversen über das Gemeinte einzulassen. Vielmehr ist die Absicht freizulegen; aus ihrer Kenntnis sind die Sachverhalte zu rekonstruieren, die Hegel stets fast vorschweben, auch wo seine eigene Formulierung davon abprallt.44

Warum die von Adorno geforderte besonnene Lesepraxis ausgerechnet in der Rechtsphilosophie nicht gelten soll, ist schleierhaft. Gerade bei dem angeblich ungeschickt ideologischen Fall der Rechtsphilosophie ist es von Nöten, die Ab‑ sicht freizulegen und von da aus die einzelnen Sachverhalte sich zu erschließen. Da Adorno das versäumt, redet seine Kritik an der Rechtsphilosophie weitge‑ hend vorbei. Paradigmatisch ablesen lässt sich das an der Kritik, die Adorno an folgender Stelle aus der Vorrede der Grundlinien der Philosophie des Rechts übt: 42  So der Titel eines Abschnitts in der Negativen Dialektik: Adorno: Negative Dialektik, S.  328 ff. Adorno erhebt denselben Vorwurf des Abbruchs der Dialektik gegen die hegelsche Ästhetik in den Paralipomena zur Ästhetischen Theorie. Adorno: Ästhetische Theorie, S.  398. 43 Adorno: Negative Dialektik, S.  331. 44  Adorno: „Skoteinos oder Wie zu lesen sei“, S.  361.

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Daß Recht und Sittlichkeit, und die wirkliche Welt des Rechts und des Sittlichen, sich durch den Gedanken erfaßt, durch Gedanken sich die Form der Vernünftigkeit, nämlich Allgemeinheit und Bestimmtheit gibt, dies, das Gesetz, ist es, was jenes sich das Belieben vorbehaltende Gefühl, jenes das Rechte in die subjektive Überzeugung stellende Gewis‑ sen mit Grund als das sich feindseligste ansieht. Die Form des Rechten als einer Pflicht und als eines Gesetzes wird von ihm als ein toter, kalter Buchstabe und als eine Fessel empfunden; denn es erkennt in ihm nicht sich selbst, sich in ihm somit nicht frei, weil das Gesetz die Vernunft der Sache ist und diese dem Gefühle nicht verstattet, sich an der ei‑ genen Partikularität zu wärmen.45

Der Zusammenhang, dem diese Stelle entnommen ist, macht umso deutlicher, was sich auch aus der Stelle allein ergibt: Hegel konzediert nicht, dass jedes subjektive Gewissen das Recht mit Grund als das ihm feindseligste ansehe, son‑ dern er kritisiert eine bestimmte Form des „üblen Gewissens“,46 nämlich dasje‑ nige, das sich bloß auf sein eigenes Gefühl stellt. Adorno aber, seinen üblichen Scharfsinn vermissen lassend, liest diese Passage als unfreiwilliges Eingeständ‑ nis des Scheiterns der hegelschen Versöhnung: Daß das subjektive Gewissen die objektive Sittlichkeit ‚mit Grund‘ als das sich Feindse‑ ligste ansehe, ist Hegel wie mit philosophischer Fehlleistung in die Feder gekommen. Er plaudert aus, was er im gleichen Atemzug bestreitet. Sieht tatsächlich das individuelle Gewissen die ‚wirkliche Welt des Rechts und des Sittlichen‘ als feindselig an, weil es in ihr nicht sich selbst erkennt, so wäre darüber nicht beteuernd hinwegzugleiten.47

Was Adorno hier übersieht, ist eben, dass Hegel nicht über einen systemisch bedingten Widerspruch zwischen Individuum und Recht hinweggleitet, son‑ dern die individuelle Gesinnung kritisiert, die das Recht auf Basis der subjekti‑ ven Überzeugung und des Gefühls beurteilt. Ausschließlich als Feindliches erfährt das Recht nur, wer seine Freiheit bloß als negative Freiheit versteht: als Befreiung von äußeren Grenzen, die seine subjektive Willkür in Schach halten. Mangel dieser Freiheitskonzeption ist, wie Honneth argumentiert, „daß sie vor der eigentlichen Schwelle zur individuellen Selbstbestimmung haltmacht“.48 Wer im negativen Sinne frei ist, ist frei bloß in Rücksicht auf die Freiheit von äußeren Hindernissen, die seinem Willen im Weg stehen. Wer seine Freiheit ausschließlich so versteht, muss das Recht mit Notwendigkeit als Einschrän‑ kung seiner Freiheit und als ihm feindlich gesinnt verstehen. Hegel visiert in der Rechtsphilosophie gerade nicht eine solche Freiheitskonzeption an und gleitet deshalb auch nicht beteuernd über die Nichtidentität von Gesetz und individu‑ ellem Gewissen hinweg. Adorno aber unterstellt ihm genau das: „Wäre nicht dem Subjekt die Rechtsordnung objektiv fremd und äußerlich, so ließe der für 45 Hegel: 46 Ebd.

Rechtsphilosophie, S.  20.

47 Adorno:

Negative Dialektik, S.  304 f. Axel: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011, S.  56 f. 48 Honneth,

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Hegel unausweichliche Antagonismus durch bessere Einsicht sich schlichten; Hegel aber hat seine Unschlichtbarkeit viel zu gründlich erfahren, als daß er darauf vertraute.“49 Objektiv fremd ist die Rechtsordnung dem Individuum nur in seiner ausschließlichen Fokussierung auf negative Freiheit; wer einen Straf‑ zettel bekommt, mag ihn im Ärger vielleicht als Ausdruck des ihm feindlichen Rechts erfahren; dennoch dürfte er der besseren Einsicht weichen, dass Ge‑ schwindigkeitsbegrenzungen durchaus auch in seinem Sinne sind. Adorno macht den Antagonismus zwischen einem reduzierten Freiheitsbegriff, den er selbst nicht vertritt, und dem objektiven Recht zu einem schlechthin unauflös‑ lichen Antagonismus und verschleift die emanzipativen Eigenschaften des Rechts; den Umstand, dass es nicht nur mir Sachen verbietet, sondern auch dem Allgemeinen, auch dem Staat verbietet, mit mir willkürlich zu verfahren und so meine Freiheit einzuschränken. In Adornos Kritik am hegelschen Rechtsbegriff zeigt sich eine weitere Ver‑ kürzung, die er beinahe auf die gesamte Rechtsphilosophie überträgt. Diese Kritik an Hegel fasst Adorno in einem Satz zusammen, den Sandkaulen mit ei‑ nigem Recht als den zentralen von Adornos Hegelkritik im Geschichtsmodell bezeichnet: 50 „[S]eine Philosophie hat kein Interesse daran, daß eigentlich Indi‑ vidualität sei.“51 In der Behandlung des Vermittlungsbegriffs und bei der Ent‑ faltung von Adornos Begriff des Individuums haben wir gesehen, dass das in diesem Satz ausgesprochene Interesse an Individualität keineswegs, wie Sand‑ kaulen meint, „die Figur dialektischer Vermittlung sprengen würde“,52 sondern gerade durch Adornos kritische Aneignung der Vermittlung gelingt. Dennoch: Der Vorwurf an Hegel scheint ungerechtfertigt, denn die Betonung, dass das „Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was das‑ selbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit“,53 unbedingt respektiert werden muss, zieht sich durch die gesamte Rechtsphilosophie und ist bereits in deren Struktur angelegt, in der die Sphäre des abstrakten Rechts und die Sphäre der Moralität, deren Prinzip ausdrücklich die „für sich unendliche Subjektivität der Freiheit“ darstellt,54 in der Sphäre der Sittlichkeit aufgehoben, und das heißt 49 Adorno:

Negative Dialektik, S.  305. Sandkaulen: „Modell 2“, S.  181. 51 Adorno: Negative Dialektik, S.  336. 52  Sandkaulen: „Modell 2“, S.  185. Dass Sandkaulen den Vermittlungsbegriff und infolge dessen auch den Dialektikbegriff Adornos zu einer dualistischen Reflexionsphilosophie ver‑ kürzt, haben wir im ersten Kapitel gesehen. An dieser Stelle wird deutlich, dass sich ein unge‑ nügendes Verständnis von oder eine Indifferenz gegenüber den logischen Grundoperationen Adornos in der Interpretation der materialen Teile seiner Philosophie rächt. Sandkaulen ver‑ fehlt systematisch die Verfassung von Individualität bei Adorno und verfällt deswegen auf den alten Elitismusvorwurf zurück und fertigt Adornos Hinweis auf die Relevanz des Indivi‑ duums fürs Allgemeine, die ja gerade durch die Vermittlung verbürgt ist, als „Sophismus“ ab. Ebd., S.  185 f. 53 Hegel: Rechtsphilosophie, S.  233, §  124 A. 54  Ebd., S.  198, §104. 50 

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hier auch: aufbewahrt sind. Auch in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte spricht Hegel noch vom „unendlichen Recht des Subjekts [. . .], daß das Subjekt sich selbst befriedigt findet in einer Tätigkeit, Arbeit“.55 Das bei Hegel durchaus vorhandene Interesse an Individualität widerlegt aber Adornos Vorwurf noch nicht, der ja lautet, dass Hegel kein Interesse hat, dass Individualität eigentlich sei. Das „eigentlich“ verweist auf einen nach‑ drücklichen Begriff von Individualität, der bei Hegel noch nicht realisiert ist. Der Grund dafür liegt nach Adorno im hegelschen Vermittlungsbegriff, genau‑ er: in dessen „Hypostasis“.56 Gerade diese erlaubt es Hegel, das Besondere trotz der wechselseitigen Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem dem Allge‑ meinen unterzuordnen. Die Operation schlägt sich, wie Adorno bemerkt, in der Philosophie des objektiven Geistes nieder: „Wird aber die Vermittlung des All‑ gemeinen durchs Besondere und des Besonderen durchs Allgemeine auf die ab‑ strakte Normalform von Vermittlung schlechthin gebracht, so hat das Besonde‑ re dafür, bis zu seiner autoritären Abfertigung in den materialen Teilen des He‑ gelschen Systems, zu zahlen.“57 Diese autoritäre Abfertigung belegt Adorno mit einer problematischen Stelle aus der Rechtsphilosophie,58 die aus dem Zusam‑ menhang genommen dahingehend gelesen werden kann, dass für Hegel das Recht des Besonderen bloß darin besteht, das zu wollen und zu tun, was ihm das Allgemeine diktiert; was darüber hinausgeht, tut Hegel als Sucht, etwas Besonderes sein zu wollen, ab. Hier täte eine Differenzierung Not, die Adorno an anderer Stelle leistet – um sie freilich gleich wieder zu verwischen. Adorno zitiert eine ähnliche Stelle: „Auf die Frage eines Vaters nach der besten Weise, seinen Sohn sittlich zu erziehen, gab ein Pythagoreer (auch anderen wird sie in den Mund gelegt) die Antwort: wenn du ihn zum Bürger eines Staats von guten Gesetzen machst.“59 Dazu meint er: „Das verlangt ein Urteil darüber, ob der Staat selber und seine Gesetze tatsächlich gut seien.“60 Das impliziert jedoch, dass die vom Individuum verlangte Anpassung ans Allgemeine (hier die Geset‑ 55 Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, S.  82; vgl. die Parallelstelle in: ders.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S.  36 f. Vgl. zum Verhältnis von Weltgeist und Individu‑ um auch: Angehrn: Freiheit und System bei Hegel, S.  259 ff. 56 Adorno: Negative Dialektik, S.  322. 57  Ebd., S.  322 f. 58 „Was der Mensch tun müsse, welches die Pflichten sind, die er zu erfüllen hat, um tu‑ gendhaft zu sein, ist in einem sittlichen Gemeinwesen leicht zu sagen, – es ist nichts anderes von ihm zu tun, als was ihm in seinen Verhältnissen vorgezeichnet, ausgesprochen und be‑ kannt ist. Die Rechtschaffenheit ist das Allgemeine, was an ihn teils rechtlich, teils sittlich gefordert werden kann. Sie erscheint aber für den moralischen Standpunkt leicht als etwas Untergeordneteres, über das man an sich und andere noch mehr fordern müsse; denn die Sucht, etwas Besonderes zu sein, genügt sich nicht mit dem, was das Anundfürsichseiende und Allgemeine ist; sie findet erst in einer Ausnahme das Bewußtsein der Eigentümlichkeit.“ He‑ gel: Rechtsphilosophie, S.  298, §  150 A. 59  Ebd., S.  303, §  153 A. 60 Adorno: Negative Dialektik, S.  331.

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ze) nicht a priori als Repression desselben abgetan werden kann; vielmehr ver‑ langt das Urteil, ob eine autoritäre Abfertigung vorliegt oder nicht, eine Ver‑ ständigung über die Verfassung des Allgemeinen. Adorno, und hier geht er fehl, bringt diese Differenzierung nicht in seine Kritik ein, wie der Folgesatz zeigt: „Bei Hegel jedoch ist Ordnung es [gut, d. Verf.] a priori, ohne vor denen sich verantworten zu müssen, die unter ihr leben.“61 Prima facie scheint Hegel in der Rechtsphilosophie die Unterordnung des Individuums unter das Allgemeine kategorisch zu fordern. Angesichts der von Adorno zitierten Passagen, die sich um weitere ergänzen ließen, scheint Hegels Beharren auf der Wahrung des Rechts des Subjekts ein bloßes Lippenbekennt‑ nis zu sein, zumal die Sphäre der Moralität als Sphäre der subjektiven Freiheit in der Sittlichkeit aufgehoben und das heißt eben auch: überwunden ist. Moralität und damit subjektive Freiheit hat sich letztendlich doch dem sittlichen Allge‑ meinen unterzuordnen; Freiheit ist Freiheit zur Anpassung an das Allgemeine. Eine solche Lektüre setzt voraus, dass man das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem ungeschichtlich fasst, so als ob Hegel für die gesamte Ge‑ schichte einen Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen behaupten würde und das Individuum a priori zur Anpassung an das Allgemeine verhalte.62 Da‑ bei wird vergessen, dass das hegelsche Denken nicht nur ein Denken der Ge‑ schichte, sondern als Denken selbst durch und durch geschichtlich ist. Das Leit‑ motiv „Vernunft in der Geschichte“, ist, wie Angehrn zeigt, von einer Doppel‑ deutigkeit, die diese zweifache Rolle der Geschichte bei Hegel anzeigt: Nicht nur ist Vernunft in der Geschichte, sondern auch Geschichte in der Vernunft. 63 Das bedeutet: Die Vernunft ist selbst geschichtlich und entwickelt sich in der Geschichte. Für das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in der Rechtsphiloso‑ phie ist das Theorem der Geschichtlichkeit der Vernunft von tragender Bedeu‑ tung; so behandelt das Werk nicht die empirischen Staaten, sondern die Idee des Staates.64 Die Idee aber ist nicht eine Abstraktion von tatsächlichen Staaten, sondern vielmehr die Ableitung des Staates aus dem Begriff, ein Staat, der nicht bloß auf Vernunft gegründet ist, sondern selbst „das an und für sich Vernünftige“ ist. 65 Stellen wir die Frage nach der Beschaffenheit dieser Vernunft für einen Moment zurück und unterstellen, dass sie tatsächlich die Vernunft im emphati‑ 61 Ebd.

62  Adorno hängt offenbar dieser Lesart nach, denn er macht Hegel den Vorwurf, dieser behandle das Verhältnis von Individuum und Allgemeinem als invariant: „Dabei dachte er [Hegel, d. Verf.], gemäß einer durchgängigen Denkstruktur, die seine Konzeption von Dia‑ lektik skelettiert zugleich und revoziert, das Verhältnis von Weltgeist und Einzelnem samt ihrer Vermittlung als invariant.“ Ebd., S.  336. 63 Angehrn, Emil: Geschichtsphilosophie. Eine Einführung, Nachdruck der Erstauflage von 1991, Basel 2012, S.  57. 64 Hegel: Rechtsphilosophie, S.  333 f., §  258 A. 65  Ebd., S.  399, §  258.

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schen Sinn ist, so verlangt Hegel vom Individuum nicht eine Anpassung an jeg‑ liches Allgemeine, sondern nur an das vollkommen vernünftige Allgemeine; die Vernünftigkeit aber setzt er voraus, wenn er in der Rechtsphilosophie von der Idee des Staates spricht. Der unbedingte Gehorsam des Individuums wird zu seiner Selbstverwirklichung in der Mitwirkung an einem vernünftigen Allge‑ meinen, an einem Allgemeinen, welches nicht nur das Recht des Individuums, sich befriedigt zu finden, das Recht der subjektiven Freiheit, respektiert, son‑ dern Freiheit im emphatischen Sinn erst ermöglicht. Wenn das „Rechtsystem“ tatsächlich „das Reich der verwirklichten Freiheit“ ist, wie Hegel es formu‑ liert,66 und wir das Rechtssystem mit Hegel als umfassend verstehen, nämlich als sowohl Moralität als auch Sittlichkeit einbegreifend, dann ist die ganze Sphäre des objektiven Geistes als dasjenige Allgemeine zu verstehen, das die objektiven Rahmenbedingungen zur Verwirklichung der individuellen Freiheit bereitstellt. Honneth hat das in seiner Reaktualisierung der hegelschen Rechts‑ philosophie in den Vordergrund gestellt: Hegel fasse unter dem Begriff des Rechts „all diejenigen gesellschaftlichen Voraussetzungen, die sich als notwen‑ dig für die Verwirklichung des ‚freien Willens‘ jedes einzelnen Subjekts erwei‑ sen lassen“.67 Jenseits eines substantialistischen Verständnisses des hegelschen Vernunftbegriffs lässt sich das Allgemeine genau dann als Vernünftiges be‑ zeichnen, wenn es die Verwirklichung der Freiheit des Besonderen ermöglicht. Hegel selbst spricht das in den Grundlinien der Philosophie des Rechts aus: „Das Recht der Individuen für ihre subjektive Bestimmung zur Freiheit hat darin, daß sie der sittlichen Wirklichkeit angehören, seine Erfüllung, indem die Gewißheit ihrer Freiheit in solcher Objektivität ihre Wahrheit hat und sie im Sitt‑ lichen ihr eigenes Wesen, ihre innere Allgemeinheit wirklich besitzen.“68 Bedin‑ gung der Unterwerfung unter das Allgemeine wäre mithin, dass die institutio‑ nellen Verkörperungen dieses Allgemeinen, wie Honneth es formuliert, „Eigenschaften von der Art besitzen, daß der einzelne sie als Ausdruck seiner eigenen Persönlichkeit begreifen kann“. 69 Das vernünftige Allgemeine ist in die‑ sem Sinne nicht ein dem Individuum fremdes Prinzip, sondern Ausdruck seines eigenen Wesens.70 Ist die Vernünftigkeit des Allgemeinen Bedingung der Anpassung des Indivi‑ duums ans Allgemeine, so bedeutet das umgekehrt, dass diese Anpassung nicht vom Individuum verlangt werden kann, solange das Allgemeine nicht vernünf‑ tig ist und das Individuum sich darin nicht verwirklicht findet. Geschichtliche 66 

Ebd., S.  46, §  4. Axel: Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, Stuttgart 2001, S.  31. 68 Hegel: Rechtsphilosophie, S.  303, §  153. 69  Honneth, Axel: „Das Reich der verwirklichten Freiheit. Hegels Idee einer ‚Rechtsphilo‑ sophie‘“, in: ders.: Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Frankfurt a. M. 2010, S.  33–48, hier S.  39. 70  Vgl. Taylor, Charles: Hegel, übers. von Gerhard Fehn, Frankfurt a. M. 1983, S.  510. 67 Honneth,

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Stufen, auf denen das Allgemeine nicht die Vernunft ist, verlangen vom Indivi‑ duum ein anderes Verhalten als Anpassung; hier ist die Moralität eine höhere Sphäre als die Sittlichkeit, so dass das Individuum sich gegen die Allgemeinheit stellen muss, um zur Verwirklichung seines Prinzips zu kommen. Hegel be‑ merkt das in einer Anmerkung in den Grundlinien der Philosophie des Rechts: Als allgemeinere Gestaltung in der Geschichte (bei Sokrates, den Stoikern usf.) erscheint die Richtung, nach innen in sich zu suchen und aus sich zu wissen und zu bestimmen, was recht und gut ist, in Epochen, wo das, was als das Rechte und Gute in der Wirklich‑ keit und Sitte gilt, den besseren Willen nicht befriedigen kann; wenn die vorhandene Welt der Freiheit ihm ungetreu geworden, findet er sich in den geltenden Pflichten nicht mehr und muß die in der Wirklichkeit verlorene Harmonie nur in der ideellen Innerlich‑ keit zu gewinnen suchen.71

Sokrates erkennt die herrschende Sittlichkeit nicht als vernünftig an und ver‑ sucht, das Gute und das Gerechte aus sich selbst heraus zu setzen. Er hört nicht mehr auf die Stimme des Allgemeinen, sondern auf seine innere Stimme: sein Daimonion. Die Vernunft ist zu Zeiten des Sokrates mithin nicht auf Seiten des Allgemeinen, sondern des Besonderen zu suchen, dessen Bestimmung nicht mehr in der Anpassung an das Allgemeine, sondern in der Kritik desselben be‑ steht. Das aber bedeutet, dass für Hegel Ordnung, mithin Unterordnung des Be‑ sonderen unter das Allgemeine, keineswegs an sich, oder wie Adorno sagt: a priori, gut ist. Ob Ordnung gut oder schlecht ist, ob vom Individuum Unter‑ ordnung oder Kritik verlangt wird, hängt vielmehr davon ab, auf welcher Seite im Kräfteverhältnis von Allgemeinem und Besonderem die Vernunft steht. Un‑ terordnung unter das Allgemeine ist nur gut, wenn das Allgemeine die Vernunft ist: im Verhältnis von Sokrates und antiker polis war das nicht der Fall. Für Hegel verkörperte Sokrates als das Besondere das Prinzip der Subjektivität. Die griechische polis, das Allgemeine, konnte das Prinzip der Subjektivität nicht be‑ wältigen und ging darüber zugrunde; die Realisierung der Vernunft sollte aber darin bestehen, eine Form der Sittlichkeit, mithin des Allgemeinen zu schaffen, die das Prinzip der Subjektivität zulassen konnte, ohne zu zerbrechen, die es bewältigen konnte, ohne es zu unterdrücken.72 Die moralische Haltung des So‑ krates markiert nicht eine Wende gegen die Vernunft, sondern ist ein Mittel der Selbstrealisierung der Vernunft, die auf Sokrates angewiesen ist, um eine ihr nicht mehr adäquate Stufe ihrer Realisierung zu überwinden: „Das Prinzip des Sokrates erweist sich als revolutionär gegen den athenischen Staat“, sagt Hegel in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, und es wurde schließ‑ lich „das Verderben des substantiellen Bestehens des athenischen Staates“.73 71 Hegel:

Rechtsphilosophie, S.  250, §  138 A. Das ist in weltgeschichtlicher Perspektive das Ziel des Staates, den Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts entwirft. Vgl. dazu Taylor: Hegel, S.  565 ff. 73 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S.  329. 72 

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Weil er einen Schritt zur Realisierung dieses Ziels vollbrachte, war Sokrates ei‑ nes der welthistorischen Individuen: Sein Wirken gegen die herrschende Form der Vernunft war im Sinne der Vernunft – darin bestand ihre List. Folgerichtig ist für Hegel das Daimonion des Sokrates auch nicht dessen eigene menschliche Vernunft, sondern als innere Stimme vom Selbst des Sokrates noch unterschie‑ den, wie Hegel sagt, ein Mittleres zwischen Innen und Außen.74 Sokrates ist in der hegelschen Interpretation weniger als ein Mensch zu verstehen, der die Ver‑ nunft nach eigenem Willen beurteilt, sondern eher als der göttlich Inspirierte, der unbewusst das Werk der Vernunft vollbringt. Wie sich das mit dem Daimo‑ nion des Sokrates letztlich auch verhalten haben mag – Hegel interpretiert sein Wirken als der Vernunft gemäß, weil er von einer späteren Warte aus sieht, was Sokrates zum Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit beigetragen hat. Adorno steht diese Perspektive nicht mehr zur Verfügung, weil er Geschichte nicht mehr als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit versteht; dennoch bleibt er der hegelschen Struktur von Moralität und Sittlichkeit treu – in guten wie in schlechten Zeiten. Hegel und Adorno gleichermaßen sehen in schlechten Zeiten die Moralität als die höhere Sphäre an; für beide ist die Vernunft in solchen Zei‑ ten beim Individuum besser aufgehoben. Beide sehen aber auch, dass das Indi‑ viduum in diesen Zeiten nicht seine höchste Bestimmung erreichen kann. Für Hegel ist die subjektive Freiheit nur in einer Gesellschaft möglich, die sie ihrer eigenen Struktur nach zulassen kann: Sokrates hatte für seinen moralischen Standpunkt die Zeche zu zahlen. Wenn er auch Agent der Vernunft war, so er‑ schien er der herrschenden Vernunft als unvernünftig. Sein Prinzip konnte er nur durch­setzen, indem er sein Leben ließ. Auch für Hegel gibt es in diesem Sinne kein richtiges Leben im falschen. b.  Weltgeist und faule Existenz Wenn Adorno in seiner Kritik Hegel näher steht, als er es selbst wahrhaben will; wenn Hegel als Bedingung der Vernünftigkeit des Allgemeinen formuliert, dass das Individuum seine Interessen darin befriedigt finden muss, dann kann man Adornos Kritik an Hegels Geschichtsphilosophie reformulieren, indem man beim Verhältnis von Individuum und Geschichte ansetzt, gleichsam die dazwi‑ schen liegenden Sphären der Rechtsphilosophie überspringt und die hegelsche Geschichtsphilosophie direkt bei ihrem Anspruch nimmt, eine Philosophie der Weltgeschichte zu sein, in der das Recht des Individuums beachtet wird. Hier hat Hegel mit demselben Problem zu kämpfen, wie in der Kritik an den Tadlern des abstrakten Rechts. Die Bedingung, dass das Recht der Besonder‑ heit, sich befriedigt zu finden, unbedingt respektiert werden muss, bringt die Gefahr mit sich, dass es der individuellen Willkür überlassen bleibt, was als 74 Hegel:

Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S.  495.

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vernünftig gelten kann und was nicht. Jedes Individuum wird dazu befähigt, sein Recht einzuklagen, sobald es sich von der Geschichte übergangen fühlt. Wenn aber jedes partikulare Interesse gegenüber dem Allgemeinen einklagbar wird, dann muss Hegels Projekt, die Vernünftigkeit dieses Allgemeinen zu be‑ weisen, scheitern; denn dazu müsste er jedes partikulare Interesse befriedigen. Hegel braucht deshalb ein Kriterium, das festlegt, wie weit das Recht der Be‑ sonderheit reicht, das heißt: was das Individuum gegenüber der Geschichte ein‑ klagen kann und was nicht. Hegel widmet diesem Problem in der Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte einigen Raum. Er kritisiert dort nicht bloß die Berufung auf die eigenen Gefühle, sondern auch die Beru‑ fung auf subjektive Ideale, die an die Geschichte herangetragen werden: Nichts ist, wie gesagt, jetzt häufiger als die Klage, daß die Ideale, welche die Phantasie aufstellt, nicht realisiert, daß diese herrlichen Träume von der kalten Wirklichkeit zer‑ stört werden. Diese Ideale, welche an der Klippe der harten Wirklichkeit, auf der Le‑ bensfahrt, scheiternd zugrunde gehen, können zunächst nur subjektive sein und der sich für das Höchste und Klügste haltenden Individualität des Einzelnen angehören. Die gehören eigentlich nicht hierher. Denn was das Individuum für sich in seiner Einzelheit sich ausspinnt, kann für die allgemeine Wirklichkeit nicht Gesetz sein, ebenso wie das Weltgesetz nicht für die einzelnen Individuen allein ist, die dabei sehr zu kurz kommen können.75

Hegel geht aber noch weiter und kritisiert selbst die Berufung auf das Ideal der Vernunft als bloß subjektives Tadeln. Man versteht unter Ideal aber ebenso auch das Ideal der Vernunft, des Guten, des Wah‑ ren. Dichter, wie Schiller, haben dergleichen sehr rührend und empfindungsvoll darge‑ stellt, im Gefühl tiefer Trauer, daß solche Ideale ihre Verwirklichung nicht zu finden vermöchten. Sagen wir nun dagegen, die allgemeine Vernunft vollführe sich, so ist es um das empirisch Einzelne freilich nicht zu tun; denn das kann besser und schlechter sein, weil hier der Zufall, die Besonderheit ihr ungeheures Recht auszuüben vom Begriff die Macht erhält. So wäre denn an den Einzelheiten der Erscheinung vieles zu tadeln. Dies subjektive Tadeln, das aber nur das Einzelne und seinen Mangel vor sich hat, ohne die allgemeine Vernunft darin zu erkennen, ist leicht und kann, indem es die Versicherung guter Absicht für das Wohl des Ganzen herbeibringt und sich den Schein des guten Her‑ zens gibt, gewaltig groß tun und sich aufspreizen. Es ist leichter, den Mangel an Indivi‑ duen, an Staaten, an der Weltleitung einzusehen als ihren wahrhaften Gehalt.76

Freilich, man mag einwenden, dass doch Hegels These, die Geschichte sei Fort‑ schritt im Bewusstsein der Freiheit und sollte deswegen an diesem Fortschritt gemessen werden, ebenso ein bloß subjektives Tadeln, respektive Loben ist. Da‑ gegen kann man von hegelscher Seite einwenden, dass Hegels Fokus auf den Begriff der Freiheit nicht bloß subjektiv ist, weil es ihm ja gerade um die Reali‑ sierung dieses Ideals in der Wirklichkeit geht und weil das Ideal der Freiheit ein 75 Hegel: 76 

Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S.  52. Ebd., S.  52 f.

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Ideal des objektiven Geistes, das heißt ein institutionalisiertes und in diesem Sinne objektives Ideal ist. Noch Honneth geht in Das Recht der Freiheit von dieser Überlegung aus.77 Insofern ist das Ideal der Freiheit kein subjektives, sondern ein objektives Ideal, ein Ideal, das die gesellschaftlichen Institutionen und auch den gesellschaftlichen Diskurs in hohem Maße prägt. Adornos Kritik setzt deswegen auch nicht an dieser Stelle an, sondern an den Folgen, die Hegels Beurteilung der Geschichte mit sich zieht. Wenn Geschichte Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit sein soll, so resultiert das in einem ein‑ geschränkten Geschichtsbegriff, der nicht einlösen kann, was er verspricht: das Recht der Besonderheit zu achten. Die Kritik an Hegel gelingt als Kritik an der Partikularität des Weltgeistes, der prätendiert, universal zu sein: So wenig wie Freiheit, Individualität, all das, was Hegel mit dem Allgemeinen in Identi‑ tät setzt, ist auch jene Identität. In der Totale des Allgemeinen spricht dessen eigenes Mißlingen sich aus. Was kein Partikulares erträgt, verrät damit sich selber als partikular Herrschendes. Die sich durchsetzende allgemeine Vernunft ist bereits die eingeschränk‑ te. Sie ist nicht bloß Einheit innerhalb der Mannigfaltigkeit sondern, als Stellung zur Realität, aufgeprägt, Einheit über etwas. Damit aber der puren Form nach in sich anta‑ gonistisch. Einheit ist die Spaltung.78

Adorno kritisiert hier nicht allein, dass das hegelsche Allgemeine bestimmte Ideale nicht verwirklicht, sondern dass das Allgemeine gar kein Allgemeines ist. Es erfüllt seinen Begriff nicht, weil es das Partikulare nicht in seinen Begriff aufnehmen kann. An Hegels Geschichtsphilosophie zeigt sich das daran, dass die Betrachtung der Geschichte am Maßstab des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit den räumlichen und zeitlichen Rahmen der hegelschen Geschichts‑ philosophie absteckt und Hegel alles, was nicht in diesen Rahmen passt, als unwichtig abfertigt. Hegels Bestimmung, was einklagbar ist und was nicht, mündet in einen partikularen Geschichtsbegriff: Die Einsicht nun, zu der, im Gegensatz jener Ideale, die Philosophie führen soll, ist, daß die wirkliche Welt ist, wie sie sein soll, daß das wahrhafte Gute, die allgemeine göttliche Vernunft auch die Macht ist, sich selbst zu vollbringen. Dieses Gute, diese Vernunft in ihrer konkretesten Vorstellung ist Gott. Gott regiert die Welt, der Inhalt seiner Regie‑ rung, die Vollführung seines Plans ist die Weltgeschichte. Diesen will die Philosophie erfassen; denn nur was aus ihm vollführt ist, hat Wirklichkeit, was ihm nicht gemäß ist, ist nur faule Existenz.79

Die Abfertigung der faulen Existenz wirft ganze Perioden und Erdteile aus der Geschichte, verkürzt den Geschichtsbegriff, macht ihn zu einem Partikularen und Abstrakten und widerspricht damit gerade dem Gedanken, dass sich in der Geschichte die Vernunft realisiere. Die Vernunft des Weltgeistes zeigt sich als 77 Honneth:

Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, S.  35. Negative Dialektik, S.  311. 79 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S.  53. 78 Adorno:

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partikulare Vernunft, weil sie Vernunft bleibt nur um den Preis der Marginali‑ sierung dessen, was ihr nicht entspricht. Vor diesem Hintergrund entwickelt Adorno seine Kritik an der hegelschen Geschichtsphilosophie. Ist der hegelsche Geschichtsbegriff partikular, so kann er seinen Anspruch, Weltgeschichte zu sein, nicht erfüllen. Denn er muss, um an der These der Vernunft in der Geschichte festzuhalten, die Geschichte so betrachten, dass bestimmte Elemente darin keinen Platz finden. Freilich, jede Perspektive bedingt, dass gewisse Momente als bloß zufällig abgetan werden; aber in der hegelschen Geschichtsphilosophie ist eines dieser Momente das Leid in der Geschichte. Faule Existenz sind nicht bloß diejenigen, die nicht am großen Werke der Freiheit mitwirken, sondern auch die, die unter der Ge‑ schichte zu leiden haben: ihre Opfer. Die Opfer der Geschichte kann Hegels Geschichtsphilosophie nur unter dem Preis ihrer Herabsetzung zur faulen Existenz, zum Zufälligen und Unwesentlichen, bewältigen. Wenn aber, wie Adorno sagt, die Geschichte in ihrer Objektivität erfahren wird, nicht indem sie in ihren vernünftigen Momenten erfahren wird, sondern nur, indem sie in ihrer Negativität erfahren wird, dann erschließt sich die Geschichte nur von der faulen Existenz her. Die faule Existenz leidet an der Geschichte und vermag es nicht, ihr Leiden einem Zweck der Geschichte unterzuordnen. Die Verbindung von Zweck und Leiden ist aber der Prüfstein von Hegels Geschichtsphilosophie; kann sie nicht zeigen, dass das unleugbare Leiden immerhin einem höheren Zweck gedient hat, dann ist die Behauptung, es sei Vernunft in der Geschichte, nicht zu retten. Hegel scheitert an der Negativität der Geschichte. Er denunziert die Geschichte zwar als „Schlachtbank“ und registriert auch die Trauer vor dieser, 80 wie Ador‑ no an anderer Stelle hervorhebt; 81 dennoch kann Hegel die Negativität nicht in sein Denken aufnehmen, ohne sie aufzuheben, indem sie dem Endzweck, „dem Glanze der Idee“, mit dem allein die Philosophie es zu tun habe, 82 untergeord‑ net wird. Eine Apologie des Leids zugunsten der herrschenden Mächte lag nicht in Hegels Absicht; aber seine Philosophie bietet sich – wie Nietzsche sehr scharfsinnig gesehen hat – einer solchen Apologie dar: Die Bedeutung der deutschen Philosophie (Hegel): einen Pantheismus auszudenken, bei dem das Böse, der Irrthum und das Leid nicht als Argumente gegen Göttlichkeit emp‑ funden werden. Diese grandiose Initiative ist mißbraucht worden von den vorhandenen Mächten (Staat usw.), als sei damit die Vernünftigkeit des gerade Herrschenden sanktio‑ nirt.83

80 

Ebd., S.  35. Adorno: „Spengler nach dem Untergang“, GS 10.1, S.  47–71, hier S.  57 f. 82 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S.  5 40. 83  Nietzsche, Friedrich: Nachlaß 1885–1887, KSA 12, S.  113. 81 

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Dass Leiden in der hegelschen Philosophie nur als im Geist versöhntes Leiden auftritt, folgt aus der These, dass Denken und Sein, Logos und Welt eins sind. Insofern Hegels Philosophie es nicht vermag, das in der Geschichte sich ereig‑ nende Leid unversöhnt in den Begriff eingehen zu lassen, ist die These von der spekulativen Idee falsch. Angesichts des Leids bleiben – so Hegels Überzeu‑ gung – nur zwei Möglichkeiten: Entweder müssen wir, aus der „tiefsten, ratlo‑ sesten Trauer“, in die uns der Anblick des Leids stürzt, „in die Selbstsucht zu‑ rücktreten, welche“ – wie Hegel in Anspielung auf Lukrez sagt – „am ruhigen Ufer steht und von da aus sicher des fernen Anblicks der verworrenen Trüm‑ mermasse genießt“, oder wir werden zur Frage gedrängt, „wem, welchem End‑ zwecke diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind“.84 Vor der Schlacht‑ bank der Geschichte stehend, sieht Hegel nur zwei Möglichkeiten: Grand Hotel Abgrund oder Theodizee. Adorno entzieht sich dieser Alternative. Seine Kritik an der Geschichts‑ schreibung im Geiste des goetheschen Spießbürgers, für den Geschichte darin besteht, dass sich die Völker in weiter Ferne auf den Kopf hauen, entspricht der hegelschen Kritik am suave mari magno. Auf der anderen Seite verwirft Ador‑ no jeglichen Versuch, dem Leiden einen Sinn zu geben; er sucht vielmehr, die Negativität der Schlachtbank in ihrer Gesamtheit in seinen Begriff von Ge‑ schichte aufzunehmen. Die Differenz zu Hegel ist dabei nicht bloß eine syste‑ matische, mithin nicht allein dem Negativismus Adornos geschuldet, der im Gegensatz zum hegelschen eine rückhaltlose Akzeptanz individuellen und kol‑ lektiven Leidens und in eins damit eine ebenso rückhaltlose Kritik der Ge‑ schichte, die ein solches Maß an Leid produziert, erlaubt; seit Hegels Zeiten ist das geschichtliche Leid in einem Maße angewachsen, das die Problematik des hegelschen Versuchs einer Theodizee der Geschichte in einem Ausmaß ver‑ schärft, das diesen Versuch von vornherein korrumpiert: Auschwitz lässt nicht einmal mehr die Frage nach einem vernünftigen Endzweck aufkommen. Statt aber in stummer Trauer zu verharren, versucht Adorno, dieses Leid noch in seinen Begriff von Geschichte aufzunehmen. Der Versuch mündet in einer Um‑ kehrung der hegelschen These von der Vernunft in der Geschichte. c.  Die Unvernunft in der Geschichte Die These, Adorno nehme eine Umkehrung hegelscher Gedanken vor, ist im Falle der Vernunft in der Geschichte sowohl erhellend wie verstellend: erhel‑ lend, weil sie auf die zentralen Umdeutungen hinweist; verstellend, weil sie zu Simplifizierungen verleitet. Die Umschläge sind nicht einfache Umdrehungen, sondern subtile Verlagerungen in der hegelschen Matrix, die dann zu einer Dif‑ ferenz ums Ganze werden. Bereits im ersten Kapitel haben wir gesehen, dass 84 Hegel:

Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S.  35.

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Adorno nicht einfach die Wirklichkeit für unvernünftig erklärt, sondern in ei‑ ner geschichtlichen Perspektive noch an der Realisierung der Vernunft in der Wirklichkeit festhält. Diese These gilt es zu differenzieren. Zu fragen ist, wie die hegelsche Vernunft bei Adorno in Unvernunft umschlägt und inwieweit Adorno einer hegelschen Auffassung von Vernunft verpflichtet bleibt. Auch hier bietet sich der Begriff des Weltgeistes als Leitfaden an. Der Weltgeist ist bei Hegel in zweifacher Weise mit der Vernunft in der Ge‑ schichte verbunden. Er ist einerseits selbst die Vernunft der Geschichte, nämlich als deren gesetzmäßiger Verlauf; andererseits ist er als dieser gesetzliche Verlauf im emphatischen Sinne vernünftig. Wenn auch der Weltgeist beides in sich ver‑ eint, so wird der Unterschied der beiden Vernunftbegriffe auch von Hegel zu‑ nächst explizit gemacht, wenn er in der Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte „an zwei Formen und Gesichtspunkte über die all‑ gemeine Überzeugung, daß Vernunft in der Welt und ebenso in der Weltge‑ schichte geherrscht habe und herrsche“ erinnern will.85 Die Vernunft als νοῦς wird unterschieden von der Vernunft als göttlicher Vorsehung. Der νοῦς ist als ihrer selbst unbewusste Vernunft konzipiert, er ist in Hegels Worten: „nicht eine Intelligenz als selbstbewußte Vernunft, nicht ein Geist als solcher; beides müssen wir sehr wohl voneinander unterscheiden“. Der νοῦς kann als Vernunft im Sinne eines Naturgesetzes verstanden werden, wie Hegel in den Vorlesungen andeutet: „Die Bewegung des Sonnensystems erfolgt nach unveränderlichen Gesetzen, diese Gesetze sind die Vernunft desselben; aber weder die Sonne noch die Planeten, die in diesen Gesetzen um sie kreisen, haben ein Bewußtsein darüber.“86 Allerdings soll nicht nur die Natur über eine erkennbare Gesetzmä‑ ßigkeit verfügen, sondern auch die gesamte Welt des objektiven Geistes. Von der Vernunft als Gesetzmäßigkeit wird der emphatische Vernunftbegriff unter‑ schieden, der einer ihrer selbst bewussten Vernunft, die, in Hegels Worten, „Weisheit nach unendlicher Macht, welche ihre Zwecke, d. i. den absoluten, ver‑ nünftigen Endzweck der Welt verwirklicht; die Vernunft ist das ganz frei sich selbst bestimmende Denken“.87 Die Anstrengungen nicht bloß der Geschichts‑ philosophie, sondern der gesamten Philosophie Hegels gehen auf die Vereini‑ gung dieser beiden Vernunftformen. Der Gedanke des νοῦς besagt, wie im ers‑ ten Kapitel ausgeführt, nicht bloß, dass die Welt nach Gesetzen abläuft, die er‑ kennbar sind, sondern dass die Welt bereits an sich vernünftig ist, nun aber noch an und für sich vernünftig werden muss – der νοῦς soll selbstbewusst und damit wirklich werden. Die Philosophie bringt das zustande, indem sie erkennt, dass der νοῦς auch in emphatischem Sinne vernünftig ist; 88 sie ist die Form des abso‑ 85  Ebd., S.   23; vgl. zum Folgenden auch die Parallelstelle in: ders.: Die Vernunft in der Geschichte, S.  37 ff. 86 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S.  23. 87  Ebd., S.  25. 88  Vgl. Hegel: Enzyklopädie I, S.  47 f., §  6 . Vor diesem Programm ist die Sentenz aus der

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luten Geistes, in der die Vernunft zum vollen Bewusstsein ihrer selbst kommt. 89 Im hegelschen System besitzt hat die Philosophie der Geschichte den doppelten Auftrag, einen νοῦς der Geschichte auszumachen und zu zeigen, dass dieser auch vernünftig ist. Vernunft als νοῦς und Vernunft im emphatischen Sinne sind bei Hegel nicht erst am im absoluten Geist eine Vernunft; sie sind es bereits am Anfang. Die Vernunft als Substanz ist immer schon die Vernunft als Subjekt und es kommt nur darauf an die Substanz auch als Subjekt aufzufassen, wie Hegel es in der Phänomenologie des Geistes programmatisch formuliert.90 Adornos Trennung von Dialektik und Idealismus hat zur Folge, dass die spe‑ kulative Einheit des Vernunftbegriffs aufgegeben wird; die Vernunft bricht aus‑ einander, aber ihre Hälften bleiben für Adorno, wie bereits für Marx, verbind‑ lich. Wenn Marx sagt: „Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form.“,91 so markiert er nicht bloß eine geschichtliche Diffe‑ renz, sondern auch eine systematische: zwischen herrschender Vernunft und emphatischer Vernunft. Adorno macht, wie oft, diese Trennung nicht explizit kenntlich; sie ist aber vergleichsweise klar aus der Bewegung der Begriffe eines für sein Werk zentralen dialektischen Umschlags abzulesen: dem von Vernunft in Unvernunft.92 Offensichtlich sind bei diesem Umschlag zwei Vernunftbe‑ griffe im Spiel: Die Vernunft, die umschlägt, ist die herrschende Vernunft; Un‑ vernunft ist sie nur gemessen am Maßstab emphatischer Vernunft. Selbst ist sie noch nicht Vernunft im emphatischen Sinne, sondern bloß Vernunft als Gesetz‑ mäßigkeit. Damit bietet sich auch Adornos Dialektik dem alten Einwand preis, sie könne nur aufgrund von Äquivokationen funktionieren. Adorno selbst hat diesen Einwand gegen Hegel mit einem Argument entkräftet, das auch für seine Dialektik, gerade an dieser Stelle, noch Gültigkeit besitzt: „Wo Hegel formal ihrer sich schuldig macht, handelt es sich meist um inhaltliche Pointen, um die Explikation dessen, daß zwei distinguierte Momente ebenso verschieden wie Vorrede der Rechtsphilosophie: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ (Hegel: Rechtsphilosophie, S.  24.) zu verstehen. Vgl. dazu auch: ders.: Enzyklopädie I, S.  47 ff., §  6 A. 89 „Dieser Begriff der Philosophie ist die sich denkende Idee, die wissende Wahrheit (§  236), das Logische mit der Bedeutung, daß es die im konkreten Inhalte als in seiner Wirk‑ lichkeit bewährte Allgemeinheit ist. Die Wissenschaft ist auf diese Weise in ihren Anfang zurückgegangen und das Logische so ihr Resultat als das Geistige, daß es aus dem vorausset‑ zenden Urteilen, worin der Begriff nur an sich und der Anfang ein Unmittelbares war, hiermit aus der Erscheinung, die es darin an ihm hatte, in sein reines Prinzip zugleich als in sein Ele‑ ment sich erhoben hat.“ Hegel: Enzyklopädie III, S.  393, §  574. 90 Hegel: Phänomenologie, S.  2 2 f. 91  Marx, Karl: „Briefe aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern“, MEW 1, S.  337–346, hier S.  345. 92  Dieser Umschlag findet sich an zahlreichen Stellen in Adornos Werk. Vgl. etwa: Ador‑ no: Minima Moralia, S.  81; ders.: „Erfahrungsgehalt“, S.  324; ders.: Negative Dialektik, S.  53 f.; ders.: „Aberglaube aus zweiter Hand“, GS 8, S.  147–176, hier S.  158; ders.: „Individu‑ um und Organisation“, S.  445; ders.: „Das Bewusstsein der Wissenssoziologie“, GS 10.1, S.  31–45, hier S.  45; ders.: „Fortschritt“, S.  626; ders.: Philosophie der neuen Musik, S.  112 f.

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eines sind.“93 Zwar sind bei Adorno die Vernunftmomente nicht eines – noch nicht –, aber sie sind in ihrer Nichtidentität doch aufeinander bezogen, durchei‑ nander vermittelt im strengen Sinn. Vernunft ist ein emphatischer Begriff in dem im ersten Kapitel dargelegten Sinn: Die vorhandene Vernunft wird an ih‑ rem emphatischen Begriff gemessen und von diesem her als Unvernunft denun‑ ziert; zugleich ist im emphatischen Begriff auch ein utopisches Moment enthal‑ ten: Die herrschende Vernunft soll vernünftig werden. Der Weltgeist ist die Vernunft zunächst im Sinne des νοῦς, einer Logik der Geschichte, die zwar eine gewisse Gesetzmäßigkeit besitzt, deshalb aber nicht im emphatischen Sinne vernünftig ist. Nach Adorno ist es gerade umgekehrt; die Vernunft der Geschichte ist im emphatischen Sinne die Unvernunft: „Nicht erst heute ist die Vernunft des Weltgeistes gegenüber der potentiellen, dem Ge‑ samtinteresse der sich vereinenden Einzelsubjekte, von dem er differiert, die Unvernunft.“94 Adorno macht diesen Umschlag noch an Hegel fest. Was er an dessen Konzeption des Weltgeistes kritisiert, ist die Hypostasis der Vernunft des Weltgeistes gegenüber den Individuen. Hegel falle dadurch „in eben jene Abstraktheit der Vernünftigkeit als der Logik der Dinge, unabhängig von ihrem Terminus ad quem bei den Menschen, zurück“.95 Nun vollzieht Adorno an die‑ ser Stelle in der Negativen Dialektik einen seiner bekannten Kniffe: Er erklärt die Unwahrheit Hegels zum wahren Ausdruck der Erfahrung der Wirklichkeit. Die hegelsche Hypostasis der Vernunft der Geschichte gegenüber den Einzelin‑ teressen der Menschen erfasst die tatsächliche Hypostasis der Einzelinteressen zum Gattungsinteresse; in dieser Hypostasis aber schlägt das vernünftige Ein‑ zelinteresse in objektive Unvernunft um. Dieser Umschlag soll im ironischen benutzten Begriff des Weltgeistes ausge‑ drückt sein. Ironisch heißt hier: Geschichte hat kein konstruierbares Gesamt‑ subjekt, muss aber notwendig so erscheinen; notwendig, weil die Einzelsubjek‑ te sich nicht in der Geschichte erkennen: „Geschichte aber wird mit jenen Qua‑ litäten ausgestattet, weil über die Jahrtausende das Bewegungsgesetz der Gesellschaft von ihren Einzelsubjekten abstrahierte.“96 Abstraktion vom Ein‑ zelinteresse und Umschlag in Unvernunft gehen zusammen: Das Interesse der Individuen geht zunächst auf Selbsterhaltung; dieses Interesse schlägt in dem Moment in Unvernunft um, in dem es als Gattungsinteresse hypostasiert wird und nicht mehr auf die Einzelinteressen der Individuen bezogen wird, wie Adorno an einer zentralen Stelle des zweiten Modells ausführt: [O]hne die Zession des selbsterhaltenden Interesses an die, im bürgerlichen Denken meist vom Staat repräsentierte Gattung vermöchte in entwickelteren gesellschaftlichen Verhältnissen das Individuum nicht sich selbst zu erhalten. Durch diesen für die Indivi‑ 93 

Adorno: „Skoteinos oder Wie zu lesen sei“, S.  344. Negative Dialektik, S.  311. 95 Adorno: Geschichte und Freiheit, S.  62. 96 Adorno: Negative Dialektik, S.  299. 94 Adorno:

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duen notwendigen Transfer jedoch tritt die allgemeine Rationalität unvermeidlich fast in Gegensatz zu den besonderen Menschen, die sie negieren muß, um allgemein zu werden, und denen sie zu dienen vorgibt, und nicht bloß vorgibt. In der Allgemeinheit der ratio, welche die Bedürftigkeit alles Besonderen, sein Angewiesensein aufs Ganze ratifiziert, entfaltet sich kraft des Abstraktionsprozesses, auf dem jene beruht, ihr Widerspruch zum Besonderen. Allbeherrschende Vernunft, die über einem anderen sich instauriert, verengt notwendig auch sich selbst.97

Adorno greift hier einen Gedankengang der Dialektik der Aufklärung auf: Die Selbsterhaltung zwingt die Individuen zu Aktionen, die schließlich negativ auf sie zurückschlagen; die ratio, welche die Gattung erhalten soll, schlägt um in Unvernunft. In dieser These geht es Adorno nicht darum, die Errungenschaften der Moderne zu leugnen; er misst Vernunft und Unvernunft an den extremen Manifestationen der Moderne. Die Extreme sind nicht Betriebsunfälle der Ge‑ schichte, sondern erklären sich aus dem Prozess der Hypostasis einer bloß par‑ tikularen, nämlich instrumentellen Vernunft als ganzer Vernunft; dabei ist die Diagnose immer bereits auf die Idee einer vollen Vernunft verwiesen: „Gemes‑ sen an einer vollen Vernunft, enthüllt die geltende sich bereits an sich, ihrem Prinzip nach, als polarisiert und insofern irrational.“98 Die Antwort auf Sand‑ kaulens Frage, „was Adorno unter dieser vollen Vernunft versteht“,99 erschließt sich aus Adornos Kritik der hegelschen Vernunft. War diese partikular, weil sie vom Besonderen abstrahierte, so wäre die volle Vernunft eine, die diese Abs‑ traktion nicht vornimmt, eine, in der tatsächlich die Interessen des Besonderen im Allgemeinen verwirklicht sind, so dass das Gattungsinteresse nur verstan‑ den wird als durch die Interessen der Einzelsubjekte vermittelt und nicht jen‑ seits von diesen. Dass die Geschichte bis jetzt noch nicht den Interessen der Einzelsubjekte gemäß war, sondern dass sich Selbsterhaltung als Gattungsinte‑ resse hypostasiert und sich dadurch ins Gegenteil verkehrt hat, macht den Um‑ schlag von Vernunft in Unvernunft aus. Um diesen Umschlag zu verdeutlichen, bietet sich ein Rekurs auf Adornos Behandlung des Krieges an, zumal es auch in den Grundlinien der Philosophie des Rechts eine Stelle gibt, in der Hegel den Krieg auf die Frage der Vernunft bezieht. An der Bewegung von Hegel zu Adorno wird der Umschlag greifbar. In einem solchen Vergleich kann das leitende Interesse nicht darin bestehen, Adorno gegen Hegel auszuspielen, sondern es muss um einen objektiven Gehalt gehen. Einen solchen stellt der technologische Fortschritt in der Kriegsführung dar. Hegel hält den Einfluss der Technologie auf die Kriegsführung für sekun‑ där, denn das Prinzip, das die Kriegsführung verwandelt, ist auch für die Erfin‑ dungen verantwortlich, die diese veränderte Kriegsführung erlauben. So dedu‑ ziert Hegel die Erfindung des Feuergewehrs aus dem Prinzip der Moderne, dem 97 

Ebd., S.  312.

99 

Sandkaulen: „Modell 2“, S.  176.

98 Ebd.

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Allgemeinen, das zugleich eine abstrakte, weil nicht mehr persönliche Form von Tapferkeit und zugleich eine andere Form der Kriegsführung hervorbringt: Das Prinzip der modernen Welt, der Gedanke und das Allgemeine, hat der Tapferkeit die höhere Gestalt gegeben, daß ihre Äußerung mechanischer zu sein scheint und nicht als Tun dieser besonderen Person, sondern nur als [Tun des] Gliedes eines Ganzen, – ebenso daß sie als nicht gegen einzelne Personen, sondern gegen ein feindseliges Ganzes über‑ haupt gekehrt, somit der persönliche Mut als ein nicht persönlicher erscheint. Jenes Prin‑ zip hat darum das Feuergewehr erfunden, und nicht eine zufällige Erfindung dieser Waf‑ fe hat die bloß persönliche Gestalt der Tapferkeit in die abstraktere verwandelt.100

Die neue Gestalt der Tapferkeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie zwar das ei‑ gene Leben aufs Spiel setzt und somit „die höchste Selbständigkeit des Fürsichseins“ ist, aber in vollkommenem Gegensatz dazu auch eine vollkommene Auf‑ gabe der eigenen Person ist, nämlich durch „gänzlichen Gehorsam und Abtun des eigenen Meinens und Räsonierens“, die die eigene Persönlichkeit dem End‑ zweck der Staatserhaltung unterordnet. Dieser Gegensatz in der neuen Gestalt der Tapferkeit führt zu einer Art Humanisierung des Krieges, denn der Gegen‑ satz artikuliert sich auch im Verhalten gegen den Feind, als, in Hegels Worten: „das feindseligste und dabei persönlichste Handeln gegen Individuen bei voll‑ kommen gleichgültiger, ja guter Gesinnung gegen sie als Individuen“.101 Die Feindseligkeit richtet sich im humanen Krieg nicht gegen das Individuum als Individuum: Feind ist es bloß als Vertreter eines feindlichen Allgemeinen. Das verdeutlicht ein Zusatz zu einem späteren Paragraphen: „Die neueren Kriege werden daher menschlich geführt, und die Person ist nicht in Haß der Person gegenüber. Höchstens treten persönliche Feindseligkeiten bei Vorposten ein, aber in dem Heere als Heer ist die Feindschaft etwas Unbestimmtes, das gegen die Pflicht, die jeder an dem anderen achtet, zurücktritt.“102 Die unpersönliche Kriegsführung, in der Individuen nur als Vertreter eines feindlichen Allgemei‑ nen bekämpft werden und das Feuergewehr, das diese neue Art der Kriegsfüh‑ rung erlaubt, sind beide derselben Vernunft zu verdanken. So sind der Krieg als solcher, die Art der Kriegsführung und der technologische Fortschritt allesamt Ausdruck derselben Vernunft. Bei Adorno stellt sich dieses Verhältnis von Krieg, Kriegsführung und tech‑ nologischem Fortschritt anders dar. Der Fokus liegt im 33. Aphorismus der Minima Moralia („Weit vom Schuß“) auf dem technologischen Fortschritt und dessen Verfilzung mit ökonomischen Interessen: Der Krieg ist vor allem ande‑ ren mechanisierter Krieg und das bestimmt seinen Rhythmus, die Art, wie er erfahren wird und, was an dieser Stelle von Interesse ist: seine Vernunft und

100 Hegel:

Rechtsphilosophie, S.  496, §  328 A. Ebd., S.  496, §  328. 102  Ebd., S.  502, §  338 Z. 101 

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seine Humanität. Zur Erläuterung des Zusammenhangs von Technologie und Vernunft greift Adorno explizit auf das hegelsche Bild vom Weltgeist zurück: Hätte Hegels Geschichtsphilosophie diese Zeit eingeschlossen, so hätten Hitlers Robot‑ bomben, neben dem frühen Tod Alexanders und ähnlichen Bildern, ihre Stelle gefunden unter den ausgewählten empirischen Tatsachen, in denen der Stand des Weltgeists un‑ mittelbar symbolisch sich ausdrückt. Wie der Faschismus selber sind die Robots lanciert zugleich und subjektlos. Wie jener vereinen sie die äußerste technische Perfektion mit vollkommener Blindheit. Wie jener erregen sie das tödlichste Entsetzen und sind ganz vergeblich. – ‚Ich habe den Weltgeist gesehen‘, nicht zu Pferde, aber auf Flügeln und ohne Kopf, und das widerlegt zugleich Hegels Geschichtsphilosophie.103

Die Robotbomben, mit denen Adorno die V1-Raketen der Nazis meint, sind nicht nur der neue Ausdruck des Weltgeistes, sie sind auch die Steigerung des Prinzips, das sich im Feuergewehr zeigte: der unpersönlichen Kriegsführung. Bis zur Entwicklung der V2-Rakete war die V1-Rakete – der erste Marschflug‑ körper – tatsächlich eine der technologisch fortschrittlichsten Waffen ihrer Zeit; Ausdruck davon war ihre Reichweite. Wo der Schütze des hegelschen Feu‑ ergewehrs sein Opfer noch vor Augen hatte, als er den Abzug betätigte, trifft die Rakete ihre Opfer weit weg von den Augen dessen, der sie abfeuerte. Die Rakete trifft ihre Opfer wahllos und als blindes Schicksal; ihre technologische Perfektion, mithin die äußerste Steigerung ihrer Vernunft, schlägt um in die äußerste Unvernunft: die blinde Vernichtung von Menschen. So drückt der in der Rakete inkarnierte Weltgeist die geschichtliche Phase aus, in der die instru‑ mentelle Rationalität zur bestimmenden Kraft der geschichtlichen Bewegung geworden ist, sie in Unvernunft verkehrt und die Geschichte den Menschen als ihnen fremde Objektivität gegenübertreten lässt. Derselbe Umschlag zeichnet sich in der Humanität des Krieges ab. Auch die‑ se wird, ähnlich wie bei Hegel, vom technologischen Fortschritt affiziert. Ador‑ no führt das an den Eindrücken aus dem Krieg im Pazifikraum vor: Der Eindruck ist nicht der von Kämpfen, sondern der mit unermeßlich gesteigerter Ve‑ hemenz vorgenommener mechanischer Straßen- und Sprengarbeiten, auch von ‚Ausräu‑ chern‘, Insektenvertilgung im tellurischen Maßstab. Operationen werden durchgeführt, bis kein Gras mehr wächst. Der Feind fungiert als Patient und Leiche. Wie die Juden unterm Faschismus gibt er nur noch das Objekt technisch-administrativer Maßnahmen ab, und wenn er sich zur Wehr setzt, hat seine Gegenaktion sogleich denselben Charak‑ ter. Dabei das Satanische, daß in gewisser Weise mehr Initiative beansprucht wird als im Krieg alten Stils, daß es gleichsam die ganze Energie des Subjekts kostet, die Subjektlo‑ sigkeit herbeizuführen. Die vollendete Inhumanität ist die Verwirklichung von Edward Greys humanem Traum, dem Krieg ohne Haß.104

Der bereits von Hegel in Aussicht gestellte Krieg ohne Hass ist hier grausame Realität geworden: Wie gewünscht werden Individuen nicht als Individuen ge‑ 103 Adorno: 104 

Minima Moralia, S.  61. Ebd., S.  62 f.

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tötet, sondern als Verkörperungen eines Allgemeinen. Die fortschreitende Technologie, die den vollkommen unpersönlichen Krieg ermöglicht, verwirk‑ licht ihn als sein Gegenteil; die anvisierte Humanität schlägt in Inhumanität um. So ist nicht überraschend, dass Adorno dem Krieg keine vernünftige Funk‑ tion und kein „sittliches Moment“ mehr zuspricht. Die Vernunft des Krieges beschränkt sich auf die instrumentelle Vernunft, und die bemisst sich an Effizi‑ enz und Tötungspotential. Was sich in diesem Vergleich ausspricht, ist ein ob‑ jektiver Umschlag, den Adornos Philosophie zu verzeichnen sucht. Mit der Atombombe bringt instrumentelle Vernunft, die ursprünglich ein Mittel der Selbsterhaltung war, die Möglichkeit der Selbstvernichtung hervor. Adorno spricht das im selben Aphorismus aus: „Der Mechanismus der Reproduktion des Lebens, seiner Beherrschung und seiner Vernichtung ist unmittelbar der gleiche.“105 Reproduktion, Beherrschung und Vernichtung werden tendenziell von instrumenteller, von der Relation auf vernünftige Zwecke sich emanzipie‑ render Vernunft bestimmt; als die Geschichte dominierendes Prinzip schlägt instrumentelle Vernunft, Vernunft im Dienste der Selbsterhaltung, um in die Unvernunft der Geschichte. Maßstab der Unvernunft ist, wie Tilo Wesche gese‑ hen hat, „der Rückfall der Moderne hinter ihre geschichtlichen Möglichkeiten. [. . .] Die Moderne bleibt hinter ihren Möglichkeiten zurück, indem Täuschun‑ gen und Leiden in Kauf genommen werden, die angesichts der Verteilungs- und Erkenntnismöglichkeiten moderner Gesellschaften vermeidbar sind.“106 Ge‑ messen am Potential der Linderung des Leidens, das ebenso von technologi‑ scher Rationalität gezeitigt wird, ist die Produktion von Massenvernichtungs‑ waffen durch dieselbe Rationalität irrational; das moderne Verhältnis von Po‑ tential und Verwirklichung der Vernunft stellt gegenüber früheren Epochen gar eine Steigerung der Irrationalität dar, wie Adorno in einer Vorlesung sagt: Es ist irrationaler, daß man heute Millionen von Menschen mit einem Schlag vernichten kann, als es irgendeine Seuche, die solche Vernichtungen bewirkt hat, jemals vorher ge‑ wesen ist, weil der Widerspruch zwischen dem Potential, den Tod einzuschränken, und der Realität, den Tod in einer so unendlichen Weise zu organisieren und zu multiplizie‑ ren, noch viel flagranter geworden ist, als das je der Fall gewesen ist.107

Diesen Widerspruch registriert Adorno im Begriff des Weltgeistes: Weltgeist bezeichnet das Interesse der Selbsterhaltung, das von den Individuen ans Allge‑ meine übergegangen ist und sich gegenüber ihren Einzelinteressen hypostasiert hat. In dieser Abstraktion verengt es sich und schlägt in objektive Unvernunft um; so ist der Weltgeist als Bewegungsgesetz der Geschichte zugleich ihre Un‑ vernunft.

105 

Ebd., S.  59. Wesche: „Negative Dialektik: Kritik an Hegel“, S.  322 f. 107 Adorno: Philosophie und Soziologie, S.  197. 106 

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III.  Der Weltgeist als Bann und Universalgeschichte Hegelkritik und Geschichtsreflexion kommen im Begriff des Weltgeistes zu‑ sammen, indem der Weltgeist als die an sich wahre, aber von Hegel affirmativ umgedeutete Beschreibung der Bewegung der Geschichte gedacht wird. Der Weltgeist ist ironisch zu verstehen, weil Adorno ihn in einer kritischen Intenti‑ on beibehält; Geschichte ist Weltgeist, aber als solche negative Geschichte, die nichtseinsollende Geschichte. Deshalb lässt Adorno den Begriff des Weltgeistes auch nicht stehen, sondern löst ihn am Schluss des Modells in den Begriff der Naturgeschichte auf. Der Weltgeist ist nicht die Geschichte an sich, sondern bloß die Geschichte, wie sie den Menschen erscheinen muss: die Ideologie der Geschichte. Als solche Ideologie wirkt der Weltgeist auf die Menschen als Bann (a); zugleich ist im Begriff des Weltgeistes auch die Lösung eines Problems der Geschichtsphilosophie angelegt: die Frage nach der Möglichkeit von Universal‑ geschichte. Jenseits seiner hegelschen Fassung wird der Begriff des Weltgeistes für Adorno zum Konstrukt, das die Forderung nach Universalgeschichte erfül‑ len kann (b). a.  Die subjektive Gestalt des Weltgeistes: der Bann Mit dem Begriff „Bann“ bezeichnet Adorno die Gestalt, in welcher der Welt‑ geist die Subjekte affiziert.108 In dieser Bedeutung kommt dem Begriff des Ban‑ nes in der Philosophie Adornos, besonders in seiner Geschichtsphilosophie, seiner Gesellschaftstheorie und seiner Moralphilosophie eine bedeutende Rolle zu. Der Bann soll die Erklärung dafür liefern, dass die Menschen sich gegenüber der Negativität des Allgemeinen passiv verhalten. Dabei impliziert der Bann auch eine Kritik an Theorien, die man im weitesten Sinn als liberalistische be‑ zeichnen könnte, an Theorien, die unter Leugnung der Vormacht des Allgemei‑ nen auf den Standpunkt des atomistischen Individuums zurückfallen. Dabei wird, so Adorno, die Problematik verkehrt: „Nach der Phrase, es käme allein auf den Menschen an, schieben sie alles den Menschen zu, was an den Verhält‑ nissen liegt, wodurch dann wieder die Verhältnisse unbehelligt bleiben.“109 Nicht zuletzt gegen diese Subjektivierung der objektiven Problematik des All‑ gemeinen ist die Theorie des Bannes konzipiert. In dieser Doppelfunktion, ei‑ nerseits als Erklärung subjektiver Ohnmacht, andererseits als Kritik an der Entlastung der Verhältnisse, spielt der Bann vor allem in den gesellschafts- und kulturkritischen Essays von Adorno eine wichtige Rolle.110 108 Adorno: 109  Adorno:

Negative Dialektik, S.  337. „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“, GS 10.2, S.  555–572, hier

S.  560. 110  Vgl. etwa Adorno: „Freizeit“, GS 10.2, S.  6 45–655. In erkenntnistheoretischen Zusam‑ menhängen, in denen der Begriff ebenfalls benutzt wird, meint er der Sache nach etwas ande‑

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In der Negativen Dialektik versucht Adorno, dieses für ihn so bedeutende Konzept theoretisch zu fundieren, und zwar als die subjektive Gestalt des Welt‑ geistes. Er erklärt den Begriff mit Verweis auf den Fetischcharakter der Ware: „In der menschlichen Erfahrung ist der Bann das Äquivalent des Fetischcharak‑ ters der Ware. Selbstgemachtes wird zum An sich, aus dem das Selbst nicht mehr hinausgelangt. [. . .] Als Bann ist das verdinglichte Bewußtsein total gewor‑ den.“111 Bei den belasteten Kategorien „Fetischcharakter“ und „Verdingli‑ chung“ müssen wir im Hinterkopf behalten, dass Adorno diese Konzepte als Bewusstseinsformen behandelt und sie als solche für ihn sekundär, oder, wie er von der Verdinglichung an anderer Stelle sagt: Epiphänomene sind.112 Das ist vor allem gegen revisionistische Marxlektüren formuliert, die sich auf Bewusst‑ seinskategorien wie Verdinglichung oder Entfremdung stützen und damit den‑ selben Fehler begehen, wie die liberalistischen Theorien: Sie privilegieren das atomistische Bewusstsein gegenüber dem allgemeinen Bewegungsgesetz der Gesellschaft. Nach Adorno sind die in Frage stehenden Kategorien nur nütz‑ lich, solange sie nicht bloß als Bewusstseinstatsachen interpretiert werden. So schreibt er in einem Brief an Benjamin: „Der Fetischcharakter der Waren ist keine Tatsache des Bewusstseins, sondern dialektisch im eminenten Sinn, als er Bewusstsein produziert.“113 Fetischcharakter, Verdinglichung und Bann sind also nicht bloß subjektive Erfahrungsformen der Objektivität, sondern von der Objektivität produzierte Bewusstseinsformen. Der Bann beschreibt, wie und zu was das objektive Bewegungsgesetz der Gesellschaft das Bewusstsein der Subjekte konstituiert. Damit gehört der Bann zu den Begriffen, in denen sich, wie Honneth zeigt, eine bestimmte Vermutung ausspricht, die „den meisten Ansätzen der kritischen Theorie“ zugrundeliegt: „Die sozialen Umstände, die die Pathologie kapitalistischer Gesellschaften ausmachen, weisen die struktu‑ relle Eigentümlichkeit auf, gerade jene Tatbestände zu verschleiern, die in be‑ sonders starkem Maße Anlaß zu öffentlicher Kritik wären.“114 Das Theorem des Bannes und besonders die These einer Regression unter dem Bann sind verantwortlich für den scheinbaren Widerspruch zwischen The‑ orie und Praxis in der Philosophie Adornos. Diese ist in eminentem Sinne eine Philosophie des Individuums und will nicht nur den subjektiven Standpunkt in der Theorie fruchtbar machen, sondern auch das Subjekt gegenüber dem Druck des Allgemeinen stärken. In konkreter Form hat Adorno diesen Anspruch in einer Vorlesung ausgesprochen. Die Motive, die er gegenüber seinen Studenten als Movens seiner Lehrtätigkeit nennt, dürften auch für seine publizierten res: Er bezeichnet dort den Bann des Idealismus im weitesten Sinn, das heißt die Gefangenheit des Erkenntnissubjekts in seinen eigenen Konstitutionsleistungen. 111 Adorno: Negative Dialektik, S.  339. 112  Vgl. Ebd., S.  190 ff. 113  Brief vom 2.8.1935–5.8.1935. Adorno/Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, S.  139. 114  Honneth: „Pathologie der Vernunft“, S.  40 f.

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Schriften gelten: Ihr Sinn ist nach Adorno kein anderer „als – soweit das eben einem einzelnen möglich ist – die Widerstandskraft in Ihnen zu stärken, die durch unzählige Mechanismen ständig herabgesetzt zu werden droht, ohne daß irgendeinen einzelnen dafür der geringste Vorwurf zu treffen hätte“.115 Dieser Intention scheint das Theorem des Bannes zu widersprechen, insofern die The‑ se einer Regression unter dem Bann impliziert, dass das Subjekt nicht die Mög‑ lichkeit hat, das Allgemeine zu ändern. Adorno formuliert eine Theorie, welche die Negativität des Allgemeinen in ihrer ganzen Breite vor Augen stellt, weigert sich aber, daraus Folgerungen für die Praxis zu ziehen. Das Konzept der Re‑ gression unter dem Bann aber soll nicht die Negativität des Allgemeinen ins Totale überhöhen, sondern seine Wirkung auf die Subjekte so erfassen, dass die wirklichen Möglichkeiten kritischen Verhaltens von den bloßen Pseudoaktivi‑ täten, wie Adorno das nennt, geschieden werden können. Eine Stelle aus der Negativen Dialektik deutet das an: Das Realitätsprinzip, dem die Klugen folgen, um darin zu überleben, fängt sie als böser Zauber ein; sie sind desto weniger fähig und willens, die Last abzuschütteln, als der Zau‑ ber sie ihnen verbirgt: sie halten sie für das Leben. Metapsychologisch trifft die Rede von Regression zu. Alles, was heutzutage Kommunikation heißt, ausnahmslos, ist nur der Lärm, der die Stummheit der Gebannten übertönt. Die einzelmenschlichen Spontanei‑ täten, mittlerweile auch weithin die vermeintlich oppositionellen, sind zur Pseudoakti‑ vität, potentiell zum Schwachsinn verurteilt.116

Hier klingt bereits an, dass der Bann, als Gestalt, in der der Weltgeist die Sub‑ jekte affiziert bloß eine Form des falschen Bewusstseins ist und darin seine Kraft hat. Deshalb wäre ideologiekritisch anzusetzen und nicht in übereilter Praxis. Wellmer sieht darin die „eigentümliche [. . .] Radikalität“ von Adornos Denken: „Dieses wollte eingreifen in die herrschenden Denkformen, um den Boden vorzubereiten für eine zukünftig vielleicht einmal mögliche Praxis.“117 So verstanden dient die rückhaltlose Kritik an falscher Praxis nicht der Ontolo‑ gisierung der Negativität in einer messianischen Perspektive, sondern steht als Kritik an vermeintlichen Auswegen im Dienste eines zukünftigen, eines wirk‑ lichen Auswegs aus der Negativität. Dass der Bann nicht als unüberwindbar verstanden werden sollte, spricht Adorno im Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag aus: „So un‑ 115 Adorno:

Ästhetik (1958/1959), S.  315. Negative Dialektik, S.  341. Vor diesem Hintergrund liefert das Theorem der Regression unter dem Bann auch eine Erklärung dafür, warum Adorno den Paradigmen‑ wechsel zu einer Kommunikationstheorie, der nach Habermas „zum Greifen nahe“ lag (Ha‑ bermas: Theorie des kommunikativen Handelns, S.  523.), nicht vollzogen hat. Der Rekurs auf Kommunikation musste ihm, da er Kommunikation selbst für vom Bann verformt hielt, schi‑ märisch erscheinen. 117  Wellmer, Albrecht: „Adorno und die Schwierigkeiten einer kritischen Konstruktion der geschichtlichen Gegenwart“, WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg./H. 1 (2007), S.  138–153, hier S.  147. 116 Adorno:

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durchdringlich der Bann, er ist nur Bann.“118 Dass er nur Bann ist, bedeutet: dass er nur eine Form falschen Bewusstseins ist. Darin ist zugleich die Möglich‑ keit einer Aufhebung des Bannes beschlossen, wie Adorno in der Negativen Dialektik ausführt: „Daß es ein falsches ist, verspricht die Möglichkeit seiner Aufhebung: daß es nicht dabei bleibe, daß falsches Bewußtsein unvermeidlich sich über sich hinaus bewegen müsse, nicht das letzte Wort behalten könne.“119 Der Weg dazu ist der der Ideologiekritik; den Bann lösen, heißt den Weltgeist als Ideologie entlarven. Adorno leistet das in den letzten beiden Abschnitten des Modells mit einem Wechsel zum Begriff der Naturgeschichte; insofern trifft Sandkaulens Behauptung nicht zu, der Abschnitt zur Naturgeschichte füge der adornoschen Hegelkritik „nichts Neues hinzu“.120 Vielmehr wird die Ausein‑ andersetzung mit der hegelschen Geschichtsphilosophie erst von der Naturge‑ schichte aus verständlich. Aber vor der Entlarvung des Weltgeistes als Ideologie der Naturgeschichte ist noch ein weiteres Problem anzusprechen, das Adorno mit dem Weltgeist zu lösen versucht: das Problem der Universalgeschichte b.  Kontinuität und Diskontinuität: der Weltgeist als Universalgeschichte Der Begriff der Universalgeschichte ist zwar problematisch, kann aber, so Adornos Überzeugung, in der Geschichtsphilosophie nicht einfach verabschie‑ det werden. Problematisch ist er aus zwei Gründen. Einmal hat die positivistisch fortschreitende historische Wissenschaft die Vorstellung von Totale und durchlaufender Kontinuität zerfällt. Vor ihr hatte die philosophische Konstruktion den dubiosen Vorteil geringerer Detailkenntnis voraus, den sie leicht ge‑ nug als souveräne Distanz für sich verbuchen mochte; freilich auch weniger Angst, Es‑ sentielles zu sagen, das allein aus der Distanz sich konturiert. Andererseits mußte avan‑ cierte Philosophie das Einverständnis zwischen Universalgeschichte und Ideologie ge‑ wahren und das zerrüttete Leben als diskontinuierlich.121

Einerseits ist die Idee universalgeschichtlicher Kontinuität nicht haltbar, weil die detaillierte historische Analyse Brüche aufdeckt, die sich nur durch Un‑ kenntnis historischer Details übergehen lassen; andererseits ist Universalge‑ schichte affirmativ und leugnet die Diskontinuität des Lebens. Beide Male ist die Diskontinuität der Geschichte Einspruch gegen Universalgeschichte. Den‑ noch: Wie O’Connor gesehen hat, ist der Begriff der Diskontinuität zwar kri‑ tisch gegen die Universalgeschichte gedreht, aber nicht als Absage an diese zu verstehen.122 Ohne Universalgeschichte lässt sich gar keine Theorie der Ge‑ schichte formulieren: „Diese als Residuum metaphysischen Aberglaubens 118 

Adorno: „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?“, S.  370. Negative Dialektik, S.  339. 120  Sandkaulen: „Modell 2“, S.  186. 121 Adorno: Negative Dialektik, S.  313. 122  O’Connor: „Adorno’s Reconception of the Dialectic“, S.  5 42 f. 119 Adorno:

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durchstreichen, würde geistig ebenso bloße Faktizität als das einzig zu Erken‑ nende und darum zu Akzeptierende befestigen, wie vordem die Souveränität, welche die Fakten dem totalen Vormarsch des Einen Geistes einordnete, sie als dessen Äußerungen bestätigte.“123 Das Dilemma ist, dass sich ohne Universal‑ geschichte nichts Essentielles über die Geschichte ausmachen lässt, denn dieses lässt sich erst aus einer gewissen Distanz zu den Details konstruieren, während in der Universalgeschichte dieselbe Distanz zu einer Erhebung über die Details führt, die die Diskontinuität der Geschichte leugnet.124 Adornos Lösungsvor‑ schlag lautet: „Diskontinuität jedoch und Universalgeschichte sind zusammen‑ zudenken.“125 Mit dem Begriff der Diskontinuität verfolgt Adorno angesichts der doppelten Problematik der Universalgeschichte ein zweifaches Programm: Einmal will er den Brüchen in der Geschichte gerecht werden, ohne jedoch, wie die positivistisch fortschreitende Geschichtswissenschaft, auf einen nachdrücklichen Begriff von Geschichte, das heißt: eine Kontinuität der Geschichte, zu verzichten. Zu‑ gleich will er auch, diesmal gegen Hegel, mit dem Begriff der Diskontinuität den Momenten gerecht werden, die einer universalhistorischen Konstruktion zu erliegen drohen, weil sie nicht in den von ihr konstruierten Zug passen. Diskon‑ tinuität fungiert hier als Rettung der faulen Existenz. In beiden Fällen soll Dis‑ kontinuität innerhalb der Universalgeschichte und nicht gegen diese eine Ret‑ tung nichtidentischer Momente ermöglichen. O’Connor beschreibt das Ver‑ hältnis treffend: „Discontinuity is posited as a feature of history, not as an alternative theory of history.“126 Adorno bringt diesen Aspekt der Diskontinu‑ ität mit der materialistischen Umwendung der Dialektik in Verbindung. Sie er‑ laube es nicht mehr, diskontinuierliche Momente einer übergreifenden Einheit des Geistes einzuordnen: „Mit der materialistischen Umwendung der Dialektik fiel auf die Einsicht in die Diskontinuität des von keiner Einheit des Geistes und Begriffs tröstlich Zusammengehaltenen der schwerste Akzent.“127 Diskontinu‑ ität ist die Nichtidentität in der Identität der Geschichte, aber nicht dieser unter‑ geordnet, sondern ihr gleichsam logisch äquivalent. Sie steht in der Geschichte, lässt sich aber nicht in deren Zug einordnen. O’Connor verweist hier auf einen Aphorismus der Minima Moralia, in dem dieses Verhältnis ausgesprochen ist: Wenn Benjamin davon sprach, die Geschichte sei bislang vom Standpunkt des Siegers geschrieben worden und müsse von dem der Besiegten aus geschrieben werden, so wäre dem hinzuzufügen, daß zwar Erkenntnis die unselige Geradlinigkeit der Folge von Sieg und Niederlage darzustellen hat, zugleich aber dem sich zuwenden muß, was in solche 123 Adorno:

Negative Dialektik, S.  314. Vgl. Adorno: Geschichte und Freiheit, S.  119 ff. 125 Adorno: Negative Dialektik, S.  314. 126  O’Connor, Brian: „Philosophy of history“, in: Cook, Deborah (Hg.): Theodor Adorno. Key Concepts, Stocksfield 2008, S.  179–195, hier S.  182. 127 Adorno: Negative Dialektik, S.  313 f. 124 

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Dynamik nicht einging, am Wege liegen blieb – gewissermaßen den Abfallstoffen und blinden Stellen, die der Dialektik entronnen sind.128

Die Aufgabe der Geschichtsphilosophie ist demnach eine doppelte: Sie muss die Kontinuität der Geschichte darstellen, dabei aber die Momente hervorheben, die nicht in dieser Kontinuität aufgehen. Oder wie Adorno es in der Negativen Dialektik ausdrückt: „Universalgeschichte ist zu konstruieren und zu leug‑ nen.“129 Das Konzept des Weltgeistes soll dieser Forderung gerecht werden. Es ist die Konstruktion einer Kontinuität von Geschichte, von der zugleich die Substrate dieser Konstruktion, die Menschen, unterschieden werden. Weltgeist und Indi‑ viduum werden von Beginn an als durcheinander vermittelte, aber dennoch nichtidentische Momente gedacht. Dabei werden nicht, wie Sandkaulen meint,130 zwei verschiedene Konzepte von Universalgeschichte unterstellt, so als wäre affirmative Universalgeschichte zu leugnen und negative Universalge‑ schichte zu konstruieren. Zu konstruieren ist Universalgeschichte als Über‑ macht der geschichtlichen Bewegung über die Menschen; zu leugnen ist sie als identisch mit diesen Menschen. Beides, Konstruktion und Leugnung von Uni‑ versalgeschichte, ist im Weltgeist ausgedrückt. Konstruktion ist er als fort‑ schreitende Naturbeherrschung, die sich in auswendige Herrschaft über Men‑ schen und in Herrschaft über inwendige Natur fortsetzt. Adorno hat das in ei‑ nem prägnanten Satz ausgedrückt: „Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabom‑ be.“131 Wie O’Connor sagt, muss diese Passage vorsichtig interpretiert werden, weil sie isoliert verstanden eine eindimensionale Verfallsgeschichte zu formulie‑ ren scheint.132 In Absetzung von O’Connors Interpretation, nach der das Mo‑ ment der Diskontinuität gleichsam von außen in die Theorie der Universalge‑ schichte eingebaut wird,133 meine ich, dass an dieser Stelle ein immanenter dia‑ lektischer Umschlag stattfindet. Das wird im nächsten Satz formuliert: „Sie [die Universalgeschichte, d. Verf.] endet in der totalen Drohung der organisierten 128 Adorno:

Minima Moralia, S.  172. Negative Dialektik, S.  314. 130  Sandkaulen: „Modell 2“, S.  173 f. Sandkaulen muss Adorno zwei verschiedene Konzep‑ te von Universalgeschichte unterstellen, weil es für sie unverständlich ist, wie Adorno an Uni‑ versalgeschichte festhalten will, während er zugleich sein Interesse am Besonderen so nach‑ drücklich bekundet. Auch diese Interpretation verdankt sich Sandkaulens reduktionistischem Verständnis von Adornos Vermittlungsbegriff. 131 Adorno: Negative Dialektik, S.  314. 132  O’Connor: „Philosophy of history“, S.  181; vgl. ders: „Adorno’s Reconception of the Dialectic“, S.  542. 133  „Adorno proposes to modify the thesis of continuity by placing it in dialectical tension with the notion of the discontinuity of history.“ O’Connor: „Philosophy of history“, S.  182.; „What distinguishes Adorno’s theory of history from Hegel’s is not, in fact, a reversal of the historical narrative. It is, rather, his introduction of the notion of historical discontinuity.“ O’Connor: „Adorno’s Reconception of the Dialectic“, S.  542. 129 Adorno:

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Menschheit gegen die organisierten Menschen, im Inbegriff von Diskontinui‑ tät.“134 Die Konstruktion von Universalgeschichte, als Fortschritt der Zerstö‑ rungsmittel, erreicht in der Atombombe einen Umschlagspunkt, an dem Dis‑ kontinuität selbst von der Universalgeschichte hervorgebracht wird. Dieser Umschlag gilt nicht allein für die totale Drohung, die dessen äußerste Zuspit‑ zung darstellt. Diskontinuität ist stets ein Moment, das von der Kontinuität selbst hervorgebracht wird, wie Adorno an dieser Stelle im Rückgriff auf die Dialektik von Identität und Nichtidentität sagt: „Unter dem alles unterjochen‑ den Identitätsprinzip wird, was in die Identität nicht eingeht und der planenden Rationalität im Reich der Mittel sich entzieht, zum Beängstigenden, Vergeltung für jenes Unheil, das dem Nichtidentischen durch Identität widerfährt.“135 Dis‑ kontinuität bezeichnet die Momente, die von der Kontinuität selbst hervorge‑ bracht werden und ihr widersprechen, aber nicht mehr in ihr aufhebbar sind. Dieser Umschlag macht die formale Struktur von Adornos Geschichtsbegriff aus: „Geschichte ist die Einheit von Kontinuität und Diskontinuität“.136 Die Formulierung zeigt an, dass die Struktur dialektisch zu denken ist. O’Connor fragt an dieser Stelle, „what the unifying dimension could be“,137 und meint, Adorno bestimme die Naturbeherrschung als Einheit von Kontinuität und Dis‑ kontinuität. O’Connor stützt sich dabei auf einen Satz, der im Text vor der Definition von Geschichte als Einheit von Kontinuität und Diskontinuität steht. Ich zitiere den Satz im Folgenden im Zusammenhang: Universalgeschichte ist zu konstruieren und zu leugnen. Die Behauptung eines in der Geschichte sich manifestierenden und sie zusammenfassenden Weltplans zum Besseren wäre nach den Katastrophen und im Angesicht der künftigen zynisch. Nicht aber ist darum die Einheit zu verleugnen, welche die diskontinuierlichen, chaotisch zersplitter‑ ten Momente und Phasen der Geschichte zusammenschweißt, die von Naturbeherr‑ schung, fortschreitend in die Herrschaft über Menschen und schließlich die über inwen‑ dige Natur.138

O’Connor stützt sich dabei auf den letzten Satz, den er isoliert zitiert. Dieser Satz wäre aber vielmehr als Explikation des ersten Satzes dieses Passus zu ver‑ stehen. Die Einheit der Naturbeherrschung ist nicht das, was Kontinuität und Diskontinuität in höherer Einheit versöhnt, sondern sie ist die Kontinuität selbst, die von einem diskontinuierlichen Moment zum nächsten treibt, ohne diese Momente in sich aufheben zu können. Da O’Connor Naturbeherrschung nicht der Einheit als Kontinuität, sondern der Einheit als Geschichte im Ganzen zuschreibt, muss ihm Adornos Position problematisch erscheinen, insofern sie auf einer höheren Stufe abermals eine Verfallsgeschichte zu formulieren scheint, 134 Adorno:

Negative Dialektik, S.  314. Ebd., S.  314 f. 136  Ebd., S.  314. 137  O’Connor: „Philosophy of history“, S.  184. 138 Adorno: Negative Dialektik, S.  314. 135 

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in der die Momente der Diskontinuität wiederum aufgehoben sind.139 Dadurch wäre Adorno auf die von ihm kritisierte hegelsche Manier einer Aufhebung der Nichtidentität in einer höheren Identität zurückgefallen; seine Geschichtskon‑ zeption ist aber der Struktur negativer Dialektik verpflichtet. Die Geschichte selbst ist die Einheit, die in zwei durcheinander vermittelte, aber im emphati‑ schen Sinne nichtidentische Momente zerfällt: Kontinuität und Diskontinuität. Kontinuität ist Geschichte als Naturbeherrschung; diese schlägt immer wieder um in Diskontinuität und zeitigt diskontinuierliche Momente, die zwar nicht mehr der Einheit der Naturbeherrschung angehören, aber immer noch der Ge‑ schichte. Geschichte ist die Kontinuität von Naturbeherrschung und zugleich der ständige Umschlag dieser Kontinuität in Diskontinuität. Adornos Ge‑ schichtskonzeption ist eine Universalgeschichte, welche die diskontinuierlichen Momente, die Momente, die nicht ihrer Einheit entsprechen, bewältigen kann, ohne sie aus der Geschichte zu drängen oder sie wiederum in Einheit aufzulö‑ sen. Damit löst sie die von Adorno formulierten programmatischen Forderun‑ gen ein: In ihr ist Universalgeschichte konstruiert und geleugnet, indem Uni‑ versalgeschichte und Diskontinuität zusammengedacht werden. Der Weltgeist ist für Adornos Theorie der Geschichte von Bedeutung, weil er die verschiedenen Momente dieser Theorie in einem Begriff bündelt: 1) Die sub‑ jektive Erfahrung von Geschichte. In dieser Dimension lassen sich drei Momen‑ te, die im Weltgeist ausgedrückt werden, unterscheiden: a) Die reale, objektive Vormacht der gesellschaftlichen Bewegung; b) die Erfahrung dieser Vormacht durch die Individuen; c) die Personifizierung und ideologische Affirmation die‑ ser Vormacht. 2) Die objektive Struktur der Geschichte: die fortschreitende Na‑ turbeherrschung, die immer wieder in diskontinuierliche Momente umschlägt. Der Weltgeist drückt diese Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität in ihrer äußersten Zuspitzung aus: Er bezeichnet Geschichte, wie sie im geschicht‑ lichen Augenblick von Atombombe und Auschwitz konzeptualisiert werden muss, einem Augenblick, in dem die Naturbeherrschung einen Grad erreicht hat, der den vollkommenen Untergang, das Ende der Geschichte, möglich macht. Diese formale Struktur – Einheit von Kontinuität und Diskontinuität – 139  „In so far as this is Adorno’s position, it is not unproblematic for the obvious reason that a narrative of the continuing control of nature is not discontinuous at all: periods of ‚crystallized time‘ [. . .] turn out to be commensurable in so far as they share the dimension of domination. Ultimately Adorno’s articulation of a dialectical structure of history, in which continuity and discontinuity are straining at each other, seems to favour a narrative that – in terms of the specifics of history at which it points – has a clear trajectory. Adorno’s radical hermeneutics collides with a critical theory driven by the question of barbarism. The latter is pre-eminent, but this pre-eminence deprives Adorno of the space in which to position a unity of continuity and discontinuity. Although he is theoretically committed to the discontinuous dimensions – the ‚crystallized phenomena‘ – he assumes in practice the intelligibility of histo‑ rical events through the perspective of the destruction of nature, and that reopens the possi‑ bility that he is engaged in a declinist universal history.“ O’Connor: „Philosophy of history“, S.  184.

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ist nach Adorno die einzig adäquate philosophische Interpretation von Ge‑ schichte: „Kaum anders wäre Geschichte philosophisch zu interpretieren, ohne daß sie in Idee verzaubert würde.“140 Adornos Geschichtsphilosophie erfasst ein Zeitalter, in dem die Geschichte eine des kontinuierlichen technologischen Fortschritts ist, in dem aber auch ein Punkt in der Geschichte erreicht ist, an dem die totale Vernichtung der Menschheit und damit das Ende der Geschichte eine reale Möglichkeit geworden ist. So kann Adorno sowohl dem technologi‑ schen Fortschritt, der dem emphatischen Fortschritt weder gleich- noch entge‑ gengesetzt werden kann, als auch der Möglichkeit der absoluten Vernichtung, die durch diesen Fortschritt gezeitigt wird, gerecht werden. Gegen Schnädelbachs Thesen möchte ich deswegen vorbringen, dass Ge‑ schichte bei Adorno durchaus vorkommt und dass diese Konzeption von Ge‑ schichte leider noch nicht Geschichte ist. Schnädelbach meint, die Inaktualität der adornoschen Geschichtsphilosophie zu beweisen, wenn er darauf hinweist, „dass wir hier im Westen nicht in der Hölle, sondern im Paradies leben, vergli‑ chen mit den Lebensverhältnissen der meisten Menschen auf diesem Plane‑ ten“.141 Aber Adorno ging es nicht um Vergleiche zwischen dem Westen und dem Rest der Welt; sonst hätte er nicht „die Insuffizienz des individuellen Glücks gegenüber der Utopie“ betont.142 Wellmer hat das gesehen: „Wenn Adorno von einer befreiten Gesellschaft spricht, so meint er dies global: Er meint eine befreite Menschheit.“143 Adorno geht es auch in der Geschichtsphilo‑ sophie um das Ganze, nämlich um eine Universalgeschichte, deren negative Konstanten auch heute noch nicht überwunden sind: „Herrschaft, Unfreiheit, Leiden, die Allgegenwart der Katastrophe.“144 Nehmen wir die Möglichkeit der totalen Vernichtung zum Maßstab, so erweist sich Adornos Geschichtsbegriff nicht nur als immer noch aktuell, sondern hat seit Adornos Zeiten gar noch an Aktualität gewonnen: Im Erscheinungsjahr der Negativen Dialektik stand die Doomsday Clock auf 12 Minuten vor 12; heute steht sie auf 3 Minuten vor 12.145

140 Adorno:

Negative Dialektik, S.  315. Schnädelbach: „Adorno und die Geschichte“, S.  153. 142 Adorno: Negative Dialektik, S.  346. 143 Wellmer: „Adorno und die Schwierigkeiten einer kritischen Konstruktion der ge‑ schichtlichen Gegenwart“, S.  147. 144  Adorno: „Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien“, GS 8, S.  217–237, hier S.  234. 145  Vgl. „Doomsday Clock Timeline“, http://thebulletin.org/timeline (aufgerufen am 21.7. 2015). 141 

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

2. Naturgeschichte Die geringe Breite der Abschnitte zur Naturgeschichte in der Negativen Dialektik legt es nahe, Zuflucht beim frühen, zu Lebzeiten unpublizierten Vortrag „Die Idee der Naturgeschichte“ zu suchen.146 Gründe dafür gibt es genug: die erstaunliche Konstanz von Adornos Denken; die Analogie zu „Die Aktualität der Philosophie“, ein früher Text, der ebenfalls spätere Motive von Adornos Denken vorwegnimmt; vor allem aber Adornos Notiz zur Negativen Dialektik, die darauf hinweist, dass „Motive von ‚Weltgeist und Naturgeschichte‘ aus einem Vortrag des Autors in der Frankfurter Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft (1932)“ stammen.147 Der Rückgriff ist jedoch problematisch, insofern dadurch der Bezug zum Rest des Modells verdeckt wird, dessen vielfältige Themen im frühen Vortrag noch fehlen, und damit die Frage aus den Augen verloren wird, welchen Rang die Naturgeschichte in Adornos reifer Theorie hat. Statt die letz‑ ten beiden Abschnitte des Modells auf eine bloße Wiederholung der Gedanken des frühen Vortrags zu reduzieren,148 ist auf die Kontinuität des Modells, auf das Verhältnis seiner Leitbegriffe „Weltgeist“ und „Naturgeschichte“, zu reflek‑ tieren. Denn die theoretische Ausgangssituation ist jeweils eine andere: Das Modell geht von Hegel aus, der Vortrag von einer Kritik an Heideggers Ge‑ schichtlichkeit; im Modell wird Naturgeschichte von Marx her entwickelt, im Vortrag fehlt Marx – statt dessen wird auf Lukács’ Die Theorie des Romans und Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels rekurriert. Zwar stehen sich diese verschiedenen Ausgangskonstellationen nicht unvermittelt gegenüber: Auch in den betreffenden Abschnitten der Negativen Dialektik wird Kritik an Heideggers Geschichtlichkeit geübt und an derselben Stelle auf Lukács und Benjamins ästhetische Schriften zurückgegriffen; zugleich scheint der letzte Satz des Vortrags bereits auf die Bedeutung von Marx für das Konzept der Na‑ turgeschichte hinzuweisen.149 Aber die Vermittlung dieser Momente – Marx und Lukács, Benjamin, Heidegger – hat nicht zur Folge, dass die Negative Dialektik die Motive des frühen Vortrags wiederholt und um Marx ergänzt; viel‑ mehr verändert der Rekurs auf Marx die Bedeutung von Naturgeschichte und die Bedeutung der Motive, die aus dem frühen Vortrag übernommen werden. Bereits eine oberflächliche Lektüre, ja bereits die Titel der beiden der Naturge‑ 146  Vgl. etwa: O’Connor: „Philosophy of history“, S.  188; Schnädelbach: „Adorno und die Geschichte“, S.  131 f.; Wussow: Logik der Deutung, S.  74 f. Eine andere Möglichkeit wäre, auf die Parallelstellen in der Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und der Freiheit zu rekur‑ rieren. Leider griff Adorno für diese Stellen auf eine Zwischenabschrift von „Weltgeist und Naturgeschichte“ zurück, aus der er teilweise vorlas, so dass die Parallelstellen keinen großen Erkenntnisgewinn abwerfen. Vgl. die 158. Fußnote Tiedemanns in: Adorno: Geschichte und Freiheit, S.  417 f. 147 Adorno: Negative Dialektik, S.  409. 148  Vgl. Jameson: Late Marxism, S.  94; Schnädelbach: „Adorno und die Geschichte“, S.  131. 149  Adorno: „Die Idee der Naturgeschichte“, GS 1, S.  345–365, hier S.  365.

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2. Naturgeschichte

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schichte gewidmeten Abschnitte des zweiten Modells: „‚Naturgeschichte‘“ und „Geschichte und Metaphysik“ deuten an, dass hier zwei verschiedene Dinge verhandelt werden. Der erste Abschnitt behandelt den Begriff der Naturge‑ schichte, wie Adorno ihn von Marx übernimmt und steht noch in einem engen Zusammenhang mit dem Rest des Modells. Hier werden die an Hegel entwi‑ ckelten Motive zu einem Abschluss geführt und in einem neuen Begriff, „Na‑ turgeschichte“, aufgehoben. Mit dieser „long-awaited conclusion“150 schließt Adorno seine Konzeptualisierung des Phänomens „Geschichte“ ab. Von den Motiven des frühen Vortrags ist hier wenig zu sehen. Erst der zweite Abschnitt nimmt diese in äußerst gedrängter Form auf. Es geht hier nicht mehr um den Geschichtsbegriff selbst, sondern – gleichsam auf einer Metaebene – um die Aufgabe, die dieser Geschichtsbegriff für die Philosophie darstellt. Adorno umreißt diese Aufgabe mit dem Konzept der Deutung: Philosophie muss die Antithese von Natur und Geschichte auflösen, Geschichte als Natur und Natur als Geschichte deuten. Das führt schließlich zur Transmutation von Metaphy‑ sik in Geschichte, mit der Adorno den Übergang zum dritten Modell macht. Erst in diesem Abschnitt rekurriert Adorno auf den Vortrag und erst an dieser Stelle ist in der Interpretation auf diesen zurückzugreifen. Gewiss, die beiden Abschnitte sind nicht vollkommen voneinander abzutren‑ nen. Aber es scheint ratsam, ihre Themen getrennt zu behandeln. Deshalb möchte ich zunächst den ersten Abschnitt isoliert betrachten und nach dem Zu‑ sammenhang von Weltgeist und Naturgeschichte fragen. Im Konzept der Na‑ turgeschichte vollzieht Adorno eine Aufhebung des Weltgeistes, die diesen so‑ wohl aufbewahrt als auch relativiert. Der Begriff der Naturgeschichte modifi‑ ziert den Geschichtsbegriff nochmals und setzt ihn in Spannung zu einem emphatischen Begriff von Geschichte (I). Diese geschichtsphilosophische Span‑ nung verweist auf die Spannung von Negativität und Utopie, die für Adornos Denken prägend ist. In Absetzung von Kritikern, die den Anschluss an Adorno nur unter Preisgabe dieser Spannung für möglich halten, da die Spannung kei‑ nen Raum für praktische Orientierungen lasse, möchte ich dafür argumentie‑ ren, dass bei Adorno gerade das Festhalten an einem emphatischen Utopiebe‑ griff einen Raum für Praxis eröffnet (II). Über eine Bestimmung der Dimensi‑ onen, die das Utopische bei Adorno annimmt, wird zugleich die Konvergenz von Metaphysik und Geschichte angezeigt, die in einem dritten Schritt entfaltet wird. Dort zeigt sich die Notwendigkeit, auf den frühen Vortrag zur Naturge‑ schichte zurückzugreifen, um die Transmutation von Metaphysik in Geschichte zu verstehen. Von dieser Transmutation fällt auch ein Licht auf die Konvergenz von Materialismus und Metaphysik in Adornos Denken (III).

150 Jameson:

Late Marxism, S.  93.

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

I.  Die Naturwüchsigkeit der Geschichte Der Sprung vom Weltgeist zur Naturgeschichte ist so abrupt, dass der Zusam‑ menhang der beiden Begriffe nicht deutlich hervortritt. Zunächst scheint es sich um eine materialistische Umdeutung, eine Entmystifizierung des Weltgeistes zu handeln, denn der Sprung von einem Begriff zum andern ist zugleich der Sprung von Hegel zu Marx. So heißt es gleich zu Beginn des Abschnitts zur Naturgeschichte: „Die Objektivität des geschichtlichen Lebens ist die von Na‑ turgeschichte. Marx hat das gegen Hegel erkannt.“151 Offenbar liegt nichts wei‑ ter als ein Perspektivenwechsel vor. Was Hegel im Weltgeist verklärt hat, wird von Marx als Naturgeschichte entlarvt. Dann wäre jedoch fraglich, warum Adorno solche Mühe auf eine kritische Aneignung des Weltgeistes verwendet, in deren Verlauf der Weltgeist bereits als materialistischer Begriff verwendet wird. Die mit Marx vorgenommene Kritik am Weltgeist würde bloß die vorher‑ gehende materialistische Hegellektüre, die ja auch schon mit Marx im Hinter‑ kopf argumentiert, wiederholen. Kaum hätte Adorno in seiner Auseinander­ setzung mit der hegelschen Geschichtsphilosophie so viel Aufwand betrieben, wenn deren Motive nicht in der Naturgeschichte aufbewahrt wären. Das Ver‑ hältnis der beiden Begriffe muss sich deshalb anders bestimmen. Im Folgenden möchte ich daher untersuchen: wie die Begriffe „Weltgeist“ und „Naturge‑ schichte“ zueinander stehen (a) und was mit dem Begriff „Naturgeschichte“ von Adorno anvisiert wird (b). a.  Vom Weltgeist zur Naturgeschichte Der Zusammenhang der beiden Begriffe scheint zunächst in ihrem gemeinsa‑ men Substrat zu liegen: der Objektivität der Geschichte. Nicht erst der Natur‑ geschichtsabschnitt zieht diese Parallele; es geschieht bereits am Anfang des Modells, wenn Adorno Weltgeist und „das ohne Bewußtsein der Menschen sich durchsetzende Marxische Wertgesetz“ aufeinander bezieht.152 Weltgeist und Wertgesetz (als Exponent eines vermeintlichen Naturgesetzes) sind beides In‑ terpretationen der Objektivität, als welche die Geschichte erfahren wird. Die Differenz haftet an den Begriffen „Geist“ und „Natur“: Geschichte ist bei He‑ gel Geist, bei Marx Natur. Die dabei verwendeten Begriffe bedürfen der Präzi‑ sierung, zumal der bei Adorno so mehrdeutige Begriff der Natur. In der Natur‑ geschichte meint „Natur“ eigentlich „zweite Natur“, ein Geschichtliches, Ver‑ mitteltes, das sich den Schein des An sich, der Unmittelbarkeit gibt. Adorno verwendet viel Raum darauf, ein naturwissenschaftliches oder anthropologi‑ sches Verständnis des Naturbegriffs abzuwehren. Der Naturbegriff ist hier im‑ mer auf sein Gegenteil, Geschichte, bezogen und ein durch und durch dialekti‑ 151 Adorno: 152 

Negative Dialektik, S.  347. Ebd., S.  295.

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2. Naturgeschichte

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scher Begriff. Hegel selbst hatte nach Adorno ein Bewusstsein von diesem Na‑ turbegriff, wie er an einer Stelle zur Verfassung aus den Grundlinien der Philosophie des Rechts zeigen will: „Überhaupt aber ist es schlechthin wesent‑ lich, daß die Verfassung, obgleich in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen werde; denn sie ist vielmehr das schlechthin an und für sich Seiende, das darum als das Göttliche und Beharrende und als über der Sphäre dessen, was gemacht wird, zu betrachten ist.“153 Adorno interpretiert die Stelle als eine Vermittlung der einst antithetisch gebrauchten Begriffe „Natur“ und „Geschichte“, in der ein Begriff in sein anderes umschlägt: „Hegel dehnt damit den Begriff dessen, was φύσει sei, auf das aus, was einst den Gegenbegriff des θέσει definierte. Die Verfassung, Name der geschichtlichen Welt, die alle Un‑ mittelbarkeit von Natur vermittelte, bestimmt umgekehrt die Sphäre der Ver‑ mittlung, eben die geschichtliche, als Natur.“154 Die Verfassung als eigentlich Geschichtliches, als ein in der Zeit Hervorgegangenes ist bei Hegel nicht als solches, nämlich nicht als Gemachtes zu betrachten, sondern als Natur, als Un‑ gewordenes. Für eine solche Dynamik, in der ein Gemachtes als Ansichseiendes zu betrachten ist, so dass seine Gewordenheit nicht in den Blick gerät, wählt bereits Hegel den Begriff „zweite Natur“. Darunter versteht Hegel in der Rechtsphilosophie ausdrücklich das Recht und die Sittlichkeit.155 Beide Sphären sind im Gegensatz zur Moralität Sphären des Allgemeinen, die dem Besonderen gegenübertreten; beide sind zeitlich entstanden, von Individuen gemacht wor‑ den, sind aber als schlechthin verbindlich für die Individuen zu betrachten. Bezeichnend für sein Verhältnis zur hegelschen Rechtsphilosophie ist die übereilte Kritik, die Adorno an dieser Stelle gegen Hegels unkritischen Ge‑ brauch des Begriffs der zweiten Natur vorbringt: „In den Abgrund blickend, hat Hegel die welthistorische Haupt- und Staatsaktion als zweite Natur ge‑ wahrt, aber in verruchter Komplizität mit ihr die erste darin verherrlicht.“156 Die Kritik ist nicht ganz gerecht, da Adorno hier bereits von einem anderen Verständnis von zweiter Natur ausgeht, das er von Lukács’ Die Theorie des

153 Hegel:

Rechtsphilosophie, S.  439, §  273 A. Negative Dialektik, S.  350. 155  „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Aus‑ gangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist.“ Hegel: Rechtsphilosophie, S.  46, §  4. „Aber in der einfachen Identität mit der Wirklichkeit der Individuen erscheint das Sittliche, als die allgemeine Handlungsweise derselben, als Sitte, – die Gewohnheit desselben als eine zweite Natur, die an die Stelle des ersten bloß natürlichen Willens gesetzt und die durchdrin‑ gende Seele, Bedeutung und Wirklichkeit ihres Daseins ist, der als eine Welt lebendige und vorhandene Geist, dessen Substanz so erst als Geist ist.“ Ebd., S.  301, §  151. 156 Adorno: Negative Dialektik, S.  350 f. Vgl. aber die frühere Stelle: „Die bereits bei Hegel kritisch tingierte Theorie der zweiten Natur ist einer negativen Dialektik unverloren.“ Ebd., S.  48. 154 Adorno:

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

Romans übernimmt.157 Zweite Natur bezeichnet bei Hegel nicht eine Verherrli‑ chung dessen, was sich geschichtlich durchgesetzt hat, sondern eine notwendige Betrachtungsweise bestimmter geschichtlich entstandener Sphären. Bereits an der von Adorno herangezogenen Stelle zur Verfassung ist ersichtlich, dass der Umschlag von Geschichtlichem in zweite Natur nicht ontologisch zu verstehen ist, sondern als Änderung der Betrachtungsweise. Die Verfassung ist immer noch ein Gemachtes, aber nicht als solches zu betrachten. Dementsprechend sind auch das Recht und die Sittlichkeit nicht einfach zweite Natur, sondern als eine zweite Natur anzusehen, das Sittliche erscheint gar bloß als eine zweite Natur. Recht und Sitte müssen als objektiv gültig angesehen werden, da kein Rechtssystem funktionieren könnte, ohne dass ihm objektive Gültigkeit zuge‑ sprochen wird. In Adornos Verständnis meint zweite Natur somit nicht bloß die objektive Gültigkeit geschichtlich konstituierter Sphären, sondern die den Subjekten ent‑ fremdete objektive Welt. Es handelt sich nicht mehr um eine Art der Betrach‑ tung geschichtlich-gesellschaftlicher Sphären, sondern um deren objektive Er‑ scheinungsweise. Recht und Sittlichkeit, um bei den hegelschen Sphären zu bleiben, müssen jetzt nicht mehr als zweite Natur angesehen werden, sondern erscheinen kraft ihrer objektiven Dynamik selbst als solche. Zweite Natur ist in diesem Verständnis objektiver Schein. Der Begriff ist jetzt kritisch gewendet, weil er diesen Scheincharakter denunzieren will, indem er die geschichtliche Basis dieser Sphären und damit ihre Vergänglichkeit aufzeigt: Was wahrhaft θέσει ein wenn schon nicht von Individuen so doch von ihrem Funktions‑ zusammenhang erst Hervorgebrachtes ist, reißt die Insignien dessen an sich, was dem bürgerlichen Bewußtsein als Natur und natürlich gilt. [. . .] Je unerbittlicher Vergesell‑ schaftung aller Momente menschlicher und zwischenmenschlicher Unmittelbarkeit sich bemächtigt, desto unmöglicher, ans Gewordensein des Gespinsts sich zu erinnern; desto unwiderstehlicher der Schein von Natur.158

Als zweite Natur bezeichnet Adorno die Tendenz gesellschaftlicher Struktu‑ ren, die geschichtlich entstanden, veränderbar und abschaffbar sind, als natürli‑ che, das heißt unveränderliche und ewige Strukturen, zu erscheinen. In dieser Bedeutung spricht auch Marx von den „Naturgesetzen der kapitalistischen Pro‑ duktion, [. . .] diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchset‑ zenden Tendenzen“.159 Natur bezeichnet hier ein Doppeltes: einerseits die reale Notwendigkeit, mit der sich diese Gesetze durchsetzen; andererseits den Schein der Natürlichkeit, den sich diese Gesetze geben. Sie sind trotz allem, wenn nicht von Menschen, so von der Organisation ihres Zusammenlebens, gemacht, er‑

157 

Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  351.

158 Ebd.

159 Marx:

Kapital, S.  12.

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scheinen aber als natürlich und unabänderlich. Das ist die Dialektik des „gesell‑ schaftlichen Naturbegriffs“, den Adorno von Marx übernimmt: Die Naturgesetzlichkeit der Gesellschaft ist Ideologie, soweit sie als unveränderliche Naturgegebenheit hypostasiert wird. Real aber ist die Naturgesetzlichkeit als Bewe‑ gungsgesetz der bewußtlosen Gesellschaft, wie es das ‚Kapital‘ von der Analyse der Wa‑ renform bis zur Zusammenbruchstheorie in einer Phänomenologie des Widergeistes verfolgt.160

Dieser gesellschaftliche Naturbegriff liegt Adornos Konzeption von Naturge‑ schichte zugrunde. Er ist aber im Verhältnis zum hegelschen Begriff der zweiten Natur nicht bloß, wie Adorno suggeriert, kritisch gewendet, sondern meint et‑ was anderes. Die Struktur ist beiden Begriffen gleich: Vermitteltes wird als Un‑ mittelbares wahrgenommen. Aber bei Hegel bezeichnet zweite Natur die sub‑ jektive Anerkennung der objektiven Gültigkeit geschichtlich entstandener Sphären, die eine Voraussetzung einer funktionierenden Gemeinschaft ist; bei Marx und bei Adorno meint der Begriff sowohl die naturgesetzmäßige Not‑ wendigkeit der gesellschaftlichen Bewegungsgesetze in einer gegebenen Gesell‑ schaftsform und den Schein der Natürlichkeit und Unveränderlichkeit, den sich diese Gesellschaftsform gibt. Ausgehend vom Begriff zweiter Natur, der Adornos Begriff der Naturge‑ schichte zugrunde liegt, lässt sich das Verhältnis zum Weltgeist erklären. Mit der Naturgeschichte wird die Entmystifizierung des Weltgeistes zu ihrem Ab‑ schluss geführt, indem der Weltgeist als „die Ideologie der Naturgeschichte“ bestimmt wird.161 Ideologie im nachdrücklichen Sinn heißt bei Adorno: gesell‑ schaftlich notwendiger Schein,162 in Absetzung von einem relativistischem Ideologiebegriff, der eine subjektive Weltanschauung bezeichnet. Ideologie ist zwar falsches Bewusstsein, aber auch notwendiges Bewusstsein, mithin aus der gesellschaftlichen Bewegung heraus mit Notwendigkeit entstandenes, falsches Bewusstsein. Ideologie meint deshalb einen objektiven, gesellschaftlichen Sach‑ verhalt und nicht eine bloß subjektive Verfehlung. Die Kritik an Hegels Welt‑ geist ist so nicht primär Kritik an Hegel selbst, sondern an der Verfassung der Gesellschaft, die einen solchen Schein und damit ein falsches Bewusstsein von Geschichte zeitigt. Die Geschichte ist Naturgeschichte, weil sie nach vermeint‑ lichen Naturgesetzen abläuft und damit den Schein ihrer Naturwüchsigkeit er‑ zeugt. Dieser Schein ist die Ideologie und der Weltgeist ist diese Ideologie in ihrer Personifizierung. Naturgeschichte ist der kritische Begriff für die Objek‑ tivität der Geschichte, der in eins die reale Übermacht der geschichtlichen Be‑ wegung ausdrückt und ihre Naturwüchsigkeit als bloßen Schein denunziert; 160 Adorno:

Negative Dialektik, S.  349. Ebd., S.  350. 162  Vgl. vor allem: Adorno: „Beitrag zur Ideologienlehre“, GS 8, S.  457–477, hier S.  465; aber auch: ders.: Negative Dialektik, S.  306; ders.: Jargon der Eigentlichkeit, S.  525; ders.: Ästhetische Theorie, S.  346; ders.: „Zur Logik der Sozialwissenschaften“, S.  558. 161 

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

Weltgeist (im nicht ironischen Verständnis) ist dagegen der affirmative Begriff für die Objektivität der Geschichte, der zwar die reale Übermacht der ge‑ schichtlichen Bewegung ausdrückt, nicht aber den Schein ihrer Naturwüchsig‑ keit durchleuchtet, sondern ihn zur Nezessität der Geschichte verklärt. Welt‑ geist bezeichnet die Geschichte, wie sie den Menschen notwendig erscheinen muss; Naturgeschichte denunziert den Weltgeist als Schein, aber als gesell‑ schaftlich notwendigen, und zeigt, wie die Erfahrung der Geschichte diesen objektiven Schein erzeugen muss. Weltgeist und Naturgeschichte sind demnach zu verstehen als zwei verschie‑ dene Stufen derselben Auffassung von Geschichte. Weltgeist wird zwar als Ideologie der Naturgeschichte entlarvt, bleibt aber als Begriff insofern gültig, als er den gesellschaftlich notwendigen Schein des Ansichseins der geschichtli‑ chen Bewegung ausdrückt. Das ist der Wahrheitsgehalt des Weltgeistes, an dem die Ideologiekritik ansetzt, die Adorno als eine immanente Kritik konzipiert: „Sie ist im Hegelschen Sinn bestimmte Negation, Konfrontation von Geistigem mit seiner Verwirklichung, und hat zur Voraussetzung ebenso die Unterschei‑ dung des Wahren und Unwahren im Urteil wie den Anspruch auf Wahrheit im Kritisierten.“163 Die Kritik am Weltgeist als Ideologie ist zugleich Kritik der Scheinhaftigkeit des Ansichseins der geschichtlichen Bewegung und auch Kri‑ tik an der realen Vormacht der Geschichte, als deren Ausdruck der Weltgeist wiederum Wahrheitsgehalt besitzt. Im Begriff „Naturgeschichte“, der diesen Schein kritisiert, ist der Weltgeist, als Gegenstand dieser Kritik, aufgehoben. b. Naturgeschichte Am Verhältnis von Weltgeist und Naturgeschichte ist bereits ersichtlich, dass Naturgeschichte ein primär kritischer Begriff ist.164 Adorno hebt den kritischen Aspekt am Naturbegriff von Marx deutlich hervor.165 Mithin ist der Begriff der Naturgeschichte von Anfang an als kritisches und nicht als affirmatives Kon‑ zept zu lesen. Der Rekurs auf den Naturbegriff bei Marx bedeutet auch, dass „Natur“ in der Naturgeschichte im Sinne Marxens zu verstehen ist, und nicht – nach der Definition im Vortrag – „als schicksalhaft gefügtes, vorgegebenes Sein“166 . Hier ist das materialistische Moment des objektiv notwendigen Scheins noch nicht vorhanden. Auf die Differenz der beiden Naturbegriffe hat Hul‑ lot‑Kentor in seiner Einleitung zur Übersetzung des Vortrags hingewiesen. Wenn auch der Bruch zwischen dem frühen und dem späten Begriff nicht so kategorisch sein mag, wie Hullot‑Kentor es darstellt,167 so ist es doch ratsam, 163 

Adorno: „Beitrag zur Ideologienlehre“, S.  466. O’Connor: „Philosophy of history“, S.  188. 165 Adorno: Negative Dialektik, S.  348. 166  Adorno: „Die Idee der Naturgeschichte“, S.  346. 167  Hullot-Kentor, Robert: „Introduction to T. W. Adorno’s ‚The Idea of Natural-Histo‑ 164 

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sich in der Interpretation des späten Begriffs von Naturgeschichte primär an die Negative Dialektik zu halten, in welcher der Naturbegriff von Marx her entwi‑ ckelt wird und erst in einem zweiten Schritt und in ganz bestimmter Weise auf „Die Idee der Naturgeschichte“ rekurriert wird. Ich möchte diesen zweiten Schritt gesondert behandeln und hier nur auf den Begriff den Naturgeschichte eingehen, wie er von Adorno im Abschnitt „Naturgeschichte“ der Negativen Dialektik entwickelt wird. Ein großer Teil dieses Abschnitts versucht, den Begriff der Naturgeschichte von einer vulgärmarxistischen Lesart abzugrenzen, welche die Rede von Natur‑ gesetzen der Gesellschaft wörtlich nimmt und die marxsche Theorie zu einer Naturwissenschaft der Gesellschaft umdeutet. Unterstellt wird Marx, er sei dem Vorbild Darwins gefolgt und habe die unumstößlichen Naturgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung entdeckt.168 Aber eine solche Naturalisierung gesellschaftlicher Prozesse ist gerade das, was Marx den bürgerlichen Ökono‑ men vorwirft: Das ist es aber alles nicht, worum es den Ökonomen wirklich in diesem allgemeinen Teil sich handelt. Die Produktion soll vielmehr – siehe z. B. Mill – im Unterschied von der Distribution etc. als eingefaßt in von der Geschichte unabhängigen ewigen Naturgeset‑ zen dargestellt werden, bei welcher Gelegenheit dann ganz unter der Hand bürgerliche Verhältnisse als unumstößliche Naturgesetze der Gesellschaft in abstracto untergescho‑ ben werden. Dies ist der mehr oder minder bewußte Zweck des ganzen Verfahrens.169

Adorno hebt zu Recht den ironischen Charakter der Verwendung des Begriffs „Naturgesetz“ bei Marx hervor: „Ironisch war Marx Sozialdarwinist: was die Sozialdarwinisten priesen und wonach zu handeln es sie gelüstet, ist ihm die Negativität, in welcher die Möglichkeit ihrer Aufhebung erwacht.“170 In dieser Weise, als Erfassung der tatsächlichen Notwendigkeit der Bewegungsgesetze unter gegebenen Umständen und der gleichzeitigen Kritik daran, wird der Be‑ griff von Adorno aufgenommen. Kritisch ist der Begriff der Naturgeschichte in zwei Stoßrichtungen: Er ist Kritik an der Geschichte, wie sie tatsächlich abläuft: als unvernünftige Geschichte, und Kritik an der Art, wie diese Geschichte in der Theorie und im Bewusstsein der Menschen entweder verherrlicht, verleug‑ net oder zumindest als notwendig angesehen wird. Der kritische Charakter des Begriffs bestimmt seine Grenzen und Möglich‑ keiten. Seine Möglichkeiten beschränken sich auf Kritik und finden ihre Grenze an einer positiven Theorie der Geschichte. Eine solche von Adorno zu verlan‑ gen, würde den Begriff der Naturgeschichte überstrapazieren. Schnädelbachs ry‘“, in: ders.: Things Beyond Resemblance. Collected Essays on Theodor W. Adorno, New York 2006, S.  234–251, hier S.  241. 168  Engels, Friedrich: „Das Begräbnis von Karl Marx“, MEW 19, S.  335–339, hier S.  335. 169  Marx, Karl: „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie“, MEW 13, S.  615–641, hier S.  618 f. 170 Adorno: Negative Dialektik, S.  349.

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

Kritik, die Geschichte komme bei Adorno nicht vor, geht vor allem von drei Feststellungen aus: 1) dass Adorno behauptet, dass die Geschichte „erst noch beginnen müsste“ und dass deshalb der Gegenstand seiner Geschichtsphiloso‑ phie „in Wahrheit noch gar nicht existiert“; 171 2) dass bei Adorno „die Historie nicht mehr vorkommt, d. h. die Bemühung, zunächst einmal das vergangene Geschehen aus dem Chaos des Überlieferten zu rekonstruieren“; 172 3) dass Adorno in seiner Geschichtsphilosophie „gar nicht von der Vergangenheit, son‑ dern unablässig von der Gegenwart redet“.173 Alle drei Feststellungen treffen zu, sprechen aber nicht gegen Adornos Geschichtsphilosophie, sondern zeigen le‑ diglich, dass Schnädelbach ein nicht explizit gemachtes Verständnis von Ge‑ schichtsphilosophie von außen an Adorno heranträgt und dessen Geschichts‑ philosophie daraufhin befragt, ob sie diesem Maßstab entspricht. Schnädelbach unterstellt für die Geschichtsphilosophie die Aufgabe, dass sie sich ans Vorge‑ gebene, die tatsächliche Geschichte halte, dass sie die Vergangenheit rekonstru‑ ieren soll und deshalb nicht von der Gegenwart, sondern von der Vergangenheit reden soll.174 So plausibel diese Rahmenbedingungen sind: „Es gibt keine an sich feststehende, keine in der gegenwärtigen Diskussion als verbindlich akzeptierte Definition der Geschichtsphilosophie.“175 Freilich hat sie es mit Geschichte zu tun, aber gerade die Auffassung, was Geschichte überhaupt ist, kann sie nicht voraussetzen: „In unterschiedlicher Gestalt ist Geschichte für die Menschen verschiedener Zeiten da. So ist auch keine zeitunabhängige Theorie des Ge‑ schichtlichen möglich.“176 Gehört aber die Klärung über ihren Gegenstand zur Geschichtsphilosophie dazu, so ist auch Adornos Geschichtsphilosophie noch Geschichtsphilosophie, auch wenn sie sich, zumindest im zweiten Modell, nicht mit konkretem geschichtlichen Material, sondern mit der Gegenwart befasst. Der Haupttext von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte ist eine Geschichtsphilosophie im Sinne Schnädelbachs, hat aber als solche kein Äquivalent in der Philosophie Adornos. Dessen Geschichtsphiloso‑ phie ist eine Metareflexion, eher vergleichbar mit Hegels Einleitung zu den be‑ sagten Vorlesungen. Eine durchgeführte, narrative Geschichtsphilosophie fin‑ det man bei Adorno höchstens in der Dialektik der Aufklärung. Dass eine sol‑ 171 

Schnädelbach: „Adorno und die Geschichte“, S.  131. Ebd., S.  133. 173  Ebd., S.  134. 174  Unter diesen Rahmenbedingungen würde auch die Geschichtsphilosophie Kants uns nichts mehr sagen können, da sie sich explizit von der Historie, als Rekonstruktion der Ereig‑ nisse, abgrenzt. Vgl.: Kant, Immanuel: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürger‑ licher Absicht“, in: ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, hg. von Wilhelm Weischedel, Werkausgabe, Bd. XI, Frankfurt a. M. 1977, S.  33–50, im Folgenden zitiert unter Angabe der Seitenzahl des ersten Abdrucks (A) von 1784, hier A 410 f. 175 Angehrn: Geschichtsphilosophie. Eine Einführung, S.  12. 176  Ebd., S.  13. 172 

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che Geschichte in der Negativen Dialektik fehlt, bedeutet nicht, wie Schnädelbach annimmt, dass Adorno meinte, mit der Dialektik der Aufklärung die Immergleichheit der Geschichte bewiesen zu haben,177 sondern dass die Negative Dialektik gar nicht an einer narrativen Geschichtsphilosophie interes‑ siert ist und sich dagegen die philosophische Interpretation des Phänomens „Geschichte“ in der Gegenwart zur Aufgabe macht. Als eine theoretische Refle‑ xion auf den Begriff „Geschichte“ kann das zweite Modell nicht am Maßstab einer narrativen Geschichtsphilosophie gemessen werden. Die Historie, ver‑ standen als Rekonstruktion der Ereignisse, fehlt hier, weil es Adorno nicht um eine solche Rekonstruktion zu tun ist; es wird in der Gegenwart geredet, weil es um die Erscheinung von Geschichte in der Gegenwart und die adäquate philo‑ sophische Interpretation dieser Geschichte geht; schließlich wird die Geschich‑ te zur Vorgeschichte degradiert, weil der Impetus des gesamten Modells ein kritischer ist. Indem Adornos Geschichtsphilosophie an einem gleichsam transzendenten Ideal der Geschichtsphilosophie gemessen wird, kann gerade ihr eigener geschichtlicher Charakter nicht in den Blick geraten: Sie ist als Ge‑ schichtsphilosophie selbst von der geschichtlichen Wirklichkeit affiziert und versucht dieser gerecht zu werden. Dabei geht es Adorno nicht bloß um eine philosophische Deutung der Geschichte, sondern um den Versuch, „die un‑ fruchtbare Dichotomie zwischen der Geschichte auf der einen Seite und ihrer philosophischen Deutung auf der anderen als eine bloß abstrakte Dichotomie zu überwinden“.178 Das Wesen einer Philosophie, die Geschichte nicht bloß zum Gegenstand hat, sondern als Ganze von Geschichte geprägt ist, kann in einer abstrakt-transzendenten Kritik nicht in Erscheinung treten. Auch die Ge‑ schichtsphilosophie Adornos muss anhand ihrer eigenen Begriffe interpretiert werden und ihr zentraler Begriff ist ein kritischer. Dass Naturgeschichte ein kritischer Begriff ist, bedeutet auch, dass er sich in dieser Kritik erschöpft. Jeg‑ liche Ontologisierung dieses Begriffs, die aus den vermeintlichen Naturgeset‑ zen reelle Naturgesetze macht, entledigt ihn seines kritischen Charakters und verwandelt Adornos kritische Geschichtsphilosophie in eine pessimistische Verfallsgeschichte. Am dialektischen Charakter des Begriffs der Naturgeschichte ist abzulesen, dass eine Verfallsgeschichte nicht in Adornos Absicht lag. Als kritischer Begriff, der die reale Übermacht der Geschichte bezeichnet, diese aber zugleich als Ne‑ gativität denunziert, verweist der Begriff der Naturgeschichte auf einen positi‑ ven Begriff von Geschichte. Dieser emphatische Begriff von Geschichte wird von Adorno nicht entwickelt, sondern bloß impliziert: Bezeichnet Naturge‑ schichte die Geschichte, die nach vermeintlichen Naturgesetzten unabhängig von den Menschen abläuft, so wäre die emphatische Geschichte diejenige, die 177 

Schnädelbach: „Adorno und die Geschichte“, S.  134 f. Geschichte und Freiheit, S.  61.

178 Adorno:

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

von den Menschen bewusst gestaltet wird.179 Der geschichtsphilosophische Na‑ turbegriff verweist als sein Telos immer schon auf seinen Gegenbegriff: den emphatischer Geschichte. Ziel der Geschichte ist für Adorno, wie bereits für Marx, und – in anderer Begrifflichkeit – auch schon für Kant, die wirkliche Geschichte, die nicht mehr den Charakter der Naturwüchsigkeit trägt, sondern eben eine weltbürgerliche Geschichte wäre, Produkt der Menschheit als „seiner selbst bewußtes Gesamtsubjekt“.180 Was Angehrn über Marx schreibt, gilt eben‑ so für Adorno: „Wirkliche Geschichte ist Ziel der Geschichte.“181 Wie gegen Marx kann gegen Adorno vorgebracht werden, dass dieser Begriff von Ge‑ schichte – den Menschen durchsichtig und von ihnen vernünftig planbar – im schlechten Sinne utopisch ist und den Grenzen der menschlichen Möglichkeiten nicht Rechnung trägt.182 Trotzdem kann mit dem Konzept der emphatischen Geschichte, wie Angehrn in Bezug auf Marx meint, „die vernünftige Gestaltung der menschlichen Verhältnisse als sinnvolle Orientierung behauptet werden“.183 Auch bei Adorno darf dieser emphatische Geschichtsbegriff nicht verabsolu‑ tiert werden – er verweist ebenso auf Naturgeschichte zurück, wie diese auf ihn verweist. Auch die emphatische Geschichte ist noch aus der kritischen Absicht der adornoschen Geschichtsphilosophie zu verstehen. Kritisch ist der emphati‑ sche Geschichtsbegriff gerade als utopischer Begriff. Die Utopie einer vernünf‑ tigen, bewusst geplanten Geschichte als Ziel der Geschichte ist Kritik derjeni‑ gen Geschichtsauffassungen, die meinen, die Menschen hätten ihre Geschichte bereits in den Händen ebenso wie derjenigen, welche die Naturgesetzlichkeit der Geschichte zum Metaphysikum verklären. Schließlich ist der emphatische Begriff von Geschichte auch im Lichte der Problematik von Individuum und Geschichte zu verstehen. Der Begriff des Weltgeistes beschreibt die Gestalt, in der Geschichte den Individuen erscheint, nämlich als objektive Macht, die sich über ihren Köpfen fortwälzt; damit erklärt Adornos Geschichtsphilosophie, warum Geschichte bis heute als Naturgeschichte verlief. Emphatische Ge‑ schichte dagegen ist Kritik an einer Einrichtung der Gesellschaft, in der die 179  Vgl. etwa folgende Stelle: „Im emphatischen Begriff der Wahrheit ist die richtige Ein‑ richtung der Gesellschaft mitgedacht, so wenig sie auch als Zukunftsbild auszupinseln ist. Die reductio ad hominem, die alle kritische Aufklärung inspiriert, hat zur Substanz jenen Men‑ schen, der erst herzustellen wäre in einer ihrer selbst mächtigen Gesellschaft.“ Adorno: „Zur Logik der Sozialwissenschaften“, S.  565. Auch bei Marx gibt es denselben dem Begriff der Natur- oder Vorgeschichte immanenten Verweis auf emphatische Geschichte: „Da diese Ent‑ wicklung naturwüchsig vor sich geht, d. h. nicht einem Gesamtplan frei vereinigter Individu‑ en subordiniert ist, so geht sie von verschiedenen Lokalitäten, Stämmen, Nationen, Arbeits‑ zweigen etc. aus.“ Marx/Engels: Die deutsche Ideologie, S.  73. 180  Adorno: „Fortschritt“, S.  618. 181 Angehrn: Geschichtsphilosophie. Eine Einführung, S.  115. 182  Vgl. Angehrn über Marx: „In den Augen der Kritiker steht hier die conditio humana in Frage; für sie ist das Schlagwort der Machbarkeit der Geschichte zum Inbegriff geschichts‑ philosophischer Ideologie geworden.“ Ebd. 183 Ebd.

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Geschichte den Individuen als übermächtige Naturgewalt entgegentritt; darin ist nicht die vollständige Beherrschung der Geschichte als reale Möglichkeit im‑ pliziert. Eine Stelle im „Beitrag zur Ideologienlehre“ handelt von den „objekti‑ ven geschichtlichen Tendenzen, von denen die Gesellschaft sowohl in ihrem blinden ‚naturgesetzlichen‘ Verlauf wie auch im Potential ihrer bewußten ver‑ nünftigen Ordnung abhängt“,184 und deutet damit an, dass auch die vernünftige Geschichte nicht jenseits geschichtlicher Kontingenz steht. Wenn demzufolge die Geschichte niemals im emphatischen Sinne planbar ist, so wird von Adorno zumindest eine Geschichte anvisiert, in der die Individuen sich nicht ausschließ‑ lich als Opfer der Geschichte erfahren müssen, sondern sich auch als deren Ge‑ stalter erkennen mögen, freilich in einem durch gewisse Bestimmungen festge‑ legten Rahmen. Die Fluchtlinie einer angesichts weltumspannender Bedrohun‑ gen zur vernünftigen Kooperation gezwungenen Menschheit, mithin einer „kosmopolitischen Verbindung von Weltbürgern“, ist keine überspannte Utopie mehr, wie Habermas unlängst festgehalten hat.185 Emphatische Geschichte ist in diesem Sinne nicht als positives Leitbild zu verstehen, sondern als kritisch in‑ tendierter, radikaler Gegenentwurf zum härtesten Gegenteil emphatischer Ge‑ schichte: der Geschichte nach Naturgesetzen. Die dialektische Spannung, die zwischen Naturgeschichte und emphatischer Geschichte existiert, ist eine bestimmte Instanz der Spannung, die sich durch Adornos gesamte Philosophie zieht: der zwischen Negativität und Utopie. Be‑ vor ich auf diese Spannung näher eingehe, möchte ich resümierend auf Adornos Geschichtsphilosophie zurückkommen, wie sie im Begriff der Naturgeschichte ihre endgültige Ausprägung erfährt. Wie die gesamte Philosophie Adornos ist auch seine Geschichtsphilosophie primär kritische Philosophie. Im vorherge‑ henden Abschnitt wurde gezeigt, dass der Begriff des Weltgeistes den Versuch einer Konzeptualisierung von Geschichte im Ausgang von der subjektiven Er‑ fahrung der Individuen darstellt. Das Konzept der Naturgeschichte versucht in Folge, den Scheincharakter des Weltgeistes zu denunzieren. Kritisch ist Natur‑ geschichte in einem doppelten Sinn: Sie ist Kritik an einer Einrichtung der Ge‑ sellschaft, in der Geschichte den Menschen notwendig als übermenschliche Macht, als Weltgeist, gegenübertritt und zugleich Kritik an der Art, wie diese Erscheinungsweise von Geschichte in der Theorie entweder verherrlicht (Speng‑ ler) 186 oder geleugnet (Positivismus) 187 wird und von den Individuen, die sich selbst „als Schachfiguren“ erfahren, als unveränderliches Faktum hingenom‑ men wird.188 Naturgeschichte dagegen nimmt die Negativität der Geschichte in sich auf, stellt diese Negativität aber als das zu Überwindende dar und versucht 184 

Adorno: „Beitrag zur Ideologienlehre“, S.  464. Habermas, Jürgen: Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin 2011, S.  83. 186  Vgl. Adorno: „Spengler nach dem Untergang“. 187  Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  295ff; ders.: „Positivismusstreit“, passim. 188  Adorno: „Beitrag zur Ideologienlehre“, S.  477. 185 

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

so, die Möglichkeit einer besseren Zukunft, die dem Bewusstsein der Individu‑ en entschwindet, offen zu halten: Das ist ihr aufklärerisches Moment. Adornos Geschichtsphilosophie ist als Geschichtsphilosophie nach Auschwitz zu verstehen und an diesem Anspruch zu messen. Die zahlreichen Einwände gegen Adornos Geschichtsphilosophie nehmen sich oft schwach aus, wenn man sie mit diesem Anspruch und dem kritischen Charakter dieser Geschichtsphilo‑ sophie konfrontiert. Ich möchte hier nur zwei Vorwürfe herausgreifen, die mir symptomatisch für die Adornokritik im Allgemeinen erscheinen. Der erste Vorwurf unterstellt Adorno, er konstruiere die Geschichte als Verfallsgeschich‑ te und blende all die Fortschritte, die „Errungenschaften des okzidentalen Ra‑ tionalismus“, aus.189 Gewiss, die gedankliche Bewegung negativer Dialektik, die Bewegung durch die Extreme von Negativität und Utopie hindurch, be‑ dingt, dass die Zwischenbereiche, die partiellen Fortschritte, nicht in den Blick geraten können. Was Honneth dem „geschichtsphilosophischen Reduktionis‑ mus“ der Dialektik der Aufklärung zuschreibt, nämlich dass „aus der Betrach‑ tung des Zivilisationsprozesses [. . .] die gesamte Sphäre der kommunikativen Alltagspraxis so entschieden ausgespart [bleibt], daß die sozialen Fortschritte, die darin sich zugetragen haben, nicht in den Blick geraten können,“190 folgt aus der Logik negativer Dialektik. Aus dieser Logik ist auch ersichtlich, warum Adorno an den partiellen Fortschritten in der Geschichte, die er zweifellos an‑ erkannte, kein theoretisches Interesse zeigte. Ein Denken, das sich an Ausch‑ witz misst, kann die Errungenschaften des okzidentalen Rationalismus, etwa den Rechtsstaat, die Demokratie oder die Menschenrechte nicht berücksichti‑ gen, weil die Welt der Tortur sich trotz dieser Errungenschaften fortsetzt. Der zweite Vorwurf besteht darin, Adornos Orientierung an emphatischer Geschichte als utopisch zu verabschieden und dagegen die Geschichte als – zu‑ mindest teilweise – irrational und nicht bewusst veränderbar zu definieren.191 Auch die Orientierung an emphatischer Geschichte ist noch vor dem Hinter‑ grund von Auschwitz zu bestimmen, wie eine eindringliche Stelle der Negativen Dialektik zeigt: „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so ein‑

189 Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S.  146, S.  155 f.; der Vorwurf fin‑ det sich auch bei: Schnädelbach: „Adorno und die Geschichte“, S.  151 ff.; Meyer: „Apokalypse ohne Ende“, S.  121.f; ders.: „Eine Welt des Unerlösten. Über Theodor W. Adorno“, S.  159 f.; Bolz: „Lust der Negation“, S.  756; Schmidt, Thomas E.: „Dialektik der Aufklärung. Zu einer Grundschrift des kulturkritischen Ressentiments“, Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 58. Jg./H. 9/10 (2004), S.  745–753, hier S.  745. 190  Honneth, Axel: „Kritische Theorie. Vom Zentrum zur Peripherie einer Denktraditi‑ on“, in: ders.: Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a. M. 1990, S.  25–72, hier S.  4 4. 191  Vgl. etwa: Schnädelbach: „Adorno und die Geschichte“, S.  150; Meyer: „Apokalypse ohne Ende“, S.  121; ders.: „Eine Welt des Unerlösten. Über Theodor W. Adorno“, S.  162.

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zurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“192 Emphatische Geschichte wäre demnach, wenn auch nicht als die vollkommen durchsichtige und bewusst geplante Geschichte, so doch zumindest als diejenige Geschichte zu verstehen, die zu einem solchen Maße von den Menschen be‑ herrscht wird, dass sich eine Katastrophe wie Auschwitz nicht wiederholt. An diesem Imperativ ist die Menschheit bis heute gescheitert; das spricht jedoch nicht gegen ihn. Angesichts der zahlreichen Genozide des 20. Jahrhunderts die Irrationalität und Unplanbarkeit der Geschichte zu ihrer Grundstruktur zu ma‑ chen, anstatt am Imperativ von Adorno festzuhalten: das ist der wahre Pessimis‑ mus. Dagegen ist die Konzeption der Naturgeschichte nicht bloß eine Ge‑ schichtsphilosophie, die der geschichtlichen Stunde von Auschwitz entsprach; auch in einer Welt, in der die Genozide in Ruanda und Srebrenica möglich wa‑ ren, in der sich viele Probleme nur noch kosmopolitisch bewältigen lassen, kann das Konzept der emphatischen Geschichte immer noch als normative Leitidee funktionieren. Adornos Geschichtsphilosophie vermag im Angesicht der äu‑ ßersten Negativität einen Begriff von Geschichte zu formulieren, der diese Ne‑ gativität nicht bagatellisiert, sondern sie in ihrer ganzen Breite in ihren Begriff aufnimmt, und das ohne sie zu einer Grundbestimmung der Geschichte zu ma‑ chen, sondern an der Möglichkeit ihrer Abschaffung festzuhalten.193 Zwar kann sie detaillierte historische Untersuchungen der Mechanismen, die zu geschicht‑ lichen Katastrophen führen, nicht ersetzen; dies ist auch nicht ihre Absicht. Na‑ turgeschichte erklärt, warum Geschichte bis jetzt nicht eine Geschichte der Ver‑ nunft war und warum der Gedanke der Möglichkeit, sie könnte es eines Tages sein, verschwindet. Indem sie zeigt, dass die Übermacht der Geschichte zugleich real und Schein ist, hält sie gleichzeitig an der Realität der Negativität und an der Möglichkeit der Utopie fest. Nur in dieser Doppelstruktur kann sie der Ge‑ schichte gerecht werden: „Theorie vermag die unmäßige Last der historischen Nezessität zu bewegen allein, wenn diese als der zur Wirklichkeit gewordene Schein erkannt ist, die geschichtliche Determination als metaphysisch zufäl‑ lig.“194 Diese Doppelstruktur ist nicht nur prägend für Adornos Geschichtsphi‑ losophie im engeren Sinne, sondern für seine gesamte Philosophie. Dass negati‑ ve Dialektik nur als Geschichtsphilosophie möglich ist, heißt jetzt: dass sie nur möglich ist als die geschichtsphilosophische Relativierung der Wirklichkeit der Negativität durch das Festhalten an der Möglichkeit der Utopie.

192 Adorno:

Negative Dialektik, S.  358. Klauke, der Moderator eines Gesprächs zwischen Honneth und Türcke, spricht treffend von „einer negativen Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht“. Vgl. Honneth, Axel und Türcke, Christoph: „Kritische Theorie im Wandel. Eine Diskussion zwi‑ schen Axel Honneth und Christoph Türcke“, Zeitschrift für kritische Theorie, 17. Jg./H. 32/33 (2011), S.  200–225, hier S.  201. 194 Adorno: Negative Dialektik, S.  317. 193 Heinrich

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II. Negativität und Utopie II: negative Dialektik als Geschichtsphilosophie195 Ein verbreiteter Einwand gegen utopisches Denken sieht in der Utopie eine Überforderung der menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten. Die Utopie wird nicht direkt verworfen, aber mit nüchternem Realismus zu den süßen Träumen geschoben, die wir uns angesichts dringlicher Probleme nicht mehr leisten können. Eine solche Depotenzierung der Utopie und des utopischen Be‑ wusstseins ist kein bloß zeitgenössisches Phänomen. Bereits 1964 beginnt ein Gespräch zwischen Adorno und Ernst Bloch mit der Feststellung des geringen Kurswertes der Utopie; 196 aus heutiger Sicht zeugt aber bereits die Tatsache die‑ ses Rundfunkgesprächs von einer gewissen Resonanz des Themas; eine Reso‑ nanz, die sich mittlerweile verloren hat. Kurz nach der Jahrtausendwende hat Angehrn festgestellt, dass „[u]topisches Denken [. . .] weithin gegenstandslos, ja inexistent geworden“ sei.197 Die Diagnose wird von Jay in einem Interview be‑ stätigt und von Jameson schließlich zum Ausgangspunkt seiner Auseinander‑ setzung mit dem Gedanken der Utopie genommen.198 In einem solchen Klima ist es nicht erstaunlich, dass Adornos Orientierung am Konzept der Utopie auf breiten Widerstand gestoßen ist. So ist die kommu‑ nikative Wende nicht zuletzt vom Anspruch getragen, den Gedanken der Ver‑ söhnung aus dem utopischen Jenseits in die kommunikative Sphäre einzuholen. Das manifestiert sich an beiden Polen der Spannung zwischen Negativität und Utopie als eine Depotenzierung und somit auch als Lockerung der Spannung zwischen den Momenten. Die Spannung wird insofern geschwächt, als die tota‑ lisierte instrumentelle Vernunft als ein bloßer Teilbereich „einer umfassenden kommunikativen Rationalität“ eingeschränkt wird; 199 so vermag die Vernunft die Utopie mit diskursiven Mitteln einzuholen.200 Die Negativität ist depoten‑ ziert, insofern sie auf den Teilbereich der instrumentellen Rationalität be‑ schränkt wird; die Utopie ist depotenziert, weil sie im kommunikativen Han‑ deln als immer schon vorweggenommen gedacht ist. Aber die wechselseitige Depotenzierung bezahlt die gelockerte Spannung zwischen Negativität und Utopie mit einer einschneidenden Reduktion dieser Momente.201 So kann das 195  Der folgende einleitende Abschnitt und Abschnitt b. sind gekürzt bereits erschienen in: Sommer: „Utopie und Negativität. Adornos negative Dialektik als Paradigma utopischen Denkens“. 196  Adorno/Bloch: „Etwas fehlt . . .“, S.  58. 197  Angehrn: „Dialektik der Utopie“, S.  186. 198  Jay, Martin und Johannßen, Dennis: „Utopie und Differenz. Martin Jay im Gespräch mit Dennis Johannßen“, Zeitschrift für kritische Theorie, 16. Jg./H. 30/31 (2010), S.  171–192, hier S.  190 f.; Jameson, Fredric: „The Politics of Utopia“, New Left Review, H. 25 (2004), S.  35–54, hier S.  36. 199 Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, S.  523. 200  Vgl. Wellmer: „Wahrheit, Schein, Versöhnung“, S.  21. 201 Honneth hat bereits früh bemerkt, dass in die kommunikative Wende auch „eine

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Nichtidentische von Habermas nur um den Preis seiner Reduktion auf Inter‑ subjektivität diskursiv eingelöst werden. Gleichzeitig büßt die Diagnose der Gegenwart und der Geschichte durch die Einschränkung der Negativität auf instrumentelle Vernunft ihren kritischen Stachel weitgehend ein. Gewiss, durch die Depotenzierung bringt die kommunikative Wende auch einen Gewinn an Differenziertheit mit sich. Vor dem Hintergrund der Ge‑ schichtsphilosophie Adornos wird das deutlich; gerade hier scheint die kommu‑ nikative Wende einen Fortschritt darzustellen, weil die Spannung von Negati‑ vität und Utopie scheinbar keinen Raum für die Dimension menschlicher Praxis mehr lässt. Insofern stellt die kommunikative Wende auch eine Wiedergewin‑ nung der Handlungsspielräume der sozialen Akteure dar.202 Erst wenn die Ge‑ genwart nicht mehr auf Negativität vereidigt und die Zukunft nicht mehr als maßlose Utopie der Erlösung imaginiert wird, eröffnen sich Perspektiven, wel‑ che menschliche Praxis überhaupt möglich und sinnvoll erscheinen lassen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Kritische Theorie und Theorien, die ihren emanzipatorischen Impetus teilen, die Utopie höchstens in depotenzierter Form zulassen, nämlich als „realistische Utopie“, 203 die realisierbare Hand‑ lungsperspektiven formuliert, anstatt sie durch maximalistische Ansprüche zu blockieren. Dem Begriff der realistischen Utopie ist neben einer Kritik an einem resignativem Pragmatismus auch eine Kritik an einem starken Utopiebegriff im‑ plizit. Habermas spricht sie aus, wenn er die Menschenrechte als realistische Utopie definiert, weil „sie nicht länger die sozialutopisch ausgemalten Bilder eines kollektiven Glücks vorgaukeln“; 204 in dieselbe Richtung zielt Jays Aussa‑ ge, „dass es Aufgaben gibt, die wir ernst nehmen sollten, anstatt uns an etwas so maximalistischem wie der Erlösung abzuarbeiten“.205 Demgegenüber sehe ich in Adornos Philosophie ein Verhältnis von Negativi‑ tät und Utopie am Werk, das über die Gegenüberstellung von realistischen Handlungsperspektiven und maximalistischen Ansprüchen hinausführt, in‑ dem es einen praktischen Handlungsspielraum eröffnet, ohne die Ausrichtung an einem emphatischen Utopiebegriff preiszugeben Dieser Raum bildet sich gleichsam durch die Extreme hindurch, indem im Angesicht der äußersten Ne‑ gativität die maßlose Utopie festgehalten wird. Um dies zu explizieren, ist zu‑ Schwächung des kritischen Theorieanspruches“ eingeht. Honneth, Axel: „Von Adorno zu Habermas. Zum Gestaltwandel kritischer Gesellschaftstheorie“, in: Bonß, Wolfgang und Honneth, Axel (Hgg.): Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der Kritischen Theorie, Frankfurt a. M. 1982, S.  87–126, hier S.  118. Vgl. auch: Honneth: „Patholo‑ gie der Vernunft“, S.  4 4. 202  Vgl. Honneth: Kritik der Macht, S.  2 23 f. 203  Habermas, Jürgen: „Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte“, in: ders.: Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin 2011, S.  13–38. 204  Ebd., S.  33. 205  Jay/Johannßen: „Utopie und Differenz. Martin Jay im Gespräch mit Dennis Johann‑ ßen“, S.  187.

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nächst ein Problem aufzugreifen, das sich aus dem Theorem des Bannes ergibt: Wenn die Menschen wirklich unter einem Bann leben, der es ihnen unmöglich macht, sich das Ganze anders vorzustellen, als es ist, wie kann dann die Utopie überhaupt noch eine Funktion haben? Die Antwort ist in Adornos Ideologiebe‑ griff und der diesem Begriff korrelierenden Form der Ideologiekritik zu suchen (a); fraglich bleibt aber, ob das utopische Bewusstsein tatsächlich einen starken Utopiebegriff braucht und ihm nicht mit einem minimalen Utopiebegriff besser gedient wäre? Adorno entzieht sich dieser Alternative, da es in seinem Denken verschiedene Grade der Utopie oder verschiedene Stufen in der Utopie gibt. Aus dieser Differenzierung wird nicht bloß ersichtlich, wie sich gerade durch die Extreme der Negativität und der Utopie hindurch ein Raum für Praxis eröffnet; es zeichnet sich auch die Fluchtlinie ab, in der Geschichte und Metaphysik in Adornos Werk zusammenkommen (b). a.  Utopie und Ideologie Adorno und Bloch setzen in ihrem Gespräch bei der gesellschaftstheoretischen Diagnose einer „Schrumpfung des utopischen Bewusstseins“ an, des subjekti‑ ven Unvermögens, „ganz einfach das Ganze sich vorzustellen, als etwas, das völlig anders sein könnte“.206 Der Grund dafür liegt in einem Objektiven: Da sich die Wirklichkeit als ein geschlossenes System zeigt, scheint sie auch nicht offen zu sein für die Möglichkeit einer anderen Ordnung. Die subjektive Fähig‑ keit zur Utopie fällt und steigt umgekehrt zur Lückenlosigkeit der Wirklich‑ keit, wie Adorno in den Minima Moralia andeutet: „Nur kraft des Gegensatzes zur Produktion, als von der Ordnung doch nicht ganz Erfaßte, können die Menschen eine menschenwürdigere herbeiführen.“207 Es ließe sich argumentie‑ ren, dass Adorno damit seinen Kritikern Recht gibt, die meinen, sein Negativi‑ tätspathos müsse gemildert werden, um den Gedanken der Versöhnung plausi‑ bel zu machen. Aber bei Adorno findet eine solche Milderung nicht statt; im Gegenteil. Er betont gerade, dass nur in der äußersten Negativität die Möglich‑ keit festgehalten werden darf. Damit ist wiederum fraglich, wie sich angesichts der These des lückenlosen Verblendungszusammenhanges die Möglichkeit ei‑ nes Bewusstseins von der Utopie plausibel machen lässt. Adorno oszilliert scheinbar zwischen zwei widersprüchlichen Annahmen: Die Wirklichkeit scheint zugleich geschlossen und offen zu sein. Sie lässt das utopische Bewusst‑ sein schrumpfen, dennoch hält die Theorie an der Utopie fest. Die Pointe aber von Adornos Gesellschaftstheorie liegt – gleich derjenigen seiner Geschichtsphilosophie – darin, dass die Geschlossenheit der Totalität ei‑ nen Doppelcharakter annimmt: Sie ist zugleich real und Schein. Das Verhältnis 206 

Adorno/Bloch: „Etwas fehlt . . .“, S.  60 f. Minima Moralia, S.  13 f.

207 Adorno:

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von Realität und Schein stellt sich in der Gesellschaftstheorie zunächst analog zur Naturgeschichte dar. Die Geschlossenheit der Gesellschaft ist real, insofern sie objektiv den Schein ihrer Geschlossenheit erzeugt. Das bedeutet: Die Ge‑ schlossenheit der Gesellschaft ist der gesellschaftlich notwendige Schein – die Ideologie – der Gesellschaft. Adornos Definitionen der Ideologie: objektiv als gesellschaftlicher notwendiger Schein, subjektiv als notwendig falsches Be‑ wusstsein, zeigen zugleich die Differenz zur Naturgeschichte an. Während in der Naturgeschichte der gesellschaftlich notwendige Schein die Übermacht der Geschichte zum Inhalt hat, so ist im Falle der Gesellschaft diese selbst der In‑ halt des von ihr erzeugten Scheins und des von ihr konstituierten falschen Be‑ wusstseins: „Ideologie heißt heute: die Gesellschaft als Erscheinung.“208 In der Verdoppelung der Gesellschaft zum Schein ihrer selbst tritt die gesellschafts‑ theoretische Relevanz der Kulturindustriethese deutlich hervor. Da die Kultu‑ rindustrie für Adorno die gegenwärtige Form der Ideologie darstellt, lässt sich ihre Funktion vom geschichtlichen Wandel des Ideologiebegriffs her verstehen, der das Verhältnis der Ideologie zur Gesellschaft betrifft: „Von Ideologie läßt sich sinnvoll nur soweit reden, wie ein Geistiges selbständig, substantiell und mit eigenem Anspruch aus dem gesellschaftlichen Prozeß hervortritt. Ihre Un‑ wahrheit ist stets der Preis eben dieser Ablösung, der Verleugnung des gesell‑ schaftlichen Grundes.“209 Indem Ideologie zu der von Gesellschaft selbst wird, verschwindet die Möglichkeit, diese Differenz noch zu behaupten und die Funktionsweise der Ideologie ändert sich. Ideologie in ihrer herkömmlichen Gestalt ist Rechtfertigung: „Sie erheischt ebenso die Erfahrung eines bereits problematischen gesellschaftlichen Zustan‑ des, den es zu verteidigen gilt, wie andererseits die Idee der Gerechtigkeit selbst, ohne die eine solche apologetische Notwendigkeit nicht bestünde, und die ihr Modell am Tausch von Vergleichbarem hat.“210 Mit der Einebnung der Diffe‑ renz zwischen gesellschaftlichem Zustand und dem, was er zu sein vorgibt, das heißt mit der Einebnung der Differenz von Realität und Schein, kann die Ideo‑ logie ihre apologetische Funktion nicht mehr direkt wahrnehmen; sie kann die reellen Widersprüche der Gesellschaft nicht mehr durch den Schein der Versöh‑ nung wegräumen. Apologetisch bleibt sie aber gerade in der Fusion von Realität und Schein. Indem sie die Realität verdoppelt, zeitigt die Ideologie den Schein ihrer Unveränderbarkeit. Dieser Wandel ist entscheidend: Inhalt des Scheins ist nicht die Aufhebung der Widersprüche, sondern ihre Unaufhebbarkeit, die Notwendigkeit ihrer Existenz. Statt dass über die Wirklichkeit getäuscht wird, wird die Wirklichkeit selber zur Täuschung: „Die neue Ideologie hat die Welt als solche zum Gegenstand. Sie macht vom Kultus der Tatsache Gebrauch, in‑ 208 

Adorno: „Kulturkritik und Gesellschaft“, GS 10.1, S.  11–30, hier S.  25. Adorno: „Beitrag zur Ideologienlehre“, S.  474. 210  Ebd., S.  465. 209 

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dem sie sich darauf beschränkt, das schlechte Dasein durch möglichst genaue Darstellung ins Reich der Tatsachen zu erheben“211 Das ist nach Hindrichs der „der Clou des Kapitels über Kulturindustrie: Sie errichtet gar keine Scheinwel‑ ten über der harten Wirklichkeit, um diese zu beschönigen, sondern bringt die Wirklichkeit als scheinbare Scheinwelt erst recht zur Herrschaft.“212 Ideologie ist nicht mehr Verschleierung der Wirklichkeit, sondern „der Schleier der Schleierlosigkeit“.213 Übersetzt in die Begrifflichkeit von Wirklichkeit und Möglichkeit bedeutet das: Die Verdoppelung funktioniert als Rechtfertigung, indem die Wirklichkeit als einzige Möglichkeit dargestellt wird. Ideologie wird, wie Adorno in einer Vorlesung sagt, zum objektiven Geist: Die Ideologie, je weniger sie sich abhebt, wird unmittelbar zum objektiven Geist, unter dem wir leben. Sie ist also nicht länger mehr theoretisches Gebilde, sie ist weder mehr Verklärung eines Bestehenden, noch dessen Komplement, sondern sie ist das Bestehende als Erscheinung, das Bestehende in der Art, wie es im gesellschaftlichen Gesamtbewußt‑ sein sich reflektiert, und damit objektiver Geist. 214

Sinn erlangt die Wirklichkeit nicht, weil sie wirklich sinnvoll wäre, noch indem sie als sinnvoll verklärt wird, sondern weil sie als die einzige mögliche Wirklich‑ keit erscheint. Deshalb schreibt Adorno in der Negativen Dialektik: „Es ist das Mögliche, nie das unmittelbar Wirkliche, das der Utopie den Platz versperrt.“215 Die Schrumpfung des utopischen Bewusstseins ist die Folge der ideologischen Verdoppelung der Gesellschaft. „Nichts bleibt als Ideologie zurück denn die Anerkennung des Bestehenden selber, Modelle eines Verhaltens, das der Über‑ macht der Verhältnisse sich fügt.“216 Insofern aber die Schrumpfung des utopi‑ schen Bewusstseins eine Folge des Scheins ist, ließe sich diesem Prozess durch eine Kritik des Scheins entgegenwirken. Dabei ist fraglich, wie der Boden bestellt sein muss, auf den diese Ideologie‑ kritik fallen soll. Wenn die Gesellschaft sich notwendig selbst als Ideologie zei‑ tigt, das heißt: sich im Bewusstsein der Menschen nochmals verdoppelt, kann man fragen, inwiefern diesem Bewusstsein überhaupt die Möglichkeit, es könne alles anders sein, mithin die Utopie plausibel gemacht werden kann. Das ist „Das Problem des neuen Menschentypus“, das Adorno im gleichnamigen Me‑ morandum von 1941 entwirft: „Sie [die Menschen, d. Verf.] sehen die Welt end‑ lich, wie sie ist, aber um den Preis, daß sie nicht mehr sehen, wie sie sein könn‑ 211 Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S.  170 f.; vgl. auch: Adorno: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft, S.  211. 212 Hindrichs: „Unendliche Vorgeschichte. Zur Modernitätsdiagnose der Dialektik der Aufklärung“, S.  49. 213 Adorno: Philosophie und Soziologie, S.  234. 214 Adorno: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft, S.  212. 215 Adorno: Negative Dialektik, S.  66. 216  Adorno: „Beitrag zur Ideologienlehre“, S.  477.

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te.“217 Dennoch liefert gerade die neue Gestalt der Ideologie den Grund, warum die Menschen die Ideologie durchschauen können. Zwar ist die Ideologie mit der Einebnung der Differenz von Realität und Schein gleichsam total geworden, aber vermag gerade durch die Einebnung dieser Differenz nicht mehr, die Men‑ schen total zu erfassen: „Seitdem aber die Ideologie kaum mehr besagt, als daß es so ist, wie es ist, schrumpft auch ihre eigene Unwahrheit zusammen auf das dünne Axiom, es könne nicht anders sein als es ist.“218 Das versucht Adorno mit dem Verweis auf die neue Funktionsweise der Ideologie zu erklären. Versuchten die herkömmlichen Ideologien, Widersprüche in der Gesellschaft zu verhüllen, kann die neue Gestalt der Ideologie, weil sie die Differenz zur Gesellschaft ein‑ gezogen hat, diese nicht mehr verhüllen: „Die Ideologie ist keine Hülle mehr, sondern nur noch das drohende Antlitz der Welt.“219 Die Negativität der Gesell‑ schaft wird als unausweichlich dargestellt: das macht die neue Ideologie aus. Sie muss nicht mehr verhüllen, weil die Menschen den Bewegungsgesetzen der Ge‑ sellschaft schon aus dem Grund gehorchen, dass ihr Überleben davon abhängt. Einzige Funktion der Ideologie ist es, diese Notwendigkeit den Menschen nochmals ins Bewusstsein zu heben. Aber diese Funktion kann sie nicht ganz erfüllen: „Während die Menschen dieser Unwahrheit sich beugen, durchschau‑ en sie sie insgeheim zugleich.“220 Adorno rechnet implizit mit einer Differenz zwischen dem Handeln und dem Bewusstsein der Menschen. Obwohl sie so handeln müssen, als gäbe es keine anderen Möglichkeiten, glauben sie doch nicht ganz daran. Auch die Totalität des Verblendungszusammenhangs ist bloß objektiv total; subjektiv vermag sie die Menschen nie ganz zu erfassen. Diese These, die sich an verschiedenen Stellen in Adornos gesellschaftstheoretischen Schriften finden lässt,221 wird in der Sekundärliteratur selten beachtet; sie gehört aber zur These des totalen Verblendungszusammenhangs konstitutiv dazu. So schreibt Adorno in einem kurzen Text über das Konzept der Freizeit: „Die realen Interessen der Einzelnen sind immer noch stark genug, um, in Grenzen, der totalen Erfassung zu widerstehen. Das würde zusammenstimmen mit der gesellschaftlichen Pro‑ gnose, daß eine Gesellschaft, deren tragende Widersprüche ungemindert fort‑ bestehen, auch im Bewußtsein nicht total integriert werden kann. Es geht nicht glatt.“222 Damit zeigt sich an der These der totalen Vermittlung der Individuen durch die Gesellschaft eine entscheidende Nuance: Die Vermittlung gelingt nur 217  Adorno: „Problem des neuen Menschentypus“, in: ders.: Current of Music. Elements of a Radio Theory, hg. von Robert Hullot-Kentor, NaS I 3, Frankfurt a. M. 2006, S.  650–661, hier S.  657. 218  Adorno: „Beitrag zur Ideologienlehre“, S.  477. 219 Ebd. 220 Ebd. 221  Adorno: „Kultur und Verwaltung“, GS 8, S.  122–146, hier S.  145; ders.: „Reflexionen zur Klassentheorie“, GS 8, S.  373–391, hier S.  390. 222  Adorno: „Freizeit“, S.  655.

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auf der Ebene des Handelns, insofern die Menschen gezwungen sind, ihr Leben nach den Bewegungsgesetzen der Gesellschaft einzurichten, nicht aber im Be‑ wusstsein, wo die dünne Ideologie, es könne nicht anders sein, sie nicht ganz zu erfassen vermag: „[E]in Grundbestand von Ideologie ist es, daß sie nie ganz geglaubt wird.“, sagt Adorno in der Ästhetischen Theorie.223 Hier kann Kritik ansetzen: „Weil aber Ideologie und Realität derart sich aufeinanderzubewegen; weil die Realität mangels jeder anderen überzeugenden Ideologie zu der ihrer selbst wird, bedürfte es nur einer geringen Anstrengung des Geistes, den zu‑ gleich allmächtigen und nichtigen Schein von sich zu werfen.“224 Ist aber die Ideologie tatsächlich dadurch gekennzeichnet, dass sie den „Gedanken, daß sie vom Einzelnen aus abzuändern wäre, bei den Menschen gar nicht mehr recht aufkommen läßt“,225 dann ist ihre Kritik möglich als, wie Adorno in einer Vor‑ lesung sagt, „Kritik an der Form, in der die Inhalte im gesellschaftlichen Be‑ wußtsein sich niederschlagen“,226 mithin als Kritik der Reproduktionsmecha‑ nismen von Ideologie und damit als Sprach-, Kunst- und Kulturkritik, als Kri‑ tik der Kulturindustrie. Wenn aber die Ideologie sich zum Schein zusammengezogen hat, es könne nicht anders sein, so lässt sich aus Sicht der gegenwärtigen Kritischen Theorie fragen, ob in der Kritik dieser Ideologie ein starker Utopiebegriff nicht eher hinderlich ist? Gerade die These, es könnte doch alles radikal anders sein, scheint eine Überforderung der Menschen darzustellen. Insofern wäre es bes‑ ser, den Menschen Möglichkeiten der Veränderung innerhalb der gegebenen Ordnung aufzuzeigen, und die Rettung des utopischen Bewusstseins wäre ohne einen starken Utopiebegriff nicht nur möglich, sondern auch pragmatischer, weil dadurch den Menschen realistische Handlungsspielräume eröffnet werden. Adorno jedoch vermag beides, an einem starken Utopiebegriff festzuhalten und zugleich realistische Handlungsziele zu formulieren. b.  Dimensionen des Utopischen: von der Stillung des Hungers bis zur Abschaffung des Todes Ausgehen möchte ich dabei von Kant, dessen geschichtsphilosophisches Werk durch eine eigentümlich praktische Ausrichtung eine Alternative zu utopisch ausgerichteten Entwürfen darstellt. Kant zielt in seinen geschichtsphilosophi‑ schen Schriften nicht bloß auf theoretische Erkenntnis einer Tendenz der ge‑ schichtlichen Bewegung; die Erkenntnis entfaltet praktische Wirkung, indem sie die Menschen zur Mitarbeit an dieser Tendenz antreibt. Die Absicht wird von Kant im neunten Satz der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in welt‑ 223 Adorno:

Ästhetische Theorie, S.  349. Adorno: „Beitrag zur Ideologienlehre“, S.  477. 225 Adorno: Philosophie und Soziologie, S.  235. 226 Adorno: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft, S.  212. 224 

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bürgerlicher Absicht“ ausgesprochen: „Ein philosophischer Versuch, die allge‑ meine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten, muß als möglich, und selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen wer‑ den.“227 Die praktischen Erfolgschancen dieses Projekts hängen von der Über‑ zeugungskraft und Stringenz der theoretischen Seite ab. Nur wenn es Kant ge‑ lingt, das Ziel der allgemeinen Geschichte als ein realisierbares Ziel hinzustellen und eine Tendenz in der Geschichte auszumachen, die auf dieses Ziel hindeutet, kann die theoretische Erkenntnis ihre praktische Wirkung entfalten, da nur dann die Menschen sich für dieses Ziel einsetzen werden.228 Damit die theoreti‑ sche Erkenntnis praktisch werden kann, muss Kant ein Ziel setzen, das – wie Angehrn hervorhebt – den Menschen erreichbar erscheint: „Im Fluchtpunkt der Geschichte steht weder die Internalisierung moralischer Normen noch eine utopische Sozialordnung, sondern ein pragmatisches Handlungsziel, das endli‑ che Wesen in vernünftigem Handeln verfolgen und erreichen können.“229 Mit dem Begriff des pragmatischen Handlungsziels möchte ich zu Adornos Geschichtsphilosophie zurückkehren, in der sich eine Kant vergleichbare Ori‑ entierung ausmachen lässt. Nicht bloß der kategorische Imperativ, die Men‑ schen sollen ihr Denken und Handeln so einrichten, „daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“,230 stellt ein solch pragmatisches Hand‑ lungsziel dar. Ebenso sollen die Menschen ihr Denken und Handeln so einrich‑ ten, „daß keiner mehr hungern soll“,231 und allgemein so, dass die materiellen Bedürfnisse gestillt werden.232 All diese Aufforderungen lassen sich als pragma‑ tische Handlungsziele verstehen, über deren konkrete Realisierung Adorno sich zwar beharrlich ausschweigt, die jedoch nicht einfach als utopisch abgetan werden können. Zumindest die Verhinderung von Genoziden und die Abschaf‑ fung des Hungers stehen, wenn sie auch bisweilen bloß halbherzig verfolgt wer‑ den, auf der Agenda der Weltpolitik. Neben diesen pragmatischen Handlungszielen hält Adorno – und das trennt ihn von Kant – an einem emphatischen Begriff der Utopie fest, dessen „neural‑ gischer Punkt“ nichts weniger als „die Frage nach der Abschaffung des Todes“

227 

Kant: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, A 407. „Indessen bringt es die menschliche Natur so mit sich: selbst in Ansehung der allerent‑ ferntesten Epoche, die unsere Gattung treffen soll, nicht gleichgültig zu sein, wenn sie nur mit Sicherheit erwartet werden kann.“ Ebd., A 405. 229  Angehrn, Emil: „Kant und die gegenwärtige Geschichtsphilosophie“, in: Heidemann, Dietmar H. und Engelhard, Kristina (Hgg.): Warum Kant heute? Systematische Bedeutung und Rezeption seiner Philosophie in der Gegenwart, Berlin/New York 2004, S.  328–351, hier S.  341. 230 Adorno: Negative Dialektik, S.  358. 231 Adorno: Minima Moralia, S.  178. 232 Adorno: Negative Dialektik, S.  207. 228 

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ist.233 Dieser Utopiebegriff zielt auf vollständige Versöhnung und auf Erlösung im emphatischen Sinn. Er stellt kein pragmatisches Handlungsziel dar, 234 son‑ dern formuliert eine maßlose Utopie. Die Pointe von Adornos Stellung zur Utopie ist, dass die pragmatischen Handlungsziele und der starke Utopiebegriff zusammengedacht werden. Das erlaubt es ihm, normative Leitideen zu formu‑ lieren, die den menschlichen Fähigkeiten kommensurabel bleiben, ohne sich durch die „pragmatistische Fessel“235 auf das konkret Mögliche vereidigen zu lassen und die Utopie preisgeben zu müssen. Adorno selbst spricht nicht von pragmatischen Handlungszielen, sondern zählt auch das, was ich hier mit diesem Begriff bezeichne, zur Utopie. Dennoch lässt sich das, was ich bei Adorno als pragmatisches Handlungsziel erläutere, ziemlich exakt von dem, was ich emphatische oder maßlose Utopie nenne, scheiden. Während die pragmatischen Handlungsziele materialistische und letztlich gesellschaftliche Momente betreffen, lässt sich die maßlose Utopie nicht unmittelbar in diesen Kategorien verankern. Die Frage nach der Abschaf‑ fung von Leiden und Mangel lässt sich als Frage nach gesellschaftlichen Utopien stellen und verweist als solche auch auf gesellschaftliche Lösungen. Wenn sich Adorno auch der Formulierung solcher Lösungen entzogen hat, so deuten die wenigen Hinweise, die er gibt, darauf hin, dass er sie als Veränderungen der gesellschaftlichen Organisation, zumal der Produktionsverhältnisse ver‑ stand.236 Als solche ist die Utopie eine Frage der Organisation der real vorhan‑ denen Kräfte und Ressourcen der Menschheit; deshalb wäre sie, wie Adorno manchmal sagt, bereits morgen realisierbar; 237 ihre Möglichkeit ist, wie Adorno an einer berühmten Stelle der Negativen Dialektik sagt, konkret.238 Von dieser 233 

Adorno/Bloch: „Etwas fehlt . . .“, S.  65. Freilich könnte man auch die Abschaffung des Todes als ein pragmatisches Handlungs‑ ziel formulieren, wie es etwa im Transhumanismus anvisiert wird. Adorno grenzt sich aber von der Vorstellung der Abschaffung des Todes als wissenschaftlichem Vorgang explizit ab. vgl. Ebd., S.  68. 235  Adorno: „Marginalien zu Theorie und Praxis“, GS 10.2, S.  759–781, hier S.  759. 236  „Unleugbar dabei, daß in der zunehmenden Befriedigung der materiellen Bedürfnisse, trotz ihrer vom Apparat verformten Gestalt, auch unvergleichlich viel konkreter die Möglich‑ keit von Leben ohne Not sich abzeichnet. Auch in den ärmsten Ländern brauchte keiner mehr zu hungern.“ Adorno: „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?“, S.  362.; „Wird jedoch in einer Gesellschaft, in der Hunger angesichts vorhandener und offensichtlich möglicher Güterfülle jetzt und hier vermeidbar wäre, gleichwohl gehungert, so verlangt das Abschaf‑ fung des Hungers durch Eingriff in die Produktionsverhältnisse.“ Adorno: „Positivis‑ musstreit“, S.  347.; „Gerade weil der Hunger auf ganzen Kontinenten fortwährt, obwohl er technisch abgeschafft werden könnte, vermag keiner so recht am Wohlstand sich zu freuen.“ Adorno: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“, S.  564. 237  „Der Film, der heute so unausweichlich an die Menschen sich hängt, als wär‘s ein Stück von ihnen, ist ihrer menschlichen Bestimmung, die von einem Tag zum anderen sich verwirk‑ lichen ließe, zugleich am allerfernsten.“ Adorno: Minima Moralia, S.  233 f.; „Die Möglichkeit einer anderen, im Kern ihres Lebensprozesses befreiten Gesellschaft liegt so nahe wie ver‑ schüttet.“ Adorno: „Die auferstandene Kultur“, GS 20.2, S.  453–464, hier S.  461. 238 Adorno: Negative Dialektik, S.  2 2. 234 

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konkreten Utopie ist die maßlose Utopie zumindest implizit zu unterscheiden. Sie lässt sich nicht unmittelbar in gesellschaftlichen Dimensionen denken und scheint sich überhaupt der Denkbarkeit zu entziehen; sie kann nicht ausgepin‑ selt werden, weil diese Ausmalung notwendig an die Gegenwart gekettet bleibt: Wer einen richtigen Zustand ausmalt, um dem Einwand zu begegnen, er wisse nicht, was er wolle, kann von jener Vormacht, auch über ihn, nicht absehen. Vermöchte selbst seine Phantasie alles radikal verändert sich vorzustellen, so bliebe sie immer noch an ihn und seine Gegenwart als statischen Bezugspunkt gekettet, und alles würde schief. Auch der Kritischste wäre im Stande der Freiheit ein ganz anderer gleich denen, die er verändert wünscht. 239

Damit ist auch angezeigt, wie die beiden Utopiebegriffe bei Adorno ineinander spielen: Ist das Bewusstsein so an die gesellschaftliche Wirklichkeit gekettet, dass selbst die Phantasie sie nicht ganz abschütteln kann, so bedeutet dies, dass in einer radikal anderen Gesellschaftsform – Adorno nennt sie hier den Stand der Freiheit – die Stellung des Bewusstseins zur Objektivität sich in unabsehba‑ rem Maße verändert. An der konkreten Möglichkeit der gesellschaftlichen Uto‑ pie, die Adorno sich zunächst als Stillung der materiellen Bedürfnisse denkt, hat die Hoffnung, die sich in der maßlosen Utopie ausdrückt, ihren Halt. Zwar ist die Utopie bei Adorno im Kern eine Utopie des ewigen Lebens und der Fluchtpunkt seines Denkens ist unbezweifelbar die maßlose Utopie; den‑ noch hält er auch an konkreten Formen des Utopiebegriffs fest, nicht bloß, weil sich die Hoffnung der maßlosen Utopie daran knüpft, sondern auch, weil diese konkreten Formen konstitutiv zur Utopie dazugehören. In seinem Werk kommt das nicht explizit zur Sprache, doch im Gespräch mit Bloch macht Adorno deutlich, dass man sich nicht strikt ans Bilderverbot halten kann, weil dieses das utopische Bewusstsein selbst einschränkt, in dem Sinne, dass der Wille, es soll anders sein, verschluckt werde; mithin muss auch die konkrete Möglichkeit der Utopie ihren Platz im utopischen Denken einnehmen: Wenn es wahr ist, daß ein Leben in Freiheit und Glück heute möglich wäre, dann wäre die eine der theoretischen Gestalten der Utopie, für die ich sicher nicht zuständig bin, und du, soweit ich es übersehen kann, auch nicht, daß man konkret sagen würde, was bei dem gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte der Menschheit möglich wäre – das läßt sich konkret und das läßt sich ohne Ausmalen und das läßt sich ohne alle Willkür sagen. 240

Zwar spricht Adorno sich selbst die Zuständigkeit für die Bestimmung der kon‑ kreten Möglichkeiten ab; nichtsdestoweniger lassen sich in seinem Werk, wenn auch nicht ausgeführte Beschreibungen, so doch zumindest Hinweise auf die Möglichkeiten des gegenwärtigen Standes der Produktivkräfte finden. Adornos Utopiebegriff besitzt eine eigentümliche Doppelstruktur, durch die er nicht nur, wie es heute gefordert wird, realistische Utopien, eigentlich prag‑ 239 

240 

Ebd., S.  345. Adorno/Bloch: „Etwas fehlt . . .“, S.  71.

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matische Handlungsziele, als sinnvolle Orientierungspunkte menschlicher Pra‑ xis formulieren kann, sondern auch an einem starken Utopiebegriff festhalten kann, der das Denken von der Forderung der Nützlichkeit hier und jetzt ent‑ bindet. So legitim die mit dem Begriff der realistischen Utopie intendierte Ab‑ grenzung gegen naive Sozialutopien ist, so unglücklich ist die mitgeschleppte Diffamierung des genuin utopischen Impulses. Die Utopie zeichnet sich in ihrer nachdrücklichen Bedeutung gerade dadurch aus, dass sie den Realismus über‑ steigt und im Gegebenen keinen Platz hat – eine im emphatischen Sinne realis‑ tische Utopie ist keine. Die allzu engstirnige Ausrichtung auf das hier und jetzt Mögliche beschneidet die Hoffnung auf das, was nicht heute und morgen reali‑ sierbar, aber dennoch möglich sein könnte. An der contradictio in adjecto einer realistischen Utopie bewahrheitet sich Adornos Einsicht, dass das Mögliche, nicht das Wirkliche, der Utopie den Platz versperrt. Adornos Dialektik von Negativität und Utopie erlaubt es ihm, über die unge‑ lenke Antithese von realistischer und emphatischer Utopie hinauszugehen, ohne an kritischer Bestimmtheit nachzulassen, ohne über der Fixierung auf das konkret Machbare die Negativität als Moment der Realität ebenfalls zu fixieren. Bei Adorno steht piece meal social engineering in keinem Widerspruch zur Aus‑ richtung an der Utopie. Es liegt in der Struktur negativer Dialektik, der Bewe‑ gung durch die Extreme hindurch, dass partikulare Verbesserungen nicht in ihren Blick geraten können; das bedeutet nicht, dass Adorno diesen ablehnend gegenüberstand. In der Einleitung in die Soziologie kritisiert er ausdrücklich den ausschließlichen Fokus auf das Ganze und die Diffamierung partikularer Verbesserungen: Es wäre eine schlechte und eine idealistische Abstraktheit, wenn man um der Struktur des Ganzen willen die Möglichkeit von Verbesserungen im Rahmen der bestehenden Verhältnisse bagatellisieren oder gar – und auch daran hat es früher nicht gefehlt – nega‑ tiv akzentuieren würde. [. . .] Ich würde sagen, daß gerade je mehr die gegenwärtige ge‑ sellschaftliche Struktur, aus Gründen, die wir jetzt und in diesem Zusammenhang schlecht analysieren können, so sehr den Charakter des Verbauten, so sehr den Charak‑ ter einer ungeheuerlich zusammengeballten ‚zweiten Natur‘ hat, daß solange das der Fall ist, unter Umständen die armseligsten Eingriffe in die bestehende Realität eine viel grö‑ ßere, nämlich auch, ich möchte fast sagen, symbolische Bedeutung haben, als ihnen an sich zukommt. 241

Diese Gesinnung hinterlässt zwar in den Hauptwerken kaum Spuren; aber sie steht hinter den kulturkritischen Schriften, zumal den zwei Folgen „eingreifen‑ der“ Essays. Wie das Vorwort der Eingriffe zeigt, sind diese Essays explizit als Eingriffe, mithin als partielle Verbesserungsvorschläge, gedacht: Reine Gesinnung jedoch, die sich Eingriffe versagt, verstärkt ebenfalls, wovor sie zu‑ rückschreckt. Den Widerspruch zu schlichten steht nicht bei der Reflexion; ihn diktiert 241 Adorno:

Einleitung in die Soziologie, S.  52.

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die Verfassung des Wirklichen. In einem geschichtlichen Augenblick aber, da allerorten Praxis abgeschnitten dünkt, die aufs Ganze sich bezöge, mögen selbst armselige Refor‑ men mehr Recht annehmen, als ihnen an sich gebührt. 242

Was Adorno dabei gefährlich scheint, ist die Tendenz, über dem Fokus auf par‑ tikularen Verbesserungen die Ausrichtung auf das Ganze und damit auf die emphatische Utopie zu vergessen. In diesem Sinne schreibt er in der Einleitung zum Positivismusstreit: „Hochmut gegen partikulare Lösungen ist ihr [der dia‑ lektischen Theorie, d. Verf.] fremd, nur läßt sie von ihnen nicht das Maul sich stopfen.“243 Adorno würde die Freiheitsgewinne vergangener Revolutionen nicht leugnen wollen; aber diese Revolution sind, gemessen an seinem Revoluti‑ onsbegriff, nur partielle Revolutionen. Wenn, wie wir in der Einleitung festge‑ halten haben, der Zweck der Revolution in der Abschaffung der Angst besteht, so formuliert Adorno damit eine emphatische Utopie, die bisherige Fortschritte zwar anerkennt, aber sich damit nicht zufrieden gibt. Adornos emphatische Utopie, das Leben im „Stande von Freiheit“, das Leben „ohne Angst“,244 bezieht ihr Pathos aus der Negativität einer Welt, in der es noch sinnloses, weil ab‑ schaffbares Leiden gibt. Der theoretische Primat der der maßlosen Utopie darf aber nicht darüber täuschen, dass ihre notwendige Bedingung die materialistische Utopie der Be‑ seitigung von Mangel und Leiden ist. Der praktische Primat liegt bei der mate‑ rialistischen Utopie. So wird die maßlose Utopie an materielle Bedingungen gebunden und in die Geschichte eingeholt. Die Konvergenz ist nicht unproble‑ matisch; spöttisch hat Plessner vom „Allheilmittel: Angleichung der Produkti‑ onsverhältnisse an die Produktivkräfte“ gesprochen; 245 und Habermas hat be‑ reits früh, wenn auch nicht explizit gegen Adorno gerichtet, zu bedenken gege‑ ben, dass zwischen „Arbeit“ und „Interaktion“ kein notwendiger Zusammen­hang bestehen muss: An der Idee einer fortschreitenden Rationalisierung der Arbeit klebt eine Masse histori‑ scher Wunschvorstellungen. Obwohl der Hunger noch über zwei Drittel der Erdbevöl‑ kerung regiert, ist die Abschaffung des Hungers keine Utopie im schlechten Sinne. Aber die Entfesselung technischer Produktivkräfte [. . .] ist nicht identisch mit der Herausbil‑ dung von Normen, welche die Dialektik des sittlichen Verhältnisses in herrschaftsfreier Interaktion auf der Grundlage zwanglos sich einspielender Reziprozität vollenden könnten. Die Befreiung von Hunger und Mühsal konvergiert nicht notwendig mit der Befreiung von Knechtschaft und Erniedrigung, denn ein entwicklungsautomatischer Zu‑ sammenhang zwischen Arbeit und Interaktion besteht nicht. 246 242 

Adorno: „Vorwort (Eingriffe. Neun kritische Modelle)“, GS 10.2, S.  457–458, hier S.  458. Adorno: „Positivismusstreit“, S.  351. 244  Adorno: „Marginalien zu Theorie und Praxis“, S.  7 78. 245  Plessner: „Adornos Negative Dialektik. Ihr Thema mit Variationen“, S.  515. 246  Habermas, Jürgen: „Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser ‚Philo‑ sophie des Geistes‘“, in: ders.: Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt a. M. 1969, S.  9 –47, hier S.  46. 243 

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Der praktische Primat der Abschaffung von Hunger und Leiden garantiert in der Tat nicht, dass die emphatische Utopie sich mit der Realisierung der materi‑ alistischen Utopie automatisch erfüllt. Adorno aber zielt mit der Verbindung von materialistischer und emphatischer Utopie nicht auf einen Automatismus im starken Sinne ab. Eher ist er von der mehr oder weniger begründeten Speku‑ lation getragen, dass die Abschaffung von Hunger und Leiden das Bewusstsein der Menschen auf unabsehbare Weise verändern mag; damit ist nicht die maßlo‑ se Utopie beweisen, aber die Behauptung ihrer Unmöglichkeit insofern wider‑ legt, als die Möglichkeiten des veränderten Bewusstseins nicht a priori bestimmt werden können. Der Automatismus ist in diesem Sinne ein schwacher Automa‑ tismus, der an die pragmatischen Handlungsziele der realistischen Utopie bloß die Möglichkeit, nicht bereits die Wirklichkeit der emphatischen Utopie knüpft. Zwei Stellen aus der Negativen Dialektik sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung: Erst dem gestillten leibhaften Drang versöhnte sich der Geist und würde, was er so lange nur verheißt, wie er im Bann der materiellen Bedingungen die Befriedigung der materi‑ ellen Bedürfnisse verweigert. Wäre die käferhaft naturgeschichtliche Sorge einmal durchstoßen, so wäre die Stellung des Bewußtseins zur Wahrheit verändert. 247

Die Spekulation stützt sich auf den genealogischen Vorbehalt, mit dem Adorno die Erkenntniskategorien behandelt: Obwohl sie objektiv gültig sind, sind sie doch entstanden und damit ist die Möglichkeit ihrer Veränderung gegeben. In einer nach den Maßstäben der pragmatischen Handlungsziele veränderten Ge‑ sellschaft wäre möglicherweise auch die Stellung zur emphatischen Utopie ver‑ ändert: sie mag in den Bereich des Möglichen rücken. An dieser Stelle werden Geschichte und Metaphysik kommensurabel.

III.  Geschichte und Metaphysik Ist Metaphysik „das Denken über sich selbst hinaus, ins Offene“, 248 dann kommt der Utopie eine besondere Relevanz für die Metaphysik zu. Bedenkt man weiter, dass die Utopie ein geschichtsphilosophisches Konzept ist, so scheint es nahe zu 247 Adorno: Negative Dialektik, S.  207, S.  382. Bloch bringt diesen Primat der materialisti‑ schen Utopie, über den er sich mit Adorno einig weiß, auf den Punkt: „Es gibt keinen Tanz vor dem Essen. Es müssen die Menschen erst satt werden, und dann kann getanzt werden. Das ist eine Conditio sine qua non, daß überhaupt über das andere ernsthaft, ohne daß es zum Betrug gebraucht wird, geredet werden darf. Erst wenn sich alle Gäste an den Tisch gesetzt haben, kann der Messias, kann der Christos kommen. Also, der gesamte Marxismus, auch seine leuchtendste Form gebracht und in seiner ganzen Verwirklichung antizipiert, ist nur eine Bedingung für ein Leben in Freiheit, ein Leben in Glück, ein Leben in möglicher Erfül‑ lung, ein Leben mit Inhalten.“ Adorno/Bloch: „Etwas fehlt . . .“, S.  74. 248 Adorno: Metaphysik, S.  108.

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liegen, den Übergang von Geschichte und Metaphysik im Utopiebegriff zu su‑ chen. Zumindest implizit lässt sich im Utopiebegriff Adornos eine Konvergenz von Geschichte und Metaphysik ausmachen. Einerseits betrifft das, was ich maßlose Utopie genannt habe, metaphysische Themen: Erlösung, Abschaffung des Todes; andererseits ist die materialistische Utopie Bedingung für eine ange‑ messene Stellung des Bewusstseins zu den metaphysischen Fragen. Explizit aber wird der Übergang vom Geschichts- zum Metaphysikmodell in der Negativen Dialektik über den Begriff der Naturgeschichte gemacht. Der Abschnitt gehört zu den dunkelsten Stellen des Buches. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Ador‑ no ein an Hegel orientiertes Modell, bei dem Marx immer im Hintergrund bleibt, bis er im zweitletzten Abschnitt in den Vordergrund tritt, mit einem Rückgriff auf die Naturgeschichtskonzeption des frühen Vortrags zur Naturge‑ schichte enden lässt: Benjamin nimmt in einer kryptischen Passage die Position von Hegel und Marx ein. Hier muss eine Interpretation dieses Modells auf den Vortrag von 1932 zurückzugreifen. Ich möchte in einem ersten Schritt versu‑ chen, die Transmutation von Metaphysik in Geschichte vor dem Hintergrund der Relation von Zeitlichem und Ewigem zu verstehen (a). Die Einwanderung der Metaphysik in die Geschichte hat auch Konsequenzen für ihr Verhältnis zum Materialismus, die ich im Folgenden nachzeichnen möchte. Der verbreitete Kurzschluss, Adorno versuche zwei letztlich inkommensurable Themen, Mate‑ rialismus und Metaphysik, zusammenzubringen, 249 lässt vermuten, dass sich dieses Verhältnis nur aus einer genauen Bestimmung der spezifischen Bedeu‑ tungsfelder der beiden Begriffe erschließt. Dabei möchte ich die Relation von Materialismus und Metaphysik vor dem Hintergrund der Trennung von Mate‑ rie und Geist verstehen. Aus dieser Situierung des Metaphysikbegriffs zwischen den Polen von Vergänglichkeit und Ewigkeit, von Materie und Geist wird ver‑ ständlich, inwiefern Adorno eine Rettung der Metaphysik gelingen kann: näm‑ lich einzig in geschichtsphilosophischer Perspektive (b). a.  Die Transmutation von Metaphysik in Geschichte Der Utopiebegriff Adornos unterscheidet sich vom herkömmlichen Utopiebe‑ griff durch sein Verhältnis zur Zeit. Utopien zeichnen sich, so Angehrn, meist durch ihre „Statik und Starrheit“ aus: 250 Die Negativität der geschichtlichen Welt terminiert in einer Aufhebung, die nicht bloß die Negativität, sondern die Geschichte selbst aufhebt. Der apokalyptische Zug, „daß hinfort keine Zeit mehr sein soll“, 251 findet sich bei Adorno gerade nicht. Das trennt ihn entschei‑ dend von messianischen oder apokalyptischen Konzeptionen. Adornos Utopie 249  Etwa bei: Rentsch: „Vermittlung“, S.  91 f.; Ziermann: „Dialektik und Metaphysik bei Marx und Adorno“, S.  36. 250  Angehrn: „Dialektik der Utopie“, S.  192. 251  Offb. 10, 6.

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zeichnet weder das Gesamtbild einer idealen Gesellschaft noch sind seine meta‑ physischen Hoffnungen als Aufhebung des Irdischen gedacht. Die Utopie ist nicht jenseits der Geschichte, sondern durch und durch geschichtlich. Das trennt Adorno von der Tradition der Metaphysik und von Hegel gleicherma‑ ßen. War das Absolute in der Tradition, paradigmatisch etwa bei Platon, das Ewige, dem Wandel enthobene und wurde bei Hegel die Bewegung der Ge‑ schichte zur Bewegung des Absoluten selbst, so geht bei Adorno das Absolute in die Geschichte ein und wird selbst geschichtlich. An dieser Stelle sieht Ador‑ no sein eigenes Programm auf dasjenige Benjamins verwiesen. So schreibt er in der „Charakteristik Walter Benjamins“: „Die kritische Einsicht des späten Nietzsche, daß die Wahrheit nicht mit dem zeitlos Allgemeinen identisch sei, sondern daß einzig das Geschichtliche die Gestalt des Absoluten abgebe, hat er [Benjamin, d. Verf.], ohne sie vielleicht zu kennen, als Kanon seines Verfahrens befolgt.“252 So ist es nicht erstaunlich, dass „die Transmutation von Metaphysik in Geschichte“253 von Adorno im Rückgriff auf das Werk Benjamins vollzogen wird. Der Rückgriff nimmt die Form einer Reaktualisierung von Gedanken aus dem Vortrag zur Naturgeschichte auf. Es scheint ratsam, sich zunächst kurz über den Begriff der Transmutation zu verständigen, mit dem Adorno das Ver‑ hältnis von Geschichte und Metaphysik bezeichnet. Adorno denkt diesen Be‑ griff wohl weniger in der Bedeutung, die er in der modernen Physik angenom‑ men hat, sondern eher in der Bedeutung, die er in der Alchemie hatte, als transmutatio metallorum, der Umwandlung unedler Metalle in Gold. Wie in der transmutatio das Ausgangselement seine innere Struktur ändert und zu einem anderen Element wird, so verändert sich bei Adorno die Metaphysik in ihrer inneren Struktur: sie wird geschichtlich. Die Transmutation meint mehr als eine geschichtsphilosophische Perspektive auf die Metaphysik; Metaphysik bleibt in ihrer Zusammensetzung nicht unverändert, sondern verwandelt sich in ein Ge‑ schichtliches. Diese Verwandlung findet im letzten Abschnitt des Geschichtsmodells statt, in dem Adorno mit der bisher verfolgten marxschen Gestalt der Naturgeschich‑ te bricht und stattdessen die zentralen Motive des Vortrags zur Naturgeschichte in äußerst gedrängter Form wiederholt. Er beginnt mit einer Kritik der heideg‑ gerschen Ontologisierung der Geschichte in der Kategorie der Geschichtlich‑ keit, die ihm als eine „Verwesentlichung des Seienden“, eine Verwandlung der Geschichte in Natur erscheint. Ebenso wie gegen Heideggers missglückte Auf‑ hebung der Dichotomie von Natur und Geschichte, richtet sich Adorno gegen die Befestigung der Dichotomie, welche die Geschichte zur bloßen Zutat mache und damit ihrerseits helfe, „das Ungewordene als Wesen zu inthronisieren“.254 252 

Adorno: „Charakteristik Walter Benjamins“, S.  241. Negative Dialektik, S.  353. 254  Ebd., S.  352 f. 253 Adorno:

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Die Formulierung „das Ungewordene“ verweist auf die Naturdefinition des Vortrags: „Es ist damit gemeint das, was von je da ist, was als schicksalhaft ge‑ fügtes, vorgegebenes Sein die menschliche Geschichte trägt, in ihr erscheint, was substantiell ist in ihr.“255 Der Gegensatz von Natur und Geschichte, von dem Adorno an dieser Stelle ausgeht, ist in anderen Worten der von Ewigem und Zeitlichem.256 Gegenüber der Ontologisierung der Geschichte bei Heidegger und der Bagatellisierung der Geschichte zum Akzidens eines im Wesentlichen naturhaften Prozesses versucht Adorno, Natur und Geschichte, Ewiges und Zeitliches in ihrer Vermittlung zu denken: Am Gedanken wäre es statt dessen, alle Natur, und was immer als solche sich installiert, als Geschichte zu sehen und alle Geschichte als Natur, ‚das geschichtliche Sein in seiner äußersten geschichtlichen Bestimmtheit, da, wo es am geschichtlichsten ist, selber als ein naturhaftes Sein begreifen, oder die Natur, da, wo sie als Natur scheinbar am tiefsten in sich verharrt, begreifen als ein geschichtliches Sein‘. 257

Im Vortrag geht Adorno dabei von Lukács und Benjamin aus. Bei Lukács findet er die Idee der zweiten Natur, einer zur Natur erstarrten Geschichte und das Programm einer Wiedererweckung dieser zweiten Natur; 258 diese Wiedererwe‑ ckung kann sich Lukács nach Adorno nicht anders denken „als unter der Kate‑ gorie der theologischen Wiedererweckung, unter dem eschatologischen Hori‑ zont“.259 Die Bedeutung Benjamins bestehe darin, „daß er die Wiedererwe‑ ckung der zweiten Natur aus der unendlichen Ferne in die unendliche Nähe geholt und zum Gegenstand der philosophischen Interpretation gemacht hat“.260 Benjamin reformuliert das Programm einer Wiedererweckung der zweiten Natur, das heißt einer Verflüssigung der zur Natur erstarrten Ge‑ schichte, als eine Aufgabe der philosophischen Deutung. Hier schließt die Negative Dialektik an. Die Vermittlung von Zeitlichem und Ewigem, Geschichte und Natur denkt Adorno im Anschluss an Benjamin in Bezug auf das Moment der Vergängnis, „in dem Natur und Geschichte einander kommensurabel werden“.261 Wie Adorno im Vortrag klar macht, ist diese Bezie‑ hung nicht ontologisch zu verstehen, sondern „als Deutung der konkreten Ge‑ schichte“.262 Es geht nicht um eine tatsächliche Konvergenz von Natur und Ge‑ 255 

Adorno: „Die Idee der Naturgeschichte“, S.  346. Das dritte Modell beginnt denn auch mit diesen Kategorien. Adorno: Negative Dialektik, S.  354. 257  Ebd., S.  353. Das Zitat im Zitat stammt aus: Adorno: „Die Idee der Naturgeschichte“, S.  354 f. 258  Vgl. Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Werkauswahl in Einzelbänden, Band 2, hg. von Frank Benseler und Rüdiger Dannemann, Bielefeld 2009, S.  49 f. 259  Adorno: „Die Idee der Naturgeschichte“, S.  357. 260 Ebd. 261 Adorno: Negative Dialektik, S.  353. 262  Adorno: „Die Idee der Naturgeschichte“, S.  358. 256 

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schichte, sondern um die Deutung der Natur als Geschichte und der Geschich‑ te als Natur. Adorno übernimmt das Modell dieser Deutung von Benjamins Interpretation der Barockdichter und verallgemeinert es zum „Kanon ge‑ schichtsphilosophischer Interpretation“.263 Er bezieht sich dabei auf folgende Stelle: „Natur schwebt ihnen [den Barockdichtern, d. Verf.] vor als ewige Ver‑ gängnis, in der allein der saturnische Blick jener Generation die Geschichte er‑ kannte.“264 Von Adorno nicht expliziert, aber für Benjamin bedeutend ist der saturnische Blick, mit dem Benjamin über die Assoziation Saturns mit der Me‑ lancholie265 einen Zusammenhang von Melancholie und höherer Erkenntnis bezeichnet: „Trauer ist die Gesinnung, in der das Gefühl die entleerte Welt mas‑ kenhaft neubelebt, um ein rätselhaftes Genügen an ihrem Anblick zu haben.“266 Wie die Protokolle aus Adornos Seminar von 1932 zum Trauerspielbuch zeigen, war Adorno mit diesem Begriff der Trauer vertraut.267 Dass Adorno sich in der Negativen Dialektik auf diesen Zusammenhang nicht mehr explizit bezieht, liegt wohl daran, dass er die Idee der Deutung aus dem Zusammenhang des bürgerlichen Trauerspiels herauslösen und für die Geschichtsphilosophie fruchtbar machen wollte. Dennoch finden sich in der Negativen Dialektik noch bedeutende Korrespondenzen zu Benjamins Begriff der Trauer, allen voran die Auffassung, dass Bedeutung bloß noch in den Bruchstücken zu finden ist. Das wird in den Protokollen zugleich als Differenz zu Lukács verstanden: „Wäh‑ rend Lukács hier noch in klassisch-idealistischer Terminologie die Sinnhaftig‑ keit an die Totalität gebunden sieht, kommt Benjamin darüber hinaus zu einer Bejahung gerade der Bedeutungsrelevanz des Bruchstückhaften.“268 In der Negativen Dialektik setzt Deutung an den Bruchstücken an, „welche der Verfall schlägt und welche die objektiven Bedeutungen tragen“.269 Wichtig ist die Emphase der objektiven Bedeutungen: Während die Protokolle die „Deutung des Dichters“ als „Einlegung von Intention“ definieren, da der „extreme Stoff‑ charakter“ eine „Bedeutungsverleihung“ fordere, 270 so ist philosophische Deu‑ tung auf die objektiven, nicht bloß subjektiv eingelegten Bedeutungen verwie‑ sen. Die Assoziation des Verfalls, der die Bruchstücke schlägt, mit den objektiven Bedeutungen, die von denselben getragen werden, ist keine bloß äußerliche; 263 Adorno:

Negative Dialektik, S.  353. Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Gesammelte Schriften Bd. I.1, S.  203–430, Frankfurt a. M. 1991, hier S.  355. 265  Vgl. Ebd., S.  326 ff. 266  Ebd., S.  318. 267  Vgl. „Adornos Seminar vom Sommersemester 1932 über Benjamins Ursprung des deut‑ schen Trauerspiels. Protokolle“, in: Theodor W. Adorno Archiv (Hg.): Frankfurter Adorno Blätter 5, München 1995, S.  52–77, hier S.  53 f. 268  Ebd., S.  55. 269 Adorno: Negative Dialektik, S.  353. 270 „Adornos Seminar vom Sommersemester 1932 über Benjamins Ursprung des deut‑ schen Trauerspiels. Protokolle“, S.  56. 264  Benjamin,

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bedeutsam sind die Bruchstücke gerade durch den Verfall. Bei Benjamin ist das der Kern „der barocken, weltlichen Exposition der Geschichte als Leidensge‑ schichte der Welt; bedeutend ist sie nur in den Stationen ihres Verfalls“.271 Ador‑ no greift diesen Zusammenhang in der Negativen Dialektik bloß implizit auf, wenn er folgende Stelle bei Benjamin zitiert: Wenn mit dem Trauerspiel die Geschichte in den Schauplatz hineinwandert, so tut sie es als Schrift. Auf dem Antlitz der Natur steht ‚Geschichte‘ in der Zeichenschrift der Ver‑ gängnis. Die allegorische Physiognomie der Natur-Geschichte, die auf der Bühne durch das Trauerspiel gestellt wird, ist wirklich gegenwärtig als Ruine. 272

Adorno kommentiert dieses kryptische Zitat bloß mit dem lapidaren Satz: „Das ist die Transmutation von Metaphysik in Geschichte.“273 Legen wir, wie es na‑ heliegend scheint, die Begriffsbestimmungen Adornos bei der Interpretation des Zitats zugrunde, so steht auf dem Antlitz der Natur, also auf dem Antlitz des Ungewordenen und Ewigen die Geschichte in der Zeichenschrift der Vergängnis. Eine Stelle aus dem Aufsatz „Über Statik und Dynamik als soziologi‑ sche Kategorien“ mag den Begriff der Vergängnis erklären: „An der ‚Vorge‑ schichte‘ ist ewig die Vergängnis ihrer eigenen Formen und Gebilde, weil diese, in blinder Naturwüchsigkeit, naturverfallen bleiben.“274 Ewig ist die Naturoder Vorgeschichte mithin nur in der ständigen Vergängnis ihrer Formen; so ist sie immer bereits auch mit Vergängnis geschlagen. Und an dieser Vergängnis lässt sich Naturgeschichte als zeitliche erkennen. Die von Adorno anvisierte Deutung erkennt am vermeintlich Ungewordenen und Ewigen die Zeichen des geschichtlichen Verfalls. Damit verwandelt sich das Ungewordene in ein Zeitli‑ ches. Diese Verwandlung meint Adorno mit der Transmutation von Metaphysik in Geschichte: „Sie säkularisiert Metaphysik in der säkularen Kategorie schlechthin, der des Verfalls.“275 Die Rolle des Verfalls ist doppeldeutig, wie auch die Natur-Geschichte in zwei Richtungen weist. Wird das Ewige vergäng‑ lich, dann ist umgekehrt das Vergängliche der einzige Ort, sich des Ewigen zu versichern: „Kein Eingedenken an Transzendenz ist mehr möglich als kraft der Vergängnis; Ewigkeit erscheint nicht als solche sondern gebrochen durchs Ver‑ gänglichste hindurch.“276 In der Kategorie der Vergängnis liegt für Adorno mit‑ hin zweierlei: die Geschichtlichkeit der Metaphysik, sowie die Relevanz des Innerzeitlichen für die Metaphysik. Metaphysik ist nach der Transmutation keine Lehre vom Ewigen mehr, son‑ dern ihre Inhalte sind von der geschichtlichen Wirklichkeit abhängig, während gerade durch diese Abhängigkeit die geschichtliche Wirklichkeit für die Be‑ 271 Benjamin:

Ursprung des deutschen Trauerspiels, S.  343. Ebd., S.  353. 273 Adorno: Negative Dialektik, S.  353. 274  Adorno: „Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien“, S.  232 f. 275 Adorno: Negative Dialektik, S.  353. 276 Ebd. 272 

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handlung der metaphysischen Fragen Bedeutsamkeit erlangt; nämlich für „die Transzendenz, die einzig von Erfahrungen in der Immanenz gespeist wird“, wie Adorno in den „Meditationen zur Metaphysik“ sagt.277 In Vergängnis wer‑ den Natur und Geschichte kommensurabel vermöge der Deutung, die eines im anderen liest. Das Junktim von Zeitlichem und Ewigem stellt somit die Bedeu‑ tung dar, wie Adorno im Vortrag von 1932 noch explizit macht: „Der Terminus ‚Bedeutung‘ heißt, daß die Momente Natur und Geschichte nicht ineinander aufgehen, sondern daß sie zugleich auseinanderbrechen und sich so verschrän‑ ken, daß das Natürliche auftritt als Zeichen für Geschichte und Geschichte, wo sie sich am geschichtlichsten gibt, als Zeichen für Natur.“278 Es stellt sich an dieser Stelle bereits die Frage, die zum zentralen Problem von Adornos Solida‑ rität mit der Metaphysik wird. Sie betrifft das genaue Verhältnis von Natur und Geschichte, Ewigem und Zeitlichem: Während Adorno die starre Dichotomie ebenso wie die Aufhebung derselben zurückweist, bleibt seine geforderte Ver‑ flüssigung der Dichotomie notorisch unterbestimmt. Es wird sich zeigen, dass das Verhältnis von Ewigem und Zeitlichem von Adorno nicht durch einen Re‑ kurs auf den Vermittlungsgedanken gelöst werden kann. Deshalb kehrt an der Stelle, wo die Dialektik sich gegen sich selbst wenden muss, das Konzept der Deutung wieder. Die Bedeutung wird zwar schon im Naturgeschichtsaufsatz als das Junktim von Ewigem und Zeitlichem etabliert, aber erst in der Negativen Dialektik knüpfen sich daran metaphysische Intentionen. Indem er die Deu‑ tung zum Königsweg zur Metaphysik erklärt, stellt bereits der Übergang vom Geschichts- zum Metaphysikmodell vor die zentrale Frage des Metaphysikmo‑ dells: der Frage nach dem Verhältnis von Dialektik und Metaphysik. b.  Die Konvergenz von Materialismus und Metaphysik An diesem Punkt stellt die Frage nach der Konvergenz von Materialismus und Metaphysik vor keine großen Probleme. Nicht nur deutet der Zusammenhang von materialistischer und maßloser Utopie auf diese Konvergenz hin; auch der Gedanke, dass Metaphysik nur im Verfall und im Vergänglichen überlebt, bringt sie notwendig in die Nähe zum Materialistischen. Schließlich ist mit der Verflüssigung der Differenz zwischen Zeitlichem und Ewigem auch zu einem gewissen Grade die Differenz zwischen der Materie und dem Geist verflüssigt. Dennoch ist es geboten, die Dimensionen dieser Konvergenz anzugeben, die sich vor allem aus den Dimensionen des adornoschen Materialismusbegriffs er‑ geben: Er tritt erkenntnistheoretisch, normativ (somatisch) und gesellschafts‑ theoretisch in dieser Konvergenz auf. Der Metaphysikbegriff erfährt seinerseits mit der Transmutation in Geschichte eine Reduktion, die nicht bloß seine Kon‑ 277 

278 

Ebd., S.  390. Adorno: „Die Idee der Naturgeschichte“, S.  360.

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vergenz mit dem Materialismus beeinflusst, sondern auch ein Licht auf das im ersten Kapitel angesprochene Programm einer postmetaphysischen Rettung der Metaphysik wirft. Dort wurde gezeigt, dass die Metaphysik bei Adorno keine tragende Funkti‑ on erfüllt; die negative Dialektik ist ein nachmetaphysisches Denken, insofern sie die von Habermas angeführten drei Aspekte metaphysischen Denkens nicht aufweist: „[D]as Einheitsmotiv der Ursprungsphilosophie, [. . .] die Gleichset‑ zung von Sein und Denken und [. . .] die Heilsbedeutung der theoretischen Le‑ bensführung.“279 Als in diesem Sinne nachmetaphysisches Denken, das trotz‑ dem Solidarität mit der Metaphysik bekundet, kann die negative Dialektik of‑ fenkundig nicht am tradierten Begriff der Metaphysik festhalten. Kündigen muss sie zum einen den Anspruch auf den Bereich, den die Schulmetaphysik als metaphysica generalis bezeichnete; zum anderen kann sie in der Behandlung metaphysischer Gehalte nicht mehr auf die Macht des reinen Denkens vertrau‑ en. Was von der Metaphysik bleibt, sind bloß die ursprünglich theologischen Inhalte: Unsterblichkeit und Gott, die, wie Axel Hutter argumentiert, „am Leitfaden der Freiheit“ verhandelt werden.280 Die Idee der Freiheit ist für Ador‑ no deshalb von metaphysischer Bedeutung, weil die Theologie die Ideen von Unsterblichkeit und Gott bloß dogmatisch postuliert: Metaphysik ist gegenüber der Theologie nicht bloß, wie nach positivistischer Doktrin, ein historisch späteres Stadium, nicht nur die Säkularisation der Theologie in den Be‑ griff. Sie bewahrt Theologie auf in der Kritik an ihr, indem sie den Menschen als Mög‑ lichkeit freilegt, was die Theologie ihnen aufzwingt und damit schändet. Den Kosmos des Geistes sprengten die Kräfte, die er band; ihm widerfuhr sein Recht. Der autonome Beethoven ist metaphysischer als Bachs ordo; deshalb wahrer. Subjektiv befreite und metaphysische Erfahrung konvergieren in Humanität. 281

Die Theologie im Singular dient Adorno hier als Gegenentwurf zur von ihm anvisierten Metaphysik, die nur im Verbund mit der Freiheit des Gedankens, mithin einer autonomen Vernunft möglich ist. Deshalb wird Kant, wie Hutter gesehen hat, zum Hauptbezugspunkt für Adornos Metaphysikkonzept: „Kant ist deshalb für Adorno der Metaphysiker par excellence, da er die Freiheit mit Gott und Unsterblichkeit zur in sich gespannten Trias der Vernunftideen zu‑ sammennimmt.“282 Für den Metaphysikbegriff Adornos bedeutet das: Meta‑ physik bezieht sich bloß auf die Ideen von Freiheit, Unsterblichkeit, Wahrheit und auf die Idee des Absoluten. Solidarität mit der Metaphysik heißt in diesem

279 

Habermas: „Motive nachmetaphysischen Denkens“, S.  36. Hutter, Axel: „Adornos Meditationen zur Metaphysik“, in: Wenzel, Uwe Justus (Hg.): Vom Ersten und Letzten. Positionen der Metaphysik in der Gegenwartsphilosophie, Frankfurt a. M. 1998, S.  229–257, hier S.  235. 281 Adorno: Negative Dialektik, S.  389. 282  Hutter: „Adornos Meditationen zur Metaphysik“, S.  300. 280 

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

Sinne: Solidarität mit dem Impuls, der sie beseelte, mit den Inhalten, die sie – auch bei Kant noch – zu retten versuchte. Die Konvergenz dieses reduzierten Metaphysikbegriffs mit Adornos Materi‑ alismus dürfte nun nicht mehr paradox erscheinen, sondern lässt sich als Ver‑ such verstehen, die Metaphysik sowohl dem Zugriff positivistischer Kritik als auch dem ihrer restaurativen Verteidiger zu entziehen. Letztere kompromittie‑ ren die Metaphysik, indem sie unbekümmert um die geschichtliche Erfahrung am affirmativen Zug der Metaphysik festhalten. Darunter versteht Adorno die Tendenz der Metaphysik, dem Seienden einen Sinn zuzusprechen, indem sie behauptet, dass „das Sein von sich aus sich teleologisch hinordnet auf die Gött‑ lichkeit hin“.283 In diesem Verlauf bagatellisiert die Metaphysik das Leiden der Menschen, indem sie es auf höherer Ebene als sinnvoll verklärt. Mit dem ge‑ schichtlich anwachsenden Leiden wird dieser affirmative Zug immer problema‑ tischer, bis er schließlich mit dem Zivilisationsbruch von Auschwitz unhaltbar wird. Deshalb beginnt Adorno die Meditationen zur Metaphysik mit einer Re‑ flexion auf die Bedeutung von Auschwitz für die Metaphysik: Das Erdbeben von Lissabon reichte hin, Voltaire von der Leibniz’schen Theodizee zu kurieren, und die überschaubare Katastrophe der ersten Natur war unbeträchtlich, ver‑ glichen mit der zweiten, gesellschaftlichen, die der menschlichen Imagination sich ent‑ zieht, indem sie die reale Hölle aus dem menschlich Bösen bereitete. Gelähmt ist die Fähigkeit zur Metaphysik, weil, was geschah, dem spekulativen metaphysischen Gedan‑ ken die Basis seiner Vereinbarkeit mit der Erfahrung zerschlug. 284

Die erste Meditation entfaltet in eindringlichen Wendungen den Zäsurcharak‑ ter von Auschwitz. Mit Auschwitz hat ein Umschlag stattgefunden: „Noch ein‑ mal triumphiert, unsäglich, das dialektische Motiv des Umschlags von Quanti‑ tät in Qualität. Mit dem Mord an Millionen durch Verwaltung ist der Tod zu etwas geworden, was so noch nie zu fürchten war.“285 Die „Relevanz des Inner‑ weltlichen, Geschichtlichen“286 für die Metaphysik zeigt sich zunächst negativ: in der Inkompatibilität des organisierten Massenmordes mit der traditionellen Form der Metaphysik. Metaphysik verändert sich – wie Espen Hammer argu‑ mentiert – von einem apriorischen Unterfangen zu einer Theorie, die sich der Erfahrung stellen muss.287 Diese negative Dimension der Relevanz des Inner‑ zeitlichen nötigt die Metaphysik schließlich zum Übergang in den Materialis‑ mus. Adorno erklärt diesen Übergang an der Gegenüberstellung von Spekulati‑ on und common sense: 283 Adorno:

Metaphysik, S.  161. Negative Dialektik, S.  354. 285  Ebd., S.  354 f. Vgl. dazu auch den Aphorismus „Halblang“ in: ders.: Minima Moralia, S.  266 ff. 286 Adorno: Negative Dialektik, S.  354. 287  Hammer, Espen: „Metaphysics“, in: Cook, Deborah (Hg.): Theodor Adorno. Key Concepts, Stocksfield 2006, S.  63–75, hier S.  66. 284 Adorno:

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[D]ie oberflächlichsten und trivialsten Anschauungen vermöchten, wäre das Wesen ein‑ mal entschleiert, recht zu behalten gegen jene, welche auf das Wesen zielen. Damit fällt ein greller Strahl auf Wahrheit selbst. Spekulation spürt eine gewisse Pflicht, ihrem Geg‑ ner, dem common sense, die Position des Korrektivs einzuräumen. [. . .] Das triviale Be‑ wußtsein, wie es theoretisch im Positivismus und unreflektierten Nominalismus sich ausspricht, mag der adaequatio rei atque cogitationis näher sein als das sublime, in frat‑ zenhaftem Hohn auf die Wahrheit wahrer als das überlegene, außer wenn ein anderer Begriff von Wahrheit gelingen sollte als der von adaequatio. Solcher anderen Wahrheit gilt die Innervation, Metaphysik möchte gewinnen allein, wenn sie sich wegwirft. Sie nicht zuletzt motiviert den Übergang in Materialismus. 288

Den Schlüssel zu dieser äußerst anspruchsvollen Passage bildet die Unterschei‑ dung von zwei verschiedenen Wahrheitsbegriffen: dem traditionellen der adaequatio und einem metaphysischen Wahrheitsbegriff. Die Spekulation zielt zu‑ nächst auf den metaphysischen Wahrheitsbegriff, wird aber durch den Gang der Geschichte gezwungen, dem common sense, der Wahrheit als adaequatio ver‑ steht, insofern Recht zu geben, als das Innerweltliche vielleicht mehr über die metaphysische Wahrheit aussagt, als Aussagen, die direkt auf diese zielen. Die Wahrheit als adaequatio ist zwar ein fratzenhafter Hohn auf die Wahrheit, aber, solange kein anderer Begriff von Wahrheit, eben der metaphysische, gelingt, ist sie wahrer als die Wahrheit der Spekulation. Aber diese Wahrheit kann nur er‑ langt werden, Metaphysik nur gewinnen, wenn die Metaphysik sich wegwirft, nicht generell, sondern als direkten Zugriff auf diese Wahrheit, als deren speku‑ lativ-affirmative Konstruktion. Metaphysik kann nur gelingen, wenn diese Wahrheit in den oberflächlichsten und trivialsten Anschauungen gesucht wird. In der Vorlesung führt Adorno den Gedanken des „Wirf weg, damit du ge‑ winnst“ näher aus: Also nicht dadurch, daß man irgendwelche sogenannten höheren Reservatssphären oder soll ich lieber sagen: Naturschutzparks, sich erhält, an die die Reflexion nicht rühren darf, sondern nur dadurch, daß man den Prozeß der Entmythologisierung oder der Auf‑ klärung bis zu einem Äußersten treibt, – nur darin ist, wenn überhaupt, eine Hoffnung dafür gelegen, daß er vermöge seiner Selbstreflexion nicht sich vollende. 289

Den Prozess der Aufklärung bis zum äußersten Treiben, bedeutet demnach, auf den spekulativ-affirmativen Wahrheitsbegriff zu verzichten und die Metaphy‑ sik im Innerweltlichen zu suchen; das aber ist zugleich eine Verpflichtung zum Materialismus. Die erste Meditation vollzieht den Übergang zum Materialismus noch nicht vollständig, weil sie erst die Notwendigkeit eines Übergangs ins Innerweltliche, noch nicht ins spezifisch Materialistische, darlegt. Erst der nächste Abschnitt, „Metaphysik und Kultur“, vollzieht die Drehung der metaphysischen Schraube ins Materialistische, insofern hier gezeigt wird, dass Metaphysik nur in den ma‑ 288 Adorno: 289 Adorno:

Negative Dialektik, S.  357. Metaphysik, S.  180.

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

teriellen Momenten des Innerweltlichen überlebt, und nicht etwa in dessen geis‑ tiger Gestalt: der Kultur. Auch hier ist der geschichtliche Prozess, der in Ausch‑ witz kulminierte, das, was den Übergang zum Materialismus motiviert: Der Gang der Geschichte nötigt das zum Materialismus, was traditionell sein unvermit‑ telter Gegensatz war, die Metaphysik. Was einmal der Geist als seinesgleichen zu be‑ stimmen oder zu konstruieren sich rühmte, bewegt auf das sich hin, was dem Geist nicht gleicht; was seiner Herrschaft sich entzieht und woran sie doch als absolut Böses offen‑ bar wird. Die somatische, sinnferne Schicht des Lebendigen ist Schauplatz des Leidens, das in den Lagern alles Beschwichtigende des Geistes und seiner Objektivation, der Kul‑ tur, ohne Trost verbrannte. Der Prozeß, durch den Metaphysik unaufhaltsam dorthin sich verzog, wogegen sie einmal konzipiert war, hat seinen Fluchtpunkt erreicht. 290

Kultur kann nicht mehr Stätte der Metaphysik sein, weil sie selbst unwahr ist. Ihre Unwahrheit liegt in ihrer prätendierten Unabhängigkeit vom materiellen Dasein und der damit einhergehenden Tendenz, sich über der materiellen Sphä‑ re zu platzieren. Diese Unwahrheit ist mit der Restauration der Kultur nach Auschwitz greifbar geworden: „Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringli‑ chen Kritik daran, ist Müll.“291 Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter auf die von Adorno in Folge entwickelte Antinomie der Kultur eingehen, sondern auf die Notwendigkeit der Wende zum Materialismus. Eine bedeutende Funktion der Kultur ist die der Bewältigung der somatischen, sinnfernen Schicht des Lebendigen, mithin der physischen Aspekte des Lebens. Das zeigt sich in der um‑ ständlichen kulturellen Regulierung natürlicher Bedürfnisse wie Nahrungsauf‑ nahme und Defäkation oder am Umgang mit der physischen Dimension des Sterbens. Nicht zuletzt sind solche Regulierungen Verdrängungsmaßnahmen: Unrat und Kadaver werden nicht bloß aus hygienischen Gründen beseitigt, son‑ dern auch weil sie an die Vergeblichkeit von Kultur gemahnen, wie Adorno in der Vorlesung über Philosophische Terminologie ausführt: Ich möchte noch einmal ausdrücklicher sagen, daß die Beziehung zum Leib im Materia‑ lismus wesentlich die Beziehung zum Tod ist, und zwar zu dem Tod als dem Niedrigen, Widerlichen und Naturverfallenen, dem wir alle bis heute unterworfen sind. Dessen Un‑ abdingbarkeit spiegelt sich gerade in den ungezählten Veranstaltungen der Zivilisation, den Tod zu verdrängen durch die Einrichtung von Krematorien, irgendwelchen Wald‑ friedhöfen und ähnlichen Institutionen, ihn auch, wenn möglich, noch in den Zusam‑ menhang der Gesellschaft hineinziehen. 292

Weil der physische Tod gleichsam das Verdrängte des Geistes ist, heftet sich für Adorno die Metaphysik gerade an diese von der Kultur nicht ganz erreichte Schicht: „[D]ie armselige physische Existenz zündet ins oberste Interesse.“293 Bedeutend ist diesem Zusammenhang die Differenz, die Adorno zwischen Ka‑ 290 Adorno:

Negative Dialektik, S.  358. Ebd., S.  359. 292 Adorno: Philosophische Terminologie 2, S.  180. 293 Adorno: Negative Dialektik, S.  359. 291 

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daver und Leichnam macht. Der Umgang der Kultur mit dem Tod schlägt sich in diesen Begriffen nieder. „Kadaver“ meint gewöhnlich das Tier, man könnte so‑ gar sagen: das Tier als Sache und nicht als beseeltes Wesen, während der „Leich‑ nam“ dem Menschen vorbehalten ist, der als beseeltes Wesen mehr als bloß Ma‑ terie sein soll. Kultur kann in diesem Sinne als ihrer selbst unbewusste affirma‑ tive Metaphysik verstanden werden, die durch ihre Integration der Physis den Zugang zum eigentlich Metaphysischen versperrt. Bereits im 148. Aphorismus („Abdeckerei“) der Minima Moralia hat Adorno die ideologische Funktion der metaphysischen Kategorien konstatiert: „Die metaphysischen Kategorien sind nicht bloß die verdeckende Ideologie des gesellschaftlichen Systems, sondern drücken jeweils zugleich dessen Wesen aus, die Wahrheit über es, und in ihren Veränderungen schlagen die der zentralsten Erfahrungen sich nieder.“294 Wenn aber die metaphysischen Kategorien einen verschleiernden Charakter haben, dann ist für Adorno das eigentlich Metaphysische gerade dort zu suchen, wo die metaphysischen Kategorien etwas verdrängen. Das führt er in der Negativen Dialektik am physischen Tod aus: „Theoretisch zu widerrufen wäre die Integra‑ tion des physischen Todes in die Kultur, doch nicht dem ontologisch reinen We‑ sen Tod zuliebe, sondern um dessentwillen, was der Gestank der Kadaver aus‑ drückt und worüber deren Transfiguration zum Leichnam betrügt.“295 Hatte Adorno beim Übergang zum Metaphysikmodell postuliert, Transzendenz sei nur noch im Vergänglichsten zu suchen, so zeigt sich dieses Vergänglichste hier als die absolute Hinfälligkeit der Kreatur, die bloß im Gestank der Kadaver ih‑ ren adäquaten Ausdruck findet. Es sind, wie Adorno in der Vorlesung ausführt, gerade die materialistischen Erfahrungen der absoluten Hinfälligkeit, die das metaphysische Fragen provozieren: „Ich denke an eine Erfahrung der eigenen Kindheit, einen Abdeckerwagen vorbeifahren zu sehen, auf dem eine Anzahl von toten Hunden liegt, und sich dann plötzlich fragen: Was ist das? Was wissen wir eigentlich? Sind wir das auch selber?“296 So besteht die metaphysische Be‑ deutung des Somatischen darin, dass es uns als das von der Integration in Kultur nicht Erfasste an die Endlichkeit und Rätselhaftigkeit unserer Existenz ge‑ mahnt, die wir in der Kultur unter großem Aufwand verdrängen. In den ersten beiden Meditationen bildet der Materialismus ein Refugium der Metaphysik, die nicht länger in einem von der Empirie geschiedenen Reich ge‑ sucht werden kann. In dieser ersten Dimension ist der Materialismus primär als somatischer Materialismus zu verstehen. Das Somatische ist der Ort, in den die Metaphysik vom geschichtlichen Prozess getrieben wurde. Die Relevanz des Innerzeitlichen, Geschichtlichen hat aber noch eine andere, eine positive Di‑ mension: Wenn die objektive Wahrheit der Metaphysik von der geschichtlichen 294 Adorno:

Minima Moralia, S.  264. Negative Dialektik, S.  359. 296 Adorno: Philosophische Terminologie 2, S.  181; vgl. eine ähnliche Stelle in: ders.: Metaphysik, S.  183 f. 295 Adorno:

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

Wirklichkeit beeinflusst wird, dann eröffnet das eine geschichtliche Perspekti‑ ve, in der eine andere Verfassung der Metaphysik denkbar ist. Diese geschichtliche Perspektive nimmt bei Adorno zwei zwar zusammen‑ hängende, aber dennoch unterscheidbare Dimensionen an: eine epistemologi‑ sche und eine gesellschaftstheoretische. Die epistemologische Dimension wird in der siebten Meditation, „Begierde des Rettens und Block“, entwickelt. Unter Block versteht Adorno die von Kant gezogenen Grenzen möglicher Erkenntnis. Er führt diesen Block auf den „Form-Inhalt-Dualismus“ der kantschen Er‑ kenntniskritik zurück,297 und kritisiert an dieser Konzeption, dass die starre Trennung von Form und Inhalt die Formen zu einem unveränderlichen Faktum macht. Weil die Formen bei Kant a priorische Formen sind, werden sie nicht von der Erfahrung affiziert: „Das menschliche Bewußtsein sei, wird anthropolo‑ gisch argumentiert, gleichsam zu ewiger Haft in den ihm nun einmal gegebenen Formen der Erkenntnis verurteilt.“298 Adorno greift in Folge, wenn auch an dieser Stelle bloß implizit, auf sein Vermittlungskonzept zurück, um die Aprio‑ rität der Formen als Schein zu erweisen. In der Kantvorlesung hat er den Zu‑ sammenhang des Vermittlungsgedankens mit dem Konzept des Blocks deutli‑ cher akzentuiert als in den dicht formulierten Meditationen: Und wenn Kant [. . .] nun die Schicht der ‚Transzendentalen Ästhetik‘ als eine Art von Grundschicht der intellektiven Schicht entgegengesetzt hat [. . .], dann hat er darin, wenn Sie so wollen, latent ein materialistisches Motiv ausgedrückt: nämlich eben das, daß die Vermitteltheit des Unmittelbaren doch in gewisser Weise etwas anderes, nicht dasselbe ist wie die Vermitteltheit der Formen durch die Unmittelbarkeit selber ihrerseits; wie die Vermitteltheit des Vermittelten. Dieses Moment also ist nun wohl im Tiefsten identisch mit dem Moment der Schwelle, dem Moment des Blocks, von dem ich Ihnen so oft ge‑ sprochen habe, daß es hier einen Vorrang gegenüber der Form gibt, der eigentlich gar nichts anderes besagt, als daß unsere Erkenntnis eben doch sich nicht in ihrer reinen Vermittlung, in ihrem reinen Formsein erschöpft, sondern daß sie gebunden bleibt an etwas, worauf sie sich bezieht. 299

Dass Adorno die Vermitteltheit der Form durch die Materie nicht bloß von he‑ gelscher Warte aus in Kant hineinliest, lässt sich an Kants Vorgehen in der „Transzendentalen Ästhetik“ ablesen, dem Kapitel, das die Weichen für die ganze Kritik der reinen Vernunft stellt. Als Grundoperation führt Kant an die‑ ser Stelle die Abstraktion an, durch die eine reine Sinnlichkeit gewonnen wer‑ den soll. In der transzendentalen Ästhetik also werden wir zuerst die Sinnlichkeit isolieren, da‑ durch, daß wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt, da‑ mit nichts als empirische Anschauung übrig bleibe. Zweitens werden wir von dieser noch alles, was zur Empfindung gehört, abtrennen, damit nichts als reine Anschauung und die 297 Adorno:

Negative Dialektik, S.  378.

299 Adorno:

Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  353.

298 Ebd.

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bloße Form der Erscheinungen übrig bleibe, welches das einzige ist, das die Sinnlichkeit a priori liefern kann.300

Die durch Abstraktion gewonnen reinen Formen der Sinnlichkeit sind, als Ab‑ straktionen von der in der empirischen Anschauung enthaltenen Empfindun‑ gen, bereits durch die Materie, die diese Empfindungen ausmacht, bestimmt. Dieses latent materialistische Motiv in der Vermittlung von Form und Inhalt wird von Adorno nun geschichtsphilosophisch gewendet: „Aber die Formen sind nicht jenes Letzte, als das Kant sie beschrieb. Vermöge der Reziprozität zwischen ihnen und dem seienden Inhalt entwickeln sie sich auch ihrerseits.“301 Die Entwicklung eröffnet die Perspektive, dass der Block einmal zergehe, da die Formen nicht für jede zukünftige Erkenntnis als verbindlich angesehen werden können. Diese Perspektive darf nicht überbewertet werden. Es geht nicht um die ver‑ bürgte Möglichkeit eines zukünftigen Wissens vom Absoluten, sondern bloß um ein Negatives: um die Kritik an der Ungeschichtlichkeit des Blocks. Gemes‑ sen an diesem bescheidenen Anspruch scheint mir Wellmers Kritik nicht plau‑ sibel, Adorno würde an diesem Punkt „Kant nicht kritisch über- sondern vor‑ kritisch unterbiete[n]“.302 Wellmer geht in seiner Kritik gerade von der Annah‑ me aus, der Hinweis auf die Geschichtlichkeit unser Erkenntnisformen soll den Schluss erlauben, das Absolute könne geschichtliche Wirklichkeit werden. Des‑ halb betont er gegen Adorno: „Wir können nämlich schon jetzt wissen, daß wir das, was wir als Wirkliches nicht einmal konsistent denken können, auch nicht als Wirkliches antizipieren können.“303 Die Kritik redet an Adorno vorbei, weil es diesem nicht um die Antizipation eines Wirklichen geht, das wir jetzt nicht als Wirkliches konsistent denken können; vielmehr geht es um die Kritik an der Vorstellung, dass wir jetzt schon bestimmen können, welche Erkenntnisse bis in alle Ewigkeit hinein möglich sein werden und welche nicht. Adornos Kritik richtet sich gegen die Abdichtung der kantschen Erkenntnistheorie gegen le‑ bendige Erfahrung, die sich nicht in den vorgegebenen Erkenntnisformen er‑ schöpft: Daß er [Kants Ansatz, d. Verf.] aber der lebendigen Erfahrung, die Erkenntnis ist, so wenig gerecht wird, indiziert seine Falschheit, das Unvermögen, zu leisten, was er sich vorsetzt, nämlich Erfahrung zu begründen. Denn eine solche Begründung in einem Starren und Invarianten widerstreitet dem, was Erfahrung von sich selbst weiß, die ja, je offener sie ist und je mehr sie sich aktualisiert, immer auch ihre eigenen Formen verän‑ dert. Die Unfähigkeit dazu ist Unfähigkeit zur Erfahrung selber.304

300 Kant:

Kritik der reinen Vernunft, A 22/B 36. Negative Dialektik, S.  378 f. 302  Wellmer: „Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“, S.  211. 303  Ebd., S.  212. 304 Adorno: Negative Dialektik, S.  380. 301 Adorno:

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

Die Kritik Adornos hat insofern ihre positive Kehrseite, als sie in einer ge‑ schichtsphilosophischen Perspektive die Möglichkeit von Erkenntnissen offen hält, die heute noch jenseits des Blocks liegen. Adorno ersetzt die epistemologi‑ sche Frage Kants durch eine geschichtsphilosophische: „Anstelle der Kanti‑ schen erkenntnistheoretischen Frage, wie Metaphysik möglich sei, tritt die ge‑ schichtsphilosophische, ob metaphysische Erfahrung überhaupt noch möglich ist.“305 Wellmer kritisiert diese geschichtsphilosophische Transformation der erkenntnistheoretischen Sphäre als ungedeckte Spekulation Adornos: „Für ei‑ nen kurzen Augenblick läßt er [. . .] alle dialektische Vorsicht fahren und ergibt sich ungeschützt der Spekulation.“306 Da sich aber die geschichtsphilosophische Spekulation einer möglichen Erweiterung der Grenzen unserer Erkenntnisfä‑ higkeit aus dem Nachweis einer Differenz in der Vermittlung von Form und Inhalt speist, kann an dieser Stelle weder von einem Abbruch der Dialektik noch von ungeschützter Spekulation die Rede sein; die geschichtsphilosophi‑ sche Spekulation einer möglichen Veränderung des Blocks verdankt sich einer grundlegenden Operation negativer Dialektik und tritt nicht aus deren Kreis hinaus. Die in einer epistemologischen Dimension stattfindende Konvergenz von Materialismus und Metaphysik, die in einer geschichtsphilosophischen Pers‑ pektive die Möglichkeit von metaphysischer Erfahrung offen hält, erfährt noch in derselben Meditation eine gesellschaftstheoretische Wendung, in der das Mo‑ ment des historischen Materialismus in der Konvergenz von Materialismus und Metaphysik in den Vordergrund rückt. Adorno rekurriert dabei auf die von Lukács geäußerte Kritik an der „naive[n] und dogmatische[n] Gleichstellung von formell-mathematischer, rationaler Erkenntnis einerseits mit Erkenntnis überhaupt, andererseits mit ‚unserer‘ Erkenntnis“; 307 in dieser Linie wirft er Kant vor: „Kant [. . .] setzt Newtonsche Wissenschaft ihrer subjektiven Seite nach gleich mit Erkenntnis, nach der objektiven mit Wahrheit.“308 Insofern aber die moderne Naturwissenschaft ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft ist, so Adornos Hintergedanke, ist auch Kants Erkenntnistheorie, die an der Na‑ turwissenschaft orientiert ist, noch ein Produkt derselben. Wiederum ist diese Argumentation dahingehend zu relativieren, dass der apodiktische Duktus über die Vorbehalte täuscht, unter denen Adorno sie vorbringt. Er depotenziert das Argument in Folge zu einem gegründeten Verdacht: „Gegründet ist der ge‑ sellschaftliche Verdacht, jener Block, die Schranke vorm Absoluten, sei eins mit der Not von Arbeit, welche die Menschen real im gleichen Bann hält, den Kant zur Philosophie verklärte.“309 Damit ist die Möglichkeit der geschichtlichen 305 

Ebd., S.  364 f. Wellmer: „Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“, S.  210. 307 Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, S.  212. 308 Adorno: Negative Dialektik, S.  379. 309  Ebd., S.  381. 306 

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Spekulation eröffnet, dass mit der Abschaffung der Not von Arbeit auch der Block abgeschafft würde. Die Möglichkeit metaphysischer Erfahrung hängt hier von einem Wechsel der Produktionsbedingungen ab. Diese Konvergenz von historischem Materialismus und Metaphysik greift Adorno in der neunten Meditation wieder auf, wenn er die Möglichkeit der metaphysischen Erfahrung an der von der Gesellschaft gewährten Freiheit der Individuen festmacht: Die Tradition schleppt einen Paralogismus mit. Die Geschlossenheit von Kulturen, die kollektive Verbindlichkeit metaphysischer Anschauungen, ihre Macht übers Leben, ga‑ rantiert nicht ihre Wahrheit. Eher ist die Möglichkeit metaphysischer Erfahrung ver‑ schwistert der von der Freiheit, und ihrer ist erst das entfaltete Subjekt fähig, das die als heilsam angepriesenen Bindungen zerrissen hat.310

Ist Freiheit aber Bedingung für metaphysische Erfahrung, so eröffnet sich die geschichtliche Perspektive einer offenen Gesellschaft, das heißt einer Gesell‑ schaft, in der die Menschen ihren metaphysischen Interessen in Freiheit nachge‑ hen können. Diesen Gedanken der Freiheit bezieht Adorno nicht nur auf die Unabhängigkeit von vorgefertigten Weltbildern, sondern auch auf die Freiheit von materiellem Mangel: „Die metaphysischen Interessen der Menschen be‑ dürften der ungeschmälerten Wahrnehmung ihrer materiellen.“311 An dieser Stelle verbinden sich die historische und die somatische Dimension von Ador‑ nos Materialismus und treten mit der geschichtsphilosophischen Perspektive zu dem zusammen, was man die positive Gestalt der Metaphysik bei Adorno nen‑ nen könnte: „Metaphysische Spekulation vereint sich der geschichtsphilosophi‑ schen: sie traut die Möglichkeit eines richtigen Bewußtseins auch von jenen letz‑ ten Dingen erst einer Zukunft ohne Lebensnot zu.“312 Was Adorno von der Metaphysik positiv rettet ist diese spekulative Figur. Was affirmiert wird, ist einzig die nicht schlechthin zu leugnende Möglichkeit, dass in einer radikal an‑ deren Gesellschaftsform ein anderes Verhältnis zur den metaphysischen Fragen möglich ist. So verstanden muss sich die Konvergenz von Materialismus und Metaphysik in geschichtsphilosophischer Perspektive nicht den Vorwurf gefallen lassen, vorkritisch hinter Kant zurückzufallen oder inkompatible Konzepte zusam‑ menfügen zu wollen. Dieser Eindruck mag entstehen, wenn man bei einem oberflächlichen Verständnis der Begriffe „Metaphysik“ und „Materialismus“ stehenbleibt und die Begriffe nicht in der geschichtlichen Bewegung denkt, aus der Adorno die Notwendigkeit ihrer Konvergenz ableitet. „Geschichte“ ist als dritter Begriff in dieser Konvergenz immer im Hintergrund, nicht bloß, weil es die geschichtliche Bewegung ist, die Metaphysik zum Materialismus treibt, son‑ dern weil diese Bewegung durch ihre wesentliche Offenheit auch die Möglich‑ 310 

Ebd., S.  389. Ebd., S.  391. 312  Ebd., S.  390. 311 

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

keit einer Rettung der Metaphysik offenhält, wenn diese auch bloß als ein richtiges Bewusstsein von den metaphysischen Dingen vorgestellt wird, nicht mehr als objektive Wissenschaft. Die geschichtsphilosophische Ausrichtung ist der Metaphysik Adornos we‑ sentlich. So lässt sich die Gestalt der Metaphysik bloß aus ihrer geschichtlichen Transformation im Zuge der wirklichen Geschichte verstehen. Ihr Sturz ist ein geschichtliches Ereignis im doppelten Sinne: ein Ereignis in der Philosophieund Geistesgeschichte und eine Folge der realen Geschichte, der Geschichte der Produktionsverhältnisse und der Haupt- und Staatsaktionen gleichermaßen. Darüber hinaus ist Metaphysik auch in ihrem Sturz noch geschichtlich gedacht, so dass der Sturz nicht endgültig sein muss; in der Möglichkeit einer anderen Geschichte ist auch die Möglichkeit der Metaphysik mitgedacht. So versucht Adorno mit der Konzeption der Naturgeschichte nicht bloß, die Wahrheit des hegelschen Weltgeistes zusammen mit dem Potential zur Aufhebung seiner Un‑ wahrheit aufzubewahren; Naturgeschichte ist auch in der Transmutation von Metaphysik in Geschichte noch dem hegelschen Motiv einer geschichtlich kon‑ stituierten Vernunft verpflichtet. Deren Bedeutung darf aber nicht darüber hin‑ wegtäuschen, dass die geschichtsphilosophische Rettung der Möglichkeit der Metaphysik einen kleinen, beinahe marginalen Raum in den Meditationen ein‑ nimmt; der weitaus größte Teil geht vom gegenwärtigen Stand der Metaphysik aus: ihrem Sturz. Solidarisch ist Adornos Denken mit der Metaphysik nicht bloß, indem es die Möglichkeit der Metaphysik für die Zukunft offen hält; die Solidarität mit der Metaphysik meint Solidarität im Augenblick ihres Sturzes.

3. Metaphysik Die Bedeutung, die Adorno dem Metaphysikmodell beimisst, steht in einem eigentümlichen Missverhältnis zur Aufmerksamkeit, welche die Sekundärlite‑ ratur diesen „Meditationen zur Metaphysik“ entgegengebracht hat. Das mag auch an der Begrifflichkeit liegen: Suggeriert bereits der Terminus „Modell“ ein Unverbindliches, so wird das mit der Bezeichnung „Meditationen“ noch gestei‑ gert; das dritte Modell erscheint als Anhang, in dem nicht mehr streng gedacht wird, sondern meditiert. Die mit der kommunikativen Wende einhergehende Fokussierung auf nachmetaphysisches Denken, die Prävalenz erlösungsphilo‑ sophischer Interpretationen, die in den Meditationen Flucht und Eingeständnis des Scheiterns zugleich sahen, taten ihr Übriges, um dieses Modell in der Rezep‑ tion zu marginalisieren. Ich möchte dagegen nicht nur an Adornos eigene Inten‑ tion anknüpfen, nach der die Metaphysik das eigentliche Ziel der Negativen Dialektik darstellt, sondern auch zeigen, dass das Kapitel zur Metaphysik ein integraler Bestandteil des Denkens ist, das Adorno als negative Dialektik be‑ zeichnet. Der Titel des dritten Modells wäre dann in einer Linie mit Descartes’

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3. Metaphysik

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Meditationes de prima philosophia und Husserls Cartesianischen Meditationen zu lesen: als grundlegender Text für Adornos gesamtes Projekt. Zu bedenken ist, dass Metaphysik nicht nur Objekt der Dialektik ist, sondern zu ihrer Struktur wesenhaft dazugehört. Darauf zielt die letzte Meditation: „Selbstreflexion der Dialektik“ bereits in ihrem Titel ab, der – wie Hutter bemerkt – verspricht, „daß die Negative Dialektik mit ihr nicht einfach endet, sondern schließt“.313 Die Dialektik kann nicht umhin, sich über ihre Stellung zur Metaphysik Rechen‑ schaft abzulegen. Adorno deutet das an, wenn er in der letzten Meditation die Dialektik als das Denken definiert, das versucht, Endlichkeit und Unendlich‑ keit zu vermitteln: „Sie vermittelte, mag sie es wollen oder nicht, begrifflich zwischen dem unbedingten und dem endlichen Geist.“314 Ist die Dialektik das Denken, das versucht, über die Kategorien der endlichen Erkenntnis hinauszu‑ denken, und ist Metaphysik das Denken über sich selbst hinaus ins Offene, dann ist dialektisches Denken in seiner transzendierenden Bewegung notwendig me‑ taphysisch. Der Bezug zur Metaphysik ist der Dialektik nicht äußerlich und die Klärung dieses Bezugs gehört zu ihrem eigenen Begriff dazu. Die These, dass die Negative Dialektik immer noch einem linearen Darstel‑ lungsideal folgt, ist deshalb auch auf das letzte Modell auszuweiten. Tatsächlich zeigt sich bei näherer Betrachtung der zwölf Meditationen, dass der Gedanken‑ gang allen Digressionen zum Trotz unerbittlich an einem Faden fortläuft. Die Entfaltung des Begriffs der Metaphysik zeigt sich als anwachsende Entmytho‑ logisierung metaphysischer Gehalte bis zu dem Punkt, an dem die Aufklärung selbst zum Mythos wird und Metaphysik zu liquidieren droht – die Meditatio‑ nen zur Metaphysik sind mithin auch Protokoll ihres Sturzes. Adorno versucht nicht, diesem objektiven Prozess Vorschub zu leisten, sondern ihm zu widerste‑ hen, jedoch nicht, indem er ihn willkürlich abbricht, so als ob dies in der Verfü‑ gungsgewalt des Einzelnen läge, noch durch die Verklärung von kargen Residu‑ en zum unverlierbaren Kern der Metaphysik, sondern durch Selbstreflexion. Sagt er selbst an einer exponierten Stelle der Meditationen: „Nirgends sonst ist Wahrheit so fragil wie hier.“,315 so gilt diese Fragilität für das Ganze. An keiner anderen Stelle seines Werks wagt sich Adorno weiter vor als hier; vielleicht sind deswegen die Meditationen der beste Teil seines Werks. In den Meditationen erreicht das Konzept negativer Dialektik seinen Schei‑ telpunkt. Nicht nur verlangt der Begriff negativer Dialektik Klärung über das Verhältnis nur Metaphysik; auch die bisher entwickelten Probleme und zentra‑ len Gehalte negativer Dialektik – das Nichtidentische als Grenze der Dialektik; Erfahrung als die begriffliche Identifikation überschreitende Erkenntnisform; Leiden als Stachel der Philosophie – kehren in den Meditationen in zugespitzter 313 

Hutter: „Adornos Meditationen zur Metaphysik“, S.  251. Negative Dialektik, S.  397. 315  Ebd., S.  385. 314 Adorno:

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

Form wieder. Das gilt in besonderem Maße für den Versuch einer kritischen Selbstreflexion der Vernunft; hatten wir im zweiten Kapitel gesehen, dass Ador‑ nos erkenntnistheoretische Überlegungen sich auf weiten Strecken als Durchar‑ beiten des Prozesses zwischen Kant und Hegel abspielen, so erfährt auch dieser Prozess in den Meditationen eine Zuspitzung. Dass Kant über weite Teile des Modells in den Vordergrund rückt, hat seine Gründe in Kants herausragender Stellung in der Geschichte der Metaphysik. Wer nach Kant ernsthaft Metaphy‑ sik betreiben will, kann sich einer Auseinandersetzung mit seiner Kritik nur um den Preis unkräftiger Restauration entziehen – das abwertende Adjektiv „vor‑ kritisch“ belegt das. Kant fungiert aber nicht nur als Herausforderung, sondern auch als positives Leitbild, insofern er den destruktiven Impuls der Metaphysik‑ kritik mit einer Besinnung auf das unauslöschliche metaphysische Bedürfnis menschlicher Vernunft konterkariert.316 In dieser Doppelperspektive bleibt Kant für Adorno verbindlich; was Adorno kritisch gegen Kant vorbringt, ge‑ schieht nicht in restaurativer Intention, sondern soll die Metaphysik erneut vom metaphysischen Bedürfnis her reflektieren. Bereits die Vorrede der Negativen Dialektik zeigt die Stellung zu Kant an und benennt das in den Meditationen Intendierte: „[D]as letzte Kapitel umkreist tastend die metaphysischen Fragen, im Sinn einer Achsendrehung der Kopernikanischen Wendung durch kritische Selbstreflexion.“317 Eine kritische Selbstreflexion der Kopernikanischen Wende impliziert eine Selbstreflexion der kantischen Reflexion auf Grenzen und Mög‑ lichkeiten der Vernunft. Unter dem Leitmotiv der Selbstbegrenzung der Ver‑ nunft soll das Motiv der Achsendrehung im Mittelpunkt der folgenden Inter‑ pretation stehen. Zunächst möchte ich in einem ersten Schritt die Ausgangsposition klären und nach der Reichweite der Vernunft in Adornos Verständnis zu fragen. Als Leit‑ faden bietet sich die Stellung des von Habermas vertretenen nachmetaphysi‑ schen Denkens zur Metaphysik Adornos an. Anhand der Leitbegriffe „Glau‑ ben“ und „Wissen“ möchte ich versuchen, die Grundgedanken von Adornos Solidarität mit der Metaphysik zu klären (I). Anschließend kann in einem zwei‑ ten Schritt die Achsendrehung der kopernikanischen Wende behandelt werden. Hier setzt die Achsendrehung an, die in einer Reformulierung von Kants Be‑ griff des Intelligiblen resultiert (II). In einem letzten Schritt schließlich wird die Idee der Selbstreflexion der Dialektik in Bezug auf den Begriff des Absoluten erläutert.

316  Vgl. Angehrn, Emil: „Metaphysik“, in: Pieper, Annemarie (Hg.): Philosophische Disziplinen. Ein Handbuch, Leipzig 1998, S.  213–233, hier S.  223. 317 Adorno: Negative Dialektik, S.  10.

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I.  Die Reichweite der Vernunft Mit den Meditationen zur Metaphysik setzt sich Habermas in seiner Kritik an Adorno inhaltlich genauso wenig auseinander wie mit den anderen Teilen der Negativen Dialektik. Dennoch enthalten die späteren Schriften von Habermas, die das Verhältnis nachmetaphysischen Denkens zur Religion zum Thema ha‑ ben, implizite und explizite Wertungen über das Verhältnis von negativer Dia‑ lektik und Metaphysik. Eher nebensächlich sind dabei die pauschalen Abferti‑ gungen, etwa wenn die „Negative Dialektik“ zusammen mit Heidegger, Witt‑ genstein und Derrida als „Wendung ins Irrationale“ katalogisiert wird, 318 oder mit Foucault, Heidegger und Derrida „als ein Stück Literatur“ abgetan wird,319 wenn die Solidarität mit der Metaphysik zur Bereitschaft, „metaphysische An‑ nahmen“ oder „spekulative Rahmenerzählungen“ zu tolerieren, verdünnt wird.320 Bedeutsamer ist die implizite Kritik an Adornos Verhältnis zur Meta‑ physik, die sich aus Habermas eigener Position ergibt. Hutter hat darauf hinge‑ wiesen, dass die von Habermas proklamierte enthaltsame Koexistenz321 von nachmetaphysischem Denken und Religion „bei aller Weitherzigkeit“ einen Gegner in der Metaphysik Adornos finde, „die das Dogmatische der Religion säkularisieren will, ohne es dadurch in den neutralisierenden Diskurs der Wis‑ senschaften zu überführen“.322 In Anbetracht der Abschiebung Adornos ins Reich der Irrationalität erstaunt es nicht, dass dessen Metaphysik von Habermas gar nicht als Gegner wahrgenommen wird. Handgreiflich wird das, wenn Ha‑ bermas ein Zitat Adornos über den Säkularisierungsprozess für seine Zwecke uminterpretiert. Bei Adorno heißt es: „Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern.“323 Habermas meint, dieser Satz verlange „eine strikte Beachtung der Grenze zwischen den Diskursen des Glaubens und des Wissens“.324 Adornos Satz behauptet aber gerade die Unmöglichkeit einer enthaltsamen Koexistenz von Glauben und Wissen; die Einwanderung ins Pro‑ fane ist nichts anderes als die Auflösung des Glaubens durch die anwachsende Rationalisierung. Obwohl Habermas das Programm von Adornos Metaphysik, so wie Hutter es bestimmt, nicht wahrnimmt, erteilt er ihm eine klare Absage: „Die Vernunft kann den Kuchen der Religion nicht gleichzeitig verzehren und

318 

Habermas: „Motive nachmetaphysischen Denkens“, S.  45. Der philosophische Diskurs der Moderne, S.  390. 320  Habermas: „‚Ich selber bin ja ein Stück Natur‘ – Adorno über die Naturverflochtenheit der Vernunft. Überlegungen zum Verhältnis von Freiheit und Unverfügbarkeit“, S.  31. 321  Habermas: „Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen“, S.  185. 322  Hutter: „Adornos Meditationen zur Metaphysik“, S.  243. 323  Adorno: „Vernunft und Offenbarung“, GS 10.2, S.  608–616, hier S.  608. 324  Habermas, Jürgen: „Religion und nachmetaphysisches Denken. Eine Replik“, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin 2012, S.  120–182, hier S.  134. 319 Habermas:

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

behalten wollen.“325 Der Glaube an die „Komplementarität“ von Religion und nachmetaphysischem Denken bestimmt Habermas’ Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Glauben und Wissen bis heute.326 Der imaginierte Streit zwischen Adorno und Habermas ist einer um die Grenzen und Möglichkeiten der Vernunft. Worin beide übereinkommen, ist die Notwendigkeit einer Einschränkung der Vernunft. Es ist hier weder der Ort, um diesen Streit zu explizieren, noch ist es ergiebig, an der Position von Haber‑ mas eine Kritik im Geiste Adornos durchzuführen. Dennoch ist es, wie ich zeigen möchte, aus mehreren Gründen fruchtbar, die Argumentation von Ha‑ bermas als Kontrastfolie zu benutzen: Zunächst lässt sich anhand der Leitbe‑ griffe „Glauben“ und „Wissen“ die Differenz der Vernunftbegriffe von Haber‑ mas und Adorno skizzieren. Dabei zeigt sich eine empfindliche Schwächung des Vernunftbegriffs bei Habermas, bei Adorno dagegen ein emphatischer Ver‑ nunftbegriff, zu dem die Ausrichtung auf Metaphysik konstitutiv dazugehört (a). In einem zweiten Schritt zeigt sich am Verhältnis dieser Vernunftbegriffe zur Religion nicht nur, dass die kommunikative Vernunft hinter dem Erschlie‑ ßungspotential von Adornos Vernunftbegriff zurückbleibt, sondern es lässt sich daran auch ablesen, was die Solidarität mit der Metaphysik von der Vernunft erfordert (b). Vor diesem Hintergrund lässt sich in einem weiteren Schritt zum dritten Begriff neben Glauben und Wissen übergehen: dem der metaphysischen Erfahrung. Erfahrung stellt nicht eine Notlösung für die Aporetik eines Wis‑ sens vom Absoluten dar, sondern formuliert diejenige Stellung des Gedankens zur Objektivität, als die sich Metaphysik nach der Kopernikanischen Wende noch denken lässt (c). a.  Kommunikative oder emphatische Vernunft? Die Einsatzstelle für das Verhältnis von Glauben und Wissen ist bei Habermas wie bei Adorno das Denken Kants. Ihre jeweiligen Kritikansätze weisen von da aus in vollkommen verschiedene Richtungen. Der berühmten Formulierung Kants aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft kon‑ trastiert Adorno die „Antithese“ Hegels: 327 Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatism der Metaphysik, d.i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist.328

325 

Habermas: „Grenze zwischen Glauben und Wissen“, S.  236. Habermas: „Religion und nachmetaphysisches Denken. Eine Replik“, S.  126. 327  Vgl. Adorno: „Erfahrungsgehalt“, S.  307. 328 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XXX. 326 

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[D]as verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, welche dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muß sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse bringen.329

Die Gegenüberstellung formuliert eine Spannung, in der Kant und Hegel sich wechselseitig kritisieren: Hegels Erkenntnispathos ist gegen Kants Bescheiden‑ heit nicht die ganze Wahrheit; wahr ist sie gegen die regressive Einschränkung der Vernunft zugunsten des Glaubens; Recht hat Kants Bescheidenheit gegen‑ über Hegel, insofern sie die Hybris der Vernunft einschränkt. Kants Kritik der Vernunft ist so von einer merkwürdigen Doppeldeutigkeit geprägt. Einerseits ist die Einschränkung der Vernunft eine Notwendigkeit; anderseits ist diese de‑ potenzierte Vernunft, wie Adorno in einer Vorlesung ergänzt, „der Superstition gegenüber, also dem Aberglauben gegenüber, eigentlich gar keine Instanz mehr“.330 Indem sich die Vernunft aus gewissen Kampfplätzen zurückzieht, überlässt sie dieses Feld dem durch keine Grenzen gebundenen Aberglauben. Freilich ist dieses regressive Moment, wie auch Adorno selbst andeutet,331 größ‑ tenteils ein Werk der Rezeption; denn die Formulierung aus der Kritik der reinen Vernunft ist nicht Kants letztes Wort in dieser Sache. Den von ihm anvisierten Glauben bezeichnet Kant im Streit der Fakultäten als Religionsglauben, „der auf innern Gesetzen beruht, die sich aus jedes Men‑ schen eigener Vernunft entwickeln lassen“, und unterscheidet ihn vom Kirchenglauben, „der auf Statuten, d.i. auf Gesetzen beruht, die aus der Willkür eines andern ausfließen“.332 Indem dieser Kirchenglaube zum bloßen „Vehikel“ des Religionsglaubens degradiert wird, dessen Auslegung durch die Vernunft zu‑ gleich „eine Forderung der Vernunft“ ist,333 behauptet die Vernunft ihre Vor‑ machtstellung gegenüber dem Glauben, dem sie seine Grenzen vorschreibt. Adorno betont dieses Moment in einer Vorlesung: „[D]arin allein, daß die theo‑ logische Transzendenz von der Analyse der Vernunft abhängig gemacht wird, liegt in Wahrheit bereits das die Theologie qua Theologie auflösende Prinzip.“334 An diesem Punkt setzt Habermas an. Was Adorno an Kant zu Unrecht als regressiv erschien, eine Einschränkung der Vernunft zugunsten des Glaubens, versucht Habermas gegen Kants Religionsphilosophie einzuklagen. Er unter‑ scheidet in Kants Religionsphilosophie ein kritisches Motiv: „de[n] Kampf ge‑ 329  Hegel: „Konzept der Rede beim Antritt des philosophischen Lehramtes an der Univer‑ sität Berlin (Einleitung zur Enzyklopädie-Vorlesung) 22. Okt. 1818“, TWA 10, S.  399–417, hier S.  404. 330 Adorno: Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  117. 331 Adorno: Philosophische Terminologie 1, S.  111 f. 332  Kant, Immanuel: „Der Streit der Fakultäten“, in: ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, hg. von Wilhelm Weischedel, Werkausgabe, Bd. XI, Frankfurt a. M. 1977, S.  261–393, im Folgenden zitiert unter Angabe der Seitenzahl der ersten Ausgabe (A) von 1798, hier A 44. 333  Ebd., A 64. 334 Adorno: Probleme der Moralphilosophie, S.  151 f.

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

gen Priestertrug und Obskurantismus“, von einem konstruktiven, das im Ver‑ such bestehe, „zentrale Gehalte der Bibel in einen Vernunftglauben einzuholen“.335 Festhalten will Habermas bloß am konstruktiven Motiv, das kritische dagegen verabschieden. Mit dieser Absicht konstruiert er eine Aporie zwischen den beiden Motiven, die nicht bloß das konstruktive Motiv ermöglichen soll, sondern zugleich auch die Religion vom Gängelband der Vernunft befreit: „Der Versuch einer reflexiven Aneignung religiöser Gehalte liegt im Streit mit dem religionskritischen Ziel, über deren Wahrheit und Falschheit philosophisch zu richten.“336 Die Einschränkung der Vernunft ist an dieser Stelle doppeldeutig: Einerseits geschieht sie um willen der Vernunft selbst, die sich nur produktiv auf die Religion einlassen kann, wenn sie die Grenze gegen sie wahrt, und dies in doppelter Hinsicht: Weder darf sie unkritisch religiöse Gehalte in sich auf‑ nehmen, noch darf sie sich anmaßen, über Wahrheit und Unwahrheit der religi‑ ösen Gehalte zu richten. Andererseits hat die doppelte Begrenzung den Effekt, dass die Einschränkung der Vernunft dem Glauben, der nicht an Vernunft ge‑ kettet ist, Platz gewährt. Demgegenüber hat die profane, aber nichtdefaitistische Vernunft zu viel Respekt vor dem Glutkern, der sich an der Frage der Theodizee immer wieder entzündet, als dass sie der Religion zu nahe treten würde. Sie weiß, dass die Entweihung des Sakralen mit jenen Weltreligionen beginnt, die die Magie entzaubert, den Mythos überwunden, das Opfer sublimiert und das Geheimnis gelüftet haben. So kann sie von der Religion Abstand halten, ohne sich deren Perspektive zu verschließen.337

Diese „überraschende Konzilianz gegenüber der Religion“ ist, wie Hutter be‑ merkt, nur auf der Grundlage der Konzeption einer nachmetaphysischen Philosophie möglich,338 die Habermas im gleichnamigen Aufsatzband erläutert. Der große Aufsatz „Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen“ ver‑ sucht, gegen das metaphysische Einheitsdenken auf der einen Seite und den ra‑ dikalen Kontextualismus auf der anderen Seite „einen schwachen, aber nicht defaitistischen Begriff sprachlich verkörperter Vernunft plausibel zu machen“ und schließt mit der Frage „was den vom normativen Gehalt der Metaphysik ‚im Augenblick ihres Sturzes‘ (Adorno) noch übrigbleibt“.339 Nicht viel, lautet die Antwort, denn die Grundlage der kommunikativen Vernunft ist „nicht einmal für eine negative Metaphysik“ ausreichend.340 Die folgende Polemik gegen eine nicht näher bezeichnete negative Metaphysik ist unverkennbar gegen Adorno gemünzt: 335 

Habermas: „Grenze zwischen Glauben und Wissen“, S.  218. Ebd., S.  236. 337 Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a. M. 2001, S.  28 f. (= Glauben und Wissen) 338  Hutter: „Adornos Meditationen zur Metaphysik“, S.  243. 339  Habermas: „Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen“, S.  182. 340  Ebd., S.  185. 336 

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Demgegenüber kann sich die kommunikative Vernunft der bestimmten Negation der Sprache – diskursiv wie diese nun einmal ist – nicht entziehen; sie muß deshalb auf die paradoxen Aussagen der negativen Metaphysik verzichten: daß das Ganze das Unwahre ist, daß alles kontingent ist, daß es schlechthin keinen Trost gibt. Die kommunikative Vernunft inszeniert sich nicht in einer ästhetisch gewordenen Theorie als das farblose Negativ trostspendender Religionen. Weder verkündet sie die Trostlosigkeit der gottver‑ lassenen Welt, noch maßt sie sich selbst an irgend zu trösten. Sie verzichtet auch auf Ex‑ klusivität. Solange sie, im Medium begründender Rede für das, was Religion sagen kann, keine besseren Worte findet, wird sie sogar mit dieser, ohne sie zu stützen oder zu be‑ kämpfen, enthaltsam koexistieren.341

Die Stelle verdeutlicht nicht nur, dass die Verpflichtung auf nachmetaphysisches Denken die Philosophie von der Religion abhängig macht; vielmehr wird hier nochmals die Notwendigkeit der kommunikativen Wende inszeniert, indem die vermeintlichen Paradoxien Adornos erneut ans Licht gezerrt werden. Spezi‑ fisch auf Adorno bezogen wird abermals betont, was Habermas in einem ande‑ ren Aufsatz desselben Bandes für den gesamten philosophischen Diskurs der Moderne geltend macht: dass „wir zum nachmetaphysischen Denken keine Al‑ ternative“ haben.342 Habermas verweist zur Begründung dieser These auf Der philosophische Diskurs der Moderne. Inwiefern dieses Werk die Notwendigkeit des Übergangs zum kommunikativen Paradigma und den Anspruch, damit die Aporien der philosophischen Moderne gelöst zu haben,343 plausibel machen kann, muss hier offen bleiben; in Bezug auf Adorno ist die These nicht haltbar. Zum einen wird hier erneut vor Augen geführt, dass die angebliche Notwendig‑ keit der kommunikativen Wende ihre Plausibilität einzig der Reduktion Ador‑ nos auf vermeintliche Paradoxien und Klischees verdankt. Zum anderen zeigt sich auf dem Kampfplatz der Metaphysik eine Schwäche der kommunikativen Wende, die offen legt, dass Habermas mit seinem Anspruch, die philosophi‑ schen Gehalte Adornos in der Wende aufgehoben zu haben, gescheitert ist. Adornos differenzierter Umgang mit dem idealistischen Erbe einer autonomen Vernunft ist der kommunikativen Verflüssigung der Vernunft überlegen: Das zeigt sich nicht allein in der Reaktion auf den Anspruch des idealistischen Ver‑ nunftbegriffs, sondern auch im ungleich höheren Potential Adornos, die Prob‑ leme einer Metaphysik unter gegenwärtigen Bedingungen zu formulieren. Hinsichtlich des emphatischen Vernunftbegriffs der idealistischen Tradition gehen Adorno und Habermas von der gleichen Überzeugung aus: dass die Ver‑ nunft nicht länger des Absoluten mächtig ist und dass sich die Philosophie affir‑ mativer Metaphysik entschlagen muss. Die Konsequenzen, die sie daraus zie‑ hen, weisen jedoch in vollkommen verschiedene Richtungen. Paradigmatisch ablesen lässt sich das an der Reaktion von Habermas auf Adornos programma‑ 341 Ebd. 342 

Habermas: „Motive nachmetaphysischen Denkens“, S.  36. Der philosophische Diskurs der Moderne, S.  344 ff.

343 Habermas:

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tischen Text „Wozu noch Philosophie?“. Bereits die von Habermas in der Vor‑ rede des fünften Bandes der Studienausgabe formulierte Einschätzung seiner unter dem gleichen Titel erfolgten Antwort ist aufschlussreich: „Der erste Text schließt an die Frage ‚Wozu noch Philosophie?‘ an, um der nostalgischen Ant‑ wort Adornos, die der verabschiedeten Metaphysik gleichwohl die Treue halten will, eine nüchterne Bestandesaufnahme entgegenzusetzen.“344 Die Dichotomie zwischen der nostalgischen Treue zur Metaphysik und dem nüchternen Denken bestimmt Habermas’ gesamten Diskurs über das Verhältnis von Philosophie und Religion. Ähnlich wie ihn schon die „Einebnung des Gattungsunterschie‑ des zwischen Philosophie und Literatur“ über die Maßen in Besorgnis versetz‑ te,345 fürchtet er bei jeder Philosophie, die sich nicht auf seine Form des nachme‑ taphysischen Denkens bringen lässt, dass sie „schwärmerisch die methodische Grenze zwischen Glauben und Wissen zu überschreiten sucht“.346 Jenseits des „unaufgeregt nachmetaphysischen Denkens“347 gibt es für Habermas nur die „schwärmerische Philosophie, die sich verheißungsvolle Konnotationen eines erlösungsreligiösen Wortschatzes nur ausleiht und zunutze macht, um sich von der Strenge diskursiven Denkens zu dispensieren“.348 Adornos Philosophie lässt sich weder dem einen noch dem anderen Lager zuordnen; sein Verhältnis zur Metaphysik fällt durch die Maschen des habermasschen Netzes. Bei Habermas schlägt die berechtigte Skepsis gegenüber der Hybris des idea‑ listischen Vernunftbegriffs um in Verzweiflung am Maßstab einer emphati‑ schen Vernunft, das heißt einer Vernunft, die bei aller Skepsis noch vom An‑ spruch der hegelschen Vernunft bestimmt ist: ihre eigenen Grenzen zu durch‑ brechen und sich nicht innerhalb dieser Grenzen häuslich einzurichten. Adorno formuliert das in seinem Text „Wozu noch Philosophie?“, dessen drastischer Titel zugleich die Bedeutung dieser Erbschaft hervorhebt: Philosophie, wie sie nach allem allein zu verantworten wäre, dürfte nicht länger des Absoluten sich mächtig dünken, ja müßte den Gedanken daran sich verbieten, um ihn nicht zu verraten, und doch vom emphatischen Begriff der Wahrheit nichts sich abmark‑ ten lassen. Dieser Widerspruch ist ihr Element. Es bestimmt sie als negative.349

Mit einigem Recht kommentiert Habermas dieses Zitat dahingehend, dass „die‑ ser Widerspruch das Element der ernst zu nehmenden Philosophie schon seit 344  Habermas, Jürgen: „Einleitung“, in: ders.: Kritik der Vernunft, Philosophische Texte. Studienausgabe in fünf Bänden, Bd. 5, Frankfurt a. M. 2009, S.  9 –32, hier S.  14. 345 Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S.  219 ff.; ders.: „Philosophie und Wissenschaft als Literatur?“, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1992, S.  242–263. 346  Habermas: „Einleitung“, S.  32. 347  Habermas, Jürgen: „Der Horizont der Moderne verschiebt sich“, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1992, S.  11–17, hier S.  14. 348  Habermas: „Grenze zwischen Glauben und Wissen“, S.  257. 349  Adorno: „Wozu noch Philosophie?“, S.  461.

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Hegels Tod“ sei.350 Freilich kann der Widerspruch bereits für Kant geltend ge‑ macht werden. Kant, der in der „Transzendentalen Analytik“ der Behaglichkeit der Selbstbeschränkung durch das berühmte Gleichnis von der Insel des Ver‑ standes Ausdruck verliehen hat,351 wagt sich in dennoch in der „Transzendenta‑ len Dialektik“ auf den stürmischen Ozean des Scheins hinaus; obwohl er die Vernunft in Schranken weist, betont er zugleich die Unwiderstehlichkeit des transzendierenden Impulses der Vernunft. In anderen Worten: Die Unmöglich‑ keit, über die letzten Fragen etwas auszumachen, dispensiert nicht von der Re‑ flexion auf diese Fragen und auf ihre Bedingungen. Adornos Meditationen zur Metaphysik setzen an dieser Stelle an: Die Einsicht, dass es kein positives Wis‑ sen vom Absoluten geben kann und dass die Antwort der Metaphysik, Denken sei das Absolute, nicht zulangt, verpflichtet zum „Nachdenken über Metaphy‑ sik“, zur Reflexion auf die Bedingungen und den Stand der Metaphysik.352 Die‑ ses Nachdenken nimmt bei Adorno im Wesentlichen die Form einer Reflexion auf die Grenzen und Möglichkeiten der Vernunft an. Und in dieser Hinsicht ist Metaphysik nicht bloß ein spezifisches Gebiet der Philosophie, sondern ein in‑ tegrales Moment derselben, insofern der emphatische Begriff von Philosophie mit Metaphysik zusammenfällt: Es scheint mir das Einzigartige an den philosophischen Begriffen zu sein [. . .], daß die Philosophie die sonderbare Eigenschaft hat, daß sie zwar selber verstrickt ist, daß sie zwar selber in dem Glashaus unserer Konstitution und unserer Sprache eingesperrt ist; daß sie aber trotzdem immer wieder vermag, über diese Begrenzung hinaus und durch ihr Glashaus hindurch zu denken. Und genau dieses Denken über sich selbst hinaus, ins Offene, genau das ist Metaphysik.353

Die Meditationen zur Metaphysik fügen sich nicht bloß nahtlos in den Zug der negativen Dialektik; erst sie lösen das Programm dieses Denkens ein. Ist Meta‑ physik bei Adorno das Denken, das im Bewusstsein der Grenzen der Vernunft über diese Grenzen hinausdenkt ins Offene, ohne sich darum dieses Offenen mächtig zu dünken, so zielen bereits die programmatischen Formulierungen der Vorrede auf die Metaphysik ab: „Mit konsequenzlogischen Mitteln trachtet sie [die Negative Dialektik, d. Verf.], anstelle des Einheitsprinzips und der All‑ herrschaft des übergeordneten Begriffs die Idee dessen zu rücken, was außer‑

350 

Habermas: „Einleitung: Wozu noch Philosophie?“, S.  15. „Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Gren‑ zen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckun‑ gen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann.“ Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 235 f./B 294 f. 352 Adorno: Metaphysik, S.  156 f. 353  Ebd., S.  108. 351 

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halb des Banns solcher Einheit wäre.“354 Das Programm negativer Dialektik verweist von Anfang an auf einen emphatischen Begriff der Vernunft, der, am Ideal des hegelschen orientiert, dessen affirmatives Moment aufgibt. Vor dieser Bestimmtheit, vor dem emphatischen Anspruch der Vernunft, ihre Grenzen in ihrer Selbstreflexion zu überschreiten, macht Habermas Halt. Über seine metaphilosophischen Voraussetzungen sagt er nicht ohne Stolz: „Der Tenor des Eingeweihten hat auch mich von der Aura ‚letzter Fragen‘ abge‑ schreckt.“355 Gewiss, die Gefahr ist groß, dass die Philosophie, wenn sie sich bloß auf die letzten Fragen kapriziert, der oberflächlichen Tiefe und der Be‑ schaulichkeit verfällt; aber die allzu enge Fassung eines nachmetaphysischem Denkens rächt sich schließlich an Habermas. Da er nur das vollkommen er‑ nüchterte nachmetaphysische Denken kennt, das sich nicht nur der Reflexion auf letzte Fragen, sondern auch der Reflexion auf das metaphysische Bedürfnis enthält, ist er auf die normativen Gehalte religiöser Formen angewiesen.356 Die „nachmetaphysisch ernüchterte Philosophie“ hat der „Bedrohung des normati‑ ven Gehalts der im Westen entstandenen Moderne“ im Rahmen einer „entglei‑ senden Modernisierung“ nichts entgegenzusetzen 357 und bedarf der religiösen Ideen, um „im eigenen Haus der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn entgegenzuwirken“.358 Schon deshalb muss die nachmetaphysische Ver‑ nunft auf eine „feindlich[e] Übernahme“ der von der Religion besetzten Gebie‑ te verzichten.359 So endet die kommunikative Verflüssigung der Vernunft im Nichtangriffspakt mit der Religion. Der frühe Text „Wozu noch Philosophie?“ vertritt die plausible Auffassung, dass Philosophie nicht „die Heilsgewißheit des religiösen Glaubens substituie‑ ren“ soll: „Sie hat niemals ein Erlösungsversprechen gegeben, Zuversicht verhei‑ ßen oder Trost gespendet.“360 Später behauptet Habermas gar, dass die Philoso‑ phie über das Außeralltägliche gar nichts sagen kann: Die ihrer Weltbildfunktionen weitgehend beraubte Religion ist, von außen betrachtet, nach wie vor unersetzlich für den normalisierenden Umgang mit dem Außeralltäglichen im Alltag. Deshalb koexistiert auch das nachmetaphysische Denken noch mit einer reli‑ giösen Praxis. Und dies nicht im Sinne der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem. Die fortbestehende Koexistenz beleuchtet sogar eine merkwürdige Abhängigkeit einer Phi‑ losophie, die ihren Kontakt mit dem Außeralltäglichen eingebüßt hat.361 354 Adorno:

Negative Dialektik, S.  10. Habermas: „Einleitung“, S.  11. 356  Vgl. Bowie: „Habermas’ recent interest in the semantic resources of religious forms derives from his lack of a convincing account of what binds people to norms of communicati‑ ve action.“ Bowie: Adorno and the Ends of Philosophy, S.  194. 357  Habermas: „Grenze zwischen Glauben und Wissen“, S.  247 f. 358 Habermas: Glauben und Wissen, S.  29. 359  Habermas: „Grenze zwischen Glauben und Wissen“, S.  255. 360  Habermas: „Einleitung: Wozu noch Philosophie?“, S.  27. 361  Habermas: „Motive nachmetaphysischen Denkens“, S.  60. 355 

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Freilich, die Philosophie kann keine endgültigen Antworten auf die letzten Fra‑ gen geben; deshalb darf sie sich nicht gegenüber den Fragen indifferent geben, „deren Gegenstand“, so Kant, „der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein kann“.362 Das hat bereits Henrich in seiner Verteidigung gegen den habermas‑ schen Angriff auf die Metaphysik eingeklagt: „Habermas’ Theorie verweigert Denken in gerade den Fragen, welche für jenes Denken die entscheidenden sind, das Kant meint und das Philosophie ist. Gegen einen soziologischen Theorie‑ vorschlag wäre das kein Einwand.“363 Wohl aber gegen eine Theorie, die über Grenzen und Möglichkeiten der Philosophie urteilen möchte; gerade wenn die Philosophie sich eingesteht, dass sie über die letzten Fragen nichts ausmachen kann, dann kann sie die Religion nicht als Lückenbüßer akzeptieren, ohne sich selbst als Philosophie durchzustreichen. In anderen Worten: Wenn die Vernunft aus ihrer kritischen Intention heraus ihren eigenen Anspruch zurückschrauben muss, so kann sie gegenüber anderen Diskursen nicht ihre kritische Intention fahren lassen. Adorno drückt das aus, wenn er gegen die Berufung auf die Not‑ wendigkeit von Bindungen die Autonomie der Philosophie in den Vordergrund stellt: „Die einzige legitime Bindung, die Philosophie dulden dürfte, wäre die an die Wahrheit, und die Entfaltung dieser Bindung an die Verpflichtung zur Wahrheit macht den ganzen Inhalt der Philosophie aus.“364 Im Sinne der daraus erwachsenden Verpflichtung zur Kritik der Unwahrheit muss die Philosophie, wenn ihr auch die Beantwortung der letzten Fragen nicht möglich ist, doch zumindest am Impuls dieser Fragen festhalten und ihn gegen dogmatische Ant‑ worten verteidigen. In der Arbeitsteilung zwischen kommunikativer Vernunft und dem religiösen Diskurs, dem die letzten Fragen vorbehaltlos überantwortet werden, werden der Vernunft ihre Flügel so gewaltig gestutzt, dass sie gezwun‑ gen ist, sich selbst durchzustreichen: Sie begibt sich der Fähigkeit, über Wahr‑ heit und Unwahrheit von Glaubenserkenntnissen zu richten (1); sie ist nicht mehr in der Lage, die geschichtliche Dynamik zu reflektieren, die zum Subs‑ tanzverlust der Religion geführt hat (2); und sie muss das subjektive Bewusst‑ sein, das von den metaphysischen Fragen nicht ablassen will, an die verbindli‑ chen Ordnungen heteronomer Weltbilder verweisen (3). b.  Glauben und Wissen bei Habermas und Adorno Die drei Punkte werfen ein Licht auf Adornos Ausgangssituation in den Medit‑ ationen und formulieren die Anforderungen an einen Vernunftbegriff, der mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes solidarisch sein kann: (1) Die 362 Kant:

Kritik der reinen Vernunft, A X. Henrich, Dieter: „Was ist Metaphysik – was Moderne? Zwölf Thesen gegen Jürgen Ha‑ bermas“, in: ders.: Konzepte. Essays zur Philosophie in der Zeit, Frankfurt a. M. 1987, S.  11–43, hier S.  43. 364 Adorno: Philosophische Terminologie 1, S.  130. 363 

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

Selbstbegrenzung der Vernunft kann nicht dem Glauben das Feld der Metaphy‑ sik überlassen, sondern muss als eine Selbstbesinnung der Vernunft erfolgen; (2) Vernunft muss sowohl auf ihre eigene geschichtliche Dynamik wie auch auf die Negativität der Geschichte reflektieren; (3) Metaphysik braucht nicht Bindung an Offenbarung, sondern die Autonomie des Subjekts. (1) Die Selbstbegrenzung der Vernunft geht bei Habermas mit einer Resakra‑ lisierung der Religion als Domäne des Glaubens einher. Im Rückgriff auf Schleiermacher wird der Glaube als eigenständiges Vermögen in die kantische Architektonik der Vernunft eingebaut365 und mit dem Verweis auf Kierkegaard die „unüberbrückbar[e] Heterogenität“ dieses Glaubens betont.366 Dagegen be‑ steht Adorno auf der Unmöglichkeit einer friedlichen Koexistenz von Vernunft und Glauben. Zunächst dementiert er die Sonderstellung des Glaubens als ei‑ genständigem Vermögen; Glauben ist vielmehr das, „was angenommen wird, ohne daß es in Vernunft sich begründet“,367 ist also gerade das der Vernunft Entgegengesetzte und nicht ein ihr gleichgestelltes Vermögen. Die Vernunft kann den Glauben nicht als gleichwertiges Vermögen stillschweigend akzeptie‑ ren, sondern definiert sich über die Kritik an ihm: „Sie hat ihren spezifischen Gehalt an der Kritik dessen, was unter diese Kategorien [Glaube und Meinung, d. Verf.] fällt und an sie sich bindet.“368 In der habermasschen Koexistenz von Vernunft und Glauben hebt sich die Vernunft selbst auf, weil sie mit der Akzep‑ tanz des Glaubens als eigenständigem Vermögen, „ein Moment setzt, das dem, was überhaupt das Medium der Philosophie ist, schlechterdings entzogen wä‑ re“.369 Dagegen besteht Adorno darauf, dass die Selbstbeschränkung der Ver‑ nunft nur aus ihrer Selbstreflexion, nicht aus ihrer Selbstnegation erfolgen darf: Aber diese Selbstbesinnung kann nicht bei der bloßen Negation des Gedankens durch sich selbst, bei einer Art von mythischem Opfer stehenbleiben, nicht durch einen ‚Sprung‘ sich vollziehen. [. . .] Sondern Vernunft muß versuchen, die Rationalität selber, anstatt als Absolutes sie sei es zu setzen, sei es zu verneinen, als ein Moment innerhalb des Ganzen zu bestimmen, das freilich diesem gegenüber auch sich verselbständigt hat. Sie muß ihres eigenen naturhaften Wesens innewerden.370

Die Selbstreflexion versucht Adorno, in einer Auseinandersetzung mit Kant und Hegel zugleich, als eine Drehung der kopernikanischen Wende zu formu‑ lieren. So erfordert die Beschränkung der Vernunft ein Höchstmaß an reflektie‑ render Vernunft und nicht ihre Deflationierung. (2) Als nachmetaphysische kann die Philosophie bei Habermas den Verlust objektiven Sinnes in der Moderne nicht ausgleichen und ist in dieser Beziehung 365 

Habermas: „Grenze zwischen Glauben und Wissen“, S.  241. Ebd., S.  251. 367 Adorno: Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.   116. 368  Adorno: „Meinung Wahn Gesellschaft“, S.  582. 369 Adorno: Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  117. 370  Adorno: „Vernunft und Offenbarung“, S.  611. 366 

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auf die Religion verwiesen. Ironisch ist, dass Habermas das Gebiet, das er damit der Religion überlässt, einst gegen die Restauration der Metaphysik verteidigt hat. Kritisch richtete er sich gegen die „neokonservative Nachblüt[e]“ der Schü‑ ler Joachim Ritters, die im Ausgang von der These der „Kompensationsbedürf‑ tigkeit der Moderne“ der Metaphysik wieder zu Ehren verhelfen wollten: Sie sind überzeugt, daß die subjektive Freiheit, die wir als Mitglieder einer unvermeid‑ lich entfremdeten Gesellschaft genießen, in den geschichtlichen Horizont schützender Mächte eingebunden werden muß. Da die Moderne den sinnstiftenden und tröstenden Gegenhalt nicht aus sich selber produzieren kann, bedarf sie der haltenden, gegenwir‑ kenden Traditionen – ob nun als Religion fürs Volk oder als Metaphysik für die Gebil‑ deten.371

Mit einem ähnlichen Argument verteidigt Habermas nicht nur die Existenzbe‑ rechtigung der Religion, sondern auch ihre Unantastbarkeit. Die Bedrohung einer „entgleisenden Modernisierung“ – Habermas meint damit: die Präferenz „wirtschaftlicher Imperative“ über „gesellschaftliche Solidarität“; ein „natura‑ listisches Selbstverständnis“ der Subjekte; „schwindend[e] Sensibilitäten für [. . .] verfehltes Leben“ – kann „eine nachmetaphysisch ernüchterte Philosophie [. . .] nicht kompensieren“, denn: „Sie verfügt nicht mehr über die Art von Grün‑ den, die ein einziges motivierendes Weltbild vor allen anderen auszeichnen könnten, und zwar ein Weltbild, das existentielle Erwartungen erfüllt, ein Le‑ ben im Ganzen verbindlich orientiert oder gar Trost spendet.“372 Das ist ein‑ leuchtend; fraglich ist aber, warum sie das überhaupt sollte und warum es über‑ haupt wünschenswert ist, Gründe zu haben, die ein einziges motivierendes Weltbild vor allen anderen auszeichnen können. Statt das Bedürfnis nach Ori‑ entierung und die Berufung darauf, die er an den restaurativen Metaphysiken noch kritisiert hatte, auch hier kritisch zu hinterfragen, benutzt Habermas das Bedürfnis, um die Religion gegenüber philosophischer Kritik zu immunisieren. Befriedigen kann das Bedürfnis bei Habermas, obwohl er von „der legitimen Vielfalt der substantiellen Lebensentwürfe von Gläubigen, Andersgläubigen und Ungläubigen spricht“, letztlich nur der „Glaubensmodus“, den wir gegen‑ über der eigenen, „für authentisch gehaltenen Lebensweise einnehmen“.373 Ha‑ bermas geht sinnvollerweise von der Pluralität dieser Lebensweisen aus und schließt daraus, dass in Bezug auf diese Lebensweisen „Gewissheit und Wahr‑ heitsgeltung interessanterweise auseinanderklaffen“.374 Die Vernunft darf nun nicht über Wahrheit oder Unwahrheit der Lebensweisen befinden, sondern höchstens im als öffentlichen Diskurs ausgetragenen Dissens der Lebensweisen 371  Habermas, Jürgen: „Rückkehr zur Metaphysik? – Eine Sammelrezension“, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1992, S.  267–279, hier S.  270. 372  Habermas: „Grenze zwischen Glauben und Wissen“, S.  247 f. 373  Ebd., S.  248. 374 Ebd.

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

den Übersetzer spielen.375 Wahrheit oder Unwahrheit des Geglaubten wird so nicht von der Vernunft entschieden, sondern vom erhofften Konsens. Die Ver‑ nunft kündigt ihren Anspruch auf Wahrheit und liefert bloß noch den formalen Rahmen, in dem die Auseinandersetzung um das richtige Leben geführt wird. Adorno wendet sich nicht bloß gegen eine solche Wende zum sinnstiftenden Glaubensmodus aus der Verzweiflung an der Vernunft,376 sondern gegen jede Art von „Herzenswärmern“, die über die negativen Folgen der Entmythologi‑ sierung täuschen sollen. Adorno begreift Existenz und Funktion solcher Her‑ zenswärmer aus dem objektiven Prozess der anwachsenden gesellschaftlichen Rationalisierung: Die fortschreitende bürgerliche Rationalität beseitigt nicht umstandslos die irrationalen Momente des Lebensprozesses. Viele werden neutralisiert, in Sondersparten verschoben und eingebaut. Nicht nur läßt man sie ungeschoren; vielfach werden irrationale Zonen gesellschaftlich reproduziert. Der Druck der ansteigenden Rationalisierung, die, um den von ihr Betroffenen nicht unerträglich zu werden, rational für Herzenswärmer sorgen muß, verlangt das ebenso wie die stets noch blinde Irrationalität der rationalen Gesell‑ schaft selbst. Die bloß partikular verwirklichte Rationalität bedarf, um als partikulare sich erhalten zu können, irrationaler Institutionen wie der Kirchen, der Armeen, der Familie.377

Zweierlei ist hier bemerkenswert: Einmal geht Adorno von der unwiderstehli‑ chen Gewalt der ansteigenden Rationalisierung aus; Entmythologisierung ist ein objektiver Prozess, den man nicht willkürlich sistieren kann. Der Prozess ergreift unweigerlich auch die Religion, nicht bloß, indem die anwachsende Ra‑ tionalisierung die religiösen Paradoxien beinahe unzumutbar macht, sondern auch weil die veränderten Produktionsbedingungen die religiösen Inhalte zu bloßen Metaphern verkommen lassen: „Daß im Angesicht der Existenz von Brotfabriken die Bitte um unser tägliches Brot zu einer bloßen Metapher und zugleich zur hellen Verzweiflung geworden ist, besagt mehr gegen die Möglich‑ keit des Christentums als alle aufgeklärte Kritik am Leben Jesus.“378 Es ist die‑ ser objektive Prozess vielleicht mehr noch als die aufgeklärte Kritik an der Re‑ ligion, der dazu führt, dass Religion nicht länger substantiell ist; unabhängig davon, wie viele ihr immer noch zuströmen. Während Habermas die Revitali‑ sierung der Religionen mit deren Vernünftigkeit gleichsetzen muss, kann Ador‑ 375 

Ebd., S.  249. geschieht die Wendung zum Offenbarungsglauben aus Verzweiflung an eben jenen Mitteln, an der ratio. [. . .] Im besten Fall [. . .] ist der Wunsch der Vater solcher Haltung: nicht die Wahrheit und Authentizität der Offenbarung entscheidet, sondern das Bedürfnis nach Orientierung, der Rückhalt am festen Vorgegebenen; auch die Hoffnung, man könne durch den Entschluß der entzauberten Welt jenen Sinn einhauchen, unter dessen Abwesenheit man so lange leidet, wie man als bloßer Zuschauer aufs Sinnlose hinstarrt.“ Adorno: „Ver‑ nunft und Offenbarung“, S.  609 f. 377 Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie, S.  333 f. 378 Adorno: Minima Moralia, S.  124; vgl. auch: ders.: „Vernunft und Offenbarung“, S.  615 f. 376  „Heute

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no zwischen äußerer Erscheinung und vernünftigem Gehalt noch unterschei‑ den. Vor Adornos Vernunftbegriff spricht die fortdauernde Existenz der Religi‑ on nicht gegen die Gewalt des Rationalisierungsprozesses, sondern, und das ist das zweite Moment, entspricht ihrer Funktion als irrationalem Residuum, das über die negativen Folgen fortschreitender Rationalisierung trösten soll. Als Trostspender aber lenkt sie den Blick zugleich von den Zwängen der ansteigen‑ den Rationalität und der anwachsenden Negativität hinweg. Beide Prozesse ins Bewusstsein hineinzunehmen, ist für Adorno eine Voraussetzung zur Solidari‑ tät mit der Metaphysik. Soll Metaphysik nicht selbst zum Herzenswärmer ver‑ kommen, muss die Reflexion über die Möglichkeit von Metaphysik auch diese Prozesse erreichen. Die anwachsende Rationalisierung erfordert nicht ein We‑ niger, sondern ein Mehr an Rationalität und Reflexion: eine Selbstreflexion der Vernunft. (3) Die Depotenzierung der Vernunft, die sie im Hinblick auf die metaphysi‑ schen Fragen nach Sinn, Trost, Hoffnung von der Religion abhängig macht, untergräbt sich in Adornos Augen selbst. Weil die auf Autonomie zielende und sich selbst kritisch reflektierende Vernunft keine verbindliche Orientierung und keinen Halt mehr bietet, werden orientierende, substantielle Weltbilder zugezo‑ gen, in denen das Bewusstsein Fuß fassen kann. Adorno versteht diese Flucht in Heteronomien, deren Dynamik bereits Hegel registriert hat,379 als Reaktion auf den gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzungsprozess, dessen ambivalente Folgen für das Bewusstsein der Menschen Marx und Engels erst angedeutet haben: Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstel‑ lungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknö‑ chern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Be‑ ziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.380

Der Zwang, das Leben mit nüchternen Augen anzusehen, führt auch zur Er‑ nüchterung über die gewonnene Unabhängigkeit gegenüber herkömmlichen Bindungen. Die subjektive Autonomie vermag die Lücke, die das geschlossene Weltbild hinterlassen hat, nicht zu füllen und „man wählt gleichsam aus prekä‑ rer Autonomie das Heteronome.“381 Der Tatbestand einer Wahl untergräbt aber den Wahrheitsgehalt des Gewählten: „Wird Religion um eines andern als ihres eigenen Wahrheitsgehalts willen angenommen, so unterminiert sie sich.“382 Auch deshalb wäre Adorno, wie Hammer spekuliert, von der Rückkehr der Religion nicht beeindruckt gewesen: „He argued that in a society such as ours, 379 Hegel:

Rechtsphilosophie, S.  290, §  141 Z. Karl und Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei, MEW 4, S.  459–493, hier S.  465. 381  Adorno: „Vernunft und Offenbarung“, S.  611. 382  Ebd., S.  613. 380 Marx,

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religion can offer nothing more than a false substitute, an artificial and hence unjustified injection of meaning into a meaningless universe.“383 Die Solidarität mit der Metaphysik muss sich der Bindung an Heteronomien entschlagen und sich an die wie auch immer prekäre Autonomie der Vernunft halten. Wie Ador‑ no an einer bereits zitierten Stelle aus den Meditationen sagt, wird die Wahrheit metaphysischer Anschauungen nicht durch ihre Macht übers Leben garantiert, sondern die Möglichkeit metaphysischer Erfahrung hängt am autonomen Sub‑ jekt, das sich der Bindungen entledigt hat.384 Auch in dieser Hinsicht ist Meta‑ physik an die ungebundene Entfaltung der Vernunft gebunden. So ist die von Adorno anvisierte Solidarität mit der Metaphysik nur einem Denken möglich, das nicht am Maßstab einer emphatischen Vernunft verzwei‑ felt. Die auch für ein solches Denken notwendige Selbstbeschränkung der Ver‑ nunft kann nur in einer Selbstbesinnung der Vernunft auf ihre eigene Abhän‑ gigkeit erfolgen; dazu gehört auch die Reflexion auf ihre gesellschaftlichen Be‑ dingungen. Zunächst in Form einer Reflexion auf den fortschreitenden Rationalisierungsprozess, der in Gestalt der Metaphysik nicht bloß die Säkula‑ risierung theologischer Gehalte besorgt, sondern in seiner Entfesselung auch droht, die metaphysischen Fragestellungen überhaupt zu neutralisieren; die Differenz von „Säkularisierung“ und „Neutralisierung“ ist dabei, wie Hutter zeigt, entscheidend: Unter Verwendung dieser Unterscheidung läßt sich nämlich festhalten, daß die Meta‑ physik für Adorno eine berechtigte Säkularisierung der Religion darstellt, wohingegen die spätere Neutralisierung der Metaphysik die Bewegung der Säkularisierung nur zum Schein fortsetzt, in Wahrheit aber einen gänzlich verschiedenen Sachverhalt darstellt, der in letzter Konsequenz sogar geeignet ist, vom Sinn der Säkularisierung nicht nur abzu‑ weichen, sondern ihn ins genaue Gegenteil zu verkehren.385

Zu dieser Problematik kommt die Anstrengung dazu, die Erfahrung des maßlos angestiegenen innerweltlichen Leidens in die Reflexion mit einzubeziehen. Schließlich bedeutet die Orientierung an emphatischer Vernunft auch den Ver‑ zicht auf heteronome Bindungen und eine Verteidigung des Autonomieanspru‑ ches der Vernunft. Entgegen aller Kritik an der hegelschen Hybris bleibt Ador‑ no immer noch einem Vernunftbegriff verpflichtet, dessen Ideal, wenn auch im Bewusstsein der eigenen Grenzen, von Hegels Überzeugung, „daß das Absolu‑ te allein wahr oder das Wahre allein absolut ist“,386 zehrt, zumindest insofern Adorno das metaphysische Bedürfnis ernst nimmt und es nicht den miteinan‑ der konkurrierenden Religionen zum Fraß vorwirft. Dass Habermas Adornos Stellung zur Metaphysik als Gegner nicht einmal wahrgenommen hat, spricht am deutlichsten für das Scheitern seines Anspruches, die philosophischen Pro‑ 383 

Hammer: „Metaphysics“, S.  75. Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  389. 385  Hutter: „Adornos Meditationen zur Metaphysik“, S.  234. 386 Hegel: Phänomenologie, S.  70. 384 

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bleme Adornos durch den Paradigmenwechsel gelöst und zugleich die philoso‑ phischen Gehalte Adornos aufbewahrt zu haben. c.  Metaphysische Erfahrung als Stellung des Gedankens zur Objektivität Wenn Adorno auch gegenüber dem Glauben keine Zugeständnisse macht, so kann er doch nicht die Domäne des Wissens auf die metaphysischen Fragen ausweiten: Metaphysik ist nicht mehr als objektives Wissen konstruierbar; sie besteht in der Reflexion auf die Möglichkeit, über die Grenzen objektiven Wis‑ sens hinauszukommen. Die geschichtsphilosophische Frage, ob metaphysische Erfahrung noch möglich sei, tritt an die Stelle der erkenntnistheoretischen Fra‑ ge Kants nach der Möglichkeit von Metaphysik als Wissenschaft.387 Hier möch‑ te ich weniger auf die geschichtsphilosophische Perspektive eingehen, sondern mich dem Erfahrungsbegriff zuwenden und damit der neuen Gestalt, in der sich die Frage nach der Metaphysik stellt: ob die gegenwärtige Einrichtung der Welt metaphysische Erfahrung überhaupt noch zulässt. Damit ist eine folgenschwere Modifikation des Metaphysikbegriffs verbunden. Bei Kant sind Metaphysik und Erfahrung gleichsam antithetisch konzipiert: Metaphysik bezeichnet gera‑ de das, was über jede Einlösung durch Erfahrung hinausgeht. Diese Trennung, die von Kant „als eine Art von Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird“,388 wie Adorno in einer Vorlesung sagt, wird im Begriff der metaphysischen Erfah‑ rung aufgehoben. Und nicht nur das: Wird die Frage nach der Metaphysik an das subjektive Bewusstsein zediert, so hat das – more dialectico – auch Folgen für den objektiven Gehalt der Metaphysik. Adornos metaphysische Erfahrung ist kein unmittelbares Wissen von meta‑ physischen Inhalten. Bereits in der Frage nach der gegenwärtigen Möglichkeit metaphysischer Erfahrung liegt das Zugeständnis, dass diese im eminenten Sin‑ ne vermittelt ist und diese Vermitteltheit macht die Antinomie metaphysischer Erfahrung aus: Was an Metaphysischem ohne Rekurs auf die Erfahrung des Subjekts, ohne sein unmit‑ telbares Dabeisein verkündet wird, ist hilflos vor dem Begehren des autonomen Sub‑ jekts, nichts sich aufzwingen zu lassen, was nicht ihm selber einsichtig wäre. Das ihm unmittelbar Evidente jedoch krankt an Fehlbarkeit und Relativität.389

Das erste Moment verweist auf die Unübersetzbarkeit metaphysischer Erfah‑ rung in objektive Begründungszusammenhänge: das Subjekt kann sich der Wahrheit metaphysischer Erfahrung nur durch eigene Erfahrung versichern. Das zweite Moment verweist dagegen auf die Fehlbarkeit und Relativität des dem Subjekt unmittelbar Evidenten, das heißt des von ihm Erfahrenen. 387 

Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  364 f. Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  85. 389 Adorno: Negative Dialektik, S.  367. 388 Adorno:

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Adorno akzeptiert diese Fehlbarkeit und bezeichnet sie in der Vorlesung gar als „Bedingung der Möglichkeit“ der metaphysischen Erfahrung; 390 dennoch versucht er, durch einen unvermittelten Sprung zur Kategorie der Verdingli‑ chung, diese Fehlbarkeit zu relativieren, indem er die metaphysische Erfahrung von der Seite des Objekts her aufzäumt: Daß der Kategorie der Verdinglichung, die inspiriert war vom Wunschbild ungebroche‑ ner subjektiver Unmittelbarkeit, nicht länger jener Schlüsselcharakter gebührt, den apo‑ logetisches Denken, froh materialistisches zu absorbieren, übereifrig ihr zuerkennt, wirkt zurück auf alles, was unter dem Begriff metaphysischer Erfahrung geht.391

Der Gedankengang ist nicht leicht nachzuvollziehen. Adorno versucht, über die Verdinglichtung eine Kritik am Ideal der unmittelbaren Erfahrung durch das Subjekt zu formulieren, ohne dabei das Moment des subjektiven Dabeiseins zu negieren. In ihrer kritischen Stoßrichtung drückt die Kategorie der Verdingli‑ chung das überspannte Ideal dieses Dabeiseins aus: alles soll sich ins Subjekt auflösen lassen. Das ist aber genauso falsch wie das Gegenteil: „Reine Unmittel‑ barkeit und Fetischismus sind gleich unwahr.“392 Adorno rekurriert an dieser Stelle auf das „Wahrheitsmoment am Dinghaften“,393 das er an einer früheren Stelle der Negativen Dialektik ausführt: „Im Dinghaften ist beides ineinander, das Unidentische des Objekts und die Unterwerfung der Menschen unter herr‑ schende Produktionsverhältnisse, ihren eigenen, ihnen unkenntlichen Funkti‑ onszusammenhang.“394 Er fasst das Wahrheitsmoment hier auch als den Vor‑ rang des Objekts, den er von seiner „Fratze im Bestehenden“, eben dem Waren‑ fetischismus, unterscheidet.395 Dasselbe Wahrheitsmoment findet Adorno auch in den objektiven metaphysischen Kategorien: „In der Objektivität der meta‑ physischen Kategorien schlug nicht allein, wie der Existentialismus es möchte, die verhärtete Gesellschaft sich nieder, sondern ebenso der Vorrang des Objekts als Moments der Dialektik.“396 Demnach sieht Adorno auch in den objektiven Kategorien, also gerade in dem, was nicht mehr ohne das Dabeisein des Subjekts verkündet werden soll, ein Moment der Nichtidentität, ein Moment, das sich nicht auf Subjektivität reduzieren lässt. In diesem Moment werden Subjekt und Objekt in der metaphysischen Erfahrung kommensurabel: Der Überschuß übers Subjekt aber, den subjektive metaphysische Erfahrung nicht sich möchte ausreden lassen, und das Wahrheitsmoment am Dinghaften sind Extreme, die sich berühren in der Idee der Wahrheit. Denn diese wäre so wenig ohne das Subjekt, das

390 Adorno: 391 Adorno: 392 Ebd. 393 

Metaphysik, S.  220. Negative Dialektik, S.  367.

Ebd., S.  368. Ebd., S.  192. 395  Ebd., S.  190. 396  Ebd., S.  367. 394 

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dem Schein sich entringt, wie ohne das, was nicht Subjekt ist und woran Wahrheit ihr Urbild hat.397

Metaphysische Erfahrung benötigt auf der Subjektseite etwas, das sich nicht ins Subjekt auflösen lässt, etwas, was die Grenzen der subjektiven Konstitutions‑ leistungen übersteigt. Dieses, das Nichtidentische, ist zugleich das Wahrheits‑ moment am Dinghaften. Metaphysische Erfahrung ist eine subjektive Erfah‑ rung von einem Objektiven. Was aber unterscheidet diese Stellung des Gedan‑ kens zur Objektivität vom unmittelbaren Wissen, das Hegel mit guten Gründen verworfen hat? Daraus, daß das unmittelbare Wissen das Kriterium der Wahrheit sein soll, folgt fürs zweite, daß aller Aberglaube und Götzendienst für Wahrheit erklärt wird und daß der unrechtlichste und unsittlichste Inhalt des Willens gerechtfertigt ist. [. . .] Die natürli‑ chen Begierden und Neigungen aber legen von selbst ihre Interessen ins Bewußtsein, die unmoralischen Zwecke finden sich ganz unmittelbar in demselben; der gute oder böse Charakter drückte das bestimmte Sein des Willens aus, welches in den Interessen und Zwecken gewußt, und zwar am unmittelbarsten gewußt wäre.398

Die Differenz lässt sich an der Idee der Wahrheit festmachen. Während das un‑ mittelbare Wissen selbst das Kriterium der Wahrheit sein soll, das heißt: wäh‑ rend die subjektive Unmittelbarkeit sich für die ganze Wahrheit ausgibt, ist die Idee der Wahrheit in der metaphysischen Erfahrung gerade der Überschuss, der sich nicht in die unmittelbare Erfahrung auflösen lässt. Das Moment des Überschusses, das nicht in ihr aufgeht, ist für metaphysische Erfahrung unabdingbar.399 Metaphysische Erfahrung ist die Erfahrung der Be‑ schränktheit der unmittelbaren Erfahrung in Anbetracht eines von ihr verschie‑ denen Objektiven. Insofern ist sie eine vom unmittelbaren Wissen verschiedene Stellung des Gedankens zur Objektivität. Die Erfahrung der Beschränktheit in Anbetracht des Objektiven, das in ihr nicht aufgeht, verbürgt aber nicht die positive Existenz dieses Objektiven; deshalb wird nach Adorno die „reine me‑ taphysische Erfahrung blasser und desultorischer im Verlauf des Säkularisie‑ rungsprozesses“.400 Der Prozess hat sich soweit fortgesetzt, dass von den objek‑ tiven Kategorien nichts mehr übrigbleibt; der Überschuss über das Subjekt kann nicht mehr als positiv behauptet werden. Deshalb ist metaphysische Erfahrung nur noch negativ möglich: „Sie hält sich negativ in jenem Ist das denn alles?, das am ehesten im vergeblichen Warten sich aktualisiert.“401 Metaphysische Erfah‑ rung ist eine negative Erfahrung von Transzendenz. Die Erfahrung, dass die Immanenz, mithin das, was dem Subjekt kommensurabel ist und sich aufs Sub‑ jekt reduzieren lässt, nicht alles sein kann, wird zur negativen Erfahrung von 397 

Ebd., S.  368. Enzyklopädie I, S.  162 f., §  72. 399  Vgl. Adorno: Metaphysik, S.  2 22. 400 Adorno: Negative Dialektik, S.  368. 401 Ebd. 398 Hegel:

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

Transzendenz. Wie Hammer bemerkt, war diese Erfahrung eigentlich immer schon das Movens der Metaphysik; 402 aber Adorno widersteht der Versuchung, der beinahe die gesamte philosophische Tradition erlegen ist, aus der negativen Erfahrung von Transzendenz ein Positivum zu machen. Der Text der Vorlesung ist an dieser Stelle aufschlussreicher, weil er zugleich die entscheidende Diffe‑ renz gegen Hegel formuliert: Die Negativität der Situation des vergeblichen Wartens: die ist wohl die Gestalt, in der für uns metaphysische Erfahrung am stärksten ist. [. . .] Aber selbst das ist unverbürgt, denn wo kein Leben mehr ist, wo die Unmittelbarkeit wirklich so aufgehoben ist wie in der Welt, in der wir existieren, da ist eben doppelt so stark die Lockung, die Reste von Leben oder sogar die Negation des Zustands, wie er herrscht, mit dem Absoluten zu verwechseln.403

Die bestimmte Negation der Immanenz stellt zwar die einzige Gestalt dar, in der metaphysische Erfahrung noch möglich ist, aber diese Negation verbürgt nicht die Existenz des Transzendenten. Die Überzeugung, dass das nicht alles sein kann, erlaubt nicht den Schluss, dass es tatsächlich mehr gibt. Die bestimm‑ te Negation ist nicht positive Negation. Die metaphysische Erfahrung verbürgt bloß ein Negatives: die negierte Tota‑ lität der Immanenz und damit die Möglichkeit der Transzendenz. Das Denken kann diese Transzendenz nur als Negativ der Immanenz denken. Darüber führt „keine Anstrengung des Begriffs hinaus“.404 Die Situation ist aporetisch: Das Denken kann die Transzendenz weder positiv setzen noch kann es sich bei der Immanenz beruhigen. Adorno drückt dieses Verhältnis zur Transzendenz in Bezug auf den Begriff des Lebendigen aus: „Gleichwohl könnte nichts als wahr‑ haft Lebendiges erfahren werden, was nicht auch ein dem Leben Transzenden‑ tes verhieße.“405 Der Lebensbegriff ist auf die Begriffe „Unmittelbarkeit“ und „Vermittlung“ zu beziehen: Leben assoziiert Adorno an der oben zitierten Stel‑ le aus der Vorlesung mit Unmittelbarkeit; Leben ist das, was nicht restlos durch den gesellschaftlichen Prozess vermittelt ist. Deshalb verspricht der Rest von Leben, als Rest von Unmittelbarkeit, etwas, was über den Vermittlungsprozess der Gesellschaft hinausreicht. Dieses Versprechen ist aber eben nur ein Verspre‑ chen. Deshalb ist der ontologische Status des dem Leben Transzendenten so fragil: „Es ist und ist nicht.“406 Bezeichnenderweise fügt Adorno in der Vorle‑ 402 

Hammer: „Metaphysics“, S.  67. Metaphysik, S.  224. Vgl. dazu die Parallelstelle in der Negativen Dialektik: „Vergebliches Warten verbürgt nicht, worauf die Erwartung geht, sondern reflektiert den Zu‑ stand, der sein Maß hat an der Versagung. Je weniger an Leben mehr bleibt, desto verlocken‑ der fürs Bewußtsein, die kargen und jähen Reste des Lebendigen fürs erscheinende Absolute zu nehmen.“ Adorno: Negative Dialektik, S.  368. 404 Ebd. 405 Ebd. 406  Ebd. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Ettes Formulierung – „Transzen‑ dieren ohne Transzendenz“ – für die Metaphysik Adornos nicht uneingeschränkt gilt. Ette 403 Adorno:

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sung hinzu, dass sich über diesen Widerspruch „sehr schwer, wahrscheinlich überhaupt nicht, hinausdenken“ lässt,407 und die Vorlesung bricht an dieser Stelle ab. In der Negativen Dialektik schließen noch acht Meditationen an, die sich an diesem Widerspruch abarbeiten. Dabei kann es sich nicht um die Auflösung des Widerspruchs handeln; viel‑ mehr geht es im Folgenden um die Rettung der schwachen Hoffnung, die sich an den Widerspruch des „Es ist und ist nicht“ heftet. Denn auch diese schwache Möglichkeit der Transzendenz wird von der geschichtlichen Entwicklung noch bedroht: „Die Verzweiflung an dem, was ist, greift auf die transzendentalen Ideen über, die ihr einmal Einhalt geboten.“408 Hat Adorno mit der metaphysi‑ schen Erfahrung einen Punkt erreicht, an dem sich die Möglichkeit der Transzendenz aus der Negation der Immanenz immerhin noch denken lässt, so registriert er hier den Widerspruch zwischen dem Leiden in der Immanenz und dem Gedanken an Transzendenz: „Daß die endliche Welt der unendlichen Qual umfangen sei von einem göttlichen Weltplan, wird für jeden, der nicht die Ge‑ schäfte der Welt besorgt, zu jenem Irrsinn, der mit dem positiven Normalbe‑ wußtsein so gut sich verträgt.“409 Die Erfahrung des ansteigenden Leidens er‑ laubt scheinbar nicht einmal mehr die Konzeption von transzendentalen Ideen, die Kant noch offen stand. Deren Charakter des „als ob“ langt unter gegenwär‑ tigen Bedingungen nicht mehr zu. Die fünfte Meditation versucht darauf auf‑ bauend, inmitten der totalen Verzweiflung einen Zufluchtsort der Hoffnung zu finden. In der fünften Meditation geht Adorno von der unbefriedigenden Alternative von Nihilismus und Affirmation, jener „Denkgewohnheit“, für die die Welt „auf die Injektion von Sinn wartet“,410 aus. Dabei ist der abstrakte Nihilismus, den Adorno als eine von der Affirmation konstruierte Vogelscheuche entlarvt, genauso falsch wie die affirmative These. Adorno hält dieser Alternative einen durch Beckett inspirierten Nihilismus entgegen: Beckett hat auf die Situation des Konzentrationslagers, die er nicht nennt, als läge über ihr Bilderverbot, so reagiert, wie es allein ansteht. Was ist, sei wie das Konzentrationsla‑ ger. Einmal spricht er von lebenslanger Todesstrafe. Als einzige Hoffnung dämmert, daß nichts mehr sei. Auch die verwirft er. Aus dem Spalt der Inkonsequenz, der damit sich bildet, tritt die Bilderwelt des Nichts als Etwas hervor, die seine Dichtung festhält. Im

geht zwar richtigerweise von der Utopie als einem Nichtseienden aus, aber in den Meditatio‑ nen geht es Adorno in Folge gerade darum, ein objektives Moment der Transzendenz zu ret‑ ten, weil ein Transzendieren ohne ein objektives Moment der Transzendenz eine Hypostasis des Subjekts darstellen würde. Vgl. Ette: „Beckett als philosophische Erfahrung“, S.  216 f. 407 Adorno: Metaphysik, S.  2 26. 408 Adorno: Negative Dialektik, S.  368. 409 Ebd. 410  Ebd., S.  372.

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Erbe von Handlung darin, dem scheinbar stoischen Weitermachen, wird aber lautlos geschrien, daß es anders sein soll.411

Adorno bezieht sich hier auf die fundamentale Aporie des beckettschen Oeuv‑ res, die am Ende des Romans L’innomable am deutlichsten ausgesprochen wird: „[I]l faut continuer, je ne peux pas continuier, je vais continuer.“412 Becketts „Weitermachen“ verstand Adorno nach einer Marginalie in seinem Exemplar von Becketts Roman als kritische Kategorie: „Weitermachen ist eine große Ka‑ tegorie. Und eine kritische: gegen den Trug der Frage nach dem Sinn.“413 Der Trug der Frage besteht im Anspruch, dass Leben hier und jetzt sinnvoll sein soll; in dieser gedanklichen Fluchtlinie dreht Adorno die beckettsche Aporie ins Geschichtsphilosophische: Gnostisch ist ihm die geschaffene Welt die radikal böse und ihre Verneinung die Mög‑ lichkeit einer anderen, noch nicht seienden. Solange die Welt ist, wie sie ist, ähneln alle Bilder von Versöhnung, Frieden und Ruhe dem des Todes. Die kleinste Differenz zwi‑ schen dem Nichts und dem zur Ruhe Gelangten wäre die Zuflucht der Hoffnung, Nie‑ mandsland zwischen den Grenzpfählen von Sein und Nichts.414

Bedeutsam an dieser Stelle ist die Zuspitzung des Widerspruchs zwischen Ver‑ söhnung und Tod. Bei der Behandlung des Utopiebegriffs haben wir gesehen, dass für Adorno der neuralgische Punkt der Utopie gerade die Abschaffung des Todes ist; hier dagegen erscheint der Tod als Bild der Versöhnung. Ähnlich sind sich Tod und Versöhnung, weil allein sie der gesellschaftlichen Dynamik entronnen sind, dem, was Adorno hier als Sein fasst. Der Tod, als Nichts, ist unter diesen Umständen die einzige Möglichkeit, der umfassenden Dynamik dieses Seins zu entrinnen; er ist das, was jenseits wäre. Innerhalb dieses Wider‑ spruchs findet die Hoffnung nur noch in der beckettschen Inkonsequenz ihren Ort. Es gibt keine Hoffnung im Sein; ebenso wenig gibt es Hoffnung im Nichts. Hoffnung besteht einzig im Niemandsland zwischen den Grenzpfählen von Sein und Nichts. Die Bedeutung des Niemandslandes lässt sich in zwei Richtungen ausdiffe‑ renzieren. Einmal verweist das Niemandsland zwischen den Grenzpfählen auf eine Kindheitserinnerung Adornos, die er im Text „Amorbach“ beschreibt. Adorno erfährt an einem kleinen Stück Land, das zwischen den Grenzpfählen von Bayern und Baden liegt, erstmals die Bedeutung des Wortes Utopie: Zwischen Ottorfszell und Ernsttal verlief die bayerische und badische Grenze. Sie war an der Landstraße durch Pfähle markiert, die stattliche Wappen trugen und in den Lan‑ desfarben spiralig bemalt waren, weiß- blau der eine, der andere, wenn mein Gedächtnis 411 

Ebd., S.  373 f. Beckett, Samuel: L’innommable, Paris 1998, S.  213. 413  Zitiert nach: Tiedemann, Rolf: „‚Gegen den Trug der Frage nach dem Sinn‘. Eine Doku‑ mentation zu Adornos Beckett-Lektüre“, in: Theodor W. Adorno Archiv (Hg.): Frankfurter Adorno Blätter 3, München 1994, S.  18–77, hier S.  56. 414 Adorno: Negative Dialektik, S.  374. 412 

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mich nicht trügt, rot-gelb. [. . .] Das Land aber, das sie umschlossen und das ich, spielend mit mir selbst, okkupierte, war ein Niemandsland. Später, im Krieg, tauchte das Wort auf für den verwüsteten Raum vor den beiden Fronten. Es ist aber die getreue Überset‑ zung des griechischen – Aristophanischen –, das ich damals desto besser verstand, je weniger ich es kannte, Utopie.415

Das Niemandsland, das Adorno in der Negativen Dialektik vorschwebt, ist ein gedanklicher Raum, der sowohl der Verfügung des Seins als auch derjenigen des Nichts entzogen ist: in ihm lässt sich Transzendenz denken. Das Niemandsland des Gedankens denkt sich Adorno als den kantischen Bereich des Transzenden‑ talen. In der Negativen Dialektik zeigt sich das nur undeutlich daran, dass die folgenden Meditationen Kant gewidmet sind; in der Kant-Vorlesung dagegen bezeichnet Adorno an mehreren Stellen das Transzendentale als Niemandsland. Folgende Definition des transzendentalen Bereichs ist am aufschlussreichsten: Die ganze ‚Kritik der reinen Vernunft‘ spielt in einem eigentümlichen Niemandsland sich ab: auf der einen Seite darf sie keine bloße formale Logik sein, denn sonst wären ja die Sätze, um die sie sich dreht, keine synthetischen Sätze; auf der anderen Seite aber dürfen sie auch keinen eigentlichen Inhalt haben, denn sonst wären sie ja empirische Sätze, und sie wären wieder keine synthetischen Sätze a priori. Und durch diese eigen‑ tümliche Schwierigkeit kommen Sie nun wirklich in das Bereich, [. . .] das man nun [. . .] das transzendentale Bereich nennen könnte: nämlich ein Bereich der Spekulation, wo die Not, zwei sonst unvereinbare Konzeptionen doch irgendwie miteinander zu vereinigen, dazu führt, daß man gedankliche Konstruktionen macht, die gar nicht unmittelbar auf irgend etwas Gegebenes, Positives sich beziehen können, die aber durch die fortschrei‑ tende Analyse motiviert werden.416

Die transzendentale Sphäre ist in Adornos Interpretation der Bereich, in dem spekulative Begriffe konstruiert werden, weil die Bewegung des Gedankens in der Immanenz diese Konstruktion erfordert; der Oberbegriff dieser spekulati‑ ven Begriffe ist das Nichtidentische: „Die Konstruktion von Ding an sich und intelligiblem Charakter ist die eines Nichtidentischen als der Bedingung der Möglichkeit von Identifikation, aber auch die dessen, was der kategorialen Iden‑ tifizierung entschlüpft.“417 Im Metaphysikkapitel fungiert die transzendentale Sphäre als Zufluchtsort der metaphysischen Hoffnung. Das Transzendentale ist der gedankliche Ort, an dem sich Unsterblichkeit und das Absolute noch den‑ ken lassen. Die Rettung der Möglichkeit, diese Begriffe denken zu können, wird deshalb zu einer Rettung dieses Niemandslandes, das Adorno in der kant‑ schen Sphäre des Transzendentalen vorgedacht findet. Damit hat sich auch die Fragestellung präzisiert: nicht ob es Transzendenz gibt oder nicht, sondern ob wir transzendente Gehalte mit Berechtigung als spekulative Begriffe konstruie‑ 415 

Adorno: „Amorbach“, S.  305.

416 Adorno: Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  55. Die anderen Stellen in der Vorlesung

befinden sich auf S.  40 und auf S.  332. 417 Adorno: Negative Dialektik, S.  286.

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

ren können, entscheidet über die Möglichkeit von Metaphysik. An dieser Stelle greift Adorno in den Prozess zwischen Kant und Hegel ein und versucht eine Achsendrehung der Kopernikanischen Wende in kritischer Selbstreflexion.

II.  Die Achsendrehung der Kopernikanischen Wende Die vielleicht bedeutendste Schwierigkeit des Metaphysikmodells zeigt sich an der Identifikation des Niemandslandes mit der Sphäre des Transzendentalen: die Schwierigkeit nämlich, dass in den Meditationen ein Grad der Verdichtung praktiziert wird, der weit über das von Adorno Gewohnte hinausgeht. Nicht nur ist es notwendig, andere Texte beizuziehen, es muss auch, wie in Folge sichtbar wird, die gesamte Bewegung der Negativen Dialektik nochmals reflek‑ tiert werden. Philosophiegeschichtlich lässt sich diese Bewegung weithin als eine Bewegung zwischen Kant und Hegel interpretieren, in der Adorno eine eigenständige, eine dritte Stellung nicht nur zwischen, sondern neben Kant und Hegel einnimmt. Im Metaphysikmodell wird auch diese Stellung mit einem ei‑ genen Namen verbunden: demjenigen Hölderlins. Dessen Begriff des Offenen steht für eine andere Art von Überwindung der kantschen Grenze als die vom Idealismus verfolgte; für ein Drittes jenseits von Demut und Hybris: für die Selbstreflexion der Vernunft auf ihre eigene Naturgebundenheit. Nur über diese Selbstreflexion gelingt eine Rettung des Niemandslandes, in das sich die Meta‑ physik zurückgezogen hat. Ich möchte diese Bewegung in drei Schritten nach‑ zeichnen. Zunächst werde ich das ambivalente Gesicht des kantschen Blocks bei Adorno skizzieren. Dieses besteht in der Figur einer sich selbst begrenzenden Vernunft, in der Begrenzendes und Begrenztes ein und dasselbe sind. Hier setzt Adornos Achsendrehung der kopernikanischen Wende an (a). In einem zweiten Schritt werde ich das adornosche Gegenkonzept zum Block behandeln: die Selbstreflexion der Vernunft auf ihren eigenen Naturgrund (b). Erst aus dieser Selbstreflexion heraus gelingt die Neubestimmung der intelligiblen Sphäre (c). a.  Der sonderbare Gerichtshof der reinen Vernunft: Ambivalenzen des kantschen Blocks Das Wahrheitsmoment des kantschen Blocks besteht in der Beschränkung des sich absolut setzenden Geistes. Gegen die nachfolgenden Idealisten, zumal ge‑ gen Hegel, hat Kant Recht, insofern er das Moment der Nichtidentität hervor‑ hebt, das in der Vernunft nicht ganz aufgeht. Im zweiten Kapitel wurde dieses Moment unter der Bezeichnung „Idee der Andersheit“ in seinen erkenntnisthe‑ oretischen Implikationen verfolgt. Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Idee der Andersheit zeigt aber eine fragwürdige Seite, wenn sie auf die Meta‑ physik ausgeweitet wird. Sie führt dann zu einem Selbstwiderspruch, auf den wiederum Hegel zu Recht hingewiesen hat: Die Grenzen der Vernunft sollen

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nach Kant von ihr selbst gesetzt sein. Adorno weist in der Kantvorlesung, Kants Metapher vom Gerichtshof der Vernunft aufnehmend,418 auf die Eigentümlich‑ keiten dieser Selbstbegrenzung hin: „Sie werden, wenn Sie die Metaphorik durchdenken, die hier bei Kant vorliegt, bemerken, daß das ein etwas sonderba‑ rer Gerichtshof ist: nämlich ein Gerichtshof, in dem eigentlich der Richter, der Kläger und der Angeklagte alle drei dieselbe Person sind.“ Adorno warnt zwar davor, sich über diese Metaphorik zu mokieren, aber die Doppeldeutigkeit, die bereits im doppelten Genitiv des Titels Kritik der reinen Vernunft zum Aus‑ druck kommt, bleibt bestehen und ist nach Adorno gar die „Mitte der Kanti‑ schen Konzeption“.419 Im Begriff der Autonomie kommt die Doppeldeutigkeit zum Ausdruck, als Vermögen, sich selbst Gesetze vorzuschreiben. Die nach‑ kantischen Idealisten haben hier angesetzt und die Inkonsequenz einer sich selbst Grenzen setzenden Vernunft hervorgehoben. Adorno bezeichnet zumal Hegels Kritik am Begriff der Schranke420 als konsequent: Zuende gedacht, urteilt die Vernunftkritik, welche objektiv gültige Erkenntnis des Ab‑ soluten bestreitet, eben damit selber Absolutes. Das hat der Idealismus hervorgekehrt. Gleichwohl biegt seine Konsequenz das Motiv um in sein Gegenteil und ins Unwahre. Durch seine Konsequenz vergeht sich der Idealismus gegen den metaphysischen Vorbe‑ halt Kants; reines Konsequenzdenken wird unaufhaltsam sich zum Absoluten.421

Der Prozess zwischen Kant und Hegel schließt sich zu einem Kreis zusammen: Kants Wahrheitsmoment gegen Hegel besteht in der Begrenzung des Absolut‑ heitsanspruchs der Vernunft; indem diese Begrenzung als ein absolutes Urteil der Vernunft über ihre eigenen Grenzen vollzogen wird, hat Hegel wiederum recht, wenn er die Grenzen Kants als willkürlich gesetzte Grenzen bezeichnet und sie überschreitet. Der Ausweg aus dem Zirkel besteht in einer nicht will‑ kürlichen Selbstbegrenzung der Vernunft. In der Willkür besteht das eigentlich regressive Moment des Blocks. Notwendigkeit kann der kantsche Block nur 418 „Sie [die Gleichgültigkeit gegenüber der Metaphysik, d. Verf.] ist offenbar die Wirkung nicht des Leichtsinns, sondern der gereiften Urteilskraft des Zeitalters, welches sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten läßt und eine Auffoderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis aufs neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlose Anmaßungen, nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen könne und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst.“ Kant: Kritik der reinen Vernunft, A XI. 419 Adorno: Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.   86. 420  „Es pflegt zuerst viel auf die Schranken des Denkens, der Vernunft usf. gehalten zu werden, und es wird behauptet, es könne über die Schranke nicht hinausgegangen werden. In dieser Behauptung liegt die Bewußtlosigkeit, daß darin selbst, daß etwas als Schranke be‑ stimmt ist, darüber bereits hinausgegangen ist. Denn eine Bestimmtheit, Grenze ist als Schranke nur bestimmt im Gegensatz gegen sein Anderes überhaupt als gegen sein Unbeschränktes; das Andere einer Schranke ist eben das Hinaus über dieselbe.“ Hegel: Logik I, S.  145. 421 Adorno: Negative Dialektik, S.  375.

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

insofern beanspruchen, als er den Anspruch des Geistes, absolut zu sein, be‑ schneidet; mit dem Sturz des absoluten Geistes geht diese Notwendigkeit verlo‑ ren. So wechselt die Funktion des Blocks geschichtlich: „Ist jedoch solche meta‑ physische Ansicht von Geist einmal depotenziert, so schränkt die grenzsetzen‑ de Intention einzig noch den Erkennenden, das Subjekt ein. Das kritische wird zum entsagenden.“422 Der Block hat einzig gegen die Hybris einer sich absolut setzenden Vernunft Recht; gegenüber dem individuellen Erkenntnissubjekt, das Adorno an dieser Stelle stillschweigend voraussetzt, nimmt der Block eine re‑ pressive Funktion an. Das erkennende Subjekt verzichtet auf den Anspruch, das Absolute zu erkennen: es wird ihm „zur müßigen Sorge“.423 Gegen diese Entsa‑ gung hat wiederum der absolute Idealismus Recht, der mit seinem Anspruch gegen den Kritizismus aufbegehrte. Der Anspruch der Vernunft auf das Absolute ist dieser nicht äußerlich, son‑ dern integrales Moment derselben. Adorno denkt diesen Anspruch nicht bloß im Sinne der regulativen Ideen Kants, sondern vom hegelschen Gedanken her, dass bereits das einzelne Urteil eine Anweisung auf das Absolute enthält: „He‑ gel, in sehr vielem Betracht ein zu sich selbst gekommener Kant, wird davon getrieben, daß Erkenntnis, wenn es das irgend gibt, der eigenen Idee nach die ganze sei; daß jedes einseitige Urteil durch seine bloße Form das Absolute mei‑ ne und nicht ruhe, bis es im Absoluten aufgehoben ist.“424 Diesen Gedanken bringt er in einer Vorlesung gegen das kantische Konzept einer regulativen Idee in Stellung, indem er darin nicht nur eine Anweisung auf das Absolute sieht, sondern zugleich auch ein Urteil darüber, dass das Absolute sei: Schon indem ich spreche, setze ich, könnte man sagen, und Hegel hat das gesagt, das Ganze oder das Absolute mit, und indem ich es mitsetze, sage ich auch bereits, daß es sei. Es ließe also zwischen der Utopie, zu der das Denken sich gedrängt fühlt als Begriff, und der Wirklichkeit, in der wir existieren, gar nicht so radikal sich scheiden, wie es in der Kantischen Argumentation vorliegt.425

Folgenschwer ist die implizite Dynamisierung der kantschen Grenzziehung zwischen dem konstitutiven und dem regulativen Gebrauch der Vernunft in Anbetracht der transzendentalen Ideen.426 Zwischen den Zeilen gibt Adorno zu 422 

Ebd., S.  376.

423 Ebd. 424 

Adorno: „Aspekte“, S.  255. Philosophische Terminologie 1, S.  114. 426  Kant definiert die Unterscheidung so: „Ich behaupte demnach: die transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so, daß dadurch Begriffe gewisser Gegen‑ stände gegeben würden, und in dem Falle, daß man sie so versteht, sind es bloß vernünftelnde (dialektische) Begriffe. Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlichnot‑ wendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d.i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstan‑ desbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfah‑ 425 Adorno:

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verstehen, dass der bloß regulative Gebrauch der Vernunft zugleich einen kon‑ stitutiven Gebrauch derselben impliziert, insofern die Vernunft bei ihrem bloß regulativen Gebrauch nicht stehen bleiben will. Indem die Ausrichtung des Ur‑ teils aufs Absolute nur unter der Einschränkung des „als ob“ zugelassen wird, muss die Erkenntnis trotz ihrer Ausrichtung darauf vor dem Absoluten haltma‑ chen. Durch den immanenten Zusammenhang zwischen dem Absoluten, der Idee der Wahrheit, und der Wahrheit des einzelnen Urteils wird mit der Begren‑ zung der Vernunft zugleich das einzelne Urteil unwahr. Adorno drückt das in den Meditationen in einer Kritik der kantschen Metapher der Insel aus: Die Insel der Erkenntnis, die Kant vermessen zu haben sich rühmt, gerät ihrerseits durch selbstgerechte Beschränktheit in jenes Unwahre, das er auf die Erkenntnis des Unbe‑ grenzten projiziert. Unmöglich, der Erkenntnis des Endlichen eine Wahrheit zuzubilli‑ gen, die ihrerseits vom Absoluten – kantisch: der Vernunft – abgeleitet ist, an das Er‑ kenntnis nicht heranreiche.427

Das Urteil über Kants Block hat sich damit verschärft. Er ist nicht bloß inkon‑ sequent, sondern versagt auch vor der Aufgabe, die Bedingungen gültiger Er‑ kenntnis anzugeben. Adorno schließt an dieser Stelle an die von Hegel formu‑ lierte Kritik an, nach der das Urteil über die Grenzen der Erkenntnis selbst nicht innerhalb der Grenzen dieser Erkenntnis verbleibt: „Es ist darum die größte Inkonsequenz, einerseits zuzugeben, daß der Verstand nur Erscheinun‑ gen erkennt, und andererseits dies Erkennen als etwas Absolutes zu behaupten, indem man sagt, das Erkennen könne nicht weiter, dies sei die natürliche, abso‑ lute Schranke des menschlichen Wissens.“428 Der immanente Widerspruch der kantischen Philosophie ist für Adorno insofern repressiv, als er die notwendige Beschränkung der Vernunft in ein Denkverbot verwandelt, das umso perfider ist, als es die Vernunft gegen sich selbst erlässt. Adornos eigene Position im Geflecht dieser wechselseitigen Kritiken ist pre‑ kär. Die Dynamik des Prozesses bringt es mit sich, dass er nicht einfach zwi‑ schen Kant und Hegel verbleiben kann, gleichsam einen Schritt über Kant hin‑ aus gehend aber zugleich noch einen Schritt vor Hegel verharrend. Dennoch muss Adorno an einer Beschränkung der Vernunft festhalten, will er nicht den Schritt zu Hegels Position machen. Sowohl Kants Block wie auch Hegels abso‑ lutes Wissen sind, wie Jarvis argumentiert hat, für Adorno unhaltbar, weil beide eine Liquidierung der Transzendenz nach sich ziehen.429 Kants Block schafft Transzendenz ab, indem er zwischen gültiger Erkenntnis und im schlechten Sinne spekulativer Erkenntnis eine scharfe Trennlinie zieht: rung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen.“ Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 644/B 672. 427 Adorno: Negative Dialektik, S.  377. 428 Hegel: Enzyklopädie I, S.  143, §  60 A. 429  Jarvis: „What Is Speculative Thinking?“, S.  76.

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Eine theoretische Erkenntnis ist spekulativ, wenn sie auf einen Gegenstand, oder solche Begriffe von einem Gegenstand geht, wozu man in keiner Erfahrung gelangen kann. Sie wird der Naturerkenntnis entgegengesetzt, welche auf keine andere Gegenstände oder Prädikate derselben geht, als die in einer möglichen Erfahrung gegeben werden kön‑ nen.430

Als eine in diesem Sinne spekulative Art der Erkenntnis ist bei Kant der Begriff der Metaphysik gedacht. Dadurch ist, wie Adorno feststellt, „bei Kant der Be‑ griff der Metaphysik vorweg bereits als ein problematischer Begriff gesetzt. Es ist dabei auch vorweg die Beziehung dieses Begriffs auf mögliche Erfahrung [. . .] starr abgeschnitten.“431 Die Herausforderung, die von Kants Block an Adornos Rettung der Metaphysik ergeht, besteht mithin darin, dass Kant a pri‑ ori die Erkenntnis der Transzendenz als ungültig konzipiert, weil sie nicht durch mögliche Erfahrung eingelöst werden kann. Dadurch wird Transzen‑ denz zwar nicht wirklich, aber zumindest virtuell abgeschafft, indem der Geist zur „Gefangenschaft in der Immanenz“ verdammt wird.432 Das absolute Wissen dagegen löst Transzendenz nicht bloß virtuell, sondern reell auf: „Indem Hegel [. . .] das Nichtidentische in die reine Identität auflöst, wird der Begriff Garant des nicht Begrifflichen, Transzendenz von der Immanenz des Geistes eingefan‑ gen und zu seiner Totalität sowohl wie abgeschafft.“433 In der Immanenz des absoluten Geistes wird das Transzendente zwar dem Geist einverleibt, ist aber gerade dadurch nicht mehr transzendent. Adornos Rettung der Transzendenz muss eine Bezugnahme auf das Transzen‑ dente erlauben, den kantschen Block gewissermaßen durchschlagen, dabei aber die Transzendenz als Transzendenz bestehen lassen und sie nicht dem Geist einverleiben. Sie muss zwischen dem emphatischem Anspruch und der notwen‑ digen Einschränkung der Vernunft vermitteln: Gegen Kants Selbstbeschrän‑ kung der Vernunft versucht Adorno einen emphatischen Vernunftbegriff zu vertreten, der immer noch vom Anspruch, das Absolute zu erkennen, beseelt ist, aber nicht mehr das hegelsche Vertrauen besitzt, dass die Vernunft des Ab‑ soluten mächtig ist. Die Differenz zu Kant besteht nun in dem, was Adorno die Achsendrehung der kopernikanischen Wende durch kritische Selbstreflexion nennt. Die kritische Selbstreflexion geht aus von der mit Hegel demonstrierten Inkonsequenz und Widersprüchlichkeit der Selbstbegrenzung der Vernunft. Die Achsendrehung läuft auf eine andere Art der Begrenzung der Vernunft hi‑ naus, die in bestimmter Hinsicht auch über Kant hinausgeht. Adornos Kritik der Vernunft verneint nicht bloß ihre Fähigkeit, des Absoluten habhaft zu wer‑ den, sondern auch die Möglichkeit, dass die Vernunft selbst ein absolutes Urteil über die Grenzen des Erkennens fällen kann. Sie ist nicht, wie bei Kant impli‑ 430 Kant:

Kritik der reinen Vernunft, A 634 f./B 662 f. Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  79. 432 Adorno: Negative Dialektik, S.  381. 433  Ebd., S.  394. 431 Adorno:

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ziert und bei Hegel ausgeführt, selbst das Absolute. So nimmt die Selbstein‑ schränkung der Vernunft nicht die Form einer absoluten Begrenzung der Ver‑ nunft durch die Vernunft ein, sondern die einer Reflexion der Vernunft auf ihre eigene Abhängigkeit von ihrem Anderen; sie gibt sich ihre Grenzen nicht selbst, sondern reflektiert auf die Grenzen, die ihr bereits gegeben sind durch ihre eige‑ ne Abhängigkeit von der Natur. Diese Reflexion sieht Adorno in Hölderlins Lyrik vorweggenommen. b.  Das Offene: Selbstreflexion des Geistes als Anamnesis ans Naturhafte Der Name Hölderlins taucht in den Meditationen nur an einer Stelle auf; der damit verbundene Gedankengang nimmt dennoch eine zentrale Stellung nicht bloß in der Metaphysik, sondern im gesamten Denken Adornos ein. Deutlich wird das am Begriff des Offenen, nach Adorno „Hölderlins Lieblingswort“,434 zugleich aber, wie Kreuzer hervorhebt, auch das Lieblingswort Adornos,435 mit dem Adorno Hölderlin gegen Kant und Hegel zugleich in Stellung bringt. Ich möchte zunächst die betreffende Passage außerhalb des Zusammenhanges zitie‑ ren, um den Begriff des Offenen näher zu skizzieren: Insofern ist der Kantische Block ein Schein, der am Geist lästert, was in den Hymnen des späten Hölderlin philosophisch der Philosophie voraus ist. Den Idealisten war das nicht fremd, aber das Offene geriet ihnen unter den gleichen Bann, der Kant zur Kontamina‑ tion von Erfahrung und Wissenschaft zwang. Während manche Regung des Idealismus ins Offene wollte, verfolgte er es in Ausdehnung des Kantischen Prinzips, und die Inhal‑ te wurden ihm unfreier noch als bei Kant.436

Das Offene steht zunächst für ein anderes Erkenntnisprinzip jenseits von Kant und Hegel. Dieses andere Erkenntnisprinzip ist das der Erfahrung, die als die subjektiven Konstitutionsleistungen übersteigender Erkenntnismodus für die Metaphysik als Denken über sich selbst hinaus, als Denken ins Offene, unmit‑ telbar relevant ist. In der fünften Meditation wird das implizit aufgegriffen: „Die Subjekte sind in sich, ihre ‚Konstitution‘ eingelassen: an Metaphysik ist es, darüber nachzudenken, wie weit sie gleichwohl über sich hinauszusehen ver‑ mögen.“437 Der Fehler nicht nur Kants, sondern auch der nachfolgenden Idealis‑ ten war, dass sie dieses Hinaussehen über die eigene Konstitution nur als Erwei‑ terung der Konstitutionsleistungen dachten. Kant hielt deren Grenzen für un‑ verrückbar; die Idealisten haben zwar die Grenze weiter nach außen verschoben, damit aber das Offene nicht erreicht, sondern es bloß den Konstitutionsleistun‑ 434 

Adorno: „Parataxis“, S.  488. Kreuzer, Johann: „Hölderlin. Parataxis“, in: Klein, Richard, Kreuzer, Johann und Mül‑ ler-Doohm, Stefan (Hgg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, S.  183–192, hier S.  189. 436 Adorno: Negative Dialektik, S.  381. 437  Ebd., S.  369. 435 

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

gen einverleibt und dabei das Offene als solches verfehlt. Das Offene aber be‑ zeichnet, wie Kreuzer betont, „den logischen Ort für das ‚Bewusstsein des nicht-identischen Objekt‘“.438 Es ist der Ort, an dem das Nichtidentische in sei‑ nen mannigfaltigen positiven Bestimmungen erfahrbar wird. Führt Adorno in der letzten Meditation das Nichtidentische mit dem Absoluten eng, so wird da‑ durch rückwirkend die Bedeutung des Offenen für Adornos Metaphysik be‑ tont: Das Offene ist auch der Ort, an dem das Absolute Zuflucht findet, es ist auch der logische Ort des Absoluten, weil dieser Ort jenseits der Konstitutions‑ leistungen der Subjekte liegt, doch nicht vollkommen von diesen getrennt ist. Voreilig wäre der Schluss, mit dem Offenen werde eine positive Erfahrung des Absoluten in Aussicht gestellt; metaphysische Erfahrung hält sich nur negativ. Sie besteht in der Erfahrung der Begrenztheit der eigenen Konstitutionsleistun‑ gen; das Offene ist der logische Raum, an dem sich – von dieser Erfahrung aus – Transzendenz denken lässt. Das Offene stellt weniger eine Lösung für die Probleme der Metaphysik dar, sondern formuliert eher das Problem nicht nur der Metaphysik Adornos son‑ dern der negativen Dialektik überhaupt: Wie kann Denken über sich selbst hin‑ ausdenken? Der als das Offene figurierte Ort ist bloß eine Antizipation. Als logischer Ort des Nichtidentischen steht das Offene für das, was sich dem iden‑ tifizierenden Denken systematisch entzieht. Gedacht werden kann das Offene nur in einer Selbstreflexion des Denkens, deren Resultat darin besteht, dass das Denken nicht länger versucht, das Offene zu identifizieren. Man sieht an dieser Stelle, wie die zentralen Probleme negativer Dialektik in den Meditationen zur Metaphysik in pointierter Form wiederkehren. Aber nicht nur deren Probleme. Mit der vom Offenen verlangten Selbstreflexion nimmt Adorno zugleich auch die zentrale These der Dialektik der Aufklärung wieder auf, nach der die ratio, die den Menschen aus dem Naturzustand hinausführen soll, in Naturverfallen‑ heit umschlägt. Die Selbstreflexion des Geistes soll deshalb nicht bloß dem Ge‑ danken des Offenen Raum gewähren, sondern muss zugleich auch den Geist aus seiner Naturbefangenheit lösen. Im Anschluss an Hölderlin denkt Adorno die Selbstreflexion der Vernunft als „Anamnesis der unterdrückten Natur“,439 als Wiedererinnerung der Naturverflochtenheit der Vernunft. Ich möchte hier nur zwei Stellen zitieren, die mir die Problemstellungen der Negativen Dialektik und der Dialektik der Aufklärung gleichermaßen aufzugreifen scheinen: Philosophisch ist die Anamnesis der unterdrückten Natur, in der Hölderlin bereits das Wilde vom Friedlichen sondern möchte, das Bewußtsein von Nichtidentität, das den Identitätszwang des Logos überflügelt.440

438 

Kreuzer: „Hölderlin. Parataxis“, S.  189. Adorno: „Parataxis“, S.  482. 440 Ebd. 439 

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Denn Entmythologisierung ist selber nichts anderes als die Selbstreflexion des solaren Logos, die der unterdrückten Natur zur Rückkunft verhilft, während sie in den Mythen eins war mit der unterdrückenden. Vom Mythos befreit einzig, was ihm das Seine gibt.441

Hetzel bemerkt, dass die immer schon durcheinander vermittelten Thesen einer Dialektik der Aufklärung und des identifizierenden Denkens im Begriff einer vollen Vernunft zusammenkommen: „Diese Vernunft wäre nicht länger um das Konzept der Selbsterhaltung zentriert, sondern um einen Begriff von Erfah‑ rung, in deren Vollzug das Subjekt vom Zwang der Selbsterhaltung ablassen kann.“442 Erfahrung und Befreiung vom Zwang der Selbsterhaltung als Ziele der von Adorno als negative Dialektik und Dialektik der Aufklärung vollzoge‑ nen Denkbewegungen verdanken sich derselben Operation: Die Selbstreflexion des Logos führt sowohl aus der Dialektik der Aufklärung wie auch aus dem Problem identifizierenden Denkens hinaus. Eine konkrete Form dieser Selbstreflexion sieht Adorno in Hölderlins Begriff des Genius vollzogen: „Genius aber ist Geist, sofern er durch Selbstreflexion sich selbst als Natur bestimmt. [. . .] Er wäre das Bewußtsein des nichtidenti‑ schen Objekts.“443 Wie der Begriff des Offenen einen bestimmten Ort antizi‑ piert, so nimmt der Begriff des Genius einen Geist vorweg, der durch Reflexion seiner eigenen Naturverflochtenheit innewird. Dadurch erreicht der Geist den Ausgang aus der Dialektik der Aufklärung und kommt zur Erfahrung des Nichtidentischen: „Der Genius, welcher den Kreislauf von Herrschaft und Na‑ tur ablöst, ist dieser nicht ganz unähnlich, sondern hat zu ihr jene Affinität, ohne welche, wie Platon wußte, Erfahrung des Anderen nicht möglich ist.“444 Genius und Offenes nehmen als utopische Begriffe die Versöhnung vorweg, auf die Adornos Denken abzielt. Sie sind als solche bloße Negativbilder der gegen‑ wärtigen Gestalt des Geistes, dem das mit ihnen Anvisierte nur unter dem Be‑ griff des Nichtidentischen erscheinen kann. Dennoch zeigen sie die logische Struktur an, in der sich die notwendige Selbstreflexion des Geistes vollziehen soll und daran lässt sich zeigen, wie diese Selbstreflexion dem repressivem Ges‑ tus einer Grenzsetzung im kantschen Sinne entkommt, ohne damit den Geist zum Absoluten aufzublähen. Mit der Reflexion auf die eigene Naturgebundenheit setzt sich der Geist nicht eine äußere Grenze, sondern wird einer ihm immer schon gesetzten Grenze inne. Geist ist mit Natur verflochten, weil er nur als Geist von Naturwesen und nicht losgelöst von diesen existiert. Adorno macht das unter anderem daran fest, dass in alle Bewusstseinstatsachen, wenn auch über viele Vermittlungen, ein somatisches Moment hineinspielt: 445 Die Grenze ist daher nicht willkürlich ge‑ 441 

Ebd., S.  486 f. Hetzel: „Dialektik der Aufklärung“, S.  393. 443  Adorno: „Parataxis“, S.  488. 444  Ebd., S.  490. 445  Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S.  202 ff. 442 

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setzt, sondern eine dem Geist durch seine Vermittlung durch Natur immanent gegebene. Durch die Reflexion auf diese Grenze enthält sich der Geist des Ver‑ suchs, das ihm Nichtidentische als sein eigenes Produkt zu identifizieren, ohne dass er es – wie die kantsche Vernunft – als ihm Jenseitiges von sich weist. Dieses zweite Moment ist zentral für den Gedankengang Adornos. Es wird in seiner Hölderlininterpretation durch einen dritten Begriff, den des Eigenen, ausge‑ drückt: Die Welt des Genius ist, mit Hölderlins Lieblingswort, das Offene und als solches das Vertraute, nicht länger Zugerüstete und dadurch Entfremdete: ‚So komm! daß wir das Offene schauen, / Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.‘ In jenem ‚Eigenen‘ birgt sich das Hegelsche Dabeisein des Subjekts, des Erhellenden; es ist keine urtümliche Heimat.446

Das Eigene bildet das Gegenmoment zur regressiven Demut Kants, die zwi‑ schen dem erkennenden Subjekt und dem Nichtidentischen eine so scharfe Grenze zieht, dass sie Transzendenz virtuell abschafft. Dagegen stellt Adorno das im Eigenen liegende hegelsche Moment des Dabeiseins des Subjekts heraus und stellt in der Selbstreflexion des Geistes auf seine Naturverflochtenheit die Verbindung von Erkenntnissubjekt und Nichtidentischem wieder her. Dieses Dabeisein des Subjekts darf, wie Kreuzer bemerkt, nicht wiederum „als Rück‑ führung des Vielen in die Einheit des Subjekts“ verstanden werden; 447 das wird jedoch bereits durch die Selbstreflexion des Geistes verbürgt, der in der Er‑ kenntnis seiner Vermittlung durch Natur zugleich der Versuchung widersteht, dieses Andere auf sich zurückzuführen. Das Dabeisein des Subjekts ist nicht die Identifikation des Anderen durch das Subjekt, sondern die notwendige Vermitt‑ lung durch das Subjekt. Offenes, metaphysische Erfahrung, Nichtidentisches sind nie ohne den Bezug aufs erkennende Subjekt gedacht und dieser Bezug wird mit dem Begriff des Eigenen ausgedrückt. Mit der Erweiterung des Begriff des Offenen um die Begriffe des Genius und des Eigenen können wir zur siebten Meditation zurückkehren. Dort bleibt das Offene unbestimmt, Genius und Eigenes werden nicht erwähnt. Dennoch ist ersichtlich, dass auch hier mit dem Offenen der Form nach dieselbe Selbstrefle‑ xion des Geistes anvisiert wird. Nur wird in den Meditationen die gesellschaft‑ liche Dimension der Selbstreflexion stärker betont, insofern die Auflösung des Blocks von einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse abhängt: Die Trennung von Sinnlichkeit und Verstand, der Nerv der Argumentation für den Block, ist ihrerseits gesellschaftliches Produkt; Sinnlichkeit wird durch den Chorismos als Opfer des Verstandes designiert, weil die Einrichtung der Welt, trotz aller entgegen‑ 446  Adorno: „Parataxis“, S.  488; Das Hölderlinzitat stammt aus der zweiten Fassung von „Brod und Wein“. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, hg. von Michael Knaupp, München 21992, S.  374. 447  Kreuzer: „Hölderlin. Parataxis“, S.  189.

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gesetzten Veranstaltungen, sie nicht befriedigt. Mit ihrer gesellschaftlichen Bedingung vermöchte wohl die Trennung einmal zu verschwinden.448

Die Selbstreflexion des Geistes hat unter den gegebenen gesellschaftlichen Ver‑ hältnissen bloß den Charakter einer Antizipation: „Wo Geist heut und hier selbständig wird, sobald er die Fesseln nennt, in welche er gerät, indem er ande‑ res in Fesseln schlägt, antezipiert er, und nicht die verstrickte Praxis, Frei‑ heit.“449 Die metaphysische Bedeutung des Freiheitsbegriffs lässt sich an dieser Stelle schärfer fassen: Es geht nicht bloß um Freiheit gegenüber heteronom auf‑ gezwängter Metaphysik, sondern um Freiheit von der Naturverfallenheit des Geistes, vom identifizierenden Denken, das alles auf sich reduziert und sich damit selbst in Fesseln schlägt. Die Freiheit vom naturverfallenen Denken kann der Geist nur in einer Reflexion auf seine Naturverflochtenheit erreichen. Die Naturverflochtenheit ist eine Bestimmung der Vernunft, ihr inhärent dialekti‑ scher Charakter: Vernunft ist mit Natur identisch und nichtidentisch, mit ihr verflochten und frei von ihr. Ihr Freiheitsmoment besteht im ephemeren Über‑ schuss über die Natur und die Naturhaftigkeit. Frei ist Geist, indem er über das bloß Seiende und damit auch über das bloß identifizierende Denken hinausgeht. In diesem Moment liegt die Bedeutung der Freiheit für die Metaphysik. Parado‑ xerweise ist es gerade der Versuch des Geistes, sich die Natur vollständig zu unterwerfen, der ihn des Freiheitsmoments beraubt. Als absoluter Geist verliert er seine vermittelte Nichtidentität mit dem bloß Seienden, der Natur, und ver‑ fällt gerade dadurch der Natur. Hutter hat diesen Gedankengang prägnant her‑ ausgestellt: Denn die kritisierte Verdrängung der eigenen Naturhaftigkeit bedeutet ja gerade eine schlechte Nähe zur Natur, in der das spezifisch geistige Moment, die Selbstreflexion, vom Geist selbst negiert worden ist, indem er sich der Natur unmittelbar entgegenge‑ setzt hat, ohne auf die fortbestehende Vermittlung zu ihr zu reflektieren. Die ‚Selbstbe‑ sinnung der Natur in den Subjekten führt somit nicht zurück zur Natur, sondern erst‑ mals über sie hinaus, weil sie das Freiheitsmoment der Selbstreflexion aus der unwahren Selbstgenügsamkeit eines nur scheinbar absoluten Geistes befreit.450

Erst das in der Selbstreflexion gewonnene Freiheitsmoment erlaubt es der Ver‑ nunft, Transzendenz zu denken, ohne sie abermals sich gleich zu machen und in sich aufzulösen. Indem der Geist in seiner Selbstreflexion seines Freiheitsmo‑ ments gewahr wird, nimmt er das Offene vorweg. Er denkt es als Raum, der seinen konstituierenden und identifizierenden Leistungen entrückt ist, weil er erkennt, dass er sich in diesen Leistungen nicht erschöpft. Dieses Moment des Offenen findet Adorno auch im Werk Kants, im mundus intelligibilis, welcher der achten Meditation den Titel gibt. 448 Adorno: 449 Ebd. 450 

Negative Dialektik, S.  382.

Hutter: „Adornos Meditationen zur Metaphysik“, S.  246.

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c.  Das Intelligible: Selbstnegation des endlichen Geistes Die achte Meditation geht vom Widerspruch zwischen dem kantschen Block und der positiven Metaphysik der praktischen Vernunft aus. Adorno rekonstru‑ iert zunächst das Intelligible als einen Begriff, der eine Aporie der kantschen Konzeption aufzeigt. Er setzt bei einem Zitat aus der Kritik der reinen Vernunft an: Wenn auch indessen allenfalls ein transzendentales Vermögen der Freiheit nachgegeben wird, um die Weltveränderungen anzufangen, so würde dieses Vermögen doch wenigs‑ tens nur außerhalb der Welt sein müssen, (wiewohl es immer eine kühne Anmaßung bleibt, außerhalb dem Inbegriffe aller möglichen Anschauungen, noch einen Gegenstand anzunehmen, der in keiner möglichen Wahrnehmung gegeben sein kann).451

Dass später dieses transzendentale Vermögen der Freiheit von Kant gefordert wird, ist nach Adorno ein Widerspruch, der aus der Problematik des Blocks stammt. Kant denkt ein transzendentales Vermögen der Freiheit, weil er eines denken muss, will er nicht, wie er in der Auflösung der kosmologischen Ideen ausführt, die Freiheit im praktischen Verständnis abschaffen: Gäbe es bloß die Naturkausalität, „so würde die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zu‑ gleich alle praktische Freiheit vertilgen“.452 Die theoretische Konstruktion des Blocks gerät in Widerspruch zur Intention Kants, Freiheit im praktischen Ver‑ ständnis denken zu können. Diesem Widerspruch versucht er durch die Konst‑ ruktion des Intelligiblen zu entgehen. Er bestimmt es über den Gegensatz zur Erscheinung: „Ich nenne dasjenige an einem Gegenstande der Sinne, was selbst nicht Erscheinung ist, intelligibel.“453 Das Intelligible ist eine gedankliche Kon‑ struktion desjenigen Moments des Gegenstandes, das nicht Phaenomenon, demnach Noumenon ist. Von diesem bloß Gedanklichen aber verbietet der Block positive Erkenntnis; dennoch soll es positiv bestimmt sein, nämlich als Vermögen der Freiheit. Diese Spannung führt zu einer aporetischen Konstruktion des Intelligiblen, insofern es unter Kants Prämissen nicht konsistent denkbar ist. Das Intelligible dürfte von Kant nur als völlig Unbestimmtes gedacht werden, als leeres Etwas; aber die Freiheit, die Kant um Gott und Unsterblichkeit zur Trias der metaphy‑ sischen Ideen erweitert, lässt sich nicht als leeres Etwas denken. Die metaphysi‑ schen Ideen Kants sind, wie Adorno sagt: „Postulate eines wie immer auch ge‑ arteten Seienden“.454 Das ist die Konsequenz von Kants scharfer Trennung von Phaenomenon und Noumenon: „Sobald das vom Seienden emphatisch geschie‑ dene Seinsollende als Reich eigenen Wesens statuiert und mit absoluter Autori‑ 451 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 451/B 479. Zitiert in: Adorno: Negative Dialektik, S.  383. 452 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 534/B 562. 453  Ebd., A 538/B 566. 454 Adorno: Negative Dialektik, S.  383.

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tät ausgestattet wird, nimmt es, wäre es auch ungewollt, durchs Verfahren den Charakter eines zweiten Daseins an. Der Gedanke, der kein Etwas denkt, ist keiner.“455 Durch die absolute Trennung des Intelligiblen von der Empirie schlägt es in Positivität um und wird zu einem gleichsam Realen, das im Wider‑ spruch steht zu seiner bloß gedanklichen Verfassung. Hutter fasst diese Apore‑ tik des Intelligiblen prägnant zusammen: „Die transzendentalen Ideen besitzen einen immanenten Zug, auf Wirkliches zu verweisen, obwohl Kants Begriff des Intelligiblen es zugleich ausschließen muß, daß ihnen irgendeine empirische Wirklichkeit entsprechen könnte.“456 Das ist die eine Seite der aporetischen Ver‑ fassung des Intelligiblen. Auf der anderen Seite kann das Intelligible auch nicht einfach als bloß vom Subjekt Gedachtes konstruiert werden. In der Konzeption des Intelligiblen als bloß Denkbarem liegt die Schwierigkeit, dass es, wenn es als bloß subjektiv Gedachtes ohne ein Moment der nicht subjektiv gesetzten Ob‑ jektivität gedacht wird, kein Transzendentes mehr wäre: „Das Intelligible wür‑ de verschlungen von eben jenem Subjekt, das von der intelligiblen Sphäre transzendiert werden sollte.“457 Die beiden Momente machen die Aporie des Intelligiblen aus: „Der Begriff des Intelligibeln ist weder einer von Realem noch einer von Imaginärem. Vielmehr aporetisch.“458 Aus den Gliedern der Aporie lassen sich die Momente ableiten, die Adorno mit seiner Aneignung des Begriffs des Intelligiblen berücksichtigen muss. Einerseits darf das Intelligible als Nou‑ menon nicht vollständig von der Welt der Erscheinungen getrennt werden, da es sich sonst zu einem Dasein eigener Art positiviert; andererseits darf das Intelli‑ gible nicht vollständig auf das Subjekt zurückgeführt werden, sondern muss ein Moment der Nichtidentität enthalten, das im Subjekt nicht ganz aufgeht. Die Rettung des Intelligiblen, die Adorno ausgehend von diesen Momenten versucht, folgt abermals dem Muster einer teilweisen Hegelianisierung Kants, deren Fluchtpunkt darin besteht, den transzendentalen Schein Kants in eine hegelisch gedachte Erscheinung eines als Wesen gedachten Objektiven zu trans‑ formieren. Zunächst markiert Adorno mit Kant und Hegel die beiden Pole, zwi‑ schen denen das Intelligible konsistent denkbar bleiben soll: „Das Intelligible wäre, im Geist der Kantischen Grenzsetzung nicht weniger als der Hegelschen Methode, diese zu überschreiten, einzig negativ zu denken.“459 Die hegelsche Methode wäre die bestimmte Negation, die aber im Geiste der kantschen Gren‑ ze, nicht zugleich positive Negation wäre. Das Intelligible negativ zu denken, heißt es als die bestimmte Negation der sich selbst begrenzenden Vernunft zu denken, ohne dass darum diese Begrenzung übersprungen wäre. An dieser Stel‑ le darf diese Selbstbegrenzung freilich nicht mehr kantisch, sondern bloß noch 455 

Ebd., S.  383 f. Hutter: „Adornos Meditationen zur Metaphysik“, S.  247. 457 Adorno: Negative Dialektik, S.  384. 458 Ebd. 459 Ebd. 456 

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im Geiste Kants gedacht werden: als Selbstreflexion des Geistes auf seine Natur‑ verflochtenheit. So zeigt sich das Intelligible als das Offene in anderer Be‑ stimmtheit; aber in dieser geht es über das im Begriff des Offenen Enthaltene hinaus. War das Offene gedankliches Konstrukt des Jenseits des identifizieren‑ den Denkens, so soll das Intelligible dessen Erscheinung innerhalb des identifi‑ zierenden Denkens sein: „Paradox wäre die von Kant visierte intelligible Sphäre abermals ‚Erscheinung‘: was das dem endlichen Geist Verborgene diesem zu‑ kehrt, was er zu denken gezwungen ist und vermöge der eigenen Endlichkeit deformiert.“460 Bei Kant ist das Intelligible gerade das am Gegenstand, was nicht Erscheinung ist; bei Adorno soll es abermals dazu werden. Dabei konstruiert er das Intelligible nicht als bloß subjektiv Erdachtes, sondern als Erscheinung eines Objektiven. Adorno wendet auf das Intelligible als Produkt der kantschen Tren‑ nung von Phaenomenon und Noumenon diese Trennung abermals an und schlägt das Intelligible auf die Seite des Phaenomenon. Erscheinung meint hier nicht sinnliche Erscheinung; das Intelligible als Erscheinung ist bloß noumena‑ ler Gehalt. Aber es ist ein durch die Kategorien des identifizierenden Denkens verfälschter Gehalt. Was über die Kategorien des endlichen Denkens hinaus‑ geht, kann innerhalb dieser Kategorien nur verstellt erscheinen. Das Intelligible ist diese defizitäre Erscheinung des Unendlichen im endlichen Denken. Mit dieser Transformation entgeht Adorno der Aporetik des kantschen Intel‑ ligiblen. Indem er das Intelligible als Erscheinung transzendenter Gehalte denkt, vermag er es inhaltlich zu denken, als Freiheit, Unsterblichkeit und das Absolute, ohne dass der anschauliche Zug dieser Ideen in Widerspruch zu ihrem bloß noumenalen Charakter gerät. Gegen Kant bringt er vor, dass die Ideen von Gott, Unsterblichkeit und Freiheit Anschaulichkeit verlangen, um irgendwie denkbar zu sein: „Es bedarf einer ‚Materie‘ und hinge bei Kant vollends von jener Anschauung ab, deren Möglichkeit er von den transzendenten Ideen aus‑ schließt.“461 Adorno umgeht diese Aporie, indem er das Intelligible zur Erschei‑ nung im Denken macht und es so möglich macht, die Ideen anschaulich zu den‑ ken unter dem Vorbehalt, dass das die Ideen denkende Denken ein endliches Denken ist und so notwendig die Transzendenz, die es denkt, verformt. Dabei geht diese Transformation des Intelligiblen von einem Noumenalen zur Er‑ scheinung des Noumenalen von mindestens zwei Prämissen aus, die Adorno in Folge einzulösen versucht: 1) der Geist ist gezwungen, das Intelligible zu den‑ ken; 2) als Erscheinung ist das Intelligible Erscheinung eines Objektiven. Die Notwendigkeit, das Intelligible zu denken, führt Adorno auf eine Varia‑ tion der Ausgangssituation der Kritik der reinen Vernunft zurück. Bereits der erste Satz der Vorrede zur ersten Auflage formuliert diese Notwendigkeit:

460 Ebd. 461 

Ebd., S.  383.

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Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.462

Von der kantschen Begründung dieser Notwendigkeit, nach der die Vernunft dazu getrieben wird, zu jeder Reihe von Bedingungen ein Unbedingtes zu su‑ chen, ist Adorno nicht mehr überzeugt. Er hat diese Annahme als Grundlage der prima philosophia in der Einleitung der Metakritik der Erkenntniskritik eingehend kritisiert.463 Dennoch lokalisiert auch er, wie Hutter betont, den Grund des transzendierenden Impulses in der Immanenz selbst.464 Die Not‑ wendigkeit denkt er negativ: als von der Selbstnegation des Geistes verlangte Notwendigkeit, das zu denken, was den Geist übersteigt: „Der Begriff des In‑ telligibeln ist die Selbstnegation des endlichen Geistes. Im Geist wird, was bloß ist, seines Mangels inne; Abschied vom in sich verstockten Dasein ist der Ur‑ sprung dessen am Geist, worin er sich sondert von dem naturbeherrschenden Prinzip in ihm.“465 Adorno erweitert an dieser Stelle beinahe unmerklich den Gedanken der Selbstreflexion des Geistes aus der vorigen Meditation um den einer Selbstnegation des Geistes. Die Selbstreflexion lässt den Geist seines eige‑ nen Naturgrundes inne werden und bewahrt ihn vor der Hybris, sich absolut zu setzen – er wird seiner selbst gewahr als endlicher Geist; die Selbstnegation da‑ gegen nötigt den endlichen Geist, über die ihm gegebenen Grenzen hinauszu‑ tasten. Während die Selbstreflexion einstweilen dem Niemandsland in Form des Offenen Raum gewährt als Ort, der vom identifizierenden Denken nicht er‑ reicht wird, ist die Selbstnegation des Geistes eine bestimmte Negation der Sphäre des identifizierenden Denkens. Der Negation liegt der Gedanke zugrun‑ de, in dem metaphysische Erfahrung besteht: Ist das denn alles?466 In der Erfah‑ rung der negativen Antwort – das kann nicht alles sein – findet Adorno die Notwendigkeit, das Intelligible zu denken: „Um Geist zu sein, muß er wissen, daß er in dem, woran er reicht, nicht sich erschöpft; nicht in der Endlichkeit, der er gleicht. Darum denkt er, was ihm entrückt wäre.“467 In diesem Gedanken‑ gang sind Selbstreflexion und Selbstnegation des Geistes auf komplexe Weise miteinander verwoben. Die Selbstreflexion des Geistes sollte dem Geist unter anderem zeigen, dass er als identifizierendes Denken nicht an alles heranreicht: Das Offene bleibt seinem Zugriff entzogen. Identifizierend gedacht ist der Geist 462 Kant:

Kritik der reinen Vernunft, S.  5, A VII. Adorno: Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  12–47. Vgl. auch die Stelle in der Kantvorlesung, wo Adorno zu dieser Einleitung meint: „Was dort mit Hinblick auf moderne Philosophie gesagt ist, gilt allerdings auch in bezug auf den Kantischen Ansatz, von dem wir eben reden.“ Adorno: Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  85. 464  Vgl. Hutter: „Adornos Meditationen zur Metaphysik“, S.  248. 465 Adorno: Negative Dialektik, S.  384. 466  Vgl. Ebd., S.  368. 467  Ebd., S.  385. 463 Vgl.

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sowohl bei Kant, der ihm willkürlich eine Grenze vorschiebt, wie auch bei He‑ gel, der diese Grenze überschreitet; bei Adorno bleibt Geist nicht als bloß iden‑ tifizierendes Denken bestehen. In der Selbstreflexion ist mit der Möglichkeit der Erfahrung zugleich auch ein umfassenderer Geist gedacht. Hier schließt der Gedanke der Selbstnegation an, in dem Adorno stillschweigend zwei verschie‑ dene Geistbegriffe voraussetzt: einen reduzierten und einen emphatischen. Der emphatische Geist muss, um Geist zu sein, wissen, dass er sich nicht erschöpft im identifizierenden Denken des reduzierten Geistbegriffes. Die Selbstreflexion ermöglicht die Einsicht, dass der Geist als identifizierender Geist nicht an alles heranreicht; umgekehrt geht die Selbstnegation vom Gedanken aus, dass das, woran der Geist heranreicht, nicht alles sein kann. Diese Einsicht ist ihm aber nicht durch Erkenntnis verbürgt, sondern durch die metaphysische Erfahrung, wie Adorno im anschließenden Satz ausführt: „Solche metaphysische Erfah‑ rung inspiriert Kants Philosophie, bricht man sie einmal aus dem Panzer der Methode heraus.“468 In der metaphysischen Erfahrung, der Erfahrung, dass die Immanenz nicht alles sein kann, liegt für den Geist die Notwendigkeit, über die Immanenz hinauszudenken, indem er sie bestimmt negiert. In dieser Konstruktion des Intelligiblen besteht für Adorno das Nachdenken über die Möglichkeit der Metaphysik: „Die Erwägung, ob Metaphysik über‑ haupt noch möglich sei, muß die von der Endlichkeit erheischte Negation des Endlichen reflektieren. Ihr Rätselbild beseelt das Wort intelligibel.“469 Soll aber das Intelligible der Möglichkeit von Metaphysik Zuflucht gewähren, so darf es nicht bloß eine subjektive Konstruktion sein, sondern muss ein Moment der Objektivität besitzen. Einen ersten Schritt dazu hat Adorno bereits mit der Transformation des Intelligiblen in eine Erscheinung geleistet. Als Selbstnegati‑ on des endlichen Geistes bleibt das Intelligible an diesen gekettet. Geist denkt zwar, was ihm entrückt ist, aber er denkt es immer noch als endlicher Geist und deformiert es. So ist das Intelligible nicht selbst das Entrückte, nicht die Transzendenz, sondern bloß deren Erscheinung in der Immanenz. Impliziert wird eine Verbindung zwischen der Transzendenz und ihrer Erscheinung in der Immanenz. Das Intelligible als Erscheinung kann für die Möglichkeit der Me‑ taphysik bloß einstehen, wenn es in Beziehung auf ein Objektives gedacht wird, das darin erscheint. Der Gedanke erreicht seinen Scheitelpunkt in der elften Meditation, an deren Ende Adorno verkündet: „Im Schein verspricht sich das Scheinlose.“470 In der achten Meditation begnügt er sich damit, ein objektives Moment in der Konstruktion des Intelligiblen nachzuweisen. Seine Konzeption ist nicht durchaus unmotiviert dank jenes Moments von Selbständig‑ keit, das der Geist durch seine Verabsolutierung einbüßte und das er als auch seinerseits 468 Ebd. 469 Ebd. 470 

Ebd., S.  397.

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mit dem Seienden nicht Identisches erlangt, sobald auf dem Nichtidentischen bestanden, nicht alles Seiende in Geist verflüchtigt wird. Geist hat, bei all seinen Vermittlungen, an dem Dasein teil, das seine vorgebliche transzendentale Reinheit substituierte. Im Mo‑ ment transzendenter Objektivität an ihm, so wenig es abzuspalten und zu ontologisieren ist, hat die Möglichkeit von Metaphysik ihre unauffällige Stätte.471

Schlüssel zu dieser Passage ist der Begriff der „Selbständigkeit“. In Bezug auf den Geist taucht der Begriff bereits am Ende der siebten Meditation auf: „Das Moment von Selbständigkeit, Irreduktibilität am Geist dürfte wohl zum Vor‑ rang des Objekts stimmen.“472 Dieses Moment wurde als die Selbstreflexion des Geistes beschrieben, durch die er sich in der Vermittlung durch Natur seiner Nichtidentität mit Natur bewusst wird. Der absolute Geist verliert das Moment der Selbständigkeit, weil er das Moment zum Ganzen macht und seine Vermitt‑ lung durch Natur leugnet. So bleibt er vollkommen in ihr gefangen. Das Mo‑ ment der Irreduktibilität des Geistes bezeichnet Adorno als ein Moment transzendenter Objektivität: transzendent, weil das Moment der Selbstständig‑ keit über die Naturbefangenheit und die Konstitution der Subjekte hinausgeht; Objektivität, weil es sich nicht einem subjektiven Überfliegen, sondern dem Vorrang des Objekts verdankt, dem Bestehen auf dem Nichtidentischen. Das Moment der Selbständigkeit motiviert die Konstruktion des Intelligiblen, in‑ dem der Geist in der Selbstreflexion nicht nur seiner Vermittlung durch Natur, sondern auch seiner Nichtidentität mit ihr gewahr wird. Die Erkenntnis, dass er auch mehr ist als bloße Natur, treibt ihn dazu, über diese hinauszugehen. Die objektive Motivation der Konstruktion verbürgt nicht die Existenz oder die Wahrheit des Intelligiblen, dessen ontologischen Status Adorno nochmals zusammenfasst: „Der Begriff des intelligiblen Bereichs wäre der von etwas, was nicht ist und doch nicht nur nicht ist.“473 Mit dieser prekären Figur ver‑ sucht Adorno, der Aporetik des Intelligiblen zu entkommen: Indem er das In‑ telligible zu einer Erscheinung macht, trennt er es nicht vollständig von der Immanenz und das Intelligible nimmt nicht den Charakter eines zweiten Da‑ seins an. Zugleich enthält das Intelligible durch das objektive Moment, das sei‑ ne Konstruktion motiviert, ein Moment der Nichtidentität und kann deshalb nicht vollständig auf das Subjekt zurückgeführt werden. Bemerkenswert ist auch in dieser Formulierung die außerordentliche Vorsicht, mit der Adorno die Möglichkeit des Intelligiblen anführt. Die Zurückhaltung bringt die prekäre Verfassung der Argumentation zum Ausdruck: „Nirgends sonst ist Wahrheit so fragil wie hier.“474 Adorno versucht in Folge, die Fragilität dieses Gedankens an zwei nahelie‑ genden Interpretationen auszuführen, in welche die Konstruktion des Intelli‑ 471 

Ebd., S.  385. Ebd., S.  382. 473  Ebd., S.  385. 474 Ebd. 472 

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giblen leicht umzuschlagen droht. Die erste ist die des ontologischen Gottesbe‑ weises, der „Hypostase eines grundlos Erdachten“; 475 die zweite die der positi‑ ven Negation. Beide gehen fehl: Weder lässt sich aus dem Begriff des Intelligiblen dessen Sein ableiten, noch verbürgt die Negation des Endlichen die Existenz des Unendlichen. „Auch im Äußersten ist Negation der Negation kei‑ ne Positivität.“476 Die Negation des Endlichen ist bloß bestimmte, nicht positive Negation, und was sie leistet ist nicht eine Rettung der Metaphysik, sondern sie eröffnet ihr eine Zufluchtsstätte. Die Differenz zu Hegel und Kant markiert Adorno am Schluss der achten Meditation mit dem Gedanken einer Selbstrefle‑ xion des Scheins: Kant hat die transzendentale Dialektik eine Logik des Scheins genannt: die Lehre von den Widersprüchen, in die jegliche Behandlung von Transzendentem als einem positiv Erkennbaren zwangsläufig sich verwickle. Sein Verdikt ist nicht überholt von Hegels Anstrengung, die Logik des Scheins als die der Wahrheit zu vindizieren. Aber mit dem Verdikt über den Schein bricht die Reflexion nicht ab. Seiner selbst bewußt, ist er nicht mehr der alte.477

Zunächst grenzt sich Adorno deutlich von Hegels Versuch ab, die Logik des Scheins zur Logik der Wahrheit zu machen, indem der Schein zur Scheingestalt des Wesens erklärt wird.478 Die Abgrenzung gegen Kant verläuft weniger klar und Adorno stützt sich trotz seiner Kritik auf hegelsche Überlegungen zum Verhältnis von Schein und Wesen. Gegen Kant bringt er die Reflexion über den Schein ins Spiel, die als weiteres Moment der von Adorno anvisierten kritischen Selbstreflexion der kopernikanischen Wende verstanden werden kann. Bei Kant ist der Schein ein bloß negativer Begriff, insofern der Schein keinen zu rettenden Wahrheitsgehalt besitzt. Kant grenzt ihn sowohl von der Wahrscheinlichkeit, in der noch die Möglichkeit der Wahrheit liegt, wie auch von der Erscheinung ab, die selbst auf ein hinter ihr liegendes Objektives verweist. Schein wird vielmehr als Gegenbegriff zur Wahrheit verstanden und beide Begriffe werden von Kant bloß in Beziehung auf Urteile, nicht auf Gegenstände angewendet.479 Schein ist in dieser Hinsicht bloß subjektiver Schein, insofern er mit Notwendigkeit der Natur der subjektiven Vernunft entspringt: Der transzendentale Schein dagegen hört gleichwohl nicht auf, ob man ihn schon aufge‑ deckt und seine Nichtigkeit durch die transzendentale Kritik deutlich eingesehen hat. [. . .] Die Ursache hiervon ist diese: daß in unserer Vernunft (subjektiv als ein menschli‑ ches Erkenntnisvermögen betrachtet) Grundregeln und Maximen ihres Gebrauchs lie‑ gen, welche gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze haben, und wodurch es ge‑ schieht, daß die subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe, 475 Ebd. 476 Ebd. 477 

Ebd., S.  385 f. Vgl. das erste Kapitel der Wesenslogik, „Der Schein“, in: Hegel: Logik II, S.  17–35. 479 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 293/B 349 f. 478 

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zu Gunsten des Verstandes, für eine objektive Notwendigkeit, der Bestimmung der Din‑ ge an sich selbst, gehalten wird.480

In zweifacher Hinsicht kann der Schein nicht als Vehikel der Wahrheit dienen: Er ist sowohl der Wahrheit diametral entgegengesetzt als auch ein bloß subjek‑ tiver Schein ohne Beziehung auf eine in ihm erscheinende Objektivität. Gerade diese Momente aber scheint Adorno für den Schein zu reklamieren, wenn er sagt: „Was von endlichen Wesen über Transzendenz gesagt wird, ist deren Schein, jedoch, wie Kant wohl gewahrte, ein notwendiger.“481 Das Entscheiden‑ de liegt an dieser Stelle in Nuancen. Aus der subjektiven Notwendigkeit des Scheins macht Adorno eine objektive, indem er den subjektiven Schein zum Schein der Transzendenz, zu ihrer Erscheinung macht. Damit ist implizit ein Wahrheitsmoment im Schein enthalten, das gerettet werden kann, woran denn auch der Schlusssatz der achten Meditation anschließt: „Daher hat die Rettung des Scheins, Gegenstand der Ästhetik, ihre unvergleichliche metaphysische Re‑ levanz.“482 Die Rettung des Scheins könnte keine metaphysische Relevanz ha‑ ben, wenn im Schein selbst nicht metaphysische Wahrheit mitgedacht wäre; ei‑ nen im strengen Sinne kantischen Schein zu retten, hätte keinen Sinn. Deshalb muss die kritische Selbstreflexion der kopernikanischen Wende über Kants Scheinbegriff hinausgehen, indem sie ihn zum Selbstbewusstsein bringt.

III.  An den Grenzen der Dialektik Adorno führt die Reflexion an dieser Stelle nicht aus, weil er sie, so meine The‑ se, erst in der elften Meditation, die dem „Schein des Anderen“ gewidmet ist, aufgreift und erst in der zwölften zum Abschluss bringen kann. Sie erfolgt dort in Form einer Reflexion auf den ontologischen Gottesbeweis. Die neunte und die zehnte Meditation behandeln abermals, dem Rhythmus der Meditationen, diesem beständigen Hin und Her zwischen Entmythologisierung und Rettung, folgend, den Prozess der Entmythologisierung, diesmal aber im Hinblick auf den Umschlag der Entmythologisierung in den Mythos (a); die elfte behandelt vor dem Hintergrund des Umschlags den Versuch, Transzendenz als Hoffnung zu denken (b); die zwölfte und letzte Meditation schließt den Gedankengang der Negativen Dialektik mit einer Selbstreflexion der Dialektik ab (c). a.  Entmythologisierung und Metaphysik In der neunten und zehnten Meditation wird die Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik abermals verschärft und aufs Äußerste zugespitzt. Während die 480 

Ebd., A 297/B 353. Negative Dialektik, S.  386. 482 Ebd. 481 Adorno:

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neunte Meditation das Phänomen einer Neutralisierung der metaphysischen Fragen und die Rettung der Metaphysik in geschichtsphilosophischer Perspek‑ tive behandelt, zeigt sich in der zehnten Meditation, dass die größte Herausfor‑ derung für die Metaphysik vom geschichtlichen Prozess der Aufklärung aus‑ geht: Die fortschreitende Entmythologisierung vollendet den Sturz der Meta‑ physik. Angesichts der objektiven Gewalt dieses Prozesses, aber auch aufgrund seiner grundsätzlich positiven Einschätzung der Aufklärung verbietet sich Adorno eine Rettung der Metaphysik, die hinter den einmal erreichten Aufklä‑ rungsstand zurückgeht. Deshalb zeichnet er den Entmythologisierungsprozess in seinen Folgen für die Möglichkeit der Metaphysik nach und spricht am Ende bloß von Solidarität und nicht von Rettung. Bei aller Treue zur Aufklärung gibt es jedoch einen Punkt, an dem Adorno ihr die Gefolgschaft versagt: da, wo sie die Idee der Wahrheit selbst abschaffen will. Wahrheit ist die „oberste“ unter den metaphysischen Ideen; mit ihr fällt auch die Metaphysik, gar das Denken selbst.483 Diese Abkehr von der Aufklä‑ rung ist aber zugleich der Punkt, an dem die Aufklärung hinter sich selbst zu‑ rückfällt und in den Mythos umschlägt. Die Kritik an diesem Umschlag, The‑ ma der Dialektik der Aufklärung, steht nicht bloß im Zeichen eines positiven Begriffs der Aufklärung,484 sondern dient auch der Aufrechterhaltung einer schwachen metaphysischen Hoffnung. Schwach ist sie, weil Adorno erst am Punkt, an dem sie die Idee der Wahrheit abschaffen will, sich kritisch gegen die Aufklärung wendet; alles, was die Aufklärung noch im Namen der Idee der Wahrheit vollzieht, ohne sie abzuschaffen, gilt als legitimer Akt der Entmytho‑ logisierung. Die Möglichkeit der Metaphysik hat sich angesichts fortschreiten‑ der Aufklärung in die vielleicht letzte Bastion zurückgezogen; es ist dieser mi‑ nimale Rest, dem Adornos Solidarität gilt. Die Neutralisierung der metaphysischen Fragen ist die Folge einer bürgerli‑ chen Vulgarisierung Kants, an der die Struktur der kantischen Philosophie nicht unschuldig ist. In den Antinomien Kants, der Unentschiedenheit zwi‑ schen Zermalmung der Metaphysik und ihrer Rettung aus praktischer Ver‑ nunft, zeigt sich die bürgerliche ratio in philosophischer Gestalt: Die antinomische Struktur der Kantischen Lehre, welche die Auflösung der Antinomien überlebt, kann grob in eine Anweisung ans Denken übersetzt werden, müßiger Fragen sich zu enthalten. Sie überhöht die vulgäre Gestalt bürgerlicher Skepsis, deren Solidität es ernst ist nur mit dem, was man sicher in Händen hält. Von solcher Gesinnung war Kant nicht durchaus frei.485

Die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit bezeichnet Adorno ironisch als „Zuschuß, auf den das Bürgertum so ungern verzichtet wie auf seinen Sonn‑ 483 

Ebd., S.  394. Vgl. Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S.  16. 485 Adorno: Negative Dialektik, S.  386. 484 

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tag, die Parodie der Freiheit von Arbeit“. Kants Rettung der Möglichkeit von Metaphysik ist eine unverbindliche Dreingabe; sie stört den täglichen Betrieb nicht und veredelt doch das Leben. Adorno nennt es „das Moment unverbindli‑ cher Konzilianz im Rigorismus“. Dieses fügt sich einer allgemeinen „Tendenz zur Neutralisierung alles Geistigen“ ein, die in der Neutralisierung der Meta‑ physik terminiert.486 Die Neutralisierung besteht weder in der Beantwortung der metaphysischen Fragen noch im Nachweis ihrer Unbeantwortbarkeit, son‑ dern in der „Gleichgültigkeit des Bewußtseins gegen die metaphysischen Fra‑ gen“.487 Die Gründe dafür sind objektiver und subjektiver Natur: „Es ver‑ schwindet, was den Menschen in höchst unideologischem Verstande das Dring‑ lichste sein müßte; objektiv ist es problematisch geworden; subjektiv vergönnt das soziale Gespinst und die permanente Überforderung durch den Druck zur Anpassung ihnen weder Zeit noch Kraft mehr, darüber nachzudenken.“488 Auf‑ fällig, aber nicht überraschend ist, dass diese Gründe bei näherer Betrachtung beide objektiver, nämlich gesellschaftlich-geschichtlicher Natur sind.489 Denn die objektive Problematik der Metaphysik, die Schwierigkeit, Transzendenz überhaupt noch zu denken, verdankt sich dem gesellschaftlich-geschichtlichen Prozess der Entmythologisierung; die subjektive Problematik, dass den Subjek‑ ten keine Zeit und Kraft mehr bleibt, die Schwierigkeiten, die das Denken der Transzendenz stellt, auf sich zu nehmen, hat selbst objektive, gesellschaftliche Gründe. In Folge verteidigt Adorno die geschichtliche Gewordenheit – und das impliziert auch immer: Veränderbarkeit – dieser Gleichgültigkeit gegen Schopenhauer und Heidegger, die diese Gleichgültigkeit zu einer anthropologi‑ schen Tatsache gemacht haben: „Der Mangel an metaphysischem Sinn wird bei‑ den zum Metaphysikum.“490 Im Lichte dieser Prämissen ist es nur konsequent, wenn Adorno die Möglichkeit einer Rettung der Metaphysik in einer ge‑ schichtsphilosophischen Perspektive versucht, indem er sie von der Einrichtung einer von Not und Leiden befreiten Gesellschaft abhängig macht. Diese Form der Rettung stellt nicht die von der negativen Dialektik inten‑ dierte Solidarität mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes dar; wäre dem so, würde die Reflexion an dieser Stelle abbrechen. Die metaphysische Spe‑ kulation hat sich zwar mit der geschichtsphilosophischen Spekulation „vereint“, wie Adorno in dieser Meditation sagt,491 aber sie ist nicht in ihr aufgegangen. In 486 Ebd. 487 

Ebd., S.  388. Ebd., S.  387. 489  Darin geht er über Kant selbst hinaus, der bereits von einer erkünstelten Gleichgültig‑ keit gegenüber den metaphysischen Fragen spricht. Kant führt diese Gleichgültigkeit aus‑ schließlich auf den objektiven Prozess der Aufklärung zurück, wenn er sie als „Wirkung nicht des Leichtsinns, sondern der gereiften Urteilskraft des Zeitalters“ interpretiert. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A XI. 490 Adorno: Negative Dialektik, S.  389. 491  Ebd., S.  390. 488 

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

ihrer Vereinigung bleiben die beiden immer noch verschieden. Metaphysische Spekulation, die Frage nach der Möglichkeit von Transzendenz, bleibt gegen‑ über der geschichtsphilosophischen Spekulation, der Frage nach einer Zukunft ohne Lebensnot, das primäre Anliegen der Meditationen, auch wenn sie sich bloß in ihrer Vermittlung durch die geschichtsphilosophische Spekulation er‑ halten kann, wie im letzten Satz der neunten Meditation anklingt: „Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles.“492 Die geschichtsphiloso‑ phische Perspektive einer gesellschaftlichen Utopie hält auch hier die Möglich‑ keit in der Gegenwart offen: die Möglichkeit der Transzendenz als die Möglich‑ keit dessen, was mehr ist als das Seiende. Die Möglichkeiten metaphysischer Spekulation sind, wie überhaupt die Möglichkeit des Besseren, beim autonomen Individuum aufgehoben. Zwar sind die Gründe für die Neutralisierung der me‑ taphysischen Fragen und damit auch der Metaphysik gesellschaftlicher Art und letztlich deshalb auch nur gesellschaftlich zu überwinden; im autonomen Indi‑ viduum jedoch findet die metaphysische Spekulation ihre einstweilige Zu‑ fluchtsstätte: „Das Ich muß geschichtlich erstarkt sein, um über die Unmittel‑ barkeit des Realitätsprinzips hinaus die Idee dessen zu konzipieren, was mehr ist als das Seiende.“493 Die Herausforderungen, die von der Neutralisierung für die Möglichkeit der Metaphysik ausgehen, sind daher primär als Herausforde‑ rungen an das subjektive Bewusstsein zu verstehen, das angesichts der Über‑ macht der Neutralisierung an der Möglichkeit der Metaphysik festhalten will. Die objektive Problematik des Aufklärungsprozesses wird im zehnten Ab‑ schnitt entfaltet. Dessen Titel, „Nur ein Gleichnis“, verweist auf ein vorder‑ gründig theologisches Problem: dass die religiösen Lehren weder wörtlich ge‑ nommen werden können noch als bloßes Gleichnis gelesen werden dürfen: Wer Transzendenz dingfest macht, dem kann mit Recht, so wie von Karl Kraus, Phanta‑ sielosigkeit, Geistfeindschaft und in dieser Verrat an der Transzendenz vorgeworfen werden. Ist dagegen die sei’s noch so ferne und schwache Möglichkeit von Einlösung im Seienden ganz abgeschnitten, so würde der Geist zur Illusion, schließlich das endliche, bedingte, bloß seiende Subjekt als Träger von Geist vergottet.494

Adorno führt diese „Paradoxie des Transzendenten“ auf die „Trennung von Leib und Seele“ zurück, die „ideologische Unwahrheit in der Konzeption von Transzendenz“.495 Metaphysische Hoffnung kann es nur in Verbindung mit dem Leib geben; Auferstehung ist als Leibliche zu denken. Die Vergeistigung metaphysischer Wahrheit, von Gott und Unsterblichkeit, war eine Folge des fortschreitenden Aufklärungsprozesses, von Raumfahrt und neuer Kosmolo‑ gie. Deshalb ist die dogmatische Theologie, die unbekümmert um den Stand der 492 

Ebd., S.  391. Ebd., S.  389. 494  Ebd., S.  392. 495  Ebd., S.  392 f. 493 

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naturwissenschaftlichen Erkenntnis „die Erweckung der Seelen mit der Aufer‑ stehung des Fleisches zusammendachte, [. . .] metaphysisch folgerechter, wenn man will: aufgeklärter als die spekulative Metaphysik“.496 Darin bekundet sich für Adorno die Dialektik der Aufklärung in der Metaphysik, der Beginn des Umschlags der Aufklärung in den Mythos. Aufgeklärter ist die Theologie, weil sie die metaphysische Wahrheit in Bezug auf das Seiende, die Materialität denkt, während die spekulative Metaphysik in der Vergeistigung der metaphysischen Ideen den Bezug zur Immanenz verloren hat.497 War die Metaphysik gegenüber der Theologie bereits ein Stück Aufklärung, so wendet sich die Aufklärung nun gegen die Metaphysik. Adorno verbindet diesen Gedanken mit der Idee der me‑ taphysischen Wahrheit: Damit indessen [dem Gedanken einer leibhaften Auferstehung, d. Verf.] wachsen die Zumutungen metaphysischer Spekulation unerträglich an. Erkenntnis neigt sich tief auf die Seite der absoluten Sterblichkeit, dem ihr Unerträglichen, vor dem sie sich zum abso‑ lut Gleichgültigen wird. Dazu treibt die Idee von Wahrheit, unter den metaphysischen die oberste. Wer an Gott glaubt, kann deshalb an ihn nicht glauben.498

Der Entmythologisierungsprozess tendiert zur Abschaffung der metaphysi‑ schen Ideen von Gott und Unsterblichkeit im Namen obersten metaphysischen Idee, der von Wahrheit. Subtil deutet sich eine Akzentverschiebung gegenüber der metaphysischen Tradition an, in der Gott die oberste metaphysische Idee war, an der alle anderen hingen. Die Paradoxie, wer an Gott glaubt, darf deshalb nicht an ihn glauben, bezeichnet diese Akzentverschiebung von Gott zur Idee der Wahrheit. Die Bewegung ist zugleich der endgültige Abschied von einer affirmativen Konzeption von Transzendenz. Metaphysik kann nur noch negativ gedacht werden: „Hoffnung auch nur zu denken, frevelt an ihr und arbeitet ihr entgegen.“499 Damit erreicht die Entmythologisierung ihren Umschlagspunkt: „So tief ist die Geschichte der metaphysischen Wahrheit eingesenkt, die um‑ sonst Geschichte verleugnet, die fortschreitende Entmythologisierung. Diese jedoch frißt sich auf wie die mythischen Götter mit Vorliebe ihre Kinder. Indem sie nichts übrigläßt als das bloß Seiende, schlägt sie in den Mythos zurück.“500 Während die Abschaffung des Gottesbegriffes noch im Namen der Wahrheit geschieht, schlägt die Entmythologisierung mit der Abschaffung der Wahrheit in den Mythos zurück. Adorno spricht diesen Umschlag erst in der elften Me‑ 496 

Ebd., S.  393. Wer dem Argumentationsgang der Meditation folgt, wird sich schwerlich der Interpre‑ tation von Bozzetti anschließen können, der diese Passage als Versuch Adornos interpretiert, zur christlichen Tradition zurückzukehren. Vgl. Bozzetti: Hegel und Adorno, S.  128. Die Theologie kann sich ihre metaphysische Konsequenz nur leisten, weil sie eben Theologie ist und nicht Metaphysik. 498 Adorno: Negative Dialektik, S.  393 f. 499  Ebd., S.  394. 500 Ebd. 497 

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ditation explizit an: „Noch die Idee der Wahrheit wird geopfert, um deretwillen der Positivismus initiiert ward.“501 Die Figur der Abschaffung der Wahrheit im Namen der Wahrheit bezeichnet den eigentlichen Kern der Dialektik der Auf‑ klärung, den Punkt, an dem die Aufklärung sich gegen sich selbst kehrt und sich zugleich vollendet und abschafft: vollendet, weil es sich um nur die konsequen‑ te Durchführung des Prinzips der Aufklärung handelt; abschafft, weil damit das, in dessen Namen die Aufklärung vollzogen wurde, aufgelöst wird. In aller Deutlichkeit wird diese Figur von Nietzsche formuliert, auf den sich Adorno an dieser Stelle nicht beruft. Als Aufklärer über die Aufklärung ist Nietzsche in der Dialektik der Aufklärung ein wichtiger Bezugspunkt. Sein Verdienst bestehe darin, den Widerspruch, den die Dialektik der Aufklärung enthält, herausgestellt zu haben.502 Der unbedingte Wille zur Wahrheit erfor‑ dert zunächst die Abschaffung Gottes, so dass der Atheismus selbst nur als die logische Konsequenz des christlichen Strebens nach Wahrhaftigkeit erscheint. Nietzsche führt das in Zur Genealogie der Moral aus: Der unbedingt redliche Atheismus ( – und seine Luft allein athmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters!) steht demgemäss nicht im Gegensatz zu jenem Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine seiner letzten Entwicklungsphasen, eine seiner Schlussformen und inneren Folgerichtigkeit, – er ist die Ehrfurcht gebietende Ka‑ tastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet.503

Der aufgeklärte Atheismus ist nur die neueste Form des asketischen Ideals, das die Gefahr des Nihilismus abwenden soll. Nietzsche sieht, dass der Aufklä‑ rungsprozess hier nicht haltmacht und sich schlussendlich gegen sich wendet; im Gegensatz zu Adorno sieht er darin jedoch nicht einen Rückfall, sondern vielmehr eine Befreiung vom Joch des asketischen Ideals, eine Befreiung, welche die Grundlage einer Umwertung aller Werte bildet. Insofern er an einem Rest metaphysischer Transzendenz noch festhalten will, kann Adorno „den stärks‑ ten Schluss“ der Wahrheit, den gegen Wahrheit selbst,504 nicht mitmachen; des‑ halb sind die Meditation nicht bloß eine Auseinandersetzung mit Kant und He‑ gel, sondern auch ein verstecktes Ringen mit Nietzsche. In der Bejahung der Figur einer Infragestellung der Wahrheit durch die Wahrheit selbst zeigt sich Nietzsche als der konsequenteste Kritiker der Metaphysik. Für Adorno stellt sich diese Konsequenz als Rückfall dar: An der Aufklärung festhalten heißt, sie dort gegen sich selbst in Schutz zu nehmen, wo sie sich gegen die Idee der Wahr‑ heit und damit gegen sich selbst richtet. Besteht Adorno auf dem Wahrheitsge‑ halt der kantschen Inkonsequenz im Festhalten am Ding an sich, so weitet er in 501 

Ebd., S.  395.

502 Adorno/Horkheimer:

Dialektik der Aufklärung, S.  135 f. Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, S.  409. 504  Ebd., S.  410. 503 Nietzsche:

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der Kantvorlesung den Wahrheitsgehalt der Inkonsequenz auf den Prozess der Aufklärung aus: Das heißt, daß überhaupt nur, wenn es gelingt, inmitten der fortschreitenden Bewegung der Aufklärung deren eigenen Sinn, nämlich die Idee der Wahrheit festzuhalten; wenn also inmitten der dialektischen Bewegung, der diese Begriffe unterliegen, diese Begriffe, wie wir es heute ausdrücken, zugleich festgehalten werden, – daß nur dann eigentlich diese Bewegung selbst zu ihrer Ehre kommt.505

Die nietzscheanische Konsequenz terminiert dagegen in einer Furie des Ver‑ schwindens, so „daß also wirklich überhaupt jeder Begriff von Wahrheit sich auflöst und daß dann am Ende nichts anderes übrigbleibt als die blinde Herr‑ schaft des bloß Seienden“.506 Adorno greift diese Formulierung implizit auf, wenn er am Schluss der zehnten Meditation die Stellung der Metaphysik zur Dialektik der Aufklärung reflektiert: „Indem sie [die Aufklärung, d. Verf.] nichts übrigläßt als das bloß Seiende, schlägt sie in den Mythos zurück. Denn er ist nichts anderes als der geschlossene Immanenzzusammenhang dessen, was ist. In diesen Widerspruch hat heute Metaphysik sich zusammengezogen.“507 Metaphysik und Aufklärung kreisen um den kleinen Rest Transzendenz, der in der Idee der Wahrheit liegt. Tendiert aber die Aufklärung zur Liquidation me‑ taphysischer Transzendenz, so kommen Metaphysik und Aufklärung nur im Widerspruch zusammen. Der Widerspruch, dass die Orientierung an der Wahr‑ heit zur Abschaffung der Idee der Wahrheit zwingt, ist unauflösbar: „Dem Denken, das versucht, ihn zu beseitigen, droht Unwahrheit hier und dort.“508 Hier, weil das Festhalten an metaphysischer Wahrheit der Aufklärung eine Grenze setzt; dort, weil die Beseitigung metaphysischer Wahrheit die Aufhe‑ bung der Aufklärung selbst ist. Die elfte Meditation kann als Versuch gelesen werden, vor dem Hintergrund dieses Widerspruchs ein Moment der Transzen‑ denz zu denken, das sich weder hier noch dort der Unwahrheit preisgibt. b.  Der ontologische Gottesbeweis In der elften Meditation werden zentrale Momente der Meditationen erneut ver‑ handelt. Die sich ergebende Konstellation ist keine Lösung des Problems der Metaphysik, stellt aber insofern einen vorläufigen Abschlusspunkt dar, als die negative Dialektik und die Negative Dialektik nicht über sie hinausführen. Den Gedankengang der zehnten Meditation aufnehmend beginnt Adorno mit einer abermaligen Zuspitzung der Frage nach der Metaphysik:

505 Adorno:

Kants „Kritik der reinen Vernunft“, S.  181. Ebd., S.  182. 507 Adorno: Negative Dialektik, S.  394. 508 Ebd. 506 

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

Die Frage nach der Metaphysik schärft sich zu der, ob dies ganz Dünne, Abstrakte, Un‑ bestimmte deren letzte und bereits verlorene Verteidigungsposition sei, oder ob Meta‑ physik allein im Geringsten und Schäbigsten überlebt, im Stand vollendeter Unschein‑ barkeit die selbstherrliche und widerstandslos, reflexionslos ihr Geschäft besorgende Vernunft zur Vernunft bringt.509

Der winzige Punkt, auf den sich die Metaphysik zurückgezogen hat, ist der Umschlagspunkt der Dialektik von Aufklärung und Metaphysik; nur ist nicht entschieden, wie dieser Umschlag stattfinden wird: ob der Aufklärungsprozess letztlich auch noch diese letzte Bastion zerstört und sich damit selbst auffrisst, oder ob von diesem Punkt her die Aufklärung, wie es die Formel will, über sich selbst aufgeklärt werden kann. Metaphysik und Aufklärung sind ineinander verflochten: Nicht bloß ist Metaphysik das Opfer der Aufklärung und Aufklä‑ rung der Schrecken der Metaphysik, sondern in der Metaphysik liegt auch die Möglichkeit der Aufklärung über die Aufklärung ebenso wie die Aufklärung die Metaphysik von ihrem affirmativen Wesen heilt. Der letzte Ort der Meta‑ physik wird jenseits der Dialektik lokalisiert: „Je mehr an Transzendenz danach durch Aufklärung in der Welt und im Geist zerfällt, desto mehr wird sie zum Verborgenen, wie wenn sie in einer äußersten Spitze über allen Vermittlungen sich konzentrierte.“510 Im folgenden Argumentationsgang versucht Adorno in äußerster Gedrängtheit diese Transzendenz jenseits der Vermittlungen plausi‑ bel zu machen. Dabei spitzt er den Gedanken der Metaphysik dahingehend zu, dass im emphatischen Sinne noch keine Metaphysik war und sie erst zu erschaf‑ fen wäre. Die gegenwärtige Form der Metaphysik ist Hoffnung auf die Entste‑ hung der positiven Metaphysik, eigentlich bloß Antizipation der Metaphysik, der bloße Gedanke, dass es anders sein könnte. Es wird deutlich, dass Adorno zwar in der Tat eine „negative Metaphysik“ betreibt, aber trotz aller Kritik an affirmativer Metaphysik in geschichtsphilosophischer Perspektive an einem po‑ sitiven Begriff der Metaphysik orientiert ist. Die affirmative Metaphysik be‑ hauptete die Vernünftigkeit des Seienden; stets geriet sie in Widerspruch zur unvernünftigen Verfassung des Seienden. Die von Adorno anvisierte positive Metaphysik hätte diesen Widerspruch nicht mehr zu fürchten, weil sie in der Tat die Metaphysik der vernünftig verfassten Ordnung des Seienden wäre. Ge‑ genwärtig aber kann diese utopische Ordnung und damit auch die positive Me‑ taphysik nur antizipiert werden und zwar in Gestalt negativer Metaphysik. Die negative Metaphysik gründet in der widersprüchlichen Verfassung der aufklärenden Vernunft: Was von Entmythologisierung nicht getroffen würde, ohne apologetisch sich zur Verfü‑ gung zu stellen, wäre kein Argument – dessen Sphäre ist die antinomische schlechthin – sondern die Erfahrung, daß der Gedanke, der sich nicht enthauptet, in Transzendenz 509  510 

Ebd., S.  394 f. Ebd., S.  394.

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mündet, bis zur Idee einer Verfassung der Welt, in der nicht nur bestehendes Leid abge‑ schafft, sondern noch das unwiderruflich vergangene widerrufen wäre.511

Metaphysik kann nicht mehr in der Sphäre des Arguments verhandelt werden; Argumente bedienen sich des identifizierenden Denkens, dem es unmöglich ist, Transzendenz zu denken. Metaphysik hält sich nur noch jenseits der Immanenz des identifizierenden Denkens. Der sich nicht enthauptende Gedanke ist der Gedanke negativer Dialektik; indem er die Immanenz als widersprüchlich und brüchig denkt, denkt er über sie hinaus. Er denkt hin bis zu einer Erlösung, die hier nicht mehr nur nüchtern materialistisch gedacht ist, als Abschaffung beste‑ henden Leidens, sondern auch ein zutiefst utopisches, ja messianisches Moment hat: die Widerrufung vergangenen Leidens, die anders als durch göttlichen Ein‑ fall gar nicht gedacht werden kann. Adorno macht Metaphysik zwar nicht vom Messias abhängig, aber wenn metaphysische Hoffnung überhaupt sich erhält, dann ist dem Inhalt des Hoffens gleichsam keine Grenze gesetzt; so kann auch auf die Widerrufung vergangenen Leidens gehofft werden. Hoffnung heftet sich an die Unmöglichkeit absoluter Verzweiflung. Was Adorno in der siebten Me‑ ditation über Kant sagt, gilt für ihn nicht minder: „Das Geheimnis seiner Phi‑ losophie ist die Unausdenkbarkeit der Verzweiflung.“512 In der elften Medita­ tion zeigt sich die Unausdenkbarkeit dergestalt, dass Adorno die These von der absoluten Geschlossenheit der Welt, die ihm oft untergeschoben wurde, kriti‑ siert und explizit verwirft: Der verstörte und beschädigte Weltlauf ist, wie bei Kafka, inkommensurabel auch dem Sinn seiner reinen Sinnlosigkeit und Blindheit, nicht stringent zu konstruieren nach de‑ ren Prinzip. Er widerstreitet dem Versuch verzweifelten Bewußtseins, Verzweiflung als Absolutes zu setzen. Nicht absolut geschlossen ist der Weltlauf, auch nicht die absolute Verzweiflung; diese ist vielmehr seine Geschlossenheit.513

Weil die lückenlose Konstruktion der Welt als sinnloser nicht gelingt, scheint die Hoffnung auf, dass sie nicht sinnlos ist: so das Argument. Behauptet wird zunächst einzig dieses Negative: dass das Seiende nicht geschlossen nach dem Gesetz der Identität konstruiert werden kann, sondern dass immer eine Lücke, ein Nichtidentisches bleibt. „So hinfällig in ihm alle Spuren des Anderen sind; so sehr alles Glück durch seine Widerruflichkeit entstellt ist, das Seiende wird doch in den Brüchen, welche die Identität Lügen strafen, durchsetzt von den stets wieder gebrochenen Versprechungen jenes Anderen.“514 Der Ausdruck „Versprechungen“ verweist bereits auf das Ende der Meditation, wo sich das Scheinlose im Schein verspricht.515 Die Figur einer Versprechung des Anderen 511 

Ebd., S.  395. Ebd., S.  378. 513  Ebd., S.  395 f. 514  Ebd., S.  396. 515  Ebd., S.  397. 512 

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

ist zu beziehen auf Adornos Aneignung des Intelligiblen, seinen begrifflich aus‑ gefeiltesten Versuch, die Präsenz der Transzendenz in der Immanenz zu den‑ ken. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Brüche, welche die Identität Lügen strafen, verstehen als die Versprechungen der Möglichkeit der Transzendenz. Damit ist die in der zwölften Meditation vorgenommene Bestimmung des Nichtidentischen als des Absoluten bereits in Aussicht gestellt. Freilich ist es ein nicht unbedeutender Schritt von der negativen Einsicht in die Unhaltbarkeit der Identitätsthese zum Begriff des Absoluten. Adorno kon‑ struiert diesen Übergang im Rückgriff auf den ontologischen Gottesbeweis. „Der Begriff ist nicht wirklich, wie es dem ontologischen Beweis beliebte, aber er könnte nicht gedacht werden, wenn nicht in der Sache etwas zu ihm dräng‑ te.“516 Der Begriff, um den es im ontologischen Gottesbeweis geht, ist der des Absoluten; Hegel glaubte dessen Wirklichkeit im Durchgang durch die Totali‑ tät des Denkbaren beweisen zu können. Das ist der negativen Dialektik verbaut; dennoch hält Adorno den ontologischen Gottesbeweis für „das Zentrum der philosophischen Besinnung“.517 In der Negativen Dialektik kommt die eminen‑ te Bedeutung des ontologischen Gottesbeweises vordergründig kaum zum Ausdruck, aber im Gespräch mit Bloch muss Adorno über die Bedeutung des Beweises Rechenschaft ablegen:   Adorno: Darf ich noch ein Wort sagen? Wir sind ja merkwürdig nahe herangekom‑ men an den ontologischen Gottesweis, Ernst . . . Bloch: Das überrascht mich! Adorno: . . . denn in dem, was du sagst, steckt ja drin, daß wir den Begriff von dem, was du mit Brecht genannt hast – Etwas fehlt – eigentlich gar nicht haben können, wenn es nicht Fermente, Keime dessen, was dieser Begriff eigentlich besagt, gäbe. Eigentlich würde ich denken, daß, wenn es nicht irgendeine Spur von Wahrheit an dem ontologischen Gottesbeweis gibt, d. h., daß in der Gewalt des Begriffs selber auch das Moment seiner Wirklichkeit schon mitbeteiligt ist, es nicht nur keine Utopie geben könnte, sondern daß es dann kein Denken geben könnte.518

Der Rückgriff auf den ontologischen Gottesbeweis geschieht mithin unter ne‑ gativistischen Vorzeichen: Die Wirklichkeit des Absoluten wird nicht aus dem Begriff des Absoluten gesetzt, sondern aus der Unmöglichkeit die Wirklichkeit als das Absolute zu denken, entsteht Raum für die Hoffnung auf die Möglich‑ keit des Absoluten. Eine Stelle aus der Vorlesung über Probleme der Moralphilosophie stützt diese Interpretation, da Adorno dort den Gedanken der Unaus‑ denkbarkeit der Verzweiflung mit dem ontologischen Gottesbeweis engführt. Er versucht, auf den Vorwurf zu antworten, Kants Philosophie lasse keine Hoffnung zu:

516 

Ebd., S.  396. Philosophische Terminologie 1, S.  98. 518  Adorno/Bloch: „Etwas fehlt . . .“, S.  74. 517 Adorno:

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Dieses Moment hat natürlich eine ungeheure Wahrheit, nämlich das Ungewisse, das in dem Begriff der Hoffnung tatsächlich steckt. Aber er antwortet nun darauf, und das ist die Haltung, die er mit Beethoven etwa gemeinsam hat: diese Hölle, als die wir das irdi‑ sche Leben erkennen müssen, die kann nicht alles sein; es liegt irgendwie in der Natur des Menschen selber so etwas wie ein Versprechen, daß das nicht alles sei und daß es doch etwas anderes geben müsse. In dieser Weise, würde ich sagen, lebt bei Kant der ontologische Gottesbeweis, den er selbst vernichtend kritisiert hat, denn doch schließ‑ lich noch nach.519

In Gestalt der Unausdenkbarkeit der Verzweiflung überlebt der ontologische Gottesbeweis auch noch bei Adorno. Kants vernichtende Kritik des ontologi‑ schen Gottesbeweises wies nach, dass der Begriff des ens necessarium nicht Ge‑ genstand eines entscheidbaren Urteils sein kann; 520 indem Hegel die Urteilslo‑ gik überstieg, setzte er sich über Kants Einwand hinweg und ließ den ontologi‑ schen Gottesbeweis im Begriff der sich selbst zur Wirklichkeit bestimmenden absoluten Idee wieder auferstehen; die negative Dialektik beweist die Unmög‑ lichkeit, das Wirkliche als das Absolute und das Absolute als verwirklicht zu denken. So ist sie einerseits Kritik an Hegels Restitution des ontologischen Got‑ tesbeweises; andererseits rettet sie gerade dadurch den Begriff eines Absoluten, das mehr ist als die Totalität der Wirklichkeit. Problematisch an Adornos Versuch, aus der Unmöglichkeit der Verzweiflung und der Sehnsucht auf ein Absolutes auf dieses zu schließen, ist, dass er in den Minima Moralia dieses Vorgehen als Verwechslung von Hoffnung und Wahr‑ heit kritisiert hat: „Nietzsche hat im Antichrist das stärkste Argument nicht bloß gegen die Theologie, sondern auch gegen die Metaphysik ausgesprochen: daß Hoffnung mit Wahrheit verwechselt werde; daß die Unmöglichkeit, ohne ein Absolutes zu denken, glücklich zu leben oder überhaupt nur zu leben, nicht für die Legitimität jenes Gedankens zeuge.“521 Adornos These aber unterschei‑ det sich in einem wesentlichen Punkt von der von Nietzsche kritisierten Schluss‑ form. Denn aus der Sehnsucht wird explizit nicht die Existenz des Ersehnten deduziert, sondern bloß die Denkbarkeit. Damit wird Nietzsche nicht wider‑ legt, aber Metaphysik so transformiert, dass sie seinem Einwand nicht mehr erliegt. In den Minima Moralia kritisiert Adorno, dass Nietzsches amor fati ebenso die Wahrheit verfehlt, weil er in eine bloße Bejahung des Daseienden mündet. Gegen Nietzsche versucht er daher Hoffnung als Erscheinung der Wahrheit zu vindizieren: Am Ende ist Hoffnung, wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indem sie diese negiert, die einzige Gestalt, in der Wahrheit erscheint. Ohne Hoffnung wäre die Idee der Wahr‑

519 Adorno:

Probleme der Moralphilosophie, S.  224. Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 600/B 628–A 602/B 630. 521 Adorno: Minima Moralia, S.  109; vgl. Nietzsche, Friedrich: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum, KSA 6, S.  165–254, hier S.  229 f. 520 

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heit kaum nur zu denken, und es ist die kardinale Unwahrheit, das als schlecht erkannte Dasein für die Wahrheit auszugeben, nur weil es einmal erkannt ward.522

Die Differenz zu der von Nietzsche kritisierten Metaphysik und deren Fehl‑ schluss besteht darin, dass nicht positive Metaphysik aus der Hoffnung gefol‑ gert wird, sondern dass Hoffnung bereits Metaphysik ist, zumindest die einzig mögliche Gestalt der Metaphysik, nämlich negative Metaphysik. Im emphati‑ schen Sinne war Metaphysik noch gar nicht, wie Adorno in der elften Meditati‑ on weiterfährt: „Nicht zwar vermag Metaphysik aufzuerstehen – der Begriff der Auferstehung gehört Geschöpfen, keinem Geschaffenen, und ist bei geisti‑ gen Gebilden Index ihrer Unwahrheit –, vielleicht aber entsteht sie erst mit der Realisierung des in ihrem Zeichen Gedachten.“523 Das ist die vielleicht expo‑ nierteste von Adornos Thesen zur Metaphysik: Alles was in der Tradition als Metaphysik galt, wird als unwahr zurückgewiesen und doch wird am anderen Extrem das in der Metaphysik Gedachte, mithin das Absolute als die vernünfti‑ ge Ordnung alles Seienden, als Mögliches in Aussicht gestellt. So radikal sie scheint, so ist die These doch nur die Konklusion aus den Prämissen, auf denen Adornos Solidarität mit der Metaphysik ruht. Als Denken über sich selbst hin‑ aus ins Offene ist Metaphysik dem Begriff der Hoffnung wahlverwandt; die Transmutation von Metaphysik und Geschichte kehrt dergestalt wieder, dass Metaphysik abhängig gemacht wird von der geschichtlichen Verwirklichung dessen, was in ihr gedacht wird. Metaphysik, so wie sie einzig noch möglich ist, existiert bloß noch in der Gestalt der metaphysischen Hoffnung. Die Metaphy‑ sik antwortet nicht mehr auf die Frage: Was kann ich wissen?, sondern Meta‑ physik kreist jetzt um die Frage, die bei Kant der Religionsphilosophie zuge‑ ordnet war: Was darf ich hoffen? In dieser Form der Metaphysik wird der Wunsch zum Vater des Gedankens, insofern die metaphysische Hoffnung einen bewussten Willensakt voraussetzt: „Untilgbar am Widerstand gegen die fungible Welt des Tauschs ist der des Au‑ ges, das nicht will, daß die Farben der Welt zunichte werden.“524 Metaphysische Hoffnung hält sich negativ im Widerstand gegen die Welt, wie sie ist, und der Widerstand selbst hängt am Subjekt, das nicht will, dass alles hoffnungslos sei. Über dieses Willensmoment in der metaphysischen Hoffnung führt die Negative Dialektik scheinbar nicht hinaus; sie endet mit einer Reflexion auf den Wunsch. Nur schwer kann man sich des Eindrucks erwehren, Adorno lasse hier alle dialektische Vorsicht und Vereidigung auf Negativität fahren und gebe ei‑ nem persönlichen Impuls nach, wie er ihn in einem Traumprotokoll festhält: „Ich träumte, daß ich von der metaphysischen Hoffnung nicht ablassen mag, gar nicht, weil ich so sehr am Leben hinge, sondern weil ich mit G. erwachen möch‑ 522 Adorno:

Minima Moralia, S.  110. Negative Dialektik, S.  396. 524  Ebd., S.  396 f., Hervorh. d. Verf. 523 Adorno:

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te.“525 Man würde es sich jedoch zu leicht machen, Adornos Festhalten an der metaphysischen Hoffnung als Spleen abzutun. Die Hoffnung mag, wie Adorno gegenüber Thomas Mann bekundete, seinem Naturell eher entsprochen haben, jedoch betont er auch, dass er sich eine Askese gegen die unmittelbare Aussage des Positiven auferlegt habe. Im Sinne dieser Askese versucht die letzte Medita‑ tion, metaphysische Hoffnung noch vor der Dialektik zu rechtfertigen, denn diese ist in der Tat, wie Hutter sagt, „die Selbstdisziplinierung des Adornoschen Denkens“.526 c.  Negative Dialektik und das Absolute Die letzte Meditation gilt nicht bloß dem Gedankengang der Meditationen, son‑ dern dem der Negativen Dialektik im Ganzen. Das Konzept der negativen Di‑ alektik findet an dieser Stelle seinen Abschluss; gleich dem letzten Kapitel der Phänomenologie des Geistes wird, den Argumentationsgang des gesamten Werks im Hinterkopf, auf den Begriff des Absoluten reflektiert. Die Stellung zum Absoluten ist in negativer Dialektik allerdings ungleich ambivalenter als in ihrem hegelschen Vorbild. Das Absolute ist nicht bloß ihr Telos, sondern zu‑ gleich ihre Versuchung und ihr Fluch; diese Ambivalenz qualifiziert sie eigent‑ lich erst im nachdrücklichen Sinn als negative. Will sie Dialektik bleiben, so muss sie am Absoluten festhalten, ohne ihm zu erliegen. Das geht nur in einer Selbstreflexion der Dialektik, die der letzten Meditation ihren Namen gibt. Hutter hat auf die außerordentliche Schwierigkeit hingewiesen, diesen Gedan‑ ken zu fassen: Beim genauen Lesen der Meditationen gewinnt man den Eindruck, daß Adorno hier das mit ‚Selbstreflexion‘ bezeichnete Zentrum seines Denkens nicht eigentlich begreift, son‑ dern nur beschreibt, allerdings sehr genau beschreibt. Der nachvollziehende Gedanke darf deshalb die Beschreibung nicht schon für das Begreifen nehmen; vielmehr muß er sie als Aufforderung verstehen, das in verschiedenen Anläufen Umschriebene versuchs‑ weise auf den Begriff zu bringen.527

In diesem Sinne bietet sich ein Vergleich mit der hegelschen Dialektik an, um den Gedanken der Selbstreflexion der Dialektik zu fassen. Denn mit der Selbstreflexion will Adorno am Gehalt der hegelschen Dialektik, dem Absolu‑ ten, jenseits der idealistischen Fiktion, das Denken sei selbst das Absolute, fest‑ halten. Diese Absicht Adornos kommt bereits im einleitenden Satz der letzten Me‑ ditation zum Ausdruck: „Zu fragen ist, ob Metaphysik, als Wissen vom Abso‑ luten, überhaupt möglich sei ohne die Konstruktion absoluten Wissens, jenen 525  Adorno: Traumprotokoll vom 16.6.1960, zitiert nach: Müller-Doohm: Adorno. Eine Biographie, S.  98 f. 526  Hutter: „Adornos Meditationen zur Metaphysik“, S.  250. 527  Ebd., S.  252.

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Idealismus, der dem letzten Kapitel der Hegelschen Phänomenologie den Titel leiht.“528 Die in den Meditationen schon oft transformierte Frage nach der Mög‑ lichkeit von Metaphysik ist in letzter Instanz die Frage nach der Möglichkeit nicht-idealistischer Metaphysik. Hegel erscheint als Maßstab und Warnung zu‑ gleich. Angesichts dieses doppelten Bezuges endet die Frage nach der Möglich‑ keit von Metaphysik in einer Aporie: Obwohl sie [die Dialektik, d. Verf.] das Absolute denkt, bleibt es, als von ihr Vermittel‑ tes, dem bedingten Denken hörig. War das Hegelsche Absolute Säkularisation der Gott‑ heit, so eben doch deren Säkularisation; als Totalität des Geistes blieb jenes Absolute gekettet an ihr endlich menschliches Modell. Tastet aber der Gedanke, im ungeschmä‑ lerten Bewußtsein dessen, derart über sich hinaus, daß er das Andere ein ihm schlecht‑ hin Inkommensurables nennt, das er doch denkt, so findet er nirgends Schutz als in der dogmatischen Tradition. Denken ist in solchem Gedanken zu seinem Gehalt fremd, un‑ versöhnt, und findet sich aufs neue zu zweierlei Wahrheit verurteilt, die mit der Idee des Wahren unvereinbar wäre.529

Von den drei hier verworfenen Auswegen ist in Folge für Adorno vor allem der hegelsche von Interesse; denn Hegels Lösung, den Geist selbst als das Absolute zu fassen, ist von der unbefriedigenden Alternative eines durch das Denken ver‑ mittelten Absoluten einerseits und eines unmittelbaren Absoluten andererseits motiviert. Die Problematik des hegelschen Ansatzes ist für Adorno nicht bloß darin zu suchen, dass, wie er an dieser Stelle sagt, das Absolute als Totalität des Geistes noch an ein menschliches Modell gekettet ist. Folgenschwerer ist, dass die Gleichsetzung des Denkens mit dem Absoluten nicht eine hegelsche idée fixe ist, sondern im Konzept der Dialektik selbst liegt. Dialektik tendiert durch ihr inneres Bewegungsgesetz dazu, sich zum Absoluten auszuweiten. Dieser der Dialektik immanente Zug zur eigenen Totalisierung und damit zur eigenen Positivierung ist das, was die Notwendigkeit einer Selbstreflexion der Dialektik zeitigt. Mithin ist die Selbstreflexion nicht bloß der Versuch, „ohne Erschlei‑ chung“ aus der Aporie des Absoluten hinauszuführen, sondern auch ein integ‑ rales Moment der negativen Dialektik – ein Moment, ohne das sie nicht gedacht werden kann. Die Tendenz, selbst zum Absoluten umzuschlagen und sich selbst als Positi‑ ves zu setzen ist der Dialektik immanent, weil er aus ihrem negativen Moment folgt: „Die Kritik an allem Partikularen, das sich absolut setzt, ist die am Schat‑ ten von Absolutheit über ihr selbst, daran, daß auch sie, entgegen ihrem Zug, im Medium des Begriffs verbleiben muß.“530 Crux der Dialektik ist, dass sie ihrer eigenen negativen Bewegung, der Kritik an allem Partikularen, das sich absolut setzt, nur entkommt, indem sie sich absolut setzt und nicht mehr als Partikula‑ res erscheint. So schlägt ihr eigenes negatives Moment um ins Positive. Negative 528 Adorno: 529 Ebd. 530 

Negative Dialektik, S.  397.

Ebd., S.  397 f.

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Dialektik ist negativ, insofern sich ihr negatives Moment gegenüber dem Um‑ schlag ins Positive erhält. Die Selbstreflexion, die das bewerkstelligen soll, er‑ folgt aber selbst noch im Geiste der Dialektik: „Sie [die Dialektik, d. Verf.] zer‑ stört den Identitätsanspruch, indem sie ihn prüfend honoriert. Darum reicht sie nur so weit wie dieser. Er prägt ihr als Zauberkreis den Schein absoluten Wis‑ sens auf. An ihrer Selbstreflexion ist es, ihn zu tilgen, eben darin Negation der Negation, welche nicht in Position übergeht.“531 Mit dem Hinweis auf die Negation der Negation, welche nicht in Position übergeht schlägt Adorno den Bogen zum in der Vorrede der Negativen Dialektik formulierten Programm, als des‑ sen Einlösung die Selbstreflexion der Dialektik verstanden werden muss. Die Formulierung Negative Dialektik verstößt gegen die Überlieferung. Dialektik will bereits bei Platon, daß durchs Denkmittel der Negation ein Positives sich herstelle; die Figur einer Negation der Negation benannte das später prägnant. Das Buch möchte Di‑ alektik von derlei affirmativem Wesen befreien, ohne an Bestimmtheit etwas nachzulas‑ sen. Die Entfaltung seines paradoxen Titels ist eine seiner Absichten.532

An Bestimmtheit nicht nachzulassen heißt, an der Figur der Negation der Ne‑ gation, die für die Dialektik nichts anderes als die Selbstnegation ist, festzuhal‑ ten, ohne sich als Dialektik zu positivieren. Dazu muss Dialektik auf die Gren‑ ze reflektieren, die ihr mit dem Nichtidentischen gegeben ist. Der Schein absoluten Wissens wird der Dialektik vom Identitätsanspruch aufgeprägt; was aber den Identitätsanspruch Lügen straft, das Nichtidentische, ist zugleich das, was den Schein absoluten Wissens über der Dialektik tilgt. Das Nichtidentische steht für das, was dem identifizierenden Denken, aber auch der negativen Dialektik immer entschlüpft. Als dieses von der Dialektik nur negativ Erreichte steht es innerhalb des identifizierenden Denkens für die Möglichkeit dessen, was anders wäre – für das Absolute: „Das Absolute jedoch, wie es der Metaphysik vorschwebt, wäre das Nichtidentische, das erst hervorträte, nach‑ dem der Identitätszwang zerging.“533 Das Nichtidentische erfüllt eine Doppel‑ funktion: Als der Dialektik Entgleitendes löst es den Schein des absoluten Wis‑ sens über der Dialektik auf; zugleich steht es aber auch selbst für das Absolute, denn es ist die Gestalt, in der das Absolute innerhalb des identifizierenden Den‑ kens erscheint. Das Absolute ist das Unbedingte, das, was sich nicht bedingen lässt, das, was „schlechterdings nicht als Ding gedacht werden kann“.534 Im Denken des Absoluten wird das Absolute durch die Kategorien des identifizie‑ renden Denkens bedingt und zum Ding gemacht. Erst ein Denken, das nicht länger identifizierend verfährt, vermag das Absolute zu denken, ohne es zu be‑ dingen. Selbst das hegelsche Absolute, als Gesamtzusammenhang aller Vermitt‑ 531 

Ebd., S.  398. Ebd., S.  9. 533  Ebd., S.  398. 534  Schelling, F.W.J.: Vom Ich als Princip der Philosophie, in: ders.: Schriften von 1794– 1798 (= Ausgewählte Werke, Bd. 1), Darmstadt 1967, S.  29–124, hier S.  46. 532 

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lungen, ist noch nach dem Modell des identifizierenden Denkens gedacht. Denn der Gesamtzusammenhang schließt sich erst in der Selbstreflexion der Dialek‑ tik zu einem Ganzen zusammen; diese Selbstreflexion aber verläuft nach dem Maß identifizierender Logik. Auch reduziert die Gleichsetzung des Absoluten mit dem Gesamtzusammenhang des Denkbaren das Absolute auf das, was dem identifizierenden Denken kommensurabel ist. Der dem Denken kommensurab‑ le Gesamtzusammenhang ist der Zusammenhang, in dem Auschwitz möglich war. Ein Absolutes, in dem Auschwitz geschah, ist falsch, insofern das Durch‑ denken dieses Absoluten nicht umhin kann, das in Auschwitz Geschehene als notwendig und damit gerechtfertigt zu denken. Wer nicht will, dass die Welt der Tortur eine Notwendigkeit ist, kann den Gesamtzusammenhang nicht als das Absolute denken. Deshalb versucht Adorno das Absolute als Unbedingtes im strengen Sinne zu denken, als etwas, das dem Gesamtzusammenhang und den Kategorien des identifizierenden Denkens notwendig entrückt ist. Dieses Ab‑ solute kann mit den Kategorien des identifizierenden Denkens nur gedacht wer‑ den, indem es nicht gedacht wird, indem es als das Ungedachte des identifizie‑ renden Denkens gedacht wird. Das Ungedachte des identifizierenden Denkens ist das Nichtidentische. Hindrichs’ Kritik, in der negativen Dialektik bleibe „das zu Denkende noch in seiner Umkreisung ungedacht“,535 greift insofern zu kurz, als das zu Denkende nur als das Ungedachte des Denkens gedacht werden kann. Negative Dialektik verbietet sich den Gedanken ans Absolute, um am Absoluten festzuhalten. Indem negative Dialektik im Nichtidentischen das Ungedachte des identifi‑ zierenden Denkens denkt, hält sie an der Hoffnung auf ein Denken fest, welches das Absolute unverzerrt zu denken vermag: „Es liegt in der Bestimmung nega‑ tiver Dialektik, daß sie sich nicht bei sich beruhigt, als wäre sie total; das ist ihre Gestalt von Hoffnung.“536 Die Selbstreflexion der negativen Dialektik besteht darin, dass sie nicht sich einbildet, dass sie dort, wo der Identitätsanspruch scheitert, weitergehen kann, indem sie das Nichtidentische identifiziert. Ihre Selbstreflexion ist Reflexion auf ihre Grenzen und Möglichkeiten, die ihr als negative Dialektik vom Identitätsprinzip und damit vom Nichtidentischen ge‑ zogen werden. Deshalb kritisiert Adorno in Folge nochmals die Versuche, das Absolute positiv zu identifizieren: Das Geheimnis durch Identifikation verleugnen, dadurch, daß man stets mehr Brocken ihm entreißt, löst es nicht. Eher straft es, als wenn es spielte, die Naturbeherrschung Lügen durchs Memento der Ohnmacht ihrer Macht. Aufklärung läßt vom metaphysi‑ schen Wahrheitsgehalt so gut wie nichts übrig, nach einer neueren musikalischen Vor‑ tragsbezeichnung presque rien.537

535 Hindrichs:

Das Absolute und das Subjekt, S.  311. Negative Dialektik, S.  398. 537  Ebd., S.  399. 536 Adorno:

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Vor diesem presque rien muss die Dialektik innehalten, will sie nicht selbst in Unvernunft umschlagen. So ist die Selbstreflexion nicht eine irrationale und willkürliche Beschränkung des Wissens zu Gunsten des Glaubens, sondern ge‑ schieht im Namen des Wissens selbst, das der Unwahrheit verfällt, wenn es sich auf den metaphysischen Wahrheitsgehalt erstrecken will. Ist negative Dialektik der Versuch, das endliche Denken zu überschreiten auf das Unendliche hin, so ist das Äußerste, was sie erreicht, ihre Selbstzurücknahme vor dem Unendli‑ chen, ihr Verzicht, die Lücke zu schließen. Von einer offenen Dialektik lässt sich nur reden, insofern die Dialektik es versäumt, sich selbst zur Totalität aus‑ zuweiten. Offen ist sie, weil sie nicht das Nichtidentische identifiziert; dabei ist sie ebenso geschlossen, weil das Nichtidentische selbst nur der Abdruck der Identität ist. Dennoch endet das Denken, das Adorno negative Dialektik nennt, nicht vor dem Nichtidentischen, sondern versucht, aus der Aporie der Metaphysik – ist sie als Wissen vom Absoluten möglich, ohne die Konstruktion absoluten Wis‑ sens? – auszubrechen. Adorno formuliert die Aporie nochmals in anderen Wor‑ ten und präsentiert zugleich einen Ausweg, einen dritten Weg: „Metaphysik ist, dem eigenen Begriff nach, möglich nicht als ein deduktiver Zusammenhang von Urteilen über Seiendes. Genausowenig kann sie nach dem Muster eines absolut Verschiedenen gedacht werden, das furchtbar des Denkens spottete. Danach wäre sie möglich allein als lesbare Konstellation von Seiendem.“538 Das Problem ist – in anderen Worten – das der Verbindung von Endlichem und Unendlichem, von endlichem Denken und dem Absoluten. Adorno kann dieses Problem nicht durch sein Konzept der Vermittlung lösen, da er damit das Prinzip des endli‑ chen Geistes auf das Absolute selbst ausdehnen würde. Deshalb kehrt, in der lesbaren Konstellation angedeutet, das naturgeschichtliche Konzept der Deu‑ tung wieder, das als Adornos Antwort auf die Aporie der Metaphysik zu ver­ stehen ist. Deutung ist insofern die Antwort auf die Aporie des Absoluten als Deutung nicht eine Vermittlung von Endlichem und Unendlichem darstellt, sondern im vermeintlich Ewigen das Vergängliche sieht und durch das Vergäng‑ lichste hindurch das Ewige in gebrochener Gestalt erkennt. Deshalb wandert am Schluss der zwölften Meditation die Metaphysik „in die Mikrologie“ ein: „Diese ist Ort der Metaphysik als Zuflucht vor der Totale. Kein Absolutes ist anders auszudrücken als in Stoffen und Kategorien der Immanenz.“539 Deutung erlangt ihre metaphysische Bedeutung als Deutung der lesbaren Konstellation von Seiendem, als welche Metaphysik einzig noch möglich ist. Metaphysik besteht mithin in der Anordnung des Seienden zu einer bestimm‑ ten Konstellation: „Von diesem [dem Seienden, d. Verf.] empfinge sie den Stoff, ohne den sie nicht wäre, verklärte aber nicht das Dasein ihrer Elemente, son‑ 538 Ebd. 539 Ebd.

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dern brächte sie zu einer Konfiguration, in der die Elemente zur Schrift zusam‑ mentreten.“540 Statt diese Idee der Konfiguration und der Schrift zu erklären, behauptet Adorno nun, die Metaphysik müsse sich dafür aufs Wünschen ver‑ stehen: Daß der Wunsch ein schlechter Vater des Gedankens sei, ist seit Xenophanes eine der Generalthesen der europäischen Aufklärung, und sie gilt ungemildert noch gegenüber den ontologischen Restaurationsversuchen. Aber Denken, selber ein Verhalten, enthält das Bedürfnis – zunächst die Lebensnot – in sich. Aus dem Bedürfnis wird gedacht, auch, wo das wishful thinking verworfen ist. Der Motor des Bedürfnisses ist der der Anstrengung, die Denken als Tun involviert. Gegenstand von Kritik ist darum nicht das Bedürfnis im Denken sondern das Verhältnis zwischen beiden. Das Bedürfnis im Den‑ ken will aber, daß gedacht werde. Es verlangt seine Negation durchs Denken, muß im Denken verschwinden, wenn es real sich befriedigen soll, und in dieser Negation über‑ dauert es, vertritt in der innersten Zelle des Gedankens, was nicht seinesgleichen ist.541

Die rätselhafte Passage expliziert nicht die Idee der Metaphysik als Konfigura‑ tion, sondern beschreibt nochmals das Denken, das mit der Metaphysik solida‑ risch sein soll. Der Rekurs auf den Wunsch macht aber deutlich, dass nur das Denken mit der Metaphysik solidarisch sein kann, das nicht will, dass die Welt, so wie sie ist, alles ist. Dass Adorno mit dem Wunsch nicht hinter Nietzsches Einsicht in die trügerische Assoziation von Hoffnung und Wahrheit zurück‑ fällt, zeigt die Unterscheidung von Bedürfnis und wishful thinking. Bedürfnis ist nicht wishful thinking, weil es keinen bestimmten Inhalt will, sondern nur will, dass gedacht werde. In der Vorlesung über Philosophische Terminologie führt Adorno die Unhintergehbarkeit dieses Bedürfnisses näher aus: Wenn wir gar nicht aus Bedürfnis mehr denken, wenn wir also denken, daß aus unseren Gedanken das wishful thinking, der Wunsch als Vater des Gedankens, ganz und gar unterdrückt ist, dann können wir eigentlich überhaupt nichts mehr denken. Weil wir dann über das, was ist, gar nicht mehr hinausreichen, weil wir das bloß Seiende dann gar nicht mehr zu transzendieren vermögen, kommen wir in die unmögliche Situation, dort, wo wir zu denken meinen, eigentlich bloß das zu wiederholen, was ohnehin ist.542

Metaphysik als Denken, das über das bloß Seiende hinausgeht, ist vom Bedürf‑ nis abhängig, weil nur ein Denken, das aus einem Bedürfnis denkt, über die bloße Registrierung dessen, was ist, hinausgeht. Das Bedürfnis, das will, dass gedacht wird, will also nicht ein Denken im Sinne des Registrieren, sondern ein emphatisches Denken – ein Denken, das über das bloß Seiende hinausgeht. Das Bedürfnis, das Denken motiviert, ist in diesem Sinne ein negatives Bedürfnis; es will nicht einen bestimmten Inhalt, sondern es ist ein bestimmtes Nichtwollen: Es will nicht, dass die Immanenz alles ist. 540 Ebd. 541 

Ebd., S.  399 f. Philosophische Terminologie 1, S.  129.

542 Adorno:

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Adorno führt nun aus, was ein Denken leisten kann, das von diesem Bedürf‑ nis geleitet ist: „Die kleinsten innerweltlichen Züge hätten Relevanz fürs Abso‑ lute, denn der mikrologische Blick zertrümmert die Schalen des nach dem Maß des subsumierenden Oberbegriffs hilflos Vereinzelten und sprengt seine Identi‑ tät, den Trug, es wäre bloß Exemplar. Solches Denken ist solidarisch mit Meta‑ physik im Augenblick ihres Sturzes.“543 Die Relevanz des Innerweltlichen für das Absolute hängt am mikrologischen Blick, dem Blick der negativen Dialek‑ tik, der aufs Besondere jenseits der Identifikationen abzielt. Dieses Besondere ist relevant fürs Absolute, weil es das ist, was im Denken nicht aufgeht und deshalb immanent für das steht, was jenseits der Immanenz gedacht wird. Me‑ taphysik kann im gegenwärtigen Zustand nichts anderes sein als negative Dia‑ lektik, das Denken, das an der Nichtidentität festhält und die nichtidentischen Momente in Konstellationen erschließt. Damit gelangt sie zu keinem positiven Begriff des Absoluten; ihre Möglichkeiten erschöpfen sich in der Kritik. Ihre Grenzen werden ihr vom Identitätsprinzip gezogen, da sie das Besondere nur negativ retten kann, vor dem Trug, es wäre bloß ein Exemplar. Mit der Rettung des Besonderen hält negative Dialektik am Absoluten fest, indem sie die Un‑ möglichkeit der totalen Immanenz nachweist; das ist die noch mögliche Gestalt der Metaphysik. Negative Dialektik ist solidarisch mit dem geschichtsphiloso‑ phischen Sturz der Metaphysik, weil sie in der Bewegung fortschreitender Ent‑ mythologisierung in dem Augenblick, wo diese Bewegung selbst in den My‑ thos, nämlich den der totalen Identifikation umschlägt, am Nichtidentischen und damit am metaphysischen Impuls festhält. Das negative Resultat hat auf den ersten Blick äußerst schmale positive Seiten: Sehen wir ab von der geschichtsphilosophischen Perspektive einer möglichen Entstehung der Metaphysik, so rettet Adorno nichts als den Nachweis der Un‑ ausdenkbarkeit der Verzweiflung, die Unmöglichkeit, Hoffnung schlechthin zu leugnen. Aber gerade darin besteht die Solidarität mit der stürzenden Metaphy‑ sik: im Bewusstsein der Unmöglichkeit der totalen Identifikation am metaphy‑ sischen Impuls festzuhalten und damit zwar nicht mehr als, aber immerhin die Möglichkeit einer positiven Metaphysik für die Zukunft zu retten. Durch diese Beschränkung auf Solidarität anstelle von Rettung bewahrt das Denken seine Autonomie. So heißt es an einer früheren Stelle der Negativen Dialektik: „Ein‑ schränkung des Geistes auf das seinem geschichtlichen Erfahrungsstand Offene und Erreichbare ist ein Element von Freiheit.“544 Offen und erreichbar ist einzig Solidarität mit der stürzenden Metaphysik. Unter der Herrschaft des Identitäts‑ prinzip steht das in der negativen Dialektik festgehaltene Nichtidentische für die Hoffnung auf das Absolute. Im Festhalten am Nichtidentischen demonst‑

543 Adorno: 544 

Negative Dialektik, S.  400. Ebd., S.  76.

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Kapitel 3:  Metaphysik und Geschichte

riert negative Dialektik, dass der Gesamtzusammenhang des Seienden noch nicht das Absolute ist; ihr positives Zentrum ist die Rettung der Hoffnung.

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Schlussbetrachtung

philosophia ultima Die Rekonstruktion des Konzepts einer negativen Dialektik hat gezeigt, dass negative Dialektik eine genuine und in sich kohärente Gestalt dialektischen Denkens ist. Freilich sind einzelne Argumente Adornos nicht über jeden Zwei‑ fel erhaben; freilich kann man begriffliche Vorentscheidungen, Darstellungs‑ kriterien und philosophiegeschichtliche Anschlüsse und Ausgrenzungen in ih‑ rer Notwendigkeit hinterfragen; dennoch stellt sich negative Dialektik in der Totale als ein schlüssiges und stringentes Konzept dar, das sich die Vorwürfe der Aporetik und der Sterilität nicht ohne Weiteres gefallen lassen muss. Jenseits der immanenten Stringenz negativer Dialektik steht dennoch ihre Aktualität als philosophisches Konzept in Frage. Damit die Aktualitätsfrage nicht ins Uferlo‑ se geleitet, ist es ratsam, sie zu qualifizieren. Von negativer Dialektik einen po‑ litischen Gebrauchswert zu verlangen,1 zielt am philosophischen Anspruch die‑ ses Denkens vorbei; Hullot‑Kentor hat denn auch auf die allzu plump gestellte Frage, welche praktische Wirkung er sich von seiner Übersetzung von Adornos Hauptwerken ins Englische erhoffe, bloß sarkastisch geantwortet: Nothing special. The rubbish in the world’s oceans will rise to the surface and dissolve harmlessly, like fresh baking soda tablets; global warming will reverse into global mel‑ lifluousness, with an intermittent, pleasing drizzle; and the 184 million people that Hobsbawm estimates were shot, bombed, starved, gassed, and marched into mass graves and who were bulldozed over in 20th century conflicts, will send off postcards saying they feel better now. 2

Negative Dialektik enthält keine Patentlösungen, nicht einmal Lösungen – auch das ist eine Dimension ihrer Definition als negative. Die Praxisverweigerung Adornos hat gute Gründe; man mag sie anfechten, aber nicht pauschal als bür‑ gerlichen Habitus beiseiteschieben. Adornos Philosophie will Philosophie im nachdrücklichen Sinn sein und nachdrückliche Philosophie war nie eine Anlei‑ tung zur Praxis; wo sie sich als solche verstand oder als solche verstanden wur‑ de, endete es im Desaster. Platons Sizilienreisen haben der Philosophie ihre Grenzen in der Praxis aufgezeigt; auch in dieser Hinsicht ist er der Vater der Philosophie. Die Frage nach der Aktualität negativer Dialektik sollte sich daher 1 

Vgl. Buck-Morss: Origin of Negative Dialectics, S.  189. Robert und Chan, Paul: „In Conversation. Robert Hullot-Kentor with Paul Chan“, The Brooklyn Rail, (2007), http://brooklynrail.org/2007/03/art/robert-hullot (aufgerufen am 22.4.2014). 2  Hullot-Kentor,

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Schlussbetrachtung:  philosophia ultima

auf ihre philosophische Anschlussfähigkeit und ihre mögliche Aktualität im philosophischen Diskurs beziehen. Diese Aktualität hängt, hier schließe ich mich Wesche an, von zwei Fragen ab: „Der Frage nach dem Recht von Dialektik im Verhältnis zu anderen philosophischen Alternativen und Strömungen: War‑ um Dialektik? Und der Frage nach der Binnendifferenz innerhalb der dialekti‑ schen Philosophie: Weshalb insbesondere negative Dialektik?“3 Zusammengedacht führen uns die Fragen zurück zum ersten Satz der Negativen Dialektik und damit zur These der Einleitung, man müsse Adorno sein essentialistisches Philosophieverständnis erst einmal vorgeben. Die These hat sich insoweit bestätigt, als wir erst durch diesen Vorschuss zu einer Verständi‑ gung darüber gekommen sind, was negative Dialektik intendiert. Zur Frage steht aber weiterhin, ob sich Adornos essentialistisches Philosophieverständnis im Rückgriff auf das Konzept negativer Dialektik rechtfertigen lässt. Im Verlauf der Rekonstruktion hat sich der emphatische Anspruch an das, was Philosophie nach Adorno sein soll, nochmals gesteigert. Damit wird es aber umso schwieri‑ ger, Adornos Ausschließlichkeitsanspruch noch aufrecht zu erhalten; ein An‑ spruch dem ja nicht bloß die heideggersche Ontologie, die Phänomenologie, die Sprachphilosophie Wittgensteins, sondern beinahe der gesamte zeitgenössische philosophische Diskurs zum Opfer fallen würde. Honneth hat das an zwei Bei‑ spielen konkretisiert: Adorno aber glaubt, daß seit dem durch Marx besiegelten Untergang Hegels der Philo‑ sophie kein anderer Weg mehr offensteht als der der Selbstkritik ihrer bisherigen Vor‑ aussetzungen; nicht die nachmetaphysische Naturalisierung Hegels oder Kants, nicht die Rekonstruktion eines sparsamen Rationalitätsbegriffs, sondern einzig die Aufde‑ ckung der prinzipiellen Grenze allen begrifflichen Bemühens ist es, was er nach dem Scheitern des Vernunftidealismus philosophisch noch für möglich hält.4

Gewiss, was Honneth im Anschluss sagt, nämlich dass das Programm negativer Dialektik nicht so beschränkt sei, wie es die Bezeichnung Selbstkritik implizie‑ re,5 haben wir in der Entfaltung des Programms einer negativen Dialektik gese‑ hen; aber selbst wenn wir alle Facetten dieses Denkens in Betracht ziehen, lässt sich der Ausschließlichkeitsanspruch nicht hochhalten. Adorno selbst würde Honneths Beispiele als „Signifikation, Nachkonstruktion, heute wie zu Hegels Zeiten vorphilosophisch“ verabschieden; 6 uns steht diese kompromisslose Per‑ spektive nicht mehr zur Verfügung. Die Pluralisierung der philosophischen Landschaft mag ihre Schattenseiten haben; Departmentalisierung und Spezia‑ listentum mögen die für die Philosophie konstitutive Selbstreflexion und die nicht minder konstitutive Reflexion aufs Ganze des menschlichen Lebens in den Hintergrund drängen. Das aber rechtfertigt nicht den Ausschließlichkeits‑ 3 

Wesche: „Negative Dialektik: Kritik an Hegel“, S.  318. Honneth: „Gerechtigkeit im Vollzug“, S.  98. 5  Vgl. Ebd. 6 Adorno: Negative Dialektik, S.  21. 4 

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anspruch negativer Dialektik und kann nicht zum endgültigen Verdikt über die Pluralisierung der philosophischen Disziplinen werden. In der Konzentration auf spezifische Gebiete liegt auch eine Bündelung philosophischer Energien, derer die Philosophie heute nicht mehr entraten kann. Konzedieren wir aber, dass Philosophie nicht notwendig negative Dialektik sein muss, so ist damit noch nicht gesagt, dass negative Dialektik nicht ihren Platz im philosophischen Diskurs der Gegenwart einnehmen kann. Wesches Frage: Warum Dialektik? fragt nicht nach dem ausschließlichen Recht der Dia‑ lektik gegen andere Strömungen, sondern nach ihrem relativen Recht neben die‑ sen Strömungen. Dieses Recht bemisst sich nach der gängigen Wissenschaftslo‑ gik vor allem am Potential der negativen Dialektik, einen konstruktiven Beitrag zu aktuellen Debatten zu leisten. Wenn McDowells Charakterisierung moder‑ ner Philosophie immer noch zutrifft – „Modern philosophy has taken itself to be called on to bridge dualistic gulfs, between subject and object, thought and world.”7 –, dann sollte das Konzept negativer Dialektik noch einiges zu diesem Projekt beitragen können. Wie dieser Beitrag aussehen könnte, haben wir im zweiten Kapitel – freilich erst in Ansätzen – gesehen: Die spezifische Vermitt‑ lungslogik negativer Dialektik erlaubt es, erkenntnistheoretische Dualismen zu überbrücken, ohne sie in einer irreduziblen Erkenntnisfähigkeit aufzulösen; gleichzeitig macht Adorno mit seinem Erfahrungskonzept gegen die Position McDowells geltend, dass die Frage nach der Erkenntnis nicht innerhalb der Er‑ kenntnistheorie beantwortet werden kann. Wie auch immer man die jeweiligen Positionen jeweils bewertet; dass sich mit Adorno in dieser Diskussion zumin‑ dest mitreden lässt, wurde bereits gezeigt. 8 Auch in der Geschichtsphilosophie könnte negative Dialektik einige Anstöße geben, wenn es darum geht, einen Begriff von universaler Geschichte für das Zeitalter der Globalisierung zu for‑ mulieren. Schließlich könnte in der noch immer offenen Frage nach dem Status der Metaphysik der Rekurs auf Adorno helfen, metaphysische Gehalte und Fra‑ gestellungen ins nachmetaphysische Paradigma zu transportieren. Besonders metaphysische Entwürfe, die nicht auf Restauration abzielen, sondern die, wie Hindrichs es ausdrückt, „Metaphysik im Verhältnis zu und unter den Bedin‑ gungen der Nachmetaphysik“ entwerfen,9 können auf das Konzept negativer Dialektik zurückgreifen. Hindrichs demonstriert das in Das Absolute und das Subjekt, indem er in seiner historisch-systematischen Rekonstruktion des onto‑ logischen Gottesbeweises Adorno beinahe nahtlos der Linie von Anselm bis Schelling anhängt und die formale Struktur negativer Dialektik als einen genu‑ 7 McDowell:

Mind and World, S.  93. Vgl. Foster: Adorno. The Recovery of Experience, S.  167 ff.; Short: „Experience and Aura: Adorno, McDowell, and ‚Second Nature‘.“ 9  Hindrichs, Gunnar: „Nachwort zur Taschenbuchausgabe“, in: ders.: Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, Frank‑ furt a. M. 22011, S.  347–352, hier S.  348. 8 

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inen Beitrag zur Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik im nachmetaphy‑ sischen Paradigma behandelt.10 Auch hier könnte man über den Rückgriff auf formale Denkfiguren hinaus mit Adorno geltend machen, dass die Frage nach der Metaphysik sich heute der Reflexion auf das innerweltliche Leiden nicht mehr entziehen kann, mithin dass die Frage nach der Metaphysik deren traditi‑ onellen Begriff überschreiten muss. Sowohl in der Erkenntnistheorie als auch in der Metaphysik lässt sich mit diesen Beispielen nicht bloß das Recht der Dialek‑ tik neben anderen Strömungen anzeigen, sondern auch, dass diese Dialektik eine negative zu sein hat. In der Erkenntnistheorie und in der Metaphysik glei‑ chermaßen ist der Rückgriff auf Dialektik explizit ein Rückgriff auf negative Dialektik, auf ihre spezifische Vermittlungsform und ihre Betonung des nich‑ tidentischen Moments. Darüber hinaus scheint es ein genuiner Beitrag der nega‑ tiven Dialektik zu sein, dass sie die philosophischen Einzeldisziplinen mit der These konfrontiert, ihre gewichtigsten Probleme könnten nur im Überschreiten der Grenzen der Disziplin gelöst werden; das gilt für die Ästhetik ebenso wie für die Ethik. In dieser Linie konfrontiert Bowie die zeitgenössische Philoso‑ phie, insbesondere in ihrer (post)analytischen Form, mit Adorno und zeigt da‑ bei, dass deren Rationalitäts-, Natur-, und Freiheitsverständnis empfindliche Verkürzungen aufweist.11 Solche Anschlüsse an Adorno können meistens nicht umhin, sich seines Den‑ kens als Steinbruch zu bedienen; das liegt in der Logik der Sache und ist in konkreten Fragestellungen legitim. Darüber hinaus aber gilt es auch nach der negativen Dialektik als Ganzer zu fragen, nach ihrem Recht neben anderen phi‑ losophischen Strömungen und inwiefern dieses Recht daran hängt, dass sie ne‑ gative Dialektik ist. Zuvorderst muss man hier nach ihrem Potential fragen, das Ganze unserer zeitgenössischen Lebensform in den Blick zu bekommen und zu erschließen. Dabei zeigt sich freilich, dass sich die seit Habermas erhobenen Vorwürfe, Adorno sei für die partiellen Fortschritte in der Geschichte und für die Dimensionen sozialen Handelns blind gewesen, in einem gewissen Maße bestätigen. Aus der Struktur negativer Dialektik, der Bewegung durch die Ext‑ reme hindurch, folgt zwar nicht Blindheit, aber ein Desinteresse an dem, was sich nicht der Negativität oder der Versöhnung zuordnen lässt: an partiellen Fortschritten, an sozialen Praktiken, die weder als verblendet noch als versöhnt beschrieben werden können. In diesen Dimensionen fällt die negative Dialektik hinter andere philosophische Strömungen zurück; doch sollte man es sich dabei nicht zu leicht machen. Die Schwäche negativer Dialektik, die Mitte in den Blick zu bekommen, ist korrelativ ihre Stärke gegenüber den weniger radikalen Theo­ rien, die dazu tendieren, die Extreme aus den Augen zu verlieren. Wenn man das 20. Jahrhundert mit einigem Recht als „Zeitalter der Extreme“, gar als „das 10 

Vgl. Hindrichs: Das Absolute und das Subjekt, S.  152 ff. und S.  305 ff. Adorno and the Ends of Philosophy.

11 Bowie:

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Jahrhundert der Völkermorde“ bezeichnen kann,12 wenn also für das 20. Jahr‑ hundert die Negativität zu einem bestimmenden Merkmal der geschichtli­chen Wirklichkeit geworden ist, einem Merkmal, das wir auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht überwunden haben, dann droht den vermeintlich diffe‑ renzierten Theorien die Gefahr, über den partiellen Fortschritten die gewalti‑ gen Rückschritte zu bloßen Betriebsunfällen der Geschichte herunterzusetzen. Jay hat zu bedenken gegeben, dass Adorno in dieser Frage in gewisser Weise die Geschichte auf seiner Seite hat: Whether or not Adorno was blind to the genuinely dynamic impulses in our society, as his activist critics always maintain, is still uncertain. But in a century when every revo‑ lution has in some sense been betrayed, when virtually all attempts at cultural subversion have been neutralized, and when the threat of a nuclear Aufhebung of the dialectic of enlightenment continues unchecked, it is difficult to summon the self-confidence to call his melancholy unwarranted.13

Man mag an Adornos Dialektik monieren, dass sie bestimmte positive Dynami‑ ken in der Geschichte und der Gesellschaft unter den Tisch kehrt; man darf aber nicht vergessen, dass diese positiven Dynamiken den negativen Dynamiken we‑ nig entgegensetzen konnten. Kritisieren wir etwa an Adornos emphatischen Verständnis der Revolution, dass damit die partiellen Fortschritte, die andere Revolutionen gebracht haben, aus dem Blick geraten, so kann das nicht gegen die Relevanz negativer Dialektik ins Spiel gebracht werden. Gewiss, die No‑ vemberrevolution hat die Monarchie abgeschafft; sie hat aber auch nicht verhin‑ dern können, dass sich eine rechtsradikale Gegenbewegung formierte, die in wenigen Jahren die Welt in Brand stecken sollte. Dass noch keine Revolution stattgefunden hat, die Adornos Verständnis dieses Begriffs genügen könnte, ist zwar noch kein Argument für negative Dialektik, zeigt uns aber, wo die Stärken dieser Philosophie zu suchen sind: in der dialektischen Bewegung, die sich durch die Extreme hindurch in ihnen selbst ereignet. Negative Dialektik ist als die philosophische Bemühung zu verstehen, einen emphatischen Begriff der Philosophie in eine Zeit zu transportieren, die diesem Philosophieverständnis die Basis zerschlagen hat; eine Philosophie, die von den Ideen des Wahren, des Schönen, des Guten, die von der Versöhnung nicht ab‑ lässt, in einer Zeit, in der diese Ideen nicht mehr mit der geschichtlichen Wirk‑ lichkeit versöhnt werden können. Dialektisch aber muss diese Philosophie sein, weil sie es nicht bei der bloß abstrakten Renaissance eines vergangenen Philoso‑ phiebegriffs bewenden lassen kann, sondern diesen Begriff mit der Erfahrung vermitteln muss, um ihm Substantialität zu verleihen. Dass Philosophie heute nur noch negative Dialektik sein kann, mag eine zu starke These sein; aber es ist 12  Benz, Wolfgang: Ausgrenzung. Vertreibung. Völkermord. Genozid im 20. Jahrhundert, München 2006, S.  176. 13 Jay: Adorno, S.  162.

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nicht ersichtlich, warum sie nicht auch negative Dialektik sein kann. Der Nut‑ zen einer solchen Philosophie wäre zunächst darin zu suchen, dass sie die ge‑ genwärtige Philosophie mit einem Anspruch konfrontiert, den sie oft nur allzu leicht aufgibt; sie erinnert uns etwa daran, dass wir es uns mit der Wende zum nachmetaphysischen Denken nicht zu leicht machen sollten; dass man sich nicht auf partiellen Fortschritten ausruhen kann; dass von Fortschritt nicht gespro‑ chen werden kann, solange noch Menschen hungern; dass mit der industriell betriebenen Vernichtung von Menschen ein Einschnitt auch in der Geistesge‑ schichte stattgefunden hat; aber auch dass es möglich ist, im Angesicht der ab‑ soluten Negativität die Hoffnung zu bewahren, dass eine menschenwürdige Welt möglich ist. Gerade die letzte Perspektive gewinnt angesichts der gegen‑ wärtigen Probleme der Weltgesellschaft wieder an Aktualität; in dem geschicht‑ lichen Augenblick, in dem die Perspektive einer in vernünftiger Zusammenar‑ beit agierenden Menschheit nicht mehr Utopie, sondern angesichts weltum‑ spannender Herausforderungen immer mehr zur Notwendigkeit wird, gewinnt Adornos Fokus auf das Ganze und seine Kritik an bloß partieller Praxis plötz‑ lich an Aktualität. „Der Kampf für eine global wirksame Demokratie“ kann, wie Wellmer meint, als Konkretisierung der Philosophie Adornos verstanden werden: [D]ieses Feld einer notwendigen konstruktiven Kritik und einer möglichen verändern‑ den Praxis, wie es sich heute geöffnet hat, beschließt in sich, so verstehe ich es, die Konkretisierung jener radikal transzendierenden Perspektive, wie Adorno sie, im Einklang mit der älteren Kritischen Theorie, in seiner Kritik des Tauschprinzips gegen das Beste‑ hende damals eingeklagt hat. Dies erst wäre eine Entzauberung seines Messianismus, die dessen legitimen weltlichen Kern zur Geltung bringen und die sich deshalb nicht vor‑ schnell von den radikalen Impulsen seiner Gesellschaftskritik verabschieden würde.14

Mit Recht betont Wellmer, dass es gerade die radikalen Impulse Adornos sind, die ihn an Aktualität gewinnen lassen; das impliziert aber auch, dass seine Phi‑ losophie mit Nachdruck als negative Dialektik verstanden werden muss und nicht in revisionistischer Stoßrichtung von Dialektik und Negativität gereinigt werden darf. Darüber hinaus mag negative Dialektik als Herausforderung virulent sein, als Stachel; nicht weil sie an die Negativität erinnert, sondern weil sie zeigt, dass es möglich ist, die Negativität denkend zu bewältigen und trotzdem an einem emphatischen Philosophiebegriff festzuhalten. Gewiss, es ist möglich, neben negativer Dialektik die Philosophie als Rekonstruktion eines sparsamen Ratio‑ nalitätsbegriffs durchzuführen; die Konfrontation mit negativer Dialektik hat jedoch gezeigt, welchen Preis etwa Habermas mit diesem Philosophieverständ‑ nis bezahlt. Der sparsame Rationalitätsbegriff muss seine normativen Leitlinien 14 Wellmer: „Adorno und die Schwierigkeiten einer kritischen Konstruktion der ge‑ schichtlichen Gegenwart“, S.  151 f.

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aus der Religion beziehen; wenn Habermas in diesem Lichte die kantsche Ver‑ nunftmoral kritisiert und an die Bestimmung der praktischen Vernunft erin‑ nert, dann wirft das auch ein Licht auf die negative Dialektik: „Gleichwohl ver‑ fehlt die praktische Vernunft ihre eigene Bestimmung, wenn sie nicht mehr die Kraft hat, in profanen Gemütern ein Bewußtsein für die weltweit verletzte So‑ lidarität, ein Bewußtsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten.“15 Diese Kraft hat negative Dialektik, obwohl sie auf normative Absicherung in einem formalen Rahmen verzichtet; sie hat ihr Maß am somatischen Leiden und entwickelt daraus ihr Bewusstsein von dem, was fehlt. Was fehlt, sind aber nicht Heilsversprechen, sondern eine ihrer selbst bewusste Vernunft, Mündigkeit und eine philosophische Reflexion, die den Be‑ zug zur Erfahrung nicht verloren hat. Habermas selbst konzediert den letzten Punkt: Schlechte Philosophie verrät sich in einem hemmungslosen Gebrauch der Reflexion, in ‚leerer Reflexion‘. Wenn sie sich nicht in den Endlosschleifen infiniter Regresse verlaufen soll, muß die Philosophie in Fragestellungen, die aus dem Leben auf sie zukommen, Halt finden, statt sich in ihren fachlich erzeugten Problemen zu verlieren.16

Auch hier zeigt die negative Dialektik, dass es möglich ist, sich Fragen zu wid‑ men, die aus dem Leben auf sie zukommen – auch die letzten Fragen – ohne in Unverbindlichkeit und Weltanschauung abzudriften. Negative Dialektik ist einzigartig in der Art, wie sie überlieferte Ansprüche und Gehalte in die Gegen‑ wart einholt. Sie zeigt, wie man am Weltbegriff der Philosophie festhalten kann, ohne sich den Verpflichtungen des Schulbegriffs zu entziehen. Wenn wir Adorno als Stachel verstehen, dann kommt der positive Ertrag ne‑ gativer Dialektik in den Blick, indem wir die Frage nach der Aktualität umkeh‑ ren. Dann wird das verbindlich, was Adorno sowohl angesichts des 125. Todes‑ tags Hegels als auch anlässlich des 150. Todestags Kants vorbrachte: In den abscheulichen Fragen, was an Kant und nun auch an Hegel der Gegenwart etwas bedeute [. . .], klingt diese Anmaßung mit. Nicht wird die umgekehrte Frage auch nur aufgeworfen, was die Gegenwart vor Hegel bedeutet; ob nicht etwa die Vernunft, zu der man seit seiner absoluten gekommen zu sein sich einbildet, in Wahrheit längst hinter jene zurückfiel und dem bloß Seienden sich anbequemte, dessen Last die Hegelsche Vernunft vermöge der im Seienden selbst waltenden in Bewegung setzen wollte.17 Das führt dann zu der im letzten Jahr ad nauseam wiedergekäuten Frage, ob Kant noch zeitgemäß sei, ob er uns, nämlich jenen, noch etwas zu sagen habe, als müßte er sich den intellektuellen Bedürfnissen einer vom Kino und den illustrierten Zeitungen präparier‑ ten Menschheit anpassen und als müßte nicht diese vielmehr erst einmal auf die ihnen 15  Habermas, Jürgen: „Ein Bewußtsein von dem, was fehlt“, in: ders.: Kritik der Vernunft, Philosophische Texte. Studienausgabe in fünf Bänden, Bd. 5, Frankfurt a. M. 2009, S.  408–416, hier S.  412. 16  Habermas: „Einleitung“, S.  10. 17  Adorno: „Aspekte“, S.  251.

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aufgezwungenen lieben Gewohnheiten verzichten, ehe sie sich anmaßt, die Vitalität des‑ sen zu begutachten, der den Traktat vom ewigen Frieden schrieb.18

Die Frage umkehren heißt nicht so sehr, zu imaginieren, was ein auferstandener Adorno in unserer Welt tun würde – er würde sich wohl nur allzu gut zurecht finden –, sondern uns mit dem Anspruch zu konfrontieren, den Adornos Den‑ ken formuliert. Und hier liegt die Bedeutung Adornos in der Radikalität seiner Kritik begraben. Alex Ross nannte Adorno „[t]he most formidable proponent of sweeping nothing under the rug“; 19 das erweckt Ranküne, weil es an Ver‑ drängtes gemahnt, an Ansprüche, die wir nicht mehr zu erheben wagen, an Wi‑ derstand durch Reflexion, die wir nicht mehr leisten wollen, an Aufgaben, an denen wir gescheitert sind. Die viel beschworene Nüchternheit und Bescheiden‑ heit der nachmetaphysischen Philosophie ist nicht gleichzusetzen mit Fort‑ schritt. Hindrichs gibt zu bedenken, dass das philosophische Denken gerade dort mit einem besonderen Machtanspruch auftritt, wo es gegenüber den über‑ zogenen Machtansprüchen der Tradition seine Bescheidenheit betont: „Den‑ noch schreibt das philosophische Denken der Gegenwart sich selbst eine neue Art von Macht zu. Sie ist nun die Macht der besonderen Fähigkeit, aus der es seine Wichtigkeit bezieht, die Macht der Orientierung, oder der Handlungsbe‑ gründung oder die ärztliche Macht der Sprachheilung.“ Gegen die Selbstzufrie‑ denheit einer solchen Philosophie will Hindrichs das Erbe des Marxismus stark machen: Die philosophische Vernunft ist an der entscheidenden Stelle machtlos, weil die Wirk‑ lichkeit in großen Teilen unvernünftig ist. Die Erfahrung des Marxismus vermittelt, dass auf Grund der Unvernunft des Wirklichen die Macht der Philosophie nicht ungebrochen gilt, auch nicht in höheren Reflexionsstufen. So wird die Unvernunft des Wirklichen zum inneren Problem des philosophischen Denkens, nicht zu einer Frage seiner äußeren Anwendung. 20

Dieses Erbe hat Adorno angetreten, indem er den Einfluss der Unvernunft des Wirklichen bis in die höchsten Sphären des vermeintlich autonomen philoso‑ phischen Denkens verfolgt hat; das ist nicht gleichzusetzen mit einem „selbst‑ bezüglichen Rückzug des Denkens“, 21 denn der Rückzug von der Position der Verwirklichung in die kritische Selbstreflexion hat selbst nichts anderes als die Rettung der Möglichkeit der Verwirklichung zum Ziel. Als Korrektiv gegenüber der Selbstzufriedenheit kann Adorno nur fungie‑ ren, wenn man seine Ansprüche ernst nimmt, sich aber nicht von ihnen irre machen lässt. Statt seine Kulturkritik als elitär abzutun und als Gegenbeweis 18 

Adorno: „Zum Studium der Philosophie“, GS 20.1, S.  318–326, hier S.  324 f. Alex: The Rest is Noise. Listening to the Twentieth Century, New York 2007, S.  356. 20  Hindrichs, Gunnar: „Das Erbe des Marxismus“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 54. Jg./H. 5 (2006), S.  709–729, hier S.  726. 21  Ebd., S.  729. 19 Ross,

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subversive Potentiale in der Popkultur auszumachen, könnte man – so Hul‑ lot‑Kentor – an Adorno lernen, dem zu widerstehen, was man vorgesetzt be‑ kommt.22 Ein Vergleich zwischen Seel und Hullot‑Kentor mag das illustrieren. Seel verweist in einer mit Angela Keppler verfassten Studie auf den so genann‑ ten Adorno‑Reflex: Dieser Reflex tritt ein, wenn akademisch angehauchte Angehörige der im Geist der sech‑ ziger großgewordenen Generation, die zur Massenkultur ein unendlich vertrauteres Verhältnis haben als Adorno, bei einzelnen, irgendwie besonders perfiden Objekten der Massenkunst trotzdem, plötzlich, still bei sich denken: mein Gott, der alte Teddy würde sich im Grabe drehen, wenn er das sähe. 23

Der Adorno-Reflex wird von Seel und Keppler als Rudiment einer früheren Phase behandelt, als ein Blinddarm, der sich unter bestimmten Umständen ent‑ zünden kann und uns an das erinnert, was wir einmal waren. Statt aber diese Erinnerung als Stachel zur Reflexion zu begreifen, versuchen Seel und Keppler an vier Objekten der Massenkunst zu beweisen, dass es sich nicht so einfach mit der Kulturindustrie verhält, sondern dass deren Produkte erstens eine selbstiro‑ nische Distanzierung praktizieren und dass das breite Publikum (und nicht etwa bloß die Gebildeten) zu einer distanzierten Aufnahme fähig ist. Dass iro‑ nische Selbstdistanzierung heute in allen Sphären der Kultur und in der Kultu‑ rindustrie Standard geworden ist und dass die distanzierte Aufnahme den Mas‑ sen auch schon von Adorno zugestanden wurde, fällt weniger ins Gewicht als der Umgang mit dem Adorno‑Reflex. Unhinterfragt wird die Vertrautheit mit den Produkten der Kulturindustrie – etwa der Rudi-Carrell-Show – auf der Fortschrittsseite verbucht, während die Kritik der Kulturindustrie nicht ohne Nostalgie als ein etwas naives und zugleich unschuldiges Stadium der Kultur‑ kritik verabschiedet wird. Dagegen gibt Hullot‑Kentor zu bedenken, dass die Vertrautheit mit der Kulturindustrie auch ein Zeichen der Regression sein könnte: „What stands as a plenipotentiary of familiarity is a moment when the self could no longer hold out against the pressure of what was forced on it.“24 Der Adorno-Reflex ist im Sinne Hullot‑Kentors eher als Warnung zu verste‑ hen: nicht die kritische Distanz zu verlieren und sich auf die Familiarität mit der Massenkultur wie auf eine Errungenschaft des Geistes zu berufen. Der positive Bezug auf den Adorno-Reflex darf jedoch nicht ins Dogmatische umschlagen: Adorno als Stachel zu verstehen, heißt nicht, ihn als Fessel zu denken. Adornos berüchtigte Abneigung gegen das Medium des Films, aber auch seine Abferti‑ 22 

Vgl. Hullot-Kentor/Chan: „In Conversation. Robert Hullot-Kentor with Paul Chan“. Seel, Martin und Keppler, Angela: „Zwischen Vereinnahmung und Distanzierung. Vier Fallstudien zur Massenkultur“, in: Seel, Martin: Adornos Philosophie der Kontemplation, Frankfurt a. M. 2004, S.  96–116, hier S.  100. 24  Hullot-Kentor, Robert: „Right Listening and a New Type of Human Being“, in: ders.: Things Beyond Resemblance. Collected Essays on Theodor W. Adorno, New York 2006, S.  193–209, hier S.  206. 23 

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gung von Science Fiction als „unterkünstlerische Gattun[g]“,25 lassen sich nicht mehr so kompromisslos vertreten; dennoch ist kritische Distanz zu kulturin‑ dustriellen Produkten auch heute unabdingbar. Gefordert ist Differenziertheit. Jameson hat gezeigt, dass man etwa in der Auseinandersetzung mit dem Uto‑ piebegriff in produktiver Weise auf Science Fiction Literatur zurückgreifen kann; 26 wer dagegen in einer Folge Wetten daß . . .? „ein Stück dialektischer Lo‑ gik“ erblickt,27 sollte sich vielleicht doch nochmal den Hegel vornehmen. Was bisher an Gedanken zur Aktualität Adornos zusammengekommen ist, mag nicht mehr als eine Anregung darstellen. In dieser Arbeit stand nicht die Anschlussfähigkeit negativer Dialektik zur Debatte, sondern es ging darum, für einen Augenblick zu rekonstruieren, was dieses Konzept als Ganzes meint. Welche Möglichkeiten aber das Konzept einer negativen Dialektik bergen mag, kann erst die konkrete Durchführung dieser Möglichkeiten erweisen. Deshalb wäre es zwecklos, hier einen Katalog der möglichen Anwendungsgebiete nega‑ tiver Dialektik anzulegen; ein abschließendes Urteil sollte man sich gerade bei der Philosophie verbieten, die auf das Offene zielt. Wie Ritsert würde ich jedoch festhalten, dass produktive Beschäftigung mit Adorno eine Verständigung über seinen Dialektikbegriff voraussetzt. Das glückliche Bewusstsein wird mit Adorno auch im 21. Jahrhundert noch Verschiede‑ nes anstellen. Aber man kann wenig mit ihm anfangen oder gar im Anschluss an sein Denken fortsetzen, wenn sein an Hegel abgelesenes Prinzip der Dialektik als metaphy‑ sischer Humbug verworfen, als logischer Irrweg abgetan oder selbst von ihm Wohlge‑ sonnen elegant beiseite geschoben wird. 28

Was sich uns jeweils als produktives Element von Adornos Theorie – die bis ins Extrem getriebene Reflexion; die Fähigkeit, Erfahrung mit den abstraktesten Begriffen aufzuschlüsseln; die Einsicht in die nivellierenden Tendenzen der Kulturindustrie; die Fähigkeit, im unverstellten Bewusstsein der Negativität die Autonomie des Gedankens festzuhalten und am Projekt einer mündigen Menschheit mitzuwirken – gezeigt hat, gewinnt seine Kraft erst aus dem Kon‑ zept einer negativen Dialektik. Die größte Herausforderung aber stellt das Denken Adornos dar, wenn wir es jenseits seiner Verwendung als Steinbruch und Stachel als Ganzes in seinem eigenen, emphatischen Anspruch ernst zu nehmen versuchen. Versteht man ne‑ gative Dialektik als das, was sie sein will: nämlich Philosophie im emphatischen Sinne in einer Zeit, in der diese Gestalt der Philosophie vergangen ist, so können ihre Stringenz und die Konsequenz, mit der sie dieses Programm durchführt, 25 Adorno:

Ästhetische Theorie, S.  129. Fredric: Archaeologies of the Future. The Desire Called Utopia and Other Science Fictions, London/New York 2007. 27 Seel/Keppler: „Zwischen Vereinnahmung und Distanzierung. Vier Fallstudien zur Massenkultur“, S.  108. 28  Ritsert: „Methode“, S.  232. 26 Jameson,

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nicht geleugnet werden. Dass sich an dieses Projekt nicht unmittelbar anschlie‑ ßen lässt, liegt nicht an einem überholten Paradigma noch an dieser oder jener Unstimmigkeit, sondern gehört zum Konzept negativer Dialektik konstitutiv dazu. Adorno hat bereits in seinem Husserlbuch angekündigt: „Nicht die Erste Philosophie ist an der Zeit sondern eine letzte.“29 Die Negative Dialektik löst diesen Anspruch ein: negative Dialektik ist philosophia ultima. Bezieht man diesen Anspruch nicht auf das emphatische Philosophieverständnis, so er‑ scheint negative Dialektik schon lange wiederlegt. Schließlich gab es zu ihrer Zeit bereits andere Philosophien und auch heute gibt es offensichtlich noch Phi‑ losophien. Berücksichtig man aber, dass negative Dialektik philosophia ultima in einem ganz bestimmten Sinn ist, dann gelingt die Abfertigung nicht so leicht. Negative Dialektik ist nicht die letzte Philosophie überhaupt, aber die letzte, nicht regressive Gestalt eines Philosophieverständnisses, das von Platon bis He‑ gel verbindlich war, danach aber Stück für Stück preisgegeben wurde; sie ist philosophia ultima, weil man dieses Verständnis nicht anders weiterverfolgen kann als auf dem Weg der Selbstkritik, der Negation, als Negativismus, viel‑ leicht gar nur als negative Dialektik – das Projekt eines in diesem Sinne kriti‑ schen Denkens, einer kritischen Theorie der Vernunft, ist Adornos Vermächt‑ nis. In der Rezeption der negativen Dialektik scheint es keinen Mittelweg zu geben zwischen orthodoxem Nachbeten und der Preisgabe des ganzen Pro‑ gramms. Tatsächlich aber kann diese Frage nicht abstrakt vorentschieden wer‑ den; ob man an Adorno produktiv anschließen kann oder nicht, zeigen erst die produktiven Anschlüsse selbst. Jenseits der zahlreichen produktiven Aneignun‑ gen in den philosophischen Einzeldisziplinen wird sich die Zukunft der ador‑ noschen Philosophie daran entscheiden, ob sie in der Tat die letzte Gestalt emphatischer Philosophie ist, oder ob sich dieses Philosophieverständnis noch über das Konzept einer negativen Dialektik hinaus entwickeln lässt, ohne vor‑ kritisch hinter es zurückzufallen. Dieses Konzept in seinem Anspruch, seinem begrifflichen Umfang und seiner argumentativen Konsistenz darzulegen, war die Aufgabe, die es zu bewältigen galt. Darüber hinaus an Adorno anzuschlie‑ ßen oder gar über ihn hinauszugehen, ist eine Aufgabe, die man der Zukunft überlassen muss.

29 Adorno:

Metakritik der Erkenntnistheorie, S.  47.

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Literaturverzeichnis Schriften von Adorno und Hegel Theodor W. Adorno GS  Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann unter Mit‑ wirkung von Gretel Adorno, Susan Buck‑Morss und Klaus Schultz, Frankfurt a. M. 2003. –: „Die Transzendenz des Dinglichen und des Noematischen in Husserls Phänomeno‑ logie“, GS 1, S.  7–77. –: „Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre“, GS 1, S.  79–322. –: „Die Aktualität der Philosophie“, GS 1, S.  325–344. –: „Die Idee der Naturgeschichte“, GS 1, S.  345–365. –: „Thesen über die Sprache des Philosophen“, GS 1, S.  366–371. –: „Kierkegaard noch einmal“, GS 2, S.  239–259. –: (mit Horkheimer): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, GS 3 (= Di‑ alektik der Aufklärung). –: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, GS 4 (= Minima Mora‑ lia). –: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien, GS 5, S.  7–245 (= Metakritik der Erkenntnistheorie). –: Drei Studien zu Hegel, GS 5, S.  247–381. –: „Aspekte“, GS 5, S.  251–294. –: „Erfahrungsgehalt“, GS 5, S.  295–325. –: „Skoteinos oder Wie zu lesen sei“, GS 5, S.  326–375. –: Negative Dialektik, GS 6, S.  7–412. –: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, GS 6, S.  413–526 (= Jargon der Eigentlichkeit). –: Ästhetische Theorie, GS 7. –: „Gesellschaft“, GS 8, S.  9 –19. –: „Kultur und Verwaltung“, GS 8, S.  122–146. –: „Aberglaube aus zweiter Hand“, GS 8, S.  147–176. –: „Soziologie und empirische Forschung“, GS 8, S.  196–216. –: „Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien“, GS 8, S.  217–237. –: „Einleitung zu Emile Durkheim, ‚Soziologie und Philosophie‘“, GS 8, S.  245–279. –: „Einleitung zum ‚Positivismusstreit in der deutschen Soziologie‘“, GS 8, S.  280–353 (= Positivismusstreit). –: „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?“, GS 8, S.  354–370. –: „Reflexionen zur Klassentheorie“, GS 8, S.  373–391.

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Literaturverzeichnis

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Schriften von Adorno und Hegel

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NaS  Adorno, Theodor W.: Nachgelassene Schriften, hg. vom „Theodor W. Adorno Archiv“, Frankfurt a. M. 1993 ff. I

Abteilung I: Fragment gebliebene Schriften

–: „Problem des neuen Menschentypus“, in: ders.: Current of Music. Elements of a Radio Theory, hg. von Robert Hullot-Kentor, NaS I 3, Frankfurt a. M. 2006, S.  650–661. IV

Abteilung IV: Vorlesungen

–: Einführung in die Dialektik, hg. von Christoph Ziermann, NaS IV 2, Berlin 2010. –: Ästhetik (1958/1959), hg. von Eberhard Ortland, NaS IV 3, Frankfurt a. M. 2009. –: Kants „Kritik der reinen Vernunft“, hg. von Rolf Tiedemann, NaS IV 4, Frankfurt a. M. 1995. –: Philosophie und Soziologie, hg. von Dirk Braunstein, NaS IV 6, Berlin 2011. –: Ontologie und Dialektik, hg. von Rolf Tiedemann, NaS IV 7, Frankfurt a. M. 2002. –: Probleme der Moralphilosophie, hg. von Thomas Schröder, NaS IV 10, Frankfurt a. M. 1996. –: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft, hg. von Tobias ten Brink und Marc Phillip Nogueira, NaS IV 12, Frankfurt a. M. 2008. –: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, hg. von Rolf Tiedemann, NaS IV 13, Frankfurt a. M. 2001 (= Geschichte und Freiheit). –: Metaphysik. Begriff und Probleme, hg. von Rolf Tiedemann, NaS IV 14, Frankfurt a. M. 1998 (= Metaphysik). –: Einleitung in die Soziologie, hg. von Christoph Gödde, NaS IV 15, Frankfurt a. M. 1993. –: Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66, hg. von Rolf Tiedemann, NaS IV 16, Frankfurt a. M. 2003 (= Vorlesung über Negative Dialektik). Briefwechsel Adorno, Theodor W. und Benjamin, Walter: Briefwechsel 1928–1940, hg. von Henri Lonitz, Briefe und Briefwechsel, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1994. Adorno, Theodor W. und Mann, Thomas: Briefwechsel 1943–1955, hg. von Christoph Gödde und Thomas Sprecher, Briefe und Briefwechsel, Bd. 3, Frankfurt a. M. 2002. Adorno, Theodor W. und Horkheimer, Max: Briefwechsel 1927–1937, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Briefe und Briefwechsel, Bd. 4.1, Frankfurt a. M. 2003. –: Briefwechsel 1938–1944, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Briefe und Briefwechsel, Bd. 4.2, Frankfurt a. M. 2004. –: Briefwechsel 1945–1949, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Briefe und Briefwechsel, Bd. 4.3, Frankfurt a. M. 2005. –: 1950–1969, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Briefe und Briefwechsel, Bd. 4.4, Frankfurt a. M. 2006. Adorno, Theodor W. und Kracauer, Siegfried: Briefwechsel 1923–1966, hg. von Wolf‑ gang Schopf, Briefe und Briefwechsel, Bd. 7, Frankfurt a. M. 2008. Adorno, Theodor W. und Scholem, Gershom: Briefwechsel 1939–1969, hg. von Asaf An‑ germann, Briefe und Briefwechsel, Bd. 8, Berlin 2015. Adorno, Theodor W. und Sohn-Rethel, Alfred: Briefwechsel 1936–1969, hg. von Chris‑ toph Gödde, München 1991.

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G.W.F. Hegel TWA  Hegel, G.W.F.: Werke in 20 Bänden (= Theorie Werkausgabe), hg. von Eva Mol‑ denhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986. –: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, TWA 2, S.  9 –138. –: Phänomenologie des Geistes, TWA 3 (= Phänomenologie). –: „Über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien. Privatgutachten für den König‑ lich Bayrischen Oberschulrat Immanuel Niethammer“, TWA 4, S.  403–416. –: Wissenschaft der Logik I, TWA 5 (= Logik I). –: Wissenschaft der Logik II, TWA 6 (= Logik II). –: Grundlinien der Philosophie des Rechts, TWA 7 (= Rechtsphilosophie). –: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, TWA 8 (= Enzyklopädie I). –: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, TWA 10 (= Enzyklopädie III). –: „Konzept der Rede beim Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin (Einleitung zur Enzyklopädie-Vorlesung) 22. Okt. 1818“, TWA 10, S.  399–417. –: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, TWA 12. –: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, TWA 18. –: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, TWA 20.

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Weitere Literatur

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Weitere Schriften von Hegel Hegel, G.W.F.: Die Vernunft in der Geschichte, hg. von Johannes Hoffmeister, Vorlesun‑ gen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 1, Hamburg 51955.

Weitere Literatur Adorno, Gretel und Tiedemann, Rolf: „Editorisches Nachwort (GS 7)“, in: Adorno: Ästhetische Theorie, GS 7, S.  535–544. Altenberg, Peter: Auswahl aus seinen Büchern, hg. von Karl Kraus, Wien 1932. Améry, Jean: „Die Tortur“, in: ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Unmeisterliche Wanderjahre. Örtlichkeiten, hg. von Gerhard Scheit, Werke, Bd. 2, Stuttgart, S.  599–622. Anders, Günther: „Thesen zum Atomzeitalter (1959)“, in: ders.: Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen zum atomaren Zeitalter, 6., durch ein Vorwort erweiterte Auflage von „Endzeit und Zeitenende“, München 1993, S.  93–105. Angehrn, Emil: Freiheit und System bei Hegel, Berlin 1977. –: „Metaphysik“, in: Pieper, Annemarie (Hg.): Philosophische Disziplinen. Ein Handbuch, Leipzig 1998, S.  213–233. –: „Dialektik der Utopie. Von der Unverzichtbarkeit und Fragwürdigkeit utopischen Denkens“, in: Hofmann-Riediger, Monika und Thurnherr, Urs (Hgg.): Anerkennung. Eine philosophische Propädeutik. Festschrift für Annemarie Pieper, Freiburg/ München 2001, S.  186–199 (= Dialektik der Utopie). –: „Kant und die gegenwärtige Geschichtsphilosophie“, in: Heidemann, Dietmar H. und Engelhard, Kristina (Hgg.): Warum Kant heute? Systematische Bedeutung und Rezeption seiner Philosophie in der Gegenwart, Berlin/New York 2004, S.  328–351. –: „Das Leiden und die Philosophie“, in: Hühn, Lore (Hg.): Die Ethik Arthur Schopenhauers im Ausgang vom Deutschen Idealismus (Fichte/Schelling), Würzburg 2006, S.  119–131. –: „Kritik und Versöhnung. Zur Konstellation Negativer Dialektik bei Adorno“, in: Kohler, Georg und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2008, S.  267–291 (= Kritik und Versöhnung). –: Geschichtsphilosophie. Eine Einführung, Nachdruck der Erstauflage von 1991, Basel 2012. Aristoteles: Metaphysik, hg. von Ursula Wolf, übers. von Hermann Bonitz, Reinbeck bei Hamburg 2005. Baumeister, Thomas und Kulenkampff, Jens: „Geschichtsphilosophie und philosophi‑ sche Ästhetik. Zu Adornos ‚Ästhetischer Theorie‘“, Neue Hefte für Philosophie, H. 5 (1973), S.  74–104. Beckett, Samuel: L’innommable, Paris 1998. Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Gesammelte Schriften Bd. I.1, S.  203–430, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991. Benz, Wolfgang: Ausgrenzung. Vertreibung. Völkermord. Genozid im 20. Jahrhundert, München 2006.

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Literaturverzeichnis

Wellmer, Albrecht: „Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der Modernität“, in: ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a. M. 1985, S.  9 –47 (= Wahrheit, Schein, Versöhnung). –: „Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno“, in: ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a. M. 1985, S.  48–114 (= Dialektik von Moderne und Postmoderne). –: „Adorno, Anwalt des Nicht-Identischen. Eine Einführung“, in: ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a. M. 1985, S.  135–166 (= Anwalt des Nicht-Identischen). –: „Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“, in: ders.: Endspiele. Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt a. M. 1993, S.  204–223. –: „Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute. Fünf Thesen“, in: ders.: Endspiele. Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt a. M. 1993, S.  224–235. –: „Über Negativität und Autonomie der Kunst. Die Aktualität von Adornos Ästhetik und blinde Flecken seiner Musikphilosophie“, in: Honneth, Axel (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt a. M. 2005, S.  237–278 (= Negativität und Autonomie der Kunst). –: „Adorno und die Schwierigkeiten einer kritischen Konstruktion der geschichtlichen Gegenwart“, WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg./H. 1 (2007), S.  138–153. Wesche, Tilo: „Negative Dialektik: Kritik an Hegel“, in: Klein, Richard, Kreuzer, Jo‑ hann und Müller-Doohm, Stefan (Hgg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, S.  317–325. Whitebook, Joel: „Von Schönberg zu Odysseus: Ästhetische, psychische und soziale Synthesis bei Adorno und Wellmer“, in: Menke, Christoph und Seel, Martin (Hgg.): Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter, Frankfurt a. M. 1993, S.  103–126. Wussow, Philipp von: Logik der Deutung. Adorno und die Philosophie, Würzburg 2007 (= Logik der Deutung). Ziermann, Christoph: „Dialektik und Metaphysik bei Marx und Adorno“, in: Ette, Wolfram u. a. (Hgg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens, Freiburg 2004, S.  24–56. „Doomsday Clock Timeline“, http://thebulletin.org/timeline (aufgerufen am 21.7.2015).

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Personenregister* Améry, Jean  248, 254 Anaxagoras 143 Anders, Günther  295 Angehrn, Emil  26–27, 75–76, 97, 101, 114–115, 117, 133–134, 145, 174–175, 180, 260–261, 263, 267, 270–271, 302, 336, 340, 347, 353 Anselm von Canterbury  431 Aristoteles  45, 122, 245, 259–260 Balzac, Honoré de  85 Baumeister, Thomas  8 Beckett, Samuel  216, 220, 389–390 Benjamin, Walter  21, 28–29, 64, 79, 206, 287, 318, 326, 353–357 Bergson, Henri  207–208, 211 Bernstein, J.M. 25, 195, 205 Bittner, Rüdiger  126 Bloch, Ernst  205, 340, 342, 349, 352, 418 Bolz, Norbert  30, 125, 260 Bowie, Andrew  167, 262, 378, 432 Bozzetti, Mauro  2, 29–30, 38, 241, 413 Brandom, Robert B. 159, 262 Brumlik, Micha  126 Bubner, Rüdiger  8, 12, 120, 205 Buck-Morss, Susan  28 Daniel, Claus  41 Darwin, Charles  333 Demokrit 199 Derrida, Jacques  9, 371 Descartes, René  368 Doderer, Heimito von  85 Durkheim, Emile  193 Engels, Friedrich  291, 293, 383 Ette, Wolfram  116, 388–389 * 

Fichte, Johann Gottlieb  230 Foster, Roger  137, 185, 205, 207, 209, 213 Foucault, Michel  9, 371 Fulda, Hans Friedrich  38, 93, 208 Gehring, Petra  184 Geuss, Raymond  14, 260, 263 Goethe, Johann Wolfgang von  122, 309 Grenz, Friedemann  99 Günther, Klaus  193 Guzzoni, Ute  257 Habermas, Jürgen  3, 4–12, 13, 14, 16–18, 60, 69–70, 102, 128, 136–137, 156–159, 161, 164, 170, 188, 194, 214, 246–247, 255, 268, 283, 319, 337, 341, 351, 359, 370, 371–376, 378–379, 379–382, 384, 432, 434–435 Hammer, Espen  360, 383, 388 Heidbrink, Ludger  86, 126 Heidegger, Martin  9, 21, 28, 155, 160, 164, 241, 243, 326, 354–355, 371, 411, 430 Henrich, Dieter  2–3, 49–50, 55, 60, 71, 90, 92, 260, 269, 379 Hetzel, Andreas  292, 399 Hindrichs, Gunnar  104, 110, 162, 172, 177, 344, 424, 431, 436 Hobbes, Thomas  199 Hölderlin, Friedrich  211, 392, 397, 397–400 Honneth, Axel  12, 15–17, 21, 23, 183, 193, 212, 263–266, 277, 279, 282, 299, 303, 307, 318, 338, 339, 340–341, 430 Horkheimer, Max  9–12, 16, 23, 25, 69, 147, 175, 185, 190, 223, 253

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Personenregister

Hullot-Kentor, Robert  10–11, 19, 54, 208, 247, 332, 429, 437 Humboldt, Wilhelm von  224 Husserl, Edmund  28, 179, 184–185, 192, 195, 208, 211, 221–222, 225, 249, 369 Hutter, Axel  359, 369, 371, 374, 384, 401, 403, 405, 421 Iber, Christian  2, 51, 233–234, 236–237 Jaeggi, Rahel  217 Jameson, Fredric  64, 81–82, 224, 292, 340, 438 Jarvis, Simon  112, 395 Jay, Martin  41, 64, 70, 166–167, 340–341, 433 Kafka, Franz  85 Kager, Reinhard  41 Kant, Immanuel  20, 26–27, 28, 43–45, 48, 84, 102, 123, 146, 189, 195, 202–203, 205 209, 220, 222–223, 225–226, 228–230, 230–233, 237–238, 244, 255, 257, 259, 272–274, 276, 334, 336, 346–347, 360, 364–367, 370, 372–373, 377, 379, 380, 385, 389, 391–392, 392–397, 399–401, 402–406, 408, 410–411, 414, 417–420, 435 Keppler, Angela  437 Kern, Andrea  14–15, 188, 223, 227 Kierkegaard, Søren Aabye  12, 45, 60, 65, 98, 380 Klein, Richard  1–3, 4–5, 8, 13–14, 71, 180 Kogon, Eugen  248 Kohler, Georg  129 Kracauer, Siegfried  64, 79, 184 Kreuzer, Johann  206, 397–398, 400 Kulenkampff, Jens  8 Leibniz, Gottfried Wilhelm  77 Lukács, Georg  68, 189, 326, 329, 355–356, 366 Mann, Thomas  96, 199, 421 Marx, Karl  20–22, 38, 45, 54, 60–62, 81, 95, 103, 115, 145, 255, 271, 286–288, 291–293, 311, 326–327, 328, 330–331, 332–333, 336, 353, 354, 383

McDowell, John  213, 228, 232, 243, 431 Meisenheimer, Jens  64 Merleau-Ponty, Maurice  154, 160, 175–179, 252 Meyer, Martin  295 Müller, Stefan  17, 31, 41, 180 Müller, Ulrich  17–18, 75, 78–79, 99, 188 Müller-Doohm, Stefan  11, 166 Müller-Strömsdörfer, Ilse  2–3, 53, 71 Neckel, Sighard  76 Niethammer, Immanuel  112 Nietzsche, Friedrich  20, 138–139, 145, 152, 220, 264, 308, 354, 414–415, 419–420, 426 O’Connor, Brian  30, 39, 41, 54–55, 139, 215, 229, 232, 320–324 Picardi, Eva  201 Picht, Georg  25 Pippin, Robert B. 139, 172–173, 181, 262 Plass, Ulrich  19 Platon 23, 63, 118, 122, 259–260, 354, 429, 439 Plessner, Helmuth  130, 351 Reitz, Tilman  14 Rentsch, Thomas  1, 41, 56, 62–63, 125, 172 Ritsert, Jürgen  2, 147–148, 158, 164–165, 438 Robinson, Josh  112 Rose, Gillian  112–113 Ross, Alex  436 Sandkaulen, Birgit  42–43, 46, 53, 63, 82, 170, 172, 286, 289–290, 300, 313, 320, 322 Sartre, Jean-Paul  21, 175–176, 179, 208 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  431 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 380 Schmid Noerr, Gunzelin  248, 285 Schmidt, Alfred  42 Schnädelbach, Herbert  12–13, 22, 47, 71, 76, 120, 125, 137, 139, 188, 231, 282, 286, 288, 290, 291–292, 325, 333–335

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Personenregister

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Scholem, Gershom  32, 128, 191, 252 Schopenhauer, Arthur  411 Schweppenhäuser, Gerhard  123, 134, 156 Seel, Martin  17, 68, 132, 150, 268, 437–438 Shakespeare, William  216 Short, Jonathan  213 Simmel, Georg  205 Sohn-Rethel, Alfred  22, 72, 188–191, 225 Sokrates 304–305 Spengler, Oswald  337 Spinoza, Baruch de  107, 118, 120 Stekeler-Weithofer, Pirmin  108, 143 Sziborsky, Lucia  28

Thomä, Dieter  147, 179 Thyen, Anke  5, 8, 13, 41, 42, 188, 208, 230, 241, 269 Tiedemann, Rolf  6, 12, 59, 184

Taylor, Charles  186 Theunissen, Michael  12, 60, 87–88, 91–92, 96–98, 114, 126, 140, 236

Ziermann, Christoph  35, 126, 168

Wellmer, Albrecht  13, 15, 42, 120, 125–126, 156, 158–161, 246, 319, 325, 365–366, 434 Wesche, Tilo  316, 430–431 Whitebook, Joel  157, 160 Wirz, Benno  118 Wittgenstein, Ludwig  21, 82, 158–159, 371, 430 Wussow, Philipp von  31

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Sachregister Absolute  25, 32, 48–49, 70, 112, 131, 142, 148, 168–169, 171, 172–182, 277–278, 354, 365, 375–377, 393–397, 398, 404, 418–420, 421–428 Aporetik der Negativen Dialektik 5–10, 12, 69–70, 82, 136, 152, 156, 170, 429, siehe auch Übergang der Negativen Dialektik in die Ästhetische Theorie Ästhetische Theorie  12, 16, 85 – Übergang der Negativen Dialektik in die  8–11, 12, siehe auch Aporetik der Negativen Dialektik Atombombe  1, 26, 84, 269, 277, 295–296, 316, 323–324 Aufklärung  361, 369, 398–399, 410, 415–416 Auschwitz  1, 24–27, 93–95, 220, 267–269, 270–272, 277, 279, 285, 309, 324, 338–339, 360–362, 424

Idealismus  29, 39–40, 46–47, 54, 63–64, 98, 101, 104–105, 109, 147, 167–168, 177, 199–202, 203, 222–223, 227–228, 231, 237–238, 251–252, 311, 392–394, siehe auch Identität, spekulative Identität 135–138 – spekulative  37–40, 41–42, 56, 60, 104–105, 108–111, 112–116, 119, 121, 138–148, 169–170, 174–181, 199–200, 238, 262, 418, siehe auch Leid und Identität ­– identifizierendes Denken  51, 56, 59, 69, 71, 73–74, 82–83, 108–111, 121, 137, 138–148, 148–167, 201, 208, 227, 398–401, 404–406, 423–424 ­– und Tausch  71–74, 191–194, siehe auch Tausch – und Geschichte  321–324 Impuls  219–221, 247–249, 258–259, 261, 263–264, 283

Deutung  77, 327, 335, 357–358, 425–426 Endlichkeit/Unendlichkeit  172–173, 177, 181–182, 200, 272–274, 369, 402–409, 425 Fetischcharakter der Ware  62, 318 Freiheit  150–152, 257–259, 270–275, 278, 299–300, 302–305, 306–308, 359–360, 367, 401 Glück  265, 268, 274–275, 279, 293–294 Hoffnung  1, 96, 121–124, 271–275, 349–350, 389–391, 410–415, 415–421, 424–428, siehe auch Unausdenkbarkeit der Verzweiflung – des Namens  82–83

Kindheit  266, 279, 363, 390–391 Konstellation  81–84, 152, 166, 277, 425, 427, siehe auch Modell Kritische Theorie  11–12, 16–17, 19, 158, 341, 346, kritische Theorie  1, 194–198, 216, 221, 284, 439 Kulturindustrie  344–346, 437–438 Leib  195–198, 202, 206–207, 218, 220–221, 246–251, 252, 254, 258–260, 283, 362–363, 399, 412, siehe auch Leid, somatisches Leid  88–89, 94, 134–135, 220, 260–270, 270–273, 275, 278–279, 281, 283–284, 351–352, 417, siehe auch Auschwitz – somatisches  109, 202, 247–248, 260–266, 268, 270, 279, 283, 435

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Sachregister

– und Identität  109, 262 – und Geschichte  270, 293–294, 297, 308–309, 316, 325 – und Metaphysik  131, 360, 389, 424, 432 – und Wahrheit  263, 267–270 Logik – dialektische  31, 35–40, 60–61, 176, 178–179, 338 – nichtdialektische  176, 179 – Genesis und Geltung der  190–193 – des Zerfalls  165–166, siehe auch Transzendenz der Begriffe Materie  167–169, 182, 200–202, 229, 248–249, 252, 256, 362–363, 364–365, siehe auch Stoff Materialismus  147, 163, 167–169, 199–202, 251–253, 257, 358–367 – und Dialektik  59–60, 168–169, 199–201, 321 – Erkenntnissubjekt, materialistisches  195–199, 283, 288 – Sprachtheorie, materialistische  153–156, 159, 161, 164 – und Weltgeist  298, 291–293 – und Metaphysik  358–367 Mikrologie  65–68, 75–80, 82–85, 427 Mimesis  218, 221, 246, 246–251, 254, 261, 268 Modell  76, 80–85, 166, 277–278, siehe auch Konstellation Moral  220–221, 248–250, 260, 263 nachmetaphysisches Denken  12, 359, 374–376, 431, 434, 436 – und Religion  371–372, 378, 380–381 Natur  257–259, 328–332, 332–333, 354–357, 401 – Naturmoment der Vernunft  255–260, 273, 380, 397–401, 405, 407 – zweite  61–62, 328–332, 354–357 – Naturbeherrschung  257–259, 322–325, 405 Negation  81, 90–91, 96–106, 126–127, 439 – bestimmte  93, 96–106, 111–112, 116, 121–123, 126, 132–134, 388–389, 402–408

– positive  50, 55, 85–86, 91–93, 96–106, 111–112, 114, 388, 408, siehe auch Negativität, Selbstpositivierung der – Selbstnegation der Dialektik  175–180, 423 Negativität  17, 26–27, 37, 49, 52, 85–135, 262, 432–434, 438 – Selbstpositivierung der  90–92, 101, 175, siehe auch Negation, positive, siehe auch Vermittlung, Hypostasis der – absolute  86, 92–94, 95, siehe auch Auschwitz – und Vermittlung  90–91 – und Spekulation  112–116, 117–118, 120–124, 125–127, 129–135 – und Utopie  1, 129–135, 338–339, 340–342, 350–351, 353 – und Erfahrung 267–270, 270–275 – und Geschichte  293–296, 308–309, 319, 335, 337–339 Nichtidentität/Nichtidentisches  29, 54, 56, 59–60, 68–69, 74, 77, 81, 96, 103, 108–109, 111, 116, 122, 124, 135–138, 141–148, 182, 200, 210–212, 214, 256, 260, 280, 284, 391, 398–400, 427–428 – spekulative Nichtidentität  37–40, 141–148, 170–171, 176, 179, 181, 262, 417–418, 424–425, 427–428 – im identifizierenden Denken  138–141, 146–148, 149–152, 156–161, 161–167, 427 – und das Absolute  168–169, 418, 423–424, 427–428 – und das Materielle  167–169, 251–254 – und kommunikative Vernunft  6–7, 13, 136–137, 156–161, 340–341 – bei Hegel  29, 140–144 – von Subjekt und Objekt  239–241 – und Geschichte  321–324 Nominalismus  121–122, 153–154, 291–292 Offene  112, 115–116, 211, 377, 397–401, 404–405, 438 – offene Dialektik  425 Ontologie des falschen Zustandes  1, 22, 71, 74, 269

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Sachregister

Positivismus  291–292, 337, 360, 414 Revolution  21–22, 24, 351, 433 Säkularisierung  128–129, 357, 371, 384, 387 Schein, 328–323, 339, 342–346, siehe auch Natur, zweite – der Unmittelbarkeit  62–63, 90 ­– der begrifflichen Sphäre  71–75 – der Konstitution  195–196, 223, 234, 241–242, 246, 248–249 – metaphysischer  377, 406–409 – der Dialektik  175–180, 423–424 somatisch, siehe Leib, siehe auch Leid, somatisches Spekulation  37, 101, 106, 111–112, 112–116, 117–124, 124–129, 129–132, 134–135, 360–361, 366–367, 391–392, 411–413, siehe auch Identität, spekulative – und Dialektik  173–175, 181 – Positiv-Vernünftiges  63, 104, 111, 112–114 – und Utopie  132 – spekulative Inhalte  140–141, 149 Stoff  238–239, 241–242, 245–246, 250, siehe auch Materie Subjekt – transzendentales  188–189, 220–221, 222–225 – und Objekt  56–59, 157–158, 180–181, 208–209, 226–227, 227–230, 233–237, 237–243, 245–246, 248–250, 251–253, 253–255, siehe auch Identität, spekulative Synthese – dialektisch (Triplizität) 1, 32, 35, 37, 51–53, 91, 176 – erkenntnistheoretische  206, 242–246 – fundamentum in re der  243–246, 254 Tausch  71–75, 80, 191–194 Theodizee 309 Theologie  128–129, 359, 371, 373, 384, 412–413 Totalität  64–80, 81–82, 85, 106–107, 118, 135, 195, 217–218, 283–284, 291, 342–343, 345, 388, 425

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– begriffliche vs. gesellschaftliche  70, 71–75 – Vorgriff auf die  76–78 – der Dialektik  171, 175–177 – und Absolutes  419, 422 Transzendenz – der negativen Zeichen  119–120, 122, 126–127 – transzendenter Gehalt der Begriffe  163–165 siehe auch Logik des Zerfalls – metaphysische vs. erkenntnistheoreti‑ sche 169 – erkenntnistheoretische  214, 234, 236–237 – immanente 236–237 – Transzendieren der Negativität  271, 274–275 – metaphysische  115–116, 357–358, 363, 387–389, 391–392, 396–398, 401, 404, 406–407, 409, 412–415, 416–418 – Liquidierung der  395–396 Unausdenkbarkeit der Verzweiflung  418–419, 427–428, siehe auch Hoff‑ nung Utopie  1, 88, 95, 103, 109, 121, 129–135, 151–152, 170, 181, 294, 312, 325, 336, 338–339, 340–352, 353–354, 390–391, 412, 417, 434, siehe auch Spekulation und Utopie, siehe auch Negativität und Utopie – realistische  341, 349–350 – als pragmatisches Handlungs‑ ziel 347–352 – emphatische  341, 347–352 Verblendungszusammenhang 125, 342–346 Verdinglichung  62, 206, 318, 386 Vermittlung  41–64, 67–70, 75–80, 81–83, 91–92, 94, 162–164, 174–181, 200, 212–213, 221–225, 228–229, 233–237, 240–247, 281–284, 300–302, 322, 328–331, 345–346, 364–365, 400–401, 407, 416, 422–425, 431 – Differenz in der  42–43, 55–64, 67–69, 94, 177, 228–229, 233–237, 240–243, 364–365

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Sachregister

– Hypostasis der  48–54, 59–61, 67, 91–92, 94, 180–181, 200–201, 301, siehe auch Negativität, Selbstpositi‑ vierung der – und Negativität, siehe Negativität und Vermittlung – und das Absolute  48–49, 422–425 Vernunft – als νοῦς 310–312 – emphatische  302–303, 310–313, 372–379, 379–385 – kommunikative  156–161, 340–341, 372–379, 379–385 – und Unvernunft  1, 22, 219–220, 309–316, 416, 436 – in der Geschichte  25, 302, 307–309, 309–316, siehe auch Vernunft, Wirklichkeit der/Verwirklichung der – Wirklichkeit der/Verwirklichung der  22, 25, 95, 139–146, 262–263, 304–305, 416, 420, 436 – Selbstreflexion der/Selbstbegrenzung der  248, 255–260, 370, 380, 392–409

– Negativ-Vernünftige  63, 113–114 – Positiv-Vernünftige  104, 111, 112–114 Vorrang des Objekts  59, 228–229, 237–246, 248, 251–253, 386–388, 407 Wahrheit  67, 107–108, 118–119, 120–124, 134–135, 154–155, 193, 218, 263, 267–270, 275, 294, 360–361, 376, 379, 382, 387, 395, 408–409, 410, 412–415, 419–420, 426 – Idee der Wahrheit  121–124, 134–135, 387, 410, 412–415 – Verwirklichung der  134–135 – und Leid  263, 267–270, 294 Widerspruch  71–75, 83, 108–111, 115–116, 121–122, 142, 164–166, 211, 254, 262, 416–417 – performativer  9, 69–70, 283 – Selbstwiderspruch der Dialektik  178

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