Perspektiven einer sozialstaatlichen Umverteilung im Gesundheitswesen [Reprint 2018 ed.] 9783486831801, 9783486564587

Mit diesem Band stellt sich das im Mai 1997 errichtete Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der Fachöffe

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Perspektiven einer sozialstaatlichen Umverteilung im Gesundheitswesen [Reprint 2018 ed.]
 9783486831801, 9783486564587

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einführung zum Thema und zu den Zielsetzungen der Veranstaltung
Solidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen
Die Entwicklung der korporatistischen Steuerungsstrukturen ambulanter Krankenversorgung in Deutschland und ihre verteilungspolitischen Implikationen
Pflegepolitik und Gesundheitswesen
Demographie und Sozialepidemiologie - Zur These vom demographisch bedingten Anstieg der Gesundheitsausgaben
Umverteilung und Pflegeversicherung Verteilungswirkungen der Einfuhrung und aufgrund der langfristigen Finanzentwicklung der Pflegeversicherung
Altern und Gesundheit
Verteilung und Verteilungspolitik im Gesundheitswesen
Sozialstaat und Gesundheitspolitik
Zu den Autoren

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Perspektiven einer sozialstaatlichen Umverteilung im Gesundheitswesen

Soziologie und Sozialpolitik Herausgegeben von Ilona Ostner, Adalbert Evers, Rolf G. Heinze, Stephan Leibfried, Lutz Leisering, Thomas Olk (verantwortlich) Band 13

R. Oldenbourg Verlag München 1999

Perspektiven einer sozialstaatlichen Umverteilung im Gesundheitswesen Herausgegeben von Gerhard Igl und Gerhard Naegele

R. Oldenbourg Verlag München 1999

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Perspektiven einer sozialstaatlichen Umverteilung im Gesundheitswesen / hrsg. von Gerhard Igl.München: Oldenbourg, 1999 (Soziologie und Sozialpolitik ; Bd. 13) ISBN 3-486-56458-7

© 1999 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D - 81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: WB-Druck, Rieden ISBN 3-486-56458-7

Inhalt Vorwort

7

Einführung zu dem Thema und Zielsetzungen der Veranstaltung

9

Solidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen von Klaus-Dirk Henke und Ursula Rachold

11

Die Entwicklung der korporatistischen Steuerungsstrukturen ambulanter Krankenversorgung in Deutschland und ihre verteilungspolitischen Implikationen von Franz-Xaver Kaufmann

27

Pflegepolitik und Gesundheitswesen von Margarete Landenberger

51

Demographie und SozialepidemologieZur These vom demographisch bedingten Anstieg der Gesundheitsausgaben von Gerhard Naegele unter Mitarbeit von Thomas Kauss

63

Umverteilung und Pflegeversicherung von Heinz Rothgang

87

Altem und Gesundheit von R o l f - M. Schütz

109

Verteilung und Verteilungspolitik im Gesundheitswesen von Jürgen Wasem

117

Sozialstaat und Gesundheitspolitik von Hans F. Zacher

143

Zu den Autoren

165

Vorwort Mit der in diesem Band dokumentierten Veranstaltung „Perspektiven einer sozialstaatlichen Umverteilung im Gesundheitswesen" (Kiel, 13./14. November 1997) stellt sich das im Mai 1997 errichtete Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (Vorstände: Prof. Dr. Gerhard Igl - geschäftsführend; Prof. Dr. Albert von Mutius) der Fachöffentlichkeit vor. Dieses Institut verfolgt - stets mit dem Zentrum der Befassung mit sozialrechtlichen Gegenständen - einen inter- und multidisziplinären Ansatz. Dabei soll vom Sozialrecht her eine Öffnung zu den anderen wissenschaftlichen Disziplinen auf der Basis der Kooperation stattfinden. Diese Öffnung zu anderen Disziplinen kommt bei der hier dokumentierten Veranstaltung auf zweifache Weise zum Ausdruck: In der Zusammenarbeit mit dem Istitut für Gerontologie der Universität Dortmund als Mitveranstalter und im multidisziplinären Ansatz, mit dem das Thema der Umverteilung im Gesundheitswesen verfolgt wird. Mit den an der Veranstaltung aktiv Beteiligten ist es gelungen, über alle Disziplinen hinweg an ein gemeinsames Verständnis über die Notwendigkeit eines solchen Ansatzes zu rühren. Dieses gemeinsame Verständnis hat die an der Gründung des Instituts Beteiligten und die Mitglieder des Instituts darin bestärkt, daß es des Beitrags aller an der Sozialpolitik partizipierenden Disziplinen bedarf, um Sozialpolitik wissenschaftlich zu betreiben. Den finanziellen Förderern dieser Veranstaltung, der AOK Schleswig-Holstein, der Hans—Böckler-Stiftung, dem Land Schleswig-Holstein und der ChristianAlbrechts—Universität sind wir zu Dank verpflichtet. Bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der beteiligten Institute verdienstvoll tätig geworden. Der Dank richtet sich an Frau Gitta Butenschön, Frau Imke Hermann, Frau Cornelia Priebcke—Hille, Frau Ariane Wolff und die Herren Frank Liebhart, Malte Mursch und Falk Stadelmann vom Lehrstuhl und Institut in Kiel sowie an Frau Sabine Carell und Herrn Thomas Kauss vom Institut in Dortmund.

Kiel, im Frühjahr 1998 Gerhard Igl

Albert von Mutius

Gerhard Naegele

Einführung zum Thema und zu den Zielsetzungen der Veranstaltung Mit der Veranstaltung sollte ein Beitrag zur Benennung und Erläuterung der Rahmenbedingungen für die Perspektiven einer sozialstaatlichen Umverteilung im deutschen Gesundheitswesen geliefert werden. Dafür konnten namhafte Referentinnen und Referenten aus allen beteiligten Wissenschaftsdiszplinen gewonnen werden. Ziel war, mehr als bisher darüber zu erfahren, wie sich die Perspektiven der Gesundheitspolitik in einer Zeit darstellen, in der die sozialen Sicherungssysteme und damit auch ein wesentliches, die Gesundheitspolitik stützendes soziales Sicherungssystem, die gesetzliche Krankenversicherung, von Bestrebungen der Rationalisierung und Neujustierung geprägt werden. Es wurde aber bewußt nicht der Veranstaltungstitel „Perspektiven der gesetzlichen Krankenversicherung" gewählt. Vielmehr sollte der größere Zusammenhang des Gesundheitswesens und der Gesundheitspolitik hergestellt werden, in dem auch die gesetzliche Krankenversicherung steht. Dabei erschien es wesentlich, auf das sozialstaatliche Element der Umverteilung im Gesundheitswesen zu verweisen. Das Sozialstaatsprinzip ist in der Verfassung mit einer besonderen Wertigkeit versehen worden: Es unterliegt der sog. Ewigkeitsklausel; seine Abschaffung ist unzulässig (Art. 79 Abs. 3 GG). Im Referat von Prof. Dr. H. F. Zacher wird in beeindruckend grundlegender Weise auf die Verschränkungen von Sozialstaat und Gesundheitspolitik eingegangen. Die Veranstaltung hatte auch zum Ziel, die gesundheitspolitische Diskussion herauszuführen aus ihrer primären Orientierung gerade auf eine Fachwissenschaft, nämlich die Ökonomie und dort wieder die Gesundheitsökonomie. Die fachwissenschaftliche Diskussion der Gesundheitspolitik in der Ökonomie hat mittlerweile einen überaus hohen Grad an Differenzierung und Komplexität erreicht. Andere Fachdisziplinen stehen in der wissenschaftlichen Befassung mit Gesundheitspolitik hintan. Anders als in der Gesundheitspolitik sind in anderen Sozialpolitikfeldern diese Defizite nicht zu verzeichnen. So ist es etwa in Fragen der Alterssicherung oder der Sicherung bei Pflegebedürftigkeit selbstverständlich geworden, daß alle betroffenen wissenschaftlichen Disziplinen ihren Beitrag leisten, und es stellt sich nicht einmal mehr die Frage, wie sich die Vielfalt der Disziplinen untereinander verständigen kann, ohne babylonische Sprachverwirrung befürchten zu müssen. Anders in der Gesundheitspolitik, in der fachwissenschaftlich die ökonomische Diskussion und die ökonomische Disziplin dominiert. Mit dieser Veranstaltung sollte ein Schritt zu einer Selbstverständlichkeit hin gegangen werden: Alle einschlägigen Disziplinen sollen ihren Beitrag zur gesundheitspolitischen Diskussion leisten, um ein breiteres und besseres Verständnis dieses so hochkomplexen

10 Politikbereiches zu produzieren. Aus diesem Grund finden sich hier neben den Referaten der Vertreter der Gesundheitsökonomie auch Beiträge aus dem Bereich der Sozialwissenschaften (Demographie, Politologie, Soziologie), der Medizin und der Rechtswissenschaft. Das Gesundheitswesen wird allzu leicht gleichgesetzt mit dem Medizinwesen und mit den dort dominierenden Akteuren, der Ärzteschaft. Dieser etwas kruden Wahrnehmung ist mit einem weiten Begriff des Gesundheitswesens und der Gesundheitspolitik besonders entgegenzuwirken. Zwei Beiträge befassen sich deshalb mit der Pflegepolitik, einem Sektor, der erst durch die Einfuhrung der Pflegeversicherung Gegenstand vertiefter wissenschaftlicher Befassung geworden ist (Priv.-Doz. Dr. M. Landenberger; Dr. H. Rothgang). In der gesundheitspolitischen Diskussion, wie sie in den Medien, mehr und mehr aber auch in der Wissenschaft, stattfindet, drängt sich eine Sorge in den Vordergrund: Werden gesundheitsrelevante Leistungen zum Handelsgut? Und ebenso: Wird es eine Rationierung von gesundheitsrelevanten Leistungen geben? Mit diesen Fragen befindet man sich im zentralen Bereich der Ethik der Umverteilung im Gesundheitswesen. Das verfassungsrechtliche verankerte Sozialstaatsprinzip gäbe eigentlich die Gewähr für die Sicherung eines mittleren Weges der gesundheitspolitischen Umverteilung, so wie dieses Prinzip schon immer das ausgleichende Scharnier zwischen zuviel Freiheit der Marktteilnehmer und zuviel Egalität derer gebildet hat, die am Marktgeschehen aus welchen Gründen auch immer nicht voll partizipieren können. Die Ursachen möglicher Neuorientierungen für erforderliche Umverteilungen werden in den Referaten von Prof. Dr. G. Naegele und Prof. Dr. R.-M. Schütz behandelt. Mit den Strukturen und den Auswirkungen der Verteilung befassen sich in Hinblick auf die Pflegeversicherung Dr. Rothgang, in der ambulanten Krankenversorgung Prof. Dr. F.-X. Kaufmann, und allgemein im Gesundheitswesen Prof. Dr. J. Wasem. Im Schlußreferat des Vorsitzenden des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Prof. Dr. K.-D. Henke, wird sehr sorgfältig aufgezeigt, daß sich Solidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen nicht ausschließen müssen und ganz im Gegenteil als Voraussetzung für die Herstellung höherer Funktionstüchtigkeit des Gesundheitssystems dienen können.

Solidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen von Klaus-Dirk Henke und Ursula Rachold

I.

Gestaltungsprinzipien und Ziele im Gesundheitswesen

1. Gestaltungsprinzipien der sozialen Sicherung Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) in Deutschland ist wesentlich gekennzeichnet durch drei Gestaltungsprinzipien: Eigenverantwortung, Solidarität und Subsidiarität (vgl. SVRKAiG, 1994, Tz. 39ff.). Das Solidaritätsprinzip meint allgemein formuliert, daß der einzelne Hilfe von der Gemeinschaft und die Gemeinschaft Unterstützung vom einzelnen erhalten soll („Einer für alle und alle für einen") (vgl. Schulin, 1988, S. 68f.). Dieses Prinzip wird praktisch in der GKV dadurch umgesetzt, daß die Beiträge einkommensabhängig erhoben und die Leistungen im Bedarfsfall unabhängig vom Einkommen gewährt werden. Es findet dadurch eine Umverteilung zwischen jungen, gesunden und alten, kranken Menschen, zwischen Ledigen und Familien und zwischen höher- und geringerverdienenden Erwerbstätigen bzw. Erwerbstätigen und NichtErwerbstätigen statt. In Kombination mit dem Begriff Eigenverantwortung wird verdeutlicht, wer die Verantwortung für die Übernahme eines Risikos zu tragen hat: der einzelne oder die Gemeinschaft. Das Prinzip der Subsidiarität besagt, daß „größere Sozialgebilde keine Aufgaben an sich ziehen sollten, die kleinere Einheiten besser oder mindestens ebensogut erfüllen können und außerdem nur dann Aufgaben ständig übernehmen, die auf der niedrigeren Ebene auch auf Dauer nicht erbracht werden können." (SVRKAiG, 1994, Tz. 41). Inhalt des Subsidiaritätsprinzips ist damit eine Zuständigkeitsregel, die das Verhältnis und die Aufgabenverteilung der übergeordneten zu den untergeordneten Einheiten definiert und auf dem Solidaritätsgedanken basiert (vgl. Schulin, 1988, S. 90f.). „Grundsätzlich sollte diese „solidarische" Hilfe nicht automatisch jedem unabhängig von seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bei Eintritt eines bestimmten Ereignisses zukommen (wie es im Wohlfahrtsstaat geschieht), sondern nur subsidiär, d.h. wenn seine Leistungsfähigkeit bedroht oder erschöpft ist. Mißachtet man diesen Grundsatz, dann nähert man sich unversehens dem sozialisti-

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Klaus-Dirk Henke und Ursula Rachold

sehen Gesellschaftsmodell." (Arnold, 1995, S. 28). Diese drei Prinzipien finden ihren Ausdruck in den Zielen des Gesundheitswesens. 2. Ziele des

Gesundheitswesens

Am Anfang jeder gesundheitsökonomischen und -politischen Diskussion stehen die Zielvorstellungen der Gesellschaft bezüglich des Gesundheitswesens. Sie geben an, was zu erreichen ist und stellen zugleich auch die Kriterien dar, an denen der Erfolg gemessen wird. Diese Zielvorstellungen müssen von der Gesellschaft akzeptiert werden. Erst dann ist über die Wege der Zielerreichung und letztendlich über Träger und Institutionen zu diskutieren. Was sind aber die Ziele der Gesundheitsversorgung in der Bevölkerung? Diese Frage läßt sich nicht beantworten, da niemals eine repräsentative Umfrage zu dieser Thematik stattgefunden hat. Es soll daher auf bereits formulierte Ziele zurückgegriffen werden wie z.B. die Ausfuhrungen in Jahresgutachten des Sachverständigenraten für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVRKAiG), insbesondere im Jahresgutachten 1994, wobei auch die Formulierungen dieses Gremiums letztendlich von der breiten Bevölkerung bestätigt werden müßten. Der Sachverständigenrat identifiziert 3 Zielebenen, die in der folgenden Abbildung dargestellt sind.

Solidarität u n d W e t t b e w e r b im G e s u n d h e i t s w e s e n

13

Abbildung 1: Zielebenen im Gesundheitswesen

Zielebene

1: Krankenversorgung

und gesundheitliche Bevölkerung

Betreuung

der

- Verhinderung des vermeidbaren Todes - V e r h ü t u n g , Heilung und Linderung v o n Krankheit s o w i e damit v e r b u n d e n e m S c h m e r z und U n w o h l s e i n ; - W i e d e r h e r s t e l l u n g der körperlichen und p h y s i s c h e n Funktionstüchtigkeit; - W a h r u n g d e r m e n s c h l i c h e n W ü r d e und Freiheit a u c h im Krankheitsfall und beim S t e r b e n ; - „Angstfreiheit" durch die Verfügbarkeit von L e i s t u n g e n für den Eventualfall; - Stärkung des Gesundheitsbewußtseins; - F ö r d e r u n g d e s m e d i z i n i s c h e n und d e s m e d i z i n i s c h - t e c h n i s c h e n Fortschritts;

Zielebene

2: Gesundheitspolitische

Ziele

- g l e i c h e r Z u g a n g z u einer "unabdingbar n o t w e n d i g e n " K r a n k e n v e r s o r g u n g mit b e s t m ö g l i c h e r Qualität; - Freiheit und E i g e n v e r a n t w o r t u n g für alle Beteiligten; - einzelwirtschaftliche Effizienz d e r L e i s t u n g s e r b r i n g u n g u n d gesamtwirtschaftlich vertretbare H ö h e der (öffentlich finanzierten) G e s u n d h e i t s a u s g a b e n ; - A b s i c h e r u n g d e s Pflegerisikos; - V e r m i n d e r u n g von s o z i a l e n U n t e r s c h i e d e n in Mortalität und Morbidität; - staatliche S i c h e r s t e l l u n g v o n Solidarität und intergenerativer (Finanzierungs-)Gerechtigkeit;

Zielebene

3: Gruppenspezifische Orientierung Bevölkerungsgruppen

nach

Krankheitsarten

und

- Ziele n a c h K r a n k h e i t s a r t e n s o w i e B e v ö l k e r u n g s g r u p p e n - W ü n s c h e d e r V e r s i c h e r t e n und Patienten bei d e r B e h a n d l u n g

Q u e l l e : in A n l e h n u n g a n S V R K A i G , 1 9 9 4 , S. 3 5 f f .

Die Ziele der ersten Gruppe umfassen vor allem Forderungen nach der Wahrung der menschlichen Würde und Freiheit sowie die Verhütung, Heilung und Linderung von Krankheit. Die zweite Gruppe beinhaltet unverzichtbare gesundheitspolitische Vorstellungen. Hier ist die Forderung nach der Bereitstellung einer „unabdingbar notwendigen" Krankenversorgung mit bestmöglicher Qualität von zentraler Bedeutung. Wenn diese Forderung von der Gesellschaft akzeptiert wird - und davon ist auszugehen, müssen die notwendigen finanziellen Mittel von der Bevölkerung aufgebracht und bereitgestellt werden. Weitere wichtige Elemente innerhalb dieser Zielgruppe sind die Freiheit aller Beteiligten, die Effizienz der Gesundheitsversorgung und die Sicherung der Solidarität. In der dritten Gruppe finden sich konkrete Ziele nach Krankheitsarten bzw. Bevölkerungsgruppen. Sehr wesentlich ist der letztgenannte Aspekt, daß die Gesundheitsversorgung an den Präferenzen der Bevölkerung auszurichten ist (vgl. Henke, 1996, S. 4ff.).

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Klaus-Dirk Henke und Ursula Rachold

Faßt man die Inhalte schlagwortartig zusammen, zeichnet sich ein „gesundes" Gesundheitswesen durch folgende Eigenschaften aus: Krankenversorgung für breite Schichten der Bevölkerung, Freiheit und Eigenverantwortung, Effizienz, Solidarität, Präferenzen der Versicherten. An diesen Zielen sind Gesundheitspolitik auszurichten und Gesundheitsreformen zu beurteilen. Fragt man nach der Erreichung dieser genannten Ziele im derzeitigen System der GKV, so ergibt sich ein nicht gerade zufriedenstellendes Bild. Lediglich die Krankenversorgung der Bevölkerung und das Solidaritätsprinzip können als umgesetzt angesehen werden. Es mangelt jedoch erheblich an Freiheit und Eigenverantwortung sowie an der Effizienz des Systems. Eine Aussage darüber, ob die Gesundheitsversorgung den Präferenzen der Bevölkerung entspricht, wäre reine Spekulation. Darüber hinaus ist aller Wahrscheinlichkeit nach auch das Solidaritätsprinzip langfristig in Gefahr, wenn weitere Ausgabensteigerungen eine Rationierung von Leistungen notwendig machen. Dann ist die umfassende Krankenversorgung nicht mehr gewährleistet. Das Gesundheitswesen ist nach dieser Diagnose „krank". Aufgrund dessen wird von Gesundheitsökonomen seit Jahren gefordert, mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen zuzulassen. Im folgenden wird erläutert, warum und wie diese Therapie helfen könnte.

II.

Alternative Steuerungsverfahren: Wettbewerb versus staatliche Steuerung 1. Wettbewerb: Funktionen,

Vor-und

Nachteile

Grundsätzlich soll Wettbewerb die Verteilung der knappen Mittel auf konkurrierende Zwecke regeln. Als Entscheidungs-, Informations- und Motivationssystem übernimmt der Wettbewerb Steuerungs- und Kontrollfunktionen im Allokationsprozeß einer Marktwirtschaft (vgl. Cox/Hübner, 1981, S. 4). Güter und sonstige Leistungen werden nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip verteilt. Ausdruck der Leistungsfähigkeit ist auf Märkten üblicherweise der Preis. Der Vorteil von freiem Leistungswettbewerb gegenüber anderen Steuerungsverfahren, z.B. einer staatlichen Steuerung, wird darin gesehen, daß er verschiedene Funktionen erfüllt: (vgl. Berg, 1981, S. 213) Steuerungsfunktion: Es wird ein Angebot bereitgestellt, daß den Konsumentenpräferenzen entspricht. Allokationsfunktion: Es werden Produktionsverfahren angewendet, die die größtmögliche Effizienz des Faktoreinsatzes gewährleisten. Innovationsfunktion: Technischer Fortschritt in Form von Produkt- und Prozeßinnovationen wird gefördert.

Solidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen

15

-

Anpassungsfunktion: Bei sich ändernden Daten in einer wachsenden Wirtschaft werden durch den Wettbewerb notwendige Anpassungsprozesse gefördert. Verteilungsfunktion: Auf den Faktormärkten fuhrt Wettbewerb zu einer leistungsgerechten Einkommensverteilung. Kontrollfunktion: Wettbewerb kontrolliert und begrenzt die wirtschaftliche Macht. Durch diese Funktionen trägt der Wettbewerb zur Steigerung der Wohlfahrt einer Volkswirtschaft bei. Gleichzeitig garantiert er den beteiligten Gesellschaftsmitgliedem Handlungsfreiheiten (gesellschaftspolitische Funktion des Wettbewerbs) und gewährleistet eine gute Marktversorgung (ökonomische Funktion des Wettbewerbs) (vgl. Berg, 1981, S. 215). Wettbewerb bringt jedoch nicht nur Vorteile mit sich, sondern beinhaltet auch gewisse Gefahren. Diese entstehen vor allem dann, wenn es auf einer der beiden Marktseiten, üblicherweise der Anbieterseite, zu Konzentrationsvorgängen kommt. Negative Folgen sind z.B. eine reduzierte Allokationseffizienz oder ein Verstoß gegen die leistungsbezogene Einkommensverteilung durch Monopolrenten. Es kann aber auch vorkommen, daß sich die Wettbewerbsgegner absprechen und ein friedliches Oligopol bilden. Gelingt es ihnen, Markteintrittsschranken aufzubauen, können sie den Wettbewerb außer Kraft setzen und gemeinsam ihre Gewinne zu Lasten der Konsumenten erhöhen. Unternehmenskonzentration kann sich andererseits jedoch auch positiv auswirken, z.B. wenn dadurch Betriebsgrößenvorteile (economies of scale) ausgenutzt und die optimale Betriebsgröße erreicht werden kann. Größere Unternehmen haben üblicherweise bessere Möglichkeiten, Forschung und Entwicklung voranzutreiben und sie sind weniger anfällig für Mißerfolge und Krisen (vgl. Henke, 1996, S. 9f.). Ob sich ein Konzentrationsvorgang positiv oder negativ auf das Marktergebnis und die Versorgung der Konsumenten auswirkt, hängt von den jeweiligen Besonderheiten des betreffenden Sektors ab. Wettbewerb ist jedoch nicht als statisches Modell, als Zustand, aufzufassen, sondern als dynamischer Prozeß. Die Konkurrenten sind permanent gezwungen, durch Verbesserung ihrer Leistung, durch Innovation oder durch Anpassung ihres Angebots an die Präferenzen der Konsumenten ihre Marktposition zu behaupten und zu verbessern (Hayek: Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, Schumpeter: Pionierunternehmer). Es kommt also zu einem permanenten Verfolgungsspiel zwischen den Anbietern einer Leistung auf der Suche nach neuen, besseren oder kostengünstigeren Produkten und Produktionsverfahren. Dieser „Automatismus" ist als der große Vorteil von Wettbewerb gegenüber anderen Steuerungsverfahren anzusehen. Alle genannten Wettbewerbsfunktionen können grundsätzlich auch durch andere Steuerungsverfahren, z.B. eine staatliche Steuerung, erfüllt werden. Wettbewerb

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Klaus-Dirk Henke und Ursula Rachold

wird zumeist in solchen Bereichen einer Volkswirtschaft abgelehnt, in denen eine Verteilung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip unerwünscht ist. Dort wird in der Regel eine staatliche Zuweisung vorgezogen.

2. Staatliche Steuerung: Vorteile und Nachteile Die Notwendigkeit der Übernahme von Aufgaben durch den Staat ergibt sich - zumindest theoretisch - aus der Notwendigkeit, das wettbewerbliche Marktergebnis zu korrigieren. Demnach sind auch die Vorteile einer staatlichen Steuerung in einer Korrektur nicht wünschenswerter Marktergebnisse zu sehen. Eine Übernahme von Aufgaben durch den Staat ist jedoch auch von Nachteilen gekennzeichnet, vor allem dann, wenn der Staat selbst zum Produzenten eines Gutes wird oder gesetzlich in den Produktionsprozeß eingreift. Insbesondere in diesen Fällen wirkt sich die damit verbundene staatliche Bürokratie negativ durch mangelnde Flexibilität, aufwendige Informationsbeschaffungsprozesse, langwierige Entscheidungsprozesse, starre Hierarchien sowie Entscheidungsmacht der Beteiligten und Politiker aus (vgl. zu den Problemen und Nachteilen einer staatlichen Steuerung ausführlich z.B. Fritsch/Wein/Ewers, 1996, S. 46ff).

3. Steuerung zwischen Markt und Staat Die vorangegangenen Ausfuhrungen sind jedoch nicht so zu interpretieren, daß Markt und Staat die einzigen Wahlmöglichkeiten eines Sektors der Volkswirtschaft sind. Sie stellen lediglich zwei Extrempunkte dar, zwischen denen es beliebig viele Mischformen gibt. Bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben sind verschiedene Ebenen staatlicher Einflußnahme denkbar (vgl. Hagemeister, 1991, S. 6). -

Erfüllung privater Aufgaben durch Private; Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch Private; Staat überwacht die Erfüllung der öffentlichen Aufgaben durch Private direkt selbst seitens staatlicher Behörden; Staat stellt Normen oder Richtlinien für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch Private auf; Staat läßt die öffentlichen Aufgaben durch staatliche Behörden nach staatlicher Normierung erfüllen; Staat läßt die von ihm selbst übernommenen öffentlichen Aufgaben einen von ihm irgendwie abhängigen Rechtsträger erfüllen; Die Feststellung, daß der Markt für ein Gut aus verschiedenen Gründen nicht funktioniert oder nicht existiert, impliziert also nicht, daß der Staat die Produktion und Bereitstellung des Gutes selbst zu übernehmen hat. Es ist allgemein nicht feststellbar, welche Steuerung grundsätzlich die beste ist. Der Wettbewerb weist zwar erhebliche Vorteile auf, jedoch ist auch er nicht immer

Solidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen

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die bessere Alternative ist - im Extremfall kann auch eine staatliche Steuerung ein vergleichbares Ergebnis hervorbringen. Es ist jedoch in der Realität vergleichsweise unwahrscheinlich, daß eine staatliche Behörde z.B. die Präferenzen der Nachfrager genauso gut kennt wie diese selbst, die effizienteste Faktorallokation in allen Fällen gewährleisten oder für eine leistungsgerechte Entlohnung der Produktionsfaktoren sorgen kann. Aus solche Überlegungen resultiert die Forderung, Wettbewerb so lange einer staatlichen Steuerung vorzuziehen, wie die negativen Folgen des Wettbewerbs für die Gesellschaft akzeptabel sind. Demgegenüber ist ein Eingreifen des Staates notwendig, wenn der Markt versagt (Marktmängel, Marktversagen) oder die im Markt erzielbare Verteilung gesellschaftspolitisch unerwünscht ist (vgl. dazu ausführlich Fritsch/Wein/Ewers, 1996, S. 62ff.).

4. Die Steuerung im Gesundheitswesen Im derzeitigen System der G K V findet die Steuerung der Gesundheitsversorgung fast ausschließlich durch den Staat statt, einerseits durch ein umfassendes Gesetzwerk

(V.

Buch

des

Sozialgesetzbuches

-

Gesetzliche

Krankenversicherung

( S G B V)), aber auch durch die als Körperschaften des öffentlichen Rechts organisierten Krankenkassen und andere Institutionen des Gesundheitswesens. Die Angebotsbedingungen werden nach den Vorgaben des S G B V zwischen den Krankenversicherungen und den Verbänden der Leistungsanbieter ausgehandelt. Selbst Strukturfragen wie beispielsweise die Zahl der niedergelassenen Kassenärzte oder die Bettenzahl eines Krankenhauses wird von den Verbänden der Leistungsanbieter bzw. den Ländern und Gemeinden bestimmt. Die eigentlichen Kostenträger, in erster Linie die Versicherten und die gesetzlichen Krankenkassen, haben nur einen begrenzten Einfluß. Vereinfacht kann man sagen, daß der Markt für Gesundheitsleistungen von wenigen oligopolistischen Anbietern bestimmt wird, die per Gesetz zu einem

abgestimmten

Verhalten

(Stichwort

„gemeinsam

und

einheitlich")

gezwungen sind. Eine marktliche Steuerung findet in weiten Bereichen nicht statt. Begründet

Zielen

im

Gesundheitswesen, insbesondere dem eingangs erwähnten Solidaritätsziel.

wird

dieser

Zustand

mit

den

sozialpolitischen

Die

Nachteile sind hinlänglich bekannt: enorme Ausgabensteigerungen durch anbieterund patienteninduzierte Nachfrage und Ineffizienzen, mangelnde Berücksichtigung der Präferenzen

der Patienten,

teilweise

überhöhte Preise

für

medizinische

Leistungen etc. Derzeit läßt sich noch argumentieren, daß diese „Kosten" notwendigerweise zur Erreichung des Solidaritätsprinzips in Kauf genommen werden müssen. Problematisch wird die Situation jedoch dann, wenn die Ineffizienzen in Kombination mit anderen ausgabensteigernden Faktoren dazu fuhren, daß nicht mehr alle Leistungen über die G K V finanziert werden können.

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Klaus-Dirk Henke und Ursula Rachold

III.

Wettbewerb im Gesundheitswesen

1. Der Zusammenhang zwischen den Einnahme und Ausgaben der GKV, dem Solidaritätsprinzip und Wettbewerb Betrachtet man nämlich die finanzielle Entwicklung der GKV in den letzten 25 Jahren, so ist ein Anstieg des Beitragssatzes von etwa 8,2% in 1970 auf 13,4% in 1996 festzustellen. Im gleichen Zeitraum hat sich die Beitragsbemessungsgrenze von 2.100,- DM auf 6.000,- DM erhöht (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, 1997, Tab. 7.7 und 7.7). Da die GKV nach dem Umlageverfahren organisiert ist, steht dieser Erhöhung der Einnahmeseite eine gleichartige Ausgabenerhöhung gegenüber. Ursachen dafür liegen in verschiedenen Faktoren, z.B. der demographischen Entwicklung den Veränderungen in der Morbidität und dem medizinisch-technischen Fortschritt, aber auch in den Angebots- und Produktionsbedingungen des „Marktes" für Gesundheitsleistungen. Nach allen Hochrechnungen und Prognosen ist davon auszugehen, daß sich die finanzielle Situation der GKV alleine aufgrund der demographischen Entwicklung weiter drastisch verschärfen wird (vgl. zum Überblick über Hochrechnungen Knappe/Rachold, 1997, S. 103ff.). Diese auch zukünftig zu erwartenden Ausgabensteigerungen machen entweder ein weiteres Ansteigen der Beitragssätze erforderlich oder fuhren zu Leistungsrationierungen. Die Beitragssätze haben schon jetzt eine sozialpolitisch bedenkliche Höhe erreicht, bei weiteren Steigerungen ist mit einer Überforderung und Akzeptanzproblemen zu rechnen, die eine Tendenz zur Entsolidarisierung zur Folge haben können, (vgl. SVRKAiG, 1994, Tz. 12). Ungeachtet der Tatsache, daß steigende Beiträge zur sozialen Sicherung über die Lohnnebenkosten Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und andere Sektoren der Volkswirtschaft haben (vgl. SVRKAiG, 1997, Tz. 1 ff.), spricht auch der Grundsatz der Beitragssatzstabilität (§141 Abs. 2 und §71 SGB V) gegen Beitragssatzerhöhungen. Rationierungen widersprechen jedoch ihrerseits dem Solidaritätsprinzip, wenn dadurch einzelne wichtige Leistungen aus dem Pflichtleistungskatalog ausgegliedert werden und von den Versicherten selbst zu finanzieren sind. Dies verletzt die Forderung nach der einkommensunabhängigen Leistungsgewährung wichtiger Leistungen im Bedarfsfall. Die Sicherung des Solidarprinzips hängt also wesentlich von der Entwicklung der Ausgaben der GKV ab. In fast allen Bereichen der Gesundheitsversorgung werden erhebliche Wirtschaftlichkeitsreserven vermutet, die durch die derzeitigen Anreizstrukturen (staatliche Steuerung) nicht ausgeschöpft werden, im Wettbewerb aber genutzt werden könnten. Dieser Zusammenhang wird in der folgenden Abbildung grafisch wiedergegeben.

Solidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen

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Abbildung 2: Der Zusammenhang zwischen Wettbewerb und dem Solidaritätsprinzip

Allokation Wettbewerb

Ineffizienzen

V

Abbau von Ineffizienzen und Steuerungsmängeln

Verteilungsspielräume werden größer

Verteilung (nach dem Solidaritätsprinzip) Quelle: eigene Erstellung Die Forderung nach einer Einführung von Wettbewerb in der sozialen Krankenversicherung hat also keinen Eigenwert, sondern das Ziel, Wirtschaftlichkeitsreserven zu mobilisieren und dadurch die Verteilungsspielräume für den Solidarausgleich zu sichern. Nicht zuletzt trägt der Wettbewerb aber auch dazu bei, das Leistungsangebot der Versicherungen den Präferenzen der Versicherten anzupassen und ihre Freiheit und Eigenverantwortung zu stärken. So gesehen entspricht der Wettbewerb auch dem Subsidiaritätsgedanken. 2. Ebenen des

Wettbewerbs

Nach dieser Darstellung der Vorteile des Wettbewerbs im Gesundheitswesen ist zu fragen, auf welchen Ebenen er stattfinden kann und wie er ausgestaltet werden muß, um die Vorteile des Wettbewerbs mit den sozialpolitischen Umverteilungszielen zu kombinieren. Damit wird bereits an dieser Stelle deutlich, daß es nicht darum geht, freien Leistungswettbewerb im System der GKV einzuführen, sondern eine Lösung zwischen staatlicher und marktlicher Steuerung angestrebt werden soll. Im Gegensatz zu „normalen" Märkten, auf denen die Leistungsanbieter den nachfragem im Wettbewerb gegenüberstehen, sind im Bereich der Gesundheitsversorgung drei Parteien beteiligt: Leistungsanbieter (z.B. niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser), Versicherte bzw. Patienten und Krankenkassen. Faßt man die Krankenkassen und die von ihnen vertretenen Versicherten als Leistungsnachfrager auf, so könnte der Wettbewerb im Gesundheitswesen auch - wie in anderen Märk-

20

Klaus-Dirk Henke und Ursula Rachold

ten - zwischen Anbietern und Nachfragern stattfinden. Zur Begründung dieser Zusammenfassung kann angeführt werden, daß es die Aufgabe der Krankenversicherungen ist, neben dem Risikoausgleich im Auftrag ihrer Kunden Gesundheitsleistungen zu „kaufen", denn dafür erhalten sie Beiträge von ihren Mitgliedern.1 Es ist natürlich für das Funktionieren von Wettbewerb zusätzlich erforderlich, daß die Versicherten die Möglichkeit haben, die Krankenkasse zu wechseln, wenn diese ihren Auftrag nicht im Sinne ihrer „Kunden" erfüllt. Es lassen sich also zwei Ebenen des Wettbewerbs im Gesundheitswesen identifizieren: Wettbewerb auf der Ebene Leistungsanbieter - Krankenkassen. Das Verhalten der Anbieter würde gesteuert durch die Nachfrageentscheidung der gesetzlichen Krankenkassen im Auftrag ihrer Versicherten. Wettbewerb auf der Ebene Krankenkassen - Versicherte. Durch ihre Entscheidung für oder gegen den Beitritt zu einer Krankenkasse steuern die Versicherten die Bemühungen der Kassen, sich aus dem Wettbewerb mit den Anbietern Vorteile zu verschaffen. Abbildung 3: Dreiecksverhältnis Leistungsanbieter, Krankenkassen und Versicherte

Wettbewerb

Leistungsanbieter

Krankenkassen

Distribution

)

Versicherte/Patienten

Der Ausschluß des direkten Wettbewerbs zwischen Patienten und Leistungsanbietern stellt zwar bereits eine Einschränkung des Wettbewerbs im Gesundheitswesen dar, doch reicht diese nicht aus, um die verteilungspolitischen Ziele zu garantieren. Insbesondere zur Absicherung des Solidarausgleichs ist es notwendig, daß die ' Eine Beschränkung der GKV auf den Ausgleich von individuellen Risiken und die Absicherung des Solidarausgleichs ist aufgrund der Besonderheiten des Gutes Gesundheit nicht denkbar: es ist dem Patienten nicht zuzumuten, im einzelnen Krankheitsfall mit verschiedenen Leistungsanbietern über Behandlungspreise und -konditionen zu verhandeln, vor allem nicht in extremen Notfällen.

Solidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen

21

Gesetzlichen Kassen keine Risikoselektion betreiben dürfen, indem sie z.B. nur mit solchen Patienten Verträge abschließen, die „gute" Risiken darstellen. Daraus ergibt sich die Forderung nach Kontrahierungszwang und Diskriminierungsverbot. Weiterhin ist sicherzustellen, daß für alle Versicherten alle notwendigen Leistungen verfügbar sind.

IV.

Sozialgebundener Wettbewerb als Ordnungsrahmen

Nach dieser theoretischen Begründung, warum ein eingeschränkter Wettbewerb auch im Bereich der GKV seine Vorteile entfalten kann, soll im folgenden ein Ordnungskonzept dargestellt werden, wie dies in der Praxis umgesetzt werden könnte und welche Probleme dabei zu erwarten sind. 1. Elemente des

Ordnungskonzeptes

Das Ordnungskonzept sozialgebundener Wettbewerb verbindet Elemente des Wettbewerbs mit solchen, die zur Sicherung der sozialen Ziele beitragen (vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen z.B. Henke, 1996, S. 8ff.). Zu den Wettbewerbselementen zählen neben der bereits eingeführten Kassenwahlfreiheit die Entmonopolisierung von Angebot und Nachfrage und die Neutralisierung der Arbeitgeberinteressen. Zur Erreichung der sozialen Ziele sind die solidarische Finanzierung und der Risikostrukturausgleich beizubehalten und das Leistungsspektrum im Bereich der Grundversorgung vorzugeben. Eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für Wettbewerb ist bereits seit 1.01.1997 durch die Kassenwahlfreiheit für die Versicherten gegeben. Mit dieser Freiheit können die Versicherten das Angebot ihrer Kasse durch Ein- und Austritte steuern, damit jedoch echte Wahlaltemativen vorhanden sind, darf als Wettbewerbsparameter nicht nur der Preis der Versicherung zur Verfugung stehen, sondern es sind auch Unterschiede bezüglich des Vertragsinhalts der Versicherungsverträge zuzulassen. Dazu ist es notwendig, daß das Vertragsrecht gelockert und den Versicherungen so die Möglichkeit gegeben wird, mit einzelnen Leistungsanbietern spezielle Verträge abzuschließen. Die Versicherungen werden sich dann durch die Gestaltung ihrer Versicherungsverträge, effizientes Arbeiten und niedrige Beitragssätze um die Gunst ihrer Mitglieder bemühen. Das schafft Innovation, Kreativität und verbrauchergerechtes Verhalten. Um ein selektives Kontrahieren zu ermöglichen, müssen die monopolistischen Strukturen auf der Leistungsanbieterseite, insbesondere das Vertragsmonopol der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), aufgebrochen werden. Eine Mitgliedschaft in einer KV ist für einen Arzt Voraussetzung, GKV-Patienten zu behandeln und die Kosten der Kasse in Rechnung stellen zu können. Zugleich werden die Versorgungs- und Vergütungsbedin-

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Klaus-Dirk Henke und Ursula Rachold

gungen zwischen KVen und den Krankenkassen ausgehandelt. Um den Kven einen gleichgewichtigen Partner gegenüberzustellen, wurde unter dem Grundsatz „gemeinsam und einheitlich" mit dem Gesundheitsreformgesetz ein Kassenmonopol beschlossen, das zu einer Art Einheitsversicherung geführt hätte, wenn sich die Beteiligten an diesem Beschluß orientiert hätten. Im Ergebnis wäre ein beiderseitiges Monopol entstanden, das jede Bemühung um Differenzierung und Wettbewerb zunichte gemacht hätte. Um jedoch den Wettbewerb zu fördern, ist die Monopolsituation auf der Angebotsseite aufzulösen und eine Oligopollösung anzustreben. Für die Ärzte bedeutet das, daß die Zwangsmitgliedschaft in der KV aufgehoben wird und verschiedene Ärzteverbände zur Vertretung der Ärzteschaft zugelassen werden. In einem bilateralen Oligopol können flexible Vertragslösungen bei gleichzeitiger Sicherung einer ausreichenden Grundversorgung entstehen. Wenn die Funktion der Kven als obligatorische Vertretung der Ärzteschaft aufgelöst wird, muß jedoch auch die Sicherstellung einer flächendeckenden medizinischen Versorgung überdacht werden. Vorstellbar wäre z.B., den Sicherstellungsauftrag an die Kassen zu übertragen. Die paritätische Finanzierung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber „halbiert" das Interesse eines Versicherten, sich für eine Kasse mit günstigerem Beitragssatz zu entscheiden, weil die Hälfte des Vorteils dem Arbeitgeber zufließt. Gleichzeitig erhält der Arbeitgeber natürlich ein wesentliches Interesse an der Kassenwahlentscheidung seines Arbeitnehmers. Um diese Einschränkung zu beseitigen, ist der Arbeitgeberbeitrag an einem durchschnittlichen Beitragssatz auszurichten oder sogar vollständig an den Arbeitnehmer auszubezahlen. Ein Nebeneffekt dieser Maßnahme besteht darin, daß die Entwicklung der Lohnnebenkosten von der Entwicklung der GKV-Beiträge abgekoppelt würde. Eine weitere Verteuerung des Produktionsfaktors Arbeit durch die Entwicklung in der sozialen Sicherung würde so vermieden. Neben der Beibehaltung der bisherigen einkommensabhängigen Finanzierung und einkommensunabhängigen Leistungsgewährung nach dem Solidaritätsprinzip sieht das Ordnungskonzept des sozialgebundenen Wettbewerbs die Elemente Risikostrukturausgleich und die Vorgabe des Leistungsspektrums für die Versicherten im Rahmen einer Grundversorgung vor. Der Risikostrukturausgleich wurde bereits 1994 beschlossen und dient vor allem der Angleichung der Startchancen für die Versicherungen bei der 1997 eingeführten Kassenwahlfreiheit. Dies ist insofern notwendig, als die Risikostrukturen aufgrund der früheren Zwangszuweisung vieler Versicherter zu einzelnen Kassen drastisch variierten. Gleichzeitig kann mit dem Risikostrukturausgleich ein Interesse der Kassen an Risikoselektion reduziert sowie ein Solidarausgleich zwischen allen Versicherten der GKV erreicht werden. Die derzeitige Gesetzgebung sieht den Risikostrukturausgleich zeitlich befristet vor. Dies scheint insofern sinnvoll, als davon auszugehen ist, daß sich nach einer Zeit die Startchancen der Krankenkassen angeglichen haben

Solidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen

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müßten. Ob eine Weiterfuhrung aufgrund der Gefahr von Selektionsprozessen oder als Solidarausgleich notwendig und wünschenswert ist, muß weiter geprüft werden. Hier gehen die Meinungen der Experten nach wie vor auseinander. Das Leistungsspektrum ist im Umfang einer Grundversorgung ähnlich der KfzVersicherung als Pflichtbestandteil für alle Versicherten vorzugeben. Damit soll eine Unterversicherung einzelner Versicherter vermieden werden. Diese Grundversorgung sollte demnach alle wichtigen Leistungen umfassen und solidarisch finanziert werden. Weitergehende Ansprüche können von den Versicherten im Rahmen von Zusatzverträgen auf freiwilliger Basis abgesichert werden. Der so dargestellte Ordnungsrahmen könnte die Voraussetzung sein, um Wettbewerb in der GKV zu initiieren, gleichzeitig aber die sozialen Ziele der Gesundheitsversorgung berücksichtigen. Als Wettbewerbsparameter sind neben dem Beitragssatz auch die Qualität der Leistungen, Service und Sonderleistungen sowie der über die Grundversorgung hinausgehende Teil des Leistungsumfangs einsetzbar. Die Versicherungen erhalten zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich der Vergütungs- und Organisationsformen der Leistungserbringer, der Vertragsbeziehungen und der Versorgungsstrukturen. Die Versicherten auf der anderen Seite hätten echte Wahlalternativen, könnten Verträge gemäß ihrer Präferenzen abschließen und durch ihre Wahlentscheidung Einfluß auf das Angebot der Krankenversicherungen nehmen. 2.

Umsetzungsprobleme

Ein erhebliches Problem bei der Einführung von Wettbewerb besteht im Zielkonflikt Wirtschaftlichkeit versus Bedarfsgerechtigkeit. Wirtschaftlichkeit setzt voraus, daß die Kosten einer medizinischen Leistung ihren Nutzen nicht übersteigen. Eine aus theoretisch-ökonomischer Sicht optimale Gesundheitsquote impliziert, daß die Kosten einer zusätzlich eingesetzten Inputeinheit genau dem Nutzen dieser Einheit entsprechen: Grenzkosten und Grenznutzen gleichen sich aus. Das praktische Problem besteht jedoch in der Bewertung der Kosten und Nutzen. Die Kosten setzen sich zusammen aus direkten Kosten (Personalkosten, Materialkosten, Vorhaltekosten für Behandlungskapazitäten etc.) und indirekten Kosten (z.B. Zahl der vermeidbaren Todesfälle, verlorene Lebens- und Erwerbstätigkeitsjahre), wobei zumeist nur die direkten Kosten berücksichtigt werden. Eine Vernachlässigung der indirekten Kosten kann jedoch dazu fuhren, daß am falschen Ende gespart wird (vgl. Henke, 1997, S. 55). Ähnliche Probleme gibt es bei der Bewertung des Nutzens. In der Literatur werden verschiedene Konzepte diskutiert, die den Nutzen z.B. in gewonnenen Lebensjahren bzw. gewonnenen qualitätsbereinigten Lebensjahren messen (vgl. z.B. Breyer/Zweifel, 1997, S. 19ff). Es gibt jedoch (noch) kein anerkanntes Verfahren zur Evaluation medizinischer Maßnahmen.

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Klaus-Dirk Henke und Ursula Rachold

Ähnliche Probleme ergeben sich bei der Frage der Verteilung der Gesundheitsleistungen. Eine optimale Verteilung ist dadurch gekennzeichnet, daß es nicht gelingt, durch Umverteilung den Nutzen eines Individuums zu erhöhen, ohne die Wohlfahrtsposition eines anderen zu verringern. Die verfügbaren Gesundheitsausgaben müßten also so lange realloziiert werden, bis sie in allen Verwendungsrichtungen den gleichen (Zusatz-)Nutzen stiften (vgl. Henke, 1997, S. 62). Auch hier besteht das wesentliche Problem in der Bewertung des Nutzens. Dennoch besteht angesichts der zunehmenden Ressourcenknappheit die Notwendigkeit, Entscheidungs- und Auswahlkriterien zu finden. Wenn nicht ausreichend Gesundheitsleistungen für alle vorhanden sind, muß ein Mechanismus gefunden werden, der die Leistungen an einer Stelle rationiert, an der der Schaden am geringsten ist. Dieses Rationierungsproblem steht jedoch in einem krassen Gegensatz zu der herrschenden Gerechtigkeitsvorstellung, daß Gesundheitsleistungen jedem nach seinem Bedarf unentgeltlich zur Verfügung stehen (vgl. Arnold, 1995, S. 25f.). Wenn Wettbewerb in das System eingeführt werden soll, ist es zwingend erforderlich, den Bedarf zu definieren, für den Versicherungszwang zu bestehen hat und der solidarisch zu finanzieren ist. Kosten-Nutzen-, Kosten-Effektivitäts- oder KostenWirksamkeits-Analysen können dabei eine wichtige Hilfestellung bieten. Wie sich in den letzten Jahren immer wieder gezeigt hat, besteht ein wesentliches Widerstand. Problem bei der Reform der sozialen Sicherung in dem politischen Zum einen versuchen natürlich die Interessenvertreter der Leistungsanbieterseite, für sie unliebsame Reformen zu verhindern und ihren Einfluß zu sichern. Die Patientenseite hat dem nur eine sehr schwache Lobby entgegenzustellen. Außerdem ist die breite Masse der Bevölkerung nur schwer davon zu überzeugen, daß Reformen notwendig sind, so lange nur über drohende Rationierungen und stark steigende Beitragssätze diskutiert wird, sie aber noch nicht Realität sind.

V.

Fazit

Die Ausfuhrungen haben gezeigt, daß zwischen Wettbewerb und Solidarität in der Krankenversicherung ein Zusammenhang besteht. Durch Wettbewerb werden Wirtschaftlichkeitsspielräume ausgenutzt und Ineffizienzen abgebaut, die die Verteilungsspielräume zur Sicherung einer solidarischen Krankenversorgung erhalten. Ein völlig freier Wettbewerb ohne Ordnungsrahmen und Aufsicht durch den Staat oder ein Organ der Selbstverwaltung steht nicht zur Diskussion und ist auch aus ökonomischen Gesichtspunkten nicht wünschenswert. Ein möglicher Ordnungsrahmen könnte das vorgestellte Konzept des sozialgebundenen Wettbewerbs sein, wobei auch hier weitere Einzelfragen zu diskutieren und Probleme zu lösen sind. Das lohnt sich, denn die Zukunft der GKV liegt im Wettbewerb.

Solidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen

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Wie bereits eingangs erwähnt muß sich auch ein solches Krankenversicherungssystem an den Zielen messen. Es ist wahrscheinlich, daß die zusammengefaßten Anforderungen Krankenversorgung für breite Schichten der Bevölkerung, Freiheit und Eigenverantwortung, Effizienz, Solidarität und Präferenzen der Versicherten in einem wettbewerblichen System am besten erfüllt werden können.

VI.

Literatur

Arnold, Michael: Solidarität 2000. Die medizinische Versorgung und ihre Finanzierung nach der Jahrtausendwende. 2. Aufl., Stuttgart 1995. Berg, Hartmut: Wettbewerbspolitik. In: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Band 2, München 1981, S. 213-266. Breyer, Friedrich/Zweifel, Peter: Gesundheitsökonomie. Berlin u.a.1997. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.): Statistisches Taschenbuch 1997, Arbeits-und Sozialstatistik. Bonn 1997. Cox, Helmut/Hübner, Harald: Wettbewerb. Eine Einfuhrung in die Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik. In: Cox, Helmut/Jens, Uwe/Markert, Kurt (Hrsg.): Handbuch des Wettbewerbs. Wettbewerbstheorie, Wettbewerbspolitik, Wettbewerbsrecht. München 1981, S. 1-48. Fritsch, Michael/Wein, Thomas/Ewers, Hans-Jürgen: Marktversagen und Wirtschaftspolitik: mikroökonomische Grundlagen staatlichen Handels. 2. Aufl., München 1996. Hagemeister, Adrian von: Die Privatisierung öffentlicher Aufgaben. München 1991. Henke, Klaus-Dirk: Die Zukunft der Gesundheitssicherung, Jahrbücher

flir

Nationalöko-

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Klaus-Dirk Henke und Ursula Rachold

Schulin, Bertram: Solidarität und Subsidiarität. In: Maydell, Bernd/ Kannengießer, Walter (Hrsg.): Handbuch Sozialpolitik. Pfullingen 1988, S. 85-93.

Die Entwicklung der korporatistischen Steuerungsstrukturen ambulanter Krankenversorgung in Deutschland und ihre verteilungspolitischen Implikationen von Franz-Xaver Kaufmann Der ursprünglich angekündigte Titel meines Vortrags lautete „Soziologie und Gesundheitswesen", doch wäre dies ein zu weiter Mantel für die nachfolgenden Ausfuhrungen. Zwar will ich einleitend etwas Grundsätzliches zur soziologischen Perspektive im Gesundheitswesen sagen, um wenigstens Grundzüge dieser Perspektive im Rahmen unseres interdisziplinären Gespräches zu verdeutlichen. Wichtiger erscheint es mir aber, Ihnen die Tragfähigkeit soziologischer Perspektiven an einem konkreten Beispiel aufzuzeigen, für das ich die Steuerung der ambulanten Krankenversorgung in der Bundesrepublik Deutschland gewählt habe.

I.

Zur soziologischen Perspektive

Ganz allgemein läßt sich die Aufgabe der Soziologie als das Studium der Strukturen und Prozesse menschlichen Zusammenlebens kennzeichnen. Das Erfahrungsobjekt der Soziologie umfaßt also einerseits die relativ dauerhaften Ergebnisse menschlichen Zusammenlebens in bestimmten ökologischen und historischen Kontexten (Strukturen), andererseits aber auch die Dynamik dieses Zusammenlebens selbst, soweit sie sich dem forschenden Blick erschließt („Prozesse"). Denn gerade in der Spannung zwischen den sozialen Verhältnissen haltgebenden Strukturen einerseits und den sozialen Wandel vorantreibenden Prozessen andererseits vollzieht sich menschliche Geschichte und wird sie allein möglich. Die Beobachtung von Strukturen und Prozessen menschlichen Zusammenlebens kann aus sehr unterschiedlichen systematischen Perspektiven geschehen, welche die Soziologen meist als „Theorien" bezeichnen. Diese Perspektiven sind in der Regel hoch abstrakt (z.B. Systemtheorie, Rational-Choice-Theorie, Lerntheorie) und unterscheiden sich von den Wahrnehmungsperspektiven der an konkreten sozialen Zusammenhängen Beteiligten. Der wissenschaftsexterne Nutzen der Soziologie ist davon abhängig, inwieweit es gelingt, eine Verknüpfung zwischen der theoretisch fundierten soziologischen Betrachtungsweise und den Wahrnehmungen der Betei-

28

Franz-Xaver Kaufmann

ligten herzustellen. Letztere „lernen", wenn es Soziologen gelingt, die den Beteiligten vertrauten Sachverhalte in einem komplexeren Zusammenhang zu interpretieren, so daß sich das Verständnis der Beziehungen zwischen den Sachverhalten verbessert. Die Soziologie gilt allgemein als eine unbequeme Wissenschaft. Das hat etwas mit dem „bösen Blick" zu tun, den diese Wissenschaft auf die sozialen Verhältnisse wirft. Sie begnügt sich nicht mit den positiven Selbstdarstellungen der sozialen Akteure oder den allgemein anerkannten Legitimationen gesellschaftlicher Einrichtungen, sie verweigert sich öffentlich zur Schau getragenen Harmoniebedürfnissen und untersucht statt dessen die meist latenten Spannungen in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie unterstellt den Akteuren nicht nur edle Motive, sondern die Verfolgung von Eigeninteressen und die Not, unter überkomplexen Verhältnissen noch Orientierung für das eigene Handeln zu finden. Sie geht nicht, wie die vorherrschenden Paradigmen der Wirtschaftswissenschaften, von der Möglichkeit einer rationalen Durchdringung der Wirklichkeit aus, sondern sie arbeitet mit der Vorstellung einer durch subjektive und exteme Faktoren eingeschränkten Rationalität, wobei die externen Beschränkungen gleichzeitig vielfach überhaupt erst ein gewisses Maß an Vorhersehbarkeit und damit rationaler Interessenverfolgung ermöglichen. Für die Soziologie ist Ordnung nichts Gegebenes, sondern - wie schon die alten Griechen wußten - dem Chaos Abgerungenes. Gesellschaftliche Ordnung und gesellschaftliche Unordnung sind beides Gegenstände der Soziologie; und vor allem auch die kollektiven Vorstellungen, mittels derer Menschen glauben, zwischen Ordnung und Unordnung unterscheiden zu können. Ich möchte nun die Beobachtungsweise der Soziologie an einigen Beispielen aus dem Bereich des Gesundheitswesens konkretisieren: a) Der Soziologe wundert sich, daß es überhaupt so etwas wie ein „Gesundheitswesen" gibt und fragt, worum es sich dabei handelt. Tatsächlich heben sich die Begriffe „Gesundheitswesen" und „Gesundheitspolitik" in der Bundesrepublik erst in jüngster Zeit verbreitet. 1 Erst seit Mitte der 80er Jahre, als auch in der Bundesrepublik die Dominanz des klinischen Paradigmas in der Medizin an Glanz verlor und sich die Bemühungen um öffentliche Gesundheitsförderung zunehmend in neuen Studiengängen niederschlagen, die dem angelsächsischen „Public Health" Paradigma nachgebildet sind, gewinnt der Begriff des Gesundheitswesens an Gewicht. Erst seit 1991 gibt es auch ein eigenes „Bundesministerium für Gesundheit", in dem die früher bei unterschiedlichen Ministerien ressortierenden Abteilungen für Krankenversicherung und für Gesundheit zusammengefaßt worden sind. Dieser institu1 Zwar war bereits in der Weimarer Zeit und sporadisch schon früher von „Volksgesundheit" die Rede, und die Medizinalpolizei der frühen Neuzeit wie auch die Gesundheitsfürsorge der Kommunen lassen sich als Vorformen eines öffentlichen Gesundheitswesens identifizieren (vgl. Labisch 1986). Thematisch von „Gesundheitspolitik" sprach jedoch m.W. zuerst der Soziologe Christian von Ferber: Gesundheit und Gesellschaft. Haben wir eine Gesundheitspolitik? (Stuttgart 1971). Er verneinte die Frage und verdeutlichte, wie sehr die Medizin darauf beschränkt sei, Krankheiten zu heilen statt Gesundheit zu ermöglichen.

Entwicklung der korporatistischen Steuerangsstrukturen ambulanter Krankenversorgung

29

tionelle Begriff von Gesundheitspolitik ist jedoch immer noch wesentlich enger als der wissenschaftliche Begriff des Gesundheitswesens, der z.B. auch die Fragen des Arbeitsschutzes und der Gewerbehygiene, der Behindertenpolitik, der Pflegeversicherung und der gesundheitsrelevanten Aspekte der Umweltpolitik umfaßt. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht entsteht heute allmählich ein strukturierter Zusammenhang zwischen den verschiedenen Einrichtungen, welche die Gesundheit des Menschen betreffen, doch ist es ein sehr langsamer Prozeß, wobei einige Kommunen Bahnbrecherdienste leisten.2 Der Soziologe beobachtet hier also sowohl die kulturellen Veränderungen, die sich in der Verschiebung des öffentlichen Problembewußtseins von der Krankheitsbekämpfung zur Gesundheitsvorsorge manifestieren, als auch die institutionellen Prozesse, mit deren Hilfe eine bessere Koordination der bis dahin hochgradig fragmentierten Formen der Gesundheitsvorsorge angestrebt wird. Der skizzierte Prozeß der Ausdifferenzierung eines zusammenhängenden Gesundheitswesens stellt einen Prozeß auf der Makroebene sozialer Vorgänge dar. b) Auf der Mesoebene untersucht die Soziologie beispielsweise die Organisation der Dienstleistungserbringung in Einrichtungen der medizinischen Versorgung. Sie analysiert dabei die Organisation in Krankenhäusern und ihren Wandel unter dem Einfluß der sich verstärkenden staatlichen Gesetzgebung mit ihren Steuerungsansprüchen; sie untersucht, wieviel Prozent der Arbeitszeit in Arztpraxen für den Kontakt mit Patienten, für die Administration oder für die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Praxis aufgewendet wird; sie versucht, die Dauer von Patientenkontakten zu messen und die dabei beobachtbaren Unterschiede auf bedingende Faktoren (z.B. Fachgruppe, Art der Klientel, Größe der Praxis, apparative Ausstattung) zurückzufuhren; usw. c) Schließlich ein Beispiel auf der Mikroebene sozialer Vorgänge: Menschen sind an den Einrichtungen des Gesundheitswesens in sehr unterschiedlichen Positionen und Rollen beteiligt: Als Ärzte, Pflegepersonal, Krankenhausmanager, Verbandsfunktionäre, Patienten, Krankenversicherte, usw. Die Angehörigen all dieser Gruppen haben ihre je eigene Perspektive auf die Probleme des Gesundheitswesens und entwickeln unterschiedliche Einstellungen und Erwartungen. Es ist eine typische Aufgabe der Soziologie und der von ihr gepflegten Methoden der Befragung, solche Einstellungs- und Erwartungsunterschiede mit Bezug auf bestimmte Probleme zu untersuchen und aufeinander zu beziehen. Wie werden beispielsweise Vorschläge zur Kostenbeteiligung der Patienten von den verschiedenen Gruppen beurteilt? Welche Vorstellungen zur Verteilungsgerechtigkeit herrschen jeweils vor? Wie werden politische Steuerungsversuche wahrgenommen? usw. Aufgabe der Soziologie wäre es, grundlegende Einstellungen in den verschiedenen Gruppen zu identifizieren und auf möglichst stabile Weise meßbar zu machen; ferner die Per2

Es handelt sich um Kommunen, die sich dem sog. Healthy-City-Programm der Weltgesundheitsorganisation (WHO) angeschlossen haben.

30

Franz-Xaver Kaufmann

spektiven der unterschiedlichen Beteiligten aufeinander zu beziehen, um daraus Schlußfolgerungen mit Bezug auf mögliche Reaktionen auf gesundheitspolitische Maßnahmen, beispielsweise auf die Änderung von Verteilungsregeln zu ermöglichen.

II.

Die Steuerung der ambulanten Versorgung im deutschen Gesundheitswesen in historischer Perspektive3

Im folgenden möchte ich ein zentrales Thema der Gesundheitspolitik herausgreifen und etwas ausführlicher behandeln, nämlich die Steuerung der ambulanten Versorgung mit Gesundheitsgütern. Ich beschränke mich dabei auf das sog. Steuerungsproblem: Hierunter wird die Schaffung von Regeln und Regelwerken verstanden, welche die Koordination der Handlungen bestimmter Akteure im Hinblick auf bestimmte Leitvorstellungen leisten. Soweit solche Regelwerke funktionieren, kann von einem „steuerbaren System" gesprochen werden. Die Geschichte des deutschen Gesundheitswesens läßt sich als zunehmende Systembildung begreifen, d.h. aus einer Vielzahl unzusammenhängender Einzelmerkmale entstehen allmählich immer klarere Strukturen, die nach und nach vereinheitlicht werden und einen bestimmten Steuerungstypus repräsentieren: Ein System der gemeinsamen Selbstverwaltung hoch organisierter Verbände, das durch staatliches Einwirken einen zunehmend verbindlichen, rechtsförmigen Charakter gewinnt. Die Leitbilder der Gesundheitsversorgung haben weit zurückreichende historische Wurzeln und sind daher normativ fest verankert: Sie haben ihre Wurzeln sowohl in professionellen Handlungsstandards der Medizin (Hippokratischer Eid) als auch in den auf Christentum und Naturrechtsdenken zurückzuführenden Vorstellungen von der gleichen Würde aller Menschen und dem daraus abgeleiteten Recht auf Leben, sowie einem besondern, jüdisch-christlich legitimierten Schutz der Schwachen. Daraus resultiert ein zum mindesten moralisches Recht auf Hilfe im Falle von Krankheit, selbst im Falle der Zahlungsunfähigkeit durch Armut oder Hilfslosigkeit. Was die Praxis der medizinischen Krankenversorgung betrifft (die Probleme der ambulanten und stationären Pflege müssen hier ausgeklammert bleiben) so ergeben sich bestimmte Grundfragen, welche die Entstehung und Tätigkeit des Ärztestandes von alters her begleiten: a) Die Berechtigung zur Ausübung heilender Tätigkeiten b) die Bezahlung der Heiler bzw. die wirtschaftlichen Aspekte der Krankenbehandlung. 3

Die nachfolgenden Ausführungen beruhen im wesentlichen auf Forschungen des Max-PlanckInstituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Vgl. insbs. Mayntz/Rosewitz 1988; Rosewitz/Webber 1990; Mayntz 1990; Döhler/Manow-Borgwardt 1992a; 1992b; 1995. Behaghel 1994.

Entwicklung der korporatistischen Steuerungsstrukturen ambulanter Krankenversorgung

31

c)

die Kontrolle der Heiler hinsichtlich ihres Ethos und der Qualität ihrer Leistungen Im Rahmen des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland stellen sich diese Probleme dar als (a) Zulassungsproblematik, (b) Honorierungsproblematik und (c) Kontroll- bzw. Qualitätssicherungsproblematik. 4 Ich konzentriere mich im folgenden auf die Honorierungsproblematik.

1. Warum funktioniert bei der Krankenversorgung die Steuerung über freie Preisbildung (Marktsteuerung) nicht? Betrachten wir die nationalen Krankenversorgungssysteme der Gegenwart, so lassen sich unter dem Gesichtspunkt ihrer Steuerung drei Grundtypen unterscheiden: a) Marktsteuerung: Hier regeln sich Angebot und Nachfrage nach Heilungsleistungen nach marktwirtschaftlichen Prinzipien. Idealtypisch regelt die kaufkräftige Nachfrage über freie Preisbildung das absetzbare Angebot unterschiedlicher Heilungsstrategien. Zwei Einschränkungen dieses Marktprinzips lassen sich nahezu überall beobachten: Die Reglementierung der Heilungsbefugnis und damit des Marktzugangs nach Kompetenzgesichtspunkten, und die Gewährleistung einer unentgeltlichen Armenmedizin. Mit diesen Einschränkungen kommen die Vereinigten Staaten dem marktgesteuerten Gesundheitssystem nahe: Es herrscht keine Versicherungspflicht, und es finden sich kaum staatliche Regulierungen der Anbieterseite. Das wesentliche Steuerungselement ist die Konkurrenz der unterschiedlichen Krankenversicherungsformen. Die Finanzierung des Systems erfolgt grundsätzlich aus privaten Einkünften sowie Arbeitgeberleistungen an Versicherungen. Ein erstes wirksames Element staatlichen Zwanges wurde im Rahme der „kleinen Clinton-Reform" von 1996 durch die Einfuhrung eines konditionalen Kontrahierungszwanges der privaten Versicherungen (allerdings mit einzelstaatlichen Alternativregelungsmöglichkeiten) eingeführt. b) Hierarchische Steuerung: Hier wird das Angebot an Heilungsleistung von einer zentralen Stelle auf der Basis von Bedarfsnormen festgelegt bzw. nur innerhalb dieser Bedarfsnormen und auf der Basis feststehender Budgets aus Steuermitteln finanziert. Die Bedarfsnormierung erfolgt dabei auf mehreren Ebenen: Zentral, regional und individuell. Repräsentative Beispiele dieses Typus sind die nationalen Gesundheitsdienste Großbritanniens 4

Für diese drei Problemkreise wurden im Rahmen der nachfolgend zu besprechenden korporatistischen Ausschüsse Steuerungsstrukturen aus Ärzte- und Kassenvertretem paritätisch zusammengesetzte ausdifferenziert, welche in zwei Instanzen über entsprechende Probleme beraten. Über die Zulassung entscheidet in erster Instanz der Zulassungsausschuß, in zweiter Instanz der Berufungsausschuß; über Honorierungsfragen entscheidet in erster Instanz der Vertragsausschuß, in zweiter Instanz das Landesschiedsamt; die Kontrolle des ärztlichen Verhaltens erfolgt in erster Distanz durch Prüfungsausschüsse der kassenärztlichen Vereinigungen, in zweiter Instanz durch einen Beschwerdeausschuß (bei diesen Kontrollausschüssen sind Kassenvertreter von der Beteiligung ausgeschlossen).

32

Franz-Xaver Kaufmann

und Italiens. Der Zugang zu Heilungsleistungen ist hier von individuellen Zahlungen unabhängig und steht grundsätzlich jedermann zu. c) Korporatistische Steuerung: Die Bedingungen des Angebots von Heilungsleistungen und ihre Honorierung werden hier im Rahmen von Verhandlungen festgelegt, wobei die Verhandlungspartner auf der einen Seite die meist öffentlich-rechtlichen Krankenversicherungen (Krankenkassen) und auf der anderen Seite die verbandsmäßig zusammengeschlossenen Anbieter von Gesundheitsleistungen (Ärzteverbände, Krankenhausverbände, Verbände der Produzenten von Arznei- und Hilfsmitteln u.ä.) sind. Im einzelnen können diese Verhandlungssysteme sehr unterschiedlich ausgestaltet sein, wobei der Staatseinfluß unterschiedlich stark ist. Repräsentative Beispiele sind hier Frankreich und Deutschland. Das deutsche System der ambulanten Versorgung ist seit der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung (1883 durch Bismarck) auf den Weg der korporatistischen Entwicklung eingeschwenkt und kann heute als eines der am besten funktionierenden korporatistischen Systeme mit einem vergleichsweise hohen Staatseinfluß gelten. Seine Grundprinzipien lassen sich wie folgt zusammenfassen: Selbstverwaltungsprinzip: Krankenkassen und Ärzteverbände als Hauptpartner des ambulanten Versorgungssystems beruhen auf persönlicher Mitgliedschaft und verwalten sich selbst. Solidarprinzip: Im Gegensatz zur grundsätzlich risikoorientierten Privatversicherung erfolgt die Beitragsfinanzierung in Prozentsätzen der persönlichen Einkommen; d.h. die Sachleistungen sind bedarfsorientiert, die Finanzierung einkommensorientiert. Berufsständisches Gliederungsprinzip: Von Anfang an bestanden verschiedene Kassenarten, deren Klientel sich aus unterschiedlichen sozialen Gruppen rekrutierte, und die mit diesen auch politisch verbunden blieben. Noch heute sind die gesetzlichen Krankenkassen in vier unabhängigen Spitzenverbänden organisiert, die ihrerseits öffentlich-rechtlichen Charakter tragen. 5 Hinzu kommen die privatrechtlichen Zusammenschlüsse der Ersatzkassen für Angestellte und für Arbeiter, ferner (für die Repräsentanz in den Spitzengremien) die Bundesknappschaft und die Seekasse. Bestimmte Berufsgruppen (insbesondere die Beamten und gut verdienende Selbständige und Angestellte) unterliegen keiner Versicherungspflicht. Bedarfsorientiertes Sachleistungsprinzip: Die Versicherten brauchen die Leistungen selbst nicht zu bezahlen; die Bezahlung erfolgt vielmehr direkt durch die Krankenkassen an die Anbieter der Gesundheitsleistungen. Das ist ein wichtiger Grund für das Strukturmoment kollektiver Honorarverhandlungen und damit für die Einrichtung der kassenärztlichen Vereinigungen. 5

Es sind dies: Bundesverband der Ortskrankenkassen, Bundesverband der Betriebskrankenkassen, Bundesverband der Innungskrankenkassen und Bundesverband der Landkrankenkassen.

Entwicklung der korporatistischen Steuerungsstrukturen ambulanter Krankenversorgung

Diese vier Merkmale charakterisieren das Ordnungsmodell versicherung,

der deutschen

33

Kranken-

welches offenbar von allen Beteiligten so internalisiert ist, daß es

nicht in Frage gestellt wird. Insofern können wir von einem wohlinstitutionalisierten System sprechen, welches auch alle wesentlichen Bedingungen für die Verteilungswirkungen bestimmt. Versucht man, die Wirkungsweise

der drei Steuerungssysteme

des

Gesundheits-

wesens unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirtschaftlichkeit und ihrer Effektivität zu vergleichen, so fällt auf, daß das überwiegend marktgesteuerte Gesundheitssystem der USA als besonders kostspielig und wenig effektiv (gemessen an den Kosten im Verhältnis zum Sterblichkeitsrückgang wie auch an den Verteilungswirkungen) erscheint. Der nationale Gesundheitsdienst Großbritanniens schneidet in beiden Hinsichten besonders günstig ab, läßt aber deutliche Tendenzen zu einer Einschränkung der Gesundheitsleistungen erkennen. Das Krankenversorgungssystem

der

Bundesrepublik liegt im Vergleich der O E C D - L ä n d e r hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit und der Effektivität im oberen Mittelfeld und sichert - zum mindesten bisher - einen großzügigen Versorgungsstandard. Das ungünstige Abschneiden ausschließlich marktgesteuerter Gesundheitssysteme ist erklärungsbedürftig, denn nach der vorherrschenden ökonomischen Theorie müßte j a die Marktsteuerung zu einer besonders effizienten Allokation der Produktionsfaktoren zu einer preisgünstigen Versorgung der Konsumenten führen. Abbildung 1:

Eigenarten der Gesundheitsgüter

Typische Gütereigenschaften gemäß der

Eigenschaften von Gesundheitsgü-

Markttheorie

tern

Versorgungsgrad richtet sich nach

Versorgungsgrad richtet sich nach

subjektiven Präferenzen und der

Bedarfsnormierung durch Anbieter

Zahlungsfähigkeit der Nachfrager Abnehmender Grenznutzen und

Gesundheit ist prioritäres Gut;

Preiselastizität der Nachfrage

Anbieterdominanz

Mobilität der Güter

Ortsgebundene personenbezogene Dienstleistungen

Preisorientierung der Nachfrage

Personenorientierung der Nachfrage

Gesundheitsleistungen weichen jedoch in mehreren Dimensionen von den in der Marktökonomie vorausgesetzten idealtypischen Güterqualitäten ab (vgl. Abbildung 1): Die Patienten stehen den Anbietern von Gesundheitsleistungen in der Regel nicht als „mündige Konsumenten" gegenüber, sondern befinden sich in einem mehr oder weniger ausgeprägten Zustand der Hilflosigkeit und Uninformiertheit, welches sie von den Entscheidungen der Anbieter weitgehend abhängig macht. Zudem ist Gesundheit ein prioritäres Gut, d.h. im Krankheitsfall ist der Patient bereit,

34

Franz-Xaver Kaufmann

nahezu jeden Preis zu zahlen, um wieder gesund zu werden. Schließlich handelt es sich bei den Gesundheitsleistungen um personenbezogene Dienstleistungen und nicht um anonyme Waren. Aus diesen Umständen folgt, daß die im Konkurrenzmodell vorausgesetzte Anbieterkontrolle durch die Konsumenten weitgehend versagt. Die Anbieterkontrolle muß gesondert organisiert werden, und zwar auf eine Weise, welche die spezifischen Effektivitätsbedingungen der Krankenversorgung, nämlich das professionelle Wissen und das ärztliche Ethos, nicht beeinträchtigt. Dementsprechend finden wir sowohl im hierarchischen Modell der nationalen Gesundheitsdienste als auch im korporatistischen Modell eine starke Stellung der Ärzte im Bereich der Steuerung und Kontrolle des Gesundheitswesens. Dies entspricht dem Modus der expertenbasierten Kontrolle.6 2. Die Verteilungswirkungen

unterschiedlicher

Honorierungssysteme

Von altersher werden dem ärztlichen Handeln angesichts der Verletzlichkeit und Hilflosigkeit der Patienten Beschränkungen der Verfolgung ökonomischer Interessen auferlegt, welche im Regelfalle zugleich Bestandteil des ärztlichen Ethos und der standesmäßigen Selbstkontrolle sind.7 In dem Maße allerdings, als sich die Krankenversicherung ausbreiten und staatliche Kostendämpfungsmaßnahmen die Handlungsfreiheit der Ärzte einengen, muß mit einer Aushöhlung dieses Ethos in der Honorierungsdimension gerechnet werden.8 Wenn wir uns heute über die Verteilungswirkungen des ambulanten Versorgungssystems Rechenschaft ablegen wollen, so empfiehlt es sich, die Anreizwirkungen unterschiedlicher ärztlicher Honorierungssysteme zu untersuchen, welche sich historisch herausgebildet haben. Eine entsprechende Systematik hilft uns, anschließend auch die Veränderungen im Zuge der historischen Entwicklung des deutschen Systems ambulanter Krankenversorgung leichter zu verstehen. Das Grundproblem ist dabei folgendes: Die Nachfrage nach ärztlichen Leistungen ist vom Gesundheitszustand der jeweiligen Klientel abhängig. Könnte man davon ausgehen, daß die Krankheitshäufigkeit ihrer Art, ihrer Verteilung und ihrer durchschnittlichen Auftretenshäufigkeit nach konstant bliebe und könnte man von einer konstanten, finanzierungsunabhängigen Leistungsbereitschaft der Anbieter (hier also insbesondere der Ärzte) ausgehen, wäre das Honorierungssystem von untergeordneter Bedeutung. Doch die Verhältnisse sind nicht so: Wir müssen vielmehr davon ausgehen, daß die Bereitschaft des Arztes, den Umfang seiner LeistunFür eine Systematik unterschiedlicher Steuerungsmodi vgl. Kaufmann 1991: 227{f. A1S es noch keine Krankenversicherung und keine staatlichen Tarife gab, pflegten die Ärzte ihre Honorare an der Zahlungskräftigkeit ihrer Patienten zu orientieren und praktizierten damit eine ethisch motivierte „Umverteilung"! 8 Eine weitere Konsequenz dieser Überlagerung der Arzt-Patienten-Beziehung durch Versicherungssysteme und staatliche Regulierungen ist die strukturelle Trennung von Dienstleistung und Honorierving. Die Beibehaltung des ärztlichen Ethos im Umgang mit den Patienten wird dann durchaus kompatibel mit einem opportunistischen Verhalten hinsichtlich den Abrechnungsregeln. 6

7

Entwicklung der korporatistischen Steuerungsstrukturen ambulanter Krankenversorgung

35

gen auszudehnen, von der Chance nicht unabhängig ist, durch eine solche Leistungsausdehnung sein Einkommen zu erhöhen. Dies ist am ausgeprägtesten bei der Einzelleistungshonorierung der Fall; wird der Arzt dagegen auf der Basis eines festen Entgeltes honoriert, so hat er keinerlei ökonomisches Interesse an einer Leistungsausdehnung; er wird sich im Regelfalle auf das medizinisch Gebotene beschränken. Folgt er rein ökonomischen Maximen, wird er zudem geneigt sein, die Zahl oder die Intensität zu seiner Behandlungen einzuschränken. Zwischen diesen beiden extremen Honorierungsmodellen vermitteln die Modelle der Kopfpauschale und der Fallpauschale; sie sollen dem Arzt ein gewisses Interesse an der Behandlung möglichst vieler Patienten bzw. „Fälle" belassen und den „fleißigen" Arzt belohnen, ohne ihm doch einen Anreiz auf eine „unnötige" Leistungsausweitung zu geben (vgl. Abbildung 2). Abbildung 2: 1.

Honorierungsmodelle ärztlicher Leistungen

Festes Entgelt: Festes Gehalt im Rahmen eines individuellen Angestelltenvertrages Gesamtpauschalen für bestimmte

2.

3.

4.

Arztgruppen Kopfpauschale: Die Zahl der behandelten Patienten ist für die Honorierung maßgeblich, unabhängig vom erbrachten Leistungsumfang Fallpauschale: Einheitliche Vergütung der Behandlung

Das Morbiditätsrisiko trägt: Arzt Arztgruppe

Arzt

typisierter Krankheitsfalle Einzelleistungshonorierung:

teils Kasse, teils Arzt

Aufgrund frei festgelegter Preise Aufgrund verbandlich oder staatlich

Patient, bzw. Versicherung

erlassener Tarife

Versicherung bzw. Kasse

Die Verteilungswirkungen von Honorierungssystemen müssen also getrennt nach zwei Dimensionen untersucht werden: Einerseits hinsichtlich der Patienten, die eine mehr oder weniger gründliche Behandlung bzw. großzügige oder eingeschränkte Versorgung erhalten, und andererseits hinsichtlich der Ärzte, welche die von ihnen erbrachten Leistungen unterschiedliche monetäre Gegenwerte erhalten. Dabei ergibt sich typischerweise folgender Zusammenhang: Die Versorgung wird umso großzüger ausfallen, j e stärker sich das Honorar des Arztes am Umfang der erbrachten Leistungen orientiert; die Versorgung wird umso restriktiver ausfallen, je weniger

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der Arzt eine dem Umfang seiner Leistungen entsprechende Honorierung erhält. Grundsätzlich haben also Arzte und Patienten ein paralleles Interesse, nämlich dasjenige der möglichst großzügigen (oder gründlichen) Versorgung. Dies aber wirkt kostentreibend. Aus der Sicht einer kollektiven, ja im Regelfall staatlich veranstalteten Finanzierung der Krankenversorgung und den damit verbundenen Interessen der Kostenträger (Beitragszahler, ihre Arbeitgeber, die öffentliche Hand) besteht grundsätzlich ein Interesse an der Einschränkung der Aufwendungen. Die strategische Variable zur Vermittlung in diesem Interessenkonflikt stellt eben das Honorierungssystem dar, wie am Beispiel der Entwicklung der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung nun verdeutlicht werden soll.

3. Die Entstehung des korporatistischen Steuerungssystems der ambulanten ärztlichen Versorgung im Deutschen Reich Auch wenn die Akademisierung und Professionalisierung der Medizin bereits im 18. Jahrhundert einsetzte, so blieb die ärztliche Versorgung im Krankheitsfall doch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein Privileg der gehobenen sozialen Schichten. Mit der Einführung der Handels- und Gewerbefreiheit im Norddeutschen Bund (1869) wurde auch die ärztliche Behandlung liberalisiert und damit Gegenstand eines frei zwischen Arzt (A) und Patient (P) auszuhandelnden Behandlungsvertrags 9 (vgl. Abbildung 3,1). Zwar spielte der privatrechtliche Krankenversicherungsvertrag in der Geschichte des deutschen Gesundheitswesens nur eine untergeordnete Rolle, doch wird er in Abbildung 3, II aus systematischen Gründen aufgeführt: Sobald ein dritter Kostenträger, hier also die Privatversicherung (V) zum Verhältnis von Arzt und Patient hinzutritt, entschärft sich die Interessenlage in deren Beziehung, da nunmehr die Kostenfrage externalisiert wird. Damit entsteht das bekannte Problem des „Moral hazard", also die Möglichkeit einer intentionalen Beeinflussung der Risikogröße (und damit der Kosten) durch die Beteiligten. Angesichts der gegenwärtigen Diskussion um eine mögliche Privatisierung eines Teils der Krankheitsrisikos muß darauf hingewiesen werden, daß „Moral hazard" nicht nur im Falle einer gesetzlichen Absicherung des Krankheitsrisikos, sondern in ähnlicher Weise auch bei einer privatrechtlichen Versicherung auftritt. Mehr noch: Private Versicherungsgesellschaften haben im Regelfall weniger einflußreiche Möglichkeiten auf die Preisgestaltung der ärztlichen Leistungen als eine öffentliche Versicherung, wie auch die überdurchschnittliche Kostenexpansion in den Vereinigten Staaten zeigt. 9

Legende zu den Abbildungen 3 und 4\ Die verschiedenen, zwischen den einzelnen Akteuren zu beobachtenden Beziehungen werden durch drei unterschiedliche Linienführungen gekennzeichnet: Ein durchgehender Pfeil bedeutet eine Sachleistung; ein gepunkteter Pfeil bedeutet eine Geldleistung; die fette Gerade bedeutet eine (potentiell konfliktgeladene) Verhandlungssituation, in der über die Honorienmg der Ärzte entschieden wird. Im vorliegenden Zusammenhang interessieren im wesentlichen nur diese Verhandlungssituationen.

Entwicklung der korporatistischen Steuerungsstrukturen ambulanter Krankenversorgung

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Öffentliche Hilfskassen im Krankheitsfalle gab es auf dem Gebiet des Deutschen Reiches bereits ab Mitte der 1840er Jahre, allerdings nur auf kommunaler Ebene. Die Einfuhrung einer gesetzlichen Krankenversicherung für die Arbeiter im Rahmen der Bismarckschen Sozialreformen (1883) inkorporierte die älteren Hilfskassen, welche im wesentlichen Krankengeld zahlten und nur ausnahmsweise ärztliche Leistungen bezuschußten. Die neue Gesetzgebung verpflichtete nunmehr die Krankenkassen (KK) „freie ärztliche Behandlung zu gewähren". Was dies allerdings konkret bedeutete, konnten die Selbstverwaltungsorgane der einzelnen Kassen allein entscheiden. Da in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Arztdichte und damit die Konkurrenz stark zunahmen, konnten die meisten Ärzte von der Privatklientel nur schlecht leben und begrüßten die zusätzliche Nachfrage der Krankenkassen, auch wenn diese nur spärliche Honorare zu zahlen bereit waren. Denn die meisten Krankenkassen hatten kaum mehr als 100 Mitglieder, und versicherte Arbeitnehmer (AN) wie deren an der Beitragszahlung mit beteiligte Arbeitgeber (AG) waren an niedrigen Beiträgen interessiert (Abbildung 3, III). Dabei finden sich in der Frühzeit die unterschiedlichsten Honorierungsvereinbarungen, in denen angesichts der hohen Ärztekonkurrenz die Kassen ihre Bedingungen weitgehend durchsetzen konnten. Abbildung 3: Geschichtliche Entwicklung der Honorierung und Steuerung der ambulanten ärztlichen Versorgung im Deutschen Reich

Ausschließlich privatrechtlicher Behandlungsvertrag (ab 1869)

Privatrechtliche Krankenversicherung (Moral hazard)

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Gesetzliche Krankenversicherung (ab 1883)

P/AN

AG

P/AN

AG

1. Berliner Abkommen 1913

Notverordnung 1923/24 (^^R^chsausschuß^^^

(^^Reichsschiedsarnt^^)

P/AN

AG

Entwicklung der korporatistischen Steuerangsstrakturen ambulanter Krankenversorgung

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2. Berliner Abkommen (als Notverordnung 1931 inkraftgetreten)

Reichsausschuß

KAV

Reichsschiedsamt

KK

PA'S

Diese von vielen Ärzten sowohl als ökonomische wie auch als standesmäßige Demütigung empfundene Situation führe im Jahre 1900 zur Gründung des „Verbandes für die Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen" (Leipziger Verband, heute: Hartmann-Bund), eine gewerkschaftsähnliche Organisation, um die Verhandlungsmacht der Ärzte gegenüber den Krankenkassen zu stärken. Dies ist die historische Weichenstellung zur nachfolgenden Entwicklung des korporatistischen Systems im deutschen Gesundheitswesen. Der rasche Erfolg des Leipziger Verbandes - er hat bis zum Berliner Abkommen von 1913 „insgesamt 1700 Kämpfe (seil. Streiks) durchgefochten, von denen nur 18 keinen befriedigenden Abschluß für die Mitglieder des Verbandes brachten" (Tennstedt 1977: 181) war vor allem der starken Organisationsfähigkeit der Ärzte zuzuschreiben, welche schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Kultur der Selbstorganisation in der Form von Ärztevereinen, Berufsverbänden und Ärztekammern, also vornehmlich zu geselligen und standespolitischen Zwecken entwickelt hatten. Auch die Krankenkassen schlössen sich schon bald zu Verbänden zusammen: Bereits 1894 gründeten die überwiegend unter sozialdemokratischem Einfluß stehenden Allgemeinen Ortskrankenkassen den „Zentralverband von Ortskrankenkassen im Deutschen Reich" mit 31 Untergliederungen nach Bezirken der Landesversicherungsanstalten (bzw. Regierungsbezirke), eine bis heute maßgebliche Struktur! Angesichts seiner politischen Ausrichtung war der Zentralverband jedoch für andere Kassen nicht attraktiv. Deshalb wurde 1904 der Verband der Betriebskrankenkassen (arbeitgebernah), 1912 der Gesamtverband der Krankenkassen Deutschland (den nicht-sozialistischen Arbeitnehmern nahestehend) und der Verband kaufmännischer eingeschriebener Hilfskassen (Ersatzkassen, Angestellenverbänden nahestend) gegründet. So kam es zu einer fragmentierten Verbandsstruktur auf der Kassenseite,

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die sich bis heute erhalten hat, während auf Seite der niedergelassenen Ärzte von Anfang an ein einheitlicher Verband stand, was mit zur strategischen Überlegenheit der Ärzte in den meisten Entwicklungsphasen beitrug. Die wesentlichen Forderungen des Leipziger Verbandes lauteten: Einzelleistungshonorierung, Festlegung der Vertragsbedingungen im Rahmen von Kollektiverhandlungen zwischen Ärzteverband und Krankenkassen, freie Arztwahl der Patienten, Aufhebung der Zulassungswillkür von seiten der Krankenkassen und Kontrolle der Kassenzulassung durch die Ärzte selbst. Im Zuge der Ausarbeitung der Reichsversicherungsordnung (in Kraft seit 1.1.1914) versuchte die Reichsregierung, eine reichseinheitliche Lösung der schwelenden Probleme zu erreichen, doch scheiterte dies an der Unnachgiebigkeit beider Seiten. Als daraufhin ein außerordentlicher Ärztetag den Generalstreik androhte, bemühte sich das Reichsamt des Inneren um eine vertragliche Konfliktlösung, die im Dezember 1913 in der Form des ersten Berliner Abkommens zwischen den Ärzte- und Krankenkassenverbänden zustande kam. Wesentliche Punkte: -

Die Anstellungsautonomie der Krankenkassen wird beseitigt. Die Zulassung von Kassenärzten erfolgt nach einer festen „Verhältniszahl" 10 und durch paritätisch besetzte örtliche Registerausschüsse; Kassenärztliche Kollektiverträge auf örtlicher Ebene bildenden Rahmen der nach wie vor zwischen den Kassen und dem einzelnen Arzt zu schließenden Behandlungsverträge. Die Kollektivverträge werden im Rahmen örtlicher Vertragsausschüsse vorbereitet; Zwangsschlichtungsverfahren durch Schiedsämter mit staatlicher Beteiligung; Paritätisch besetzter Zentralausschuß für die Durchfuhrung des Abkommens und zur Entscheidung von eventuellen Streitigkeiten: Ihm gehören je fünf Vertreter der Ärzteschaft und Kassenverbände, zwei neutrale Beisitzer sowie ein regierungsamtlich ernannter Vorsitzender an; unter den Mitgliedern dieses Ausschusses besteht Schweigepflicht. 11 Die entsprechende Struktur gibt Abbildung 3, IV wieder: Die konflikthaften Auseinandersetzungen verlagerten sich nun vom Verhältnis zwischen der Kasse und dem einzelnen Arzt in die paritätisch besetzten örtlichen Ausschüsse, wo sie besser handhabbar wurden. Dabei entstanden von Ort zu Ort unterschiedliche Regeln und auch variable Vergütungsformen. Gleichzeitig blieb jedoch eine direkte Vertragsbeziehung zwischen Krankenkasse und einzelnem Arzt bestehen. Das Berliner Abkommen war auf zehn Jahre abgeschlossen und lief 1923 - auf dem Höhepunkt der Inflation - aus. Entsprechend dem damaligen Regierungsstil 10 Zunächst: Ein Arzt auf 1300 Kassenmitglieder; die Verhältniszahl wurde in der Folge immer weiter herabgesetzt, wodurch sich die medizinische Versorgung verbesserte. 11 Diese Regel (Schweigepflicht) sollte sich für die Unabhängigkeit und zunehmende Autorität dieses zentralen Steuerungsgremiums im deutschen Gesundheitswesen (heute: Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen) als entscheidend erweisen.

Entwicklung der korporatistischen Steuerungsstnikturen ambulanter Krankenversorgung

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wurde daraufhin das Abkommen durch Notverordnung verlängert, womit sich jedoch gleichzeitig sein rechtlicher Charakter änderte: Handelte es sich bis dahin um eine privatrechtliche Vereinbarung, so wurde der Inhalt des Abkommens nunmehr zur staatlichen Vorschrift. An die Stelle des freiwillig konsentierten Zentralausschusses trat nun der „Reichsausschuß für Ärzte und Krankenkassen" (RÄK) als Zwangsarbeitsgemeinschaft der beiderseitigen Spitzenverbände mit dem staatlichen Auftrag, das Verhältnis weiter zu entwickeln. Damit wurde aus dem zur Konfliktschlichtung geschaffenen Gremium ein Steuerungsgremium, in welchem die staatliche entsandten neutralen Vertreter von politischen Weisungen abhängig wurden. Um sich diesem politischen Einfluß zu entziehen, entwickelten die Verbandsvertreter Kompromißfähigkeit. So vermochte der RÄK eine Zulassungsordnung, Richtlinien für wirtschaftliche Arzneiverordnung, für die Tätigkeit der Prüfungsausschüsse u.a.m. zu verabschieden. Diese Richtlinien wurden dann vom Reichsschiedsamt im Rahmen von Schlichtungsverfahren verbindlich gemacht. Diese Struktur (vgl. Abbildung 3, V) eines öffentlich-rechtlich sanktionierten Verbandsverhandlungssystems führte im jahrelangen Zusammenwirken zu einer „staatlichen Verbandsdomestikation", welche auch die Lösung der im Gefolge der Weltwirtschaftskrise ausbrechenden tiefgreifenden sozialpolitischen Konflikte am Ende der Weimarer Republik präformierte. Das aus diesen Auseinandersetzungen hervorgehende zweite Berliner Abkommen (1931) führte zu einem weiteren Kompetenzzuwachs der Ärzteverbände: 12 Die wesentliche Innovation dieses Abkommens war die Schaffung der kassenärztlichen Vereinigungen (KÄV) als öffentlich-rechtlichen Verhandlungs-, Abrechnungsund Kontrollinstanzen des ärztlichen Handelns. Damit entfiel die unmittelbare Verhandlungsbeziehung zwischen Arzt und Krankenkassen, ebenso deren bisheriger Kontrollanspruch. Die Ärzte standen nun ausschließlich unter der Kontrolle der kassenärztlichen Vereinigungen, in deren Leitung der Hartmann-Bund dominierenden Einfluß gewann. Der Sicherstellungsauftrag, d.h. die Zuständigkeit für die Gewährleistung der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung ging nun auf die KÄV über, welche gleichzeitig gegenüber den ihnen angehörenden Ärzte erhebliche Macht gewannen, weil sie damit beauftragt wurden, die ihnen seitens der Krankenkassen zufließenden Finanzmittel an ihre Mitglieder zu verteilen. Diese Mittel wurden nun einheitlich aufgrund einer Kopfpauschale als Honorarmaßstab verteilt, und die Entwicklung der Gesamtvergütung sollte sich an der Änderungsrate der Grundlohnsumme orientieren; das führte angesichts der schlechten Wirtschaftslage zu einer Kürzung der ärztlichen Einkommen.

12 Dieses Abkommen wurde im wesentlichen zwischen dem Reichsverband der Ortskrankenkassen und dem Hartmann-Bund ausgehandelt; da es von den drei kleineren Spitzenverbänden der Krankenkassen abgelehnt wurde, setzte es Reichspräsident Brüning durch Notverordnung in Kraft.

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So kann man die Maxime der ärzteverbandlichen Politik in der Weimarer Zeit als Tausch von gesteigerten Einflußchancen fiir den Verzicht auf unmittelbare Erwerbschancen charakterisieren. Ich übergehe die Zeit des Dritten Reiches, in der alle autonomen Verbände aufgehoben und das Gesundheitswesen einer weitgehenden staatlichen Steuerung unterworfen wurde. Zwischen 1945 und 1955 galten in den einzelnen Besatzungszonen bzw. Bundesländern unterschiedliche Regelungen; von einer Ordnung für die gesamte Bundesrepublik kann erst seit der Verabschiedung des Gesetzes über das Kassenarztrecht (1955) gesprochen werden. Die dort getroffenen Regelungen griffen grundsätzlich auf die Struktur von 1931 zurück, doch verschob sich aufgrund einer Reihe von Zusatzregeln das Machtverhältnis weiterhin zugunsten der Ärzteverbände: So blieb beispielsweise das im Dritten Reich erlassene Verbot kasseneigener Ambulatorien bestehen; die niedergelassenen Ärzte erhielten ein Behandlungsmonopol, ihre Vereinigungen den Sicherstellungsauftrag; die bisherige Zwangsschlichtung entfiel ersatzlos. Von großer Tragweite wurde die Regel, daß die Vertragspartner die Wahl zwischen unterschiedlichen Honorierungsmodellen (Kopfpauschale, Fallpauschale, Einzelleistungshonorierung) zugestanden erhielten. Da in den Verträgen mit den Ersatzkassen das Prinzip der Einzelleistungshonorierung dominierte, gelang es in der Folge den Ärzteverbänden, diese auch für die Verträge mit den gesetzlichen Kassen durchzusetzen. In Verbindung mit dem sog. Kassenarzturteil des Bundesverfassungsgerichts von 1960, welches die Beschränkung der kassenärztlichen Zulassung durch Verhältniszahlen und damit die regionale Steuerung des Angebots an Kassenärzten für verfassungswidrig erklärte, bildete dies die Voraussetzungen für die anschließende Kostenexpansion. Zwischen 1964 und 1975 stiegen die Ausgaben für ärztliche Behandlung pro Mitglied jährlich im Durchschnitt um ca. 12% und damit deutlich stärker als die Grundlohnsumme. Es gab nun keinen zentralstaatlichen Mechanismus mehr, der der Dynamik der Verhandlungen zwischen den einzelnen kassenärztlichen Vereinigungen und den einzelnen Krankenkassen Grenzen gesetzt hätte, in denen sich die Ärztevertreter meist als durchsetzungsfähiger erwiesen. Die Rahmenbedingungen wurden auf Landesebene in der Form von Landesmantelverträgen festgelegt; zwar sah das Gesetz eine freiwillige Schiedsgerichtsbarkeit vor, die jedoch kaum mehr in Anspruch genommen wurde. Der Bundesausschuß der Ärzte- und Krankenkassen hatte in dieser Phase keine Rechtssetzungskompetenz mehr wie der frühere Reichsausschuß. Auch die Kompetenzen des Aufsicht führenden Ministeriums blieben bescheiden (vgl. Abbildung 4, I). Diese Phase bildet den Höhepunkt der Macht der Ärzteverbände.

Entwicklung der korporatistischen Steueningsstrukturen ambulanter Krankenversorgung

Abbildung

4:

Bundesrepublik

Honorierung

und Steuerung

der ambulanten

ärztlichen

Versorgung

Deutschland

Gesetz über das Kassenarztrecht 1955

Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen

Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung

KAV

P/VS

in d>

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Krankenversicherungs- Kostendämpfungsgesetz 1977

Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung

BÄK Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen (mit Fachausschüssen) 9 KBV, KKV, 3 Neutrale

Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (mit Sachverständigenrat)

„Bundesmantelvertrag" Gemeinsame Empfehlungen

„Gesamtvertrag"

P/VS

Entwicklung der korporatistischen Steuerungsstrukturen ambulanter Krankenversorgung

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Sozialgesetzbuch V. Buch (1989/1993) (Nur Honorierungsfrage) Bundesministeriun Gesundheit

Kassenärztliche Bundesvereinigung

gemeinsame Empfehlungen zur Gesamtvergütung

Bundesverände der Krankenkassen (inkl. Ersatzkassen)

Vereinbarung der Gesamtvergütung

A

Honorarverteiiungsmaßstab



Die Ärzteverbände benützten jedoch ihre Macht in einer Weise, welche gleichzeitig die internen Kontrollmöglichkeiten der kassenärztlichen Vereinigungen gegenüber ihren Mitgliedern reduzierte; die Folge war das gleichzeitige Anwachsen der durchschnittlichen Ärzteeinkommen und fortgesetzte Beitragssteigerungen in der GKV. Die „Kostenexplosion im Gesundheitswesen" wurde zu einem politischen Thema, nachdem der Ölpreisschock von 1973 das wirtschaftliche Gleichgewicht gestört und Helmuth Schmidt Willy Brandt als Kanzler der sozialliberalen Koalition abgelöst hatte. Die kassenärztliche Bundesvereinigung versuchte, einer gesetzlichen Regelung durch die Selbstbeschränkung ihrer Honorarforderungen zuvor zu kommen, aber die kritische Reaktion der unabhängigen Ärzteverbände zeigte, daß man

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sich hierauf nicht auf Dauer verlassen könne, und so stieg die Neigung der Politik, in die Tarifbeziehungen einzugreifen. Das nach zähen Verhandlungen und einem bis zuletzt spannendem parlamentarischen Verfahren schließlich verabschiedete Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz (1977) stellte erneut eine zentralstaatliche Steuerungsebene her. Im wesentlichen ging es darum, die Kostendynamik unter Kontrolle zu bekommen und die Verhandlungsmacht der Kassenseite zu stärken (vgl. Abbildung 4, II). Der neue gesetzliche Rahmen wurde jedoch wesentlich flexibler als in der Weimarer Zeit: Zum einen wurde eine „Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen" geschaffen, der Vertreter aller am Gesundheitswesen beteiligten Interessen angehören sollten. Diese sollte in Anlehnung an die wirtschaftliche Entwicklung jährliche Empfehlungen über die Steigerungsrate der kassenärztlichen Vergütungen abgeben. Die Spitzenverbände der Arzte und Krankenkassen wurden aufgewertet, und zwar sowohl durch neue Kompetenzzuweisungen an den Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen als auch durch die Einführung eines zwischen ihnen auszuhandelnden „Bundesmanteltarifvertrages", welcher die Verhandlungsmaterien für die nach wie vor auf Landesebene abzuschließenden „Gesamtverträge" standardisiert. Auf der Ebene der eigentlichen Vertragsverhandlungen war die wesentliche Neuerung, daß nunmehr auf der Kassenseite nicht mehr die einzelnen Kassen, sondern deren jeweilige Landesverbände (LVKK) als Vertragspartner auftreten. Dadurch wurde die Verhandlungsmacht der Kassenseite sowohl quantitativ als auch qualitativ gesteigert und das bisherige Machtun-gleichgewicht zugunsten der Vertrer der KÄV abgebaut. Die Honorierungsunterschiede zwischen den Ersatzkassen und den gesetzlichen Krankenkassen sollten durch die Schaffung einer einheitlichen Gebührenordnung eingeebnet werden. Ferner wurden Arzneimittelhöchstbeträge, die Selbstbeteiligung der Patienten an den Arzneikosten sowie paritätische Prüfungsausschüsse zur Kontrolle des ärztlichen Abrechnungsverhaltens vereinbart. Damit wurden die Weichen in Richtung auf eine einkommensorientierte Ausgabenpolitik gestellt, und es läßt sich festhalten, daß die Ausgaben in der ambulanten Versorgung in der folgenden Epoche (1977-1988) tatsächlich nur etwa parallel zur Grundlohnsumme gestiegen sind. Im Bereich der stationären Versorgung war die Strategie der Kostendämpfung dagegen wesentlich weniger erfolgreich. Auch das Gesundheitsreformgesetz von 1988 (GRG), welches die Materie der gesetzlichen Krankenversicherung in das 5. Buch des neuen Sozialgesetzbuches umarbeitete, blieb in seinem Erfolg im wesentlichen auf die verstärkte Steuerung und Kontrolle der ambulanten Versorgung beschränkt. 13 Es brachte zum einen die vollständige Einbeziehung der Ersatzkassen in das gesetzliche Regelwerk und damit deren „Gleichschaltung"; dem entsprechend wurden ihnen nunmehr auch zwei Sitze 13 Eine wesentliche Einschränkung der Handlungsspielräume im Bereich der stationären Versorgung erfolgte erst durch das Gesundheitsstrukturgesetz von 1992, doch bildet dies keinen Gegenstand unserer Darstellung.

Entwicklung der korporatistischen Steuerungsstrukturen ambulanter Krankenversorgung

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in BÄK zugesprochen. Als honorarpolitische Neuerung ist die Ablösung der bisherigen Einzelleistungshonorierung durch eine zwischen den Verbänden der Krankenkassen und den kassenärztlichen Vereinigungen auf Landes- bzw. Bezirksebene auszuhandelnden Gesamtvergütung zu sehen. Dadurch wird das Risiko ärztlicher Mehrleistungen (Morbiditätsrisiko) von den Kassen wieder auf die Ärzte verschoben. Die Gesamtvergütung (welche im Übergangszeitraum durch eine Kopfpauschale errechnet werden) soll sich in ihrer Veränderung an den Veränderungen der Grundlohnsumme orientieren. Entsprechende Empfehlungen werden zunächst bundesweit von den Spitzenverbänden beider Seiten abgegeben und dann im Rahmen der Einzelverhandlungen nach Maßgabe der einzelnen Kassenverbände spezifiziert. Neu ist nunmehr, daß die Ärzte nicht mehr mit einer festen Honorierung der von ihnen erbrachten Leistungen rechnen können. Vielmehr muß innerhalb jeder kassenärztlichen Vereinigung ein „Honorarverteilungsmaßstab" vereinbart werden, bei dessen Gestaltung sich das Gewicht unterschiedlicher Interessenlagen einzelner Arztgruppen niederschlägt (vgl. Abbildung 4, III.). Insbesondere geht es hier um das Problem, wie die Tendenz mancher Ärzte, Einkommensreduktionen durch Ausweitung ihres Leistungsumfangs zu kompensieren, unter Kontrolle gehalten werden kann. Die hierbei getroffenen Lösungen sind von Kassenbezirk zu Kassenbezirk sehr unterschiedlich. Das GRG hat ferner die Bindungswirkung der Richtlinien des BÄK verstärkt; dieses Gremium wird mehr und mehr zur eigentlichen Ordnungsmacht der ambulanten Versorgung; seine Kompromißfähigkeit wird durch ein „Recht zur Ersatzvornahme" gesteigert, das nach dem Gesetz dem aufsichtsführenden Bundesministerium zusteht, falls sich die Verbandsvertreter nicht einigen können. Diese Ersatzvornahmerechte wurden durch das Gesundheitsstrukturgesetz (1992) noch verstärkt. Letzteres beinhaltet zudem einen kassenübergreifenden Finanzausgleich und die Einführung von Wettbewerbselementen zwischen den Krankenkassen sowie die Möglichkeit von Zulassungsbeschränkungen gegenüber den Ärzten.

4.

Schlußfolgerungen

Dieser unvermeidlich knappe Überblick über die Entwicklung der Steuerungsstrukturen der ambulanten Versorgung in Deutschland zeigt zum mindesten dreierlei: 1. Die Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens weist eine hohe Strukturkonstanz auf, d.h. wir können - zum mindesten in der Rückblende - die Entwicklung als eine nahezu unaufhaltsame wachsende Korporatisierung begreifen. Der Einfluß der Verbände hat - wenngleich für die Ärzte- und die Kassenseite nicht zu gleichen Zeitpunkten - insgesamt kontinuierlich zugenommen.

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Während in der Weimarer Zeit die staatlichen Regelungen einen deutlich zentralisierenden Effekt hatten, wurde dieser nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst rückgängig gemacht; die jüngsten Entwicklungen deuten aber wiederum auf eine stärkere Zentralisierung der Gesundheitspolitik hin. 2. Dieser korporatistische Steuerungsmodus hat sich nicht allein auf der Basis der Einsicht der Vertragspartner in wechselseitig vorteilhafte Verhältnisse entwikkelt, sondern stand - sofern er auch als Instrument der Kostendämpfung wirksam wurde -stets „im Schatten der Staatsmacht". Nur unter der Drohung weiterreichender staatlicher Eingriffe oder von Ersatzvornahmen kann die Kompromißfähigkeit der Verhandlungspartner auf Dauer sichergestellt werden. 3. Der bisherige Erfolg dieses korporatistischen Systems beruhte zum einen auf der Bindungswirkung der Verbandlichung gegenüber den ärztlichen Mitgliedern und zum anderen auf dem durch die deutsche GKV gewährleisteten hohen Versorgungsniveau. Die Akzeptanz der gesetzlichen Krankenversicherung in der Bevölkerung ist dementsprechend hoch und auch die Bereitschaft, sich durch Umverteilungsvorgänge belasten zu lassen (vgl. Ullrich 1996). Die zunehmende gesetzliche Verfestigung der ursprünglich in Verbandsverhandlungen getroffenen Regelungen führt dazu, daß es für alle Beteiligten immer schwieriger wird, sich der disziplinierenden Wirkung des etablierten Systems zu entziehen. Dennoch ist es insbesondere auf Seiten der Ärzte keineswegs auszuschließen, daß alternative Optionen, welche im Grenzfall den Verzicht auf die Kassenzulassung beinhalten, erprobt werden. Die Chance zu solchen Verhaltensweisen wird umso höher, je stärker andererseits die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung eingeschränkt werden und somit ein neuer „freier Markt" für Zusatzleistungen entsteht. Damit zeigt sich, wie die beiden Stabilitätspfeiler des bestehenden Systems zusammenhängen. Wesentliche Leistungseinschränkungen, etwa die Reduktion der durch die GKV abgedeckten Leistungen auf eine Grundversorgung, würde gleichzeitig die Reichweite der verbandlichen Regelungen der ärztlichen Dienstleistungen erheblich in Frage stellen.

III.

Literaturverzeichnis:

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Entwicklung der korporatistischen Steuerungsstrukturen ambulanter Krankenversorgung

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Ferber, Christian von (1971): Gesundheit und Gesellschaft. Haben wir eine Gesundheitspolitik? Stuttgart: Kohlhammer. Kaufmann, Franz-Xaver (1991): The Relationship between Guidance, Control, and Evaluation. In: (Ders.) (Hrsg.), The Public Sector - Challenge for Coordination and Learning. Berlin - New York: de Gruyter, S. 213-234 . Mayntz, Renate (1990): Politische Steuerbarkeit und Reformblockaden: Überlegungen am Beispiel des Gesundheitswesens. In: Staatswissenschaft und Staatspraxis 1, S. 283-307. Mayntz, Renate/Rosewitz, Bernd (1988): Ausdifferenzierung und Strukturwandel des deutschen Gesundheitssystems. In: R. Mayntz u.a., Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme. Frankfurt/New York: Campus. Labisch, Alfred (1986): Gemeinde und Gesundheit. Zur historischen Soziologie kommunaler Gesundheitspflege in Deutschland. In: B. Blancke u.a. (Hrsg.), Die zweite Stadt. Neue Formen lokaler Arbeits- und Sozialpolitik. LEVIATHAN, Sonderheft 7. Opladen: Westdeutscher Verlag. Rosewitz, Bemd/Webber, Douglas (1990): Reformversuche und Reformblockaden im deutschen Gesundheitswesen. Frankfurt/New York: Campus. Tennstedt, Florian (1977): Soziale Selbstverwaltung, Bd. 2: Geschichte der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung. Bonn: Verlag der Ortskrankenkassen. Ullrich, Carsten G. (1996): Solidarität und Sicherheit. Zur sozialen Akzeptanz der Krankenversicherung. In: Zeitschrift für Soziologie 25, S. 171-189.

Pflegepolitik und Gesundheitswesen von Margarete Landenberger

I.

Pflegepolitik als Umverteilung von Steuerungsmöglichkeiten und Handlungsverantwortung

Das große öffentliche Interesse an Pflegepolitik, Pflegeversicherung und Leistungen für Pflegebedürftige zeigt die Bedeutung, die diesem Handlungsfeld im Alltagsleben der Bevölkerung zukommt. Verstärkt ins Blickfeld geraten damit Nutzenwirkungen gesundheits- und pflegepolitischer Infrastruktur als Rahmenbedingungen für Wirtschaftsentwicklung, Beschäftigung sowie als Kernbestand von Humanität und Wohlfahrt der deutschen Gesellschaft. Das Gesundheits- und Pflegesystem ist nicht wie die Renten- und Arbeitslosenversicherung vorrangig ein monetäres Transfersystem, sondern es ist geprägt von vielfältigen Herstellungsprozessen und vielfältigen Akteuren. Gerade im Bereich der Gesundheits- und Pflegepolitik wird deutlich, daß die klassischen sozialpolitischen Analysedimensionen von Finanztransfers und monetärer Umverteilung eine unzureichende „Verdünnung" der Diskussion darstellen (vgl. den einführenden Beitrag von Gerhard Igl in diesem Band). Ins Zentrum rückt statt dessen die ganze Person des Patienten und Pflegebedürftigen mit seinen physischen, psychischen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen. Gesundheits- und Pflegepolitik kann nicht reduziert werden auf Einkommenssicherung und Heilung akuter Krankheit, sondern ihre Aufgabe ist vermehrt auch ganzheitliche Versorgung von chronisch Kranken und Pflegebedürftigen, die Förderung von Zugehörigkeit, Sozialbeziehungen, Zugangschancen und Kompetenzen mit einschließt. In der Gesundheits- und Pflegewissenschaft wird der Übergang zu einem neuen gesundheitspolitischen Paradigma diagnostiziert. Als Ursache dafür werden vor allem zwei Faktoren angesehen. Dies ist zum einen eine veränderte Patienten-/ Klientensichtweise und zum anderen die Abkehr des Staates von Angebotssteuerung und Bedarfsplanung zugunsten der Vorgabe von Globalbudgets und der Delegation der Steuerungsverantwortung an die gesundheits- und pflegepolitischen Akteure. Das veränderte Bild der Patienten und Pflegebedürftigen zeigt sich daran, daß sie nicht mehr als passiv und unmündig, sondern als aktiv mitgestaltende Partner betrachtet werden. Behandlung und Pflege werden verstanden als kooperativer Aushandlungsprozeß zwischen Vertragspartnern. Patienten und Pflegebedürftige erhal-

Margarete Landenberger

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ten durch Gesundheitsreform und Pflegeversicherung vermehrte Wahlmöglichkeiten. Sowohl aus fachlichen als auch aus wirtschaftlich-wettbewerblichen Gründen müssen Pflegeorganisationen und dort tätige Professionen dazu übergehen, die Patienten und Pflegebedürftigen nicht nur als Leistungsempfänger, sondern auch als „Kunden" und Nutzer zu betrachten. Die Gesundheitsreform sowie die Pflegeversicherung bedeuten den Übergang zu einem neuen staatlichen Steuerungstyp. Während staatliche Gesundheitspolitik bisher im Umfang definierte Leistungsansprüche garantierte, geht sie nun den Weg der Politikentlastung, indem sie sich auf Rahmensteuerung beschränkt. Bisher waren Leistungsbegrenzungen im Krankenversicherungssystem, was den Kernbereich der medizinischen und insbesondere der Krankenhausleistungen anbelangt, nicht vorgesehen. Die einzige Möglichkeit, f a l l - oder mengenbezogene Mehrkosten aufzufangen, waren Beitragserhöhungen. Dieser die Gesundheitspolitiker immer wieder in legitimationsschädigende Entscheidungssituationen bringende Systemmechanismus wird nun ersetzt. Für die Pflegeversicherung haben die Verantwortlichen eine weit über diesen Sozialversicherungszweig hinausreichende Lösung gefunden. Sie besteht aus einem systemischen Ausgabenbegrenzungsmechanismus, der von einem begrenzten Individual-Sachleistungsanspruch über einen begrenzbaren GruppenSachleistungsanspruch zu einem vom Gesetzgeber zentralistisch fixierten und begrenzten Beitragssatz reicht. Neu und zukunftsweisend an dem neuen Sachleistungstypus der Pflegeversicherung ist, daß er von dem in der gesetzlichen Krankenversicherung gültigen individualisierenden, bedarfsbezogenen Sachleistungstypus Abschied nimmt zugunsten eines standardisierenden, budgetbezogenen Sachleistungstypus, der sowohl geringfügige Leistungsansprüche („Pflegestufe O") als auch hohe Leistungsansprüche ausgrenzt. Gemäß dem Prinzip der Beitragssatzstabilität wurde damit ein Steuerungsmechanismus gefunden, der die bisherige Logik: Mehrbedarf, Mehrausgaben, Beitragssteigerungen durch die neue Logik: fixiertes Budget, Leistungsbegrenzungen, Anstieg der von den Pflegebedürftigen aufzubringenden Eigenleistungen ersetzt (Maschmann 1993: 153 ff.). Damit ist bei der Leistungszumessung der Pflegeversicherung nicht mehr der individuelle Bedarf als Leistungsanspruch gesetzlich verbürgt, sondern der individuelle Bedarf wird dem Budget untergeordnet. Mit dem neuen Typus rationierter Pflegesachleistungen geht der Übergang von der Vollkosten- zur Teilkostensicherung einher. Damit sind sogenannte Hotelkosten, also Kosten für Unterkunft und Verpflegung, die im Falle von Krankenhausunterbringung - abgesehen von der neu eingeführten Zuzahlung durch den Versicherten - von der gesetzlichen Krankenversicherung weiterhin voll übernommen werden, in der Pflegeversicherung nicht mehr abgedeckt. Außerdem enthält das Pflegeversicherungsgesetz als weiteres Novum sogenannte Zusatzleistungen, die ebenfalls vom stationär untergebrachten Pflegebedürftigen selbst zu bezahlen sind. Die Pflegeversicherung deckt also im Falle von stationärem Aufenthalt im Pflege-

Pflegepolitik und Gesundheitswesen

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heim nur die pflegebedingten Aufwendungen (Grundpflege) ab. Mit der Herausnahme von „Hotelkosten" und „Zusatzleistungen" wurde ein Leistungsblock geschaffen, der - in Umfang und Abgrenzung zu den pflegebedingten Aufwendungen variabel gestaltbar - das Oberziel der Beitragsstabilität realisierbar macht, indem für die Pflegeeinrichtungen Ventile geschaffen werden, mit denen sie Mehrausgaben externalisieren können. Weiter unten soll gezeigt werden, daß der neue Leistungs

und

Finanzierungstyp

zwar

beträchtliche

systemische

Ressour-

cenverknappungen für Pflegeorganisationen und Pflegeberufe zur Folge hat, daß er aber auch Anreize in sich birgt, die Umsetzungsebenen zu Innovation und Kreativität bei der Erstellung der Pflegedienstleistungen zu motivieren. Die veränderten gesundheits- und pflegepolitischen

Steuerungsmechanismen

führen zu einem Wandel im Handeln der Pflegeorganisationen und Pflegeberufe. In dem Maße, wie sich der Gesetzgeber aus der Detailsteuerung zurückzieht, entsteht für Krankenhäuser, Altenheime und ambulante Dienste ein vorher unbekannter Innovationsdruck. Indem Pflegeorganisationen wirtschaftlich verselbständigt werden und zwischen ihnen Wettbewerb zugelassen wird, müssen sie ihr Überleben, ihren Bestand selbst sichern. So entsteht eine Dynamik, die sich bezeichnen läßt als Wandel von bürokratisch gewährleistenden „Anstalten" zu aktiv gestaltenden „SozialUntemehmen". In den folgenden Abschnitten möchte ich erläutern, wie die veränderten gesetzlichen Rahmenbedingungen zu einer Stärkung der Pflegeorganisationen und zu einem Kompetenzzuwachs der Gesundheits- und Pflegeprofession führen.

II.

Stärkung der Pflegeorganisationen

Grundlage der folgenden Ausführungen ist einerseits eine theoretische Analyse. Dazu wurden neuere Ansätze einer handlungsorientierten Organisationstheorie ausgewertet (Landenberger 1998). Diese lenken den Blick auf den gesellschaftsgestaltenden Beitrag von dezentralen Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens bei der Problembearbeitung, Wohlfahrtssicherung und Gemeinschaftsbildung (Giddens 1988, Pankoke 1989, Willke 1992). Krankenhäuser, Altenheime und ambulante Pflegedienste werden nicht mehr als starre Strukturen, sondern als strategisch handelnde, soziale Problemlösungen herstellende und „lernende" Organisationen begriffen. Eine zweite Grundlage der im folgenden referierten Ergebnisse ist ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt. Anhand von 30 Tiefeninterviews mit Krankenhaus-, Altenheimleitungen sowie Geschäftsführer/innen ambulanter Pflegedienste in den neuen und alten Bundesländern wurden die Veränderungen im Organisationshandeln untersucht. Die Ergebnisse erlauben erste Antworten auf die Frage, auf welchen Ebenen sich die durch die neue Gesetzeslage entstehende größere Organisationsautonomie durch verändertes

54

Margarete Landenberger

Handeln auswirkt (Landenberger/Kuhlmey u. a. 1997). Unter dem Zwang knapper werdender Ressourcen (Kostenkrise) ändern sich die Überlebensbedingungen von Organisationen des Gesundheitswesens grundlegend. Bürokratisches Routinehandeln reicht nicht mehr aus. Vielmehr benötigen die Organisationen aktive sozialunternehmerische Strategien, um einen eigenen Pfad des Ausbalancierens von Wirtschaftlichkeit einerseits und Klientenorientierung und Fachlichkeit andererseits zu finden (Kardorff 1993; Zöller 1993). Der Übergang von kostendeckenden Pflegesätzen zu (nicht kostendeckenden) leistungsbezogenen Entgelten bedeutet für Gesundheitsorganisation ein erhöhtes Bestandsrisiko. Während bisher in Krankenhäusern und anderen Pflegeeinrichtungen das universalistische Versorgungsprinzip herrschte, wird nun mit den Instrumenten des Patientenwahlrechts sowie des Behandlungs- und Pflegevertrags zwischen Patient und Organisation zum Nachfrageprinzip übergegangen. Künftig werden Patienten der Organisation nicht mehr von außen zugeteilt, sondern die Belegungsverantwortung geht auf die Organisation und damit auf die dort tätigen Professionen über. Pflegeorganisationen werden um so bessere Belegungszahlen erreichen, als sie eine fachlich qualifizierte medizinischpflegerische Gesamtleistung für auf den örtlichen Markt abgestimmte Klientenzielgruppen anbieten und deren Qualität nachweisen können. Als Gegengewicht zu Möglichkeiten der Ressourcenkürzungen, die den Pflegeeinrichtungen über Versorgungsverträge von den Finanzierungsträgern auferlegt werden können, enthalten Pflegeversicherungsgesetz und Gesundheitsreformgesetze Anreize für die Pflegeeinrichtungen, ihr Leistungsspektrum zu erweitern. Um im Qualitäts- und Preiswettbewerb mit anderen Einrichtungen um Versorgungsverträge und damit um Abrechnungsmöglichkeiten mit den Kassen bestehen zu können, werden ihnen vom Gesetzgeber nun Möglichkeiten der Variation ihrer Leistungsangebotspalette gewährt. Während das traditionelle Akutkrankenhaus nur stationäre Leistungen bereitstellen durfte, kann es künftig zusätzlich ambulante und stationäre Altenpflege, Geriatrie, v o r - und nachstationäre Versorgung und Rehabilitation anbieten. In ähnlicher Weise enthält das Pflegeversicherungsgesetz für Alteneinrichtungen Anreize, ihr Leistungsspektrum in Richtung Kurzzeit- und Tagespflege, ambulante Rehabilitation und Betreutes Wohnen zu verändern. Mit der Erweiterung von Möglichkeiten zur Leistungsangebotsgestaltung verfolgt der Zentralstaat das Ziel, Krankenhaus- und Pflegekosten über Marktbereinigung zu reduzieren. Unterbelegte Betten, Abteilungen und Leistungsarten werden abgebaut und - falls dafür Nachfrage bei Patienten besteht - durch andere Leistungsarten ersetzt. Vor allem soll die Angebotspalette der Pflegeorganisationen in Richtung ambulante Leistungen erweitert oder umgewandelt werden. Außerdem enthält das Pflegeversicherungsgesetz mit der Herausnahme der sog. Hotelkosten aus dem durch die Pflegeversicherung finanzierten Leistungskatalog sowie mit dem neu eingeführten Typus der „Zusatzleistungen" weitere Gestaltungsmöglichkeiten für Pflegeeinrichtungen, das Leistungsspektrum im Bereich der vom Patienten selbst zu finanzieren-

Pflegepolitik und Gesundheitswesen

55

den Leistungsanteile zu diversifizieren. Während sich der Zentralstaat auf das Setzen finanzieller Rahmendaten beschränkt, erhalten Kassen auf der einen und Pflegeeinrichtungen auf der anderen Seite vermehrte Spielräume, das Mix des Leistungsangebots für die jeweiligen Versorgungsregionen dezentral auszuhandeln und den im Zeitverlauf veränderten Markt- und Bedarfssituationen anzupassen. Dadurch wird künftig die Typik der traditionellen Einrichtungsarten (Krankenhaus, Altenheim, ambulanter Dienst) fließend werden. Außerdem ist zu erwarten, daß die bisherige Trennung der Ressorts Gesundheit auf der einen und Altenhilfe auf der anderen Seite vor allem auf Kommunal- und Länderebene in Frage gestellt wird. Der Gesetzgeber fördert auf diese Weise die Entstehung von Gesundheitszentren, die aus einer Hand unterschiedlichste Behandlungs- und Pflegeformen anbieten. Mittels einer weiteren staatlichen Steuerungsmaßnahme wird der Leistungswettbewerb zwischen den Einrichtungen verstärkt. Durch das Föderale Konsolidierungsprogramm wurde 1993 die bisherige Bervorzugung öffentlicher und freigemeinnütziger Träger von Einrichtungen aufgehoben. Damit erhalten private Anbieter - insbesondere in der Alten- und Behindertenpflege - gleiche Chancen, am Wettbewerb um Versorgungsverträge mit den Kassen bzw. Sozialhilfeträgern und damit am Wettbewerb der Einrichtungen um öffentliche Mittel teilzunehmen. Mit der durch neue Gesetze zugelassenen Marktsteuerung und Konkurrenz ist für die Organisationen der Übergang zur Verbetrieblichung verbunden. Während Alteneinrichtungen und ambulante Pflegedienste in der Vergangenheit nach dem Muster der öffentlichen Verwaltung gefuhrt wurden, muß künftig jede Einrichtung ein selbständiger Betrieb sein. Die neuen gesetzlichen Finanzierungsgrundlagen haben zur Folge, daß die Organisation künftig entstehende Defizite selbst ausgleichen muß, während sie entstehende Überschüsse für eigene Investitionen verwenden darf. Somit entsteht ein Anreiz, über Nachfrage und Preis hohe Behandlungs- und Pflegequalität bei gleichzeitiger Wirtschaftlichkeit zu erzielen. Die höhere wirtschaftliche Autonomie der Organisationen wird Pflegende künftig verstärkt motivieren, ihre Leistungen quantitativ und qualitativ zu objektivieren (Wirtschaftlichkeits-, Qualitätsprüfungen, Leistungsvergleiche). Differenzierte Nachweise über Leistungsdokumentation und Finanz-Controlling werden künftig auch für die Pflege unverzichtbar sein, um in internen Verhandlungen um das Einrichtungsbudget und in Verhandlungen mit den Kassen die für die fachgerechte Patientenbetreuung notwendigen Ressourcen zu sichern. Für ambulante Pflegedienste, teilstationäre Einrichtungen und Altenpflegeheime bedeutet die neue Gesetzeslage vermehrte Fachkompetenz und Organisationsautonomie. Durch die Einführung von Markt und Wettbewerb sind die Organisationen und Träger gehalten, in eigener Verantwortung das wirtschaftliche Überleben zu sichern. Dies kann nicht allein durch Kostenminimierung passieren, denn Dienste und Einrichtungen, die geringe Pflegequalität bieten, werden aufgrund ausbleibender Kundennachfrage am Markt nicht bestehen können.

56

Margarete Landenberger

Jede Pflegeorganisation muß daher eine je eigene Strategie entwickeln, um ein dem regionalen Standort entsprechendes Optimum im Qualitäts-/Kostenverhältnis zu finden. Die Gestaltungspotentiale der Pflegeorganisationen liegen auf unterschiedlichen Ebenen: Zum einen ist es die Ebene der Klienten: Hier werden ambulante Pflegedienste und Altenheime künftig vermehrt dazu übergehen, auf der Basis von regionalen Bedarfs- und Marktanalysen ihr Leistungsangebot auf spezifische Klientengruppen auszurichten. Nur so ist die für das wirtschaftliche Überleben notwendige Kundennachfrage, d. h. Auslastung der Pflegeplätze, gewährleistet. Zum anderen werden Pflegeorganisationen ein einrichtungsspezifisches Konzept der Personalentwicklung benötigen. Außerdem werden die Einrichtungen und ihre Träger von einem bisher meist breiten und unspezifischen Leistungsangebot zu einem den örtlichen Bedarfs- und Marktgegebenheiten entsprechenden gezielten Leistungsangebotsprofil übergehen. Darüber hinaus werden sie eine Rechts- und Unternehmensform wählen, die ihnen erlaubt, auf die steigende Kundennachfrage nach Pflegeleistungen in hoher Qualität zu marktgerechten Preisen kreativ und flexibel zu reagieren. Und schließlich begünstigt dies Entwicklungen zur Kooperation und Vernetzung zwischen bisher getrennten Einrichtungen und Leistungssektoren.

III.

Kompetenzzuwachs für die Pflegeprofession

Ausgangshypothese ist, daß professionelle Pflege ein stetiges Ausbalancieren zweier Rationalitäten ist. Pflegende folgen der fachlichen Rationalität, indem sie durch eine pflegerische Beziehung den Patienten dabei unterstützen, Probleme mit elementaren Lebensfunktionen zu lösen (Evers 1997). Pflegende folgen gleichzeitig immer auch einer wirtschaftlichen Rationalität, da jede Pflegeorganisation über begrenzte personelle und finanzielle Ressourcen verfügt. Auf diese Handlungsdimensionen von Pflegenden wie auch anderen Gesundheits- und Sozialberufen haben Strauss/ Fagerhaugh u.a. (1985) überzeugend hingewiesen, indem sie Verhandlungs-, Reorganisationsarbeit, Ressourcenbeschaffung und Tätigkeiten der Sicherung des Organisationsbestandes beschrieben. Unserer Hypothese zufolge konnten Pflegende, Ärzte und Verwaltungsleitungen bis in die 80er Jahre die Aufgabe des Ausbalancierens von Fachlichkeit und Wirtschaft-lichkeit implizit - ohne Strategie und Konzeption - bewältigen, da aufgrund anderer Rahmenbedingungen der Organisationsbestand gesichert war. Seit den 90er Jahren erfordern veränderte sozialstrukturelle und rechtlich-organisatorische Rahmenbedingungen qualitativ neue Formen der unmittelbaren klientenorientierten Pflegearbeit sowie der Organisationsgestaltung und Unternehmenssicherung. Dabei reicht ein punktuelles implizites Handeln vor allem der Leitungsebenen nicht mehr aus. Vielmehr benötigen sie wissenschaftlich fundierte Strategien, um die im letzten

Pflegepolitik und Gesundheitswesen

57

Abschnitt aufgezeigten neuen Anforderungen bewältigen zu können: Klientenwerbung, Belegungssicherung, Personalentwicklung, Neugestaltung des Leistungsprofils der Organisation sowie Sozial-Untemehmensstrategie. In der Übersicht werden die Dimensionen des erweiterten professionellen Handlungsfeldes von Gesundheits- und Pflegeberufen dargestellt (vgl. Übersicht).

Margarete Landenberger

58 Übersicht: anstaltlichen

Professionelles

Handlungsfeld

von Gesundheits-

und im sozial-unternehmerischen

und Pflegeberufen

im

Organisationstyp

Dimensionen des Handlungsfeldes

„anstaltliche" Pflegeorganisation

„sozial-unternehmerische" Pflegeorganisation

Patienten/klientenbezogene Pflege, Betreuung und Beratung

Patient/Klient als Objekt

Patient/Klient als Subjekt, Nutzer mit individuellen Bedürfnissen Emotion/Empathie als explizite wissenschaftlich fundierte Leistung Pflegende müssen Leistungsanspruch des Patienten in Konkurrenz zum Wirtschaftlichkeitsgebot durchsetzen Explizite Pflegestandards und Qualitätssichemngsverfahren Mobilisierung von Expertenwissen und Innovationspotentialen durch Organisations- und Personalentwicklung Personalentwicklung durch Produktion von Personalbedarfsdaten

Personalmanagement

Emotion/Empathie als „stille" Leistung Umfang und Qualität der dem Patienten zustehenden Leistung unstrittig Implizite Pflegestandards Reaktives „verwaltendes" Personalmanagement Personalentwicklung gem. staatlich vorgegebener Personalschlüssel Durch Hierarchie bleibt Expertenwissen ungenutzt Fehlende Anreize zur Überwindung von Routinearbeit bei Frontline-Mitarbeitem In Knappheitsphasen Personalabbau bei nichtmedizinischen Berufen

Leistungsangebot

Leistungsangebot gilt als von außen vorgegeben Implizite Zielgruppensteuerung durch Medizin (Fachgebiete) Konzeptionsverzicht

Gesundheits—systemgestaltung

Konsensuelle Verteilung von Finanzressourcen und Patientengruppen ohne Beteiligung der Pflegebenife Politischadministrative Gesundheitssystemgestaltung durch Länder, Kommunen und Verbandsleitungen Routinemäßiges Umsetzen von zentral gesteuerten, nicht rationierten Leistungen durch Frontline-Berufe

Hierarchieabbau und Kompetenzerweiterung fur Gesundheits- und Pflegeberufe Anreize zu kreativem, engagierten Mitwirken an „Kundengewinnung" und Bestandssicherung der Organisation

Leistungsangebotsgestaltung (LAG) aus wirtschaftlichen Gründen notwendig Pflege- und Gesundheitsberufe als professionelle Garanten sozialer, bedarfsbezogener Zielgruppensteuerung + LAG Konzeptionsgeleitete LAG gemäß neuer Gesetze (ambulant vor stationär) Bedarfsanalysen und Marktbeobachtung Wettbewerb um Organisationsdomänen, Finanzierungsanteile und Patientengruppen unter Beteiligung der Pflegeberufe

Politische und marktliche Gesundheitssystemgestaltung durch Finanzierungsträger, Einrichtungen und Professionen aus Bestands- und Arbeitsplatzinteressen Frontline-Berufe als Moderatoren und Förderer dezentraler sozialaktiver „Versorgungslandschaften"

Pflegepolitik und Gesundheitswesen

59

Gesundheitsreformgesetze und das Pflegeversicherungsgesetz bieten eine Reihe von „Hebeln", an denen Pflegefachkräfte und andere an der Pflege, Klientenbehandlung und -betreuung beteiligte Berufe die Regelungen umsetzen. Um sie im Sinne der Klienten zu gestalten, reicht Routinehandeln nicht aus. Künftig entscheidet die Fähigkeit der Pflegeprofession zu kompetentem Ausbalancieren von Fachlichkeits- und Qualitätsnormen einerseits und Effizienz- und Wirtschaftlichkeitsanforderungen andererseits über das Überleben von Krankenhäusern, ambulanten Pflegediensten und Altenheimen. Nur wenn es den Fachberufen gelingt, mittels attraktiver, bedürfnisgerechter Pflegeleistungen genügend Nachfrage bei den Pflegebedürftigen zu mobilisieren, können der eigene Arbeitsplatz sowie der Organisationsbestand gesichert werden. Kompetent nutzbare Handlungsspielräume bieten die gesetzlichen Neuregelungen den Pflegenden im unmittelbaren Bereich von Pflege und Behandlung des Klienten. Mehr als bisher bedeutet Pflegen auch Interessenvertretung des Klienten, indem sein Leistungsanspruch häufig erst ausgehandelt und gesichert werden muß. Durch erfolgreiches Qualitätsmanagement legitimiert sich die Pflege gegenüber Klienten und Nutzern sowie gegenüber Finanzierungsträgem und Öffentlichkeit. Eine weitere Handlungsdimension der Pflegeprofession ist das Aushandeln eines angemessenen Personalbudgets sowohl im Rahmen der Vergütungsvereinbarung mit Pflegekassen und Sozialhilfeträgem als auch innerhalb der Einrichtung im Hinblick auf die Verteilung des Budgets auf die einzelnen Berufsgruppen. Nur durch effiziente Personalgewinnung und -qualifizierung kann es gelingen, das wertvolle Klientenwissen der Mitarbeiter fiir die Unternehmensstrategie nutzbar zu machen. Kompetente Gestaltung durch die Pflegeprofession erfordert zusätzlich das angebotene Leistungsspektrum. Während Krankenhäuser und Alteneinrichtungen bisher überwiegend ein von außen vorgegebenes Standardangebot vorhielten, geht es künftig um die Profilierung von Pflegemodellen, Behandlungsmethoden, Spezialleistungen und Zusatzangeboten. Zusätzlich wirken die Pflegenden durch eigene Handlungskonzepte mit an der Ressourcenbeschaffung für die Organisation. Der Ort hierfür sind die Verhandlungen um den Versorgungsvertrag sowie um die Vergütungsvereinbarungen und Pflegesätze. Schließlich beinhalten die neuen Gesetze fiir die Professionals „Hebel" zur Gestaltung des regionalen Gesundheitssystems. Je mehr Träger und Einrichtungen zu unternehmerischen Strategien übergehen müssen, desto mehr bedeutet dies für die Pflege- und Gesundheitsberufe, nicht nur einrichtungsintern qualitativ hochwertige Pflege zu leisten, sondern auch in der Region funktionsfähige Vernetzungen mit anderen vor- und nachversorgenden Einrichtungen für die Klienten und Nutzer sichtbar zu machen. Durch Öffnung der Einrichtungen nach außen, durch Angebote wie Angehörigenarbeit und Beratung von Selbsthilfeinitiativen, können auf regionaler Ebene zwischen Berufsgruppen, Trägern, Verbänden und Kassen Diskurse um eine neue Pflegekultur entstehen.

60

Margarete Landenberger

Auf diese Weise können die Berufe Vorstellungen über Versorgungsnormen und Wirtschaftlichkeitskriterien entwickeln, die in Form von Korrekturvorschlägen und Reformkonzepten in neuerlich anstehende Gesetzesnovellierungen Eingang finden.

IV.

Zusammenfassung: Ansatzpunkte einer pflegepolitischen Strategie

Pflegeorganisationen befinden sich in einem tiefgreifenden Wandel, ausgelöst durch veränderte sozialstrukturelle und gesetzliche Rahmenbedingungen. Um das Rahmenthema der Tagung und des vorliegenden Bandes aufzunehmen, resultieren aus den gesetzlichen Neuregelungen im Bereich von Gesundheitswesen und Pflege nicht nur Umverteilungswirkungen in bezug auf monetäre Sozialtransfers und Sachleistungsansprüche für Versicherte, sondern auch wichtige Veränderungen im Gestaltungs- und Verwantwortungsgeflige zwischen zentralstaatlichen und dezentralen Akteuren. Je stärker sich staatliche Ebenen aus Bedarfsfestsetzung, Normsetzung und Finanzierungsverantwortung zurückziehen, desto stärker wird über Bedarf, Normen, Fachlichkeit und Kosten auf der Umsetzungsebene der Organisationen und Berufsgruppen entschieden. Die empirische Untersuchung beruht auf der Hypothese, daß die Pflegeorganisationen den Wandel um so besser bewältigen können, desto deutlicher sie von punktuellem, situativem zu strategischem und konzeptuellem Handeln übergehen. Für die Pflegedienstleitungen bedeutet dies, daß sie sich des Mikro-Makro-Kontinuums des Pflegehandelns bewußt werden. Aufgabe der Pflegenden insbesondere in Leitungsfunktionen ist nicht allein, die unmittelbare klientenorientierte Pflege zu gestalten, sondern ebenso die Personalentwicklung, das Leistungsprofil sowie die Unternehmensform der Einrichtung neben medizinischen auch nach pflegefachlichen Gesichtspunkten zu formen. Professionelle Pflege benötigt im Wettbewerb überlebensfähige Organisationen. Pflege kann sich nicht länger auf den Binnenbereich des pflegerischen Handelns beschränken. Krankenhäuser und andere Pflegeeinrichtungen sind kein machtfreier Raum, sondern verschiedene Berufs- und Funktionsgruppen vertreten neben allgemeinen gesundheitsorientierten auch gruppenegoistische Eigeninteressen. Will die Pflege nicht zum Verlierer im Wettbewerb um Personalstellen, Produktprofil und Leistungseffizienz werden, muß sie eigene Handlungsstrategien zur Patientenakquisition, Nachfragesicherung und Ressourcenbeschaffung entwickeln. Voraussetzungen für eine pflegerische Dienstleistungsstrategie und ein Sozial-Unternehmenskonzept sind: (1) eine Handlungsorientierung, die vom Bewußtsein getragen sind, daß Krankenhau sstrukturen und

prozesse von Menschen gestaltet und von Menschen auch

wieder verändert werden können. Pflege nimmt auf diese Weise Abschied von der weitverbreiteten Position „Dar-

Pflegepolitik und Gesundheitswesen

61

auf haben wir keinen Einfluß". Sie entfernt sich von einem „non-decision-script" und nähert sich einem „decision-script"; (2) eine Handlungsorientierung, in der Strategiekonzepte zu Klientenzielgruppen und Pflegebedarfen mit wissenschaftlichen Daten unterlegt werden (Zielgruppen-, Bedarfs-, Marktanalyse, Pflegediagnosestatistik u.a.); (3) eine Handlungsorientierung, die sich des Doppelten Mandats der Pflege bewußt ist. Dies besteht aus einem stetigen Ausbalancieren zwischen der Rationalität von Fachlichkeit und Patientenbedürfnissen einerseits und der Rationalität der Wirtschaftlichkeit und Ressourcenknappheit andererseits; (4) eine Handlungsorientierung, die sich verabschiedet von binnenorientierten Insellösungen. Vielmehr kann ein für jede Pflegeorganisation spezifisches Optimum medizinisch-pflegerischer Qualität für Klienten und Wirtschaftlichkeit nur in Kooperation der Pflegenden mit medizinischen und anderen Gesundheitsberufen entwickelt werden.

V.

Literatur

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Margarete Landenberger

62

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Demographie und Sozialepidemiologie Zur These vom demographisch bedingten Anstieg der Gesundheitsausgaben von Gerhard Naegele unter Mitarbeit von Thomas Kauss

I.

Vorbemerkungen

Versteht man unter Epidemiologie die wissenschaftliche Beschäftigung mit Fragen des Krankheitsvorkommens in der Bevölkerung, seiner Verteilung über Zeit, Ort und Personengruppen und den aus der Kenntnis dieser Zusammenhänge zu gewinnenden Hinweisen auf die Determinanten der Entstehung, des Verlaufs und des Ausgangs von Erkrankungen (Bickel, 1994) dann steht im Zentrum dieses Beitrages die Frage, in welcher Weise die demographische Entwicklung auf den Krankenstand der Bevölkerung, auf Verteilungsstrukturen etc. einwirkt. Konkret geht es dabei um die Frage, ob man den Einfluß des demographischen Wandels auf die Ausgabenentwicklung im Gesundheitswesen isoliert betrachten darf bzw. selektiv ausweisen kann oder ob nicht relevante Kontextmerkmale intervenieren bzw. gewissermaßen auf den demographischen Wandel „aufsetzen", wenn nicht gar den demographischen Wandel zur Durchsetzung eigener Interessen, die vielleicht nur ökonomischer Natur sind, instrumentieren. Aus der Perspektive von Gerontologie und Sozialpolitikwissenschaft setzt sich sich der voliegende Beitrag mit der häufig vorfindbaren These auseinander, daß Altern der Gesellschaft führe zwangsläufig zu einer Zunahme der Morbidität in der Gesamtbevölkerung und damit verbunden zu einer Zunahme der Ausgaben für Gesundheitsleistungen proportional zum Altern der Bevölkerung, nicht selten nach der einfachen Formel: mehr alte Menschen = höhere Ausgaben im Gesundheitswesen (Pfeiffer & Walzik, 1997). Daß diese These sich einer hohen Popularität erfreut, dürfte nicht überraschen. Exemplarisch kann in diesem Zusammenhang auf einen Redebeitrag des Vorsitzender Der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Schäuble vom Juli 1997 vor dem deutschen Bundestag verwiesen werden, in dem er wörtlich hervorhebt, daß die „wichtigste Ursache" für die „Ausgabendynamik in der Krankenversicherung ... ist, daß wir eine steigende Lebenserwartung haben" bzw. „daß die meisten Menschen im Durchschnitt länger leben als früher" (BT-Drucksache 13/15920, 1997). Solche Aussagen sind dabei auf dem Hintergrund vorliegender Projektionen zu Ausgabensteigerungen im Bereich des Gesundheitswesens zu ver-

Gerhard Naegele

64

stehen. So rechnet beispielsweise die PROGNOS-AG in ihrem Gutachten von 1995 zur Entwicklung der Beitragssätze in den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung mit einem Anstieg der GKV-Beitragssätze von jetzt etwas über 13% im Durchschnitt auf 16,1% im Jahre 2040 (untere Variante) (Rothkirch, 1997). Was ist nun dran an der These von der demographisch bedingten Ausgabensteigerung im Gesundheitswesen? Sollte eine Ausgabenbegrenzung, was diese Sichtweise nahelegen würde, konsequenterweise an den Ausgaben für die Älteren ansetzen, und wenn ja, in welcher Weise? Sollte auch in der Bundesrepublik Deutschland - wie es im Vereinigten Königreich teilweise schon der Fall ist, Gesundheitsleistungen für die Älteren rationiert, altersdifferenzierte Beitragssätze eingeführt oder gar die Selbstbeteiligung der Älteren erhöht werden? - alles denkbare Strategien. Oder aber gelingt es, wie es die Bundestags-Enquete-Kommission Demographischer Wandel in ihrem 1994 veröffentlichten Zwischenbericht postuliert, durch Präventionsmaßnahmen die Altersmorbidität rechtzeitig einzuschränken (Deutscher Bundestag, 1994), eine Frage, die allerdings nicht im Zentrum dieses Beitrags steht? Der nachstehende Beitrag gliedert sich wie folgt: 1. Es wird begonnen mit einigen kurzen Ausführungen zur demographischen Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der älteren Menschen. 2.

3.

4.

Daran anschließen wird sich ein grober Überblick über die Epidemiologie von somatischen und psychischen Erkrankungen im Alter und darauf bezogene Ausfuhrungen zu den vorliegenden Zukunftsprojektionen. Der Beitrag setzt sich drittens mit der Frage auseinander, ob der prognostizierte Anstieg der Ausgaben für das Gesundheitswesen primär demographisch bedingt ist oder ob nicht andere Faktoren hier intervenieren, eine Frage, deren positive Beantwortung dann auch zu anderen Rezepturen führen würde. Welche dies sein könnten, soll dann am Ende dieses Beitrags stehen.

Die Frage der künftigen Entwicklung der Alterspflegebedürftigkeit und die Spekulation über möglicherweise doch erforderliche Beitragserhöhungen in der Gesetzlichen Pflegeversicherung, die in einem engen Zusammenhang mit der epidemiologischen Betrachtung steht, denn Alterspflegebedürftigkeit ist in den weitaus meisten Fällen Konsequenz chronischer Erkrankungen, wird in diesem Beitrag nur am Rande mitbehandelt (vgl. auch den Beitrag von Rothgang).

II.

Demographische Entwicklung in Deutschland

Die demographische Entwicklung in Deutschland ist bekanntlich durch ein dreifaches Altern der Bevölkerung (Tews, 1993) gekennzeichnet. Damit ist - so auch die Bundestags-Enquete-Kommission Demographischer Wandel - keineswegs ein „demographisches Horrorszenario" an die Wand gemalt, denn es gibt hierzulande

Demographie und Sozialepidemiologie

65

und auch im Ausland weder einen Konsens noch gesicherte Erkenntnisse darüber, was eine „richtige Alterszusammensetzung" der Bevölkerung bzw. was eine „optimale Altersstruktur" der Bevölkerung sei (Deutscher Bundestag, 1994). Auch muß man nicht unbedingt - wie die Vergangenheit vor allem mit Blick auf die Migrationsbewegungen gezeigt hat - von einem „demographischen Determinismus" ausgehen, d.h. von einer Zwangsläufigkeit im Eintreffen demographischer Prognosen, dennoch können einige „Megatrends" als sicher gelten, die ein „dreifaches

Altern"

der Bevölkerung signalisieren: 1.

Die absolute Zahl der älteren Menschen wird weiter zunehmen.

2.

Ihr relativer Anteil an der Gesamtbevölkerung wird weiter steigen.

3.

Die Zahl der über 80jährigen wird nach einer kurzen demographischen Ver-

4.

Zurückzuführen ist diese Entwicklung auf den Doppeleffekt zweier weiterer

schnaufpause ab 2000 wieder ansteigen. Megatrends, d.h. solcher Trends, die als grundsätzlich unumkehrbar gelten:

1. Die weiter sinkende

Geburtenrate

Hier ist davon auszugehen, daß auf dem Hintergrund sich weiter abschwächender Nettomigration, des weiteren Rückgangs der Heiratsneigung, des weiter hinausgeschobenen Zeitpunktes von Familiengründungen und der weiteren Zunahme der Zahl zeitlebens kinderlos bleibender Frauen die ohnehin schon niedrige Geburtenrate noch weiter sinken wird. Hierbei ist jedoch Ost-West-Differenzierungsbedarf angebracht. Ausgehend von der aktuellen, weit unter der Reproduktionsrate liegenden Geburtenrate für Deutschland von rd. 1,3 Kinder j e Frau, wobei zwischen den alten Bundesländern mit einer Quote von 1,4 und den neuen Bundesländern mit einer Quote von 0,8 zu differenzieren ist (Birg, 1995), betonen die vorliegenden Prognosen übereinstimmend, daß in den alten Bundesländern die Geburtenrate mittel- bis längerfristig sogar unter dieses Niveau sinken wird. In den neuen Bundesländern wird sich zunächst noch das zuletzt verzeichnete Sinken der Geburtenziffern fortsetzen, in den nächsten 10-15 Jahren wird jedoch eine Angleichung an die - wie gesagt - allerdings sinkende Geburtenhäufigkeit der alten Bundesländer erwartet (Pfeiffer & Walzik, 1997).

2. Der weitere Anstieg in der sog. ferneren

Lebenserwartung

In diesem, ebenfalls als unumstößlichen geltenden Megatrend liegen nach Expertenauffassung die größten demographischen Risiken für die Ausgabenentwicklung im Gesundheitswesen. Wie Abb. 1 zeigt, sind in der Vergangenheit sowohl die mittlere wie die für unsere Fragestellung relevante fernere Lebenserwartung stark gestiegen. Von einem weiteren Anstieg für beide ist auszugehen, wobei aber auch künftig soziale Differenzierungen nach Schicht, Familienstand und social support

66

Gerhard Naegele

von Einfluß bleiben werden. Bezogen auf die hier vor allem relevante Entwicklung bei der ferneren Lebenserwartung ist in den vorliegenden demographischen Prognosen keine Einheitlichkeit hinsichtlich der tatsächlichen Anstiegshöhe zu erkennen. Überwiegend wird mit einer tendenziellen Abschwächung der Zuwachsraten gerechnet, übereinstimmend desweiteren mit einer allmählichen Angleichung der noch bestehenden Ost-West-Unterschiede in mittlerer Sicht (Knappe & Rachold, 1997; Pfeiffer & Walzik, 1997; SVRKAIG, 1996). Insgesamt ergibt sich daraus die Annahme einer weiteren Zuwachsrate in der Lebenserwartung selbst noch in sehr hohem Alter, allerdings wohl -verglichen mit der Vergangenheit - mit niedrigeren Steigerungsraten. Zurückgeführt wird diese Entwicklung insgesamt auf Kohorteneffekte - die nachrückenden Kohorten kommen tendenziell gesünder ins Alter und verfügen überdies - nicht zuletzt wegen des insgesamt höheren Bildungsniveaus über ein gesundheitsbewußteres Verhalten, auf Einflüsse des medizinisches Fortschritts sowie auf Verbesserungen in den Lebensverhältnissen der älteren Menschen insgesamt (Silverstone, 1996; SVRKAIG, 1996). 3. Weitere

Zuwanderungsüberschüsse

Auch hinsichtlich des dritten zentralen Einflußfaktors auf die demographische Entwicklung, der Migration, bestehen im groben übereinstimmende, im Detail aber abweichende Prognosen. Letzteres ist vor allem damit zu erklären, daß Veränderungen in den rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in den Herkunftsländern kaum prognostizierbar sind und daß z.B. selbst jetzt noch Unklarheit lediglich über die EU-Erweiterung besteht. Ohne daher auf Details eingehen zu wollen, sind für unsere Fragestellung drei Aspekte bedeutsam: Die Nettozuwanderungsgewinne werden auch auf mittlere Sicht hin überwiegen. Auch wenn es sich dabei überwiegend um jüngere Zuwanderer handelt, wird die Altersstruktur der Gesamtbevölkerung davon nicht wesentlich beeinflußt, d.h. das Altern der Bevölkerung wird allenfalls abgeschwächt, nicht aber gestoppt. Dafür jedoch ist ein neuer Aspekt bedeutsam. Die Vergangenheit zeigt und Umfragen bestätigen dies, daß immer mehr Ausländer in der Bundesrepublik altwerden (BMA, 1995), d.h. hier auch ihr Alter verbringen werden. Die Gründe dafür sind so überzeugend, daß man auch hierin einen weiteren Megatrend sehen könnte. Unter epidemiologischen Aspekten ist jedoch bedeutsam, daß nach vorliegenden Forschungsergebnissen ältere Ausländer aufgrund durchschnittlich schlechterer Arbeits- und Lebensbedingungen im Lebenslauf über einen - verglichen mit der deutschen Altenbevölkerung - deutlich schlechteren Gesundheitszustand verfügen (BMA, 1995). Wenn durch diese Entwicklung auch keine wirklichen Ausgabenschübe zu erwarten sind, so gilt es doch, unter epidemiologischen Gesichtspunkten und unter solchen des Versorgungsbedarfs auf diese spezifischen Gesundheitsrisiken hinzuweisen. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich somit das bereits erwähnte

Demographie und Sozialepidemiologie

67

„dreifache Altern der Bevölkerung", das sich den folgenden Daten und graphischen Darstellungen illustrieren läßt: Abb. 2 zeigt dabei die relative Zunahme des Anteils älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung insgesamt, wobei bereits hier auf die überdurchschnittlich hohe Zuwachsrate bei den über 80jährigen hinzuweisen ist. Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bei ab 1991 konstanter Geburten- und Sterberate ohne Zuwanderung: 90 80 1 70 1

60 |

I

50 _

a

40 __ 30

| Wohnbevölkerung in Mio

-

65jährige und älter in Mio

20

0 |

, 1991

, 1995

1+J 2000

2010

M 2020

2030

Quelle: Knappe, 1995 Abb. 3 greift noch einmal explizit die Entwicklung bei den sog. Hochaltrigen auf. Für das hier behandelte Thema ist diese Entwicklung deshalb so bedeutsam, da die Morbidität speziell in dieser Altersgruppe besonders hoch ist.

III.

Zur Entwicklung der Epidemiologie im Alter

Die epidemiologische Entwicklung der somatischen und psychischen Erkrankungen im Alter zeigt zunächst, daß Alter nicht zwangsläufig mit Krankheit verbunden sein muß, daß es aber dennoch eindeutige Zusammenhänge gibt. Diese lassen sich - auf einen kurzen Nenner gebracht - wie folgt stichwortartig zusammenfassen: 1. Überblick über wichtige

Befunde

Mit dem fortschreitenden Lebensalter verschlechtert sich der subjektive Gesundheitszustand älterer Menschen, d.h. die subjektive gesundheitliche Selbsteinschätzung der Betroffenen (BMFuS, 1993). Sie ist in der Gruppe der sehr alten Menschen besonders ungünstig. Für die hier behandelte Fragestellung ist dies deshalb so

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zentral, weil zum einen mit dem subjektiven Gesundheitszustand ein relevanter Z u gangspfad hinein in die Systeme der medizinischen Versorgung benannt ist, die in aller Regel Leistungen nach sich ziehen, zunächst im Regelfall ambulante ärztlichc Versorgung und zunehmend die Verabreichung von Medikamenten, und damit Ausgaben auslösen; und zum anderen, weil die Zahl der sehr alten Menschen, die ihrerseits über eine besonders ungünstige subjektiven gesundheitlichen Selbsteinschätzung v e r f ü g e n , stark zunehmen wird. Hinzu k o m m t noch als besondere alterstypischer Risikofaktor, daß speziell bei den älteren Patienten mit einer Z u n a h m e der P o l y p r a g m a s i e zu rechnen, das heißt, ältere Patienten probieren überdurchschnittlich o f t gleichzeitig mehrere Behandlungsmethoden bzw. Arzneimittel aus, mit häufig k a u m noch kontrollierbaren Nebeneffekten für die gesundheitliche Entw i c k l u n g insgesamt (Pfeiffer & Walzik, 1997). Parallel zum subjektiven verschlechtert sich auch der objektive Gesundheitszustand. Damit ist die Einschätzung eines kompetenten Experten, z.B. eines Arztes, nach anerkannten Richtlinien gemeint. Die Übersicht in Abb. 4 verdeutlicht Ihnen dabei die alterstypische Morbiditätsstruktur, basierend auf dem objektiven Gesundheitszustand, der sich j e d o c h weitgehend mit d e m subjektiven deckt, wie Untersuchungen gezeigt haben. Erkrankungen

im Alter

B 60 bis 69 Jahre g 70 Jahre und älter

Quelle: BMFuS, 1993, S. 39

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Herz-Kreislauf-Erkrankungen und rheumatische Beschwerden sind die häufigsten Erkrankungen im höheren Alter, gefolgt von Schäden am Bewegungsapparat sowie Stoffwechselerkrankungen. Es folgen Erkrankungen der Verdauungsorgane und der Atemwege. Wie aus der Grafik ebenfalls ersichtlich, konzentrieren sich chronische Krankheiten auf die Altersgruppe der über 70jährigen (BMFuS, 1993). Mit zunehmendem Alter wächst die Wahrscheinlichkeit des Auftretens chronischer Krankheit (Silverstone, 1996), d.h. der Chronifizierung von Akuterkrankungen. Chronische Krankheiten sind nicht mehr zu heilen, allenfalls ist ihre weitere Verschlimmerung zu verhindern. Untersuchungen zeigen, daß die hier beschriebene Morbiditätsentwicklung allerdings nach oben zeitlich begrenzt zu sein scheint und sich vor allem in der Altersspanne zwischen 65 und 75 Jahren ausbildet. Danach erfolgt selbst bei zunehmendem Alter keine signifikante Zunahme chronischer Krankheiten mehr (Kauss et al., 1998). Die Bedeutung chronischer Krankheiten sowohl für die Lebensqualität der Betroffenen wie für die Ausgaben für das Gesundheitswesens ist dabei kaum zu unterschätzen, wenn auf sie nicht nur 90% der Todesfälle, sondern sogar zu einem noch größeren Teil auch schwere Behinderungen und Pflegebedürftigkeit zurückgeführt werden können. Mit dem Alter steigen Multimorbidität und die Dauer der Krankheitsperiode an (Pfeiffer & Walzik, 1997, Glaeske, 1997). Multimorbidität heißt das gleichzeitige, jedoch voneinander unabhängige Auftreten verschiedener Krankheiten, wobei hier zwischen drei Krankheitsgruppen unterschieden wird (BMFuS, o. J.): 1. Alternde Krankheiten, die mit uns alt werden und sich in späteren Altersphasen als chronisch darstellen, wie etwa unspezifische Atemwegserkrankungen; 2. primäre Alterskrankheiten, also solche, die im Alter erstmalig auftreten und Häufigkeitsverteilung eng an höheres Lebensalter geknüpft ist, wie z.B. die 3. Arteriosklerose; und schließlich 4. Krankheiten im Alter, d.h. solche, die in allen Altersgruppen auftreten können aber im Alter einen besonderen Verlauf annehmen können. Untersuchungen zeigen, daß man bei den 70-90jährigen etwa von fünf bis neun nebeneinander existierenden Diagnosen ausgehen kann (Deutscher Bundestag, 1994). Daß die medizinische Behandlung von Multimorbidität mit besonderen Anforderungen aber auch neuen Risiken, auch finanzieller Art - so z.B. im Kontext der Wirkung unterschiedlicher Präparate für verschiedene Krankheitsbilder - verbunden ist, dürfte offensichtlich sein. Erwähnt wurde bereits die besondere Altersgebundenheit von Pflegebedürftigkeit, was sich auch an der Verteilung der Leistungen nach SGB XI auf die einzelnen Altersklassen dokumentieren läßt (vgl. auch den Beitrag von Rothgang). Abb. 5 zeigt, daß in der Heimpflege rd. 90% aller Leistungsempfänger nach SGB XI über 65 sind, und in der ambulanten Pflege sind es immerhin rd. 75%. Alterspflegebedürftigkeit betrifft dabei weit überwiegend die obersten Altersgruppen.

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Z.B. sind von den zu Hause betreuten Pflegebedürftigen - den INFRATEST-Befunden zufolge - rd. 50% 80 Jahre und älter, von den in Heimen lebenden sogar rd. 2/3. Leistungsempfänger der Pflegeversicherung Altersgruppe

ambulant Versorgte

stationär Versorgte

insgesamt

insgesamt

bis unter 15

61.112

1.127 530

15 bis unter 20

17.218

20 bis unter 25

14.431

767

25 bis unter 30

17.613

1.286

30 bis unter 35

19.899

1.849

35 bis unter 40

18.822

2.057

40 bis unter 45

16.960

2.442

45 bis unter 50

17.618

3.028

50 bis unter 55

20.420

3.983

55 bis unter 60

39.606

8.563 11.101

60 bis unter 65

52.749

65 bis unter 70

76.080

15.375

70 bis unter 75

109.237

26.887

75 bis unter 80

133.354

41.790

80 bis unter 85

203.443

80.660

85 bis unter 90

220.154

105.459

90 und älter Insgesamt

123.468

77.658

1.162.184

384.562

Quelle: Bundesarbeitsblatt 6/97, S. 142 f.; Stand: 31. Dezember 1996 Die häufigsten Anlässe bzw. Erkrankungen, die zur Pflegebedürftigkeit fuhren, sind neben Frakturen (häufig nach Unfällen) und Amputationen insbesondere Himgefäßerkrankungen (Schlaganfallerkrankungen), andere chronische Erkrankungen der inneren Organe, der Bewegungsorgane und des Bewegungsapparates, schwere rheumatische Erkrankungen, psychische Erkrankungen, darunter insbesondere Hirnleistungsstörungen (Demenzen) sowie Beeinträchtigungen der Sinnesorgane, d.h. von Hören und Sehen. In dieser Aufzählung bereits mit angesprochen ist ein letzter zentraler und vorliegenden Prognosen zunehmend bedeutsamer Aspekt der epidemiologischen Analyse des Alters: die altersgebundene Zunahme psychischer Erkrankungen. Es liegen Zahlen vor, nach denen derzeit in Deutschland zwischen 600.000 und 850.000 Demenzkranke leben (Domdey, 1996), wobei jedoch zu vermuten ist, daß längst nicht

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alles, was als Demenzen diagnostiert wird, auch solche sind. Nach Schätzungen der Bundestags-Enquete-Kommission Demographischer Wandel ist für das Jahr 2010 von einer Prävalenzrate von zwischen 1,15 bis 1,55 Mio. auszugehen, es gibt aber sogar noch höhere Prognosen. Demenzen konzentrieren sich - und dies ist angesichts der eingangs erwähnten demographischen Entwicklung in besonderer Weise alarmierend - auf die Gruppe der sehr alten Menschen (vgl. Abb. 6). Von den über 80jährigen gilt bereits jeder 5. als demenzkrank, von den über 90jährigen sogar jeder Dritte. Die Berliner Altersstudie (BASE) kommt sogar zu noch alarmierenden Befunden: Danach leiden 2-3% der 70jährigen, 10-15% der 80jährigen und fast 50% der 90jährigen an dementiellen Erkrankungen (Baltes et al„ 1996). 2.

Wie entwickelt sich künftig die Morbidität

im Alter?

Die künftige Entwicklung der Morbidität im Alter wird konträr diskutiert. Hierzu wurde in der deutschen Gerontologie lange Zeit die sog. „Kompressionsthese" favorisiert (vgl. Seidler, Busse & Schwartz, 1996; SVRKAIG, 1996), die eine optimistische Sicht nahelegt. Für sie gibt es jedoch keine hinreichend abgesicherten Belege. Folgt man diesem als „Denkmodell" (Baltes, 1996: 54) entwickelten Szenario, dann könnten Auftrittswahrscheinlichkeit und zeitlicher Verlauf von Krankheiten im Alter durch den medizinischen Fortschritt, d.h. durch mehr und bessere lebensrettende und -erhaltende Behandlungsmöglichkeiten, künftig immer mehr verringert oder zumindest so verlangsamt werden, daß sich die virulente Manifestation dieser Krankheiten und damit übrigens auch von Pflegebedürftigkeit auf immer kürzere Zeiträume verschieben ließe („compression of morbidity"), d.h. es würde eine Komprimierung von Krankheit und Behinderung in immer kürzere Zeitabschnitte unmittelbar vor dem Lebensende stattfinden (Baltes, 1996). Im Extrem könnte die Manifestation von chronischen Krankheiten und in ihrer Folge von Pflegebedürftigkeit nach dieser These sogar ,jenseits" des biologischen Maximalalters, das derzeit bei maximal 100 Jahren liegt (Schmidt et al., 1996), hinausgeschoben werden und würde damit womöglich gar nicht mehr in der Lebenszeit liegen. „Das Resultat wäre ein Tod, für die meisten in der neunten Lebensdekade, ohne daß man längere Zeit krank wäre. Das manifeste Krankheitsbild wäre auf wenige Jahre vor dem Tod verdichtet oder komprimiert, wie dies Fries in seiner Theorie der 'Compression of morbidity' bezeichnete. Wie eine nach außen noch recht ordentlich aussehende Uhr, würden wir plötzlich stehenbleiben, relativ gesund sterben." (Baltes, 1996: 55). Ergänzt wird diese durchaus zum Optimismus Anlaß gebende Sicht durch die Annahmen der sog. Kohortenthese, auf die im Zusammenhang mit der steigenden ferneren Lebenserwartung bereits hingewiesen wurde. Demnach verfügen die jeweils nachrückenden Kohorten älterer Menschen stets über einen verbesserten sub-

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jektiven wie objektiven Gesundheitszustand. Demgegenüber betonen andere Forschungsergebnisse, daß die weiter steigende fernere Lebenserwartung die mit der Kompression und den Kohorteneffekten möglicherweise verbundenen positiven Effekte kompensieren könnte (Schmidt et al., 1996). Denn diese ist - so diese B e funde US-amerikanischer Forschung - nach dem derzeitigen Wissensstand zu einem beträchtlichen Teil mit Krankheit, Autonomieverlust und Pflegebedürftigkeit verbunden, d.h. die Verlängerung der Lebenserwartung würde demnach nicht mit einer Minderung der Morbidität, sondern vielmehr mit einer Konstanz, wenn nicht gar einer Verlängerung der Krankheitsdauer einhergehen. In diesem Zusammenhang soll Paul Baltes von der B A S E - S t u d i e sinngemäß zitiert werden, der sich auf US-amerikanische Befunde beruft: „Danach ist das, was die Zunahme der ferneren Lebenserwartung hinzugewonnen wird an Lebenszeit, etwa zu zwei Drittel „gute" Zeit, zu etwa einem Drittel aber eher eine Art „schlechte" Zeit, zumindest vor dem Hintergrund des zu erwartenden Krankheitsbildes und dem damit verknüpften Ausmaß an körperlicher Autonomie und seelischer Funktionstüchtigkeit. J e größer die Lebenserwartung, um so kränklicher die dann lebende ältere B e völkerung, kränklicher, weil sie eben länger lebt" (Baltes 1996: 52). Ähnlich argumentiert auch die Bundestags-Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" in ihrem 1994 vorgelegten Zwischenbericht: „Dem aktuellsten Entwicklungsstand entspricht nach wie vor das Konzept der Bi-Modalität von Kane, das folgende Entwicklungen prognostiziert: Auf der einen Seite verbessert sich langfristig der Gesundheitszustand der Bevölkerung insgesamt und damit auch der älteren Menschen. Die nachwachsenden Alterskohorten werden subjektiv wie objektiv „gesünder" als ihre Vorgänger sein. Gleichzeitig gibt es j e doch keine Anzeichen dafür, daß sich zukünftig auch das Ausmaß der Handlungsund Leistungsbeeinträchtigung vor dem - hinausgeschobenen - Lebensende verringern wird. Dies gilt sowohl für die Anteile der davon Betroffenen wie für die Dauer der Beeinträchtigung und hängt wesentlich mit der noch steigenden ferneren Lebenserwartung im höheren Alter zusammen" (S. 520f.). Folgt man dieser letzten Sichtweise, dann gilt als wahrscheinlich, daß in Zukunft die Phasen starker gesundheitlicher Einschränkungen, sowie von H i l f e - und Pflegeabhängigkeit zumindest gleichbleiben, wenn nicht gar länger werden. Ein längeres Leben bedeutet somit keineswegs auch immer ein Leben in Gesundheit. Dies muß allerdings nicht zwangsläufig auch seine Entsprechung in einem gleichgerichteten subjektiven Erleben finden: So wird vor allem von der psychologischen Altemsforschung darauf aufmerksam gemacht, daß die Menschen meist in der Lage sind, sich auf objektiv negative Lebensumstände gut einzustellen. Ob dies allerdings auch auf dauerhaft schwere körperliche Einschränkungen und chronische Krankheiten, und vor allem für solche, die mit dauerhaften Schmerz verbunden sind, gilt, ist eine eher offene Frage.

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Allerdings gibt es auch noch pessimistischere Prognosen. So wird z.B. auch argumentiert, daß die weitere Zunahme der Lebenserwartung womöglich zu einer noch stärkeren Zunahme der sog. primären Alterserkrankungen fuhren könnte (Glaeske et al., 1997; Knappe, 1995; Schramm, 1997; Vogel, 1997). Als Belege werden in diesem Zusammenhang vielfach die Demenzerkrankungen, die sehr eng an sehr hohes Alter gebunden sind, sowie Erkrankungen des Skeletts aufgrund vorangeschrittener Arteriosklerose, z.B. im Zusammenhang mit Frakturen („Oberschenkelhalsbruch") und dgl. erwähnt. Für die im folgenden aufzugreifende Fragestellung wird von Bedeutung sein, welche dieser Projektionen sich für die künftige Entwicklung der Altersmorbidität in Deutschland als tragfähig erweisen wird, denn es ist evident, daß je nach Annahme - Morbiditätsabnahme wegen Kompression, Bi-Modalität oder gar Zunahme primärer Alterserkrankungen wegen Ausweitung der Lebenserwartung - höchst unterschiedliche Annahmen zur Entwicklung der Ausgaben im Gesundheitswesen gemacht werden können. Faßt man den derzeitigen Wissenstand zusammen, dann gilt folgendes (Schmidt et al., 1996): Die Annahme einer „fixen" biologischen maximalen Lebensspanne, wie in der „Kompressionsthese" angenommen, läßt sich empirisch nicht bestätigen. Die Datenlage zur Frage, ob im Zuge der Auswertung der sog. ferneren Lebenserwartung die behinderungs- bzw. krankheitsfreie Zeit zu- oder abgenommen hat, läßt derzeit eine eindeutige Aussage nicht zu. Daraus folgt: Es ist nicht gerechtfertigt, die Kompressionsthese zum alleinigen Ausgangspunkt für Projektionen zum künftigen Gesundheitszustand der Bevölkerung und zur Entwicklung der Ausgaben im Gesundheitswesen zu machen (so auch Schulz-Nieswandt, 1996).

IV.

Zur demographisch determinierten Ausgabenentwicklung im Gesundheitswesen

Es kann als gesichert gelten, daß ältere Menschen im Durchschnitt höhere Ausgaben für gesundheitsbezogene Leistungen verursachen als jüngere. Auf diesem Hintergrund kann weiterhin als gesichert gelten, daß die demographische Entwicklung zum Anstieg der Gesundheitsausgaben beiträgt. Vor allem in den letzten 20 Jahren haben die Ausgaben für einen älteren Menschen in Relation zu einem jüngeren Menschen stärker zugenommen, ein Phänomen, das häufig als „Versteuerung" des Altersprofils der Gesundheitsausgaben bezeichnet wird. Als ganz herausragender Faktor für diese Versteilerung kann dabei der Krankenhaussektor identifiziert werden (Glaeske et al., 1997). Ganz generell ist die Ausgabenentwicklung im Gesundheitswesen von einer erheblichen Diskrepanz zwischen dem Anteil der in der Krankenversicherung der

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Rentner versicherten Personen am Beitragsvolumen einerseits und den Ausgaben in verschiedenen Leistungsbereichen andererseits gekennzeichnet. Dies gilt für die GKV wie für die PKV gleichermaßen; letztere bleibt hier aber außer betracht, obwohl es hier strukturell vergleichbare Trends gibt. Bei solchen Gegenüberstellungen ist jedoch zu beachten, daß Rentner zwar Beitragszahler in der GKV (wie auch in der GPV) sind, daß aber der Beitragssatz von einer geringeren Bemessungsgrundlage erhoben wird, was somit zu einem geringeren Beitragsaufkommen als bei Erwerbstätigen fuhrt. In dem Maße übrigens - dies sei nur am Rande erwähnt - in dem durch rentenpolitische Maßnahmen das Rentenniveau abgesenkt wird oder - wie vorgesehen - weiter abgesenkt werden soll, wird dann natürlich auch die Einnahme-Ausgabe-Relation für die Rentner noch ungünstiger und umgekehrt. Darüber, ob es Unterschiede in der Ausgabenstruktur zwischen Erwerbstätigen und Rentnern gibt, informiert Abb. 7. Sie zeigt zum einen, daß die Rentner pro Kopf in allen Ausgabenbereichen absolut gesehen mehr ausgeben, und daß darüber hinaus auch Abweichungen in der Reihenfolge der Ausgabenblöcke bestehen. So folgen die Pro-Kopf-Ausgaben für Arzneimittel bei den Rentnern an zweiter Stelle, während diese bei den Erwerbstätigen erst an dritter Stelle rangieren. Die Altersabhängigkeit des Arzneimittelverbrauchs läßt sich auch an folgenden Zahlen verdeutlichen: 1996 verbrauchten die GKV-Versicherten im Alter von 60 Jahren und mehr rd. 54% des Gesamtumsatzes an GKV-Fertigarzneimitteln, obwohl sie nur ca. 22% der Gesamtversicherten stellen (Klauber et al., 1996). Von Interesse ist weiterhin, daß die Pro-Kopf-Ausgaben für Rentner für Krankenhausaufenthalte etwa 3 mal so hoch sind wie für die vergleichbaren Ausgaben bei den Erwerbstätigen. Allerdings ist zu beachten, daß bei den obersten Altersgruppen ein Rückgang in den Krankenhauskosten aufgrund sinkender Aufenthaltsdauer zu beobachten ist. Dennoch ändert sich dadurch nichts am Trend (s.u. Pkt 5.1). Bei den ärztlichen Behandlungen machen dagegen die Pro-Kopf-Ausgaben der Rentner nur knapp das 2-fache der Ausgaben für Erwerbstätige aus. Diese Zahlen verweisen zwar eindrücklich auf den Krankenhaussektor und auf den Arzneimittelkonsum als ganz zentrale Einflußgrößen auf die alterstypischen Ausgabenstrukturen in der GKV; bei der eingangs erwähnten „Versteilerung" des Altersprofils der Gesundheitsausgaben in den letzten 20 Jahren ist jedoch kein Einfluß der Arzneimittelausgaben (hier sogar im Gegenteil!) erkennbar. Dies gilt ebenfalls für die Entwicklung der Honorare der niedergelassenen Ärzte. Diese Entwicklung dürfte jedoch wesentlich auf die Wirkungen einzelner Bestimmungen des Gesundheitsstruktur-Gesetzes zurückzuführen sein, so insbesondere der Budgetierung der Arzneimittelausgaben einschließlich Regreßandrohungen an niedergelassene Ärzte einerseits sowie gestiegener Zuzahlungen für Patienten andererseits (Glaeske et al., 1997). Zeitraumbetrachtungen zeigen, daß in der GKV auch die Dynamik der Gesamtausgaben wesentlich von den Rentnern bestimmt ist. So hatten im Zeitraum 1975

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bis 1985 die Pro-Kopf-Ausgaben in der Altersgruppe der 0 bis 64jährigen nur einen Anstieg von 4,1% zu verzeichnen, in der Altersgruppe der 65jährigen und älteren gab es hingegen ein Anstieg von 43,7% (Glaeske et al., 1997). Eine andere Gegenüberstellung des Sachverständigenrates für die Konzentrierte Aktion im Gesundheitswesen von 1996 (SVRKAIG; 1996) bezieht sich auf den Zeitraum von 1970 bis 1995 und nennt DM-Beträge. Danach haben sich die ProKopf-Ausgaben für die Mitglieder der Allgemeinen Krankenversicherung im Vergleich zur Krankenversicherung für Rentner wie folgt entwickelt: Die Pro-KopfAusgaben für Erwerbstätige stiegen von 763,- DM im Jahre 1970 auf 3.833,- DM im Jahre 1995. Die Pro-Kopf-Ausgaben für Rentner stiegen im gleichen Zeitraum jedoch von 821,- DM auf 6.772,- DM.

V. Zukunftsprognosen zur demographisch determinierten Ausgabenentwicklung und zu möglichen Hintergründen Wie eingangs erwähnt steht derzeit im Zentrum der Diskussion um die Hintergründe für die dargestellte Entwicklung die Frage, ob die Ausgabendynamik in der GKV primär demographiebedingt ist oder ob hier andere Einflußgrößen intervenieren. Mit anderen Worten: Ist es primär oder gar ausschließlich das „dreifache Altern" der Gesellschaft, oder sind es andere Einflußfaktoren, die hier intervenieren bzw. auf die demographische Entwicklung „aufsetzen", wie z.B. zu lange Aufenthaltsdauer für ältere Menschen in den Krankenhäusern, alterstypische Behandlungs- und Verschreibepraktiken der niedergelassenen Ärzte. Oder - was ebenfalls naheliegt zu fragen - sind es die Ausgaben für den raschen medizinisch-technischen Fortschritt, die nun vermittelt über eine veränderte Altersstruktur der Leistungsempfänger die Ausgabendynamik bestimmen? D.h. es ist jeweils zu fragen, durch welche Faktoren die Einflußnahme des demographischen Wandels real resultiert und in welchem Umfang jeweils welche Faktoren eine Veränderung herbeifuhren. Diese Frage ist insbesondere mit Blick auf die bereits eingangs hingewiesenen ungünstigen Prognosen bezüglich der GKV-Beitragssätze zu stellen. Dabei sollte zunächst einmal explizit darauf hingewiesen werden, daß die demographische Entwicklung für das Gesundheitswesen, und in einer weitergefaßten Perspektive, daß insgesamt Ausgaben für das Gesundheitswesen nichts grundsätzlich Negatives sein müssen, sondern durchaus auch Motor für Wachstums- und Arbeitsplatzentwicklung sind, wie es z.B. der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in seinem Sondergutachten von 1996 in bemerkenswerter Weise hervorhebt (SVRKAIG, 1996). Auch muß die Diskrepanz auffallen, die sich dann ergibt, wenn man lediglich die Betrachterperspektive wechselt. So gilt z.B. in den USA der weitgehend privatwirtschaftlich organisierte Gesundheitssektor als ausgesprochene Wachstumsbranche

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und ist infolgedessen in der ökonomischen Bewertung durch die Öffentlichkeit eher positiv besetzt. Hierzulande gilt jedoch - bei sogar noch geringeren Anteilen und Steigerungsraten der Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt (hier 9% gegenüber etwa 12% in den USA) - der weitgehend öffentlich finanzierte Gesundheitssektor primär als „Kostenfaktor", was zwangsläufig eher negative Auswirkungen auf seine Reputation haben muß. Daß letztere Sichtweise auch noch im nahezu diametralen Gegensatz dazu steht, daß in der Bundesrepublik die Gesundheit in der Werteskala der Bevölkerung ganz oben regiert und z.B. die Gesundheit einer Bevölkerung eine der zentralen volkswirtschaftlichen Produktivkräfte bildet, sollte ebenfalls nachdenklich stimmen. Auch auf diesem Hintergrund steht der Titel des bereits erwähnten Sondergutachtens des Sachverständigenrates für einen bemerkenswerten Perspektivenwechsel (SVRKAIG, 1996; sehr viel pointierter auch Kühn, 1997). Im Zusammenhang mit dem Einfluß der demographischen Entwicklung auf die Ausgabendynamik im Gesundheitswesen und mit Blick auf die künftige Entwicklung lassen sich zwei unterschiedliche Positionen unterscheiden: Die Ausgabenprofile bleiben trotz demographischer Entwicklung konstant. Diese These begründet sich vor allem in der Hoffnung, daß aufgrund der vermuteten Komprimierung der letzten Lebensphase vor dem Tod die besonders ausgabenintensiven Ausgaben in der Sterbephase rückläufig sein würden. Die zweite Position erwartet auch für die Zukunft eine weitere Steigerung der Ausgaben, die unmittel- wie mittelbar mit demographischen Entwicklungen zusammenhängt. Offen ist dabei jedoch jeweils, ob die demographische Entwicklung als solche und isoliert ursächlich dafür ist oder ob nicht jeweils andere Kontextmerkmale mit in die Betrachtung einbezogen werden müssen, wie z.B. der medizinisch-technische Fortschritt oder bestehende ökonomische Anreizstrukturen im Anbietersystem, z.B. im Kontext von bestimmten Ärzteeinkommen oder im Pharmamarkt. 1. Konstanz der

Ausgabenprofile

Die unter Pkt. 5.2 folgenden Ausführungen können als Belege für unmittel- wie mittelbar durch den demographischen Wandel bedingte Ausgabensteigerung im Gesundheitssystem gelten. Dem steht eine Position gegenüber, die trotz demographischer Veränderungen auch künftig von einer Konstanz in den Ausgabenprofilen ausgeht. Sie fußt wesentlich auf den Annahmen der sog. „Kompressionsthese" (s.o. Pkt. 3.2). Nach dieser Position sind die höheren Ausgaben für ältere Menschen insbesondere durch die vor dem Tod besonders hohen Ausgaben bestimmt, weil speziell in den letzten Lebensphasen die besonders ausgabenintensiven Maßnahmen zur Lebenserhaltung erforderlich sind. Folglich sei der (demographisch bedingte) Anstieg der Personen, die kurz vor ihrem Tode stehen, für den Kostenanstieg im Alter verantwortlich (vgl. Seidler, Busse & Schwartz, 1996; SVRKAIG, 1996). Diese

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Vermutung wird erhärtet durch Daten aus der Schweiz und der Bundesrepublik, wonach bereits jetzt die Ausgaben für das Gesundheitswesen mit steigendem Alter der Versterbenden sinken würden (SVRKAIG, 1996; Pfeiffer & Walzik, 1997). Als Beleg dafür werden insbesondere die sinkenden Krankenhausaufenthaltsdauem bei sehr alten Menschen angeführt (vgl. Anlage 9). Auf diesen Punkt weist insbesondere der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in seinem Sondergutachten von 1996 hin, wenn er der Auffassung widerspricht, das die Kosten für die gesundheitliche Versorgung mit dem Alter kontinuierlich ansteigen würden: „Vielmehr sinken die Kosten für die Versterbenden in ihrem letzten Lebensjahr mit zunehmendem Alter deutlich, da - zumindest für die stationäre Versorgung sowohl der Kumulationseffekt medizinischer Leistungen als auch die Dauer der Leistungen abnehmen. Vorzeitige Mortalität erspart daher keineswegs Kosten." (SVRKAIG, 1996: 176). Das heißt, je jünger ein Patient stirbt, umso größer wären demnach die Kosten der Behandlung in den letzten Lebensjahren und umgekehrt. Oder anders herum gewendet: Je später die Sterbephase beginnt, desto mehr würden die Ausgaben für das Gesundheitswesen sinken. Dies könnte dann die These nahelegen, daß durch die weiter steigende fernere Lebenserwartung die Ausgaben für Gesundheitsleistungen zurückgehen, da immer mehr Menschen in einem immer höheren Alter und damit mit geringeren Kosten sterben würden. Demnach müßte der demographische Effekt die Ausgaben insgesamt konstant halten, wenn nicht sogar senken (Knappe, 1995; Pfeiffer & Walzik, 1997). An dieser These ist jedoch - wie bereits angedeutet fraglich, ob nicht die Verlängerung der sog. ferneren Lebenserwartung die Gesamtzeit der letzten krankheitsintensiven Lebensphasen ausweitet und somit gar keine ausgabenkompensierenden Effekte auftreten, d.h. es sind die Kosten gegenzurechnen, die in der Phase bis zur Erreichung des sehr hohen Alters auftreten und die mit jedem Jahr ansteigen. Um diese Problematik abschließend klären zu können, ist die derzeitige Datenlage noch viel zu unsicher, zumal noch wegen fehlender Längsschnittdaten (Schmidt et al., 1996; Schulz-Nieswandt, 1996). 2. Weiter steigende

Gesundheitsausgaben

Die unter Pkt. 5 aufgeführte zweite Position geht von einer weiteren Ausgabensteigerung bis in mittelfristiger Perspektive aus und sieht hier sowohl direkte demographisch bedingte Einflußfaktoren wie auch solche, die auf demographische Effekte „aufsetzen" bzw. die demographische Entwicklung für eigene, häufig ökonomische Interessen instrumentieren, wie zumindest bei Teilen der Anbieter im Gesundheitsmarkt vermutet wird. Sie beruht vor allem mit folgenden, hier lediglich aus analytischen Gründen getrennt dargestellten Begründungen, die ihrerseits wiederum teilweise auf Erfahrungswerten mit der gesundheitlichen Versorgung älterer Menschen

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in der Vergangenheit resultieren. Sie stehen dabei auch für die These, daß längst nicht alle Ausgaben für die Behandlung älterer Menschen auch notwendige Gesundheitskosten darstellen, zumal es speziell bei älteren Patienten „in den meisten Fällen ... außerordentlich schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, eine klare Trennungslinie zu ziehen zwischen notwendigen und nicht notwendigen medizinischen Aufwendungen" (Engelhardt 1990: 292). Die steigende Lebenserwartung fuhrt zu einer verlängerten Restlebenszeit. Diese wiederum ist verbunden mit einer Erhöhung der Gesundheitsausgaben, bedingt durch den verlängerten Leistungsbezug. Mehr Ältere, die zudem noch länger leben, so diese Argumentation, verursachen zwangsläufig mehr Ausgaben (Rtirup, 1997). Eng damit zusammen hängt, daß mit der Lebenserwartung die Wahrscheinlichkeit des Auftretens und chronischen Erkrankungen steigt (Glaeske et al., 1997; Silverstone, 1996). Damit einher geht zwangsläufig eine ausgabeninduzierende Steigerung der Gesamtnachfrage nach Leistungen des Gesundheitssystems, nicht zuletzt aufgrund des Einsatzes zunehmend aufwendiger Behandlungs- und Therapiemethoden (s.u. Pkt. 7.). Die Leistungen, die von älteren Patienten nachgefragt werden, wie z.B. Krankenhausaufenthalte und pflegerische Leistungen, sind besonders ausgabenintensiv. Die weniger ausgabenintensiven Leistungen sind dagegen eher typisch für Nachfrager aus jüngeren Altersklassen (Oberdieck, 1996). Die Multimorbidität im Alter fuhrt zu einem differenzierten, zusätzliche Ausgaben induzierenden Zusatzbedarf an unterschiedlichen Gesundheitsleistungen. Dies ist zurückzuführen auf steigende Arztkontakte, mehr Arzneimittelverordnungen und auf häufigere Krankenhausaufenthalte (Glaeske et al., 1997). Als Beispiele für solche alterstypischen Zusatzbedarfe können der besondere Rehabilitationsbedarf bei älteren Menschen (Schramm, 1997; Vogel, 1997) oder die alterstypische Nachfrage nach Leistungen des gerontopsychiatrischen Versorgungssystems angeführt werden. W i e verschiedentlich erwähnt, gelten vor allem die steigenden Krankenhauskosten als demographieabhängig (s.o. Kap. 4.). E s gibt jedoch Hinweise darauf, daß aus Gründen längerer Rekonvaleszenzdauem die Liegezeiten für ältere Menschen in den Krankenhäusern zwar länger sein müssen, sie aber dennoch zu lang sind ( S V R K A I G , 1996). So könnte z.B. eine bessere Vernetzung der Krankenhäuser mit ambulanten und teilstationären Einrichtungen der Nachbetreuung bei bestimmten Krankheitsbildern zu einer deutlichen Verkürzung der Aufenthaltsdauern führen (Beispiel: Vorbereitung der häuslichen Nachbehandlung bei Diabetes-mellitus-Erkrankungen; unzureichendes Fallmanagement und Mängel in der Nachsorge und Rehabilitation bei Sachlaganfallerkrankungen (Glaeske et al., 1997; Schulz-Nieswandt, 1997). Auch bei älteren Patienten ist der Ausgabenanstieg stark anbieterinduziert und durch ökonomische Anreizstrukturen systembedingt. Dies gilt insbesondere für die niedergelassenen Ärzte. Zum einen wird vermutet, daß der steigende Wettbewerbs-

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druck, der sich diese zentrale Anbietergruppe ausgesetzt sieht, zu einer überproportionalen Leistungsausweitung bei älteren Patienten fuhrt. Hinzu kommt ein ebenfalls ausgabensteigemder Trend zur Überspezialisierung bei den niedergelassenen Ärzten. So werden nach vorliegenden Befunden ältere Menschen im Durchschnitt von 4 Ärztinnen und Ärzten gleichzeitig behandelt - Allgemeinarzt, Internist, Urologe oder Gynäkologe, Augenarzt und Orthopäde („doctor hopping"). Mengen- und damit Ausgabensteigerungen sind schon deshalb wahrscheinlich, weil i.d.R. keine Einzelfall-bezogenen Absprachen erfolgen (Glaeske et al., 1997). Es gibt einen erheblichen Ausgabendruck, der vom medizinisch-technischen Fortschritt ausgeht. So gibt es immer mehr immer teuere Therapie- und Behandlungsmethoden, die bei immer mehr älteren und ganz alten Patienten angewandt bzw. auch zunehmend von diesen nachgefragt würden und infolgedessen mit zu der bereits eingangs ausgabensteigemden Wirkung der Lebensverlängerung beitragen (Knappe, 1995; von Rothkirch, 1997; Rürup, 1997). So wird z.B. von Krankenkassenvertretern auf systemtypische ökonomische Anreizsstrukturen hingewiesen, die in einer oft zweifelhaften Übertherapisierung bei älteren Patienten münden. Aus schulmedizinischer Sicht eigentlich für die mittleren und jüngeren Altersgruppen für sinnvoll erachtete Behandlungs- und Therapiemethoden der Akutmedizin würden - so die Argumentation - oftmals viel zu unkritisch auf ältere Menschen mit chronischen Erkrankungen übertragen. In besonderer Weise trifft dies auf teure Leistungen der Medizintechnik zu, wobei in diesem Zusammenhang insbesondere auf die deutlich gestiegene Zahl an älteren (nicht selten auch bei sehr alten) operierten Herzpatienten oder an Hüftoperationen bei (auch sehr alten) älteren Menschen aufgrund der dies ermöglichenden Fortschritte auf dem Gebiet der Chirugie und der Anästhesie hingewiesen wird. Als Konsequenz gilt: die Ausgaben für die Älteren sind nicht deshalb so stark gestiegen, weil es mehr Ältere gibt, sondern weil neue und kostenintensive medizinische Technologie immer häufiger, zu schnell und zu undifferenziert bei älteren Patienten angewandt wird (Glaeske et al., 1997). „Unser Gesundheitswesen war früher preiswerter, nicht weil die Menschen gesünder, die Ärzte bescheidener oder die Preise niedriger waren, sondern weil es all die teuren Wunderdinge, die heute die Kassenbudgets belasten, damals noch nicht gab" (Krämer 1996: 122). Unter Ausgabengesichtspunkten ist in besonderer Weise der überdurchschnittlich hohe Medikamentenkonsum älterer Menschen zu beachten, wobei noch ein hohes Maß an Selbstmedikation hinzukommt (BMFuS, 1993; Glaeske et al., 1997) (s.o. Kap. 5.). Auch hier sind anbietertypische Anreizstrukturen nicht zuübersehen. Z.B. wird von Kassenvertretern auf die alterstypische Multimorbidität und auf den besonders für ältere Patienten nachweislich zutreffenden Trend zur „5-Minuten-Medizin" bei den behandelnden Ärzten hingewiesen. Beide drücken direkt und indirekt auf die Ausgaben; direkt, indem die mehr verschriebenen Präparate selbst zu höheren Ausgaben fuhren, indirekt, indem durch die Mehrfachmedikation unerwünschte

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Neben- und Wechselwirkungen entstehen können, die dann z.T. wiederum behandlungsbedürftig werden. Die Tatsache eines steigenden Anteils von Krankenhauseinweisungen älterer Menschen aufgrund von vermeidbaren Medikalisierungsfehlem gilt mittlerweile als unbestritten (Glaeske et al. 1997). Vor allem die ausgabensteigernden Wirkungen von verordneten Psychopharmaka und Schlafmitteln sind wesentlich anbieterinduziert. Von Experten wird in diesem Zusammenhang auf negative Auswirkungen auf Gangunsicherheit und Reaktionsvermögen und in ihrem Gefolge auf eine dadurch begünstigte Sturzneigung hingewiesen, nicht zuletzt auch auf Einschränkungen in den sozialen und funktionalen Kompetenzen insgesamt mit der ausgabeninduzierenden Folge einer Gefährdung der selbständigen Lebensführung (Glaeske et al. 1997). Inwieweit hier die Budgetierung kostensenkend wirkt, bleibt abzuwarten. Dies gilt ebenfalls für Pkt. 8. Es gibt einen ebenfalls ausgabensteigernd wirkenden Wandel in den gesellschaftlichen Grundeinstellungen. So werden, nicht zuletzt durch den medizinischen Fortschritt bedingt, Heilungserwartungen bei den heutigen Kohorten älterer Menschen geweckt, welche die für frühere Kohorten noch typische Bereitschaft zur Hinnahme und zum Ertragen von Alterskrankheiten einschränkt (Knieps, 1996; Pfeiffer & Walzik, 1997). Nicht zuletzt wirken sich auch veränderte Lebensverhältnisse älterer Menschen (Naegele & Tews, 1993) auf die Ausgabensteigerung im Gesundheitssektor aus. Z.B. führt die prognostizierte weitere Singularisierung des Alters - verbunden mit Veränderungen in den familialen Netzwerken - zu einer verstärkten Nachfrage nach stationären Leistungen des Gesundheitssystems. Von je her gab es soziale Funktionen der Medizin, hatte z.B. der Arztbesuch vor allem für alleinstehende ältere Menschen vor allem kommunikative Anlässe, die auf dem Hintergrund von Singularisierung noch bedeutsamer werden. Mit anderen Worten: Das Medizinsystem wird zunehmend auch zum Ersatz für schwächer werdende soziale Netzwerke, allerdings um den Preis ausgabeninduzierender Inanspruchnahme von Leistungen.

VI.

Abschließende Bewertung und Ausblick

Abschließend soll noch einmal eine thesenartige Zusammenfassung der bisherigen Ausführungen erfolgen, ergänzt um einen kurzen Ausblick: Die jetzige und künftige demographische Entwicklung ist durch ein „dreifaches Altern" gekennzeichnet. Es gibt eine alterstypische Morbidität, die insbesondere durch Chronifizierung, Multimorbidität sowie durch eine Bedeutungszunahme von Demenzerkrankungen gekennzeichnet ist. Für die Zukunft ist aufgrund der kompensatorischen Effekte der weiter steigenden ferneren Lebenserwartung nicht von den optimistischen Annahmen der Kom-

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pressions- und der Kohortenthese auszugehen. Davon berührt ist auch die Annahme der aufgrund der Komprimierung der letzten Lebensphase bedingten Ausgabensenkungen. Eine demographisch (mit)determinierte (weitere) Steigerung der Ausgaben im Gesundheitswesen ist zu erwarten. Sie muß aber nicht zwangsläufig als negative und bedrohliche Entwicklung angesehen werden. Wachstums- und Arbeitsmarkteffekte werden in eine solchen Sichtweise systematisch ausgeblendet, ebenso die volkswirtschaftliche Produktivkraft von Gesundheit, nicht zuletzt die Placierung von Gesundheit auf der Werteskala der Bevölkerung. Dringend benötigt ist ein Perspektivenwechsel in der Beurteilung von Ausgaben im Gesundheitssystem. Die mit dem Altwerden der Gesellschaft nachweisbaren Ausgabensteigerungen sind nicht zu leugnen. Es ist jedoch falsch, diesen isoliert auf die demographische Entwicklung zurückzuführen. Die einfache Formel „mehr alte Menschen = höhere Ausgaben im Gesundheitssystem" trifft so nicht zu. Es gibt zahlreiche kontextuelle Faktoren, die hier intervenieren. Es gibt zudem nachweislich gesundheitspolitische Fehlsteuerungen im Anbietersystem sowie nicht zuletzt ganz offensichtliche ökonomische Anreizstrukturen in den bestehenden Gesundheitsversorgungssystemen, die auf der demographischen Entwicklung aufsetzen bzw. nicht selten die demographische Entwicklung zur Durchsetzung eigener (häufig rein ökonomischer Interessen) instrumentieren. „Die ärztliche Indikationsstellung darf dabei keineswegs als naturwissenschaftliche Konstante aufgefaßt werden. Als menschliche Handlung ist sie vielmehr eine von einer Vielzahl möglicher Zielsetzungen und externer Einflüsse abhängige Variable. So können z.B. die parallelen Fallzahlanstiege konkurrierender Verfahren oder konkurrierender Institutionen in Bezug auf ein Krankheitsbild vor allem als Ausdruck eines intensiver werdenden Wettbewerbs der Anbieter um die Ressourcen im Gesundheitswesen interpretiert werden. ... Der bislang im Vordergrund gestellte Altersbezug möglicher Verteilungskonflikte im Gesundheitswesen ist somit möglicherweise ein - quantitativ leicht erfaßbares und daher auffälliges - Artefakt des Wettbewerbs unterschiedlicher Anbieter oder Richtungen in der Medizin um knapper werdende Ressourcen. Allgemeiner gefaßt würde die Frage folglich lauten, ob gravierende Unterschiede in der Ausgabenentwicklung für einzelne Spezialisierungen der Medizin oder für einzelne Therapiemaßnahmen und damit für bestimmte Personengruppen vor dem Hintergrund begrenzter solidarischer Mittel als kritisch zu bewerten sind. Wird dies bejaht, muß folglich eine Antwort auf die Frage gefunden werden, wie bzw. nach welchen Grundsätzen die Allokation der Ressourcen erfolgen sollte" (Glaeske et al. 1997: 15). Dies lenkt die Frage auf solche gesundheitspolitischen Ansatzpunkte zur Ausgabensteuerung, die nicht primär auf die demographische Komponente zielen, sondern auf Kontextbedindungen und zweifelhafte ökonomische Anreizstrukturen auf Anbieterseite setzen. Der Sachverständigenrat zur Konzertierten Aktion im Gesund-

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Gerhard Naegele

heitswesen hat in seinem Sondergutachten von 1996 verschiedentlich auf Alternativen dazu aufmerksam gemacht (SVRKAIG, 1996). Hier soll auf entsprechenden Überlegungen zu Wirtschaftlichkeitesreserven und zu ihrer Mobilisierung hingewiesen werden. Aus der Perspektive der demographischen Entwicklung ist vor allem auf folgende Bezugspunkte hinzuweisen: bessere Informationen über Wirkungen und Kosten alternativer Diagnoseund Therapieverfahren bei den Anbietern, bessere Koordination zwischen stationärer und ambulanter Versorgung, d.h. bessere Integration und Koordination unterschiedlicher Behandlungsabläufe, verbesserte fallbezogene Koordination der Leistungsanbieter, Optimierung der Arzneimitteltherapie, Verkürzung der Liegezeiten durch verbesserte und integrierte ambulante und teilstationäre Nachsorge, intensivere Nutzung der Möglichkeiten der ambulanten geriatrischen Rehabilitation, bessere geriatrische und gerontopsychiatrische Ausbildung der Ärzte, Förderung und Ausbau der primären Prävention in den mittleren und Vor- Altersstufen. Überlegungen hinsichtlich der Einfuhrung einer differenzierten Beitragsstruktur oder zu einer altersselektiven Ausweitung der Selbstbeteiligung rütteln an den bewährten Grundsätzen Solidarprinzip und Generationenvertrag. Sie noch mehr zu durchlöchern oder gar ganz aufzugeben, ist unter Sozialstaatsgesichtspunkten mehr als fraglich. Von Modellen der altersspezifischen Zugangsbeschränkung zu bestimmten Teilsystemen bzw. von Rationierung von medizinischen Leistungen für Ältere, insbesondere für sehr alte Menschen oder Sterbende, ist solange Abstand zu nehmen, wie in der Bundesrepublik dazu noch keine Ethikdebatte geführt worden ist. Diese ist in der medizinischen Versorgung der Bevölkerung längst überflüssig. Es sollte begonnen werden mit einer Neubestimmung des Gesundheitsbegriffes im Alter, die eingebettet sein müßte in eine Wertedebatte über die Funktion von Medizin im Umgang mit Hochaltrigkeit, chronischen Erkrankungen, Multimorbidität und schwerster Pflegebedürftigkeit. Wie weit kann und darf Medizin gehen, und wieweit nicht? Zum Schluß: Man sollte auch den Mut haben, offen über Erhöhungen auf der Einnahmenseite nachzudenken. Die niedrigere Beitragsbemessungsgrenze in der GKV ist fachlich nicht zu begründen. Auch wäre zu fragen, warum bestimmte Einnahmequellen älterer Menschen beitragsfrei bleiben. Ganz generell ist zu kritisieren, daß auch im Kontext der Ausgabendiskussion im Gesundheitswesen die Einnahmeseite und dabei insbesondere die sinkenden Beitragseinnahmen aufgrund von Arbeitslosigkeit oder zunehmender Ausgrenzung aus dem Sozialversicherungsschutz (z.B. ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse, Scheinselbständigkeit) so wenig thematisiert werden und stattdessen schwerpunktmäßig das „Heil" in einer Ausgabensenkung gesucht wird (Kühn, 1997).

Demographie und Sozialepidemiologie

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Umverteilung und Pflegeversicherung Verteilungswirkungen der Einfuhrung und aufgrund der langfristigen Finanzentwicklung der Pflegeversicherung von Heinz Rothgang

I.

Einfuhrung

Soziale Sicherungssysteme bewirken vielfältige Verteilungswirkungen auf unterschiedlichen Ebenen (vgl. für einen Überblick Schmähl 1977 sowie Wasem in diesem Band). So sind Umverteilungen zwischen Personen (interpersonelle Umverteilung) von rein zeitlichen Umverteilungen identischer Personen (intrapersonelle intertemporale Umverteilung) 1 sowie sowohl intertemporalen als auch interpersonellen Umverteilungen (insbesondere intergenerative Umverteilung) zu unterscheiden, wobei interpersonelle (intratemporale) Wirkungen im Quer-, die beide letztgenannten Dimensionen aber nur im Längsschnitt untersucht werden können. Desweiteren können die Personen, zwischen denen Verteilungseffekte stattfinden, nach unterschiedlichen Kriterien (z.B. Alter, Geschlecht, beruflicher Status, Schicht, Bildungsniveau, Einkommen oder Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des abgesicherten „Schadensfalls") klassiert bzw. auf einem Kontinuum „aufgereiht" werden. Entsprechend kann zwischen horizontaler Umverteilung (zwischen Personen des gleichen Einkommens oder - bei einer anderen Klassierungskriterium - zwischen Personen mit gleicher Schadenswahrscheinlichkeit) und vertikaler Umverteilung (zwischen Personen unterschiedlichen Einkommens bzw. Risikos) differenziert werden. Zudem muß zur Identifikation von [//«Verteilungen ein Referenzmaßstab gefunden werden, mit dem der Status quo verglichen wird. Hierfür wird in der Ökonomik meist ein Zustand ohne staatliche Intervention bzw. eine Situation mit einer idealtypischen - privaten Pflichtversicherung, die durch risikoäquivalente Prämien 1 Derartige rein intertemporale Verteilungswirkungen entstehen bei privaten Spar— und Entsparprozessen (etwa durch kapitalbildende Lebensversicherungen), aber auch bei solchen staatlichen Alterssicherungssystemen, bei denen die eigenen Versicherungsbeiträge auf individueller Basis verzinslich angelegt werden und dann im Alter zur Auszahlung kommen. Erfolgt die Auszahlung nicht in einer Summe, sondern als Leibrente, so kommt es zusätzlich zu Umverteilungseffekten von den Personen mit unterdurchschnittlicher zu denen mit überdurchschnittlicher Lebensdauer.

88

Heinz Rothgang

finanziert wird, verwendet (vgl. hierzu auch Wasem in diesem Band). Gerade bei der Einfuhrung eines neuen Leistungssystems wie der gesetzlichen Pflegeversicherung bietet es sich jedoch an, alternativ den Status quo ante zum Vergleich heranzuziehen. Bei Versicherungen ist schließlich zwischen der ex ante- und der ex postUmverteilung zu unterscheiden. Die ex ante-Umverteilung bezieht sich dabei auf alle Umverteilungen, die vor Eintritt des Schadensfalls auftreten. Wird eine idealtypische Privatversicherungslösung mit gegebenem Versicherungsvolumen als Referenzmaßstab gewählt, so bezeichnen die Abweichung der Finanzierungsbeiträge von risikoäquivalenten Prämien die ex ante-Umverteilung. Die ex post-Umverteilung zielt dagegen darauf ab, daß der Schadensfall nur bei einem Teil der Versicherten auftritt und infolgedessen eine Umverteilung von den Versicherten ohne Schaden zu denen mit Schaden stattfindet. Eine derartige versicherungsimmanente Umverteilung ist Gegenstand und Ziel der Versicherung und wird daher bei Umverteilungsanalysen in der Regel nicht weiter beachtet. Allein diese Aufzählung der relevanten Gesichtspunkte zeigt, daß eine umfassende Analyse der Verteilungswirkungen der Pflegeversicherung in diesem Beitrag nicht vorgenommen werden kann. Vielmehr werden im folgenden lediglich zwei Aspekte herausgegriffen, die von besonderer Bedeutung sind. In Abschnitt 2 wird untersucht, welche ex ante-Effekte die Einfuhrung der Pflegeversicherung im Vergleich zum Status quo ante für die Bezieher unterschiedlich hoher Einkommen in der Querschnittsbetrachtung hat (interpersonelle, intratemporale Umverteilung), während Abschnitt 3 Verschiebungen im Ausmaß der ex post-Umverteilung im Zeitablauf behandelt. Da die gesetzliche Pflegeversicherung parafiskalisch im Umlageverfahren organisiert ist, müssen die Ausgaben für die Pflegebedürftigen in jeder Periode im wesentlichen 2 durch die Einnahmen derselben gedeckt werden. Damit entsteht ein direkter Trade-off zwischen der Höhe der Versicherungsbeiträge und den Leistungen der Versicherung. Da beide bei langfristiger Betrachtung variabel sind, 3 steht damit auch das Ausmaß der ex post-Umverteilung zur Disposition. Aus diesem Grund ist diese Umverteilungsdimension bei der Pflegeversicherung von besonderer Bedeutung. Der Beitrag schließt mit einem Fazit (Abschnitt 4), in dem die zentralen Ergebnisse der Erörterungen noch einmal zusammengefaßt werden. 2

Die Pflegeversicherung verfugt über eine gesetzlich vorgeschriebene Finanzreserve in Höhe von insgesamt 1,5 Monatsausgaben (§§ 63f. SGB XI). Durch Rückgriff auf diese Reserve können lediglich kleinere Schwankungen der Einnahmen und/oder Ausgaben ausgeglichen werden. Als zusätzliche Einnahmen fließen der Pflegeversicherung zur Zeit auch Kapitalerträge aus den Überschüssen zu, die vor allem im Zeitraum von Januar bis März 1995 entstanden sind, als zwar bereits Beiträge gezahlt, aber noch keine Leistungen gewährt wurden. Auch in den Finanzjahren 1996 und 1997 sind noch Überschüsse entstanden, allerdings in geringerem und abnehmenden Maße, so daß Einnahmen aus Finanzaktiva bei mittel- und langfristiger Betrachtung keine merkliche Rolle spielen dürften (vgl. hierzu auch Rothgang/Vogler 1998). 3 Der Beitragssatzes zur gesetzlichen Pflegeversicherung (GPV) wird durch Gesetz festgelegt (§ 55 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB XI); eine Anpassung der Leistungshöhen kann von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates per Rechtsverordnung vorgenommen werden.

Umverteilung und Pflegeversichenmg

II.

89

Verteilungswirkungen der Einfuhrung der gesetzlichen Pflegeversicherung4

Zur Ermittlung der Wirkungen, die die Einfuhrung der gesetzlichen Pflegeversicherung (GPV) auf die personelle Verteilung hat, muß sowohl die Finanzierungs- als auch die Leistungsseite betrachtet werden. Dabei gilt es zu erfassen, wie sich der Finanzbedarf und die Ausgaben der einzelnen Sicherungsinstitutionen verändert haben und wie sich dies wiederum auf die Steuer- und Beitragszahler bzw. auf die Leistungsempfänger in den einzelnen Systemen auswirkt. Effekte auf individueller Ebene werden somit vermittelt über Veränderungen der institutionellen Verteilung. Die nachfolgende Analyse beschränkt sich dabei auf die quantitativ bedeutsamsten Systeme, d.h. auf Sozialhilfe und gesetzliche Krankenversicherung (GKV) für die Situation vor, sowie Sozialhilfe, gesetzliche Pflegeversicherung und private Pflegepflichtversicherung für die Situation nach Inkrafttreten des Pflege-Versicherungsgesetzes (PflegeVG). 5 Hierbei zeigt sich auf der Finanzierungsseite, daß sich die Finanzierungsanteile von Sozialhilfe und Sozialversicherung umgekehrt haben: Betrugen die Aufwendungen der Gesetzlichen Krankenversicherung bei Schwerpflegebedürftigkeit 1993 ca. ein Viertel der im Rahmen der Hilfe zur Pflege aufgewandten Mittel, so werden die Ausgaben der Pflegeversicherung (einschließlich der privaten Pflegepflichtversicherung) nach Inkrafttreten der zweiten Stufe der Pflegeversicherung etwa das Vierfache des Betrages ausmachen, der im Rahmen der Hilfe zur Pflege verausgabt wird (vgl. Rothgang 1997: 164—171 für Details). Wird der Anteil der Steuereinnahmen der für die Sozialhilfe zuständigen Gebietskörperschaften zugrunde gelegt,6 werden Sozialhilfeaufivendungen ungefähr zur Hälfte aus Steuern vom Einkommen finanziert, die einen prinzipiell progressiven Steuertarif aufweisen. Die andere Hälfte wird über sonstigen Steuern (insbesondere Umsatz- und Gewerbesteuer, die hier wie eine Verbrauchssteuer behandelt wird) 4

Die Ergebnisse dieses Abschnitts resultieren in weiten Teilen aus Berechnungen, die der Autor zusammen mit Uwe Fachinger durchgeführt und publiziert hat (vgl. Fachinger/Rothgang 1995b und 1995c). s Auf die genannten Systeme entfielen 1991 mehr als vier Fünftel aller öffentlichen Ausgaben (Deutscher Bundestag 1993: 186). Die übrigen Ausgaben wurden von den Trägem der gesetzlichen Unfallversicherung (1%), der Kriegsopferversorgung und -fürsorge (1% bzw. 8%) sowie der Beihilfe (5%), den Trägern des Lastenausgleichsgesetzes (1 %) und im Rahmen von Ländergesetzen (2%) getätigt. Hiervon sind lediglich die Leistungen der Kriegsopferfursorge (sowie die quantitativ vernachlässigbaren Fürsorgeleistungen des Lastenausgleichsgesetzes) nachrangig zur GPV. Leistungen der übrigen Sicherungssysteme dürften auch nach Inkrafttreten des PflegeVG weiter in ähnlichem Umfang gewährt werden und können auch aus diesem Grund für einen pre-post-Vergleich vernachlässigt werden. 6 Steuern sind grundsätzlich zweckungebunden. Das hierfür geltende Non-Affektationsverbot besagt vielmehr, daß alle Einnahmen zur Deckung aller Ausgaben herangezogen werden können (vgl. Andel 1992: 62). Es ist daher nicht möglich zu bestimmen, welche Steuern zur Finanzierung der Sozialhilfe herangezogen werden. Gerade wegen des mit dem Non-Affektationsverbots verbundenem Verbot einer kameralistischen Fondswirtschaft erscheint es aber sinnvoll, davon auszugehen, daß alle Ausgaben anteilig aus den gesamten Steuereinnahmen finanziert werden, so daß eine Steuer, die x% aller Einnahmen erbringt, auch die Ausgaben z.B. für Sozialhilfe zu x% deckt.

90

Heinz Rothgang

finanziert. Der „Grenzsteuersatz" der sonstigen Steuern (in Abhängigkeit vom Einkommen) ist annähernd konstant. Insgesamt nimmt mit steigendem Einkommen daher nicht nur der absoluten Zahlbetrag, sondern auch die Belastung pro Einkommenseinheit zu aus Beiträgen finanzieren, weist dagegen einen bis zur Beitragsbemessungsgrenze konstanten und ab dann sogar stark regressiven Verlauf auf. Mit der Umstellung der Finanzierung öffentlicher Pflegeleistungen von überwiegender Steuerfinanzierung (der Sozialhilfeleistungen) auf überwiegende Beitragsfinanzierung (der Pflegeversicherungsleistungen) ist somit die Umstellung von einem tendenziell progressiven auf einen proportionalen und ab der Beitragsbemessungsgrenze dann sogar stark regressiven Finanzierungstarif verbunden. Abbildung 1 enthält die entsprechend der Bedeutung der jeweiligen Institutionen gebildeten „Gesamtfinanzierungstarife" nach neuem und altem Recht. Aufgrund der Erhöhung der öffentlich finanzierten Leistungen bei Pflegebedürftigkeit liegt der „Tarif nach neuem Recht" durchgängig über dem „nach altem Recht". Um diesen Niveaueffekt vom Struktureffekt zu trennen, ist weiterhin der Tarif einer „Referenzsituation" eingezeichnet, die dadurch gekennzeichnet ist, daß das (höhere) Finanzvolumen der Situation nach Einführung der Pflegeversicherung anteilig entsprechend der „alten" institutionellen Zuständigkeiten, d.h. hauptsächlich über Sozialhilfezahlungen, erbracht wird. Wird das Ausgabenniveau und damit der Finanzbedarf zur Finanzierung von Pflegeleistungen derart (fiktiv) konstant gesetzt, so zeigt sich, daß die Bezieher hoher Einkommen von der Umstellung des Finanzierungsmodus profitieren, während Bezieher niedriger Einkommen stärker belastet werden. Die Grenze, ab der eine Besser- bzw. Schlechterstellung erfolgt, liegt vereinfachenden Modellrechnungen zufolge bei einem Jahreseinkommen von ca. 71.000 DM (vgl. für Details auch Rothgang 1997: 171-194). Abbildung

1:

SC

2,2

>

2

c

ao §

Pflegeleistungen

1,8 • 1

i

\

. • -Tarif der Referenzsituation

4

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ü

1,2 ;

2

von

Tarif nach neuem Recht

1A 1

Gesamttarif zur Finanzierung

1

08 1 ' i

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--- —

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10000

2 0 0 0 0

3 0 0 0 0

40000

50000

60000

70000

Einkommen [Bruttogröße] in DM pro Jahr

8 0 0 0 0

90000

100000

Umverteilung und Pflegeversicherung

91

Ein ähnlicher Effekt ergibt sich auch auf der Leistungsseite. Hilfe zur Pflege als Hauptkomponente öffentlicher Pflegeleistungen wurde nach altem Recht einkommensabhängig gewährt, so daß die Leistungsausweitung vor allem denen zugute kommt, die zuvor keinen oder nur einen geringen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen hatten. Die folgende Abbildung stellt dies exemplarisch für Pflegebedürftige der Stufe II in vollstationärer Pflege mit einem monatlichen Pflegesatz von insgesamt 4.500 DM dar, der vom Land geforderte Investitionskosten in Höhe von 667 DM pro Monat enthält.7 Abbildung

2: Öffentlich finanzierte

vom eigenen Einkommen

Leistungen

bei vollstationärer

Pflege in

Abhängigkeit

(Beispielrechnung)

Nach altem Recht wurde der gesamte Pflegesatz vom Sozialhilfeträger übernommen, solange das eigene Einkommen (und das der unterhaltspflichtigen Angehörigen) eine bestimmte im folgenden als Freibetrag bezeichnete Einkommensgrenze nicht überstieg. Einkommen oberhalb des Freibetrags hat die Sozialhilfeaufwendungen um den entsprechenden Betrag reduziert und erst ab einen Einkommen, das um 4.500 DM oberhalb des Pflegesatzes liegt, wurden keine Sozialhilfeleistungen mehr gewährt. 8 Nach neuem Recht werden einkommensunabhängig monatlich 2.500 DM von der Pflegekasse und 667 DM als Investitionskostenvolumen vom Land übernommen, so daß die Summe der öffentlichen Leistungen immer minde7

Dieser Betrag ergibt sich, wenn das vom Bundesarbeitsministerium für notwendig erachtete Investitionsvolumen von 3,6 Mrd. DM per annum auf 450.000 Pflegeplätze in der Bundesrepublik umgerechnet wird (vgl. Fachinger et al. 1995: 314 sowie Schneekloth/Müller 1995: 21-23.). 8 Auf die Berücksichtigung des auch als „Taschengeld" bezeichneten Barbetrags zur persönlichen Verfugung nach § 23 Abs. 3 BSHG wurde an dieser Stelle verzichtet. Alternativ kann unterstellt werden, daß der „Pflegesatz" von monatlich 4.500 DM den Barbetrag umfaßt.

Heinz Rothgang

92

stens 3.167 DM beträgt. Bei einem Einkommen bis zum Freibetrag erfolgen zusätzliche Sozialhilfezahlungen von 1.333 DM. Bei darüberliegendem Einkommen reduzieren sich die Sozialhilfezahlungen entsprechend, bis sie bei einem anrechenbaren Einkommen von 1.333 DM schließlich auf Null gesunken sind. In Abhängigkeit vom eigenen Einkommen lassen sich hinsichtlich der Auswirkungen der Pflegeversicherung im gewählten Beispiel somit drei Gruppen von Pflegebedürftigen unterscheiden: a)

Personen mit einem anrechenbaren monatlichem Einkommen von höchsten 1.333 DM („Sozialhilfeempfänger"), b) Personen mit einem anrechenbaren monatlichen Einkommen zwischen 1.333 DM und 4.500 DM („neue Selbstzahler") und c) Personen, deren anrechenbares monatliches Einkommen mindestens 4.500 DM beträgt („alte Selbstzahler"). Für die erstgenannte Gruppe ändert sich wenig. Nach wie vor beziehen sie Sozialhilfe - wenn auch in geringerer Höhe - und nach wie vor steht ihnen damit auch lediglich ein „Taschengeld" zur persönlichen Verfugung. 9 Die zweite Gruppe wird hingegen aus dem Sozialhilfebezug herausgelöst, da eigenes Einkommen und öffentliche Leistungen nunmehr ausreichen, die Pflegekosten zu finanzieren. Entsprechend steht ihnen der Teil des eigenen Einkommens, der den Betrag von monatlich 1.333 DM überschreitet, zusätzlich zur persönlichen Verfügung. Die letztgenannte Gruppe der „alten Selbstzahler" zieht den absolut größten materiellen Vorteil aus der Einfuhrung der Pflegeversicherung, da sich ihre aus eigenem Einkommen zu finanzierenden Pflegekosten um den Höchstbetrag von monatlich 3.133 DM verringert haben. Die angegebenen Zahlen sind dabei an das Rechenbeispiel geknüpft. Prinzipiell gleiche Verläufe und eine analoge Dreiteilung der Pflegebedürftigen ergeben sich aber auch bei anderen Pflegesätzen und anderen Einstufungen der Pflegebedürftigen. Beim Vergleich von altem und neuem Recht zeigt sich somit auf der Leistungsseite eine Besserstellung fiir Bezieher höherer Einkommen bei unveränderter Situation für Bezieher niedriger Einkommen. Wird der Versuch unternommen, den Niveaueffekt zu kontrollieren, ergibt sich auch hier eine Schlechterstellung der Bezieher niedriger Einkommen. Ein absoluter „break even point" analog zu dem hinsichtlich der Finanzierungsseite angegebenen Wert, der die „Gewinner" der Strukturveränderung von den „Verlierern" abgrenzt, läßt sich dagegen nicht bestimmen, da in Abhängigkeit von Einkommensgrenzen, Versorgungsform und Pflegestufe zu viele Fälle unterschieden werden müßten. Allerdings lassen sich für den stationären Sektor Hinweise auf die Stärke der je9

Während sich für die einkommensschwächeren „Altfälle", weder der sozialrechtlich Status noch die finanzielle Situation ändern, hat die Reduktion des nicht vom eigenen Einkommen gedeckten Kostenanteils für diejenigen, die erst nach Inkrafttreten der Pflegeversicherung pflegebedürftig werden, insofern Bedeutung, als das eigene Vermögen, das zunächst „verbraucht" werden muß, bevor Sozialhilfe bezogen werden kann, nunmehr sehr viel langsamer abgeschmolzen wird.

Umverteilung und Pflegeversicherung

93

weiligen Personengruppen und auf deren Einkommenssituation finden: Mehr als zwei Drittel aller Pflegebedürfligen in vollstationärer Pflege haben vor Einführung der Pflegeversicherung Sozialhilfe in Form von Hilfe zur Pflege in Einrichtungen bezogen. 10 Entsprechend kommen weniger als ein Drittel der Pflegebedürftigen als „alte Selbstzahler" in den Genuß der vollen Entlastung." Strittig war dagegen lange Zeit, wie hoch der Anteil der „neuen Selbstzahler" sein würde (vgl. Rothgang/Schmähl 1997 für einen Überblick über die Diskussion). Inzwischen vorliegende Berichte aus den einzelnen Ländern zeigen, daß der Anteil der „Sozialhilfeempfänger" den der „neuen Selbstzahler" um ein Vielfaches überwiegt. So ergab eine Verlaufsanalyse aller „Altfälle" im Land Bremen, daß weniger als ein Fünftel der Personen, die zum 30.6.1996 vom zuständigen Bremer Sozialhilfeträger Hilfe zur Pflege in Einrichtungen bezogen haben, aufgrund der Leistungen der Pflegeversicherung und der Investitionskostenförderung des Landes zu „neuen Selbstzahlern" wurden. 12 Mehr als die Hälfte aller Pflegebedürftigen in vollstationärer Pflege gehören - zumindest in Bremen - damit zu der als „Sozialhilfeempfänger" gekennzeichneten erstgenannten Gruppe, die nicht von der Einführung der Pflegeversicherung profitiert. Daß es sich hierbei um die einkommensschwächeren Personen handelt, zeigen die jeweiligen Durchschnittswerte. So lag das anrechenbare Einkommen der „neuen Selbstzahler" mit monatlich mehr als 2.300 DM im Durchschnitt um mehr als 900 DM über dem Durchschnittswert für die „Hilfeempfänger" (knapp 1.400 DM). Die Bremer Werte belegen damit zum einen, daß nur eine Minderheit der bisherigen Pflegebedürftigen in vollstationärer Pflege Vorteile aus der Einführung der Pflegeversicherung zieht, und zum anderen, daß es sich hierbei um die einkommensstärkeren Pflegebedürftigen handelt. Insgesamt zeigt die Analyse sowohl der Finanzierungs - als auch der Leistungsseite somit übereinstimmend, daß es durch die Umstellung der Finanzierung von überwiegender Steuer- auf überwiegende Beitragsfinanzierung und durch die Leistungsgewährung auch für einkommensstärkere Haushalte, die zuvor keine Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz beziehen konnten, zu einer Begünstigung höherer Einkommensklassen zu Lasten von Einkommensschwächeren, d.h. zu einer „Umverteilung von unten nach oben" gekommen ist.

10 Dieser Wert ergibt sich für die alten Bundesländer, in den neuen Ländern liegt der Anteil der Sozialhilfebezieher an allen Pflegebedürftigen in vollstationärer Pflege sogar noch deutlich höher (vgl. Rothgang 1997: 224f. und die dort angegebene Literatur). 11 Zu welcher der drei Teilgruppen ein Pflegebedürftiger gehört, hängt nicht nur vom E i n k o m m e n ab, sondern auch von den individuellen Heimkosten und der Pflegestufe. Insofern verfügen Selbstzahler nicht in j e d e m Fall über ein höheres individuelles Einkommen als die Hilfeempfänger. Allerdings besteht eine starke (negative) Korrelation zwischen dem eigenen Einkommen und der Höhe der Sozialhilfezahlungen. 12 Die Untersuchung wurde mit finanzieller Förderung der Hans-Böckler-Stiftung in Kooperation mit der B r e m e r Senatorischen Behörde für Soziales am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen (Projektleitung: Heinz Rothgang und Winfried Schmähl, Projektbearbeitung: Anke Vogler) durchgeführt.

94

Heinz Rothgang

Allerdings ist bei einer sozialpolitischen Wertung dieses Befundes größte Vorsicht geboten: So sind die Ergebnisse unter vereinfachenden Annahmen hinsichtlich des Einkommensbegriffes und der Inzidenz von Steuern und Beiträgen ermittelt worden. Vor allem ist das Ergebnis sehr stark durch die Wahl des Vergleichsmaßstabs determiniert, der keineswegs als der einzig sinnvolle angesehen werden kann. So stand die Absicherung des Pflegerisikos über die (nach „altem Recht" dominierende) Sozialhilfe aus finanz-, sozial- und ordnungspolitischen Gründen (zumindest kurz vor Verabschiedung des PflegeVG) nicht mehr als Option zur Verfugung. Es blieb vielmehr lediglich die Wahl zwischen einer Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit im Rahmen einer Sozial- oder einer Privatversicherung (vgl. Haug/Rothgang 1994). Hier jedoch fuhrt die gewählte Lösung eher zur Realisierung des verteilungspolitischen Ziels einer sozialverträglichen Absicherung des Pflegerisikos, da die gesetzliche Pflegeversicherung Elemente des sozialen Ausgleichs enthält, die in einer rein privatwirtschaftlich organisierten Absicherung typischerweise nicht enthalten sind.

III.

Verteilungswirkungen aufgrund der langfristigen Finanzentwicklung der Pflegeversicherung

In welchem Ausmaß zwischen Leistungsbeziehern und Beitragszahlern umverteilt wird (ex post-Umverteilung), hängt von der Höhe der Beiträge zur und der Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung ab. Beide Größen sind im Zeitverlauf aber variabel. Aus diesem Grunde erfordert eine Behandlung der ex post-Umverteilung eine Analyse der langfristigen Finanzentwicklung der Pflegeversicherung. Die langfristige Finanzentwicklung einer Pflegeversicherung wurde bereits im Vorfeld der Verabschiedung des Pflege-Versicherungsgesetzes intensiv diskutiert. Dabei wurde eine erwartete Ausgaben- und Beitragssatzexplosion als eines der Hauptargument gegen die Einfuhrung einer umlagefinanzierten Pflegesozialversicherung verwendet (vgl. z.B. Dinkel 1993; Felderer 1992; Ruf 1992 sowie BDA et al. 1992, SVR 1994). Diese Befürchtungen wurden vor allem mit dem in den nächsten Jahrzehnten anstehenden demographischen Wandel begründet, der eine Alterung der Bevölkerung nach sich zieht. Da Pflegebedürftigkeit vor allem im Alter auftrete, würde eine ständig steigende Zahl an Pflegebedürftigen kontinuierlich steigende Ausgaben der Pflegeversicherung hervorrufen, die letztlich den Beitragssatz in schwindelnde Höhe treibe. Behauptet wird damit ein einfacher UrsacheWirkungszusammenhang zwischen Demographie und Ausgabenentwicklung. Allerdings greift diese Betrachtungsweise zu kurz: Sowohl auf Seiten der Ursachen als auch in bezug auf die Wirkungen sind nämlich eine Reihe weitere Faktoren von Relevanz.

95

Umverteilung und Pflegeversicherung

Neben der demographischen Entwicklung ist seitens der Ursachen auch das Inanspruchnahmeverhalten der Pflegebedürftigen, die Preisentwicklung für Pflegeleistungen und die Dynamisierung der Leistungen der Pflegeversicherung von Interesse, während diese Effekte nicht nur auf die Ausgaben- und Beitragssatzentwicklung, die im übrigen strikt zu trennen sind, sondern auch auf die Kaufkraft der Leistungen der Pflegeversicherung einwirken. Gerade der in der Einleitung unter dem Gesichtspunkt der ex postUmverteilung angesprochene Zusammenhang zwischen Beitragssatz und Kaufkraft der GPV-Leistungen gerät dagegen außer Betrachtung, wenn die Analyse einseitig auf Ausgaben- und Beitragssatzentwicklung beschränkt wird. Um diese komplexen Zusammenhänge transparent zu machen, werden sie in den folgenden Modellrechnungen schrittweise entwickelt. Dabei wird zunächst auf die Determinanten der Ausgabenentwicklung eingegangen und darauf aufbauend eine erste Modellrechnung zur Ausgabenentwicklung vorgelegt, die von einer Leistungsdynamisierung absieht (Abschnitt 3.1). In Abschnitt 3.2 werden dann verschiedene Szenarien zur Leistungsdynamisierung eingeführt. Gleichzeitig wird auch die Einnahmesseite in die Betrachtung einbezogen, so daß neben der Ausgabenauch die Beitragssatz- und Kaufkraftentwicklung behandelt werden kann. 1. Die Entwicklung

der Ausgaben der Pflegeversicherung namisierung

ohne

Leistungsdy-

Die Ausgaben der gesetzlichen Pflegeversicherung ergeben sich als Produkt der Zahl der Pflegefälle mit Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung und den durchschnittlichen Ausgaben pro Pflegefall. Die Zahl der Pflegefiille hängt - neben der Definition dessen, was als Pflegebedürftigkeit anerkannt wird, - von Bevölkerungsumfang sowie deren Alters- und Geschlechtsstruktur auf der einen und den alters- und geschlechtsspezifischen Pflegefallwahrscheinlichkeiten auf der anderen Seite ab. Entscheidend für die Ausgaben pro Leistungsfall sind die gesetzlich vorgegebenen Leistungshöhen und der gewählte Pflegetyp, d.h. die Frage, ob es sich um familiale Pflege, ambulante Pflege unter Zuhilfenahme von professionellen Anbietern oder um stationäre Pflege handelt. Hinter diesen Faktoren erster bzw. zweiter Ordnung stehen weitere Faktorenbündel, deren Wirkungsweise in Abbildung 3 schematisch dargestellt ist (vgl. hierzu auch Schmähl 1992: 21). Für Modellrechnungen zur Ausgabenentwicklung müssen Annahmen über diese Faktoren gemacht werden.

Heinz Rothgang

96

Abbildung 3: Determinanten der Ausgabenentwicklung ! Gesetzliche ! Definition der | Pflegebei dürfügkeit i |

i j

Demographische Entwicklung

Schweregrad der Pflegebedürftigkeit

c

(

Erwerbsverhalten)Angebot an

Pflegeeinrichtungen; Support System /Institutionelle^ ( Regelungen der ' GPV; Anreize \ zur Wahl der Pflegeart^y

\ J

yp

T

•1 i familial b \ • u i

d e

r

a i profesn j sionell 1 1

P < f , 1

stationär

;

j !

Durchschnitts ausgaben pro leistungsberechtigtem Pflegebedürftigen

e

\ /

gesetzliche Leistungshöhen

nicht systematisch berücksichtigte Parameter i

j systematisch berücksichtigte Parameter

¡' ~ j systematisch berücksichtigte Parameter, deren Ausprägungen im Modell variiert werden Modellergebnis

Die für die Modellrechnung verwendeten Pflegefallwahrscheinlichkeiten

lassen

sich aus den relativen Häufigkeiten zweier Querschnittsuntersuchungen abschätzen, die Infratest im Auftrag des Bundesfamilienministeriums durchgeführt hat (vgl. Schneekloth/Potthoff 1993 sowie Schneekloth/Müller 1995). 13 Tatsächlich steigt die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden, mit dem Lebensalter an, wobei der stärkste Anstieg im Bereich der Hochaltrigen zu verzeichnen ist. Dies ist - zusammen mit der zu erwartenden Zunahme der Zahl gerade der Personen dieser Altersgruppen in den nächsten Jahrzehnten die Grundlage der eingangs angeführten These von der demographieinduzierten Ausgabenexplosion. Wird die 8. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistische Bundesamt mit diesen alters- und geschlechtsabhängigen Pflegefall Wahrscheinlichkeiten Für die Berechnungen konnten gegenüber der Publikation noch stärker nach Alter, Geschlecht, Pflegestufe, Ost vs. West und ambulant vs. stationär differenzierte Wahrscheinlichkeiten verwendet werden, die vom zuständigen Infratest-Projektleiter, Ulrich Schneekloth, dankenswerterweise zur Verfügung gestellt wurden. Die verwendeten Wahrscheinlichkeiten sind - ebenso wie die Ergebnisse der Bevölkerungsvorausberechnungen - bei Rothgang/Vogler (1997a: 38-43) abgedruckt.

Umverteilung und Pflegeversicherung

97

verknüpft, ergibt sich die in Abbildung 4 enthaltene Entwicklung der Fallzahlen in der GPV.

Dabei wird unterstellt, daß die altersspezifischen Pflegefallwahr-

scheinlichkeiten im Zeitverlauf konstant bleiben, d.h. wenn heute x% aller 80-jährigen pflegebedürftig sind, so wird unterstellt, daß dieser Anteilswert auch in 20, 30 oder 40 Jahren noch gültig ist.' 4 Abbildung 4: Projizierte Zahl der Pflegefalle in der gesetzlichen

Pflegeversicherung

2.000.000

Jahr • ambulant: Stufe I El s t a t i o n ä r : A l t e n e i n r i c h t u n g e n

• a m b u l a n t : S t u f e II • stationär: Behinderteneinrichtungen

äi a m b u l a n t : S t u f e III

Dieser Projektion zufolge steigt die Zahl der Pflegebedürftigen in häuslicher Pflege, die Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung haben, 15 von 1,135 Millionen im Jahre 1995 auf 1,566 Millionen im Jahre 2030, das heißt um 38% des Ausgangswertes. Die Zahl der Pflegebedürftigen in vollstationärer Altenpflegeeinrichtungen steigt im gleichen Zeitraum von 397 Tausend auf 632

14 Inwieweit die altersspezifische Morbidität - insbesondere bei zurückgehender Mortalität - unverändert bleibt, ist stark umstritten (vgl. hierzu auch Naegele in diesem Band). Dabei stehen sich Anhänger der Morbiditätsthese, nach der die zusätzlichen Lebensjahre vor allem in Krankheit verbracht werden, und der Kompressionsthese, die mit einer Kompression der Krankheitsphase am Lebensende und damit - bei Rückgang der Sterblichkeit - mit einer Verringerung der altersspezifischen Morbidität rechnet, gegenüber, ohne daß eine der beiden Seiten ihre Position bisher überzeugend epidemiologisch untermauern kann. Angesichts dieser Unsicherheit gehen Projektionen zur Fallzahlentwicklung in der Pflegeversicherung durchgängig von konstanten altersspezifischen Pflegefallwahrscheinlichkeiten aus. Diese Annahme ist insoweit weniger problematisch als das hier verwendete demographische Szenario nur einen sehr geringen Mortalitätsrückgang unterstellt (vgl. hierzu auch Rothgang 1997: 246f. und die dort angegebene Literatur). 15 Da nur rund 9 0 % der Bevölkerung in der GPV versichert sind, wurde auch die Zahl der Pflegefälle, die sich durch Kombination der Pflegefallwahrscheinlichkeiten und der Gesamtbevölkerangszahl ergibt, mit d e m Faktor 0,9 multipliziert, um so die Zahl der G P V - F ä l l e abzuschätzen.

98

Heinz Rothgang

Tausend, d.h. um 60% des Ausgangswertes. 16 Der stärkere Fallzahlanstieg im stationären Sektor ist darauf zurückzuführen, daß vollstationäre Versorgung vor allem bei den Hochaltrigen anzutreffen ist, deren Zahl überproportional wächst. Rein demographisch bedingt verschieben sich daher ceteris paribus die Gewichte von der ambulanten zur stationären Pflege. Ein durch die Pflegeversicherung ausgelöster „Heimsog" wurde dabei nicht unterstellt. Insgesamt fuhrt der demographische Wandel somit zu einem Anstieg der Fallzahlen von 1,532 Millionen auf 2,198 Millionen, das heißt um 44% des Ausgangswertes. 17 Um diesen Fallzahlenanstieg in einen Ausgabenanstieg umzurechnen, müssen die Fallkosten berücksichtigt werden, die sich aus den Leistungen der Pflegeversicherung ergeben. Dabei ist zu beachten, daß für die verschiedenen Leistungen unterschiedliche Höchstbeträge festgelegt sind und die Leistungen teilweise komplementär, teilweise aber auch substitutiv sind (vgl. Rothgang/Vogler 1997b: 8-13 für Details). Bedeutsam sind für die Ausgaben der GPV dabei vor allem die unterschiedlichen Leistungshöhen für Pflegegeld und Pflegesachleistungen bei häuslicher Pflege (Tabelle l). 18

16 Zusätzlich sind noch die Pflegebedürftigen in vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe zu berücksichtigen, die nach geltendem Recht aber nur Leistungen in Höhe von maximal 500 DM pro Monat beanspruchen können (§ 43a SGB XI) und daher für die GPV -Ausgabenentwicklung nachrangig sind. Deren Zahl geht der Projektion zufolge sogar von knapp 73 Tausend auf gut 62 Tausend zurück. Die Fallzahlensteigerang im vollstationären Bereich liegt damit insgesamt, d.h. bei Einschluß der Pflegebedürftigen in Behinderteneinrichtungen, mit rund 48% merklich niedriger als bei einer ausschließlichen Berücksichtigung von Alteneinrichtungen. 17 Die Pflegebedürftigen in vollstationären Behinderteneinrichtungen sind hierbei nicht berücksichtigt, weil sie hinsichtlich der letztlich interessierenden GPV-Ausgaben von geringer Bedeutung sind. 18 Neben den in der Tabelle ausgewiesenen Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI und dem Pflegegeld nach § 37 SGB XI, die auch anteilig kombiniert werden können (§ 38 SGB XI) sowie den Leistungen bei teilstationärer (§ 41 SGB XI) und vollstationärer Pflege (§ 43 SGB XI) umfaßt das Leistungsspektrum der Pflegeversicherung auch Leistungen bei Verhinderung der Pflegeperson (§ 39 SGB XI), Pflegehilfsmittel, technische Hilfen und Zuschüsse zu pflegebedingtem Umbau der Wohnung (§ 40 SGB XI), Leistungen zur sozialen Sicherung der Pflegepersonen (§ 44 SGB XI) und Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen (§ 45 SGB XI). Im 1. SGB XI ÄndG wurde zudem der § 43a in das SGB XI eingeführt, der einen auf höchstens 500 DM pro Monat begrenzten Zuschuß zu den Pflegekosten für Pflegebedürftige in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe vorsieht.

Umverteilung und Pflegeversicherung

Tabelle 1: GPV-Leistungen

bei häuslicher, teilstationärer

99

und stationärer Pflege in DM

pro Monat

häuslich Pflegestufe

Pflegegeld

Sachleistung

I II

400 800

750

III

1.300

1.800 2.800

teilstationär Sachleistung 750 1.500 2.100

vollstationär3 Sachleistung 2.000 2.500 2.800

3.750 Härtefälle 3.300 a Die genannten Leistungshöhen gelten zunächst nur für einen Übergangszeitraum bis zum 31.12.1997 (Art. 49a § 1 Abs. 1 PflegeVG). Jedoch gilt grundsätzlich nach § 43 Abs. 2 SGB XI, daß die monatlichen Leistungen pro Fall - abgesehen von Härtefallen - nicht mehr als 2.800 DM und die jährlichen Ausgaben einer Pflegekasse für die bei ihr versicherten stationär versorgten Pflegebedürftigen im Durchschnitt 30.000 DM je Pflegebedürftigen nicht übersteigen dürfen. Quelle: eigene Darstellung nach §§ 36-45 SGB XI Wie die Tabelle zeigt, sind die Sachleistungen, d.h. die Kostenübernahmen bei Inanspruchnahme eines ambulanten Pflegedienstes bei ambulanter Pflege, rund doppelt so hoch wie das Pflegegeld bei familialer Pflege. Insbesondere die Wahl zwischen Sach- und Geldleistungen ist somit für die Ausgabenentwicklung von erheblicher Bedeutung. Bei den folgenden Modellrechnungen wurden daher verschiedene Szenarien zur Inanspruchnahme unterschieden: Szenario 1 unterstellt, daß nur Geldleistungen gewählt werden, Szenario 2 geht dagegen davon aus, daß nur Sachleistungen gewählt werden, Szenario 3 hält die derzeitige Inanspruchnahmequote von 80% Geld- zu 20% Sachleistungen konstant, während in Szenario 4 eine im Zeitverlauf zunehmende Sachleistungsquote unterstellt wird. Hierbei wird der Sachleistungsanteil von 20% im Jahre 1995 jedes Jahr um einen Prozentpunkt erhöht und erreicht im Jahre 2040 dann einen Wert von 65%. Die Szenarien 1 und 2 markieren als Extremfälle die Spannweite des Inanspruchnahmeverhaltens, während die Szenarien 3 und 4 eher „realistische" Fälle darstellen. Die in Szenario 4 abgebildete These von einer zunehmenden Inanspruchnahme von Sachleistungen beruht dabei vor allem darauf, daß das familiale Pflegepotential, das sind insbesondere die Frauen im 5. bis 7. Lebensjahrzehnt, die derzeit den überwiegenden Teil der häuslichen Pflege übernehmen, im Verhältnis zur Zahl der Pflegebedürftigen, zurückgeht, eine von den Experten mittel- und langfristig erwartete Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit ebenfalls das Pflegepotential reduziert und

Heinz Rothgang

100 -

die Familien- und Haushaltsstrukturentwicklung, insbesondere die zunehmende Zahl der Einpersonenhaushalte, negative Auswirkungen auf das familiale Pflegepotential hat (vgl. hierzu auch Rothgang 1997: 131-141).

Abbildung 5 zeigt, wie sich die Ausgabenentwicklung in Abhängigkeit von den angesprochenen Szenarien darstellt. Alle Angaben sind dabei inflationsbereinigt, d.h. in Preisen des Basisjahrs angegeben. Abbildung

5: Gesamtausgaben

der Pflegeversicherung

bei konstantem

Leistungsniveau

Jahr • t

Szenario 1: nur Geldleistungen Szenario 3: feste Quote

> Szenario 2: nur Sachleistungen Szenario 4: variable Quote

Bei einer ähnlichen Steigerungsrate von 44—47% über den gesamten Betrachtungszeitraum unterscheiden sich die Szenarien 1 bis 3 im Ausgabenm'veatt erheblich. So liegen die Ausgaben in Szenario 1 (nur Geldleistungen) selbst im Jahre 2040 immer noch niedriger als sie in Szenario 2 (nur Sachleistungen) im Jahre 2000 liegen. Dies zeigt, daß die Inanspruchnahme von ihrem Ergebnis her ähnlich wichtig sein kann wie die demographische Entwicklung. Das unterstreicht auch Szenario 4, in dem unterstellt wurde, daß der Sachleistungsanteil in jedem Jahr um einen Prozentpunkt ansteigt - von 20% im Jahre 1995 auf 65% im Jahre 2040. Bei diesem Szenario, das den demographischen Effekt und eine kontinuierliche Steigerung des Sachleistungsanteils verknüpft, beträgt die Gesamtausgabensteigerung von 1997 bis 2040 dann 68%. Aus diesen doch beachtlichen Ausgabensteigerungen kann jedoch nicht - wie dies manchmal in der tagespolitischen Diskussion geschieht - auf eine gleich hohe

Umverteilung und Pflegeversicherung

101

Beitragssatzsteigerung geschlossen werden, denn auch die beitragspflichtigen Einnahmen zur Pflegeversicherung können real, d.h. inflationsbereinigt, steigen. Stiegen die beitragspflichtigen Einnahmen in gleichem Maße wie die Ausgaben, so könnten letztere mit einem konstanten Beitragssatz finanziert werden. Nach Berechnungen, die Prognos (1998) für den Verband Deutscher Rentenversicherungsträger durchgeführt hat und die auf dem umfassendsten für die Bundesrepublik verfügbaren ökonometrischen Modell unter Einschluß der Sozialversicherungen beruhen, steigen die beitragspflichtigen Einnahmen im Zeitraum von 1997 bis ins Jahr 2040 um 57%.19 Demnach wäre die Ausgabensteigerung nur um 11 Prozentpunkte höher als die Steigerung der beitragspflichtigen Einnahmen und könnte somit bei einem nur wenig steigenden Beitragssatz finanziert werden.20 Allerdings gilt dieses aus Sicht der Pflegeversicherung erfreuliche Ergebnis der Projektion nur bei (inflationsbereinigt) konstanten GPV-Leistungen. Im folgenden Abschnitt wird daher diskutiert, welche Konsequenzen eine derartige Leistungsgestaltung für die Kaufkraftentwicklung hat und wie sich diese Ergebnisse verändern, wenn alternative Annahmen zur Leistungsdynamisierung zugrunde gelegt werden. 2. Ausgaben-,

Beitragssatz-

und Kaufkraftentwicklung dynamisierung

bei

Leistungs-

Gemäß § 30 SGB XI wird die Bundesregierung „ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Höhe der Leistungen ... anzupassen." Die Anpassung der Leistungshöhe erfolgt also diskretionär, die Leistungen sind nicht preis- oder lohnindexiert. Für die folgenden Simulationen wird indes unterstellt, daß die Leistungen regelmäßig gemäß einer einheitlichen Dynamisierungsregel angepaßt werden. Werden die GPV-Leistungen - wie im vorstehenden Abschnitt angenommen - im Einklang mit der allgemeinen Inflationsrate angehoben, ist damit zu rechnen, daß die Kaufkraft der Leistungen der Pflegeversicherung für Pflegeleistungen, d.h. die Zahl an Pflegeeinsätzen, Pflegestunden oder einzelnen Pflegeleistungen, die ein Pflegebedürftiger bei unveränderter Pflegestufe mit den Leistungen der Pflegeversicherung finanzieren kann, sinken. Dies ist darauf zurückzuführen, daß die Preise für ambulante und stationäre Pflegeleistungen aller Wahrscheinlichkeit nach stärker wachsen als die Preise für andere Güter und Leistungen. Hierfür lassen sich neben den bisherigen Erfahrungen in diesem Bereich zumindest zwei systematische Gründe angeben: 19 Die Prognos AG unterscheidet in ihrem Gutachten je nach verwendeten Annahmen zwischen einem unteren und einem oberen Szenario. Der hier verwendete Wert ergibt sich als arithmetisches Mittel der realen Wachstumsraten der beitragspflichtigen Einnahmen in beiden Szenarien. 20 Der zum Budgetausgleich notwendige Beitragssatz ergibt sich aus der Division der Ausgabensumme durch die Summe der beitragspflichtigen Einnahmen. Steigt der Zähler um 68% und der Nenner um 57%, so beläuft sich die Steigerung des Quotienten (=Beitragssatz) auf 7%.

102

Heinz Rothgang

Zum einen sind Pflegeleistungen personalintensive Dienstleistungen, die sich nur sehr wenig rationalisieren lassen. Bei gleicher Lohnentwicklung für Beschäftigte im Pflegebereich und in Industriesektoren folgt aus diesem geringeren Produktivitätsfortschritt eine überproportionale Preisentwicklung. Dieser Ende der sechziger Jahr von Baumol und Oates (1972) propagierte Zusammenhang wird auch als „Kostenkrankheit" sozialer Dienstleistungen bezeichnet. Darüber hinaus ist aber damit zu rechnen, daß die Entlohnung der Pflegekräfte angesichts eines in der Zukunft drohenden Pflegenotstands (vgl. Rothgang 1997: 63-65 mit weiteren Hinweisen) und der angestrebten Aufwertung des Pflegeberufes sogar stärker ansteigen wird als die Durchschnittslöhne und -gehälter. Damit würde die Preisentwicklung für Pflegeleistungen noch weiter über der allgemeinen Inflationsrate liegen. Der damit angesprochenen Trade-off, d.h. die negative Wechselwirkung zwischen einer Beitragssatz- und einer Kaufkraftstabilisierung wird in den folgenden Modellrechnungen zur Ausgaben-, Beitragssatz- und Kaufkraftentwicklung zu quantifizieren versucht. Dabei werden hinsichtlich der Dynamisierung der Leistungen der Pflegeversicherung drei Szenarien unterschieden: Szenario A unterstellt, daß die Leistungen der Pflegeversicherung nur insoweit angepaßt werden, wie dies zu stabilen Beitragssätzen möglich ist. Diese Anpassung wird daher als beitragssatzstabilisierende Dynamisierung bezeichnet. Szenario B postuliert im Gegensatz dazu, daß die Leistungen der Pflegeversicherung immer in dem Ausmaß angehoben werden, wie die Preise für Pflegeleistungen steigen. Da die tatsächliche Kaufkraft der Pflegeversicherungsleistungen dabei konstant gehalten wird, wird dieses Szenario auch als kaufkraftindexierte Dynamisierung oder kaufkraftstabilisierende Dynamisierung bezeichnet. Szenario C schließlich bildet die in den vorangegangenen Berechnungen zugrunde gelegte inflationsindexierte Leistungsdynamisierung ab. 21 Weiterhin wurde hinsichtlich des Inanspruchnahmeverhaltens das Szenario mit steigendem Sachleistungsanteil (Szenario 4), für die Entwicklung der beitragspflichtigen Einkommen die Schätzung von Prognos und

21 Nach § 30 SGB XI erfolgt die Leistungsanpassung „im Rahmen des geltenden Beitragssatzes ... und der sich daraus ergebenden Beitragssatzentwicklung". Dies scheint für eine beitragssatzstabilisierende Leistungsdynamisierung zu sprechen. Allerdings kann der Beitragssatz selbst durch Gesetz geändert werden (§ 55 Abs 1 SGB XI). Tatsächlich wird in der Gesetzesbegründung (Deutscher Bundestag 1993: 178) auch von einem aus demographischen Gründen steigenden Beitragssatz ausgegangen. Tatsächlich sind die GPV-Leistungen - trotz Überschüsse in der Pflegeversicherung seit ihrer Einfuhrung aber noch überhaupt nicht angehoben worden. Insofern kann über den tatsächlichen Anpassungspfad derzeit nur spekuliert werden (vgl. zur starken Budgetorientierung im Pflege VG auch Rothgang 1996).

Umverteilung und Pflegeversicherung

103

für die Preisentwicklung für Pflegeleistungen die durchschnittliche Bruttolohn- und -gehaltsentwicklung - wie von Prognos prognostiziert - zugrunde gelegt. Das Ergebnis dieser Modellrechnung zeigen die folgenden Abbildungen zur Ausgaben-, Beitragssatz- und Kaufkraftentwicklung. Die inflationsindexierte Dynamisierung in Szenario C entspricht der bisherigen Betrachtungsweise und weist für den Betrachtungszeitraum eine Ausgabensteigerung um rund 68% von 28 auf 47 Mrd. DM auf. Bei einer beitragssatzstabilisierenden Dynamisierung (Szenario A) liegen die Ausgaben am Ende des Betrachtungszeitraums etwas niedriger bei knapp 44 Mrd. DM. Eine Ausgabensteigerung von 57% ist demnach bei stabilem Beitragssatz finanzierbar. Deutlich höherer Ausgaben ergeben sich dagegen bei einer kaufkraftstabilisierenden Dynamisierung. In Szenario B steigen die Ausgaben der Pflegeversicherung bis zum Jahr 2040 sogar auf mehr als 80 Mrd. DM, also auf das 2,9fache des Ausgangswertes. Abbildung 6: Gesamtausgaben der gesetzlichen Pflegeversicherung

80

70

ci 60

a 2 a

•i 50 b

2

E 40

30

8 T

8

8

8

• Szenario A: beitragssatzstabilisierend —m— Szenario C: inflationsindexiert

Auch für die Entwicklung des Beitragssatzes trachteten Szenarien gewaltige Unterschiede:

« Szenario B: kaufkraftstabilisierend

ergeben sich zwischen den be-

Heinz Rothgang

104

B e i l e d i g l i c h inflationsindexierter L e i s t u n g s a n p a s s u n g ( S z e n a r i o C ) steigt der B e i t r a g s s a t z u m l e d i g l i c h 7%, w ä h r e n d er b e i kaufkraftstabilisierender A n p a s s u n g ( S z e n a r i o B ) auf 2 , 9 Prozentpunkte steigt, w a s einer S t e i g e r u n g u m 8 4 % d e s A u s gangswertes gleichkommt.22 Abbildung

r^ 0

\

o.

O

7: Beitragssatz

— c i u ^ t ^ C v . O O O Q Q

zur gesetzlichen

— —

Pflegeversicherung

t » i i i i r ~ o > — — — —



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N

f

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o n

Jahr • y

22

Szenario A: beitragssatzstabiiisierend Szenario C: inflationsindexiert

-er- Szenario B: kaufkraftstabilisierend

J

In der Modellrechnung wird der notwendige Beitragssatz ausgewiesen, der sich als Quotient der Ausgaben und der Gesamtsumme der beitragspflichtigen Einnahmen der Beitragszahler ergibt. Dieser notwendige Beitragssatz liegt - der Modellrechnung zufolge 1997 bei knapp 1,6 Prozentpunkten. Tatsächlich wird zur Zeit aber ein Beitragssatz von 1,7 Prozentpunkten erhoben. Dies führt dazu, daß die GPV derzeit noch höhere Einnahmen als Ausgaben aufweist und Überschüsse erwirtschaftet. Allerdings werden diese Überschüsse bei kaufkiaftstabilisierender Leistungsdynamisierung in Zukunft abgeschmolzen werden, so daß der notwendige Beitragssatz für das Jahr 2040 davon unberührt bleibt (vgl. Rothgang/Vogler 1998 für Details).

U m v e r t e i l u n g und P f l e g e v e r s i c h e r u n g

105

Abbildung 8: Kaufkraft der Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung

40 : , , o\ S Jahr - Szenario A: beitragssatzstabilisierend - Szenario C: inflaitionsindexiert

Szenario B: kaufkraftstabilisierend

Bei Betrachtung der Kaufkraftentwicklung schließlich zeigt sich, daß nur die kaufkraftstabilisierende Leistungsdynamisierung den tatsächlichen Wert der Pflegeversicherungsleistungen zu erhalten in der Lage ist. Bei beitragssatzstabilisierender (Szenario A) oder inflationsindexierter (Szenario C) Dynamisierung sinkt die Kaufkraft der Pflegeversicherungsleistungen dagegen deutlich auf 54% (Szenario A) bzw. 58% (Szenario C). Damit wird das Dilemma der Pflegeversicherung deutlich: Ein konstanter Beitragssatz ist nur bei sinkender Kaufkraft (Szenario A) bzw. konstante Kaufkraft nur bei steigendem Beitragssatz (Szenario B) möglich. Dazwischen gibt es zwar Anpassungspfade, die geringere Beitragssatzsteigerungen mit geringerem Kaufkraftverlusten verknüpfen, das grundsätzliche Spannungsverhältnis von Kaufkraftund Beitragssatzstabilität besteht aber unabhängig vom gewählten Dynamisierungspfad. Die für die Leistungsdynamisierung zuständige Bundesregierung befindet sich demnach in einem unlösbaren Dilemma, entweder das Ziel der streng definierten Beitragssatzstabilität oder das der Kaufkraftstabilität der Pflegeleistungen zu verletzen: Wird der Beitragssatz konstant gehalten, sinkt die Kaufkraft der Leistungen der Pflegeversicherung auf wniger als 60% des Ausgangswertes. Wird statt dessen durch großzügigere Anpassung der Leistungshöhen der Pflegeversicherung die Kaufkraft konstant gehalten, steigt der Beitragssatz um mehr als 80% des Ausgangswertes. Die numerischen Ergebnisse der Modellrechnung sind allerdings mit erheblicher Unsicherheit bezüglich der Paramterwerte behaftet. Das gilt jedoch nicht im glei-

106

Heinz Rothgang

chen Maße für den festgestellten Trade-off zwischen Beitragssatz- und Kaufkraftstabilität, der wesentlich robuster hinsichtlich einer Variation der Parameterwerte ist. Das Dilemma tritt nämlich immer dann auf, wenn der demographische Effekt, der Effekt eines veränderten Inanspruchnahmeverhaltens und die Preisentwicklung für Pflegeleistungen gemeinsam und in Interaktion miteinander stärker sind als das Wachstum der Bemessungsgrundlage der Pflegeversicherung. Dies erscheint aber sehr wahrscheinlich, da allein die Preisentwicklung für Pflegeleistungen die Erhöhung der Bemessungsgrundlage (über)kompensieren dürfte. 23 Der Versuch, gleichzeitig Kaufkraft- und Beitragssatzstabilität zu garantieren, ist daher zum Scheitern verurteilt.

IV.

Fazit

Wie einleitend angekündigt, konnten in diesem Beitrag nur zwei ausgewählte Aspekte des Zusammenhangs zwischen Pflegeversicherung und Verteilung diskutiert werden: die Verteilungswirkungen der Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung und die Verteilungswirkungen aufgrund der langfristigen Finanzentwicklung der Pflegeversicherung. Hinsichtlich des erstgenannten Aspekts zeigt sich, daß es durch die Umstellung von einer weitgehenden Steuer- auf eine überwiegende Beitragsfinanzierung sowie durch die Ausweitung des Kreises der Leistungsberechtigten im Vergleich zum Status quo ante zu einer „Umverteilung von unten nach oben", d.h. von einkommensschwachen zu einkommensstarken Personen gekommen ist. Wenngleich die Modellrechnungen teilweise auf vereinfachenden Annahmen beruhen und die numerischen Ergebnisse aus diesem Grund nicht überbewertet werden dürfen, kann die grundsätzlichen UmverteilungsncA/ung - im Vergleich zum Status quo ante nicht in Zweifel gezogen werden. Ähnliches gilt auch für die Umverteilung zwischen Leistungsbeziehern und Beitragszahlern 24 : Auch hier sind die numerischen Ergebnisse in erheblichem Ausmaß von den verwendeten Annahmen abhängig, während das Zentralergebnis hinsichtlich der Variation der Parameterwerte recht robust ist: eine gleichzeitige Beitragssatz- und Kauflcraftstabilisierung ist nicht möglich. Vielmehr setzt die Aufrechterhaltung der realen Kaufkraft eine erhebliche Beitragssatzsteigerung voraus, während stabile Beitragssätze zu sinkender Kaufkraft fuhren. Je nachdem wie die zuständigen Entscheidungsträger diesen Zielkonflikt lösen, kommt es dann im 23

Nach Prognos steigt die Bemessungsgrandlage bei insgesamt sinkender Beschäftigung, also ausschließlich aufgrund steigender Reallöhne. Diese wirken aber in mindestens gleichem Maße auf die Personalkosten der Pflege und damit auch auf die Preise für professionelle Pflegeleistungen. 24 Auch Pflegebedürftige zahlen weiterhin Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung. Diese sind aber regelmäßig niedriger als die empfängenen Leistungen. Pflegebedürftige sind daher immer Netto-Leistungsbezieher.

Umverteilung und Pflegeversicherung

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Zeitablauf - im Vergleich zum Status quo - zu einer Umverteilung von Leistungsempfängern zu Beitragszahlern (bei überwiegender Orientierung der Leistungsdynamisierung an der Beitragssatzstabilität) oder - bei überwiegender Orientierung an der Kaufkraftstabilität - zu einer Umverteilung von Beitragszahlern zu Leistungsempfängern.

V.

Literatur

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Altern und Gesundheit von Rudolf - M. Schütz

Dem Altem kann man - je nach Einstellung - positive Aspekte - z.B. Weisheit oder Gesundheit - , aber auch negative Aspekte - z.B. Vereinsamung oder Krankheit zuschreiben. Der Wunsch, möglichst alt zu werden, ohne die negativen Aspekte des Altseins zu erleben, hat vermutlich die Menschheit seit jeher bewegt. Daß diese Annahme berechtigt ist, läßt sich herleiten aus den Aufzeichnungen der großen Religionen und philosophischen Weltanschauungen, von denen gesundes hohes Altern zum Teil als Gnade dargestellt und als Belohnung gepriesen sowie Verhaltensregeln angeboten wurden, ein solches zu erreichen. Altem unter Entbehrungen und Krankheit dagegen galt von jeher als harte Prüfung oder gar Strafe. Das bekannteste Beispiel von Verhaltensregeln ist das 4. Gebot aus dem Dekalog: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es dir wohl ergehe und du lange lebest auf Erden". Gleichzeitig aber wird stets mahnend darauf hingewiesen, daß alles menschliche Leben begrenzt sei. Das hat nicht verhindern können, daß aus der Sehnsucht des Menschen, länger zu leben und - dennoch - jung zu bleiben, seit Jahrtausenden nach dem Jungbrunnen oder entsprechend wirksamen Medikamenten gesucht worden ist. Trotz aller Bemühungen bis in die Neuzeit muß man unverändert feststellen: Bis heute gibt es keine Möglichkeit, das Leben des Menschen über etwa 120 Jahre hinaus auszudehnen. Diese maximale Lebensspanne ist zu großem Teil genetisch festgelegt und kann auch durch Humangenetik nicht - wie vielfach glauben gemacht werden soll - manipuliert werden: Sie ist dagegen in ihrer Qualität durch entsprechende Verhaltensweise sicher zu beeinflussen. In der Bundesrepublik beträgt die mittlere Lebenserwartung für Männer derzeit bei Geburt etwa 72 Jahre, bei Frauen liegt sie etwa 4 Jahre höher. In den vergangenen 100 Jahren ließ sich nahezu eine Verdoppelung der mittleren Lebenserwartung feststellen. Schließt man aber sogenannte „unnatürliche Todesursachen" wie z.B. Karzinome oder Unfälle aus, dann zeigt sich, daß das mittlere Sterbealter in diesem Jahrhundert nur von etwa 71 auf etwa 78 Jahre angestiegen ist. Das bedeutet: Ältere Menschen leben also auch heute im Mittel nur unwesentlich länger als früher. Infolge der Fortschritte der Medizin sowie der rückläufigen Säuglingssterblichkeit erreichen aber prozentual und absolut sehr viel mehr als früher ein sehr hohes Alter. Deshalb fragen sowohl die Betroffenen als auch die Gesellschaft aus einem berechtigten Selbstinteresse: Werden die künftigen Generationen im hohen Alter nun auch gesünder sein als die heutige oder kränker, d.h. von Multimorbidität und Verlust der

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Rudolf- M. Schütz

persönlichen Handlungskontrolle geprägt? Wie unterschiedlich hier die Standpunkte sind, will ich kurz anhand von zwei extremen Positionen aufleuchten lassen: Betont optimistisch beurteilt dies der amerikanische Arzt Fries: Er nimmt an, daß mit großer Wahrscheinlichkeit das Auftreten sowie der zeitliche Verlauf von Krankheiten künftig derart verringert, verlangsamt oder hinausgezögert werden könnten, daß deren Manifestation in Zukunft jenseits des von ihm mit etwa 90 Jahren geschätzten biologischen Maximalalters liegen werde und damit nicht mehr die Lebenszeit beeinflussen könne. Extrem anderer Auffassung sind Schneider und Guralnik: Sie weisen auf die Existenz von Krankheiten hin, die wahrscheinlich mit dem Alter stark zunehmen würden und fuhren hier z.B. die Alzheimer-Demenz oder die steigende Inzidenz und Schwierigkeiten von Hüftgelenksbrüchen an. Sie sagen ein hohes Alter mit höheren Krankheitsraten und insbesondere fehlender Vitalität voraus und folgern: Ohne entscheidende Veränderungen im Gesundheitssystem würden im Durchschnitt für jedes gesunde Jahr an Lebensverlängerung im Alter etwa 3 Vi schwerkranke Jahre eingehandelt. Beide Aussagen sind plakativ und deswegen irreführend, ihr vermutlicher Wert nur gering. Lassen Sie mich - als Grundlage und zum besseren Verständnis der Probleme vielmehr versuchen aufzuzeigen, wie Gesundheit im Alter zu verstehen ist, was Altern eigentlich funktionell bedeutet, was zur Förderung oder zum Erhalt von Gesundheit unternommen werden kann und schließlich, welche außerhalb des biologisch-medizinischen Bereiches liegenden Einflußfaktoren von herausragender Bedeutung sind oder sein können. Zunächst: Auch heute vermag noch keine Theorie den sehr komplexen Prozeß des Alterns in seiner Gesamtheit - d.h. alle Aspekte berücksichtigend - zu beschreiben oder zu erklären, so daß dieser Prozeß immer nur in Teilaspekten darzustellen ist. Unter biologischen Gesichtspunkten - einem Arzt ja besonders vertraut - stellt sich normales Altern dar als ein Rückbildungsvorgang an vielen Organen und Geweben: Anpassungsfähigkeit und Reservekapazitäten der homöostatischen Regelvorgänge d.h. das funktionelle Ausbalancieren der verschiedenen Körperfunktionen und deren Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen mit Hilfe physiologischer Regelprozesse Anpassungsfähigkeit und Reservekapazitäten also verringern sich, und es entstehen dadurch Risiken, welche die Erwartungswahrscheinlichkeit für Erkrankungen - insbesondere für Infekte - erhöhen. Entgegen früherer Ansicht sind Altem und Alter aber sicher keine Krankheit. Ergebnisse der Experimentellen Gerontologie sprechen dafür, daß die Aiternsprozesse sich wesentlich an der Desoxiribonucleinsäure und der Interzellularsubstanz abspielen. Genetische Momente ebenso wie die sogenannten Risikofaktoren, aber auch Umweltbedingungen können sie beeinflussen. Alle Aiternsprozesse

Altern und Gesundheit

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zeigen eine hohe inter- und intraindividuelle Variabilität der Norm, so daß es oft schwer ist, im Einzelfall Gesundheit und Krankheit sicher voneinander abzugrenzen. Und das gilt sowohl auf subjektiver wie auf objektiver Ebene. Die medizinische Forschung über physiologische - also nicht-krankhafte, sondern normale - Alterungsvorgänge beruht leider weitgehend auf Querschnittsanalysen, deren Schwächen im Vergleich zu Längsschnittuntersuchungen darin liegen, daß sie oft stichprobenbedingte Fehler aufweisen und daß intraindividuelle Veränderungen kaum oder nicht berücksichtigt sind. Dadurch kann es besonders im höheren Alter häufig zu erheblichen Fehlinterpretationen kommen. Notwendige Längsschnittstudien, die dieses ändern könnten, sind aber bisher wegen des hohen personellen und apparativen Aufwandes leider nur wenig durchgeführt, allerdings in letzter Zeit vereinzelt auch in Deutschland initiiert worden. Dennoch kann man wohl heute folgende Aussagen über normales, d.h. im weiteren Sinne auch gesundes Altern als gesichert ansehen: Organe altern asynchron, morphologische Rückbildungen und funktionelle Einschränkungen können parallel verlaufen, müssen es aber nicht. Im Wissen über ursächliche Zusammenhänge bestehen aber noch große Unsicherheiten. Herausragende funktionelle Bedeutung für das Befinden besitzen die altersbedingten Rückbildungsvorgänge des Herz-Kreislauf-Systems. Die nachlassende Förderleistung des Herzens, ein unökonomischer Anstieg des Sauerstoffverbrauchs unter Belastung, ein verlangsamtes Ablaufen von Kreislaufreflexen mit erschwerter Blutdruckanpassung bei Bedarfsänderungen treten auf. Die hierdurch bedingte durchschnittliche Leistungsabnahme schätzt man - setzt man sie im Alter von 30 Jahren als 100% fest - auf jährlich rund 1%. Ein 80jähriger würde demnach nur noch über die Hälfte der Leistungsbreite verfugen, die er als 30jähriger hatte. - Aber die Leistungsbreiten innerhalb 30jähriger oder 80jähriger Kollektive können interindividuell erheblich voneinander abweichen. Diese Rückbildungsvorgänge können durch körperliches Training bis ins höhere Lebensalter zum Teil positiv beeinflußt werden, haben aber - spät begonnen - einen immer geringer ökonomisierenden Effekt. Von den altersbedingten Änderungen der Lungenfunktion kennt man nur die für den Gasaustausch relevanten Faktoren sicher. Die Lungenelastizität nimmt ab, der Brustkorb dagegen an Starre zu, eine verminderte Dehnbarkeit der Atemmuskulatur führt zu funktionellen Einbußen mit negativen Rückwirkungen auf den Gasaustausch. Konsequentes körperliches Training kann sich aber auch hier - insbesondere für die maximale Sauerstoffaufnahmefähigkeit - sehr positiv auswirken. In den Nieren nimmt die Filtrationsfähigkeit ab. Die Entscheidung, ob sie noch normal ist oder schon krankhaft, ist oft nur mit relativ hohem diagnostischen Aufwand zu treffen. Und schon diese normalen Funktionseinschränkungen wirken sich

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R u d o l f - M. Schütz

auf den Wasser- und Salzhaushalt des Körpers aus, so daß z.B. Salzverluste durch Schwitzen, Durchfall oder Erbrechen - unter Umständen schnell - bedrohliche Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System und den Zellstoffwechsel haben können. Solchen potentiellen Gefährdungen muß man deshalb besonderes Augenmerk widmen: Ein alter Mensch muß genügend Flüssigkeit - nämlich wenigstens 1,5 - 2 1 pro Tag - zu sich nehmen. Die sich mit dem Alter wandelnde Eiweißsynthese des Körpers führt am Skelettsystem und Bindegewebsapparat zu vielfachen leistungsmindernden Veränderungen - nennen will ich Osteoporose, eine Elastizitätsabnahme des Bindegewebes in Gelenken, Bändern und Sehnen - . Ohne angemessene körperliche Belastung nimmt die Muskelmasse des menschlichen Körpers bis zum 75. Lebensjahr um etwa 30% ab, d.h. die Voraussetzung für Trainierbarkeit und körperliche Leistungsfähigkeit verschlechtern sich. Negative Rückwirkungen auf die nervalmotorische Gesamtregulation und die Funktion des zentralen Nervensystems sind die Folge. Sofern dann aber keine Gegenindikationen von Seiten des Herz-Kreislauf-Systems bestehen, können sowohl Ausdauer- als auch Krafttraining sich noch positiv auswirken. Die Funktionalität des Zentralnervensystems hängt aber mehr von seinem Trainingszustand und der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit ab, weniger aber von seinen morphologischen Rückbildungsvorgängen. Dagegen zeigt die Immunabwehr altersbedingte Funktionseinbußen, die in Verbindung mit den anderen Funktionsrückbildungen den älteren Menschen zunehmend anfallig für Störungen und speziell Infektionen werden lassen. Alle geschilderten Funktionseinschränkungen können über das Alter hin klinisch stumm bleiben. Treten aber akute Erkrankungen auf, wirken sie sich zusätzlich negativ aus: Krankheitsbedingte Dekompensation in einem Funktionskreis kann dann solche auch in anderen Bereichen induzieren, eine der Ursachen für die im höheren Alter besonders oft zu beobachtende Multimorbidität. Insgesamt kann man sagen, daß sich auch der gesunde ältere Patient wegen dieser fortschreitenden Funktionsminderungen und der nachlassenden Anpassungsgeschwindigkeit stets in einem quasi labilen Gesundheitszustand befindet, der bestimmt ist von seiner biologischen Grundausstattung sowie einem Wechselspiel zwischen medizinisch-objektiven und psychosozial -subjektiv erlebten Fakten. Was kann man tun, um der sich zunehmend einschränkenden Adaptation - die ja normal ist und damit Gesundheit bedeutet - entgegenzuwirken? Hier muß die Geroprophylaxe greifen, die ein Teil der heute in der Medizin zu Recht immer nachdrücklicher geforderten Prävention ist. Anzustreben ist bevorzugt ein verbessertes Leistungsvermögen des Herz-Kreislauf-Systems, weil dieses die Voraussetzung für den Erhalt oder die Verbesserung körperlicher Aktivitäten schafft. Allerdings muß ein solches Training andauernd und mit bestimmten Mindestanforderungen laufen. Es muß den großen Teil der Skelettmuskulatur in die Übung einbeziehen, die erbrachten Leistungen sollten mehr als 3 Minuten erbracht

Altem und Gesundheit

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werden und ihre Intensität mindestens 50% des jeweils maximal Möglichen erreichen. Prävention bedeutet gleichzeitig aber auch, daß durch Behandlung von Krankheiten deren Chronischwerden oder das Auftreten möglicher Defekte verhindert werden. Aber selbst bei bereits vorhandenen Störungen kann die sogenannte Tertiärprävention auch noch im Alter sinnvoll greifen. Schließlich muß man beim älteren Menschen zwischen einem objektiven und einem subjektiven Gesundheitszustand unterscheiden. Neben dem objektiven, befundorientierten Zugang des Arztes ist die subjektive Einschätzung der eigenen Situation durch den alten Menschen von überragender Bedeutung. Diese Einschätzung ist als subjektive Bilanz aller Wahrnehmungen der eigenen Person zu verstehen, deshalb können z.B. Krankheitsentwicklungen subjektiv eher wahrgenommen werden, als daß sie sich objektiv nachweisen lassen. Diese subjektive Gesundheitseinschätzung ist gleichermaßen Zeichen der subjektiven Toleranz gegenüber Störungen verschiedener Art als auch bereits Teil der psychischen Bearbeitung der Situation. Deshalb erfahren identische Störungen oder Behinderungen oft eine sehr unterschiedlich Deutung: z.B. werden Sehstörungen von älteren Menschen, die bevorzugt lesen, viel störender empfunden als von solchen, die körperlich aktiv sind. Gerade aber diese psychischen Faktoren wirken sich sehr stark auf das Gesundheits- bzw. Krankheits - und Hilfesucheverhalten aus: Die wesentliche Entscheidung, im Zweifelsfall einen Arzt aufzusuchen, d.h. sich für behandlungsbedürftig einzuschätzen oder nicht, wird im medizinischen Laiensystem gefällt. Eine bedeutende Rolle nicht nur für den subjektiven Gesundheitszustand, sondern auch für ein psychosoziales Wohlbefinden spielt die Freizeitgestaltung im Alter, da das Wechselspiel zwischen Beschäftigung und Erholung zum physiologischen Lebensablauf gehört und auch in höheren Jahren fortgeführt werden sollte. Altem in Gesundheit wird schließlich wesentlich mitbestimmt von der psychischen Entwicklung im Alter. Das in der psychologischen Aiternstheorie lange Jahre dominierende sogenannte Defizitmodell - man glaubte, daß der Mensch im Alter zwangsläufig in eine Phase der Rückbildung und des allgemeinen Verfalls eintrete ist durch die neuropsychologische Forschung widerlegt: Längsschnittuntersuchungen bestätigen, daß bei vielen Menschen über ihr Leben hin zahlreiche psychische und kognitive Funktionen eine hohe Konstanz erkennen lassen und daß Veränderungen der Leistungsfähigkeit und der Persönlichkeit keineswegs immer in eine negative Richtung weisen müssen. Und auch die Annahme, daß Interventionen noch bei älteren Menschen sich durchaus fruchtbringend auswirken können, ist durch diese Ergebnisse bestätigt worden. Sie basieren auf Forschungen zur Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit durch gezielte Interventionsmaßnahmen,

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Rudolf - M. Schütz

über die individuelle Kompetenz, verstanden als Fähigkeit zu selbständiger Lebensführung und Problemlösung im Alter sowie über die Möglichkeiten, daß die Persönlichkeit auch im Alter durch jeweils sich ändernde situative Anforderungen noch zu einer Entwicklung angestoßen werden kann.

Zusammenfassend stelle ich fest, daß ein Mensch so alt und so gesund ist wie seine Adaptationsfähigkeit, d.h. sein Anpassungsvermögen und seine Anpassungsgeschwindigkeit an eine jeweils gegebene oder sich ändernde Situation. Diese Fähigkeiten sind biologisch wie psychisch zum Teil mitgegeben und werden schon sehr früh geprägt. Entgegen älterer Auffassung ist festzuhalten, daß Prävention und Geroprophylaxe in dem hier beschriebenen Sinne einschließlich von Schulung und Nutzung psychosozialer Faktoren sinnvoll sind und den besten Weg darstellen, die Aussichten auf Gesundheit auch bei langem Leben zu verbessern. Dennoch befindet sich auch der gesunde Hochbetagte in einem labilen Gesundheitszustand. Die Auffassung, der Fortschritt der Medizin würde die Erkrankungsgefahr auf den letzten Lebensabschnitt zurückdrängen oder sie gar nicht mehr erleben lassen, ist deswegen stark zu relativieren, weil mit zunehmendem Alter eine Änderung im Spektrum der Krankheiten eintritt und zudem das Lebensende prospektiv selten im voraus festzustellen ist. Altern an sich ist also kein Grund zur Verzweiflung. Andererseits gibt es aber auch keine Garantie, wie man sicher gesund alt werden kann.

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Altem und Gesundheit

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Verteilung und Verteilungspolitik im Gesundheitswesen1 von Jürgen Wasem

I.

Einführung

Fragen der Verteilung und Verteilungspolitik sind in den letzten Jahren in der bundesdeutschen Gesundheitspolitik vor dem Hintergrund der Allokations- und Finanzierungsprobleme etwas in den Hintergrund getreten, wie sie überhaupt im Vergleich zu anderen Ländern (etwa: Großbritannien) in Deutschland traditionell eine eher nachrangige Rolle spielen. Die meisten Entscheidungen über „Gesundheitsreformen" oder andere gesundheitspolitische Maßnahmen beeinflussen aber direkt oder indirekt auch die Verteilungslagen im Gesundheitswesen. In der „Verteilungsdebatte" zum Gesundheitswesen lassen sich zumeist zwei unterschiedliche Diskussionsstränge unterscheiden (vgl. etwa Gäfgen 1989): Einerseits müssen die Ressourcen, die im Gesundheitswesen über den Sozialstaat zur Verfügung gestellt werden, „gerecht" eingesetzt und verteilt werden; die hiermit zusammen hängenden theoretischen Probleme sowie empirischen Ergebnisse werden in Abschnitt II des vorliegenden Beitrags thematisiert. Auf der anderen Seite müssen die durch die sozialstaatliche Bereitstellung von Gesundheitsleistungen entstehenden Lasten der Finanzierung „gerecht" verteilt werden, worauf wir in Abschnitt III in konzeptioneller und empirischer Absicht eingehen. Der Beitrag schließt mit einer Skizze künftiger verteilungspolitischer Herausforderungen im bundesdeutschen Gesundheitswesen (Abschn. IV).

II.

Verteilungsproblematik sozialstaatlicher Gesundheitsleistungen

Die Gesundheitszustände in der Bevölkerung und die Möglichkeiten, von Gesundheitsleistungen mit der Wirkung einer Verbesserung der Gesundheitszustände zu profitieren, sind sehr ungleich verteilt. Die Gesundheitspolitik muß in diesem Zu1 Referat gehalten auf der Tagung „Perspektiven einer sozialstaatlichen Umverteilung im Gesundheitswese" am 14. November 1997. Den Teilnehmern sei fiir kritische Diskussionsbeiträge zu der dort vorgetragenen Fassung des Papieres gedankt.

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Jürgen Wasem

sammenhang entscheiden, ob, in welchem Umfang und auf welche Weise Gerechtigkeit bei der Verteilung der sozialstaatlichen Gesundheitsleistungen angestrebt und umgesetzt werden soll. Im folgenden wollen wir zunächst (in Abschn. 1) auf allgemeine Verteilungsprinzipien, die der Verteilung von Gesundheitsleistungen zugrunde gelegt werden könnten, eingehen. Anschließend werden wir auf spezielle Verteilungsprinzipien für das Gesundheitswesen eingehen (Abschn. 2). Hierbei werden wir auch die Frage des Spannungsverhältnisses zwischen Gleichheit und Effizienz zu diskutieren (Abschn. 3) und uns mit der Frage der Notwendigkeit einer zur schwachen Rationierung bei der Zur-Verfügung-Stellung sozialstaatlich finanzierter Gesundheitsleistungen zu beschäftigen haben (Abschn. 4). Hieraus folgt, daß Kriterien für den Zuschnitt eines sozialstaatlich finanzierten Kataloges von Gesundheitsleistungen zu entwickeln sind (Abschn. 5). Schließlich wollen wir auf empirische Beobachtungen zur Verteilungslage sozialstaatlich finanzierter Gesundheitsleistungen in der Bundesrepublik Deutschland eingehen (Abschn. 6). 1. Allgemeine

Verteilungsprinzipien

In vielen gesellschaftlichen Bereichen, in denen sich Verteilungsprobleme stellen, stehen prinzipiell zwei unterschiedliche Verteilungsprinzipien zur Auswahl: das Leistungsprinzip oder das Bedarfsprinzip. Nach dem Leistungsprinzip soll deijenige viel erhalten, der viel leistet. In den meisten Fällen wird Leistung in Form von Erfolg gemessen, es kommt zu einer Erfolgsentlohnung. Im Gesundheitswesen wird das Leistungsprinzip zum Beispiel bei der Lohnfortzahlung und bei der Zahlung von Kranken(tage)geld angewandt: Derjenige, der aufgrund seiner höheren Leistung mehr verdient - und mehr in die Krankenversicherung einzahlt - , erhält im Krankheitsfall höhere Zahlungen. Zu Beginn des deutschen Krankenversicherungssystems waren diese Krankengeldzahlungen das zentrale Element der Krankenversicherung und somit das Leistungsprinzip von entscheidender Bedeutung. Heute hat sich das Leistungsspektrum deutlich hin zu den (medizinischen) Sach- und Dienstleistungen verschoben, die 1996 in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) rd. 91% aller Leistungsausgaben ausmachen. 2 Auch bei den Sachleistungen ist eine Verteilung nach dem Leistungsprinzip theoretisch denkbar: Die durch eine Gesundheitsleistung gewonnen Lebensjahre würden hierbei mit dem jeweils zu erwartenden volkswirtschaftlichen Gewinn gewichtet. Durch Maximierung der in dieser Weise gewichteten gewonnenen Lebensjahre über die Gesamtheit der Versicherten ergibt sich eine Allokation der Ressourcen und eine Distribution der Gesundheitsleistungen nach dem Leistungsprinzip (Humankapitalansatz der Ressourcenallokation im Gesundheitswesen): Wer keine für die Volkswirtschaft nützlichen Leistungen erbringt, würde keinen Zugang zu sozialstaatlich finanzierten Gesundheitsleistungen erhalten. 2

Vgl. BMG, Gesetzliche Krankenversicherung. Rechnungsergebnisse 1996/1995. Juli 1997.

Verteilung und Verteilungspolitik im Gesundheitswesen

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Es besteht in den westlichen Industriegesellschaften ein breiter ethischer Konsens, daß die medizinischen Leistungen nicht nach dem Leistungsprinzip verteilt werden sollten. Die heute bei der Verteilung oft verwendeten Gerechtigkeitskriterien lassen sich aber aus der häufigen Anwendung des Leistungsprinzips in vielen anderen gesellschaftliche Bereichen ableiten: Leistung baut auf Fähigkeiten und deren Anwendung auf. Gleiche Startbedingungen, d.h. gleiche Fähigkeiten sind bei Anwendung des Leistungsprinzips ein Gebot der Fairneß. Auch Gesundheit stellt eine solche „Fähigkeit" dar, Gesundheit ist für das Erzielen von Erfolgen oft notwendige Voraussetzung. Die Gleichheit der Ausgangsbedingungen stellt im Falle der Gesundheit ein Ideal dar, das nicht zu verwirklichen ist. Bei der Verteilung von Gesundheitsleistungen kann dieses Ideal aber als anzustrebendes Ziel ein Kriterium für Verteilungsgerechtigkeit darstellen. Das Bedarfsprinzip orientiert sich nicht an der individuellen Leistung sondern an der individuellen Bedürftigkeit. Dieses Prinzip wird bei der Verteilung von Gesundheitsgütern sehr häufig angewandt, oft in Kombination mit einer Finanzierung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip, eine Kombination, die als Solidarprinzip bezeichnet wird. Das Endziel stellt die Gleichheit an Wohlfahrt dar. Welche Möglichkeiten es gibt, diese Form von Verteilungsgerechtigkeit zu verwirklichen, wird im nächsten Abschnitt thematisiert. 2. Spezielle

Verteilungsprinzipien

im

Gesundheitswesen

Geht man davon aus, daß das Leistungsprinzip kein adäquates Kriterium zur Verteilung der Gesundheitsleistungen darstellt und daß deren gerechte Verteilung eine Aufgabe der Gesellschaft darstellt, so gibt es immer noch eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie eine solche „gerechte Verteilung" aussehen kann: ... Gerechtigkeit existiert, wie Schönheit, nur in der Vorstellung des Betrachters... (...equity, like beauty, is in the mind of the beholder...) lautet ein in diesem Zusammenhang oft gebrauchtes Zitat von McLachlan / Maynard (1982). Im folgenden sind einige Möglichkeiten aufgeführt (Culyer / Wagstaff (1992)): Verteilung nach Bedarf: Dieses Verteilungskriterium wird sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der politischen Literatur oft angeführt. Aufgrund der Mehrdeutigkeit des Begriffes „Bedarf' kann dieses Verteilungskriterium durchaus unterschiedlich verstanden werden. Eine genauere Bestimmung dieses Begriffs ist notwendig. Bedarf kann bemessen werden nach dem ursprünglichen Gesundheitszustand (vor der Verteilung von Gesundheitsleistungen). Werden Gesundheitsleistungen nach diesem Kriterium verteilt, ergibt sich ein Verteilungsproblem, bei Kranken für deren Heilung keine Therapie existiert. Aufgrund des schlechten Gesundheitszustandes ist ein hoher Bedarf gegeben, der Kranke hat ein Recht auf die Zuteilung

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Jürgen Wasem

eines hohen Maßes an Gesundheitsgütern, ohne daß deren Zuteilung in sinnvoller Weise erfolgen kann. Daß hier ein schwieriges Problem vorliegt, zeigt die große Anzahl von Gerichtsprozessen, die zu der Frage geführt wird, welche Leistungsansprüche Versicherte bei Krankheiten haben, für die die Medizin bislang keine Therapien anbieten kann. Bedarf kann auch den Abstand zwischen ursprünglichem Gesundheitszustand und optimalem medizinisch erreichbarem Zustand bedeuten. Bei dieser Bedarfsdefinition fehlt jegliche Relation von Aufwand und Ertrag. Geht man von zwei Fällen mit gleichem Bedarf aus, und werden im einen Fall Gesundheitsverbesserungen mit großem Aufwand erzielt, während im anderen Fall das gleiche Maß an Gesundheitsverbesserung mit einem Bruchteil an Aufwand erreicht wird, gehen beide Maßnahmen trotzdem mit gleicher Priorität in die Verteilung ein. Diese Auffassung von Bedarf kommt der traditionellen medizinischen Ethik recht nahe. Bedarf kann weiterhin als diejenigen Ausgaben angesehen werden, die zum Erreichen des optimalen medizinisch erreichbaren Zustandes notwendig sind. Diese Definition löst das in der vorausgehenden Definition auftretende Problem: Ein Durchbruch in der Entwicklung einer deutlich kostengünstigeren Medizintechnologie verändert den Unterschied zwischen dem Zustand eines Kranken und seinem medizinisch erreichbaren Optimalzustand nicht, wohl aber das Ausmaß der notwendigen Ausgaben, um diesen Zustand zu erreichen. Je nach Definition ergibt sich eine Veränderung des Bedarfs oder nicht, mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Menge an Gesundheitsleistungen, die an den Patienten verteilt wird. Schließlich besteht die Möglichkeit, Bedarf als diejenige Menge an Gesundheitsversorgung zu definieren, die notwendig ist, um ein für alle gleiches - und festzulegendes - Maß an Gesundheit zu erreichen. Bei allen vorgestellten Definitionen stellt sich die Frage, inwieweit präventive Maßnahmen für Gesunde einbezogen werden können in eine Verteilung nach Bedarf: Die Definitionen zielen zunächst nur auf bereits stattgefundene gesundheitliche Beeinträchtigungen, nicht aber auf die Vermeidung ihres Eintritts. Gleichheit des Zugangs zu Gesundheitsleistungen: Auch dieses Verteilungskriterium wird in der Diskussion im Gesundheitswesen häufig verwendet. Bei diesem Verteilungskriterium gibt es wieder unterschiedliche Auffassungen. Zunächst stellt sich die Frage, ob der Zugang generell zu allen Gesundheitsleistungen oder nur zu den Leistungen einer festgelegten Grundversorgung angeglichen werden soll. Außerdem bedarf der Begriff „Zugang" einer genaueren Definition. Teilweise wird Zugang aufgrund der einfachen Operationalisierbarkeit mit dem Begriff Inanspruchnahme gleichgesetzt. Ein solches Verständnis fuhrt dazu, daß der Zugang zu einer speziellen Gesundheitsleistung für einen Patienten, der in unmittelbarer Nähe des Leistungserbringers lebt und für einen Patienten, der eine Anreise von mehreren Stunden sowie Transportkosten auf sich nehmen mußte, sobald sie im

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Wartezimmer sitzen, gleich ist. Zugang kann auch in Form von Kosten und Zeitaufwand, die dem Patienten durch die Inanspruchnahme entstehen (vgl. dazu etwa Acton 1985), gemessen werden. Bei dieser Auffassung von Zugang können fragwürdige Fälle auftreten: Eine Person ohne jegliches Einkommen und eine Person mit gutem Einkommen haben gleichen Zugang zu einer Gesundheitsleistung, unabhängig von deren Preis - solange für beide Personen der gleiche Preis gilt und der gleiche Zeitaufwand notwendig ist. Man kann Zugang auch als maximal erreichbaren Verbrauch definieren. Dieses Konzept von Zugang ist dasjenige, das dem normalen Verständnis des Begriffs am nächsten kommt. Haben zwei Personen in diesem Sinne gleichen Zugang zu einem Gesundheitsgut, so bedeutet dies, daß sie unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Rahmenbedingungen (Einkommen, Zeit, Mobilität...) die gleiche maximale Menge an Gesundheitsleistungen konsumieren könnten. Zugang kann auch durch den Verzicht auf Gebrauch eines Gesundheitsgutes gemessen werden - genaugenommen wird die Zugangsbeschränkung gemessen. Dabei wird berücksichtigt, daß z.B. bei einer Beteiligung der Patienten an den Kosten der Gesundheitsleistungen in einem Haushalt mit geringerem Einkommen früher auf die Inanspruchnahme eines Gesundheitsgutes verzichtet wird, als in einem Haushalt mit höherem Einkommen. Um die Gleichheit des Zuganges in diesem Sinne zu gewährleisten müßte der Preis für die Mitglieder des Haushaltes mit geringerem Einkommen soweit herabgesetzt werden, daß das Produkt aus marginalem Nutzen des Einkommens und Preis der Gesundheitsleistung für beide Haushalte gleich ist. (Dieser Ausgleich des Zugangs müßte genaugenommen natürlich auch für die nicht-monetären Zugangskosten wie Zeit, Entfernung usw. erfolgen) Typische Zugangsbarrieren - je nach dem, wie Zugang definiert wurde - sind neben Kosten und Zeitaufwand z.B. fehlende persönliche Beziehungen, Hemmnisse bei der Kontaktaufnahme mit Arzt oder Krankenhaus oder mangelnde Kenntnisse über Symptome und Konsequenzen von Krankheiten. Gleichheit von Gesundheit: Die Gewährleistung gleicher Gesundheitszustände wirft zunächst die Frage nach Definition und Meßbarkeit von Gesundheit auf. Darauf kann an dieser Stelle ebensowenig eingegangen werden, wie auf ein ganzes Bündel vor allen Dingen sozioökonomischer Rahmenbedingungen, welche den Gesundheitszustand entscheidend beeinflussen. Dazu zählen Einkommen, Wohnverhältnisse, Freizeitaktivitäten, aber auch Umweltfaktoren. Deren Einfluß ist teilweise wesentlich stärker als der des Gesundheitssystems, womit dieses Verteilungskriterium weit über das Gesundheitswesen hinausgeht: Die Gesundheitspolitik alleine kann versuchen, Verteilung nach Bedarf oder Gleichheit des Zugangs zu Gesundheitsleistungen zu gewährleisten, Gleichheit von Gesundheitszuständen zu erreichen, bedürfte einer sektorübergreifenden staatlichen Politik. Die Aufgliederung dieser unterschiedlichen Formen von Verteilungsgerechtigkeit

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und die unterschiedlichen Begriffsdefinitionen von „Zugang" und „Bedarf' sollen nicht Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen ad absurdum fuhren. Auch soll an dieser Stelle keine Entscheidung getroffen werden, welches das „richtige" oder das beste Verteilungskriterium darstellt. Vielmehr soll aufgezeigt werden, daß diese Kriterien deutlich unterschiedliche Konsequenzen mit sich bringen können. Bei der Diskussion von Zielen in der Gesundheitspolitik ist es von entscheidender Bedeutung, die unterschiedlichen Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit und ihre Konsequenzen vor Augen zu haben. 3. Das Spannungsverhältnis

zwischen Gerechtigkeit

und Effizienz

Im Rahmen der oben angesprochenen Orientierung am Bedarf als denjenigen Ausgaben, die zum Erreichen des optimalen medizinisch erreichbaren Zustandes notwendig sind, ist bereits deutlich geworden, daß neben Aspekte der Gleichheit und Gerechtigkeit auch Aspekte der Effizienz bei der Verteilung der Gesundheitsleistungen treten können. In den letzten 10 Jahren ist sowohl in der Gesundheitsökonomie als auch in der Medizin ein stark an Fragen der Effizienz orientiertes, eine Maximierung der gesamtgesellschaftlichen Gesundheit beabsichtigendes, verteilungspolitisches Zielsystem intensiv diskutiert worden - und zwar im Zusammenhang mit der Konstruktion sogenannter „QALY League-tables". 3 Angelegt ist dieses verteilungspolitische Zielsystem in der oben angesprochenen am Bedarf als denjenigen Ausgaben, die zum Erreichen des optimalen medizinisch erreichbaren Zustandes notwendig sind. Bei den QALYs (quality adjusted life years; qualitäts-adjustierte Lebensjahre) handelt es sich um ein Konstrukt, mit dem der Gewinn an Lebensjahren, die durch medizinische Maßnahmen erzielt werden, mit der Lebensqualität, in denen diese Lebensjahre verbracht werden, gewichtet wird. Zur Messung der Lebensqualität wird eine Skala mit Werten zwischen 0 (tot) und 1 (volle Gesundheit) benutzt, die auf unterschiedliche Weise generiert wird (vgl. dazu Kaplan 1995). Wird nun jede denkbare Gesundheitsleistung mit den durch sie in einer Gesellschaft erzielbaren QALYs bewertet und anschließend die gewonnen QALYs aufsummiert und die Summe maximiert unter der Nebenbedingung ein vorgegebenes Budget einzuhalten, ergibt sich, daß die sozialstaatlich finanzierten Gesundheitsausgaben in erster Linie für vergleichsweise kosten-effektive Leistungen aufgewendet werden. So wird der Gesundheitsgewinn und zugleich der Gesundheitszustand der Versichertengemeinschaft bzw. Gesellschaft maximiert. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ergibt sich eine durchaus sinnvolle Lösung des Allokations- und Verteilungsproblems im Gesundheitswesen. Dieser Ansatz enthält auch Elemente von Gleichbehandlung in Bezug auf die Verteilung von Gesundheitsgütern. So hat ein zusätzliches Lebensjahr bei voller 3

Vgl. Williams (1985), Weinstein (1995); kritisch etwa: Gerard/ Mooney (1993).

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Gesundheit immer das gleiche Gewicht - unabhängig vom Leistungsempfanger, dessen Einkommen und dessen Zahlungsbereitschaft. Gerechtigkeitsaspekte wie Bedarf oder Gleichheit beim Zugang zu Gesundheitsleistungen gehen nicht unmittelbar in diese Verteilungsentscheidungen ein: die Situation des Individuums wird nicht berücksichtigt, nur der gesamtwirtschaftliche Gewinn bzw., da von einem vorgegebenen Budget ausgegangen wird, die gesamtwirtschaftliche Effizienz. Das bedeutet, daß effiziente Verwerter von Gesundheitsleistungen, unabhängig von ihrem Bedarf, Gewinner bei diesem Verteilungskriterium sind. Anhänger eines solchen Vorgehens argumentieren, daß es zulässig ist, das Ausmaß, von Gesundheitsleistungen profitieren zu können, als Verteilungskriterium zu verwenden (etwa: Williams 1985). Der beschriebene Ansatz geht über das - in der volkswirtschaftlichen verteilungspolitischen Diskussion häufig diskutierte - Pareto-Prinzip hinaus, bei dem eine Verbesserung nur dann eintritt, wenn die Verhältnisse für alle Individuen gleichbleiben und mindestens für ein Individuum eine Verbesserung eintritt. Durch die Anwendung des QALY-Konzeptes werden Situationen vergleichbar, die mit dem Paretoprinzip nicht vergleichbar waren. Gerechtigkeit und Effizienz sind in vielen Bereichen des Gesundheitswesens nur mit Abstrichen miteinander vereinbar. Das Beispiel eines Selbstbehaltes, einer Beteiligung des Versicherten an den Kosten von bestimmten Gesundheitsleistungen soll dies noch einmal verdeutlichen. Ein Selbstbehalt wird eingeführt, u.a. um eine übertriebene Inanspruchnahme von bestimmten Gesundheitsleistungen einzudämmen, und damit moral hazard zu verhindern (vgl. etwa von der Schulenburg 1987). Je höher die Selbstbeteiligung ausfallt, desto stärker ist die gewünschte Steuerungswirkung, desto stärker wird aber gleichzeitig der gleiche Zugang aller zu diesen Gesundheitsleistungen eingeschränkt (Zugang als maximal erreichbarer Verbrauch oder gemessen durch den Verzicht auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsgütem). Auch die Einführung einer Härtefallregelung löst diese Spannung nicht, da sie zwar den gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen wieder verbessert, aber die Steuerungswirkung des Selbstbehaltes schwächt. Gerechtigkeit bei der Verteilung von Gesundheitsleistungen kann oft nur mit einem Opfer an Effizienz „erkauft" werden. 4. Die Notwendigkeit

einer,, schwachen " Rationierung

Da der Bedarf an Gesundheitsleistungen die Ressourcen übersteigt, welche die Gesellschaft als Ganzes bereit ist für das Gesundheitswesen aufzubringen, ist es notwendig, den Zugang zumindest zu den von der Solidargemeinschaft finanzierten Gesundheitsleistungen zu beschränken. Dies erfolgt durch Rationierung, d.h. Versicherte erwerben durch Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen einen Anspruch auf Gesundheitsleistungen innerhalb des gesetzlich festgelegten Leistungsumfangs

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der gesetzlichen Krankenversicherung oder der Bürger eines Staates hat Anspruch auf Leistungen, die innerhalb des steuerfinanzierten staatlichen Gesundheitswesens angeboten werden. Es stellt sich die Frage, ob über das gesellschaftlich zur Verfügung gestellte Maß hinaus, beispielsweise auf einem freien Markt, Gesundheitsleistungen nachgefragt werden dürfen. Bleibt Versorgung mit Gesundheitsleistungen außerhalb dieses Rationierungssystems untersagt, so wird dies als „starke Rationierung" bezeichnet (Breyer/ Kliemt 1993). Eine solche starke Rationierung kann durchaus als eine konsequente Auslegung der Verteilungskriterien „Verteilung nach Bedarf', „Gleichheit des Zugangs" - soweit Zugang als maximal möglicher Verbrauch oder als Ausgleich der Grenznutzen interpretiert wird - oder „gleiche Gesundheit für alle" verstanden werden,. In einem demokratischen System ist eine starke Rationierung im Normalfall gesellschaftlich aber nicht vertretbar, da das Grundrecht auf Selbstbestimmung in nicht zumutbarer Weise eingeschränkt würde. Wird, um die Konsequenzen einer starken Rationierung zu vermeiden, die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen außerhalb des Rationierungssystems zugelassen, so wird dies als „schwache Rationierung" bezeichnet. Mit diesem Schritt ändert sich das Verständnis des jeweiligen Verteilungskriteriums: Die Verteilungskriterien „gleicher Zugang" bzw. „Verteilung nach Bedarf' können nur noch auf das von der gesetzlichen Krankenversicherung oder dem staatlichen Gesundheitssystem angebotene Leistungspaket bezogen werden. Eine Verteilung der Leistungen nach dem Verteilungskriterium „gleiche Gesundheit für alle" ist verletzt. Die weiche Rationierung stellt einerseits einen Kompromiß zwischen einer starken Rationierung und einem freien Markt für Gesundheitsleistungen dar, andererseits einen Kompromiß zwischen den Zwangsmaßnahmen der starken Rationierung und einer völligen Selbstbestimmung. Dabei kann schwache Rationierung vielfaltige Formen zwischen diesen Extrempunkten annehmen. 5. Kriterien für den Zuschnitt eines sozialstaatlich finanzierten von Gesundheitsleistungen

Kataloges

Im deutschen Gesundheitswesen ist Rationierung (im Sinne einer „schwachen" Rationierung), zumindest im Bereich der von der Solidargemeinschaft finanzierten Leistungen, nicht mehr eine Frage des „ob" sondern nur noch eine Frage des „wie". In den letzten Jahren haben die Rationierungstendenzen zugenommen, wie die einnahmenorientierte Ausgabenpolitik und damit verbundene zunehmende Einschränkungen des Leistungspakets der gesetzlichen Krankenversicherung zeigen. In anderen Ländern hat man sich teilweise bereits explizit mit der Frage nach Kriterien für Rationierungsentscheidungen befaßt. Dies sei knapp am Beispiel des US-Staates Oregon (vgl. dazu Ganiats/ Kaplan 1996) und der Diskussion in den Niederlanden (Government Commission on Choices in Health Care) skizziert: Im US-Staat Oregon wurden 1987 verschiedene Transplantationen bei Kindern

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aus dem Leistungskatalog von Medicaid, einer Art staatlich finanzierter Krankenversicherung für die arme Bevölkerungsschicht, herausgenommen, um Früherkennungsuntersuchungen für schwangere Frauen und Kinder zu finanzieren. Der Tod eines Kindes, dem eine notwendige Knochenmarkstransplantation verweigert wurde, hat die Verantwortlichen veranlaßt, aus Stellungnahmen von Experten und aus der Bevölkerung eine Prioritätenliste von Gesundheitsleistungen zu erstellen, um die Rationierung wissenschaftlich zu fundieren. Bei der Aufstellung dieser Prioritätenliste spielte die Abwägung von Kosten und Nutzen eine entscheidende Rolle, der Nutzen wurde in den durch die jeweilige Gesundheitsleistung gewonnen QALYs (siehe dazu oben Abschn. 3) gemessen. 1990 wurde die Liste von etwa 1600 Gesundheitsleistungen vorgestellt und stieß auf herbe Kritik. Daraufhin wurde der Bezug zu den Kosten fallen gelassen; seitdem stellt alleine die medizinische Dringlichkeit, ausgedrückt in einer Rangliste von 17 sogenannten Behandlungskategorien, das Entscheidungskriterium dar - beispielhaft steht hier an erster Stelle dieser Behandlungskategorien die „Behandlung bei akut-lebensbedrohenden Konditionen, wenn ... der frühere Gesundheitszustand vollständig wiederhergestellt werden kann". In den Niederlanden wurde 1990 mit dem Bericht „choices of health care" von vornherein auf eine konkrete Prioritätenliste von Behandlungen verzichtet. Es wurde ein Verfahren entwickelt, bei dem in vier Schritten Gesundheitsleistungen beurteilt werden. Zunächst wird die Notwendigkeit der untersuchten Gesundheitsleistung beurteilt, in weiteren Schritten wird der Nachweis von Effektivität, die Effizienz und schließlich die Möglichkeit geprüft, ob die Leistung der individuellen Verantwortung überlassen werden kann. Weiterhin finanziert werden sollen in diesem Konzept nur Leistungen, die allen vier Beurteilungen standhalten können. Bislang sind allerdings aus diesem Konzept kaum praktische Konsequenzen gezogen worden. Für die Bundesrepublik hat sich der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen verschiedentlich mit der Frage nach den Kriterien für die Aufstellung des Kataloges sozialstaatlich finanzierter Gesundheitsleistungen befaßt (Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen 1994). Die bundesdeutsche Gesundheitspolitik ist jedoch (ebenso wie die Krankenkassen) unter dem Slogan „Rationalisierung vor Rationierung" (Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen 1994) einer expliziten Rationierungsdiskussion bislang ausgewichen.

6. Empirische Ergebnisse zur Verteilungslage sozialstaatlicher Gesundheitsleistungen in der Bundesrepublik Deutschland Anders als etwa in Großbritannien ist die Verteilungslage sozialstaatlicher Gesundheitsleistungen in der Bundesrepublik gesundheitspolitisch wenig thematisiert.

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Symptomatisch dafür ist etwa, daß dem Verteilungsaspekt in dem Auftrag des seinerzeit zuständigen Bundesministeriums für Jugend, Familien, Frauen und Gesundheit an die Projektgruppe „Prioritäre Gesundheitsziele" keine Bedeutung zugemessen wurde (Weber u.a. 1990, S. 45ff.). Der Zugang zu den Gesundheitsleistungen wird in Deutschland in erster Linie über die GKV organisiert, in der knapp 90% der Bevölkerung versichert sind und die die Aufgabe hat, „die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern" (§ 1 SGB V). Formal sind zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme der über die GKV vermittelte Leistungen und Einrichtungen der gesundheitlichen Versorgung die monetären Zugangskosten für alle Versicherten gleich; präziser formuliert bestehen für bestimmte einkommensschwache Versicherte geringere monetäre Zugangskosten, da sie von Zuzahlungen befreit sind. Inwieweit dennoch faktische nicht-monetäre Zugangsunterschiede sowie Bedarfs- und Gesundheitszustandsunterschiede bestehen, ist wenig von gesundheitspolitischem Interesse. Entsprechend ist auch das empirische Wissen über Verteilungslagen von Gesundheit und Gesundheitsleistungen in Deutschland vergleichsweise dünn. Es kann allerdings als gesichert gelten, daß schichtenspezifische Differenzierungen gesundheitlicher Belastungen und Lebenserwartungen vorliegen (Abel/ Wysong 1991; Mielck 1994). Vor dem Hintergrund der Vermittlung des Zuganges zu den Gesundheitsleistungen durch das Krankenversicherungssystem erscheint besonders interessant, daß die Lebenserwartung auch signifikant nach der Art des Krankenversicherungsschutzes differenziert: Sie ist bei privat Rrankenversicherten höher als bei Versicherten von Ersatzkassen; bei Versicherten der Ortskrankenkassen ist sie am niedrigsten (Dinkel/ Görtier 1994). Dies dürfte weniger (wenngleich auch ein partieller Einfluß dieses Effektes nicht auszuschließen ist) Ausdruck ungleicher Qualität der gesundheitlichen Behandlung sein als vielmehr die mit dem Krankenversicherungsschutz korrelierenden sozialen Schichtungsvariablen (und damit zentrale Gesundheits-relevante Größen außerhalb des Gesundheitssystems) widerspiegeln. Jedenfalls ist der für die GKV geltende „formal gleiche Zugang" aller Versicherten zu den Leistungen des Gesundheitssystems offenbar nicht in der Lage, „gleiche Gesundheit" zu bewirken. Über die theoretisch gut isolierbaren Einflußgrößen von sozialer Schichtung auf Gesundheit (vgl. etwa Elkeles/ Mielck 1993) ist im einzelnen empirisch zur Situation in der Bundesrepublik oftmals wenig bekannt.

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III.

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Finanzierung sozialstaatlicher Gesundheitsleistungen

1. Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als Kriterium für die Finanzierung sozialstaatlicher Gesundheitsleistungen ? Lange Zeit bestand in Europa Konsens darüber, daß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ein zentrales Kriterium für die Finanzierung von Gesundheitsleistungen sein soll. In vielen Ländern war - und ist - das Gesundheitswesen nach dem Solidarprinzip organisiert (Chinitz/ Preker/ Wasem 1998). In der gesundheitsökonomischen Diskussion wird verstärkt eine Trennung von Distribution und Allokation gefordert, um mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen einzuführen. Dabei soll die Distribution durch das Steuersystem übernommen werden (Kronberger Kreis 1987; Henke 1991; Lutz/ Schneider 1997). Das bedeutet, daß die Beitragskalkulation nicht, wie es bei einkommensabhängigen Beiträgen der Fall ist, nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip erfolgt. Vielmehr könnten die Krankenversicherungsbeiträge nach dem versicherungstechnischen Äquivalenzprinzip kalkuliert werden, so daß die Höhe des Beitrags in erster Linie vom zu erwartenden Risiko des Versicherten abhängig ist. Ein solches Modell könnte dann auch auf die parafiskalische Organisationsform des Krankenversicherungsschutzes verzichten und anstelle dessen eine Versicherungspflicht bei privaten Krankenversicherungsunternehmen vorsehen, der ein Kontrahierungszwang seitens der Versicherer gegenübersteht (Henke 1991). Als „mittlerer Weg" zwischen der Kalkulation einkommensabhängiger Beiträge einerseits und versicherungstechnische äquivalenter Beiträge andererseits wird vielfach die Erhebung von für alle Versicherten gleichen Kopfbeiträgen angesehen. Ein solches Modell ist in der Schweiz realisiert. Der Solidarausgleich mit Einkommensschwachen wird hier durch staatliche Subventionen unterstützt, die zum Teil vom Bund und zum Teil vom jeweiligen Kanton finanziert werden (Schneider 1996). Das Ziel, die Möglichkeit für einen Wettbewerb der Finanzierungsträger zu schaffen, kann aber auch durch die Einführung eines Risikostrukturausgleichs erreicht werden (Cassel/ Janßen 1997; National Economic Research Associates 1995). Unter Risikostruktur versteht man die Verteilung von Merkmalen innerhalb einer Versichertengemeinschaft, die einen Einfluß auf die zu erwartenden Krankheitskosten eines Versicherten haben. Die häufigsten Merkmale, die in einem Ausgleichsmechanismus Eingang finden, sind Alter und Geschlecht, es sind aber auch die Anzahl von beitragsfrei mitversicherten Familienangehörigen, falls es solche gibt, oder eine Aufteilung nach Regionen denkbar. Bei manchen Ausgleichsmechanismen wird auch die Einnahmenseite miteinbezogen, wie im bundesdeutschen Risikostrukturausgleich (RSA) das beitragspflichtige Einkommen des Versicherten. Ein Ausgleich von Risikostrukturen schafft in gewisser Weise Gerechtigkeit auf dem Kran-

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kenversicherungsmarkt, indem er einer Risikoselektion auf diesem Markt vorbeugt, d.h. er macht einen Wettbewerb der Versicherer um gute Risiken unter Vernachlässigung der schlechten Risiken durch Ausgleichszahlungen weitgehend uninteressant. Auf diese Weise sorgt ein solcher Ausgleichsmechanismus neben einer höheren Gerechtigkeit für die Versicherten zu einem verstärkten Wettbewerb und damit zu mehr Effizienz (van de Ven u.a. 1996; Wille/ Schneider o.J. [1997]; Jacobs/ Reschke/ Wasem 1998). Es können mit einem solchen Mechanismus in einem System, das nach dem Solidaritätsprinzip arbeitet, gleichzeitig für die Versicherer Anreize geschaffen werden, verstärkt für Effizienz bei der Erbringung von Leistungen zu sorgen. Dazu müssen allerdings auch die entsprechenden Rahmenbedingungen gegeben sein. Neben dem Wettbewerb bei der Finanzierung des Gesundheitswesens sind dazu Möglichkeiten notwendig, Verträge zwischen Versicherer und Leistungserbringer zu gestalten. So kann - zumindest theoretisch - ein Spagat zwischen Gerechtigkeit und Effizienz im Gesundheitswesen gelingen (siehe Abschnitt 3). Der bundesweite, kassenartenübergreifende Risikostrukturausgleich in Deutschland, der mit dem Gesundheitsreformgesetz 1993 eingeführt wurde, ist ein Beispiel für ein solches Vorgehen (Wasem 1993; Schneider 1994). Auch in zahlreichen anderen Ländern, wie der Niederlande, Tschechien, England, der Schweiz sowie (im Umfeld der Finanzierung von Leistungserbringer durch Health Maintenance Organisation) den Vereinigten Staaten bestehen unterschiedliche Formen von Mechanismen zum Ausgleich von Risikostrukturen (National Economic Research Associates 1995). Bei einem Risikostrukturausgleich handelt es sich um die Idee, die Gesamtheit aller Versicherten zu einem Risiko-Pool zusammenzufassen. Denkbar ist aber auch ein Risiko-Pool, der nur die Hoch-Risiko-Gruppen enthält, welche nach Diagnosen festzulegen sind. Dies wirkt wie eine Art Rückversicherung für die Versicherer und verhindert eine Risikoselektion der Versicherer gegenüber Versicherten mit solchen Diagnosen. Ein Hoch-Risiko-Pool kann durch die Gesamtheit der Versicherer aber auch durch Steuern finanziert werden. In den USA finanzieren etwa 25 Staaten Programme für Hoch-Risiko-Gruppen aus öffentlichen Mitteln (Wasem (1995)). Um in einem solchen System Anreize zur Effizienz auch bei der Behandlung von HochRisiko-Versicherten zu schaffen, können von der Diagnose sowie von den üblichen Merkmalen abhängige Erwartungswerte für die Ausgaben als Kriterium für Transferzahlungen zugrunde gelegt werden. Ein solches Verfahren wird in den USA vom Insurance Department of the State of New York erprobt (National Economic Research Associates 1995).

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2.

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Umverteilungseffekte

Im Vergleich zu einer Situation ohne Anwesenheit von Krankenversicherung (oder anderen Formen kollektiver Finanzierung von Gesundheitsleistungen, bei der die Patienten jeweils in voller Höhe im Moment der Inanspruchnahme die Gesundheitsleistungen finanzieren), bewirkt jede Form von Krankenversicherungsschutz Umverteilungen. Bei der Untersuchung von Umverteilungswirkungen, die durch die Finanzierungsseite Steuer- oder krankenversicherungsfinanzierter Gesundheitsleistungen bewirkt werden, ist es notwendig, eine Referenzkategorie als Bezugspunkt zu wählen. Die Effekte einer Umverteilung sind neben dem untersuchten System stark von der Wahl dieser Referenzkategorie abhängig. Referenzkategorien für die Analyse der Verteilungswirkungen eines Krankenversicherungssystems könnten sein: die Verteilungssituation in einem rein marktwirtschaftlich organisierten Gesundheitssystem ohne Krankenversicherung, die Verteilungssituation in einem System mit Pflichtversicherung auf der Grundlage von risikoäquivalenten Beiträgen, die Verteilungssituation in einem System mit Pflichtversicherung und Beiträgen in Form von Kopfpauschalen oder die Verteilungssituation in einem steuerfinanzierten System. Wird ein Krankenversicherungssystem neu eingeführt, bietet sich auch der Vergleich mit der Situation vor seiner Einführung als Referenzmaßstab zur Messung von Umverteilungswirkungen an.4 Die im weiteren beschriebenen Umverteilungseffekte beziehen sich, falls nicht anders angegeben, jeweils als Referenzgröße auf ein System mit Krankenversicherung, bei welchem die Beiträge rein risikoadäquat berechnet werden. Personen, die zu Beginn des Versicherungsschutzes gleiche Schadenwahrscheinlichkeiten aufweisen und einen gleich umfangreichen Versicherungsschutz gewählt haben, zahlen in einem solchen Modell den gleichen regelmäßigen Beitrag, der ausreicht, die durchschnittlichen Schadenaufwendungen des Kollektivs zu decken. Da die tatsächlichen Krankheitskosten der Mitglieder des Kollektivs jedoch hiervon abweichen werden, kommt es zu Umverteilungswirkungen zwischen Personen, die unerwartet mehr krank geworden sind als dies zu Beginn der Versicherung vermutet wurde, und solchen Personen, die weniger häufig und intensiv als zu Beginn des Versicherungsschutzes zu erwarten, erkrankten. Die Organisation dieser Art von Umverteilung, die auf dem Grundgedanken des Eintauschens der Ungewißheit über die Schadenentwicklung gegen die Gewißheit einer regelmäßigen Beitragszahlung beruht und insoweit bei risikoaversen Personen wohlfahrtsmehrend wirkt, ist die originäre Dienstleistung des Versicherers. Weitere Umverteilungseffekte - etwa zwischen einzelnen Personen, Generationen oder Regionen - treten in diesem Modell nicht 4

Vgl. etwa den Beitrag von Rothgang in diesem Band, der die Situation vor Einführung der Pflegeversicherung als Maßstab zur Messung der Umverteilungswirkungen des Systems heranzieht.

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auf. Dieses Modell eignet sich daher in besonderer Weise als Referenzmaßstab um die Umverteilungseffekte anderer Modelle der Organisation von Krankenversicherungsschutz zu messen (Henke / Behrens 1987). a) Idealtypische Kalkulationsmodelle von Krankenversicherungsschutz Da Umverteilungseffekte teilweise von der Art der Beitragskalkulation abhängig sind, werden an dieser Stelle kurz die drei idealtypischen Kalkulationsmodelle der Krankenversicherung vorgestellt (vgl. auch Wasem 1997): Beim Umlageverfahren werden die Ausgaben, die innerhalb einer Abrechnungsperiode von der Gesamtheit der Versicherten verursacht wurden, durch die Einnahmen des gleichen Zeitabschnittes finanziert, also auf die Beitragszahler umgelegt. Es können zwar auch absolute Beiträge erhoben werden (wie zum Beispiel bei dem traditionellen Community rating nicht gewinnorientierter Krankenversicherer in den USA), in Europa wird dieses Kalkulationsverfahren jedoch meist mit einer einkommensabhängigen Beitragserhebung gekoppelt, wie z.B. bei der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. Bei der Kalkulation von kurzperiodigen Risikoprämien werden die Versicherten in unterschiedliche Alterskohorten, d.h. Gruppen gleichen Alters, eingeteilt. Jede Alterskohorte finanziert durch die Einnahmen einer Periode die eigenen Ausgaben, welche innerhalb dieser Periode angefallen sind. Aufgrund der mit dem Alter deutlich steigenden Pro-Kopf-Ausgaben im Gesundheitswesen ergeben sich dabei für die älteren Kohorten deutlich höhere Beiträge als für die jüngeren. Das Kapitaldeckungsverfahren beruht auf der Idee, daß bei jungen Versicherten mit niedrigen durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben ein Teil ihrer Prämie zurückgelegt wird, es wird eine Altersrückstellung angespart. Mit dieser wird ein Teil der höheren Pro-Kopf-Ausgaben im Alter finanziert. Die Kalkulation erfolgt so, daß bei gleichbleibenden Verhältnissen die Beiträge über das gesamte Leben des Versicherten konstant bleiben. Die Beiträge bleiben in der Realität nicht über das gesamt Leben konstant, da sich die Rahmenbedingungen ändern: Inflation, spezielle Kostensteigerung im Gesundheitswesen und sich verbessernde Lebenserwartung. Nach diesem Verfahren werden die Beiträge in der Privaten Krankenversicherung in Deutschland kalkuliert (etwa: Bohn 1980). b) Interpersonelle Umverteilung Eine Form der interpersonellen Umverteilung bildet die oben beschriebene Umverteilung zwischen Gesunden und Kranken. Diese findet man bei jeder Art von Krankenversicherung, unabhängig von der Art der Beitragskalkulation (dabei wird ein System ohne Krankenversicherung als Referenzkategorie verwendet). Bei altersunabhängigen Beiträgen kommt es zu einer Umverteilung von den jungen Versicherten zu den alten, da die durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheitsleistungen mit dem Alter deutlich ansteigen; dies gilt in besonderem Maße, wenn die Beiträge zugleich einkommensabhängig sind, da die Rentnerein-

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kommen niedriger liegen als die Einkommen der Erwerbstätigen. Eine solche interpersonelle Umverteilung zwischen jung und alt findet sich zum Beispiel in erheblichem Umfang in der bundesdeutschen GKV: So lag etwa in Westdeutschland in 1996 der durchschnittliche Beitrag je Mitglied der Krankenversicherung der Rentner in Westdeutschland bei rd. 2.853 DM, je Nicht-Rentner hingegen bei 5.587 DM. Dem standen auf der anderen Seite Leistungen je Rentner-Mitglied von 6.960 DM gegenüber Leistungen je Nicht-Rentner-Mitglied von 3.954 DM gegenüber.5 Die jüngeren Mitglieder haben also in erheblichem Umfang Transfers an die älteren Mitglieder geleistet. Bei geschlechtsunabhängigen Beiträgen kommt es zu einer Umverteilung von Männern zu Frauen, da die Pro-Kopf-Ausgaben für Frauen im mittleren Lebensabschnitt spürbar über denen der Männer liegen. Auch dieser Effekt wird durch einkommensabhängige Beiträge verstärkt, da die Einkommen von Männern durchschnittlich oberhalb der Einkommen von Frauen liegen. Eine Umverteilung von Männern zu Frauen ist denn auch empirisch wiederholt für die GKV in der Bundesrepublik festgestellt worden (Becker 1985; Brennecke 1985; Henke/ Behrens 1987). Falls in einem Krankenversicherungssystem die beitragsfreie Mitversicherung von Angehörigen vorgesehen ist, kommt es zu einer Umverteilung von Alleinstehenden zu Familien mit beitragsfrei mitversicherten Familienmitgliedern. Auch dieser Umverteilungseffekt ist für die bundesdeutsche GKV nachgewiesen worden (Becker 1985; Henke/ Behrens 1987). Bei einkommensabhängigen Beiträgen und in steuerfinanzierten Gesundheitssystemen kommt es zu einer Umverteilung von besser Verdienenden zu geringer Verdienenden. Das Ausmaß dieser Umverteilung ist abhängig von der Art der Beitragserhebung. Eine grobe Vorstellung über das Ausmaß der Umverteilung durch einkommensabhängige Beitragserhebung gibt die Einteilung in progressive, lineare und regressive Beitragserhebung. Bei zunehmendem Einkommen haben die Krankenversicherungsbeiträge dabei einen zunehmenden, den gleichen bzw. einen abnehmenden Anteil am Einkommen des Versicherten. Eine internationale Vergleichsstudie, welche die Gesundheitssysteme von 10 europäischen und nordamerikanischen Ländern untersucht, (Wagstaff et al. 1993) hat (nicht überraschend) ergeben, daß Systeme mit einer Sozialversicherung tendenziell eher regressiv sind, steuerfinanzierte Systeme eher dazu tendieren linear oder leicht progressiv zu sein. Eindeutige Aussagen und Vergleiche sind aufgrund der in jedem System gegebenen Sonderregelungen und Spezialfälle schwierig. Die Umverteilung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland in Bezug auf die Einkommensdimension kann als linear-regressiv bezeichnet werden (Wasem 1988). Die Beiträge sind nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze proportional zum Einkommen (lineare Wirkung). Für höhere Einkommen bleibt der Beitragssatz konstant, bei der Beitragsbemessungsgrenze endet die Versicherungs5

Vgl. BMG, a.a.O..

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pflicht und es werden nicht alle Einnahmen eines Versicherten, die seine finanzielle Leistungsfähigkeit ausmachen, bei der Beitragsfestsetzung berücksichtigt (regressive Wirkung). Auch die Tatsache, daß Gutverdiener die Möglichkeit haben, die GKV zugunsten einer privaten Krankenversicherung zu verlassen, trägt zur Regressivität des bundesdeutschen Systems bei - zumal tendenziell eher die gesundheitlich guten Risiken die GKV verlassen werden. Inwieweit die Einkommensumverteilung, die insgesamt in der GKV und an der Schnittstelle zur PKV stattfindet, zu verteilungspolitisch befriedigenden Ergebnissen fuhrt, ist daher auch seit längerem umstritten (vgl. etwa Becker 1985; Henke/ Behrens 1987; Zschoke 1989; Lutz/ Schneider 1997). c) Intergenerationelle Umverteilung Die oben beschriebenen interpersonellen Umverteilungen von jungen zu alten Versicherten im Umlageverfahren stellen zum Teil nur eine Momentaufnahme dar, sind Ergebnis einer Art Querschnittsuntersuchung (Meierjürgen 1989). Aus der Perspektive einer Längsschnittuntersuchung erkennt man im Umlageverfahren ein auf dem sogenannten Generationenvertrag beruhendes System. Jede Generation zahlt in jungen Jahren mehr , als sie empfängt und im Alter empfängt sie mehr als sie zahlt. Insgesamt kommt es, bei einer stabilen Bevölkerungsstruktur und ansonsten gleichbleibenden Verhältnissen, zu einem Ausgleich. Ein Teil der oben beschriebenen interpersonellen Umverteilung von gut Verdienenden zu geringer Verdienenden kommt durch die im Durchschnitt niedrigeren Einkommen der Rentner gegenüber den Berufstätigen zustande - auch dieser Umverteilungseffekt wird bei der Betrachtung über den Zeitraum einer ganzen Generation bei ansonsten gleichen Verhältnissen ausgeglichen. Intergenerationelle Umverteilungen, im Sinne von intergenerationellen Ungleichverteilungen, treten erst bei Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur auf. Bei einer Bevölkerung, welche aufgrund eines Geburtenrückgangs abnimmt, gehen die Gesamtausgaben zunächst kurzzeitig zurück: Aufgrund der abnehmenden Anzahl von Kindern werden weniger Gesundheitsleistungen nachgefragt. Die Beitragseinnahmen bleiben konstant, da Kinder beitragsfrei mitversichert sind und deren Anzahl daher keinen Einfluß auf die Einnahmen hat. In der Folgezeit, sobald diese Kinder das Erwerbstätigenalter erreichen, stehen weniger Erwerbstätige, mit relativ hohen Beitragszahlungen und relativ niedrigen Ausgaben, einer im Verhältnis zunehmenden Zahl an Rentnern, mit relativ geringen Beitragszahlungen und hohen Pro-Kopf-Ausgaben, gegenüber. Der Beitragssatz einer einkommensabhängige Beiträge erhebenden Krankenversicherung steigt: Die in dieser Phase junge Generation zahlt aufgrund des überproportional hohen Anteils alter Menschen an der Bevölkerung höhere Beiträge. Sobald sich die Bevölkerungsentwicklung wieder stabilisiert, ergeben sich bei ansonsten gleichen Verhältnissen, die gleichen Beiträge wie vor der Bevölkerungsabnahme. Eine Generation, die während einer Periode abnehmender Bevölkerung lebt, ist bei ansonsten gleichbleibenden Verhältnissen

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im Umlageverfahren ein „Umverteilungsverlierer". In analoger Weise profitiert eine Generation, die während einer Phase des Bevölkerungswachstums lebt (von der Schulenburg / Kleindorfer 1986). Zu den „Umverteilungsgewinnern" gehört auch eine Generation, die bei Einfuhrung eines Umlageverfahrens bereits älter ist, wenn das neue Umlageverfahren Leistungen vorsieht, die es vorher nicht durch den Sozialstaat gab - so ist etwa die ältere Generation durch die Einführung der Pflegeversicherung begünstigt worden (Breyer 1991/92). Bei kohortenspezifischen Risikobeiträgen kommt es zu keinen Umverteilungen zwischen unterschiedlichen Kohorten, und damit auch nicht zu intergenerationellen Umverteilungen. Auch beim Kapitaldeckungsverfahren treten keine intergenerationellen Umverteilungen auf. Das bedeutet, daß diese beiden Kalkulationverfahren nicht „anfällig" sind gegenüber Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur. d) Interregionale Umverteilung Neben interpersonellen und intergenerationellen Umverteilungen können mit der Ausgestaltung des sozialstaatlich organisierten Gesundheitssystems auch interregionale Umverteilungswirkungen einhergehen. In steuerfinanzierten Gesundheitssystemen schenkt die Gesundheitspolitik diesen Umverteilungen traditionell Beachtung, da zumeist explizit über die Vergabe der Mittel des nationalen Gesundheitsdienstes in die einzelnen Regionen zu entscheiden ist. So ist etwa die Frage, nach welchen Kriterien die finanziellen Ressourcen des britischen NHS in die regionalen Gesundheitsabteilungen gelenkt werden sollen, oft heftig umstritten. In Systemen gesetzlicher Krankenversicherung wurde der interregionalen Umverteilung demgegenüber zumeist weniger intensive Beachtung geschenkt 6 . Von einer interregionalen Umverteilung wollen wir sprechen, wenn in einer Region mehr oder weniger Finanzierungsbeiträge zur Gesundheitsversorgung gezahlt als Leistungen in Anspruch genommen werden: „Umverteilungsgewinner" ist eine Region, die mehr Gesundheitsleistungen in Anspruch nimmt als sie Finanzierungsbeiträge leistet. In der bundesdeutschen GKV kommt es gegenwärtig insbesondere auf dreierlei Weise zu interregionalen Umverteilungen: Die Entscheidung des Gesetzgebers zu einem bundesweiten Risikostrukturausgleich bedeutet faktisch, Risikostrukturunterschiede auch zwischen den Regionen auszugleichen. Besonders bedeutet dies, daß über den Finanzkraftausgleich des RSA Versicherte aus einkommensstärkeren Regionen Finanztransfers an Versicherte aus einkommensschwächeren Regionen leisten. Rd. 75% der interregionalen Transfers im RSA sind auf den Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft zurückzuführen. 7 6

Vgl. wohl als erste für die bundesdeutsche GKV Henke/ Leber 1989; Leber/ Wasem 1990. Zu einer Quantifizierung dieser Transfers vgl. Jacobs/ Reschke/ Wasem 1998. Gegenwärtig wird der RSA in Ost- und Westdeutschland getrennt durchgeführt, so daß es insoweit nicht zu einem Finanzkraftausgleich zwischen alten und neuen Bundesländern kommt. Während des Redaktionsschlusses für diesen Beitrag zeichnet sich allerdings ab, daß ab 1999 der „Einstie" in einem gesamtdeutschen RSA gefunden werden soll. 7

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Des weiteren kommt es im Rahmen der Beitragssatzkalkulation bundesweit tätiger Krankenkassen zu interregionalen Umverteilungen: Bundesweit tätige Krankenkassen erheben einen bundesweit einheitlichen Beitragssatz, der für ihr gesamtes Tätigkeitsgebiet kostendeckend ist.8 Dieser Beitragssatz ist aber ein „Mischbeitragssatz", der dazu führt, daß die Versicherten aus kostengünstigen Regionen die Versicherten in besonders ausgabenintensiven Regionen „subventionieren". Auch diese interregionalen Transfers sind quantitativ beachtlich. 9 Schließlich kommt es über das System der Krankenhausfinanzierung ebenfalls zu vielschichtigen und nicht immer ganz leicht zu überschauenden Umverteilungen. Aufgrund der „dualen" Krankenhausfinanzierung ist hinsichtlich der interregionalen VerteilungsWirkungen zwischen der Finanzierung der Investitionskosten durch die Bundesländer und der Finanzierung der laufenden Benutzerkosten durch die Kostenträger, insbesondere die Krankenkassen, zu unterscheiden. Die Investitionskosten finanzieren alle Einwohner eines Bundeslandes entsprechend des regionalen Steueraufkommens mit; sofern die Benutzerstruktur von der Verteilung des regionalen Steueraufkommens abweicht, kommt es insoweit zu interregionalen Umverteilungen innerhalb eines Bundeslandes. Zu Verteilungswirkungen zwischen den Bundesländern kommt es darüber hinaus bei länderübergreifender Inanspruchnahme - wenn etwa Einwohner aus Schleswig-Holstein die Krankenhäuser Hamburgs stärker mitbenutzen als dies umgekehrt der Fall ist, werden sie insoweit von den Hamburger Steuerzahlern über die Investitionskosten für die Hamburger Krankenhäuser finanziert - zu berücksichtigen ist allerdings, daß dem teilweise (etwa im Hamburger Fall) durch die Ausgestaltung des Länderfinanzausgleiches Rechnung getragen werden dürfte. Sofern die Benutzerkosten bei den Krankenhäusern betroffen ist, ergeben sich ebenfalls interregionale Umverteilungen, insbesondere zwischen Zentren der Spitzenversorgung und ihrem Umland: Insoweit die Pflegesätze, die die Benutzer aus dem Umland bei der Inanspruchnahme der Spitzenversorgung zahlen, nicht den tatsächlich hierbei entstehenden Kosten entsprechen, werden sie von den Benutzem aus dem Zentrum subventioniert. Diese interregionale Umverteilung verliert allerdings in dem Umfang an Bedeutung, wie für besonders aufwendige Leistungsfälle kostendeckende Fallpauschalen oder Sonderentgelte eingeführt werden, die zu einer entsprechenden Belastung der Benutzer aus dem Umland fuhren und die Bewohner der Zentren entsprechend entlasten.

8

Gegenwärtig ist auch die Beitragssatzkalkulation bundesweit tätiger Krankenkassen für Ost- und Westdeutschland getrennt durchzuführen. Auch hier zeichnet sich allerdings während des Redaktionsschlusses für diesen Beitrag der Übergang zu einem Modell ab, in dem diese Krankenkassen „optiona" auch einen einheitlichen Beitragssatz für beide Rechtskreise erheben können. 9 Vgl. zu einer Abschätzung Jacobs/ Reschke/ Wasem (1998).

Verteilung und Verteilungspolitik im Gesundheitswesen

IV.

135

Künftige verteilungspolitische Herausforderungen im Gesundheitswesen

Die Analysen in den Abschnitten 2 und 3 haben bereits deutlich gemacht, daß das bundesdeutsche Gesundheitswesen vor einer Reihe zentraler verteilungspolitischer Fragen steht. Einige dieser künftigen verteilungspolitischen Herausforderungen wollen wir in diesem Abschnitt abschließend noch einmal aufgreifen. Es ist davon auszugehen, daß aufgrund der absehbaren demographischen Entwicklung, die durch den Begriff der „doppelten Alterung" (sinkende Geburtenraten bei gleichzeitiger Erhöhung der Lebenserwartung Hochbetagter) zu charakterisieren ist, eine erhebliche intergenerationelle Umverteilung im umlagefinanzierten System der GKV eintreten wird (von der Schulenburg/ Kleindorfer 1986).10 Es stellt sich die Frage, inwieweit die jüngeren Kohorten bereit sind, diese intergenerationelle Umverteilung zu tragen. Vorschläge, auf ein anderes Kalkulationsmodell (Kapitaldeckungsverfahren) umzusteigen, erscheinen wegen der Umstiegskosten wenig realistisch; insbesondere würden sie für eine längere Phase zu einer Doppelbelastung der jungen Generation führen, die die im Umlageverfahren erworbenen Ansprüche der älteren Generation weiter zu finanzieren und gleichzeitig einen eigenen Kapitalstock aufzubauen hat. Realistischer erscheint, daß die jüngeren Kohorten (auch vor dem Hintergrund der wirtschaftspolitischen Dimensionen der Lohnnebenkostenproblematik) auf einer stärkeren Begrenzung des Leistungskataloges der GKV insbesondere in dem Bereich der primär älteren Versicherten zugute kommenden Leistungen beharren werden - auch wenn der Ausgang solcher Bemühungen angesichts des zunehmenden Anteils Älterer an der Wahlbevölkerung ungewiß erscheint (Breyer/ von der Schulenburg 1989). In jedem Falle dürfte es ratsam erscheinen, über mögliche Konzepte einer stärkeren Begrenzung des Leistungskataloges (im Sinne einer „schwachen" Rationierung) in eine öffentliche Diskussion einzutreten, anstatt der gegenwärtigen gesundheitspolitischen Tabuisierung dieses Themas, die im Zweifelsfalle einer schleichenden Rationierung nur Vorschub leistet. Dies bedeutet allerdings nicht darauf zu verzichten, zunächst vorhandene Rationalisierungsreserven konsequent auszuschöpfen. Es bleibt festzuhalten, daß sich auch bei einer Begrenzung des Leistungskataloges eine ähnliche Doppelbelastung der jungen Generation ergibt wie bei einem Umstieg auf ein anderes Finanzierungssystem: Die junge Generation finanziert Leistungen bis zu deren Ausgrenzung aus dem Leistungskatalog im Rahmen des Umlageverfahrens zu einem erheblichen Teil mit, die sie selber später nicht mehr im Rahmen des Solidarprinzipes abgesichert vorfindet und daher entweder zur eigenen Vorsorge zusätzlich privat versichern muß oder im Alter aus der eigenen Tasche zu 10

Dies gilt für die umlagefinanzierte gesetzliche Pflegeversicherung entsprechend (vgl. Breyer 1991/92).

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Jürgen Wasem

finanzieren hat. Neben der intergenerationellen Umverteilung bleibt auch die Frage der interpersonellen Umverteilung und die Verteilungsdimension der Gesundheitslagen auf der Tagesordnung. In Zeiten der Beschränkung sozialstaatlicher Leistungen wird es um so dringender, daß „prioritäre Gesundheitsziel" gerade auch mit Blick auf sozial benachteiligte Schichten, die beim Zugang zu den Gesundheitsleistungen und bei den gesundheitlichen Beeinträchtigungen außerhalb des Gesundheitssystems besondere Nachteile haben, zu formulieren. Auch die Frage der Abgrenzung zwischen GKV und PKV bleibt auf der Tagesordnung: So wird etwa die These vertreten, daß gegenwärtig von den Pflichtversicherten zu den freiwillig Versicherten in der GKV 11 umverteilt wird und überhaupt im Vergleich zu einer Situation, in der die gesamte Bevölkerung in der GKV versichert wäre, die PKV Versicherten aufgrund ihrer in einem solchen Referenzszenario zu leistenden höheren Beiträge und des dann bestehenden Fortfalls von Risikoselektion zulasten der GKV beim Wechseln in die PKV Umverteilungsgewinner im Vergleich zu den G K V Versicherten sind (Meyer 1997). Solche (allerdings heftig umstrittenen; vgl. etwa o.V. [1998]) Effekte sind zwar historisch erklärbar, mit rationaler Verteilungspolitik aber nur schwer vereinbar. Weitergehend wären demgegenüber Überlegungen, auf eine solidarische Finanzierung der GKV prinzipiell zu verzichten und auf risikoäquivalente Prämien oder Kopfbeiträge mit Transfers an Einkommensschwache aus dem Staatshaushalt umzusteigen. Die Verfasser verhehlen nicht, daß sie angesichts der ubiquitären Finanzkrise der Haushalte der Gebietskörperschaften Zweifel an der Dauerhaftigkeit solcher Transferarrangements haben und argwöhnen, daß am Ende nicht ein „gerechteres" Verteilungsergebnis, sondern schlicht „weniger" Umverteilung stehen wird - welche man politisch natürlich wollen kann. Vor einer Herausforderung steht die Gesundheitspolitik schließlich auch in Bezug auf die interregionale Dimension von Umverteilung. Hier befinden sich sowohl die Abgrenzung von Beitragssatzregionen als auch die Abgrenzung der Regionalebene des RSA im Mittelpunkt heftiger Diskussionen, wobei die unterschiedlichen Akteure (Bundesländer, Krankenkassen, Wissenschaftler) sehr unterschiedlichen Perspektiven einnehmen und divergierende Interessen vertreten. In Bezug auf die Regionalebene der Beitragssatzkalkulation wird von Kritikern des Status quo insbesondere die Quersubventionierung von ausgabengünstigen in ausgabenintensive Regionen durch die Mischbeitragssätze bundesweit kalkulierender Krankenkassen aus der GKV -Wettbewerbsperspektive aber auch aus verteilungspolitischen Überlegungen kritisiert, woraus die Schlußfolgerung gezogen wird, alle Krankenkassen sollten zu regionalisierter Beitragssatzkalkulation gesetzlich veranlaßt werden (Jacobs/ Reschke/ Wasem 1998); allerdings werden auch für den Status quo begründete Argumente ins Feld gefuhrt (etwa: Wille/ Schneider 1997). In Bezug auf den Risikostrukturausgleich gilt zunächst, daß seine Regionalebene von der verteilungspolitischen Definition des Regionalbezugs von Solidarität (die 11

So Zschoke 1989; vgl. aber auch Meye/ Brenner 1984.

Verteilung und Verteilungspolitik im Gesundheitswesen

137

wissenschaftlich nicht weiter ableitbar ist) abhängt: Wer die G K V als bundesweite Solidargemeinschaft versteht, wird für einen bundesweiten RSA plädieren (und etwa die nach wie vor bestehende Trennung zwischen einem ostdeutschen und einem westdeutschen RSA, die dazu fuhrt, daß die höheren beitragspflichtigen Einnahmen in Westdeutschland nicht zur Finanzierung der G K V - O s t herangezogen werden, als Konstruktionsdefizit ansehen). 12 Wer dagegen einen Vorrang regionaler Solidargemeinschaften reklamiert, wird auch den RSA regionalisieren wollen. Unabhängig von der verteilungspolitischen Zielperspektive hat die Regionaldimension des RSA allerdings auch wettbewerbspolitische Bedeutung: Der gegenwärtig praktizierte West-einheitliche bzw. Ost-einheitliche RSA vermag in besonders ausgabenintensiven Regionen Beitragssatz- und damit Wettbewerbs-Nachteile solcher Krankenkassen, die dort einkommensschwache und/oder ältere Versicherte versichern, nicht ausräumen. Ein rein regionaler RSA wiese diese Defizite nicht auf (vgl. Cassel/ Janßen 1997); allerdings wäre es konzeptionell auch vorstellbar, einen bundesweiten RSA durch eine intraregionale Komponente in besonders ausgabenintensiven Regionen zu ergänzen (Jacobs/ Reschke/ Wasem 1998). In jedem Falle haben die unter wettbewerbspolitischer, also einer allokationstheoretischen Perspektive, getroffenen Entscheidungen auch verteilungspolitische Konsequenzen.

V.

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' 2 Bei Redaktionsschluß dieses Beitrags zeichnet sich ab, daß zumindest für die Jahre 1999 bis 2001 eine teilweise Aufhebung der Trennung zwischen RSA-Ost und RSA-West erfolgen soll, die allerdings konzeptionell nicht unproblematisch ausgestaltet ist (vgl. dazu Wasem 1998).

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Jürgen Wasem

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Sozialstaat und Gesundheitspolitik von Hans F. Zacher

I.

Begriffe und Inhalte

Sozialstaat und Gesundheitspolitik haben viel miteinander zu tun. Und trotzdem ist die Gesundheitspolitik nicht einfach nur ein Thema des Sozialstaates. Vielmehr handelt es sich bei den beiden Politikfeldern um zwei eigenständige Phänomene, die einander tief durchdringen. 1.

Gesundheitspolitik

a) Deutsche Gesundheitspolitik: ein prekär besetztes Feld Fangen wir mit der Gesundheitspolitik an. Mit einer Definition der Gesundheitspolitik tun wir uns in Deutschland schwer. Was fällt uns dazu ein? Wenn wir in unser Grundgesetz schauen, finden wir dort die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für „die Maßnahmen gegen gemeingefährliche Krankheiten ..., die Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen ..., den Verkehr mit Arzneimitteln, ... Betäubungsmitteln und Giften"' sowie - später eingefugt - die Zuständigkeit für „die wirtschaftliche Sicherstellung der Krankenhäuser". 2 Gewiß ist es nicht Aufgabe eines Zuständigkeitskatalogs, Politikfelder zu erläutern. Und doch ist dieser Befund symptomatisch für das Verhältnis unserer Gesellschaft und unseres Gemeinwesens zur Gesundheitspolitik. In ihrer frühen Zeit war sie Hygienepolitik. 3 Dann kamen die Versuchungen der Eugenik. 4 Und nachdem diese durch den nationalsozialistischen Rassenwahn auf das Entsetzlichste desavouiert waren, 5 lähmte die historische Irritation ebenso wie die Aufteilung der Zuständigkeiten auf Bund, Länder und Kommunen schon die Suche nach einem neuen Konzept. 6 Und ohne viel darüber nachzudenken, war man froh, daß die Sozialpolitik - genauer: die Kran-

1

Art. 74 Nr. 19 GG. Art. 74 Nr. 19a GG. 3 S. etwa W. Frank, Art. „Gesundheitslehre", in: Staatslexikon, 5. Aufl. Bd. II, 1927, Sp. 658-666. Zur Weiterentwicklung s. freilich auch dens., Art. „Gesundheitspflege", ebenda, Sp. 666-676. 4 S. das Material bei Hermann Muckermann, Art. „Vererbung", in: Staatslexikon, 5. Aufl. Bd. V, 1932, Sp. 733-742 (742). 5 Norbert Frei, Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, 1991. 6 Typisch etwa Josef Stralau, Art. „Gesundheitspolitik", in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. IV, 1965, S. 454—459. 2

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Hans F. Zacher

kenversicherungspolitik - das Feld immer weiter besetzte.7 Um so mehr hat es seine Berechtigung, wenn die Veranstalter dieser Tagung das Thema „Sozialstaat und Gesundheitspolitik" voranstellen. Daß der Sozialstaat die Gesundheitspolitik mit erledigt, ist so etwas wie eine Selbstverständlichkeit geworden. 8 Und es ist immer lehrreich, Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. b) Was kann Gesundheitspolitik sein? Gesundheitspolitik kann nicht einfach Krankheitspolitik sein. Gesundheit ist etwas Positives. Gesundheitspolitik muß dieses Positive wollen. Was ist dieses Positive? Holen wir uns, wenn uns schon der Mut fehlt, das „auf deutsch" zu formulieren, unverdächtige internationale Hilfe. In der Präambel der Satzung der Weltgesundheitsorganisation 9 heißt es: „Gesundheit ist ein Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen." Wir stimmen gerne zu, daß Gesundheit nicht nur die Negation des Negativen sein kann - also eben nicht nur das Freisein von Krankheit. Aber wir haben Probleme damit, das Ziel eines „Zustandes völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens" politisch zu operationalisieren und zu institutionalisieren. Wieviel kann, j a wieviel darf Politik zum „seelischen Wohlbefinden" beitragen? Und „soziales Wohlbefinden" der Menschen - sollte das nicht mehr oder weniger das Ziel aller Politik sein? Doch ist es nicht notwendig, sich bei dieser Vollmundigkeit der Satzung der Weltgesundheitsorganisation lange aufzuhalten. Daß es bei der Gesundheit um körperliches Wohlbefinden geht, ist evident. Daß das körperliche Wohlbefinden in Wechselwirkung zum seelischen Wohlbefinden steht, ist gleichermaßen offenkundig - nicht minder aber, daß das Verhältnis seelischen Wohlbefindens zu Staat und Politik ein anderes ist als das Verhältnis körperlichen Wohlbefindens zu Staat und Politik. Auf seine Weise nicht minder deutlich ist dieses andere Verhältnis für das soziale Wohlbefinden. So liegt es nahe, unter Gesundheitspolitik eine Politik zu verstehen, die das körperliche Wohlbefinden der Menschen zum Ziele hat und weiß, aber auch beachtet, daß dieses körperliche Wohlbefinden nicht ohne das seelische und das soziale Wohlbefinden zu haben ist. Das körperliche Wohlbefinden ist etwas, was der einzelne erfährt. Gesundheitspolitik ist deshalb eine Politik der Verantwortung für diese Befindlichkeit des einzelnen. Vom einzelnen her gesehen: Gesundheitspolitik ist eine Politik, die sein Recht auf Gesundheit verwirklicht. Dieses Recht ist im Kern das, was das Grundgesetz in Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 als „Recht auf Leben und körperliche Unversehrt-

7 Philipp Herder-Dorneich, Gesundheitswesen und Gesundheitssysteme, in: Norbert Blüm/Hans F. Zacher (Hrsg.), 40 Jahre Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland, 1989, S. 561-578. 8 S. z. B. Jens Alber, Das Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklung, Struktur und Funktionsweise, 1992; Bernhard Blanke (Hrsg.), Krankheit und Gemeinwohl. Gesundheitspolitik zwischen Staat, Sozialversicherung und Medizin, 1994. S. z. B. Hans F. Zacher, Internationales und europäisches Sozialrecht, 1976, S. 332 ff.

Sozialstaat und Gesundheitspolitik

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heit" benennt. 10 Aber der Respekt des Staates vor diesem Recht ist für sich betrachtet noch kein Programm für etwas, was den Namen „Gesundheitspolitik" verdient. Etwas weiter hilft uns da schon die Europäische Sozialcharta.11 In Ziffer 11 ihres Teiles I sagt sie: „Jedermann hat das Recht, alle Maßnahmen in Anspruch zu nehmen, die es ihm ermöglichen, sich des besten Gesundheitszustandes zu erfreuen, den er erreichen kann." Und in Artikel 11 des Teiles II heißt es dann: „Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Schutz der Gesundheit zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien, ... Maßnahmen zu ergreifen, die ... darauf abzielen, 1. soweit wie möglich die Ursachen von Gesundheitsschäden zu beseitigen; 2. Beratungs- und Schulungsmöglichkeiten zu schaffen zur Verbesserung der Gesundheit und zur Entwicklung des persönlichen Verantwortungsbewußtseins ...; 3. soweit wie möglich epidemischen, endemischen und anderen Krankheiten vorzubeugen." Etwas anders setzt Artikel 12 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 12 die Akzente: „(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit an. (2) Die von den Vertragsstaaten zu unternehmenden Schritte zur vollen Verwirklichung dieses Rechts umfassen die erforderlichen Maßnahmen a) zur Senkung ... der Kindersterblichkeit sowie zur gesunden Entwicklung des Kindes; b) zur Verbesserung aller Aspekte der Umwelt- und der Arbeitshygiene; c) zur Vorbeugung, Behandlung und Bekämpfung epidemischer, endemischer, Berufs- und sonstiger Krankheiten; d) zur Schaffung der Voraussetzungen, die für jedermann im Krankheitsfall den Genuß medizinischer Einrichtungen und ärztlicher Betreuung sicherstellen." Abstrahieren wir eine Summe, so ist das Programm der Gesundheitspolitik die Hilfe zur Entfaltung der individuellen Freiheit zur Gesundheit, der Schutz gegen Gefahren für die Gesundheit und die medizinische Versorgung im Falle der Krankheit. 13 10 Von diesem Ausgangspunkt her vor allem Otfried Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, 1981; ders., Gesundheit als Grundrecht. Grundrechte als Grundlagen von Ansprüchen auf gesundheitsschützende staatliche Leistungen, 1982. " S. z. B. Zacher, a. a. O. (Anm. 9), S. 458 ff. 12 S. z. B. Zacher, a. a. O. (Anm. 9), S. 48 ff. 13 Fritz Riege, Gesundheitspolitik in Deutschland. Aktuelle Bilanz und Ausblick, 1993. In diesem Sinne auch der „Gesundheitsbericht" des Bundesministers ftir Jugend, Familie und Gesundheit, 1971.

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Gewiß ist dabei, daß Gesundheitspolitik jedenfalls eine Politik zugunsten aller individuellen „Gesundheiten" ist. Problematisch ist, ob „Gesundheit" auch als ein überindividuelles, objektives Gut angesehen werden kann. Schon früh in seiner Rechtssprechung hat etwa das Bundesverfassungsgericht 14 anerkannt, daß die „Volksgesundheit" ein Gemeinschaftsgut ist, zu dessen Schutz Einschränkungen der Grundrechte zulässig sind. Und die Präambel der Satzung der Weltgesundheitsorganisation spricht gar von der „Gesundheit aller Völker". 15 Was könnte mit einem objektiven Gut dieser Art gemeint sein? Lassen wir es mit der Frage sein Bewenden haben. Offenkundig ist, daß die „Volksgesundheit", auch wenn sie als die „Summe aller individuellen Gesundheiten" verstanden wird, nicht nur von individuellen Verhältnissen abhängt, sondern auch von allgemeinen Umständen - von Wirklichkeiten und Normen - , die sich der Verfügung des einzelnen entziehen. Zumindest also im Sinne der allgemeinen Bedingungen der individuellen Gesundheit ist „Volksgesundheit" auch etwas Überindividuelles und Objektives. Und Gesundheitspolitik betrifft ganz wesentlich diese allgemeinen Bedingungen der individuellen Gesundheit. Aber nicht nur in diesem Sinne ist Gesundheitspolitik etwas Allgemeines. Sie ist ebenso allgemein als die Entfaltung aller individuellen „Gesundheiten" aller Menschen, als der Schutz der individuellen „Gesundheiten" aller Menschen und als die Bereitstellung der sachgerechten Hilfen für den Fall der Krankheit eines jeden Menschen. Das Recht auf Gesundheit ist ein Menschenrecht. Um die Satzung der Weltgesundheitsorganisation noch einmal zu zitieren, in ihrer Präambel sagt sie: „Sich einer möglichst guten Gesundheit zu erfreuen," sei „eines der Grundrechte jedes Menschen ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Überzeugung, der wirtschaftlichen oder sozialen Lage". Gleichwohl ist Gesundheitspolitik für sich keine Politik zur Kompensation von anderen Nachteilen als den Defiziten der Gesundheit. Sie darf nur nicht zulassen, daß die ihr vorausliegenden Diskriminierungen die Gewährleistung gleicher Bedingungen für die individuelle Gesundheit beeinträchtigen. Aber das gleiche Recht auf Gesundheit ist, wenn die Menschen sich durch wirtschaftliche und soziale Vor- und Nachteile unterscheiden, am Ende nicht denkbar, ohne daß die wirtschaftlichen und sozialen Nachteile oder wenigstens die Wirkungen, welche sie für die Verwirklichung des Rechts auf Gesundheit haben können, ausgeglichen werden. 16 Hier endlich berühren sich die Linien des Sozialstaates und der Gesundheitspolitik. Und hier wird es also auch für uns unvermeidlich, uns dem Sozialstaat zuzuwenden. 14

BVerfGE 9, 338 (346); 13, 97 (107); 25, 236 (247). S. Anm. 9. 16 Für den weltweiten internationalen Konsens s. Art. 22, 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen (s. Zacher, a. a. O., Anm. 9, S. 25 ff.); Art. 9, 11 des Internationales Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ebenda, S. 48 ff.); Obereinkommen 102 der Internationalen Arbeitsorganisation über die Mindestnormen der sozialen Sicherheit (ebenda, S. 158 ff.); Übereinkommen 130 der Internationalen Arbeitsorganisation über ärztliche Betreuung und Krankengeld (ebenda, S. 200 ff.). 15

Sozialstaat und Gesundheitspolitik

2.

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Sozialstaat

a) Das soziale Staatsziel Der Auftrag des Sozialstaates bezieht sich auf die wirtschaftlich und sozial Schwächeren. Anders gewendet: Der Auftrag des Sozialstaates bezieht sich auf die Wohlstandsdifferenzen. 17 Er hat sie einzugrenzen, sie abzubauen, ihre Konsequenzen zu mindern. Dabei geht es dem Sozialstaat nicht um irgendwie Benachteiligte, nicht um irgendwie Schwächere, nicht schlechthin um Differenzen des Wohlbefindens. So geht es dem Sozialstaat nicht für sich um Differenzen des Talents, der Schönheit, des Geschmacks oder der öffentlichen Anerkennung. Der Sozialstaat ist aus der Notwendigkeit hervorgegangen, auf die „soziale Frage" zu antworten.18 Die älteste Herausforderung, der er sich gestellt hat, waren die Armen. Und die älteste Antwort, die er gegeben hat, war die Armenfiirsorge. Die zweite Generation der Herausforderungen, der er sich stellte, war die Arbeiterfrage. Und die Antworten, die er darauf gegeben hat, waren ein Arbeitsrecht, das der Abhängigkeit der Arbeiter von ihren Dienstherren Grenzen setzte, und ein Sozialversicherungsrecht, das sie befähigte, sich mit einem Teil ihres Lohnes ein Mindestmaß an Sicherheit gegen die Risiken zu erkaufen, die ihrer Arbeitskraft bevorstehen mochten. Die Herausforderungen, denen der frühe Sozialstaat so begegnet war, hatten also mit den wirtschaftlichen Verhältnissen zu tun. Und die Antworten, die der Sozialstaat gab, waren entweder Geld und Geldeswert oder eine andere Intervention in die wirtschaftlichen Verhältnisse. In der Folgezeit - eine wesentliche Schwelle zur Ausweitung hin waren der Erste Weltkrieg und die ihm folgenden grundstürzenden politischen Veränderungen - entdeckte der Sozialstaat immer neue Benachteiligungen und immer neue Weisen, sie zu kompensieren oder doch einzuschränken. Aber der Bezug zum Ökonomischen blieb ihm erhalten. Dafür gibt es keine präzise Definition und keine genaue Grenze. Aber das Ökonomische ist die Mitte des Sozialstaates.19 Und je weiter sich ein politisches Problem von dieser ökonomischen Mitte entfernt, desto schwächer wird der Anspruch des „Sozialen", während andere politische Ziele etwa der Bildungspolitik oder der Umweltpolitik20 - um so bestimmender werden. Auch im Kernbereich der Sozialstaatlichkeit ist das Kriterium des Ökonomischen ein sehr offenes. Am einfachsten läßt es sich anhand der klassischen Grundformel freiheitlicher ökonomisch-sozialer Existenz erläutern: daß jeder Erwachsene die Freiheit, aber auch die Verantwortung hat, durch Arbeit Einkommen zu verdienen und damit seine Bedarfe und die Bedarfe der Familienangehörigen, die von seinem

17 Hans F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Hans F. Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht, S. 3— 72 (S. 18 ff.). 18 Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 2. Aufl. 1991. 19 Zacher, a. a. O. (Anm. 17), S. 46 ff. 20 Karl-Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997.

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Unterhalt abhängen, zu decken.21 Im Vollzug dieser Grundformel ergeben sich Gefährdungen - das gängigste Beispiel ist der Arbeitsunfall - ; und die Wirksamkeit der Grundformel ist umlagert von Defiziten: von der anfänglichen Arbeitsunfähigkeit durch schwere Behinderung bis zum Ende der Arbeitsfähigkeit durch Gebrechen und Tod, vom Mißverhältnis des Einkommens zur Bedarfsdeckung infolge des Preises einzelner Güter (z. B. der Wohnungen) bis zum Mißverhältnis des Einkommens zur Bedarfsdeckung infolge außergewöhnlicher Bedarfe (etwa im Fall der Behinderung) oder schließlich infolge der Zahl der Unterhaltsabhängigen (wie bei Kinderreichtum). Immer jedenfalls hat soziale Intervention mit der Teilhabe am Erwerbsleben und der Deckung der Bedarfe zu tun: mit dem Zugang zum Erwerbsleben, den Benachteiligungen und den Gefährdungen darin und dem Ausscheiden daraus; mit dem Einkommen, das dabei erzielt oder nicht erzielt wird; mit dem Verhältnis des Einkommens zu den Bedarfen oder einfach mit der Größenordnung der Bedarfe. Dabei geht es dem Sozialstaat nicht primär darum, die Erfüllung jener Grundformel nach „oben" zu begrenzen: gegen große Einkommen und kleine Bedarfe hin. Seine Sorge gilt dem „unten": den Gefährdungen und den Defiziten. Sie gilt dem Nachteil und allenfalls sekundär dem Vorteil. 22 Aber natürlich gehören die denkbaren Vorteile der einen zu den Maßgrößen, von denen her die Nachteile der anderen zu bewerten sind. Und nicht weniger markieren die Vorteile den Raum der Solidarität, in dem der soziale Ausgleich zu den Benachteiligten hin stattfinden kann und muß. Insgesamt steht der Sozialstaat vor einem Meer denkbarer Besser-SchlechterKonstellationen. 23 Es ist immer nur eine Auswahl davon, die er als Herausforderung annehmen kann. Und die Landschaft der als Herausforderung wahrgenommenen Besser-Schlechter-Konstellationen verändert sich je nach den Konzepten der Antworten, von denen her sie gesehen werden. b) Strukturen der Verwirklichung des sozialen Staatszieles Weil das so ist, gibt es nur wenige Sachstrukturen, die dem freien Spiel der Phantasien und Energien, das in öffentlicher Meinung, Sachverstand und Politik die Auswahl der Herausforderungen und die Konzepte der Antworten bestimmt, normative Grenzen entgegensetzen. Ein Mindestmaß normativer Binnenordnung des Sozialstaates läßt sich in vier Thesen ausdrücken. Sie lassen sich alle an ihrem Verhältnis zur Grundformel des freiheitlichen Sozialstaates verorten. Erstens: die Garantie der Mindestvoraussetzungen einer menschenwürdigen Existenz.

21

Hans F. Zacher, Der Sozialstaat als Aufgabe der Rechtswissenschaft, in: Gerhard Lüke/Georg Ress/Michael R. Will, Rechtsvergleichung, Europarecht und Staatenintegration. Gedächtsnisschrift für Leontin-Jean Constantinesco, 1983, S. 943-978 (S. 948 ff.). 22 Zacher, a. a. O. (Anm. 17), S. 43 ff. 23 Zacher, a. a. O. (Anm. 17), S. 24 ff., 43 ff.

Sozialstaat und Gesundheitspolitik

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Diese These 24 setzt voraus, daß die Formel, wonach jeder Erwachsene die Freiheit hat und die Verantwortung trägt, durch Arbeit Einkommen zu verdienen und damit seine Bedarfe und die der von seinem Unterhalt abhängigen Familienmitglieder zu decken, nicht greift. Das ist die positive Begründung dafür, warum der Sozialstaat hier leisten muß. Und es ist andererseits die negative Begründung dafür, warum er nur ein Mindestmaß leisten muß, ja darf. Geht er ohne einen zusätzlichen Grund darüber hinaus, hebt er damit die ihn tragende Grundformel selbst auf. Diese These ist in ihrem Kern das Erbe der Armenfürsorge. Zweitens: die soziale Sicherung für die sogenannten Wechselfälle des Lebens Diese These 25 setzt voraus, daß der Vollzug der Grundformel zumindest begonnen hat. Damit ist der Grund ebenso für das Bedürfnis zur Vorsorge wie für die Fähigkeit zur Vorsorge gelegt. Kann diese Vorsorge nicht in privater oder gesellschaftlicher Regie bewirkt werden, ist es die Verantwortung des Sozialstaates, durch entsprechende Systeme das Einkommen über den Eintritt sozialer Risiken hinaus fortzuschreiben oder das Mißverhältnis zwischen dem Einkommen und besonderen Bedarfen, das durch soziale Risiken bedingt ist, auszugleichen oder zu mindern. Diese These hat ursprünglich die Sozialversicherungsgesetzgebung als eine der Antworten auf die Arbeiterfrage entwickelt. Drittens: der Auftrag des Sozialstaates, mehr Gleichheit zu bewirken, insbesondere den Abbau, zumindest die Kontrolle von Abhängigkeitsverhältnissen Diese These 26 ist die allgemeinste unter den Geboten des Sozialstaates. Sie stand - wenn auch mit einem minimalen Verständnis von „Gleichheit" - schon hinter den ersten Antworten auf die Armutsfrage. Sie wurde erneut wirksam mit den frühen Antworten auf die Arbeiterfrage, indem gegenüber der krassen Ungleichheit zwischen den Arbeitern und ihren Dienstherren ein mäßigendes Arbeitsrecht entwickelt wurde, das nicht zuletzt auch den Gefährdungen entgegenwirkte, die mit dem Vollzug der Grundformel von Arbeit, Einkommen, Bedarfsdeckung und Unterhalt einhergingen. Und sie stand erneut hinter der zweiten Generation der Antworten auf die Arbeiterfrage, als die Sozialversicherungsgesetzgebung die Schwierigkeiten der Arbeiter, selbst gegen die „Wechselfälle des Lebens" vorzusorgen, aufgriff. Aber alsbald gelangte die Geschichte des Sozialstaates in die offene See der BesserSchlechter-Konstellationen, welche die Wirkungen des Satzes von Arbeit, Einkommen, Bedarfsdeckung und Unterhalt in den unterschiedlichsten Zusammenhängen bestimmen und beeinträchtigen können, aber auch der Konzepte, mit denen der Sozialstaat auf diese Herausforderungen antworten kann: eine Proliferation sozialer Ungleichheiten und ihrer Kompensation, die bis heute anhält und nach der Natur der Sache kein Ende finden kann.

24 25 26

Zacher, a. a. O. (Anm. 17), S. 20 ff. Zacher, a. a. O. (Anm. 17), S. 30 ff. Zacher, a. a. 0 . (Anm. 17), S. 24 ff.

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Viertens: die Verantwortung des Staates für das Funktionieren der Wirtschaft, insbesondere für die Erhaltung und Mehrung des Wohlstandes sowie die Ausbreitung der Teilhabe am Wohlstand Diese These 27 transzendiert die Formel von Arbeit, Einkommen, Bedarfsdeckung und Unterhalt. Sie umgibt sie. Sie sucht die Wirksamkeit der Formel großräumig zu optimieren. Im Normgefüge des Sozialstaates ist diese These zuletzt bewußt geworden. Immerhin: Artikel 151 der Weimarer Verfassung begann mit dem Satz: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen." Was der Weimarer Verfassung in der Geschichte folgte, waren dramatische Phasen der Turbulenz: von dramatischen Problemen und ebenso von dramatischen Versuchen ihrer Lösung. Unter dem Grundgesetz klärte sich das Feld der Strategien zum Dogma der „sozialen Marktwirtschaft": zur Konzentration des Rechts auf die allgemeine Ordnung der Wirtschaft, insbesondere auf die Sicherung des Wettbewerbs, und zur Konzentration der politischen Interventionen auf die Globalsteuerung. Indem Recht und Politik der sozialen Marktwirtschaft so die wirtschaftlichen Abläufe auf ihre „Eigentlichkeit" hin integrierten, wuchsen die kompensatorischen Aufgaben des Sozialstaates gegenüber den Wohlstandsdifferenzen, die damit einhergingen. Aber präsumtiv wuchsen, weil die Wirtschaft produktiver wurde, auch die Mittel, sie wahrzunehmen. c) Der Primat der gesellschaftlichen Realisation Mit diesem Konzept der sozialen Marktwirtschaft stößt unsere Betrachtung auf ein bedeutsames Wesensmerkmal dieses Sozialstaates: den Primat der gesellschaftlichen Realisation des „Sozialen", für den die soziale Marktwirtschaft nur ein wenngleich wichtiges - Beispiel ist.28 Dem liegt eine strukturelle Prämisse voraus. Dieser Sozialstaat baut auf der Dialektik von Staat und Gesellschaft auf. Er ist nicht einfach Sozialstaat. Er ist kein „sozialistischer" Staat, in dem die Dialektik von Staat und Gesellschaft aufgehoben, ja erstickt ist. Er ist ein freiheitlicher Sozialstaat - das heißt: eine soziale Demokratie und ein sozialer Rechtsstaat. Dessen Grundrechte gewährleisten Freiheiten und demgemäß auch Verantwortlichkeiten, die Raum und Wirksamkeit der Gesellschaft konstituieren. Damit ist auch der Grund für die Entfaltung wirtschaftlicher und sozialer Kräfte gelegt, ohne deren Wirksamkeit ein Wohlstand nicht denkbar ist. Dabei geht es nicht nur um dessen quantitatives Niveau. Es geht auch um die pluralistische Qualität des Wohlstandes. Es geht auch darum, daß die Vielfalt der Kräfte immer wieder neue Suchprozesse nach neuen Lösungen auf den Weg bringt. Natürlich erstreben diese nicht alle von sich aus das Soziale. Natürlich sind viele dieser Kräfte und viele dieser Prozesse mehr oder minder unsozial. Aber die Prosperität, die sie bewirken, ist zusammen mit der staatlichen Kompetenz, die Entwicklung in sozialen Grenzen zu halten, die relativ beste 27 28

Zacher, a. a. O. (Anm. 17), S. 37 ff. Zacher, a. a. O. (Anm. 17), S. 18 ff.

Sozialstaat und Gesundheitspolitik

151

Chance für ein hohes Niveau des Wohlstandes bei gleichzeitiger Beherrschbarkeit des Risikos unsozialer Effekte. Der Preis ist ein hoher Grad an Komplexität. Die Vielgestaltigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse und Kräfte und die Vielfalt der sozialpolitischen Korrekturen geben den Wirkungen des Sozialstaates ein hohes Maß ebenso an Verschiedenheit wie an Unübersichtlichkeit und Unvorhersehbarkeit. So besteht eine tiefe Spannung zwischen dem hintergründigen Ideal sozialer Gleichheit und dem Vordergrund einer ungleichen Wirklichkeit.

II.

Die Begegnung von Gesundheitspolitik und Sozialstaat 1. Gesundheit/Krankheit

im

Sozialstaat

Damit haben wir die Landkarte des Sozialstaates gezeichnet, auf der wir die Probleme von Gesundheit und Krankheit verorten können. So offenkundig ist, daß der Sozialstaat den hohen Rang des Gutes Gesundheit anerkennt und wie dringlich ihm deshalb die Hilfe im Falle der Krankheit ist, so ist das primäre Motiv seines Eintretens doch die ökonomisch-soziale Situation: der ökonomisch-soziale Nachteil, das ökonomisch-sozial definierte Schutzbedürfnis. Wir finden die Probleme von Gesundheit und Krankheit in der Landschaft des „real existierenden" deutschen Sozialstaates deshalb nur, wenn wir nach ihren ökonomisch-sozialen Bezügen fragen. a) Krankheit als Anlaß sozialer Sicherung Wohl am schnellsten fallen die Orte ins Auge, die das Problem Krankheit auf der Landkarte des Sozialstaates deshalb einnimmt, weil es Defizite im Vollzug der Grundregel von Arbeit, Einkommen, Bedarf und Unterhalt benennt: wenn Krankheit die Arbeitskraft beeinträchtigt und damit das Einkommen sistiert; und wenn Krankheit Kosten verursacht, die zu einem Mißverhältnis zwischen Einkommen und Bedarfsdeckung führen. Es sind die klassischen Orte, in denen die soziale Krankenversicherung 29 den Einkommensausfall durch das Krankengeld kompensiert und die besonderen Bedarfe durch Dienst- und Sachleistungen, ausnahmsweise auch durch Geldleistungen deckt - umgeben freilich von der hochdifferenzierten Gesamtheit des Arbeitsrechts, des öffentlichen Dienstrechts und spezieller Systeme sozialer Sicherung und der privaten Vorsorge, welche diese Defizite mit teils analogen, teils alternativen Techniken zu decken suchen.30 Der Sozialstaat 29

Bertram Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts'. Bd. 1 Krankenversicherungsrecht, 1994. 30 Ein durchgehender Überblick über alle - auch nur alle real angewandten - Formen der Sicherung für den Fall der Krankheit, der Mutterschaft usw. ist dem Verfasser nicht bekannt geworden. Über die benachbarten Sozialleistungssysteme berichtet der Dritte Abschnitt „Das Verhältnis der gesetzlichen Krankenversicherung zu den übrigen Zweigen der sozialen Sicherung", in: Schulin, Krankenversicherungsrecht (Anm. 29). In unserer Zeit werden vor allem gesetzliche und private Krankenversicherung in Vergleich gesetzt. Aber das volle Ensemble unter Einschluß der arbeits- und dienstrechtlichen (beamten- und soldatenrechtlichen) Lösungen sowie des Eintretens altruistischer Hil-

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verwirklicht sich im Sinne seiner Zweiten These: der von der sozialen Sicherheit. Wesentlich dabei ist, daß der Sozialstaat grundsätzlich den Zugang über eine gruppenspezifische Definition der Schutzbedürftigkeit nimmt. Er grenzt seine Verantwortung für die Abwehr von Gefahrdungen und die Kompensation von Defiziten, die sich beim Vollzug der Grundregel ergeben können, nach ökonomisch-sozialen Kategorien gruppenspezifisch ab. Der Sozialstaat antwortet nicht unmittelbar auf die Herausforderung, daß Krankheit sowohl Arbeitskraft und Einkommen als auch das angemessene Verhältnis zwischen Einkommen und Bedarfen bedroht. Er antwortet vielmehr primär auf die Frage, wer gegenüber diesen Risiken eines besonderen Schutzes im Sinne angemessener Vorsorge bedarf. b) Gefährdungen und Beeinträchtigungn der Gesundheit als Ursachen und Wirkungen sozialer Ungleichheit Die ökonomisch-soziale Konstellation, die zur Verantwortung des Sozialstaates fuhrt, intensiviert sich, wenn mit dem Vollzug der Regel von Arbeit, Einkommen, Bedarfsdeckung und Unterhalt selbst spezifische Gefährdungen einhergehen, wie sie sich für die Arbeitnehmer in Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten manifestieren.31 Hier gilt die erste Sorge des Sozialstaates der Abwehr dieser Gefährdungen. Realisieren sie sich gleichwohl, so müssen auch hier die Probleme des Einkommensausfalls sowie der Behandlungs- und Pflegekosten gelöst werden. Aber auch hier gilt der Grundsatz: vorgreiflich ist der Schutzanspruch der Gruppen, des ökonomisch-sozialen Typus. In gewissen Zusammenhängen kann diese besondere Verantwortung des Sozialstaates nicht - wie normalerweise zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern - im Zusammenhang mit einem Verhältnis der Abhängigkeit gesehen werden. Vielmehr kann sich die Verantwortung auch auf eine Situation konzentrieren: von der Situation, in die ein Lebensretter überraschend gerät, bis hin zur Situation eines Kriegsopfers, das an das militärische Geschehen durch kein Dienstverhältnis herangeführt wurde. Unechtes Unfallversicherungsrecht 32 und soziales Entschädigungsrecht 33 sind Versuche, dieser nur situationeilen Verantwortung gerecht zu werden und damit verbundene Opfer an körperlicher Integrität und Gesundheit zu heilen und/oder zu kompensieren. Dabei freilich lockert sich die Einbindung des Problems in die Formel von Arbeit, Einkommen, Bedarfsdeckung und Unterhalt. Die Gesundheit tritt als ein eigenständiges Schutzgut mit besonderer Unmittelbarkeit hervor. Deshalb kennt das soziale Entschädigungsrecht auch Ersatzleistungen, die weder mit Einkommensausfall noch mit Bedarfsdeckung zwingend zu tun haben. Gleichwohl:

fen (Kirchen, Wohlfahrtsverbände, freie Gruppen) sowie kollektiver Selbsthilfe ist, soweit der Verfasser sehen kann, nicht dargestellt. 31 W o l f g a n g Gitter, Unfallversicherung, in: Bernd v. Maydell/Franz Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 2. Auflage 1996, S. 821-876. 32 Gitter, a. a. O. (Anm. 31), Rz. 3. 33 Bertram Schulin, Soziales Entschädigungsrecht, in: v.Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (Anm. 31), S. 1307-1352.

Sozialstaat und Gesundheitspolitik

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Auch in diesen Zusammenhängen - insbesondere auch im Zusammenhang der unechten Unfallversicherung und des sozialen Entschädigungsrechts - bleibt der ökonomisch-soziale Kontext relevant. Es geht auch um die Kosten der Behandlung, auch um die Einbuße an Erwerbsfähigkeit, auch darum, die soziale Sicherung der Familie zu gewährleisten, auch darum, den Hinterbliebenen den Unterhalt zu ersetzen. Insgesamt ist in diesem Zusammenhang immer wieder die Dritte These vom Sozialstaat herausgefordert: mehr Gleichheit zu bewirken - Gleichheit also zwischen den Arbeitgebern, welche die Arbeitsbedingungen schaffen, und den Arbeitnehmern, die auf sie angewiesen sind; mehr Gleichheit zwischen denen, die im Interesse der Allgemeinheit vor Risiken gestellt sind, und denen, die ihnen nicht ausgesetzt sind; mehr Gleichheit zwischen denen, die Opfer erleiden, und denen, die sie nicht bringen. Aber immer dort, wo Schäden eintreten und ausgeglichen werden, geht es auch um die Zweite These, die These von der sozialen Sicherheit. c) Hilfen bei Krankheit als Gewährleistung des Existenzminimums Aber auch die Erste These - die Garantie eines Existenzminimums - führt zu Hilfen bei Krankheit. 34 Maßgeblich ist auch hier der wirtschaftlich-soziale Kontext. Der Staat greift nur ein, soweit die notwendigen Kosten dem Hilfeempfänger nicht zugemutet werden können. d) Das Bedürfnis sozialen Schutzes als Voraussetzung sozialer Intervention Sind so alle „negativen" Vorkehrungen zur Abwehr von Gefahren für die Gesundheit und zur Hilfe bei Krankheit in den Zusammenhang eines ökonomisch-sozialen Schutzbedürfnisses eingebunden, so gilt das auch für die „positiven" Hilfen zur Entfaltung des Rechts auf Gesundheit. So beginnt des V. Buch des Sozialgesetzbuchs über die „Gesetzliche Krankenversicherung" mit dem Satz (§ 1 Satz 1): „Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern." Und das umfassendere soziale Recht auf Sozialversicherung (§ 4 Abs. 2 des I. Buches des Sozialgesetzbuches) unterstreicht, wie das gemeint ist: „Wer in der Sozialversicherung versichert ist," also nur der, für den die Sozialversicherungsgesetzgebung sein gruppentypisches Schutzbedürfnis anerkannt hat, „hat im Rahmen der gesetzlichen Kranken-, Pflege-, Unfall- und Rentenversicherung ... ein Recht auf 1. die notwendigen Maßnahmen zum Schutz, zur Erhaltung, zur Besserung und zur Wiederherstellung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit und 2. wirtschaftliche Sicherung bei Krankheit, Mutterschaft ..." 34

Trenk-Hinterberger, Sozialhilferecht, in: v. Maydell/Ruland, Sozialrechtshandbuch (Anm. 31), S. 1177-1220 (S. 84 ff.).

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Ähnlich liest sich das soziale Recht auf soziale Entschädigung bei Gesundheitsschäden (§ 5 Abs. 1 (SGB I)). Allenfalls das Recht auf Eingliederung Behinderter ( § 1 0 (SGB I)) scheint das Defizit an Gesundheit direkter aufzugreifen. Aber bei genauem Zusehen (§ 29 (SGB I)) wird gerade dem Behinderten nichts versprochen, was nicht durch die besonderen sozialen Voraussetzungen eines der besonderen Bücher des Sozialgesetzbuches veranlaßt ist. § 1 des Sozialgesetzbuches schließlich, der das Programms des ganzen Sozialleistungsrechts umschreibt, spricht die „Gesundheit" nicht einmal an. 2. Das Verhältnis von Gesundheitspolitik

und

Sozialstaat

Sehen wir also: Der Sozialstaat geht die Gesundheitspolitik nur von seiner Seite, von der Negation ökonomisch-sozialer Nachteile und von dem Auftrag, Wohlstandsdifferenzen zu mindern, her an. Die Mengenlehre wird deutlich: Gesundheitspolitik muß mehr sein als sozialstaatliche Politik; und sozialstaatliche Politik muß mehr sein als Gesundheitspolitik. Betrachten wir dieses Verhältnis nun von der Gesundheitspolitik her.35 a) Gesundheitspolitik als Hilfe zur Entfaltung der Freiheit zur Gesundheit Die erste Schicht der Gesundheitspolitik, die Hilfe zur Entfaltung der individuellen Freiheit zur Gesundheit, hat mit dem Sozialstaat eine lose und konfliktsfreie Verbindung. Gewiß dürfen wir den Sozialstaat in allen seinen Facetten als einen wichtigen Garanten des „sozialen Wohlbefindens" verstehen, das nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation zur Gesundheit gehört. Obwohl nicht zu verkennen ist, wie wichtig dafür auch Demokratie, Rechtsstaat, Kulturstaat und Umweltstaat sind - um bei vergleichbaren Epitheta zu bleiben. 36 Doch wenden wir uns der Mitte der Gesundheit zu: dem körperlichen Wohlbefinden und also der Gesundheitspolitik als Hilfe, die Freiheit zum körperlichen Wohlbefinden zu entfalten. Der Sozialstaat mindert die Wohlstandsdifferenzen. Und Wohlstandsdifferenzen bedeuten immer Differenzen auch hinsichtlich der Fähigkeit, Freiheit zu nutzen. Es bedarf hier keiner Beschreibung, wie vielfältig der Sozialstaat diese Mehrung und insbesondere diese Ausbreitung der Freiheit spezifisch und unspezifisch, unmittelbar und mittelbar gerade auch für die Freiheit zur Gesundheit bewirkt. Aber Freiheit bleibt Freiheit. Und wie die Spielräume genutzt werden, die der Sozialstaat eröffnet, ist auch hinsichtlich der Freiheit zur Entfaltung des Rechts auf Gesundheit ungewiß. Aber davor, die Freiheit einzuschränken, schreckt der Sozialstaat ebenso zurück wie die Gesundheitspolitik.

35 36

S. noch einmal Anm. 13. S. Anm. 20.

Sozialstaat und Gesundheitspolitik

155

b) Gesundheitspolitik als Schutz der Gesundheit Intensiver, aber auch selektiver ist die Begegnung von Gesundheitspolitik und Sozialstaat hinsichtlich der zweiten Tranche der Gesundheitspolitik: des Schutzes gegen Gefahren für die Gesundheit. Geht es um Gefahren, die im Zusammenhang mit ökonomisch-sozialer Abhängigkeit entstehen, so ist es grundsätzlich die Sache des Sozialstaates, diesen Gefahren entgegenzutreten. Der Arbeitsschutz ist eines seiner ältesten und effektivsten Bauelemente. Andere Gesundheitsgefahren freilich erwachsen in wesentlich anderen Politikbereichen: in genuin gesundheitspolitischen wie im Kampf gegen ungesunde Lebensverhältnisse und gegen übertragbare Krankheiten; und in den weiten Feldern, in denen das Gemeinwesen mehr oder minder auch für den Schutz der Gesundheit verantwortlich ist, wie z. B. im Umweltschutz, im Verbraucherschutz, im Schutz öffentlicher Sicherheit, im Bauwesen und in der Raumplanung. Sozialstaat und Gesundheitspolitik stehen auf dieser Ebene im Verhältnis einer harmonischen Komplementarität. c) Inhalte und Zwecke der „medizinischen Versorgung" Überaus schwierig werden die Beziehungen jedoch im Hinblick auf die dritte Ebene der Gesundheitspolitik: die medizinische Versorgung im Krankheitsfall - was hier in einem weiten Sinn von ambulanter ärztlicher Behandlung, Betreuung durch andere Heilberufe, Pflegeleistung, Krankenhauswesen, Rehabilitationseinrichtungen, Versorgung mit Arzneien, Heilmitteln und Hilfsmitteln usw. verstanden werden soll. Ehe wir insofern die wirklichen Konfliktszonen betreten, können wir noch einmal Unproblematisches abschichten. Dieses unproblematische Feld ist die Verantwortung der Gesundheitspolitik für die Minimalia einer sachgerechten Versorgung: für die Ausbildung, die Zulassung, den allgemeinen Rahmen einer ordentlichen Berufsausübung vor allem der Ärzte und anderer an der medizinischen Versorgung beteiligten Berufe, für die Ordnungsgemäßheit von Arzneien, Heilmitteln und Hilfsmitteln, für die Mindestanforderungen an Krankenhäuser und ähnliche Einrichtungen, für angemessene zivil- und strafrechtliche Verantwortlichkeiten und Konfliktslösungen. Erst jenseits dieses Fragenkreises beginnen die großen Schwierigkeiten. Bezeichnen wir den Problemkreis mit dem Stichwort der Bereitstellungsverantwortung,37 Das Wort ist ein Kürzel. Es geht dabei um die Bereitstellung und die Realisierung entsprechender Einrichtungen und Funktionen - um die Organisation und die Wirksamkeit von Menschen und Sachen. Gesundheitspolitisch ist damit die Frage gemeint, wie Gesellschaft und Gemeinwesen der Aufgabe gerecht werden, daß alle 37 Dem folgenden entspricht im wesentlichen die Perspektive des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen: „Herausforderungen und Perspektiven der Gesundheitsversorgung" Jahresgutachten 1990, 1990; „Das Gesundheitswesen im vereinten Deutschland" Jahresgutachten 1991, 1991; „Ausbau in Deutschland und Aufbruch nach Europa" Jahresgutachten 1992, 1992; „Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000" Sachstandsbericht 1994, 1994; „Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000" Sondergutachten 1995, 1995; „Gesundheitswesen in Deutschland. Kostenfaktor und Zukunftsbranche" Sondergutachten 1996, 1996.

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gerechtfertigten Bedarfe an medizinischer Versorgung optimal gedeckt werden, ohne daß die Kosten in ein Mißverhältnis zu konkurrierenden Lasten der öffentlichen und der privaten Haushalte treten. Komplexer ist die Frage für den Sozialstaat.n Für ihn geht es primär darum, daß die medizinische Versorgung in einer Weise bereitgestellt und realisiert wird, daß sie auch den sozial Schwächeren ohne Nachteil zugängig ist. Aber die medizinische Versorgung steht weit darüber hinaus unter der Maßgabe des Sozialstaates. Erstens muß der Aufwand der medizinischen Versorgung sozial angemessen verteilt werden und in einem angemessenen Verhältnis zu den Mitteln für konkurrierende soziale Zwecke stehen. Zweitens ist die medizinische Versorgung in sich ein komplexes Gefüge ökonomisch-sozialer Beziehungen; und diese bedürfen in sich einer Gestaltung, die dem Auftrag des Sozialstaates gerecht wird. In der geschichtlichen Realität aber scheint gerade das schwierig zu sein: von diesem sozialen Ansatz nicht überzugehen zu einem umfassenden zivilisatorischen Vorhaben maximaler gesundheitlicher Versorgung. d) Die Trennung der Perspektiven - die Einheit der Aufgabe So deutlich wir diese Perspektiven trennen können, so sehr aber durchdringen sich die Wirklichkeiten, die gemeint sind. Eine moderne medizinische Versorgung kann in ein- und demselben Gemeinwesen nicht zweimal organisiert werden. Sie stellt bei aller denkbaren Ausdifferenzierung - letztlich eine Einheit dar. Um diese Problematik zu erläutern, ist es notwendig, über die Geschichte und die Gegenwart des Sozialstaates der Bundesrepublik Deutschland komparativ hinauszublicken. 39 Darm sehen wir, daß es dafür, wie diese Einheit angelegt wird, - typisierend vereinfacht - zwei Lösungen gibt. BereitstellungsNennen wir die eine Lösung die aufgabengetragene verantwortung. Gemeint ist damit, daß der Staat wegen seiner gesundheitspolitischen Zuständigkeit die Bereitstellungsverantwortung hat. Nationale Gesundheitsdienste gehen das Problem von dieser Seite her an. Aufgabengetragene Lösungen sind im wesentlichen administrativer Natur. 38

Hans F. Zacher, Arzt und Sozialstaat, in: Sozialer Fortschritt, 34. Jg. (1985), S. 217-224. An komparativen Studien s. insbesondere Hans-Ulrich Deppe (Hrsg.), Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik in Westeuropa, 1983; Jens Alber/Brigitte Bemardi-Schenkluhn, Westeuropäische Gesundheitssysteme im Vergleich. Bundesrepublik Deutschland, Schweiz, Frankreich, Italien, Großbritannien, 1992; Markus Schneider/Peter Biene-Dietrich/Monika Gabanyi/Uwe Hofmann/Manfred Huber/Aynur Köse/Jürg H. Sommer, Gesundheitssysteme im internationalen Vergleich. Ausgabe 1994, 1995; OECD Health Systems, Health Policy Studies Nr. 3, 2 Bände, 1993. Komparative Übersichten über die Gesundheitsversorgungssysteme finden sich ferner in den Übersichtstabellen, in denen die Systeme sozialer Sicherheit dargestellt werden. Für die Europäische Union: Missoc 1995 (Soziale Sicherheit in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union), 1996; für die dem Europarat angehörenden Staaten, die nicht zugleich Mitglied der Europäischen Union sind: Council of Europe, Comparative Tables of Social Security Schemes in Council of Europe Member States not Members of the European Union, and in Albania, Australia, Canada, Letvia and in the Russian Federation, 7th Edition (Situation at 1 July 1994, 1995). Eine weltweite Übersicht s. in US Department of Health and Human Services, Social Security Administration, Office of Research and Statistics, Social Security Programmes throughout the World - 1993, 1993. Die im Text erarbeitete Betrachtungsweise entspricht jedoch unmittelbar keiner der komparativen Studien. 39

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-

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Sie sind der Tendenz nach auch zentralistischer Natur - auch wenn untere administrative Ebenen an der Verwirklichung beteiligt werden, innerhalb deren es dann eben partikulare Zentralismen geben kann. Die Alternative hierzu ist die Nachfrage-Angebots-Lösung. Sie ist im Ansatz gesellschaftlicher und dezentraler - anders akzentuiert: marktwirtschaftlicher - Natur. Ohne eine sozialpolitische Intervention ließe sie die Wohlstandsunterschiede unter den Nachfragern unvermindert auf die medizinische Versorgung durchschlagen. Die sozialpolitische Intervention hingegen bessert die „Kaufkraft" eines mehr oder minder großen Teils der Nachfrager auf oder ersetzt sie. Das geht in der Regel mit einer Regulierung der Nachfrage einher. In jedem Fall wirkt die sozial modifizierte Nachfrage auf das Angebot ein.

Mit diesen Alternativen nähern wir uns dem Verhältnis von Sozialstaat und Gesundheitspolitik noch einmal auf eine neue Weise. Welchen Einfluß haben diese Alternativen auf die medizinischen Standards? Und welchen Einfluß haben sie auf die ökonomisch-sozialen Verhältnisse? Im aufgabengetragenen System konzentriert sich die Verantwortung für die medizinischen Standards und für deren Kosten auf das System selbst: auf diejenigen, welche im System die Leitungsverantwortung tragen; und auf diejenigen, welche die politische Verantwortung nach außen dafür zu tragen haben. Die Nachfrager sind grundsätzlich auf die Wege und Instrumente der allgemeinen demokratischen Politik verwiesen, um ihre Interessen geltend zu machen. Möglicherweise kann der Bürger den nationalen Gesundheitsdienst auch dadurch kritisieren, daß er marktwirtschaftliche Alternativen in Anspruch nimmt. Die sozialen Wirkungen hängen von den Modalitäten ab, mit denen der Zugang zu den Leistungen und die Inanspruchnahme der Leistungen verknüpft werden, von der Art und Weise, wie die Mittel - durch eine spezifische, aber umfassende Solidargemeinschaft oder von den Steuerzahlern - aufgebracht werden, und von den Strukturen, in denen die medizinische Versorgung organisiert wird. Jedenfalls werden die sozialen Wirkungen durch den zentralen Charakter des Systems überschaubar. Die Kritik ist allenfalls: zu überschaubar. Der Primat der gesellschaftlichen Realisation des Sozialen wird mehr oder minder aufgehoben. Fluch und Segen der damit verbundenen Vielfalt werden minimiert, wenn nicht gar verdrängt. -

Im Nachfrage-Angebots-Modell dagegen feiert eben diese Vielfalt Triumphe. Die Wirkungen dieses Modells hängen ganz davon ab, ob die Gesundheitspolitik sich aus dem Angebot ganz zurückzieht oder ob sie - wie in Deutschland lange Zeit hinsichtlich des Krankenhauswesens - noch auf die Bereitstellung und Realisierung des Angebots Einfluß nimmt. Und weitaus mehr noch hängen sie davon ab, wie der Sozialstaat die Nachfrage strukturiert: ob er kraft eines universalistischen Ansatzes alle Einwohner oder zumindest alle Er-

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werbstätigen zu einer umfassenden Solidargemeinschaft zusammenfaßt oder ob er kraft eines selektiven Ansatzes spezifische Gruppen schützt, worin sich der Schutz der verschiedenen Gruppen unterscheidet, ob am Ende die vom Sozialstaat Gesicherten dominieren oder die, um deren Sicherung sich der Sozialstaat nicht kümmert, und ob dies die „Reicheren" oder die „Ärmeren" sind. Die Wirkungen des Nachfrage-Angebot-Modells hängen schließlich davon ab, wie die Organisation der Nachfrage auf das Angebot einwirkt: Ob durch die einzelnen Versicherungsträger - wie es für die Praktiken der Health-Maintenance-Organisations oder der managed care 40 vor allem in den USA typisch ist - oder - wie hierzulande - in einem die Versicherungsträger übergreifenden Regime., ob durch Vorteils-Nachteils-Mechanismen, die - wie Zuzahlungen - das individuelle Verhalten der Nachfrager und ihrer Leistungspartner indirekt steuern sollen, oder durch Normen, die - wie die deutschen Gesamtverträge, Richtlinien usw. - das „richtige" Leistungsgeschehen „objektiv" programmieren wollen. 41 3. Zur Situation in

Deutschland

a) Das sozialstaatlich getragene Nachfrage-Angebots-Modell: gesundheitspolitisches Optimum und Maximum zugleich? Dieser Vortrag ist nicht der Ort, verschiedene nationale Beispiele vergleichend gesundheitspolitisch und sozial - zu bewerten. Der Sinn dieses Vortrags konnte nur sein, der Bewertung unseres Systems und seiner Wirklichkeit einen Rahmen zu geben. Lassen sie mich deshalb zum Schluß nur noch einige Bemerkungen zur Situation in unserem Lande anbringen, die durch ein sehr ausgeprägtes Nachfrage-Angebots-Modell gekennzeichnet ist, in dem die staatliche Gesundheitspolitik - aufgeteilt auf Bund, Länder und Kommunen - eine recht begrenzte Bereitstellungsverantwortung trägt, während die Masse der Bereitstellungsverantwortung dadurch wahrgenommen wird, daß die sozialversicherungsrechtlich strukturierte Nachfrage auf die Anbieter einwirkt und das Leistungsgeschehen in Zusammenarbeit mit ihnen ordnet. Wenn die medizinischen Standards in diesem System dazu tendieren, optimal zu sein, so ist das der Führungsrolle des Sozialstaates zu verdanken. Seine Institutionen haben, um keinen medizinischen Nachteil der „sozial Schwächeren" zuzulassen, von sich aus auf einen hohen Stand medizinischer Versorgung hingewirkt. Dabei ist ein majoritäres System - die Gesetzliche Krankenversicherung - nicht nur selbst von hoher Durchsetzungskraft, sondern auch dem Wettbewerb einer Vielfalt 40

S. z. B. Manfred Baumann/Joharm Stock, Managed Care - Impulse fur die GKV?, 1996; Michael Arnold/Karl W. Lauterbach/Klaus-Jürgen Preuß, Managed Care. Ursachen, Formen und Effekte, 1997. 41 Einige Aspekte s. bei Schneider u.a. a.a.O. (Anm. 39).

Sozialstaat und Gesundheitspolitik

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weiterer Systeme (der beamtenrechtlichen Beihilfe, der Unfallversicherung, der privaten Krankenversicherung usw.) sowie derer, die sich eine maximale medizinische Versorgung auch ohne Vorsorge leisten, 42 ausgesetzt. 43 Diese Konstellation hat dem gesundheitspolitischen Anspruch besondere Energien zugeführt. Nun wirkt in diesem Modell aber nicht nur die Nachfrage auf das Angebot ein. Auch das Angebot bestimmt die Nachfrage. So ist neben der Tendenz zur Optimierung des Standards auch eine Tendenz zur Maximierung des Leistungsgeschehens spürbar. Ob dabei auch die Vertretbarkeit der Gesamtaufwendungen hinreichend in Betracht gezogen wurde, bleibt offen. Das Fehlen einer gesundheitspolitischen Gesamtverantwortung mag insofern negative Wirkungen haben. b) Schieflagen Der Sozialstaat hat sich in diesem System vor allem auf den Auftrag konzentriert, zu verhindern, daß ökonomisch-soziale Nachteile zu Nachteilen in der medizinischen Versorgung führen. Und er hat einen Wesenszug des freiheitlichen Sozialstaates in den Vordergrund gestellt: den Primat der gesellschaftlichen Realisation des Sozialen. 44 Diese Prioritäten haben Posterioritäten übersehen lassen. Fragen hinsichtlich des sozialen „Wie" der Erfüllung seiner Aufgabe bleiben offen. Das gilt z. B. hinsichtlich des personellen und des sachlichen Umfanges des Schutzes der Gesetzlichen Krankenversicherung und des Solidarausgleichs unter den Versicherten. Die wohl wichtigsten Beispiele sind die Beitragsbemessungsgrundlage und die Beitragsbemessungsgrenze. 45 Sie gelten hinsichtlich der Gestaltung der Anreize und Pflichten zu einem solidarischen Leistungsverhalten und ihrer Verteilung auf die Leistungsempfänger und die Leistungserbringer.

42

S. noch einmal Anm. 30. Die Problematik des Mißverhältnisses zwischen dem (vermeintlich oder tatsächlich) umfassenden Steuerungsauftrag der Gesetzlichen Krankenversicherung und dem Rückgang des Anteils der bei ihr versicherten Personen an der Gesamtbevölkerung sowie dem Rückgang des von der Gesetzlichen Krankenversicherung getragenen Kostenanteils wird - soweit der Verfasser sehen kann - viel zu wenig artikuliert. Zu den unzulänglich aufbereiteten Zahlen s. etwa „Daten des Gesundheitswesens. Ausgabe 1997", Band 91 der Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, 1997, S. 291 ff., 313 ff.S. femer Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, „Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000" Sachstandsbericht 1994, S. 52 ff. 44 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang: Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, „Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000" Sondergutachten 1995, S. 47 (Rz. 59): „Im Zusammenhang mit den obigen umfassenden Gesundheitszielen traten folgende Bedingungen als gesundheitspolitische Ziele im Laufe der Zeit in den Vordergrund: ... Höchstmaß an Freiheit und Eigenverantwortung fiir alle Beteiligten (Freiberuflichkeit, Selbststeuerungskräfte etc.)..." 45 Bertram Schulin, Verfassungsrechtliche Grenzen bei der Umgestaltung des Sozialstaats im Bereich der Gesundheitssicherung, Vierteljahresschrift für Sozialrecht, 1997, S. 43-57 (53 f.). Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen problematisiert zwar die „Diskriminierung von Mehrverdienerfamilien" und (sehr zu Recht) die „Privilegierung der NichtArbeitseinkommen", geht die Problematik der Beitragsbemessungsgrenze aber nur mit größter (unangemessener) Vorsicht an. S. dazu „Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000" Sachstandsbericht 1994, S. 192 ff. (Rz. 475 ff.); „Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung 2000" Sondergutachten 1995, S. 165 ff. (Rz. 568 ff.).

43

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Und sie gelten hinsichtlich der Verteilung der Lasten und der Erträge auf die verschiedenen Gruppen der Leistungserbringer. Drei Fehler scheinen zum Prinzip geworden zu sein. Erstens: Die demokratische Macht des Mittelwählers führt immer wieder dazu, daß er seine Situation als auch „sozial Schwächerer" - weil es ja immer noch Leute gibt, die „besser weg" sind als er - mit besonderem Erfolg ausspielt. Die horizontale Dimension der Gesundheitspolitik ist ein gutes Medium, daneben den vertikalen Anspruch des Sozialstaats vergessen zu lassen. 46 -

Zweitens: Der Primat der gesellschaftlichen Realisation des Sozialen wurde - politischen Mächtigkeiten und Machbarkeiten folgend - sehr unterschiedlichen Bedingungen der Bindung und der Verteilung von Vorteilen und Nachteilen ausgeliefert. 47 Ich denke z. B. an die Einkommenssituation des Pflegepersonals im Verhältnis zu den anderen Leistungserbringern oder der organisatorisch-normativ eingebundenen Leistungserbringer (wie der Vertragsärzte) im Verhältnis zu den organisatorisch-normativ nicht eingebundenen Leistungserbringern (wie der pharmazeutischen Industrie). Und ich denke auch an die extrem unterschiedlichen Bedingungen, unter denen die Ärzte in diesem System verdienen: von nichts bis exorbitant. Der Segen der pluralistischen Vielfalt und der kreativen Unübersichtlichkeit, der mit dem Primat der gesellschaftlichen Realisation des Sozialen im freiheitlichen Sozialstaat einhergeht, verbindet sich immer öfter mit der Evidenz der Ohnmacht gegenüber unangemessenen Wohlstandseffekten.

-

Drittens: Nachfrage und Angebot wurden in einer Weise fragmentiert, die das Einpendeln auf ein Gleichgewicht hin zum puren Zufall werden läßt. Das gesamte Modell ist auf zwei Prämissen aufgebaut: auf der Steuerung des Angebots durch die Nachfrage; und auf der Steuerung der Nachfrage durch das dominante System der Gesetzlichen Krankenversicherung. Beide Prämissen sind mehr und mehr in Verfall geraten. Das System der Gesetzlichen Krankenversicherung hat durch Partikularisierung (Hereinnahme von Leistungsbereichen aus dem Versicherungsschutz, 48 Perforation des Sachleistungsprinzips durch unlimitierte Zuzahlungsregelungen, 49 Spielräume für

46

Zu den Umverteilungswirkungen der Gesetzlichen Krankenversicherung s. z. B. Hans Adam/Klaus-Dirk Henke, Ökonomische Grundlagen der Gesetzlichen Krankenversicherung, in: Schulin, Krankenversicherung (Anm. 29), S. 113-144 (S. 125 ff. Rz. 24 ff.). 47 Es ist bezeichnend für die übliche Verdrängung der Empirie durch den Verteilungskampf, daß der Verfasser gutes Zahlenmaterial zu den folgenden Behauptungen nicht finden konnte - jedenfalls nicht für Deutschland. Annähernd informatives Zahlenmaterial s.: OECD Health Systems, Health Policy Studies Nr. 3, 2 Bde. 1993; OECD Financing and Delivering Health Care, A Comparative Analysis of OECD Countries, Social Policy Studies Nr. 4, 1987; OECD Measuring Health Care 1960-1983, Expenditure, Costs and Performance, Social Policy Studies Nr. 2, 1985; Daten des Gesundheitswesens. Ausgabe 1997, Bd. 91 der Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, 1997. 48 S. insbesondere §§ 30 f. SGB V. 49 §§ 28 Abs. 2, 35, 36 SGB V.

Sozialstaat und Gesundheitspolitik

das ben,

Kostenerstattungsprinzip, 50 51

Experimentierklauseln

161 für

Modellvorha-

Strukturverträge 52 usw.) in sich an Steuerungskraft verloren. Die kon-

kurrierenden Nachfragestrukturen (beamtenrechtliche Beihilfe, Privatversicherung, Eigenvorsorge usw.) haben an Bedeutung gewonnen und sind mehr und mehr imstande, die Steuerungseffekte der Gesetzlichen Krankenversicherung abzuschwächen oder aufzuheben. 5 3 Und schließlich sind die Möglichkeiten der Nachfrage, auf das Angebot einzuwirken, sowohl auf der Seite der Nachfrage (wie eben skizziert) als auch auf der Seite des Angebots (Vertragsärzte,

nichtärztliche

„Behandler",

pharmazeutische

Industrie,

pharmazeutischer Großhandel und Apotheken, sonstige Hersteller und Lieferanten

von

Heil-

und

Hilfsmitteln,

Krankenhäuser,

Rehabilitations-

einrichtungen usw.) extrem ungleich. Daraus kann sich weder eine marktwirtschaftsanaloge noch eine politisch gesteuerte und verantwortete Ordnung ergeben. 54 Gewiß ist der gesundheitspolitische Erfolg des deutschen Sozialstaates auch ein sozialer Erfolg. Aber der Sozialstaat darf über den Eifer dieses Erfolgs seinen eigenen Auftrag nicht vernachlässigen. Aber er muß auch die Gefahr sehen, daß Maximierung zur Gefahr für die Optimierung, am Ende allein schon für die Machbarkeit werden kann - gesundheits - und sozialpolitisch.

III.

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50

§§ 13 Abs. 2, 6 4 S G B V . §§ 63 ff. SGB V. § 73a SGB V. 53 S. noch einmal Anm. 30 und Anm. 40. 54 Ulrich Becker, Gesetzliche Krankenversicherung zwischen Markt und Regulierung, Juristenzeitung, 52. Jg. (1997), S. 534-544 mit eingehenden Nachweisen. 51

52

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Zu den Autoren Buchner, Florian, Mitarbeiter am Projekt des „Bayerischen Forschungsverbundes Public Health" im Bereich Krankenversicherung. Henke, Klaus-D., Dr. rer. pol., ord. Professor für Finanzwissenschaft und Gesundheitsökonomie am Fachbereich Wirtschaft und Management der Technischen Universität Berlin seit 1995, Direktor am Europäischen Zentrum fiir Staatswissenschaften und Staatspraxis in Berlin seit 1996, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesminister der Finanzen, Vorsitzender des Sachverständigenrates fiir die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Mitglied des Konvents der Evangelischen Akademie Loccum, Ord. Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Vorsitzender der Aufbaukommission für den Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fachbereich der Hochschule Lüneburg (1980-1984), Vorsitzender der European Health Care Management Association (1989-1991). Igl, Gerhard, Dr. jur., Professor für Öffentliches Recht und Sozialrecht an der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel, Direktor des Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel seit 1997. Kaufmann, Franz-X., Dr. oec. Dr. h.c., Professor für Sozialpolitik und Soziologie an der Universität Bielefeld, Direktor am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (1979-1983), Direktor am Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld, Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, der Belgischen Akademie der Wissenschaften und der Europäischen Akademie Wissenschaften. Ehrendoktor der Universitäten Bochum und St. Gallen. Landenberger, Margarete, Dr. phil., Professorin für Gesundheits- und Pflegewissenschaften an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg. Forschungsprojekte zu den Themengebieten Beschäftigungsentwicklung, Soziale Sicherung, Organisation und Berufe des Gesundheitswesens, Pflege- und Gesundheitswissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen zu den genannten Gebieten. Mitgliedschaften u.a. in der Rentenkommission der Bundesregierung, Wissenschaftlicher Beirat der Senats-

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Verwaltung Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen Berlin sowie Expertengruppe „Pflegewissenschaft" der Robert-Bosch-Stiftung. Mutius, Albert von, Dr. jur., Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre an der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel und Leiter des Lorenz-von- Stein-Instituts für Verwaltungswissenschaften, Gründungsdekan des Fachbereiches Sozialwissenschaften an der Hochschule Lüneburg, seit 1987 Präsident des Deutschen Studentenwerkes, seit 1997 Direktor am Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Naegele, Gerhard, Dr. rer. pol., Professor für Soziale Gerontologie an der Universität Dortmund, Direktor des Instituts für Gerontologie in Dortmund. Rothgang, Heinz, Dr. rer. pol, Dipl.-Volkswirt sozw. R., Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Bremen seit 1997, Projektmitarbeiter und später Leiter in mehreren u.a. von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojekten zu den Wirkungen der Pflegeversicherung (div. Aufsatz- und Buchpublikationen zu diesem Thema), Lehrbeauftragter für Gesundheitsökonomik im Aufbaustudiengang „Öffentliches Gesundheitswesen" der Universität Bremen. Schütz, Rudolf-M., Dr. med., em. Professor für innere Medizin und Geriatrie, Direktor der Klinik für Angiologie und Geriatrie der Universität zu Lübeck, 1983 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Angiologie, 1986 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Angiologie (West), Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie seit 1992, Vorsitzender der Sachverständigenkommission zur Erstellung des 1. Altenberichtes der Bundesregierung, Mitglied der Bundesärztekammer und div. Kommissionen des Bundes und der Länder, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Geriatrie im BDI seit 1984. Wasem, Jürgen, Dr. rer. pol., Dipl.-Volkswirt, Professor für Öffentliches Gesundheitswesen und Epidemiologie an der Ludwig-Maxmilian-Universität München, unparteiisches Mitglied des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen, Vorsitzender der Unabhängigen Expertenkommission zur Untersuchung der Beitragssituation älterer Versicherter in der Privaten Krankenversicherung

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Zacher, Hans F., Dr. jur. Dres. h.c. mult., em. Professor für Öffentliches Recht an der Universität München, Wissenschaftliches Mitglied seit 1980, von 1980 bis 1992 auch Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht, Präsident der Max -Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. von 1990 bis 1996, Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften, der Academia Europaea, der Academia Scientiarum et Artium Europaea etc., Ehrenvorsitzender des Deutschen Sozialrechtsverbandes, Ehrendoktor der Universitäten Löwen, Breslau und Szeged sowie des Weizmann Institute of Science (Rehovot/Israel).