Gerechtigkeit im Gesundheitswesen [1 ed.] 9783428519446, 9783428119448

Gerechtigkeit im Gesundheitswesen ist eine der größten gesundheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit. Demografis

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Gerechtigkeit im Gesundheitswesen [1 ed.]
 9783428519446, 9783428119448

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Sozialpolitische Schriften Heft 88

Gerechtigkeit im Gesundheitswesen Herausgegeben von Alexander Brink, Johannes Eurich, Jürgen Hädrich, Andreas Langer und Peter Schröder

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

BRINK / EURICH / HÄDRICH / LANGER / SCHRÖDER (Hrsg.)

Gerechtigkeit im Gesundheitswesen

Sozialpolitische Schriften Heft 88

Gerechtigkeit im Gesundheitswesen Herausgegeben von Alexander Brink, Johannes Eurich, Jürgen Hädrich, Andreas Langer und Peter Schröder

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Der Druck des vorliegenden Bandes erfolgt mit freundlicher Unterstützung des AOK-Bundesverbandes.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-5998 ISBN 3-428-11944-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Geleitwort Angesichts des demographischen Wandels, des rasanten Fortschritts in der Medizin sowie den begrenzten finanziellen Mitteln in der gesetzlichen Krankenversicherung kommt ethischen Fragen in der Gesundheitsversorgung eine größere Bedeutung zu. Immer öfter werden Themen aus der Medizinethik wie zum Beispiel die gerechte Verteilung der zur Verfügung stehenden Ressourcen in der Öffentlichkeit diskutiert. Damit packen die Beteiligten ein heißes Eisen an: Denn was ist überhaupt gerecht? Und: Wer soll und kann das definieren? Für die AOK, die für eine solidarische Gemeinschaft eintritt, haben Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und der Ressourcenallokation deshalb eine hohe Priorität, weil sie immer im Spannungsfeld von Medizin, Ökonomie und Ethik zu sehen sind: Nicht alles, was medizinisch machbar ist, ist auch gleichzeitig wirtschaftlich und ethisch vertretbar. Um also zu tragfähigen Antworten zu kommen, müssen alle drei Aspekte gleichermaßen berücksichtigt werden. Aus Sicht der AOK dürfen Entscheidungen darüber, wie die knappen Ressourcen im Gesundheitswesen eingesetzt werden, auch in Zukunft nicht allein aus wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Überlegungen gefällt werden. Vielmehr brauchen wir einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber, wie eine zukunftsfähige medizinische Versorgung, die sowohl den Grundsätzen der Qualität und Wirtschaftlichkeit Rechnung trägt, aber auch dem zunehmenden Wunsch der Betroffenen nach Partizipation nachkommt, aussehen kann. An dieser gesamtgesellschaftlichen Diskussion möchte sich die AOK aktiv und konstruktiv beteiligen – zum Wohle der Patientinnen und Patienten. Ein weiteres Thema, über das wir diskutieren sollten, ist die Definition des Begriffes Krankheit. Denn dieser ist in unserem solidarisch finanzierten Gesundheitswesen von zentraler Bedeutung. Doch was bedeutet „krank sein“ überhaupt? Bisher gibt es noch keine eindeutige Definition von Krankheit und Gesundheit. Ist solch eine subjektive Größe dann überhaupt geeignet, den konkreten medizinischen Behandlungsbedarf von Patientinnen und Patienten zu bestimmen? Hinzu kommt, dass Entscheidungen im Gesundheitswesen sowohl für den Einzelnen als auch im Hinblick auf die Versorgung einer ganzen Bevölkerungsgruppe zu treffen sind. Soll ein Einzelner die optimale oder gar maximale medizinische Behandlung bekommen – oder ist es nicht gerechter, wenn für alle Patienten gleichermaßen das medizinisch Notwendige zur Verfügung steht?

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Geleitwort

Solchen Fragen sehen sich die Akteure im Gesundheitswesen tagtäglich ausgesetzt. Und diese unterschiedlichen Ansätze führen nicht selten zu Konflikten. Gerade hier ist eine öffentliche ethische Diskussion unbedingt notwendig. Interessenkonflikte zwischen Vertretern von Arbeitgebern und Arbeitnehmern werden in der gesetzlichen Krankenversicherung längst schon konstruktiv ausgetragen: Das garantiert das System der Selbstverwaltung, das sich jahrzehntelang bewährt hat. Dasselbe gilt für den Gemeinsamen Bundesausschuss von Ärzten, Krankenkassen und Kliniken, der dafür sorgt, dass neue Leistungen zeitnah Bestandteil der gesetzlichen Krankenversicherung werden. So berät, entscheidet und konkretisiert das Gremium, welche ambulanten und stationären medizinischen Leistungen den Vorgaben des Sozialgesetzbuches V genügen und somit in den Leistungskatalog der GKV aufzunehmen sind. Bei seinen Entscheidungen zu innovativen Methoden und Verfahren hat der Gemeinsame Bundesausschuss auch ethische Aspekte zu berücksichtigen. Nicht zuletzt deswegen wird auch die Öffentlichkeit seine Arbeit zukünftig vermehrt unter ethischen Gesichtspunkten betrachten und diskutieren. Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen ist ein Anstoß, um die Diskussion über die Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen voranzubringen. Mit ihren Beiträgen wollen die Autoren – allesamt renommierte Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete – die Debatte zu wesentlichen Fragestellungen der Medizinethik bereichern. Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre,

Dr. Hans Jürgen Ahrens (Vorsitzender des Vorstands des AOK-Bundesverbandes)

Vorwort „Gerechtigkeit im Gesundheitswesen“ bildet eine der größten gesundheitspolitischen Herausforderungen der Gegenwart. Vor dem Hintergrund einer interdisziplinären Betrachtung ergeben sich vielfältige Fragen: Nach welchen Kriterien beurteilen wir die Zuteilung von Gesundheitsleistungen unter Ressourcenknappheit? Wie regeln wir den Umgang mit neuen Technologien, so dass sie Kriterien der Gerechtigkeit genügen? Wie organisieren wir unsere Krankenhäuser, dass sie effizient arbeiten, gleichwohl die Patienten angemessen versorgt werden? Diese Liste ließe sich beliebig erweitern. Der vorliegende Sammelband greift die unterschiedlichen Positionen in diesem Themenfeld auf. Die Autoren, renommierte Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen, nähern sich dem Thema aus ihrer jeweiligen Perspektive, wohl wissend, dass Lösungen in einem gemeinsamen Diskurs der beteiligten Fachrichtungen erarbeitet werden müssen, bevor aus der Wissenschaft der ‘Staffelstab’ an die Politik weitergereicht werden kann. In der Tradition einer solchen ‘Gesundheitspolitikberatung’ sieht sich dieser Band. Die Forschungsinitiative Ethik und Soziale Institutionen (FESI) (www.fesi.info) ist 2002 aus dem DFG-Graduiertenkolleg „Kriterien der Gerechtigkeit in Ökonomie, Sozialpolitik und Sozialethik“ an der Ruhr-Universität Bochum hervorgegangen und von den Herausgebern dieses Bandes gegründet. Gegenstand der Arbeit dieses Forschungsverbundes sind Herausforderungen der modernen Organisationsgesellschaft und ihrer institutionellen Landschaft. Wir arbeiten, forschen und lehren in den Bereichen Ökonomie, Diakoniewissenschaft sowie Sozial- und Gesundheitswissenschaften, insbesondere an der Schnittstelle von Ethik und Ökonomik. Zentrale Forschungsschwerpunkte befassen sich mit dem Sozialstaat, dem Gesundheitswesen, den Pflegewissenschaften und professionellem Handeln. Wir möchten uns ganz herzlich bei den Autoren bedanken, die mit ihren Positionen und Einschätzungen wichtige Beiträge zu diesem Thema geliefert und damit diesen Band möglich gemacht haben. Für die tatkräftige Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage danken wir Jörg Viebranz und Moritz Delbrück. Unser besonderer Dank gilt dem AOK-Bundesverband. Er hat die gesamten Druckkosten übernommen und damit das Erscheinen des Bandes möglich gemacht. Dass der Vorsitzende des Vorstands, Dr. Hans Jürgen Ahrens, dem

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Vorwort

Band ein Geleitwort vorangestellt hat, freut uns besonders. Frau Dr. med. Kirsten Reinhard, M. san., danken wir für eine sehr freundliche, unkomplizierte und angenehme Zusammenarbeit. Nun wünschen wir den Leserinnen und Lesern eine spannende und informative Lektüre, in der Hoffnung, mit diesem Band zur „Gerechtigkeit im Gesundheitswesen“ einen kleinen Beitrag geliefert zu haben.

Die Herausgeber, im November 2005 Alexander Brink, Johannes Eurich, Jürgen Hädrich, Andreas Langer und Peter Schröder

Inhaltsverzeichnis Alexander Brink, Johannes Eurich, Jürgen Hädrich, Andreas Langer und Peter Schröder Eigenverantwortung und Solidarität. Merkmale eines gerechten Gesundheitswesens.....

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Allokation und Gerechtigkeit Christofer Frey Solidarität und Gerechtigkeit in der Krankenversicherung..................................... 29 Hartmut Kliemt Ethische Aspekte der Gesundheitsversorgung bei Ressourcenknappheit ............... 45 Pamela Aidelsburger, Christian Krauth und Jürgen Wasem Gesundheitsökonomische Evaluationsstudien und Ethik in der Ressourcenallokation für medizinische Interventionen................................................................................ 61 Peter Oberender und Jochen Fleischmann Regulierungsnotwendigkeiten bei Gentests ............................................................ 79 Peter Dabrock Rationierung von Gesundheitsleistungen aus Altersgründen? Perspektiven theologischer Ethik unter Berücksichtigung intergenerationeller Gerechtigkeit .. 105

Implikation und Projektion Christian Pihl und Notburga Ott Die Gesundheitsreform im Spagat zwischen Theorie und Praxis .......................... 127 Hans-Martin Sass Ordnungsethik des Gesundheitswesens und gesundheitsmündige Bürger............. 149 Eckhard Nagel und Karl Jähn Standards und Wertekonzepte im Gesundheitswesen. Implikationen für das Krankenhaus der Zukunft....................................................................................... 175

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Inhaltsverzeichnis Expertise und Führung

Birger P. Priddat Ethikkommissionen als Expertenkrise: Ein ökonomisch-philosophischer Essay ..... 185 Hans-Werner Bierhoff und Elke Rohmann Freiwilliges Arbeitsengagement unter besonderer Berücksichtigung des Gesundheitsbereichs ........................................................................................................... 195 Autorenverzeichnis...................................................................................................... 209

Eigenverantwortung und Solidarität Merkmale eines gerechten Gesundheitswesens Alexander Brink, Johannes Eurich, Jürgen Hädrich, Andreas Langer und Peter Schröder

A. Philosophische Betrachtungen zur Gerechtigkeit Der Begriff Gerechtigkeit ist – sowohl in der Alltagssprache als auch in politischen und philosophischen Kontexten – moralisch aufgeladen. Seine normativen Implikationen führen dazu, dass wir Sollensvorschriften formulieren. Diese können sich auf zweierlei Weise äußern: Erstens als Handlungsempfehlung auf der Ebene der Rahmenordnung und somit als Gestaltungselement eines Anreizsystems oder zweitens als tugendhaftes Verhalten in Kontexten, die innerhalb moderner Gesellschaften vor allem durch marktliche Transaktionen dominiert werden, also im wettbewerblichen Handlungsvollzug innerhalb einer (Sozialen) Marktwirtschaft. Gesundheit gilt in westlichen Gesellschaften „als das höchste allgemeingültige Gut, zu dessen Erhaltung riesige Mittel investiert werden“1. Im Folgenden möchten wir zeigen, dass Gerechtigkeit bezogen auf das Gesundheitswesen zwei wesentliche Dimensionen hat: Eigenverantwortung und Solidarität. Es war der Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek der behauptete, soziale Gerechtigkeit sei eine Fata Morgana, sie existiere gar nicht.2 Damit stellt er sich gegen Gerechtigkeitskonzeptionen, die bereits bei Aristoteles als Verteilungsgerechtigkeit entworfen worden sind. Aristoteles etwa unterscheidet zwischen distributiver und kommutativer Gerechtigkeit: „Die Gerechtigkeit als Teilerscheinung und das entsprechende Gerechte weis[en] zwei Grundformen auf: die eine (A) ist wirksam bei der Verteilung von öffentlichen Anerkennungen, von Geld und sonstigen Werten, die den Bürgern eines geordneten Gemeinwesens zustehen. Hier ist es nämlich möglich, dass der eine das gleiche wie der andere oder nicht das gleiche zugeteilt erhält. Eine zweite (B) ________________ 1

Eibach (2001), S. 62.

2

Vgl. von Hayek (1977).

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Grundform ist die, welche dafür sorgt, dass die vertraglichen Beziehungen von Mensch zu Mensch rechtens sind.“3 Die erste hier genannte Form ist die iustitia distributiva, die aufteilende oder zuteilende Gerechtigkeit. Sie beruht auf der staatlichen Zuweisung von Gütern und Rechten nach dem Prinzip der Angemessenheit (Aristoteles spricht von „geometrischer Proportion“). Die iustitia commutativa hingegen bezeichnet die Tauschgerechtigkeit oder ausgleichende Gerechtigkeit. Grundlage eines solchen Gerechtigkeitstypus ist der Vertrag. Der Tauschpartner erhält damit eine Entschädigung für eine Transaktion. Es geht hier um den gerechten Tausch zwischen einander gleichgestellten Partnern. Das Äquivalenzprinzip des Tausches oder des Schadenersatzes ist unabhängig von der bestehenden Einkommensund Vermögensposition der jeweils Betroffenen. Bei der distributiven Gerechtigkeit geht es also um die angemessene Behandlung von Personen, bei der kommutativen dagegen um Wertäquivalenz von Sachen. Andere Theoretiker haben sich an der Schnittstelle von Philosophie und Ökonomie mit Gerechtigkeit befasst. In der Neuzeit etwa David Hume, Adam Smith und John Locke. Adam Smith, der Vater der modernen ökonomischen Theorie, behandelte bei der klassischen Gerechtigkeitsproblematik im Wesentlichen die Frage der Tauschgerechtigkeit, während die iustitia distributiva sich bei ihm auf die privaten Tugenden bezog. Es geht – Smith folgend – bei distributiver Gerechtigkeit um eine gerechte Verteilung von Gütern und Lasten. Gegenwärtig diskutiert man eine Fülle an Gerechtigkeitskriterien und ein komplexes Verhältnis derer zueinander. Einige bekannte Formen, nach denen man eine Unterscheidung vornehmen könnte, sind etwa die folgenden: ƒ

Tauschgerechtigkeit: Was ist ein gerechter Preis für Güter? Hier spielen individuelle Präferenzen und Knappheitsfragen eine Rolle.

ƒ

Bedürfnisgerechtigkeit: Menschen haben eine Verpflichtung gegenüber Benachteiligten wie zum Beispiel gegenüber Armen und Kranken.

ƒ

Leistungsgerechtigkeit: Jeder bekommt eine Entschädigung bzw. Gegenleistung für seine erbrachte Leistung. Dieses Kriterium ist eines der wesentlichen Prinzipien des freien Marktes.

ƒ

Befähigungsgerechtigkeit: Jeder einzelne Mensch soll die Möglichkeit haben bzw. in die Lage gebracht werden, Verantwortung für sich zu übernehmen und an gesellschaftlicher Kommunikation teilnehmen zu können.

ƒ

Chancengerechtigkeit: Jeder einzelne Mensch soll die gleichen Startchancen in einer Gesellschaft haben.

________________ 3

Aristoteles (1983), 1131a.

Eigenverantwortung und Solidarität

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B. Eigenverantwortung und Solidarität Gerechtigkeit spielt gerade in sozialpolitischen Debatten eine zentrale Rolle, wenn es zum Beispiel um Steuergerechtigkeit oder um die gerechte Verteilung von Lasten im Gesundheitswesen geht. Bei der Bestimmung von sozialer Gerechtigkeit scheinen sich dabei zwei Schwerpunkte herauszubilden: ƒ

Eigenverantwortung des Einzelnen, der beispielsweise durch private Risikoabsicherung Eigenvorsorge betreibt. Eigenverantwortung bedeutet, dass Individuen immer zunächst selbst Leistungen zur Verbesserung ihrer Lebenschancen und Lebensbedingungen erbringen, bevor – dem Subsidiaritätsprinzip folgend – andere Institutionen wie Familie, Gemeinde oder Staat Hilfe leisten.

ƒ

Solidarität wird gerade wegen des Reformdrucks, der aufgrund der Finanzkrise des Staates auf den sozialen Sicherungssystemen lastet, bei Vorschlägen zur Leistungskürzung nachdrücklich eingefordert.4 Unter Solidarität fassen wir im Folgenden das Bestehen einer wechselseitigen moralischen Verpflichtung zwischen Individuum und Gesellschaft.

Das dem römischen Recht entlehnte obligatio in solidum war ursprünglich eine besondere Haftungsart, nach der die Gemeinschaft für die Schulden des Einzelnen einstehen musste. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Prinzip auch auf andere Bereiche – wie hier besonders im Blick auch auf die Sozialpolitik – übertragen. Eigenverantwortung und Solidarität erscheinen also oftmals als moralisch aufgeladen und finden eine interdisziplinäre Verwendungsform. Gerade die moralischen Implikationen dürfen aber nicht der ‘metaethischen Gefahr’ eines naturalistischen Fehlschlusses unterliegen. Denn warum sollte aus der empirischen Tatsache eines solidarischen Phänomens unter Menschen auch deren normative Forderung logisch folgen? Wenn man einen genaueren Blick auf den Begriff ‘Solidarität’ wirft, deuten sich zwei Perspektiven an, die wir im Folgenden unterscheiden möchten: Beziehungssolidarität und Zwangssolidarität. Beziehungssolidarität basiert auf freiwilligem Engagement des Einzelnen für den Anderen als Hilfeleistung mit emotionaler Bindung: hier geht die Eigenvorsorge bzw. die Eigenverantwortung über die Selbstbezogenheit hinaus und schließt den Anderen ein.5 Zwangssolidarität hingegen erfolgt durch anonyme nicht-freiwillige Bindung. Der Staat ________________ 4 5

Vgl. z.B. Werner (2002).

Unter Beziehungssolidarität verstehen wir im Weiteren im Gegensatz zur Zwangssolidarität eine Form der Solidarität, (1) die freiwillig erfolgt und (2) die eine affektive Komponente enthält. Dies schließt eine Solidarität mit unbekannten Menschen aus fremden Erdteilen ein, bei denen die affektive Komponente oftmals über eine mediale Öffentlichkeit vermittelt wird (z.B. Flutkatastrophe Süd-Ost-Asien).

A. Brink, J. Eurich, J. Hädrich, A. Langer und P. Schröder

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‘zwingt’ gewissermaßen den Einzelnen in anonymisierten und arbeitsteiligen Gesellschaften, sich ‘solidarisch’ zu verhalten. Der vermutete Zusammenhang zwischen diesen beiden Dimensionen ist der folgende: Je mehr wir Solidarität rechtlich und damit staatlich verankern und je anonymer das betrachtete System ist, desto geringer wird die Fähigkeit und Bereitschaft des Einzelnen so etwas wie Beziehungssolidarität zu entwickeln. Nehmen wir ein Beispiel: Das deutsche Steuersystem ist eines der komplexesten Steuersysteme weltweit. Viele behaupten, es sei ‘gerecht’. Gerechtigkeit wird hier zwangsweise, also per Gesetz, geregelt. Es wird nicht an den Einzelnen appelliert, freiwillig seine Steuern zu zahlen und es wird auch nicht vom Einzelnen aufgrund von persönlicher Solidarität geleistet, sondern man zahlt seine Steuern, weil man es muss. Beziehungssolidarität ist in einem solchen Kontext nicht möglich, da das System dermaßen anonym gestaltet wird, dass der Einzelne seine Zahlungsbereitschaft nur schwer einsieht, sich vielleicht sogar ungerecht, meistens zu stark belastet fühlt. Und dennoch, trotz Zwangssolidarität, werden in Deutschland jährlich große Summen an Steuern nicht gezahlt. Das System wird also oftmals nicht nur als ungerecht bewertet, sondern es wird zugleich strategisch defektiert. Anders hingegen z.B. Art und Ausmaß der Spendenbereitschaft nach der Flutkatastrophe in Süd-Ost-Asien. Hier konnte man sehen, was Beziehungssolidarität – selbst über Ländergrenzen hinweg – bedeuten kann. Der Einzelne beteiligt sich freiwillig, er fühlt sich moralisch verpflichtet, er empfindet ein Gefühl des Mitleids und der Zufriedenheit, nachdem er sich engagiert hat. Die Medien haben der Anonymität Persönlichkeit gegeben, den unzähligen Opfern ein Gesicht. Brauchen wir nicht mehr von dieser freiwilligen Solidarität, von dem Empfinden, teilen zu können, weil wir es wollen, weil wir selbst die Entscheidung treffen? Oder muss der Staat festlegen, was sozial gerecht ist? Erstens kann er es nur bis zu einer bestimmten Grenze und außerdem wird sein Konzept immer durch das Prinzip der Wählerstimmenmaximierung überlagert.6 Solidarität ist auch bzw. vor allen Dingen etwas Persönliches, etwas, das zwischenmenschlich geschieht. „Wir haben es offenbar“ – wie Kurt Bayertz sagt – mit einer Art „Dialektik der Verstaatlichung“ (…) zu tun: durch ihre Institutionalisierung wird Solidarität auf „Quasi-Solidarität verdünnt.“7 ________________ 6

Auch Unternehmen und Institutionen haben erkannt, dass auch sie als Akteure freiwillig zu mehr Gerechtigkeit beitragen können. Sie engagieren sich in der Dritten Welt oder helfen Bedürftigen. Dadurch entfernen sie sich etwas vom Kerngeschäft, bauen aber Reputation auf und gewinnen gesellschaftliche Anerkennung. 7

Bayertz (1998), S. 37.

Eigenverantwortung und Solidarität

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Eigenverantwortung und Solidarität müssen sich nicht ausschließen: So kann etwa eine persönliche Pflicht i.S. von Eigenverantwortung bestehen, sich solidarisch zu verhalten, gerade wenn solidarisches Verhalten auch von der Gegenseite eingefordert wird. Wir sollten uns – nicht überall, aber zunehmend – freiwillig solidarisch verhalten. Zugleich würde sich bei dem einen oder anderen sicherlich auch die Grundeinstellung ändern: Man ist nicht unzufrieden, dass man so viel zahlen muss, was dann wieder ‘ungerecht’ verteilt wird, sondern das einzelne aufgeklärte Individuum definiert selbst, wer wie viel Geld, Zuneigung, Aufmerksamkeit etc. bekommt. Anreize – und das zeigt die Sozialpsychologie – sind am effektivsten, wenn sie inhärent motiviert sind und nicht wenn sie extern gesetzt werden. Auf der anderen Seite muss der Gefahr entgegengewirkt werden, dass Solidarität i.S.v. erwarteter Hilfeleistung durch den Anderen strategisch ausgenutzt wird. Zugleich muss der Staat eine Art Grundgerechtigkeit sichern. „Soziale Gerechtigkeit kann also nur heißen, dass alle Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung haben sollen, die dann gegebenenfalls durch private Zusatzvorsorge zu ergänzen ist.“8 Zusammenfassend wäre hier ein Verständnis von liberal in Anlehnung an Gottschalk-Mazouz/Mazouz zugrunde gelegt als ein „Anspruch, die Bewertungen und Überzeugungen der Betroffenen, d.h. der Bürger, möglichst umfassend zur Geltung kommen zu lassen und diesen weder inhaltlich noch bezüglich der Art und Weise, wie diese Bewertungen und Überzeugungen in den politischen Prozess einzugehen haben, von vornherein Beschränkungen aufzuerlegen.“9 Ein liberales Verständnis, dass von Eigenverantwortung und Verdienst ausgeht, bedeutet „keine kategorische Abwendung von Solidarität“10, da eine grundsätzlich liberale Gesellschaft auch zufällige Benachteiligungen solidarisch absichern kann.

C. Anwendungsfeld Gesundheitswesen Der Nobelpreisträger John Harsanyi hat im Zusammenhang mit der von uns als Zwangsolidarität gekennzeichneten Form darauf hingewiesen, dass rational agierende Individuen auf Basis einer Durchschnittswahrscheinlichkeit nicht damit rechnen, schwer krank zu werden. Wenn sie sich also als rational agierende Akteure solidarisch verhalten würden, dann höchstens in Bezug auf Krankheiten, die sehr wahrscheinlich sind, woraus sich allerdings versicherungstech________________ 8

Schmidt (2001), S. 299.

9

Gottschalk-Mazouz/Mazous (2004), S. 64.

10

Leist (2001), S. 315.

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nisch eher ein Nullsummenspiel ergeben würde. Die Extremkrankheiten müssten dann – dieser Prämisse folgend – eher privat und nicht solidarisch versichert werden, was aber wiederum zu immensen Kosten führen würde (Beispiel USA).11 Hier scheint das Solidaritätsprinzip – verstanden als Zwangssolidarität – allein wohl nicht auszureichen und sollte durch eine Beziehungssolidarität ergänzt werden. Denn bei letzterer ist die affektive Bindung in Form von Empathie ausschlaggebend, die gerade kein ökonomisches Kalkül auf Basis einer Durchschnittswahrscheinlichkeit kennt. Interessanterweise beziehen sich sehr unterschiedliche Gerechtigkeitsansätze – die liberalistischen und die utilitaristischen Konzeptionen – im Falle von Krankheit und Behinderung jeweils auf das Solidaritätsprinzip.12 Darüber hinaus ist das Solidaritätsprinzip auch im deutschen Sozialrecht verankert (§ 27 SGB V). Wenn wir im Folgenden von einem Rückzug der Zwangssolidarität und von einer Stärkung der Beziehungssolidarität sprechen, so setzt dies eine liberale Gesellschaft voraus, die aus mündigen und eigenverantwortlichen BürgerInnen besteht.13 Ein Egalitarismus, der sozialphilosophische Fragen der Gerechtigkeit gerade wieder in einen ökonomischen Kontext stellt, gibt es eine klare Position zu Gerechtigkeit. So schreibt zum Beispiel Angelika Krebs: „Auf die Frage, was Gerechtigkeit ausmacht, antwortet der Mainstream der politischen Gegenwartsphilosophie unisono: Gerechtigkeit besteht in der Schaffung gleicher Lebensaussichten für alle Menschen.“14 Aber gilt dies auch für das Gesundheitswesen? Betrachtet man die Diskussion um Gleichheit und die Fragen nach der Equality-of-What-Debatte, also bezogen auf die Gleichheit in den Ressourcen15, der Lebensaussichten16 oder der Funktionsfähigkeit17, so könnte man einige Vermutungen anstellen.18 ________________ 11

Vgl. Nass (2004), S. 8.

12

Vgl. Gottschalk-Mazouz/Mazouz (2004), S. 264.

13

Vgl. zur Analyse der liberalen Theorien von Amartya Sen, John Rawls und Ronald Dworkin in Bezug auf einen gerechten Umgang mit Krankheit insbesondere GottschalkMazouz/Mazouz (2004). 14

Krebs (2000), S. 7 (Hervorhebung A.B. et al.).

15

Vgl. Dworkin (1981).

16

Vgl. Arneson (1989).

17

Vgl. Sen (1992).

18

Vgl. z.B. Nussbaum (1992) und ihren aristotelischen Essentialismus.

Eigenverantwortung und Solidarität

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Nun kann man die Frage stellen, warum man Gerechtigkeit relativ bzw. relational betrachtet? Eine solche Sichtweise könnte sicherlich von Seiten der Sozialpsychologie unterstützt werden. Nach der Theorie der sozialen Vergleiche führen Menschen immer Vergleiche mit anderen durch. So können etwa so genannte aufwärts gerichtete soziale Vergleiche dazu dienen, sich selbst zu motivieren und neue Ziele anzustreben. Abwärts gerichtete soziale Vergleiche hingegen werden oftmals durchgeführt, um seine eigene Identität zu stabilisieren (selbstwertdienliche Kausalattributionen19). Einige Autoren – darunter verschiedenen Denkrichtungen anhängende Philosophen wie der Kommunitarist Michael Walzer und der Libertäre Robert Nozick20 – stellen Gleichheit als universalistisches Konzept daher grundsätzlich in Frage. Dieser Gegenstand wird in der grundsätzlicher geführten Why-EqualityDebatte verhandelt.21 Inwiefern sollte Gerechtigkeit etwas mit Gleichheit zu tun haben? Ein Verständnis einer solchen philosophischen Gerechtigkeitsart legt Michael Walzer dar: „Alle Verteilungen sind gerecht oder ungerecht immer in Relation zur gesellschaftlichen Bedeutung der zur Verteilung gelangenden Güter.“22 Nach Nozick sollen lediglich negative Freiheiten geschützt werden. Nozick kritisiert das Gleichheitsideal u.a. über die so genannte Leveling-Down-Objection23: Sie stellt in diesem Kontext die Angleichung nach unten dar und führt damit zu einer Schlechterstellung des zuvor relativ Bessergestellten. Überlassen wir die Gerechtigkeit aber dem Markt, stellt sich die Frage, ob einem ZweiKlassen-System im Gesundheitswesen nicht Auftrieb gegeben wird. Aber warum sollten ‘zahlungskräftige’ Patienten keinen Zugang zu einer besseren Versorgung bekommen, wenn sie über eine hohe Zahlungsbereitschaft verfügen? Warum sollte man Individuen einen Vorteil verwehren, den sie sich zuvor legitimerweise erarbeitet haben? Solange eine Grundgerechtigkeit im Gesundheitswesen existiert, z.B. in Form einer gesundheitlichen Grundversorgung, könnte der Einzelne aufgrund seiner stärkeren Präferenz für Gesundheit – andere mögen ihr Einkommen anderweitig ausgeben oder investieren – eine ________________ 19

Patientinnen mit Mammakarzinom, denen eine Brusthälfte amputiert wurde, verglichen sich mit Patientinnen, denen beide Brusthälften entfernt wurden, und konnten sich über einen solchen abwärts gerichteten sozialen Vergleich „aufwerten“. Vgl. zu selbstwertdienlichen Kausalattributionen z.B. bezogen auf das Management Herner (1990). 20

Vgl. Nozick (1974).

21

Vgl. zur Egalitarismus-Kritik z.B. Krebs (2000), S. 16ff.

22

Walzer (2000), S. 181.

23

Vgl. Nozick (1974), S. 229.

A. Brink, J. Eurich, J. Hädrich, A. Langer und P. Schröder

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bessere Versorgung bekommen. Auch im Gesundheitsmarkt einer Sozialen Marktwirtschaft herrscht das Prinzip der Konsumentensouveränität. John Rawls, sicherlich der bekannteste Gerechtigkeitstheoretiker des 20. Jahrhunderts, strebt eine andere Form der Gerechtigkeit an. In Rawls Hauptwerk A Theory of Justice wird Gerechtigkeit als erste Tugend sozialer Institutionen bezeichnet. Hier erscheint Gerechtigkeit also nicht als Tugend bezogen auf Individuen, sondern auf Institutionen. „Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen.“24 Die BürgerInnen einer Gesellschaft definieren ihre Grundregeln unter dem „Schleier des Nichtwissens“ selbst, wobei risikoaverse und rationale Nutzenmaximierer festgelegt werden. Zunächst werden die Grundgüter verteilt. Die BürgerInnen der Gesellschaft werden sich dann auf Gerechtigkeitsprinzipien einigen. Dabei sind zwei Bedingungen zu beachten: „Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.“ 25 Ein Zuwachs an Wohlstand darf nicht zu Lasten von Freiheit gehen. Rawls setzt ein risikoaverses Verhalten voraus. Er fordert zwar Gleichheit, allerdings nur in Bezug auf Grundgüter (Grundfreiheiten, Einkommen etc.). Ob Gesundheit tatsächlich zu den Grundgütern zählt, ist umstritten, da Rawls gesunde und erwachsene Personen in seinem „Urzustand“ voraussetzt.26 Zu Fragen der Krankheit im Allgemeinen bzw. zum Gesundheitswesen im Besonderen hat Rawls keinerlei Äußerungen gemacht. Es liegt aber nahe, die Abwesenheit von Krankheit als ein Grundgut im Rawls´schen Sinne aufzufassen, eben weil Gesundheit – wie oben zitiert – als das höchste allgemeingültige Gut betrachtet werden kann. Argumentativ anschließen könnte man auch mit Norman Daniels in der Art und Weise, dass Daniels Krankheit als ursächlich für schlechtere Startchancen betrachtet und damit dem Rawl´schen Chancenprinzip zuschlägt.27 Uns geht es im Weiteren um eine Klärung des Spannungsfeldes Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Einige Beiträge in diesem Sammelband diskutieren die angesprochene Thematik auch unter der Fragestellung, ob wir vor einem tief ________________ 24

Rawls (1998), S. 19.

25

Ebd., S. 81.

26

Vgl. Nass (2004), S. 10.

27

Vgl. Daniels (1985) sowie Gottschalk-Mazouz/Mazouz (2004), S. 266.

Eigenverantwortung und Solidarität

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greifenden Wandel stehen. Profitmaximierende Unternehmen orientieren sich zunehmend an sozialen und weichen Faktoren, soziale Institutionen orientieren sich stärker an ökonomischen und harten Faktoren. Es scheint so zu sein, dass sich Institutionen hinsichtlich ihrer vorrangigen Aufgabe stark annähern. Diese Entwicklung stellt die Führungsetagen beider Institutionen vor wachsende Aufgaben der Steuerung und Leitung solcher komplexer Arrangements. Und – zieht man die gesellschaftlichen Bewegungen und Turbulenzen wie etwa die Globalisierung und die Sozialstaatsreform hinzu – wird immer deutlicher, dass wir allgemeine Fragen der Gerechtigkeit nicht mehr negieren oder aus dem gesellschaftlichen Diskurs ausklammern dürfen. Die Merkmale, an denen wir uns orientieren sollten, sind Eigenverantwortung und Solidarität. Der vorliegende Sammelband widmet sich also insbesondere der Frage nach der Gerechtigkeit sozialer Institutionen im Gesundheitswesen und stellt darüber hinaus Krankenhäuser, Altenheime und sonstige soziale Einrichtungen ins Zentrum der Überlegungen. Wenn man dazu noch die praktische Erfahrung hinzuzieht, also sich die Frage stellt, wie solche Institutionen tatsächlich geführt werden und wie in der Öffentlichkeit mit solchen Themen umgegangen wird, dann zeigt sich, dass eine vielschichtige und weitreichende Diskussion von Nöten ist, die möglichst viele und unterschiedliche Perspektiven zu bündeln versucht. Deshalb kommen in diesem Band Ökonomen, Philosophen, Mediziner und Ethiker ebenso zu Wort wie ‘Schnittstellen-Experten’, also Medizinethiker, Gesundheitsökonomen und Wirtschaftsethiker. Die Autoren haben aus jeweils ihrer eigenen Perspektive einen Beitrag zu diesem Projekt geleistet: Soziale Institutionen stehen im Spannungsfeld von Ökonomie und Ethik und dies auf drei Ebenen: (1) zwischen den verschiedenen Wissenschaften, (2) zwischen einer Theorie- und eine Praxisebene und (3) zwischen verschiedenen institutionellen Betrachtungs-Levels. Damit ist auf die weitreichende Komplexität des Themas hingewiesen, die zudem durch unterschiedliche Sprachcodes, durch differierende weltanschauliche Betrachtungsweisen, aber auch durch spezifische Erfahrungskontexte die Frage nach der Gerechtigkeit im Gesundheitswesen zu einer großen Herausforderung macht. Wir werden zunächst mit einem makro- und mesoethischen Zugang beginnen und zwar an der Schnittstelle von Ökonomie und Philosophie. Hier geht es v.a. aus theoretischer Perspektive um Allokation und Gerechtigkeit. Sodann werden wir vor dem Hintergrund eines praktischen Zugangs und ebenfalls in makround mesoethischer Perspektive Implikation und Projektion vorstellen und insbesondere auf neuere Entwicklungen der Gerechtigkeitsforschung verweisen. Schließlich möchten wir auf der Mikroebene die Bedeutung von Expertise und Führung sowohl theoretisch als auch praktisch beleuchten.

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A. Brink, J. Eurich, J. Hädrich, A. Langer und P. Schröder

D. Allokation und Gerechtigkeit Gerechtigkeit ist – wie wir gesehen haben – u.a. eine Frage der Allokation. Was ist gerecht? Betrachten wir dies aus einer Zuteilungsperspektive, so können wir feststellen, dass aus ökonomischer Sicht knappe Ressourcen zugewiesen werden müssen, um zu einer gerechten Verteilung zu kommen. Die Ökonomie verhandelt dieses Problem unter dem Begriff der Allokation. Einen pointierten Überblick über das umstrittene Thema Gerechtigkeit – und zwar gerade dem Trend zur Solidarität folgend – bietet der evangelische Theologe Christofer Frey in seinem Beitrag Solidarität und Gerechtigkeit in der Krankenversicherung. Frey geht von einem allokativen Status aus, indem er Aristoteles’ Differenzierung von austeilender Gerechtigkeit und Tauschgerechtigkeit diskutiert, die nicht ohne eine zusätzliche Fallgerechtigkeit auskommt. Es schließen sich meritokratische Gesichtspunkte von Gerechtigkeit an, die durch Leistungskriterien zurückgedrängt wurden, Rawls’ Konzeption einer prozeduralen Gerechtigkeit sowie Nussbaums und Sens Eintreten für einen Befähigungsgerechtigkeitsansatz („capabilities approach“) im Zusammenhang mit Gerechtigkeit. Sie alle markieren die Stationen, die der Diskurs zur Gerechtigkeit genommen hat. Aus diesen Ansätzen extrahiert Frey eine umfangreiche Kriteriologie und entwirft eine Matrix der Gerechtigkeitskriterien. Gleichzeitig hinterfragt er aber auch, ob das Thema Gerechtigkeit sich heute immer noch innerhalb der klassischen Unterscheidungen bewegen kann. So könne Solidarität die Nachteile eines Regelsystems zwar abschwächen, nicht selten jedoch in ein Gerechtigkeitsdilemma führen. Anhand der Krankenversicherung diskutiert Frey dann die Anwendungen von verschiedenen Gerechtigkeitsvorstellungen. Aber neben grundsätzlichen Fragen zur Solidarität und Gerechtigkeit müssen wir immer auch eine ökonomische Perspektive einnehmen. Weniger optimistisch, was die Gesundheitsversorgung besonders bei Ressourcenknappheit angeht, zeigt sich der Ökonom und Philosoph Hartmut Kliemt in seinem Beitrag Ethische Aspekte der Gesundheitsversorgung bei Ressourcenknappheit. Deutlich wird, dass wir es mit knappen Ressourcen zu tun haben, die nicht nur unter ökonomischen, sondern auch unter ethischen Aspekten berücksichtigt werden müssen. Zunächst führt er aus, dass im Gesundheitswesen – anders als in anderen Bereichen des Marktes oder des Konsums – mit der Expansion des Konsums einer Leistung ihr Nutzen nicht abnimmt. Im Gegenteil, ein Überfluss an medizinischen Leistungen ist nie zu erwarten. Weil der medizinische Fortschritt auch immer mehr Interventionen möglich macht, prognostiziert Kliemt eine strukturell nicht zu vermeidende Ressourcenknappheit und sieht allein in der Rationierung einen Ausweg. Dabei trennt er in seinem Rationierungsbegriff Leistungszugang und Gegenleistung und diskutiert Budgets bzw. Leit- und Richtlinien als Rationierungsinstrumente für immer knapper werdende medizinische Güter.

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Wie Entscheidungen bei Ressourcenallokation im parafiskalisch organisierten deutschen Gesundheitssystem gefunden werden können, ist das Thema des Beitrags Gesundheitsökonomische Evaluationsstudien und Ethik in der Ressourcenallokation für medizinische Interventionen von Pamela Aidelsburger, Christian Krauth und Jürgen Wasem. Entscheidungsgrundlagen sind dabei so genannte Evaluationsmethoden, auf deren Grundlage dann schlussendlich Entscheidungen getroffen werden. Weil die Wirtschaftlichkeit medizinischer Interventionen nur eines von mehreren Entscheidungskriterien in der Steuerung von Ressourcenallokation sein kann, stellen die Autoren zunächst die wichtigsten Grundlagen der Evaluationskriterien einer noch jungen Disziplin der Gesundheitsökonomie und die verschiedenen Entscheidungsprozesse im Gesundheitswesen dar. Kosten-Nutzen-Analysen, Standard Gamble, Time Trade-Off und Person Trade-Off sind die gesundheitsökonomischen Verfahren, die untersucht werden, außerdem das Zusammenspiel von Entscheidungen auf der Mesoebene (Verbänden und Körperschaften) und der Mikroebene (Ärzte). In einem zweiten Schritt loten die Autoren die Spannungsfelder aus, die sich zwischen ethischen Verteilungsprinzipien und Ressourcenallokation einerseits und ethischen Verteilungsprinzipien und gesundheitsökonomischer Evaluation andererseits bilden. Allokationen und Gerechtigkeit betreffen ja nicht nur die Entscheidungsträger des Systems sowie diejenigen, die letztlich in den Genuss der medizinischen Leistung kommen, sondern stehen auch unter der Obhut einer kritischen Öffentlichkeit. Auf den Anwendungsmöglichkeiten der Humangenetik, die durch eine große Fortschrittsdynamik gekennzeichnet ist, liegt ein besonderer Blick der Öffentlichkeit: Einerseits speist die Humangenetik Hoffnungen auf Heilung bisher unheilbarer Krankheiten, andererseits schürt sie Ängste vor der völligen Gestaltbarkeit menschlichen Lebens. Auf einen Aspekt der Humangenetik, die prädiktive Gendiagnostik, konzentrieren sich die Gesundheitsökonomen Peter Oberender und Jochen Fleischmann in ihrem Beitrag Regulierungsnotwendigkeiten bei Gentests und erörtern, wie mit Gentests umgegangen werden sollte: Sollen sie in die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen gestellt oder ihr entzogen werden? Dabei untersuchen und bewerten die Autoren verschiedene Regulierungsoptionen aus Ökonomik und Ethik und entwickeln Vorschläge, wie mit der Gendiagnostik derzeit umgegangen werden kann. Eine sozialphilosophische Rückbindung vollzieht der letzte Autor und rundet damit das erste Kapitel ab. Die Frage, ob fortgeschrittenes Alter das alleinige und wichtigste Kriterium darstellen kann, an dem sich die unvermeidliche Rationierung von Gesundheitsleistungen orientieren kann, stellt der Theologe Peter Dabrock in den Mittelpunkt seiner Untersuchung Rationierung von Gesundheitsleistungen aus Altersgründen? Perspektiven theologischer Ethik unter Berücksichtigung intergenerationeller Gerechtigkeit. Das alttestamentliche

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Elterngebot aufnehmend weist Dabrock darauf hin, dass die Gerechtigkeitsforderung bei der Verteilung von als knapp erachteten Gütern nicht notwendig in einen Generationenkonflikt münden muss. Dazu stellt er verschiedene Gerechtigkeitstheorien vor (den tugendethischen Ansatz, das Modell rationaler Klugheitswahl und den intuitionistischen Ansatz) und zeigt ihre Schwächen auf. Gegen die exklusive und engführende Fokussierung auf das Alter als Rationierungskriterium präsentiert Dabrock einen differenzierenden Ansatz von Befähigungsgerechtigkeit, der nicht nur der Würde des Einzelnen Rechnung trägt, sondern auch Generationen integrierend wirkt.

E. Implikation und Projektion Eine Gerechtigkeitslücke wird besonders bei der Gesundheitsreform beklagt. Hier wird protestiert, dass aufgrund der Ökonomisierung des Gesundheitswesens eine Verlagerung der ehemals öffentlich finanzierten Leistungen in den Bereich der privaten Vorsorge erfolgt, auf diese Weise aber die verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich belastet werden und so eine gerechte Versorgung mit Gesundheitsgütern nicht mehr möglich sei. Die beiden Ökonomen Christian Pihl und Notburga Ott zeigen in ihrem Artikel Die Gesundheitsreform im Spagat zwischen Theorie und Praxis auf, welche Konfliktlinien in der öffentlichen Diskussion zu Tage treten, und prüfen, ob diese Konflikte nicht durch eine ökonomische Betrachtung gelöst werden können. Dabei untersuchen sie die Konfliktthemen der Sozialpolitik wie die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit, der Rolle des Staates sowie das Problem der Finanzierung von Gesundheitsleistungen bei Geburtenrückgang und steigender Lebenserwartung. Nach der Diskussion theoretischer Lösungsansätze zur Reformierung des Gesundheitswesens diskutieren sie einzelne Aspekte der aktuellen Gesundheitsreform, messen sie an den Ansprüchen des Gesetzes und liefern eine kritische Beurteilung der damit verbundenen Veränderungen unter Aspekten von Ökonomie und Gerechtigkeit. Wege, wie das selbst krankende Gesundheitswesen sukzessive, aber grundlegend reformiert werden könnte, zeigt der Beitrag Ordnungsethik des Gesundheitswesens und gesundheitsmündige Bürger des Medizinethikers Hans-Martin Sass auf. Aufgrund der Vielfältigkeit der Aktions- und Interaktionsebenen, von denen das Gesundheitswesen geprägt ist, stellt Sass seine Thematisierung unter den Rahmen von Ordnungs- und Institutionenethik. In fünf postulativen Thesen skizziert Sass Leistungsprofil und Selbstverständnis des Gesundheitszentrums der Zukunft. Er zeigt nicht nur, dass Ethik und Ökonomie kein Gegensatz sind, sondern führt auch aus, wie Betonung der Prävention, Erhöhung von Information und Transparenz, Stärkung der Gesundheitsmündigkeit der Bürger, Priorisierung von Verantwortung vor Solidarität, Entwicklung eines Mischsystems von Grund- und Zusatzversorgungen, Ausbau eines Vertrauensverhältnisses zwi-

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schen Anbietern und Nachfragern, Gewährleistung von Qualitätssicherung und Wettbewerb und schließlich die Entdeckung und Aktivierung des Bürgers als Patienten durch Angebotsprofilierung entscheidend zur Veränderung im Gesundheitswesen beitragen können. Den Schluss des Beitrags bilden Tugendkataloge für Gesundheitspolitiker, Serviceanbieter, Bürger und Ärzte. Gegen die Vorstellung, dass Veränderungen im Gesundheitswesen notwendig mit Restriktionen verbunden sein müssen, argumentieren die Medizinethiker Eckhard Nagel und Karl Jähn in ihrem Beitrag Standards und Wertekonzepte im Gesundheitswesen – Implikationen für das Krankenhaus der Zukunft. Getragen von der Überzeugung, dass die Notwendigkeit zur Veränderung auch die Chance der Innovation in sich birgt, entwerfen die Autoren Szenarien, wie sowohl die medizinische Versorgungsleistung (ärztliche Tätigkeit, Struktur des Krankenhaussektors) optimiert als auch die Patientenfreiheit bewahrt werden kann. Der Beitrag ist ein Plädoyer für die Reglementierung des gesamten Gesundheitssektors mit ausgewogener Argumentation für medizinische Behandlungsstandards, Optimierung ärztlicher Qualitätssicherung durch Standardisierung und erhöhte Transparenz sowie die Ausrichtung des Krankenhaussektors an den Bedürfnissen der Patienten. Dabei wird deutlich, dass ethische Sachlogik nicht notwendig ökonomischer Sachlogik widerspricht, sondern einen marktorientierten Eigenwert haben kann.

F. Expertise und Führung Betrachten wir nunmehr die Mikroebene, die Ebene des Einzelnen und damit die Frage der Führungs- und Governancestrukturen von sozialen Institutionen, insbesondere von Expertise und Führung. Die Einrichtung von Ethikkommissionen erscheint meist als institutionalisierter Angriff auf die Integrität von Experten, zumindest als Infragestellung von Experten, wenn es um Bereiche geht, die als ethisch klassifiziert werden. Politikwissenschaftler Birger Priddat analysiert in seinem Beitrag Ethikkommissionen als Expertenkrise: Ein ökonomisch-philosophischer Essay, wann Ethikkommissionen besonders bei medizinischen Problemen eingesetzt werden, was ihr (eigentliches) Ziel und welches ihre Funktionsstruktur ist (z.B. dass sie medizinische, ethische und ökonomische Perspektive vereinen). Priddat prüft dann, welche Regeln in Ethikkommissionen eingehalten werden müssen, damit sie jene komplexen Schwierigkeiten steuern können, für die sie eingesetzt werden. Die beiden Sozialpsychologen Hans-Werner Bierhoff und Elke Rohmann weisen in ihrem Beitrag Freiwilliges Arbeitsengagement unter besonderer Berücksichtigung des Gesundheitsbereichs auf das kaum zu überschätzende freiwillige Arbeitsengagement hin, das auch gerade im Gesundheitswesen seinen unverzichtbaren Ort hat. Freiwilliges Arbeitsengagement ist von dreifa-

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chem Nutzen: für die Mitarbeiter einer Organisation, weil sie ein gutes Arbeitsklima schafft, für die Organisation selbst, weil ein gutes Arbeitsklima und Spaß an der Arbeit sowohl Qualität als auch Quantität der Arbeit steigert, schließlich für die Klienten, die in einer guten Atmosphäre zufrieden sind. Bierhoff und Rohmann setzen sich in ihrem Beitrag dafür ein, dass freiwilliges Arbeitsengagement gefördert wird und warnen vor zu starken Standardisierungsprozessen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, da sie zur Unterminierung des freiwilligen Arbeitsengagements beitragen können, damit die Effektivität des Handelns reduzieren und so sich auch ökonomisch negativ niederschlagen.

Literaturverzeichnis Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1983, Stuttgart. Arneson, R.: Equality and Equal Opportunity for Welfare, in: Philosophical Studies 56, 1989, S. 77-93. Bayertz, K.: Solidarität, 1998, Frankfurt. Daniels, N.: Just Health Care, 1985, New York. Dworkin, R.: What is Equality? Part 2: Equality of Resources, in: Philosophy and Public Affairs 10, 1981, S. 283-345. Eibach, U.: Grenzen der Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens und die Sorge für chronisch kranke Menschen – Sozialethische, christliche Aspekte der Verteilung der Mittel im Gesundheitswesen und die Diskussion über den ‘Lebenswert’ chronisch kranker und schwerstpflegebedürftiger Menschen, in: Ethik in der Medizin 13, 2001, S. 61-75. Gottschalk-Mazouz, N./Mazouz, N.: Wie sollte eine liberale Gesellschaft mit Krankheiten umgehen, wenn sie gerecht sein will?, in: Zeitschrift für Medizinische Ethik 50, 2004, S. 263-276. von Hayek, F.A.: Soziale Gerechtigkeit – eine Fata Morgana, in: FAZ, 16.4.1977. Herner, M.J.: Selbstwertdienliche Kausalattributionen von Führungskräften: eine Retround Prospektive, in: Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie 34, 1990, S. 85-93. Krebs, A.: Einleitung: Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, in: Gleichheit oder Gerechtigkeit. Hg. von dies., 2000, Frankfurt, S. 7-37. Leist, A.: Chancengleichheit in der Medizin, in: Gerechtigkeit im politischen Diskurs der Gegenwart. Hg. von P. Koller, 2001, Wien, S. 303-326. Nass, E.: Gesundheitsökonomie zwischen Güterknappheit und Humangerechtigkeit, in: Gesundheits- und Sozialpolitik 3-4, 2004, S. 8-13. Nozick, R.: Anarchy, State, and Utopia, 1974, Basil Blackwell.

Eigenverantwortung und Solidarität

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Allokation und Gerechtigkeit

Solidarität und Gerechtigkeit in der Krankenversicherung Christofer Frey

A. Die Bedeutung der Gerechtigkeit Gerechtigkeit ist ein umstrittenes Thema. Was sie bedeutet, scheint immer noch am besten innerhalb der klassischen Unterscheidungen bestimmt werden zu können.1 Möglicherweise trügt dieser Schein aber. Als klassisch gelten die Unterscheidungen des Aristoteles. Sie erstrecken sich auf die austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva) und auf die Tauschgerechtigkeit (iustitia communitativa).2 Letztere sei von der Gerechtigkeit des Rechts (iustitia legalis) abzusetzen, weil der privatrechtliche Tausch nicht für das öffentliche Recht gelten könne, lautet ein lange nach Aristoteles ausgesprochenes Argument. Aber das ist – wenn man Aristoteles beim Wort nimmt – vielleicht etwas überzogen, denn diesen interessierte vor allem eine bestimmte Art von Proportionalität3: Im Rahmen der Verteilung eine Proportionalität entsprechend der „Empfangsberechtigung“, der Würdigkeit der Empfänger (wir würden zumindest auch eine Entsprechung zur Leistung hinzufügen); im Rahmen des Tausches eine abstrakte Gleichheit, die nicht-proportionale Güter in ein Verhältnis setzt. Als Aristoteles – ziemlich ungenau – das erste Verhältnis geometrisch und das zweite arithmetisch nannte, hatte er im Grunde proportionale Verhältnisse zwischen beiden Seiten im Sinn, die das Gleiche nur für Gleiche voraussetzen.4 Aber wer bietet gleiche Kriterien für Ansprüche im Sinne des Gerechten auf? Aristoteles wusste bereits, dass die Regeln der Proportionalität nie genau auf die einzelne Situation angewandt werden können; deshalb forderte er zusätzlich eine Fallgerechtigkeit, die Epikie.5 Sie ist als ________________ 1

Vgl. Frey (2001), S. 570-577.

2

Vgl. Aristoteles (1969), Buch V (= 11290-11386).

3

Vgl. ebd., 1131a-b.

4

Vgl. ebd., 1131a.

5

Vgl. ebd., 1137a.

Chr. Frey

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aequitas oder Billigkeit in die weitere Diskussion eingegangen; aber sie schien nur ein Korrektiv außerhalb der Regeln darzustellen. Sie ist jedoch eine Frage an Macht- und Herrschaftsausübung und damit an alle, die Proportionalität bestimmen: Können sie das Gerechte tatsächlich ohne Spielräume zumessen? Spielräume machen Regeln und Ordnungen gerecht, weil die konkrete Situation niemals völlig dem abstrakten, in den Regeln vorgesehenen Fall entspricht. Über der formalen Bestimmung der Arten von Gerechtigkeit ist oft das Maß für die proportionale Behandlung vernachlässigt worden. Nicht nur bei Aristoteles, sondern auch in späteren Situationen dürften tradierte Standeskriterien eine Rolle gespielt haben, so dass meritokratische Gesichtspunkte überwogen.6 Deshalb wurden strukturelle anthropologische Gesichtspunkte (wie Grundbedürfnisse) wichtig, die man partial – weil auswählend – oder sogar transzendental – weil den Zugang zu Kriterien begründend – verstehen konnte. Das Standeskriterium trat später hinter dem Leistungskriterium zurück; Letzteres dürfte vor allem dem aufsteigenden Bürgertum zuzuordnen sein. Die Einheit einer Gesellschaft konnte aber nur gewahrt werden, wenn das spätantike „Jedem das Seine“ verdeutlicht und ausgelegt wurde. Es liegt nahe, an Bedürfnisse zu denken, die nahe an der natürlichen Basis des Lebens liegen. Sogar diese Bedürfnisse unterscheiden sich; ob es sich um Kinder, Frauen, Männer, um Junge oder Alte handelt, ist bei ihrer Bestimmung nicht unwichtig. Die Bedürfnisse wachsen, wenn Menschen in Randlagen des Lebens hineingeboren werden oder in sie hineingeraten, z.B. Behinderte oder sozial Benachteiligte. Auf jeden Fall steht die Parole „Jedem das Gleiche“ der Ursprungskonzeption der Gerechtigkeit konträr gegenüber, soweit diese eine begründete Proportionalität erforderte. Im Sinne des Korrektivs der Epikie ist die formale Gleichheit nur auf bestimmte Bereiche (elementare Chancen, Gleichheit vor dem Recht) anzuwenden. Der kriteriengeleiteten, letztlich auf eine Anthropologie bezogenen Gerechtigkeit7 steht die Einsicht gegenüber, dass die Glieder einer freien Gesellschaft nicht von vornherein auf starre Regeln festzulegen sind. Was für den einen gut ist, braucht für den anderen noch längst nicht gut zu sein. In seinen Anfängen wollte der Utilitarismus jeder Person eine eigene Präferenzskala gönnen.8 Dann kann es nur Einigungsprozesse im Blick auf das Gerechte geben. Diese Gedanken finden sich auch in dem Entwurf eines Nicht-Utilitaristen, bei Rawls, der eher der kantianischen Tradition zugerechnet wird. Ihm geht es nicht um eine ________________ 6

Vgl. ebd., 1134b.

7

Vgl. Frey (2001), S. 574.

8

Vgl. Höffe (1975), S. 49ff.

Solidarität und Gerechtigkeit in der Krankenversicherung

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kriteriengeleitete, sondern eine prozedurale Gerechtigkeit.9 Diese konstruiert er, indem er einen Urzustand fingiert.10 Die in ihm vorzustellenden Menschen legen sich hinter dem Schleier des Nichtwissens – das heißt in Unkenntnis ihrer eigenen Position in der Gesellschaft – auf die Gesichtspunkte des Maximinprinzips fest: Jeder wünsche sich eine Verteilung, dank derer der Reichtum (der am besten Gestellten) die beste Situation der am schlechtesten Gestellten befördere.11 Es geht – wie schon bei Aristoteles – um die Verteilung, aber alle, die das Verteilungsproblem berührt, müssen erst einmal in die ökonomischen und sozialen Kreisläufe eintreten können. Deshalb legt Rawls in einer lexikalisch vorgeordneten Regel gleiche Chancen und Freiheiten fest, ohne indes intensiv über die materiellen Voraussetzungen einer Chancengerechtigkeit ausführlich nachzudenken.12 Das fundamentale Gut der Freiheit hat Vorrang; deshalb gehört Rawls zu den Liberalen. Diesem prozeduralen Gerechtigkeitsverständnis wird die Einsicht entgegengesetzt, dass fundamentale Güter einer wohlgeordneten Gesellschaft nicht so beliebig sind, wie es der individuelle Präferenzskalen voraussetzende Utilitarismus wollte. Martha Nussbaum wendet sich deshalb ausdrücklich gegen einen oft ethnologisch verbrämten Relativismus und plädiert – angeblich „neoaristotelisch“ – für gewisse anthropologische Fundamentalkriterien.13 Zu ihnen gehört auch die Gesundheit; ohne sie hätte der Mensch nur geringe Chancen, anderen Gütern nachzustreben. Nussbaum und der Nobelpreisträger Sen haben jeweils auf ihre Weise für einen capability approach plädiert: Die Gesellschaft stellt die Grundlagen guten Lebens bereit; sie kann deshalb auch eine Verantwortungsübernahme verlangen, die sich auf die Lebensführung der auf ihre Verantwortung hin Angesprochenen erstreckt.14 Aber da nicht alle Menschen in die Lage kommen werden, ein selbstverantwortetes Leben zu führen, ist der capability approach noch zu erweitern. Jedem Menschen steht ein Maß sozialer Basisgerechtigkeit zu, und das ohne Rücksicht auf aktuelle oder potentielle Fähigkeiten zur Verantwortung. Probleme ergeben sich jedoch, wenn die Verantwortungsfähigkeit mutwillig durch die zur Verantwortung Berufenen selbst zerstört wird.

________________ 9

Vgl. Rawls (1975), S. 107ff. Vgl. Bien (1995).

10

Vgl. Rawls (1975), S. 34-40.

11

Vgl. ebd., S. 86ff.

12

Vgl. ebd., S. 60. Entgegnungen bei Sandel (1982) oder Walzer (1992).

13

Vgl. Nussbaum (1993); ebd. (1999).

14

Vgl. ebd.; Sen (1993), S. 30-53.

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Aufgrund der vorangehenden Überlegungen ist nun eine etwas umfangreichere Kriteriologie zu entwickeln, die Regeln der Gleich- bzw. Proportionalbehandlung zu bestimmen hilft: Ihr in der Lebenswirklichkeit zu verankernder Rahmen wird ƒ

durch einen Ausgangspunkt, die Umwelt„gerechtigkeit“, und

ƒ

durch einen Zielpunkt, die Gerechtigkeit für zukünftige Generationen,

markiert. Sie sind gewissermaßen „ontologische“ Bedingungen der Gerechtigkeit. Als „transzendentaler“ Grund der Gerechtigkeit (als Ermöglichungsgrund, der mit dem Menschsein gegeben ist) gilt folgendes Doppelkriterium: ƒ

Jedem die Basisgüter, die zum Leben in der Gesellschaft befähigen. Sie werden im Falle von Behinderungen umfangreicher sein als im Normalfall. Ein Teil dieser Güter kann im Sinne des capability approach mit der moralischen Verpflichtung zur Verantwortung verbunden sein. Aber diese stellt kein Ausschließungskriterium dar.

ƒ

Jedem die Freiheit zu verantwortlicher Lebensführung.

Leitender Gesichtspunkt dieser Kriterien ist die Teilhabe, die auch die Freiheit reguliert. Diese „transzendentalen“ Güter gehen, wenn sie erfüllt werden, in Güter eines kulturell differenten, sozial aber bindenden Lebens über. Dann gelten Kriterien wie die folgenden: ƒ

Jedem nach seinen kulturell und sozial anerkannten Bedürfnissen.

ƒ

Jedem nach seinen Leistungen im Bereich oberhalb der Basisgerechtigkeit (und daher immer bezogen auf die Lebensdienlichkeit der Leistungen).

Beide Kriterien müssen monetär präzisiert werden können. Auf diesen Kriterien können andere Kriterien aufbauen, etwa: ƒ

Jedem nach seinem Verdienst um die Gesellschaft. Dieses Verdienst wird zunächst einmal über das Medium des Tausches, das Geld, erhaben sein.

Solidarität und Gerechtigkeit in der Krankenversicherung

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Somit entsteht eine Matrix der Gerechtigkeitskriterien: Umwelt„gerechtigkeit“ Basisgerechtigkeit: Sie entspricht Grund- und Freiheitsbedürfnissen. Befähigungsgerechtigkeit: Sie entspricht Mitwirkungsbedürfnissen.

Beide sollen zur Partizipation führen. So ergibt sich die Teilhabegerechtigkeit Beide greifen auf die Bedürfnisgerechtigkeit über, die aber erweitert werden kann. Leistungsgerechtigkeit: Sie verbindet sich mit der Bedürfnisgerechtigkeit, aber nur oberhalb der Basis- und der Befähigungsgerechtigkeit. Verdienstgerechtigkeit: Sie beruft sich auf primär nicht ökonomische Verdienste um das soziale Leben Evtl. Kompensationsgerechtigkeit: Sie kann sozial induzierte natürliche Mängel entschädigen.

Das Ganze wird begrenzt durch die Generationen- und Umweltgerechtigkeit. Diese beiden Gerechtigkeitsarten tendieren jedoch zur Metapher.

B. Gerechtigkeit und Solidarität Oberhalb der Basisgerechtigkeit herrscht zunächst das Gegenseitigkeitsprinzip. Im Gütertausch werden vergegenständlichte Leistungen gegen andere Leistungen dieser Art getauscht. Der Einsatz für andere sollte von den anderen positiv vergolten werden können. Asymmetrien können zum Problem werden. Eine Verantwortung ist in das Gegenseitigkeitsprinzip eingeschlossen und sogar moralisch geboten, während die Basisgerechtigkeit zwar Verantwortung hervorbringen und fördern sollte, aber nicht muss, denn manche Menschen werden dazu nie in der Lage sein oder haben die dazu notwendigen Fähigkeiten verloren. Das Gegenseitigkeitsprinzip kann einseitig werden oder ruht, etwa im Fall Schwerstbehinderter. In diesem Fall wird die alte Frage nach der Billigkeit noch einmal wichtig. Sie hat den christlichen Gedanken der Liebe beeinflusst. Auch die Liebe kann ziemlich einseitig werden; die christliche Caritas gilt den

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Opfern, gilt denen, die sich selbst zumindest zeitweise nicht helfen können, und sie kann Grenzen überschreiten, etwa soziale oder kulturelle Hintergrundregelungen, durch welche die Gegenseitigkeit begrenzt wird. Diese Rolle der Caritas hat Otfried Höffe pointiert und zugleich angegriffen, als er im Blick auf die Gesundheitsreform die Behauptung aufstellte, die Solidarversicherung lade dazu ein, sich mit einer Art „Raffermentalität“ wie am Frühstücksbuffet selbst zu bedienen. Das sei Folge der abendländischen Caritas; die eigentliche Gerechtigkeit halte nur geringe Angebote in der Gesundheitsvorsorge bereit.15 Offensichtlich kann die Gerechtigkeit nicht ohne die Solidarität diskutiert werden.16 „Solidarität“ ist erst seit dem 18. Jahrhundert zum gesellschaftspolitischen Begriff geworden. Er hat die Bedeutung einer „politisch-sozialen Brüderlichkeit“ angenommen. Die französische Revolution betonte die „fraternité“, einen Grundsatz, der als solcher nicht verrechtlicht werden kann. Den Weg zur Verrechtlichung zeichnete die Solidarität vor, die dabei allerdings ihren familienbezogenen Sinn aufgeben musste und Verpflichtungen gegenseitiger Absicherung, wie sie meist in den Familien geübt wurde, in soziales Recht überleitete. Die französische Überlieferung weitete sodann den Sinn von kollektiver Verantwortlichkeit zur asymmetrischen Verpflichtung aus (so P. Leroux anstelle des Begriffes christlicher Nächstenliebe).17 Die Einwanderung des Begriffs der Solidarität in die Arbeiterbewegung ist bekannt; sie bedarf hier lediglich der Erwähnung. Wichtig ist ein Gesichtspunkt, der seit Max Scheler immer wieder auftaucht: Der Solidaritätsgedanke wende sich gegen das Vertragsdenken und stelle den personalen Bezug in den Vordergrund; die eingeforderte Gegenseitigkeit des Vertrags trete hinter der organisierten personalen Zuwendung zurück.18 Deshalb nennt Habermas die Solidarität das „Andere der Gerechtigkeit“.19 Kommunitaristen gebrauchen ebenfalls ein Solidaritätsargument, um das Vertragsdenken zurückzudrängen. Aber in solchen Gegenüberstellungen ist mehr Präzision notwendig: Es geht um das „Andere“ einer mechanischen Regelgerechtigkeit, die auf bestimmte Personen und konkrete Lagen wenig Rücksicht nehmen kann. Basisgerechtigkeit und capability approach bedürfen hingegen anthropologischer Kriterien und müssen Asymmetrien integrieren können. ________________ 15

Vgl. Höffe (2000).

16

Vgl. Wildt (1995).

17

Ebd.

18

Ebd.

19

Vgl. Habermas (1986), S. 311ff.

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Offenbar soll die Solidarität – ähnlich wie die Epikie – die Nachteile eines Regelsystems vermeiden helfen. Damit bleiben jedoch viele Fragen offen. Zwei sollen hier benannt werden: Wie weit reicht die Solidarität? Wirkt sie nur in sozialen Beziehungsfeldern, in denen wir der Empfänger der Solidaritätserweise noch ansichtig werden können? Oder endet sie an den Grenzen der eigenen Nation? Oder gilt sie weltweit, aber dann in gezielter Auswahl der Solidaritätsempfänger? Ein Beispiel für die Schwierigkeiten könnte die Solidarität mit einem an AIDS erkrankten Asylsuchenden sein. Die Hilfe in Not hat prinzipiell Vorrang vor allgemeinen Erwägungen; trotzdem muss die Gerechtigkeit fragen, ob nicht Millionen die gleichen Voraussetzungen für Hilfe aufweisen, aber nicht die Grenzen zu uns hin überschreiten. Die Solidarität wird häufig in ein Gerechtigkeitsdilemma führen.

C. Wie viel Asymmetrie kann sich die Gesellschaft leisten? Die Solidarität kann sich auf kontingente Fälle von hilfsbedürftigen Menschen beziehen, die jetzt oder grundsätzlich nicht zur Gegenseitigkeit fähig sind. Oder sie kann sich auf prinzipielle Asymmetrien beziehen, die von notorisch Hilflosen oder über den gesellschaftlichen Durchschnitt reichenden Notsituationen ausgehen. Beide Möglichkeiten können entweder aus Verantwortungslosigkeit entstanden sein oder die Verantwortungsfähigkeit eines Einzelnen oder einer Gruppe überschreiten, weil sie „natürlich“ bedingt sind. Wenn Individuen oder Gruppen zur Verantwortung nicht fähig sind oder voraussichtlich nie in Gegenseitigkeitsverhältnisse eintreten werden, wird die Solidarität auf eine harte Probe gestellt. Sie wird dann als einseitige Gerechtigkeit eingefordert. Die so genannte „Option für die Armen“ verschleiert diese Verhältnisse.20 Ursprünglich zielte sie auf Bevölkerungsteile, die mangels Landreform und ausgeschlossen von Ressourcen nicht in der Lage sind, umfassendere Verantwortung zu üben. Der Begriff ist jedoch auch auf die Gesellschaften des Nordens übertragen worden, in denen der Zugang zu Bildung, Gesundheit und Berufstätigkeit zumindest im Grundsatz allen offen steht, aber – wie die Reaktion auf die PISA-Studie beweist – ganze Gruppen verstärkte Förderung brauchen, um diese Chancen sinnvoll wahrnehmen zu können. Häufig artet die Sozialarbeit in eine Form von Klientelismus aus, der rudimentäre Anlagen zur Eigenverantwortung vernachlässigt.

________________ 20

Vgl. Wiemeyer (2003).

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An dieser Stelle brechen die Schwierigkeiten des sozialen Sicherungssystems auf: Wird „Gerechtigkeit“ zur Anspruchsparole? Führt sie dazu, dass scharf zwischen Leistenden und Empfängern von Hilfeleistungen unterschieden wird? Entmündigt sie einen Teil der Gesellschaft, weil auch unter den Organisationen der Helfer deutliche Interessen walten und sie sich ein Klientel schaffen oder erhalten wollen? Kann die institutionalisierte Medizin krank machen?

D. Das Gerechtigkeitsproblem in der Krankenversicherung Die Anwendung der Gerechtigkeitsvorstellungen soll anhand der Krankenversicherung geprüft werden. Versicherungen haben seit dem 19. Jahrhundert die alte familiale Solidarität abgelöst.21 Wer – streng ökonomisch – mit dem System des Marktes argumentiert, wird das Versicherungssystem nicht ohne weiteres verstehen können, weil die damit intendierte Gegenseitigkeit nicht nur gleichzeitig, sondern zum Teil generationenversetzt eingelöst wird. Der Grundgedanke einer Versicherung ist deutlich: Was mich treffen kann, will ich – wenn es den anderen trifft – mittragen in der selbstverständlichen Erwartung, dass dieses auch umgekehrt erfolgen könnte oder sollte. Die Grenze zwischen denen, die weniger profitieren als sie einzahlen, und jenen, die mehr profitieren, sollte um die 50%-Marke der Beitragszahler liegen. Heute meint jedoch eine deutliche Mehrheit, dass sie von der Krankenversicherung weniger erhält als sie einzahlt, weil der Median der bezogenen Leistungen vom arithmetischen Mittel der Zahler weit entfernt ist. Sowohl die Sozialpolitik als auch die Entwicklung der Medizin haben den Solidaritätsgedanken erheblich ausgeweitet und möglicherweise überstrapaziert. Fälle, die in früheren Zeiten von der Barmherzigkeit mitgetragen wurden oder die sogar von der Natur verhindert worden wären, suchen heute ihr Recht bei den Versicherungen. Es ist durchaus verständlich, dass fast jeder aufgrund eines Rechts, kaum jemand aber aufgrund von Barmherzigkeit Empfänger von Solidaritätsleistungen sein will. Über die in Gegenseitigkeit einst wie heute getragenen normalen Risiken hinaus sind verschiedene neue, die Versicherung herausfordernde Fallkonstellationen entstanden: 1. die offenbar überaus kostenbeladenen beiden letzten Lebensjahre, über deren Sinn zunehmend diskutiert wird, insbesondere die Existenz in Pflegeheimen, die erst durch Magensonden möglich wurde – sie können allerdings sehr viele betreffen; ________________ 21

Vgl. Kaufmann (2003).

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2. die Risiken ungesunder Lebensführung; 3. die Risiken besonderer Lebensstile; 4. verschiedene neu definierte Krankheiten (wie Kinderlosigkeit) und 5. die überaus teure Lebenserhaltung bei gewissen chronischen Krankheiten (z.B. die Nierendialyse). Die Fälle unter 2. und 3. könnten so entschärft werden, dass allen Beitragszahlern, die nicht unter diese Rubriken fallen, Reduktionen ihres Versicherungsbeitrages gewährt werden. Das wird womöglich notwendig werden, wenn der bereits unter Jugendlichen sich ausbreitende Altersdiabetes massenhaft auftreten wird. Die erste Fallgruppe stellt hingegen ein besonders schwieriges Problem dar. Das im Probelauf befindliche Abrechnungssystem für die Krankenhäuser, die DRG, zwingt offenbar manche der Anstalten, der palliativen Behandlung auszuweichen und neue Fälle zu konstruieren. Auf dem Hintergrund des alten Solidarprinzips der Gegenseitigkeit lässt sich vermuten, dass die Mehrheit der Versicherungsnehmer, vor die Entscheidung gestellt, eine höhere Prämie für die beiden letzten Lebensjahre zu zahlen oder einen Verzicht auf intensive Behandlung auf dem Weg zum Ende einzukalkulieren, für sich selbst auf zweifelhafte lebensverlängernde Methoden verzichten würde. Die Aufwendungen für die beiden letzten Lebensjahre sind also mindestens zum Teil legitimationsbedürftig, zumal sie meist aufgrund des technischen Fortschritts entstehen. Eine große Tageszeitung hält in einem Kommentar 50% der Krankenhausleistungen nicht für legitimiert.22 An dieser Stelle soll ein unverdächtiger Zeuge zu Wort kommen, der konservative katholische Philosoph Robert Spaemann. Er hat vor einigen Jahren in einer Diskussion mit dem Philosophen Ernst Tugendhat den intensiven Einsatz der Medizintechnik am Anfang des Lebens befürwortet, am Lebensende jedoch deutlich beschnitten sehen wollen, weil ein alter Mensch das Ziel seiner eigenen Natur erreicht habe. Spaemann argumentiert sehr entschieden, indem er den künstlich Ernährten eigentlichen Hunger abspricht. Der Grund liegt in seinem Naturbegriff: Wenn das Telos des Lebens erreicht ist, soll die Natur nicht durch Hypertechnik überspielt werden.23 Der fünfte Fall ist am schwierigsten. Im Sinne Spaemanns könnte man fragen, wann noch die Natur gestützt oder wann sie in künstlichen Experimenten verfremdet wird. Der Mann mit dem mechanischen Herzen in der Charité in Berlin dürfte den zweiten Fall repräsentieren. Die Nierendialyse stellt einen teuren Grenzfall zwischen Stützung der Natur und Künstlichkeit dar. Selbstver________________ 22

Vgl. Flöhl (2003), S. N1.

23

Vgl. Spaemann (1987), S. 94f.; ebd. (1992).

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ständlich wird niemand den Patienten, der ja schon länger in Behandlung ist, vom Gerät abhängen wollen. Eine Behandlung abzubrechen, die vom Patienten selbst noch mit Sinn verbunden wird, geht nicht an. Auf der anderen Seite darf aber niemand die vielen Versicherungsnehmer zur Solidarität in Fällen zwingen, in denen die Weiterbehandlung im Grunde als sinnlos erscheint; bei Multimorbidität bedarf manche Intensivbehandlung der expliziten Begründung gegenüber der Solidargemeinschaft der Versicherten. Im Übrigen sollte den Kassenträgern, Krankenhäusern und Arztpraxen häufiger deutlich werden, dass sie mit Geldern einer Solidargemeinschaft von Versicherten umgehen. Hinter Gerechtigkeit oder Solidarität werden offenbar viele Interessen verschleiert, die eigentlich erst in gesellschaftlichen Diskursen legitimiert werden müssten. Hinzu kommen notorische Asymmetrien, die nicht durch die Überlegung, dass dem nach Legitimation Fragenden Ähnliches zustoßen könnte, neutralisiert werden können. Das gilt vor allem für viele chronische Krankheiten. Hier kann nur eine neue Art von Solidarität geltend gemacht werden, die das ursprüngliche Gegenseitigkeitsprinzip der Versicherungen überschreitet. Wäre die Solidarität, wie einst, an Familien gebunden, würde sie diese in der Regel überfordern oder sogar ruinieren. Viele Errungenschaften der modernen Medizin erfordern also größere Solidarverbände. An dieser Stelle beginnt ein schier unlösbares Problem. Wollte man der an AIDS leidenden südafrikanischen Bevölkerung Solidarität nach unseren Maßstäben erweisen, würde die Überforderung schnell deutlich werden. Solidargemeinschaften haben mithin Grenzen.24 Diese deuten sich bereits in der eigenen Gesellschaft an, wenn es sozial und bildungspolitisch vernachlässigte oder abgehängte Gruppen oder Schichten gibt, unter denen Armut und Unwissenheit grassieren und deren Gesundheit ziemlich regelmäßig schwer angegriffen ist. Sie leben ihr Leben mehr schlecht als recht, aber sie führen es nicht im Sinne der Verantwortlichkeit. Diabeteserkrankte können zu notorischen Kostgängern von Kliniken werden, wenn sie Regeln der Lebensführung nicht einhalten können. Angesichts dieser „Armen“ – deutlicher: sozial Ausgegliederten – lässt sich das System sozialer Sicherung (auch im Krankheitsfalle) nach Maßgabe eines Sozialvertrags deuten, der die Ausgegrenzten von Devianzen abhalten will. Die Solidarität im Vollsinn wird darin zurückgenommen, weil zwar die Asymmetrie, aber nicht der personale Bezug der Epikie ernst genommen wird (und auch schwerlich ernst genommen werden kann). Die Gewährung eines bestimmten Maßes an Basisgerechtigkeit ermöglicht damit noch kein Leben in Verantwort________________ 24

Vgl. Offe (1998), S. 133.

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lichkeit und Partizipation. Es bleibt aber eine ernsthaft zu diskutierende Frage, ob das Solidarsystem allein der Grund für eine Krise der Krankenversicherung ist. Ausgangspunkt von Untersuchungen ist immer wieder die Beitragshöhe und mit ihr vor allem der ständig steigende Anteil an den Lohnkosten der Arbeitgeber. Arbeitnehmer werden ihren Anteil vor allem daran bemessen, ob sie diesen vergleichsweise „gerecht“ in Anspruch nehmen. Die Mehrzahl wird die Asymmetrie spüren und bemerken, dass sie offenbar auch für chronische Leiden aufkommen muss, die in ihrem eigenen Leben eher nicht eintreten werden. Das ist alles im Verhältnis zu den Ausgaben der Versicherungsträger zu sehen. Die kostenträchtigen beiden letzten Lebensjahre könnten die Alten mit dem Verdacht belasten, auf Kosten der Jüngeren zu leben. Aber ein Bericht des DIW enthält Gesichtspunkte, die nicht allein die demografische Struktur der Gesellschaft berühren. Unabhängig vom Alter gelte, dass die Nähe zum Tod die Kosten bestimme – in diesem Fall steigere. Für ganz alte Patienten gelte das hingegen nicht mehr. Deutlich wird aber, dass sich die Kosten der Gesundheit relativ zum Bruttosozialprodukt nicht wesentlich verändert haben. Das stellt ein sonst nicht gerade unumstrittener Bericht fest.25 Aber sie sind wegen der zunehmenden Zahl alter Menschen, die kaum zur Versicherung beitragen, auf eine geringere Zahl an Beitragszahlern verlagert. Der nahende Tod und die Kostspieligkeit der beiden letzten Jahre betrifft aber auch häufiger die Patienten der mittleren Jahre, während der Kostendruck bei den über 85-Jährigen abnimmt. Im Übrigen gibt es große Rationalisierungspotentiale in Verwaltungen, bei selbstinduzierten Krankheiten (zum Beispiel Haltungsschäden) und im ökonomischen Einsatz medizinischer Technik.26 Drastisch nimmt Lauterbach Stellung, wenn er fragt: „Woran werden die Deutschen sterben?“ „Über 70 Prozent aller Menschen werden auch im Jahr 2010 an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und an Krebs sterben. Aber das muss nicht so sein, denn es gibt vier gut beeinflussbare Risikofaktoren, die fast für das gesamte Spektrum der vorzeitigen Todesfälle bestimmend sind: Übergewicht, Bewegungsmangel, Fehlernährung und Rauchen.“27 Das Problem der Solidarität bezieht sich deutlicher als je zuvor auf die Generationengerechtigkeit. Bei den Renten geht es darum, ob die der voraufgehenden ________________ 25

Vgl. Braun/Kühn/Reiners (1998).

26

Vgl. Schulz/König/Leid (2003).

27

Lauterbach (2004).

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Generation gewährten, aber von der nächsten Generation erbrachten Leistungen – sofern sie von der Einzahlung an kapitalisiert worden wären – ausreichend für die demnächst Renten beziehende Generation wären. Zahlt die im Beruf stehende Generation nur den hypothetischen Zinsausfall zusätzlich zu den an die vorausgehende Generation ergehenden „Rückzahlungen“ oder muss sie immer mehr zuschießen? Anders steht es um die Krankenversicherung: Haben die Beitragszahler genügend für die Zeit der Rente zurückgelegt? Gehen sie verantwortungsvoll mit der Ressource „Versicherung“ um?

E. Schluss Die Diskussion um die Gerechtigkeit – zum Beispiel im Gesundheitswesen – leidet an Einseitigkeiten, weil sie nur einzelne Topoi heranzieht, aber den Zusammenhang unterschiedlicher Kriterien reduktiv behandelt. Am fahrlässigsten erscheint eine pauschale „Option für die Armen“, die „Arme“ lediglich als Fälle definiert, ohne nach deren Möglichkeiten der Verantwortung zu fragen. Wenn Menschen die Verantwortung für die Folgen falscher Ernährung, der Nichteinhaltung von Vorschriften für Diabetiker, für die Konsequenzen des Nikotin-, Alkoholgenusses oder den Konsum von Drogen abgenommen wird, könnte es noch leichter zum Zusammenbruch des Systems der Krankenversicherung kommen, als wenn Krankenhäuser den Weg zum Tod durch immer neue Fallkonstruktionen verlängern. In hohem Maße ambivalent ist die Einführung der Magensonde. Sie beweist, dass in der modernen Gesundheitsfürsorge das Maß des Natürlichen nahezu völlig abhanden gekommen ist. Die zukünftige Medizin wird deshalb stärker das Kriterium der Lebensführung gewichten müssen. Der Theologe Karl Barth hat in seinen manchmal sehr originellen Abhandlungen zu moralischen Problemen dem Patienten „Arbeit“ zugeschrieben28 – ein Gedanke, den gerade die psychosomatische Medizin gut verstehen könnte: Gesundheit könnte als die Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit der immer drohenden Krankheit betrachtet werden. Bleibt diese Fähigkeit aus und besteht keine Hoffnung auf ihre Wiederherstellung, müsste auch die Medizin ihr Programm umstellen: vom Kampf um das Leben des Patienten auf die Begleitung auf dem Weg eines zu Ende gehenden Lebens. Angesichts der immer häufiger vorkommenden kritischen Argumentation um Versicherungsbeiträge und um die Nachfrage nach Versicherungsleistungen kann das alte Modell proportionaler Gerechtigkeit nicht mehr gut raten. (Eine Ausnahme bildet vielleicht das Kriterium: „Jedem nach seinen Bedürfnissen“, das aber durch den Grundsatz „Jedem nach seinen Leistungen“ erheblich eingeschränkt wird, ________________ 28

Vgl. Barth (1951), S. 630.

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sofern die Bedürfnisse durch Leistungen anderer erfüllt werden.) Deswegen kann das schillernde Gerechtigkeitsverständnis nur durch den wohlerwogenen, neu und zeitgemäß zur Geltung gebrachten Gedanken der Solidarität geklärt werden. Die Solidarität erkennt Asymmetrien und stellt fest, wie weit sie anerkannt werden können. Die moralisch quälendste Grenze liegt sicher zwischen unserem Sozialsystem und den Millionen schlecht versorgten Menschen der Dritten Welt. Weil moralische Prinzipien den Test der Universalisierung bestehen sollten, liegt hier offenbar eine moralische Grenze vor. Sie lässt sich nicht in jedem ethischen System begreifbar machen, weil Albert Schweitzers Postulat der „grenzenlosen Verantwortung“ auch dann allzu bereitwillig aufgenommen wird, wenn man auf der Seite des Klienten keine Verantwortung voraussetzen möchte. Das Bild vom Menschen der Dritten Welt wie auch den Bewohnern sozialer Brennpunkte im eigenen Land wird davon geprägt, dass man in ihnen zur Verantwortung nahezu Unfähige zu sehen meint. Vielleicht sind oder waren deren Umstände der Sozialisation so, dass es keine Alternative gab. Aber die Solidarität mit den Opfern muss festhalten, dass sie nicht nur Adressaten der Caritas oder Solidarität sind, sondern Träger von Menschenwürde, die auch von ihnen zumindest im Grundsatz als Autonomie bewährt werden soll. Wenn dies nicht eintritt, muss es entweder gute Gründe für die Abwesenheit auch eines Restes an Autonomie geben; wenn die Gründe nicht überzeugen, muss die Auswirkung von Systemen – sei es der Entwicklungshilfe oder der Krankenversicherung – neu bedacht werden. Auf der anderen Seite verdienen alle, die für die Solidarsysteme etwas leisten, eine Begrenzung ihrer Verantwortung. Das gilt vor allem für jene Steuerzahler, die als Lohnabhängige nicht Geldbeträge vor der Steuer in das Ausland verbringen können. Gesellschaften, in denen Arm und Reich auseinanderdriften, pflegen die Mittelschichten sehr stark, wenn nicht zu stark zu belasten – ein Gerechtigkeitsproblem, das im Anschluss an die Krise der Solidarsysteme auftritt. Gerechtigkeit und Solidarität, aber auch Solidarität und Verantwortung, müssen in ein wohlerwogenes Verhältnis zueinander gesetzt werden, damit eine Gesellschaft nicht an der Überforderung durch ihre Solidarsysteme zerbricht. Das gelingt am besten, wenn durch deutliche Reduktionen hoch angesetzter Versicherungsbeiträge die der eigenen Gesundheit verantwortliche Lebensführung prämiert wird. Umfassende Solidarsysteme haben den Nachteil, dass diejenigen, die Vorteile in Anspruch nehmen, nicht der Leistenden ansichtig und deshalb auch ihrer Verantwortung gewahr werden. Deshalb muss die Verantwortung auf anderen Wegen eingefordert werden.

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Ethische Aspekte der Gesundheitsversorgung bei Ressourcenknappheit Hartmut Kliemt

A. Knappheit in der Medizin Beobachtet man, in welchem Umfang in Restaurants Nahrungsmittel zur Entsorgung vom Tisch zurückgehen, dann scheint das Wort von der Überflussgesellschaft gerechtfertigt. Nahrungsmittel scheinen jedenfalls nach dem ersten Eindruck in unserer Gesellschaft nicht knapp zu sein, sondern im Überfluss vorhanden. Doch trügt dieser Eindruck. Denn Knappheit ist zumindest in dem Sinne allgegenwärtig, dass wir die Mittel immer auch anderen Verwendungen zuführen könnten. Derjenige, der das Mittagessen im Restaurant bestellt hat, hätte sein Geld auch an einer Würstchenbude ausgeben können. Für das Essen im Restaurant musste er auf einige Würstchen verzichten. Er hätte sich für das gleiche Geld, das er im Restaurant angelegt hat, auch eine Uhr oder ein Weißbrot und eine teure Flasche Wein kaufen können. Wann immer jemand seine Verfügungsrechte ausübt, muss er darauf verzichten, seine Mittel anders zu verwenden, als er es tatsächlich getan hat. Jede Minute unserer Zeit können wir nur einmal verwenden, jeden Euro nur einmal ausgeben. Jeder guten Tat folgt wie ein Schatten eine andere gute Tat, die wir um ihretwillen unterlassen müssen. Die beste unterlassene Tat bildet die so genannten Opportunitätskosten der durchgeführten oder deren „Schattenpreis“. Die wahren Kosten einer guten Tat bestehen also in dem Guten, auf das man verzichten muss, um sie zu vollziehen, nicht in etwas schlechtem, das man tun muss, um die gute Tat durchzuführen. Die Dinge liegen bei Verschwendung anders. Wenn jemand mit dem gleichen Aufwand, mit dem er zuvor drei Kisten Nägel produzierte, vier Kisten produzieren kann, dann muss er zuvor verschwenderisch gehandelt haben. Derjenige, der so handelte, muss auf nichts verzichten, wenn er aus drei Kisten vier Kisten machen will. Da er zuvor ineffizient gearbeitet hat, kann er nun durch geschickteres Vorgehen mehr mit dem gleichen Aufwand als zuvor erreichen. Er hat eine zuvor ungenutzte Rationalisierungsreserve genutzt. Eine Rationalisierung des eigenen Handelns vorzunehmen, ist „zweckrationales“ Gebot. Soweit es um die Bereitstellung wichtiger Güter im Gesund-

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heitsbereich geht, sind aber nicht nur Gebote der Rationalität angesprochen: Rationalisierung in der Medizin ist vielmehr auch eine moralische Pflicht. Denn durch sie kann mehr Menschen zur Befriedigung ihrer grundlegenden Gesundheitsinteressen verholfen werden. Alle Rationalisierungsreserven, die im Medizinbetrieb vorhanden sind, müssen mobilisiert werden. Zugleich muss man sich aber darüber im Klaren sein, dass die Rationalisierungsreserven keineswegs so groß sind, dass alle spürbaren Knappheiten in der Medizinversorgung zum Verschwinden gebracht werden könnten. Einen Überfluss an medizinischen Leistungen wird es niemals geben. Man könnte medizinisch so gut wie immer mehr tun, als man de facto unternimmt. Die Schattenpreise der Medizinversorgung werden immer auch die Unterlassung von medizinisch sinnvollen Handlungen umfassen. Die Knappheit in der Medizin hat allerdings einen besonderen Charakter. Mit dem Anwachsen medizinischer Möglichkeiten wird nämlich der Zusatznutzen weiterer medizinischer Leistungen keineswegs notwendig unter bestimmte Schwellenwerte gedrückt. Wer mit großem Hunger das kalte Luxus-Büffet plündert, der wird den ersten Hummerschwanz genießen, den zweiten vielleicht auch noch, beim fünften wird er sich der Sättigungsgrenze nähern und beim zehnten der Toilette. In der Medizin scheint das anders zu sein. Der Nutzen nimmt nicht mit der Expansion des Konsums dieser Leistungen in gleicher Weise ab. Im Gegenteil wächst mit dem Anwachsen des medizinisch-technischen Fortschrittes auch das Nutzenniveau jener Leistungen an, die gerade nicht allen zugänglich gemacht werden können. Wer sich zu früheren Zeiten einen zusätzlichen Aderlass nicht leisten konnte, dessen Lebenserwartung wurde von diesem Mangel an medizinischer Versorgung eher positiv beeinflusst. Wer sich heute keine weitere Blutwäsche leisten könnte, der würde als Dialysepatient hingegen sterben. (Natürlich wäre er früher auch gestorben, nicht jedoch, weil es an finanziellen Möglichkeiten, sondern weil es gänzlich an entsprechenden Möglichkeiten fehlte.) In allen entwickelten Ländern wird wegen der akuten Lebensgefährdung eine Garantie der Dialyseversorgung gegeben, so dass möglichst niemand aus finanziellen Gründen undialysiert bleibt. Ein Verzicht auf die Leistungserbringung wird durch Widmung öffentlicher Mittel vermieden. Das ist jedoch in anderen Fällen und insbesondere dann, wenn es nur um die Beeinflussung statistischer Lebenserwartungen geht, keinesfalls unbeschränkt möglich. Wir müssen in der Medizinversorgung zunehmend auch auf Leistungen verzichten, die einen großen zumindest statistisch spürbaren Nutzen für die potentiellen Empfänger dieser Leistungen bedeuten würden. Einen Vorgeschmack davon, was auf uns zukommen wird, bietet die heutige Lage in der Organtransplantation. Wenn wir zwei gleich geeignete und auch in

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anderen Hinsichten gleich berechtigte potentielle Organempfänger betrachten, die um eine einzige verfügbare Niere konkurrieren, dann ist vollkommen klar, dass das Transplantat dem einen Empfänger nur auf Kosten der Nichtvergabe an den anderen Empfänger gegebenen werden kann. Der Schattenpreis der Organvergabe an den einen ist die Unmöglichkeit, das Organ dem anderen zu geben. Der eine bleibt (vorläufig) unversorgt, weil wir den anderen versorgen. Bei einem gegebenen Aufkommen menschlicher Organe lässt sich an dieser Lage nichts ändern. Eine andere Frage ist es allerdings, ob wir das Aufkommen an Organen nicht durch eine Veränderung der rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen erhöhen könnten. Für eine solche Möglichkeit spricht einiges. So weit dem keine anderen ethischen und möglicherweise auch wirtschaftlichen Erwägungen entgegenstehen, sollte man deshalb entsprechende Maßnahmen zur Erhöhung des Organaufkommens ergreifen. Dazu besteht sogar eine moralische Pflicht (mag dieser auch gerade von Seiten der Krankenhäuser, die an der Explantation mitwirken müssten, nicht Rechnung getragen werden). Solange unsere Gesellschaft dieser Pflicht nicht nachkommt, wirken die vielfältigen Äußerungen, dass die Solidarität mit den Überlebensinteressen anderer Bürger absolute Priorität vor allem anderen habe, einigermaßen bizarr. In der Organallokation haben wir uns mittlerweile daran gewöhnt, dass eine rationierende Zuteilung stattfinden muss. In anderen Bereichen neigen wir dazu, rationierende Zuteilung weit von uns zu weisen und auf solche Slogans zurückzugreifen wie „Rationalisierung ja, Rationierung nein“. Diese Slogans sind zwar populär. Sie sind jedoch bei nüchterner Betrachtung Unfug. Denn noch so große Rationalisierungsanstrengungen können die grundlegenden Tatsachen der Knappheit nicht zum Verschwinden bringen. Das, was instrumentell notwendig wäre, um eine optimale medizinische Versorgung aller zu bewirken, kann nicht ausnahmslos für alle erbracht werden. Eine in gleicher Weise für alle Patienten optimale medizinische Versorgung ohne Ansehen von Zahlungsfähigkeit und Versicherungsstatus ist eine Illusion für Sonntagsreden. Speziell die Medizin wird in besonderem Maße von einer immer größeren Knappheitsproblematik betroffen sein. Denn der medizinische Fortschritt wird die Möglichkeiten der Medizin so erweitern, dass immer mehr Interventionen von spürbarem medizinischem Zusatznutzen unterlassen werden müssen. Es gibt immer mehr, was man tun könnte und man kann deshalb nicht mehr alles sinnvoll Mögliche tun. Wir sitzen in der Fortschrittsfalle: Gerade weil die Medizin so gut ist, weil sie immer besser und mächtiger wird, wächst die Zahl der Kranken in der Gesellschaft. Je besser die Medizin, desto kränker die Gesellschaft. In einer Gesellschaft ohne gute Dialyseversorgung etwa gibt es kaum Nierenkranke, da diese schnell versterben. In einer Gesellschaft mit umfangreicher Dialyseversorgung gibt es hingegen sehr viele chronisch nierenkranke Patienten. Das führt zu der scheinbaren Paradoxie, dass man die Qualität

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der Versorgung nierenkranker Patienten als umso besser einzuschätzen hat, je höher die Anzahl der Kranken ist. Ein Teil der Medizin bewirkt zunehmend nicht mehr die endgültige Heilung eines Patienten, sondern nur eine zeitliche Ausdehnung der Behandlungsbedürftigkeit. Da diese Ausdehnung stets mit einer Ausdehnung des Lebens verbunden ist, kann man aus dieser Feststellung nicht die Vergeblichkeit des medizinischen Tuns ablesen, jedoch die Vergeblichkeit aller Hoffnungen, das Syndrom der „medizinischen Kostenspirale“ mit Mitteln einer besseren Medizin heilen zu wollen. Ein besonders anschauliches Beispiel für die Vergeblichkeit unserer Hoffnungen, durch bessere Medizin die Knappheit medizinischer Ressourcen zu überwinden, bildet die präventive Medizin. Prävention von Krankheiten ist selbstverständlich ein erstrebenswertes Ziel. Zugleich darf man aber nicht übersehen, dass die Vermeidung von Krankheiten einer bestimmten Art keineswegs zwingend dazu führt, dass die Kosten für das Gesundheitswesen sinken werden. Da die Todesrate in der Gesellschaft immer 100% beträgt, bedeutet die Vermeidung der einen Todesart vielmehr nur, dass mehr Menschen an einer anderen Krankheit versterben werden. Ob sich aus einer von medizinischer Prävention bewirkten Verlagerung von Todesarten eine Reduktion der Kosten für die medizinische Versorgung insgesamt ergibt, hängt wesentlich davon ab, welche Kosten die Behandlung anderer Krankheiten bis zum Ende des Lebens verursacht. Ein großer Teil der medizinischen Kosten, die für einen Patienten während dessen gesamtem Leben aufgewandt werden, fällt während des letzten Lebensjahres an – gleichgültig, wie alt der Patient zum Todeszeitpunkt ist. Deshalb hat die Verschiebung der Todesursachen eine besondere Bedeutung für die Frage, wie sich die Prävention auf die Kosten des Medizinbetriebes auswirkt. Darüber hinaus ist es in jedem Falle von großer Bedeutung, ob die medizinische Entwicklung eher dazu führen wird, dass die Phase schwerer Krankheit und Hilfsbedürftigkeit zum Ende des Lebens gleichsam zusammen gepresst wird oder ob diese Phasen schweren Leidens und großer Hilfsbedürftigkeit auseinander gezogen werden. Vermutlich wird in einigen Fällen eher das erstere und in anderen eher das letztere der Fall sein. Unter dem Gesichtspunkt der Kosten kommt alles darauf an, welche Erscheinung überwiegen wird. Ob nun eher die These von der Ausdehnung der Behandlungsbedürftigkeit und der Zunahme längerer chronischer Leiden oder die These von der Verkürzung dieser Phase zutreffen wird, letztlich werden wir in keinem Falle darum herumkommen, uns mit der zunehmenden Knappheit medizinischer Ressourcen im Sinne gestiegener Schattenpreise aufgrund des zunehmenden Nutzens der Medizin zu befassen. Wir haben damit zu rechnen, dass immer mehr Ressourcen in den Bereich der Medizin wandern werden, ohne die Knappheit zu reduzieren bzw. ohne den Nutzen der nicht-realisierten medizinischen Interventionen zu

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senken – im Gegenteil. Da es sich bei Gesundheitsgütern um so genannte superiore Güter handelt, von denen bei wachsendem Reichtum überproportional viel nachgefragt wird und im Falle der Medizin gewiss auch vernünftiger Weise überproportional mehr nachgefragt werden sollte, gelangen wir – richtiger Weise – nicht nur zu einer Erhöhung der Medizinausgaben, sondern zu deren überproportionaler Erhöhung. Zugleich aber wird der Grenznutzen der medizinischen Maßnahmen nicht wie im Falle der zusätzlichen Hummerschwänze so gering werden, dass ein zu leistender Verzicht auf weitere Maßnahmen unspürbar wird. Die ohnehin bestehende Tendenz zur Ausweitung der Medizinausgaben wird durch den so genannten demographischen Faktor noch verstärkt werden. Zugleich kann der Anteil der Medizinausgaben an der Gesamtheit aller Ausgaben nicht unbeschränkt steigen. Nimmt man private und öffentliche Ausgaben zusammen, dann bildet das gesamte erzielbare Volkseinkommen eine absolute Obergrenze. Nimmt man nur die öffentlichen Ausgaben, dann bildet die Quote der öffentlichen Ausgaben am gesamten Volkseinkommen eine Grenze für jene Ausgaben, die man auf medizinische Leistungen aus öffentlichen Mitteln verwenden kann. Die öffentliche Mittelwidmung und -gewinnung ist das eigentliche gesundheitsethische Knappheitsproblem, mit dem wir uns zu befassen haben. Wenn die Menschen ihre privaten Mittel verstärkt für Gesundheitsleistungen ausgeben, dann braucht uns das nicht allzu sehr zu sorgen. Wir machen uns ja auch wenig Gedanken darüber, dass sie zuviel für große Automobile ausgeben könnten. Wenn es allerdings um öffentliche Mittel geht, dann sieht die Sache anders aus. Denn diese werden aus Zwangsbeiträgen finanziert. Kranken Menschen helfen zu wollen, ist gewiss moralisch lobenswert, andere zu dieser Hilfe zu zwingen, bleibt moralisch problematisch. Auch der beste Zweck heiligt bekanntlich nicht alle Mittel. Würde man aber den Sonntagsreden folgen, dann würde man buchstäblich alle Mittel für die Gesundheitsversorgung benötigen. Da man beispielsweise Vorsorgeuntersuchungen für Krebserkrankungen nicht nur jährlich, sondern monatlich durchführen könnte und dabei immer noch einen gewissen Zusatzertrag an medizinischem Nutzen hätte, scheinen Überlegungen, die auf eine geradezu unbegrenzte Steigerungsfähigkeit von Überlebens-Erwartungen oder Lebensqualität erhöhenden medizinischen Ausgaben hindeuten, keineswegs absurd. Bereits heute könnten wir nach Schätzungen mancher Fachleute das gesamte Bruttosozialprodukt eines entwickelten Landes für sinnvolle Gesundheitsausgaben verwenden; wobei unter medizinisch sinnvollen Leistungen solche verstanden werden, die entweder die Lebensqualität oder die erwartete Lebensdauer eines Patienten erhöhen können.

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Die Nachfrage nach medizinischen Leistungen nimmt mit den Fähigkeiten der Medizin, die Lebensqualität, Gesundheit oder Lebenserwartung zu fördern, ebenfalls zu. Das immer wieder angeführte Beispiel der schmerzhaften Operation, die niemand überflüssiger Weise würde vornehmen lassen, könnte irreführender nicht sein. Es suggeriert eine natürliche Begrenzung der Nachfrage, die angesichts der überragenden Bedeutung von Überleben und Gesundheit gerade nicht gegeben ist. Die Nachfrage nach medizinischen Leistungen, die dem Überleben und der Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit dienen, ist angesichts der heute bereits gegebenen Möglichkeiten medizinischer Förderung dieser Ziele potentiell grenzenlos. Wir müssen selbst eine Grenze ziehen, wonach medizinisch sinnvolle Leistungen, die aus öffentlichen Mitteln finanziert werden könnten, qua Beschluss nicht öffentlich für alle bereitgestellt werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bildet der Ausschluss medizinisch sinnvoller Leistungen von der Finanzierung noch kein größeres Problem, weil die nicht finanzierten Leistungen in der Regel keinen stark spürbaren fundamentalen Zusatznutzen stiften würden. Es geht nicht um Leistungen, die so notwendig wie etwa die Dialyse sind, um eine akute Gefährdung des Lebens oder der Lebensqualität abzuwenden. Was immer zur Behebung solcher Gefahren notwendig ist, können wir im Augenblick noch aus öffentlichen Mitteln für diejenigen finanzieren, die nicht in der Lage sind, selbst für entsprechende Leistungen aufzukommen. Das wird jedoch kein Dauerzustand bleiben. Mit zunehmenden medizinischen Möglichkeiten, mit dem technischen Fortschritt in der Medizin, wird der Schatten der Schattenpreise unausweichlich länger werden. Damit wird auch die Notwendigkeit stärker, sich dem Problem der Knappheit mit ethischen Maßstäben zu stellen. Gerade die Ausweitung und nicht die Einschränkung der medizinischen Versorgungsmöglichkeiten wird zur Notwendigkeit der Rationierung führen und zu den ethischen Problemen, die mit Rationierung verknüpft sind. Dabei sollten wir aber niemals vergessen, dass wir nicht von einer Einschränkung des jetzigen Versorgungsniveaus ausgehen müssen, sondern nur davon, dass weitere Verbesserungen nicht unbegrenzt finanziert werden können. Es geht in der Rationierungsdebatte nicht so sehr um Vorenthaltung heute gewährter Leistungen, sondern um eine Vorenthaltung künftig möglicher Leistungsverbesserungen, die zusätzlich zum jetzigen Niveau der Versorgung möglich wären, aber nicht jedem zugänglich gemacht werden können.

B. Rationen in der Medizin Rationierung medizinischer Ressourcen erscheint vielen als eine furchtbare Drohung, die wir am fernen Horizont erkennen können, im Augenblick jedoch noch abzuwehren vermögen. Wenn wir uns nur genügend anstrengen, dann werden wir, so heißt es, diese schlimme Gefahr vermeiden können. Rationalisierung und gemeinsame Anstrengungen, mehr für die Medizin zu tun, werden es

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uns, wenn man den Verlautbarungen interessierter Kreise glauben darf, auf Dauer erlauben, Rationierung zu vermeiden. Wenn man nur die Prioritäten richtig setzt und vernünftig vorgeht, wobei hier selbstverständlich sowohl die Prioritäten als auch die Vernunft von den medizinischen Fachleuten definiert werden, dann wird man jedem bedürftigen Bürger alles zu einer optimalen medizinischen Versorgung notwendige zukommen lassen und rationierende Vorenthaltung von Leistungen vermeiden können. Nach jedem sinnvollen Begriff von Rationierung sind jedoch bereits heute medizinische Leistungen, jedenfalls so weit sie von öffentlichen Versorgungssystemen bereitgestellt werden, rationiert. Eine Standarddefinition von Rationierung, die in typischer Weise auf den bloßen Ausschluss vom Ressourcenzugang abstellt, lautet wie folgt: „Rationing – which means the withholding of care expected to be of net benefit – occurs throughout every health care system and is unavoidable“1. In einer Welt knapper Ressourcen ist es ganz unvermeidlich, dass eine medizinische Versorgung auf dem heutigen Stand nicht unbeschränkt jedermann zum Preise von Null zugänglich gemacht werden kann. Es ist nicht möglich, soweit zu subventionieren, dass der Grenznutzen weiterer Leistungen auf Null sinkt und damit die Nachfragen rationaler Patienten zum Preise von Null ebenfalls auf Null sinken würde. In früheren Zeiten war das anders und zwar nicht, weil man soviel mehr für Medizin ausgegeben hätte – das war ja gerade nicht der Fall – sondern deshalb, weil die Medizin so wenig taugte. In der Regel war man besser daran, wenn man sich von den Ärzten fernhielt, als wenn man sie aufsuchte. Es gab viele ärztliche Leistungen, die potentiell schädlich waren – und zwar nicht nur in dem Sinne, dass es Nebenwirkungen der Leistungen gab, sondern die Leistungen selbst ließen insgesamt mehr Schaden als Nutzen erwarten. Bedingt durch diese Mängel der Medizin selbst war auch die Nachfrage nach medizinischen Dienstleistungen naturgemäß beschränkt. Seitdem diese Zeiten vorüber sind und medizinische Leistungen grundsätzlich mehr Nutzen als Schaden stiften können, müssen medizinische Leistungen unweigerlich selbst dann Patienten vorenthalten werden, wenn sie noch einen positiven Netto-Nutzen für Gesundheit und Überlebensaussichten ihrer potentiellen Nutznießer erwarten lassen würden. Rationierung im Sinne des vorangehenden Begriffes ist völlig unausweichlich. Aber die Feststellung, dass das so ist, besagt so gut wie nichts. Denn solange wir nicht im Paradies leben, führt die Güterknappheit immer dazu, dass wir nicht alles erhalten können, was für uns noch irgendeinen Nutzen stiften würde. Wenn man den Ausschluss vom Zugang zu Gütern bereits als Rationie________________ 1

Buchanan, (1997), S. 335-336, ebenso Zentrale Ethikkommission (2000), S. A-1019.

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rung begreifen will, dann beinhaltet jede Art von Eigentumsordnung eine Rationierung. Die Dramatik, die in der öffentlichen Debatte mit der Verwendung des Begriffs der Rationierung heraufbeschworen wird, erschließt sich jedoch gerade nicht, wenn man unter „Rationierung“ einfach jenen Ausschluss vom Ressourcenzugang versteht, der mit jeder Eigentumsordnung notwendig einhergeht. Das wirft die Frage auf, ob „Rationierung“ wirklich nur potentielle „Vorenthaltung einer möglichen Versorgung“ bzw. „Ausschließbarkeit“ vom Ressourcenzugang bedeutet. Die Inadäquatheit jener erwähnten Standarddefinition von Rationierung, die darunter nur den allgemeinen Sachverhalt beschränkten Ressourcenzugangs verstehen will, liegt meines Erachtens auf der Hand. Die Phänomene, die wir mit dem Begriff der „Rationierung“ lebensweltlich verbinden, können weder auf die bloße Ausschließbarkeit vom Ressourcenzugang, noch auf die Knappheit als solche reduziert werden. Eine andere Explikation von „Rationierung“ ist notwendig. Diese muss realen Rationierungserfahrungen Rechnung tragen. Wenn wir nämlich an eine Rationierung von Gütern denken, dann assoziieren wir sogleich die katastrophalen Knappheitserfahrungen in Notzeiten. Wir denken an Warteschlangen, Buttermarken und dergleichen. Und diejenigen, die den Rationierungsbegriff in der Medizindebatte benutzen, legen es auch darauf an, genau diese Assoziationen hervorzurufen. Sie wollen damit intuitive Ablehnung jeglicher Einschränkungen der Medizinversorgung erzeugen und die Bereitschaft erwecken, Ressourcen in höherem Umfang für die Medizin bereitzustellen. Ein adäquateres Explikat von Rationierung wird demgegenüber die folgende Form annehmen müssen: Rationierung ist ein Vorgang, in dem weitgehend unabhängig von Zahlungsbereitschaft oder -fähigkeit der Empfänger feste Quantitäten eines Gutes oder einer Dienstleistung, in einem kollektiv finanzierten Prozess privater Verwendung unterhalb markträumender Preise zur Sicherung eines wesentlichen Interesses zugänglich gemacht werden. Benutzt man einen solchen Rationierungsbegriff, dann beruht Rationierung nicht (primär) darauf, dass etwas vorenthalten, sondern darauf, dass etwas gegeben wird. Was gegeben wird, wird jedoch nicht in einer unmittelbaren Leistungs- und Gegenleistungs-Beziehung gegeben. Der entscheidende Punkt besteht gerade im Auseinanderfallen von Leistungszugang und eigener Gegenleistung. Diese Entkopplung von Leistung und Gegenleistung führt zu jener Übernachfrage und Zuteilungsdiskriminierung, die wir mit Rationierung im Allgemeinen verbinden. Auch private Versicherungen sehen sich einer latenten Übernachfrage nach dem Eintreten des Versicherungsfalles gegenüber. Sie müssen dann ebenfalls „Rationen“ zuteilen. Auch sie müssen die kollektiv durch Ressourcenzusammenlegung mögliche Abfederung von individuellen Schadens- bzw. Krankheits-

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fällen mit Beschränkungen versehen. Denkt man etwa an die amerikanischen Erfahrungen mit so genannten HMO’s (Health Maintenance Organisations), die die Versicherungsseite und die Leistungserbringung integrieren, um die Übernachfrage zu reduzieren, dann sieht man unmittelbar, worum es geht. Eine HMO kann zwar der von den Leistungserbringern bei Einzelliquidation der Leistungen erzeugten Übernachfrage teilweise steuern. Da sie selbst die Leistungen erbringt, hat sie keinen Anreiz, diese auszuweiten. Sie kann aber die Nachfrage der Patienten nicht in gleicher Weise kontrollieren und sieht sich daher den gleichen Protesten gegen die Vorenthaltung von Leistungen gegenüber wie öffentliche Anbieter. Auch die ethischen Probleme, darüber zu entscheiden, wer nun Zugang erhält und wer nicht, sind sehr ähnlich gelagert. Der Grundsachverhalt, der zu all diesen Problemen führt, ist der Versuch einer künstlichen Aufhebung von Knappheit in einer Welt knapper Ressourcen. Wer beispielsweise Butter in Originalverpackung in großen Mengen aufkaufen und dann zum halben Preis verkaufen wollte, der könnte gewiss mit einer Schlangebildung vor seinem Verkaufsstand rechnen. Er könnte sich dann aussuchen, wem er wie viel von seiner Butter zu dem von ihm subventionierten Preis geben wollte. Er könnte zuteilen und bei der Zuteilung Maßstäbe anlegen, die mit der normalen Marktpreisbildung nichts zu tun hätten. Er würde sich dem ethischen Problem gegenüber sehen, wem er die Butter geben sollte und wem nicht, gerade weil er den Preismechanismus des Marktes aushebelt. Dies ist genau das, was der Staat vollzieht, wenn er Rationierungsmaßnahmen durchführt. Er macht Güter unterhalb markträumender Preise privater Verwendung zugänglich. Dann muss er aber mit einer Übernachfrage rechnen und wird unweigerlich Gefühle der Frustration und des Mangels auch in Bereichen erzeugen, die gerade von einem großen gesellschaftlichen Reichtum gekennzeichnet sind. Denkt man etwa an die Warteschlangen im Medizinsystem Englands, dann hat man das Bild endemischen Mangels vor sich. Auf der anderen Seite ist jedoch selbst die englische Medizinversorgung verglichen mit dem, was in anderen Ländern sogar den nach dortigen Maßstäben wohlhabenden Personen zugänglich ist, durchaus luxuriös. Wer nicht sieht, dass Rationierung mit Subventionierung intim verknüpft ist, läuft Gefahr, den Witz der Sache zu verfehlen. Zuteilung und Übernachfrage kommen nur durch Subvention zustande. Auf einem völlig privaten Medizinmarkt, auf dem Ärzte ausschließlich im unmittelbaren Gegenzug zur ihrer Leistungserbringung bar liquidieren würden, würde niemand auf die Idee kommen, von Rationierung zu sprechen, obschon natürlich Menschen, die nicht zahlungsbereit oder -fähig wären, durchaus vom Zugang zu medizinisch nützlichen Leistungen ausgeschlossen würden. Ethische Probleme des Umgangs mit der Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen gibt es nach Einführung der institutionellen Rahmenbedingungen eines völlig privatvertraglichen Systems

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nicht. Das bedeutet allerdings nicht, dass die voraufgehende konstitutionelle Entscheidung für oder gegen einen solchen institutionellen Rahmen ethisch neutral wäre. Sie ist es nicht, sondern bildet im Gegenteil eine „konstitutionelle“ ethische Grundentscheidung. Die Entscheidung gegen eine rein private Medizinversorgung ist unweigerlich eine Entscheidung für Rationierung. Mit der Entscheidung für eine Rationierung, die typischerweise gerade aus ethischen Gründen verlangt wird, um bestimmte Knappheitsprobleme in ethisch angemessener Weise zu lösen, handelt man sich dann aber ethische Folgeprobleme ein, die die Zuteilung bzw. Vorenthaltung von Rationen von Gesundheitsleistungen betreffen. Wer die Allokation von Ressourcen durch Zuteilung löst, der kann nicht unbeschränkt zuteilen. Denn Zuteilung knapper Ressourcen bedeutet keineswegs die Aufhebung der Knappheit selbst. Sie beinhaltet ausschließlich eine partielle Suspendierung des Preismechanismus. Betrachtet man Rationierung in dieser Weise, dann wird der Illegitimitätsverdacht gegenüber Beschränkungen der Versorgung nicht mehr automatisch transportiert. Denn, wer gibt, darf auch bestimmen, wie viel er gibt. Allerdings kann derjenige, der zuvor versprochen hatte, bestimmte Leistungen zu erbringen, die Vorenthaltung dieser Leistungen später nicht mehr mit dem gleichen Argument legitimieren. Vorenthaltung als Nicht-Erfüllung von Leistungsversprechen hat nichts mit Rationierung zu tun, sondern stellt einen einfachen Vertrauens- bzw. Rechtsbruch dar. Konkret bedeutet das mit Bezug auf die Verhältnisse in unserem heutigen Gesundheitswesen, dass es ethisch unannehmbar ist – jedenfalls solange man am Prinzip des Vertrauensschutzes fest hält –, über nahezu eine Generation gegebene Versprechen auf praktisch unbeschränkte Versorgung aus tagespolitischen Erwägungen heraus zu widerrufen. Ein Widerruf solcher Versprechen könnte erst dann legitim sein, wenn uns das Wasser gleichsam bis zu Halse stünde. Man kann heute allerdings durchaus ankündigen, dass man nach Ablauf einer Generation bestimmte Leistungen nicht mehr erbringen wird. Es ist insbesondere auch durchaus legitimierbar, den heute jungen Bürgern anzukündigen, dass sie im Alter bestimmte Leistungen nicht mehr erhalten werden. Es ist allgemeiner gesprochen legitimierbar, so etwas wie eine Positiv-Liste öffentlich zu tragender Gesundheitsleistungen zu erstellen. Dabei könnte man durchaus den heutigen Stand der Medizin zugrunde legen und darauf verzichten, den medizinischen Fortschritt als solchen in die Leistungszusagen einzubeziehen. Die Rationen würden gleichsam auf dem heutigen Stand eingefroren. Das wäre auch insoweit vertretbar, als der so genannte Generationenvertrag durchaus so verstanden werden könnte, dass ein Versprechen, die Teilnahme am Fortschritt zu finanzieren, keineswegs einbegriffen ist. Wie immer man sich in diesen Fragen entscheiden mag, in jedem Falle ist es notwendig, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit von Zusagen so weit wie möglich

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zu sichern. Künftige Generationen ebenso wie heutige müssen wissen, worauf sie sich einzustellen haben. Die öffentlichen Versorgungsgarantien müssen nach Art und Umfang so spezifiziert werden, dass sie in Zukunft tatsächlich erbracht werden können und der Bürger sich darüber hinaus privat versichern kann. Diese Gebote ökonomischer Vernunft und ethischen Anstandes lassen sich aber nur erfüllen, wenn wir offen mit dem Thema Rationierung im Gesundheitswesen umgehen und die zu erbringenden Rationen nach Art und Umfang offen festlegen. Dazu bedarf es entweder der Budgetierung oder aber der Standardisierung.

C. Budgets bzw. Leit- und Richtlinien als Rationierungsinstrumente Es gibt genau zwei grundlegende Möglichkeiten, beschränkte Ressourcen der Gesundheitsversorgung in Rationen zuzuführen. Zum ersten kann man mit Budgets arbeiten, die die Geldkosten mit einer Restriktion versehen. Im Sinne der Bürgergleichheit liegt es dann nahe, jedem die gleichen Kosten zu widmen. Zum zweiten kann man die Rationen nach Qualität und Quantität normieren und dann garantieren, dass man jedem Bürger in gleicher Weise Zugang gewährt.

I. Budgets Eine schematische Budgetierung kann zwei Formen annehmen. Zum ersten könnte man daran denken, für jedes Individuum ein Individual-Budget vorzugeben. Die öffentliche Hand wäre beispielsweise bereit, für jeden Bürger im Laufe von dessen Leben ein Gesundheitsbudget von, sagen wir einmal, 100.000 € indiziert nach Preisen eines bestimmten Jahres auszuwerfen. Wenn man den Bürgern solche Zusagen machen würde, dann wüssten sie, welche Solidarität ihnen öffentlich garantiert wäre. Mit diesen Garantien könnten sie sich an Versicherungsgesellschaften wenden, um über den Sockelbetrag hinausgehende Kosten zu versichern. Das System würde auch keineswegs perverse Anreize zur Verschwendung der 100.000 € setzen. Die Versicherungen, die auf dem Grundbudget aufbauen würden, hätten durchaus einen Anreiz, ihre Versicherungsnehmer davon abzuhalten, die ersten 100.000 € leichtfertig und zu schnell auszugeben. Es würden Verträge angeboten werden, die billiger wären, wenn der Versicherungsnehmer zu sparsamem Umgang mit den Gesundheitsressourcen bereit ist. Allerdings würden derartige maximale Grenzen dazu führen können, dass Menschen aus finanziellen Gründen schließlich unversorgt blieben. Denkt man an teurere Erkrankungen wie etwa das chronische Nierenversagen, die Kosten einer Dialysebehandlung oder solche extrem teuer aber auch sehr wirksam zu behandelnde Krankheiten wie die Hämophilie A (vulgo Bluterkrankheit) dann müssten weniger gut gestellte, nicht mit einer Zusatzversicherung versehene

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Individuen unter solchen Rahmenbedingungen womöglich sterben, weil sie sich eine Behandlung über die 100.000 € hinaus nicht leisten könnten. Dies erscheint vielen Bürgern als völlig unannehmbar und vor allem auch als unvereinbarer mit einer Konzeption von Rechtsstaatlichkeit, die dem einzelnen Individuum und dessen Existenzsicherung nahezu unbeschränkten Respekt zollt. Obwohl individuelle Budgets, die den Gesamtumfang gesellschaftlicher maximaler Solidarität über das gesamte Leben eines Individuums bestimmen, viel mehr für sich zu haben scheinen, als das gemeinhin angenommen wird, sind sie damit soweit von vorherrschenden ethischen Intuitionen entfernt, dass sie keine Chance auf Erfolg in der praktischen Politik haben dürften. Das heißt allerdings nicht, dass die praktische Politik jede Art der Budgetierung ablehnen würde. Das glatte Gegenteil ist der Fall. Kollektive Budgets spielen jedenfalls heute für die Beschränkung des Ressourceneinsatzes im Gesundheitswesen eine zentrale Rolle. So weit es dabei um die so genannte Makro-Allokation geht, kann das kaum anders sein. Ein bestimmter Anteil aller Ressourcen bzw. der öffentlich zugänglichen Ressourcen wird auf das Gesundheitswesen verwandt. Gesundheitsversorgung hat sich innerhalb dieses Budgets zu bewegen. Das scheint den meisten nur deshalb unproblematisch, weil es verschleiert, dass am Ende die Knappheit doch beim einzelnen Individuum ankommt. Darüber hinaus werden Budgets jedoch auch für die so genannte Mikro-Allokation verwendet. Insbesondere in Deutschland sieht sich der einzelne Arzt Budget-Restriktionen gegenüber, die ihn zur Mikroallokation zwingen. Derartige Beschränkungen erlauben es dem einzelnen Arzt zwar, Prioritäten zu Gunsten bestimmter Personen zu setzen. Um auf diese besonders viele Ressourcen verwenden zu können, müssen jedoch andere von ihm zurückgesetzt werden. Der Arzt wird zum Rationierungsagenten der Gesellschaft. Die Behandlung des einen Patienten hat als Schattenpreis eine unterlassene Behandlung für einen oder mehrere andere Patienten zur Folge. Viele Ärzte sind nicht unempfänglich für die Verlockungen eines weiteren ärztlichen Machtzuwachses in der ohnehin asymmetrischen Beziehung zwischen Arzt und Patient. Ein Arzt, der nicht nur darüber zu befinden hat, welche Behandlungsform er einem Patienten vorschlägt, sondern überdies darüber zu befinden, ob ein Patient bzw. welcher Patient überhaupt Zugang zu bestimmten Formen der Behandlung hat, besitzt zusätzliche Macht. Diese Macht ist allerdings durchaus gefährlich für den Fortbestand der Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient. Zwar kann der Arzt flexibel entscheiden, welcher seiner Patienten von einem gegebenen kollektiven Budget besonders profitieren würde, doch würden Patienten nicht nur darauf hoffen dürfen, Nutznießer dieser Entscheidungsspielräume zu sein, sondern auch befürchten müssen, dass sie zu Gunsten anderer Patienten vom einzelnen Arzt zurückgesetzt würden. Es ist durchaus bekannt, dass Patienten, die an einem der Transplantationszentren auf

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den Empfang eines Organs warteten, die Befürchtung mit sich herum trugen, sie könnten zu Gunsten eines anderen Patienten zurückgesetzt werden. Es blieb ihnen zwar nichts anderes übrig, als sich in ihr Schicksal zu fügen, doch wollten sie letztlich nicht von einem unparteiischen Arzt behandelt werden, sondern diesen verlässlich auf ihrer Seite wissen. Die Flexibilität der kollektiven Budgets ist somit zwar manchmal ein Vorteil. Man kann dem einen Patienten bevorzugt Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, indem man einen anderen Patienten mit geringerer Priorität oder überhaupt nicht beachtet. Diesen Vorteil erkauft man sich damit, dass der einzelne Arzt Schattenpreise zu verantworten hat und womöglich tragische ethische Entscheidungen als Rationierungsagent der Gesellschaft verantworten muss. Zudem erlaubt die Flexibilität keine Berechenbarkeit der Ansprüche der Individuen, so dass eine effiziente individuelle Zusatzversicherung erschwert oder unmöglich wird. Das widerspricht ebenfalls dem Ideal, über eine Grundversorgung gewisse Garantien zu geben, zugleich aber die eigene Vorsorge, Eigenleistung und Eigenverantwortung zu stärken. Standardisierungen der zu erbringenden Leistungen könnten hier einen Ausweg bieten.

II. Leit- und Richtlinien Zunehmend findet der Prozesscharakter medizinischer Leistungserstellung Beachtung. Leitlinien sollen zu einer Verbesserung medizinischer Prozesse führen, ohne dass allerdings an eine verbindliche Prozesskontrolle im engeren Sinne gedacht wäre. Ärzte berufen sich gerne darauf, dass der Begriff der Leitlinie es gar nicht zulasse, in der Verbindlichkeit über den Empfehlungscharakter der in eine Leitlinie gefassten Maßstäbe ärztlichen Handelns hinauszugehen. Durch eine begriffliche Festlegung lässt sich jedoch die Antwort auf das inhaltliche Problem, ob es verbindliche Maßstäbe ärztlichen Handelns geben sollte oder darf, nicht vorentscheiden. Das Beharren auf bestimmten begrifflichen Festlegungen muss vielmehr als eher durchsichtiges Manöver ärztlicher Besitzstandswahrung und Standespolitik betrachtet werden. Jedenfalls scheint es fraglos möglich zu sein, dass diejenigen, die medizinische Leistungen finanzieren, verbindliche Richtlinien erlassen, nach denen diese Leistungen zu erbringen sind. Wer die Musik bezahlt, darf schließlich auch bestimmen, was auf welche Weise gespielt wird. Richtlinien können quantitative und qualitative Maßstäbe der Leistungserbringung verbindlich vorschreiben. Ob eine solche verbindliche Vorschreibung immer klug ist, ob sie im Interesse der Patienten liegt oder nicht, all das muss erwogen werden. Im Prinzip kann eine standardisierende Festlegung aber ethisch legitimierbar sein. Und es ist auch de facto möglich, verbindliche Vorgaben für die ärztliche Leistungserbringung zu machen. Solche Vorgaben oder Standards ermöglichen ein höheres Maß der Prozesskontrolle und damit in der

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Regel eine genaue Kontrolle von Qualität und Quantität der bereitzustellenden „Rationen“. Verbindliche Standards der ärztlichen Versorgung müssen eingeführt werden, wenn man im Einzelnen definieren will, was zur öffentlich garantierten Versorgung gehört und was nicht, ohne sich die Nachteile individueller oder kollektiver Budgets einzuhandeln. Der Vorteil einer solchen Standardisierung besteht darin, dass man beispielsweise bei bestimmten DRGs (diagnosis related groups) weiß, was maximal und minimal von ärztlicher Seite zu tun ist. Wann immer die Diagnose auftaucht, liegt fest, was das öffentliche System finanziert, was es verlangt und was es nicht erlaubt. Wer durch eigene Zuzahlung oder Zusatzversicherung darüber hinaus Flexibilität im Einzelfall will, muss und kann die Kosten grundsätzlich (sofern er zahlungsfähig ist) selbst tragen. Wer hierzu bemerkt, dass dann bestimmte Menschen nicht mehr optimal nach ihren je individuellen medizinischen Bedürfnissen versorgt werden können, hat natürlich vollkommen Recht. Aber er sollte nicht vergessen, dass dies in einer Welt knapper Ressourcen immer der Fall ist.

D. Schluss Neben der Verbesserung der Qualität ohne Ansehung der Kosten wird es für die Medizin zunehmend wichtiger werden, durch rationierende Leitlinien zu Verbesserungen der Qualität in Ansehung der Kosten zu kommen. Da die Knappheit von der Ethik nicht behoben werden kann, tut diese besser daran, sich endlich fundiert und institutionell informiert mit dem Knappheitsproblem auseinanderzusetzen. Dabei muss sie sich mit der Frage befassen, wie der einzelne Arzt von der ethischen Entscheidung über die Ressourcenallokation im Einzelfall soweit wie möglich entlastet werden kann. Die zunehmende Belastung mit solchen Entscheidungen ist am Ende fatal für das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient und sie ist auch fatal für die Ärzteschaft selber, weil keine Berufsgruppe auf Dauer unkorrumpiert aus der Rolle des Richters über Leben und Tod hervorgehen kann. Mit Lord Acton zu sprechen „Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut“. Was für die Politik gilt, gilt auch für die Medizin. Da Budgetierung mit dem Mittel des Individualbudgets in unseren westlichen Gesellschaften nicht politisch gangbar ist, bleibt nur der Weg über Standardisierungen zu geregelten Grundanrechten auf medizinische Versorgung zu kommen, die dem Arzt die Hände binden und die ethische Entscheidung auf die konstitutionelle Ebene der Regelfestlegung verlagern. Dort gehört sie hin, kann dort aber nur ausgeübt werden, wenn die Regeln klar spezifizieren, welche Behandlungsprozesse finanziert werden und welche nicht. Dabei muss man Einbußen an Behandlungsqualität im Einzelfall nicht nur hinnehmen, man muss auch bereit sein, das gesellschaftlich offen auszusprechen und anzuerkennen. Leit- und Richtlinien sollten als Rationierungs- und als Qualitätssicherungsinstrumente zumindest erprobt werden. Das gebieten die

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Einsicht in den Grundsachverhalt der Knappheit und die Notwendigkeit, die Ethik auf eine Ebene zu verlagern, wo von harten Alternativentscheidungen ausschließlich statistische und nicht konkrete Leben betroffen sind.

Literatur Buchanan, A.: Health-Care Delivery and Resource Allocation, in: Medical Ethics. Hg. von R. M. Veatch, 1997, New York, S. 321-361. Zentrale Ethikkommission: Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): Müssen und können wir uns entscheiden?, in: Deutsches Ärzteblatt 97, 2000, S. A-1017-A-1023.

Gesundheitsökonomische Evaluationsstudien und Ethik in der Ressourcenallokation für medizinische Interventionen Pamela Aidelsburger, Christian Krauth und Jürgen Wasem

A. Rahmenbedingungen für Ressourcenallokation bei medizinischen Interventionen Das bundesdeutsche Gesundheitssystem ist ein parafiskalisch organisiertes Gesundheitssicherungssystem, in dem für die unterschiedlichen Bereiche der Gesundheitsversorgung, wie Prävention, Akutversorgung und Rehabilitation, verschiedene Versicherungsträger zuständig sind. An den Entscheidungen zur Ressourcenallokation sind somit mehrere Akteure mit spezifischen Interessen beteiligt. Die Entscheidungsfindung stellt in der Versorgungspraxis, aber auch in der wissenschaftlichen Bearbeitung ein interdisziplinäres Problem dar. Gesundheitsökonomische Evaluationen generieren Aussagen zur Wirtschaftlichkeit medizinischer Interventionen. Das Kriterium der Wirtschaftlichkeit ist jedoch nur eines von mehreren Entscheidungskriterien, die eine Ressourcenallokation steuern. In demokratischen und pluralen Gesellschaften bedarf es eines gesellschaftlichen Entscheidungsprozesses über den Stellenwert des Kriteriums der Wirtschaftlichkeit im Vergleich zu anderen Kriterien wie beispielsweise der Wirksamkeit sowie Grundsätzen der Ethik und der Verteilungsgerechtigkeit. Der folgende Beitrag stellt zunächst die wichtigsten Grundlagen der gesundheitsökonomischen Evaluationen und Entscheidungsprozesse im Gesundheitssystem dar. Anschließend wird das Spannungsfeld zwischen gesundheitsökonomischer Evaluation bzw. Ressourcenallokation und Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit umrissen.

I. Grundlagen gesundheitsökonomischer Evaluationen Gesundheitsökonomische Evaluationen befassen sich mit der Frage, welche Kosten beim Einsatz einer Intervention entstehen und wie diese Kosten in Relation zu den durch die Intervention erzielten Effekten zu beurteilen sind. Ihr Ziel ist es, dem Entscheidungsträger in Entscheidungsprozessen zur Ressourcenallokation Informationen an die Hand zu geben. Die Gesundheitsökonomie und mit ihr die

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gesundheitsökonomische Evaluation ist in Deutschland eine vergleichsweise junge Wissenschaft, die in den vergangenen Jahren nicht zuletzt aufgrund der Verknappung finanzieller Ressourcen im Gesundheitswesen einen deutlichen Aufschwung erfahren hat. Neben vor allem internationalen methodischen Richtlinien1 sind in jüngster Zeit auch deutsche Richtlinien entstanden, die eine hohe Qualität deutscher gesundheitsökonomischer Evaluationen sichern sollen.2 Die prinzipielle Vorgehensweise gesundheitsökonomischer Evaluationen besteht darin, die Kosten einer Intervention mit den erzielten Effekten in Relation zu setzen, wobei die zu bewertende Intervention bei einer ‘vollständigen’ Evaluation immer mit einer Alternative verglichen wird. Die Alternative kann aus der Unterlassung jeglicher Intervention, der Anwendung des gegenwärtigen Goldstandards der medizinischen Versorgung oder anderen neuen Interventionen bestehen.3 Kosten werden stets in Geldeinheiten angegeben, während sich die erzielten Effekte auf unterschiedliche Arten erfassen lassen. Werden Effekte in natürlichen Einheiten gemessen, beispielsweise in einer Senkung des Blutdrucks in mmHG und zu den Kosten in Relation gesetzt, spricht man von einer Kosten-Effektivitäts-Analyse. Kosten-Effektivitäts-Analysen können einfach und kostengünstig im Rahmen klinischer Studien durchgeführt werden. Ihre Ergebnisse jedoch können in aller Regel nicht über mehrere Krankheiten und Therapien hinweg verglichen werden. Hinzu kommt, dass Effekte einer Intervention in vielen Bereichen der Gesundheitsversorgung nur unzureichend durch natürliche Einheiten abgebildet werden. Neben rein medizinischen Parametern gewinnt dann die Lebensqualität eines Patienten in einem Gesundheitszustand an Bedeutung. Kosten-Nutzwert-Analysen vergleichen die Kosten einer Intervention mit den gewonnenen Nutzwerten. Nutzwerte verrechnen die Lebensqualität eines Patienten in einem spezifischen Gesundheitszustand und die Zeit, die ein Patient in diesem Gesundheitszustand verbringt. Prominentestes Beispiel für einen Nutzwert sind qualitäts-adjustierte Lebensjahre (quality adjusted life years, QALYs). Ein QALY ist dabei rechnerisch ein zusätzliches Lebensjahr in voller Gesundheit. Zur Erhebung der Lebensqualität in einem Gesundheitszustand werden verschiedene Messverfahren eingesetzt. Das Standard Gamble bestimmt die Wahrscheinlichkeit, bei der ein Individuum in der Wahl zwischen zwei Gesundheitszuständen indifferent ist. Das ________________ 1

Vgl. Drummond (1997); Gold (1996); CCOHTA (1994).

2

Vgl. AG Reha-Ökonomie (1999); Hannoveraner Konsens Gruppe (1999).

3

Vgl. Leidl (1998).

Gesundheitsökonomische Evaluationsstudien und Ethik

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Individuum kann zwischen einem sicheren Verbleib in einem beeinträchtigten Gesundheitszustand und einem Zustand vollständiger Gesundheit nach Intervention, verbunden mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit durch die Intervention zu sterben, wählen. Beim Time Trade-Off wird einem Gesundheitszustand, der über eine bestimmte Zeitdauer definiert ist, der Zustand vollständiger Gesundheit über eine kürzere variable Zeitdauer gegenüber gestellt. Die Dauer des Zustands vollständiger Gesundheit wird solange variiert, bis der Befragte zwischen beiden Zuständen indifferent ist. Die visuelle Analogskala quantifiziert den Gesundheitszustand direkt. Die Befragten bewerten die Gesundheitszustände auf einer Skala zwischen 0 für Tod und 100 für vollständige Gesundheit. Diesen drei Messmethoden ist also gemeinsam, dass Individuen nach ihrer subjektiven Einschätzung gefragt werden. Der Person Trade-Off als Bewertungsverfahren eines Gesundheitszustandes hingegen fragt nicht nach einer Präferenz oder der Bedeutung eines Gesundheitszustandes für den Befragten, sondern vielmehr danach, welche Bedeutung der Befragte einem Gesundheitszustand für die Gesellschaft beimisst. Dabei wird die Anzahl der Personen in einem Gesundheitszustand solange variiert, bis sie einer vorgegebenen Anzahl an Personen in voller Gesundheit gleichgesetzt wird. So wird z.B. ein Befragter gebeten anzugeben, wie viele Leben von Menschen im Alter von 70 Jahren in einem näher beschriebenen Gesundheitszustand, zehn Menschen im Alter von 40 Jahren in voller Gesundheit gleichwertig sind. Bei Kosten-Nutzen-Analysen werden nicht nur die Kosten, sondern auch die medizinischen Effekte in monetären Einheiten gemessen. Dadurch wird die Vergleichbarkeit der Studienergebnisse prinzipiell auch auf andere, nicht medizinische Bereiche, beispielsweise den Straßenbau, erweitert – so dass auch Entscheidungen wie z.B. die Frage: ‘Soll der Staat das Geld in das Gesundheitswesen oder in den Straßenbau stecken?’ ermöglicht werden. Die monetäre Bewertung von Effekten erfolgt entweder durch den Humankapitalansatz oder durch die Zahlungsbereitschaft. Der Humankapitalansatz bewertet allen Produktionsausfall aufgrund von Krankheit oder Tod von Beginn der Erkrankung bis zum Renteneintrittsalter. Der Ansatz zur Messung der Zahlungsbereitschaft untersucht entweder anhand vorangegangener Entscheidungen, welchen Betrag Personen bereit sind, für die Verbesserung oder Erhaltung eines Gesundheitszustandes zu zahlen (aufgedeckte Präferenzen) oder er fragt die Zahlungsbereitschaft fiktiv in Szenarien ab (fiktive Bewertungen). In Kosten-Effektivitäts-Analysen und Kosten-Nutzwert-Analysen ist eine Intervention dann als kosten-wirksam zu beurteilen, wenn sie entweder gegenüber der

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Vergleichsintervention ‘dominant’ ist (insbesondere: bessere Wirksamkeit bei gleich hohen oder sogar geringeren Kosten) oder die inkrementelle KostenWirksamkeits-Relation gegenüber der Vergleichsintervention einen gewissen, von der Gesellschaft festgelegten Schwellenwert nicht überschreitet. Eine explizite Festlegung eines Schwellenwertes durch etwa die politischen Entscheidungsträger ist bislang in den westlichen Gesundheitssystemen nicht zu beobachten. Die britische Evaluationsagentur NICE geht aber zum Beispiel davon aus, dass die Aufnahme medizinischer Interventionen mit einer Kosten-Nutzwert-Relation von größer als 30.000 britischen Pfund pro QALY in den Leistungskatalog des National Health Service einer besonders sorgfältigen Begründung bedarf.4 Im Gegensatz zu Kosten-Effektivitäts-Analysen kann in Kosten-Nutzen-Analysen eine Aussage zur Kosten-Wirksamkeit einer Intervention ohne Hinzunahme eines Schwellenwertes gemacht werden: Übersteigen die Kosten einer Intervention den Effekt in monetären Einheiten nicht, ist die zu beurteilende Intervention kosten-wirksam. Das Ergebnis einer Kosten-Wirksamkeits-Analyse wird wesentlich von der Perspektive beeinflusst, aus der die Beurteilung erfolgt. So werden aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive alle Kosten und Effekte berücksichtigt, die durch die Erkrankung und ihre Behandlung entstehen, unabhängig davon, wer die Kosten zu tragen hat. Aus der Perspektive der Kostenträger – also im deutschen Gesundheitssystem: insbesondere der Krankenversicherungen, im Bereich der Rehabilitation auch der Rentenversicherung – sind nur diejenigen Kosten und Effekte relevant, die von dem Kostenträger übernommen werden. Ausgaben z.B. durch Selbstmedikation der Patienten oder gesetzlich vorgeschriebene Zuzahlungen bleiben bei der Perspektive der Kostenträger unberücksichtigt. Kosten sind mit Preisen bewertete Ressourcenverbräuche (Mengen), die bei der Durchführung einer Intervention, aber auch aus den dabei entstehenden Konsequenzen (Weiterbehandlung, Folgekrankheiten, Komplikationen) entstehen. Je nach Studiendesign werden lediglich die Kosten der Technologie oder auch die der entstehenden Konsequenzen erhoben. Bei der Erhebung von Kosten wird zwischen direkten und indirekten Kosten unterschieden. Direkte Kosten umfassen alle Kosten, die entweder durch die medizinische Behandlung (direkte medizinische Kosten) oder durch die Intervention entstehen, aber nicht in den medizinischen Bereich fallen (direkte nicht-medizinische Kosten). Indirekte Kosten entstehen durch einen durch die Erkrankung verursachten Produktivitätsausfall (Arbeitsunfähigkeit, Invalidität, vorzeitiger Tod noch während der Erwerbsphase). Kosten-Wirksamkeits-Analysen werden häufig im Zusammenhang mit klinischen Studien durchgeführt und sind in aller Regel über eine begrenzte Zeitspanne ________________ 4

Vgl. NICE (2002).

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angelegt. Da sich wirtschaftliche Effekte jedoch häufig erst nach vielen Jahren zeigen, ist gerade in gesundheitsökonomischen Evaluationen die Berücksichtigung eines hinreichend langen Zeithorizontes zu fordern. An dieser Stelle findet die Entscheidungsanalyse als ein Instrument der gesundheitsökonomischen Evaluation ihren Einsatz, denn die Entscheidungsanalyse ist ein systematischer, expliziter und quantitativer Ansatz zur Generierung von Aussagen zur Kosten-Wirksamkeit einer Technologie unter Unsicherheit.5 Durch Verwendung von Daten aus verschiedenen Quellen unterschiedlicher Evidenz wird eine Langzeitmodellierung von Kosten und Effekten ermöglicht.

II. Entscheidungsprozesse zur Ressourcenallokation im Gesundheitssystem In Deutschland regelt der Gesetzgeber die Ressourcenallokation nur vergleichsweise allgemein (im Sozialgesetzbuch, SGB V) und überlässt die Konkretisierung der Mesoebene den Verbänden und Körperschaften. Dabei gelten für die einzelnen Sektoren des Gesundheitssystems unterschiedliche Spielregeln. Bei der Festlegung des GKV-Leistungskatalogs im ambulanten Bereich kommt dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen und seinen Arbeitsausschüssen eine zentrale Bedeutung zu. Er überprüft neue Leistungen auf ihren therapeutischen und diagnostischen Nutzen hin sowie auf ihre medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit, bevor sie erstattungsfähig werden.6 Der im Jahre 2000 errichtete Ausschuss Krankenhaus kann stationäre Leistungen bei fehlendem Nachweis von Nutzen und Wirtschaftlichkeit ausschließen. Mit Leitlinien und mit den im Rahmen von akkreditierten Disease-ManagementProgrammen zu erbringenden Leistungen befasst sich der sektorübergreifend errichtete Koordinierungsausschuss. Diese unterschiedlichen Gremien fasst der Gesetzgeber mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) ab 2004 in einem Gemeinsamen Bundesausschuss zusammen, ohne dass sich an der unterschiedlichen Entscheidungslogik für den ambulanten und den stationären Bereich dadurch etwas ändert. Entscheidungen auf der Mikroebene, d.h. bei der Behandlung eines Patienten werden durch die Ärzte getroffen. Die Kriterien dafür können entweder explizit formuliert werden, oder auch implizit vorhanden sein. Als Beispiel für eine explizite Formulierung von Entscheidungskriterien ist § 12 SGB V zu nennen: „Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie ________________ 5

Vgl. Siebert (2003); Siebert (2000).

6

Vgl. Niebuhr (2003).

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dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.“7 Anders als vom Gesetzgeber gefordert, spielt jedoch die Wirtschaftlichkeit einer Leistung in der Entscheidung zur Aufnahme in den Leistungskatalog bislang eine untergeordnete Rolle. Vielmehr hat der Bundesausschuss nahezu ausschließlich die medizinische Wirksamkeit in seine Entscheidung zur Aufnahme einer Leistung in den GKV-Leistungskatalog einbezogen.8 Die Entscheidungsprozesse eines Arztes und auch Klinikarztes können jedoch von verschiedensten Kriterien gelenkt sein. So wird das Kriterium der Wirtschaftlichkeit für den angestellten Klinikarzt von untergeordneter Bedeutung sein, für den niedergelassenen Arzt, der als Unternehmer mit eigener Praxis agiert, jedoch von höherer. Es kann also festgehalten werden: Das Kriterium der Wirksamkeit ist fester Bestandteil in Entscheidungsprozessen, während das der Wirtschaftlichkeit zumindest als Entscheidungskriterium gesetzlich gefordert wird. Für ethische Entscheidungskriterien und besonders für Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit gibt es bislang keine Umsetzung, mit Ausnahme der Überlegungen zur gerechten Verteilung von Transplantationsorganen. Durch die zunehmende Verknappung finanzieller Ressourcen und aufgrund der damit einhergehenden Überlegungen, wie die Verteilung von knappen Ressourcen erfolgen soll, treten ethische Kriterien jedoch zunehmend in den Mittelpunkt der Überlegungen.

B. Spannungsfelder zwischen ethischen Verteilungsprinzipien einerseits und Ressourcenallokation bzw. gesundheitsökonomischer Evaluation andererseits Gesundheitsökonomische Evaluationen befassen sich mit der Beurteilung der Kosten-Wirksamkeit von Interventionen und in der Folge auch mit der Frage, wie Ressourcen im Gesundheitssystem verteilt werden sollen. Es entstehen somit zwei Spannungsfelder zu ethischen Verteilungsprinzipien: ƒ

zwischen ethischen Verteilungsprinzipien und Ressourcenallokation,

ƒ

zwischen ethischen Verteilungsprinzipien und gesundheitsökonomischer Evaluation.

________________ 7

SGB V (2001), S. 327.

8

Vgl. Niebuhr (2003).

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I. Das Spannungsfeld zwischen ethischen Verteilungsprinzipien und Ressourcenallokation Unter der Bedingung der Verknappung von Ressourcen stellt sich die Frage, wie knappe Ressourcen im Gesundheitssystem auf die verschiedenen Versicherten verteilt werden sollen. Da jedoch die meisten Ressourcen natürlicherweise begrenzt sind (so steht z.B. einem Arzt nur eine begrenzte Zeit des Tages zur Versorgung seiner Patienten zur Verfügung) reichen die zur Verfügung stehenden Finanzmittel für die Leistungserbringung im Gesundheitswesen derzeit nicht aus, um allen Versicherten oder Patienten Leistungen zu erstatten, die diese wünschen oder als erstrebenswert erachten. Die drei wesentlichen Instrumente einer Ressourcenallokation unter Knappheitsbedingungen sind Rationalisierung, Rationierung und Priorisierung, die implizit wie explizit eingesetzt werden. Bei einer Rationalisierung wird versucht, mit weniger Ressourceneinsatz ein vergleichbares Resultat oder mit gleichem Ressourceneinsatz ein besseres Resultat zu erzielen. Rationalisierung ist somit ein ethisch neutrales Instrument zur Ressourcenallokation, da es niemandem der Versichertengemeinde Leistungen, die einen nachgewiesenen Nutzen haben und für die ein Bedarf besteht, vorenthält und ihn dadurch schlechter stellt. Rationierung wird nach der Definition des Sachverständigenrates für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen verstanden „als Verweigerung oder Nichtbereitstellung von Behandlungsleistungen trotz Nachfrage und zugleich festgestelltem objektiven Bedarf“9. Demnach werden bei einer Rationierung Leistungen generell verweigert. Rationiert werden können Leistungen für definierte Personengruppen, nach Diagnosegruppen oder für spezifische Indikationsstellungen. Bei einer Priorisierung wird dem Versicherten zumindest theoretisch die Möglichkeit eingeräumt, eine Leistung zu erhalten. Der objektive Bedarf nach einer Leistung wird anerkannt, aber die Leistungen werden entlang einer Rangfolge (mit der Konsequenz von ‘Warteschlangen’) erbracht, die sich entweder nach Personengruppen, die eine Leistung erhalten, ausrichtet oder bezüglich der zu verteilenden Leistung. Sind bei knappen Ressourcen alle Möglichkeiten der Rationalisierung ausgeschöpft, wird zwangsläufig eine Rationierung oder Priorisierung zur Ressourcenallokation notwendig werden. Inwieweit in Deutschland tatsächlich alle ________________ 9

Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2000/2001).

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Rationalisierungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, ist umstritten. Denkbar ist auch – und dies ist für die Situation in Deutschland möglicherweise nicht völlig unrealistisch –, dass zwar noch Rationalisierungspotentiale bestehen, es aber aufgrund des (politischen) Kräfteverhältnisses der Akteure im Gesundheitswesen nicht möglich ist, diese zu beheben, während gleichzeitig die Beiträge zum Pflichtversicherungssystem nicht weiter ansteigen sollen, so dass Rationierung oder Priorisierung als Ausweg genommen werden kann. Lässt sich eine Rationierung oder Priorisierung nicht vermeiden, dann wird die Frage relevant, nach welchen Kriterien die Verteilung knapper Ressourcen erfolgen soll. Als mögliche Kriterien für Verteilungsentscheidungen gelten (1) ‘objektiver Bedarf’, (2) ‘Gleichheit’, (3) ‘Fähigkeit von einer Intervention zu profitieren’ (capacity to benefit, Nutzenmaximierung) und (4) ‘Schwere der Erkrankung’ (severity of illness). Zu (1): Der objektive Bedarf orientiert sich daran, dass derjenige mit einem größeren Bedarf mehr Leistungen erhalten sollte oder in der Leistungserbringung vorrangig Leistungen erhalten sollte. Hier schließt sich jedoch die Frage an, wie ein objektiver Bedarf zu quantifizieren bzw. zu definieren ist. Eine einheitliche Definition von objektivem Bedarf ist aus der Literatur nicht abzuleiten. In aller Regel beinhalten die verschiedenen Definitionen des objektiven Bedarfs, die hier aber nicht dargestellt werden können, mindestens ein weiteres der genannten Kriterien für Verteilungsentscheidungen. Wir haben uns in unserer Arbeit auf eine ‘Minimaldefinition’ des objektiven Bedarfs verständigt: „Der objektive Bedarf setzt die objektivierende Feststellung einer Krankheit bzw. Funktionseinschränkung (Behinderung) oder deren drohenden Eintritt voraus“.10 Zumindest theoretisch besteht die Möglichkeit einer Behandlung. Die genannte Definition des objektiven Bedarfs kann als ethisch neutral betrachtet werden. Personen mit einem objektiven Bedarf bilden somit das Kollektiv, über das Leistungen verteilt werden; die Verteilung der Leistungen erfolgt nach Kriterien, die ethisch zu diskutieren sind, da ihnen spezifische Gerechtigkeitsvorstellungen inhärent sind. Wir wollen in diesem Beitrag auf die Kriterien ‘Schwere einer Erkrankung’, ‘Fähigkeit von einer Leistung zu profitieren’ und ‘Gleichheit’ eingehen. Leistungen können entsprechend der Schwere einer Erkrankung rationiert oder priorisiert werden. Im Fall einer Priorisierung bekommen alle Schwerkranken, insbesondere lebensbedrohlich Erkrankten vorrangig Leistungen, Versicherte mit leichten Erkrankungen nachrangig. Präventionsmaßnahmen ständen in einer ________________ 10

Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2000/2001).

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Rangliste an letzter Stelle der Leistungserbringung, da es sich dabei um eine Leistungserbringung an gesunde Versicherte handelt. Eine Rationierung von Leistungen würde bedeuten, dass bei weniger schwerwiegenden Diagnosen prinzipiell keine Leistungen gewährt werden. Eine Priorisierung oder Rationierung nach der Schwere einer Erkrankung kann dann als ungerecht angesehen werden, wenn Leistungen an Schwerkranke erbracht werden, deren Fähigkeit von der Leistung zu profitieren als sehr gering eingeschätzt wird. In diesem Fall würden Ressourcen verwendet werden, die für andere Erkrankte, die wesentlich mehr Nutzen aus diesen Ressourcen ziehen könnten, nicht mehr zur Verfügung stehen. Betrachtet man die Fähigkeit von einer Leistung zu profitieren unter dem Aspekt der Priorisierung, dann würden Leistungen so verteilt, dass Personen mit einer höheren Fähigkeit von ihr zu profitieren, vorrangig Leistungen erhalten. Bei einer Rationierung würden Leistungen für alle diejenigen nicht mehr erstattet werden, deren Fähigkeit zu profitieren, einen gewissen, bislang nicht festgelegten Schwellenwert unterschreitet. Dies würde insbesondere ältere Patienten mit einer allgemein schwächeren Gesundheit, aber auch behinderte Menschen, Menschen mit chronischen Erkrankungen oder mit Tumorerkrankungen betreffen. Rationierung und Priorisierung können nach dem Prinzip der Gleichheit durchgeführt werden, wobei sich Gleichheit an verschiedenen Bezugspunkten festmachen kann: ƒ

gleiche Verteilung von Leistungen,

ƒ

gleicher Zugang zu Leistungen,

ƒ

Gleichheit im zu erwartenden Gesundheitsniveau.

Eine Rationierung nach dem Prinzip der gleichen Verteilung von Leistungen bedeutet, dass alle Versicherten mit objektivem Bedarf gleich umfangreiche Leistungen erhalten, auch wenn die Schwere der Erkrankung unterschiedlich groß ist. Für Versicherte mit einer sehr schweren Erkrankung mögen die zur Verfügung gestellten Leistungen dann, gemessen an ihrem Bedarf, unzureichend sein, so dass hier eine Rationierung vorliegt. Gleicher Zugang zu Leistungen kann dahingehend interpretiert werden, dass jeder Versicherte – im Sinne von Chancengleichheit – die gleiche Möglichkeit hat, Leistungen in Anspruch zu nehmen. Eine Rationierung von Leistungen z.B. in ländlichen Gebieten mit konsekutiver Konzentration derselben in städtischen medizinischen Zentren würde dem ethischen Prinzip eines gleichen Zugangs zu Leistungen entgegenstehen. Die Schaffung von ‘institutionellen’ Rahmenbedingungen alleine sichert jedoch nicht die gleiche Inanspruchnahme von Leistungen durch die Versicherten. Merkmale wie Geschlecht, soziale Schicht, Einkommen, Anzahl der Kinder etc. führen zu Unterschieden in der Inanspruchnahme von Leistungen, selbst wenn ein objektiver Bedarf besteht und die

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‘institutionellen’ Rahmenbedingungen geschaffen sind. Nach dem Prinzip des gleichen Zugangs zu Leistungen sollten beispielsweise Leistungen zur Rehabilitation von Männern und Frauen gleich (in Häufigkeit und Umfang) in Anspruch genommen werden. Tatsächlich aber beantragen Frauen mit einem objektiven Bedarf deutlich seltener Leistungen zur Rehabilitation als Männer. Um einen gleichen Zugang zu Leistungen zu gewährleisten, könnten die ‘institutionellen’ Rahmenbedingungen erweitert werden. Im konkreten Beispiel der Rehabilitation kann durch das Angebot einer ambulanten Rehabilitation oder durch verbesserte Angebote der Kinderbetreuung ein Ausgleich erreicht werden. Gleichheit im zu erwartenden Gesundheitsniveau als Ziel der Ressourcenallokation fordert, dass Ressourcen so verteilt werden, dass die ex post Gesundheitszustände (also nach Durchführung der medizinischen Behandlungen) der Leistungsempfänger ein vergleichbares Niveau erreichen. Ex post Gesundheitszustände sind nicht nur von den erhaltenen Leistungen abhängig, sondern auch von der Schwere der Ausgangserkrankung und von der Fähigkeit der Leistungsempfänger von Leistungen zu profitieren. Bis zu diesem Punkt haben wir die möglichen Kriterien für Verteilungsentscheidungen unabhängig voneinander betrachtet. Denkbar ist jedoch auch eine Kombination der verschiedenen Kriterien der Gerechtigkeit. So könnte eine Abwägung zur Priorisierung in der Weise erfolgen, dass zunächst lebensbedrohlich Erkrankte vorrangig Leistungen erhalten, unabhängig davon welche Fähigkeit von einer Leistung zu profitieren dieser Patient aufweist. Ab einer gewissen (geringeren) Schwere der Erkrankung erhält aber dann das Kriterium der Fähigkeit von einer Leistung zu profitieren oder der Gleichheit beim Zugang Vorrang. Medizinische Leistungen können auch nach dem Kriterium der Nutzenmaximierung zugeteilt werden. Eine Rationierung bzw. Priorisierung würde in diesem Kontext so erfolgen, dass die Ressourcen für diejenigen medizinischen Interventionen eingesetzt werden, mit denen ein möglichst hohes Nutzenniveau in der Bevölkerung erzielt werden kann. Der Nutzen spiegelt dabei in der ökonomischen Denkwelt die Präferenzen der Bevölkerung wider, die nicht alleine auf Gesundheit ausgerichtet sein müssen.11 In einem anderen – „Extra-Welfarism“ bezeichneten – Ansatz, wird nicht eine Nutzenmaximierung angestrebt, sondern die Maximierung von Gesundheit in der Bevölkerung.12 Ressourcen sollten so eingesetzt werden, dass ein möglichst hohes Gesundheitsniveau in der Bevölkerung erreicht wird, wobei ohne ________________ 11

Vgl. Sohmen (1992).

12

Vgl. Butler (1991); Brouwer (2000).

Gesundheitsökonomische Evaluationsstudien und Ethik

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Bedeutung ist, welche Personen die Leistungen erhalten. In dieser Vorstellung der Ressourcenallokation, die dem Utilitarismus nahe kommt, erhält derjenige die Leistung zugestanden, der von ihr am meisten profitiert. Das Gesundheitsniveau wird hierbei typischerweise in qualitätsadjustierten Lebensjahren (QALYs) gemessen,13 so dass der Ansatz bei gegebenen Ressourcen in der Maximierung der Zahl der QALYs in einer Bevölkerung mündet. Es läge eine effiziente Produktion von Gesundheit für das gegebene Ressourcenniveau vor. Eine Ressourcenallokation nach dem Kriterium der Nutzenmaximierung oder Gesundheitsmaximierung muss aber keinesfalls durch die Bevölkerung legitimiert sein. Es ist denkbar, dass Ressourcen nicht alleine nach Effizienzkriterien verteilt, sondern dass auch die zuvor genannten Gerechtigkeitsaspekte berücksichtigt werden sollten. Betrachten wir eine Gesellschaft, in der mit den gegebenen Ressourcen eine effiziente Gesundheitsproduktion erfolgt, also z.B. die maximale Zahl von QALYs erstellt wird. Solange die Verteilung, die mit der effizienten Ressourcenallokation einhergeht, auch eine gerechte Verteilung ist, dürften keine Probleme bestehen. Wird die mit einer effizienten Ressourcenallokation einhergehende Verteilung von Ressourcen als ungerecht empfunden und kann eine gerechte Verteilung nicht bei gleichzeitiger Effizienz herbeigeführt werden, kann der Wunsch in der Bevölkerung bestehen, auf Kosten der allokativen Effizienz eine gerechtere Verteilung der Ressourcen zu erreichen. Dies kann also z.B. bedeuten, auf die maximal mögliche Zahl von QALYs zu verzichten, wenn eine andere Ressourcenallokation, die zu weniger QALYs führt, als gerechter empfunden wird. Diese Abwägung zwischen Effizienz und Gerechtigkeit wird als equityefficiency trade-off bezeichnet. Die beschriebene theoretische Möglichkeit der Abwägung wirft jedoch einige Fragen auf: ƒ

Ist die Bevölkerung (und mit ihr die gewählten politischen Vertreter) bereit, eine Abwägung zwischen Effizienz und Gerechtigkeit vorzunehmen? Wenn ja, in welchem Ausmaß ist die Bevölkerung bereit zu einer Abwägung zwischen Effizienz und Gerechtigkeit?

ƒ

Sollten in einer Abwägung normative Gerechtigkeitstheorien oder die empirisch erhobenen Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung Basis der Betrachtungen sein? Wie sehen die Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung hinsichtlich einer gerechten Ressourcenallokation im Gesundheitswesen aus?

________________ 13

Vgl. dazu unten Absatz B.II.

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ƒ

Wie kann eine Abwägung zwischen Effizienz und Gerechtigkeit in realen Entscheidungsprozessen zur Ressourcenallokation oder in gesundheitsökonomischen Evaluationen umgesetzt werden?

Verschiedene Studien legen den Schluss nahe, dass eine Abwägung zwischen Effizienz und Gerechtigkeit von den Befragten gewünscht wird.14 Eine interdisziplinäre Studie zur Ressourcenallokation im Rehabilitationssystem, an der die Autoren dieses Beitrags beteiligt sind, bestätigt diese Haltung. Hingegen ist nicht belegt, wie sich diese Abwägung genau verhält. Es ist z.B. denkbar, dass es einen Schwellenwert gibt, bis zu dem Abstriche in der Effizienz zugunsten der Gerechtigkeit in Kauf genommen werden. Ebenso ist ungeklärt, ob sich die Abwägung von Effizienz und Gerechtigkeit in allen Bereichen des Gesundheitssystems, also in den Bereichen Akutversorgung, Prävention und Rehabilitation gleich verhält. Unklar ist auch, ob die Abwägung von Gerechtigkeit und Effizienz zu einer Verteilung des betroffenen Gutes auf viele Personen oder eine Konzentrierung des Gutes auf wenige Personen führen soll. Studien hierzu zeigen kein einheitliches Verhalten.15 Auch hier wird diskutiert, ob nicht ein Schwellenwert vorliegt, bis zu dem eine Konzentration des Gutes auf wenige Personen vorgezogen wird. Wird der Schwellenwert überschritten, dann wird eine Verteilung des Gutes auf viele Personen vorgezogen. Ebenso wie bei der Frage, wie eine Ressourcenallokation im Gesundheitssystem gerecht erfolgen sollte, stellt sich bei der Abwägung zwischen Effizienz und Gerechtigkeit die Frage, nach welchen Kriterien Gerechtigkeit operationalisiert werden soll. Hierbei kommen die weiter oben angeführten Kriterien (Schwere einer Erkrankung, Fähigkeit von einer Leistung zu profitieren und Gleichheit) zum Einsatz. Die normative Ableitung des Begriffs Gerechtigkeit muss nicht deckungsgleich sein mit den Gerechtigkeitsvorstellungen in der Gesellschaft. Der Stand der Forschung erlaubt derzeit keine Aussage zu den Gerechtigkeitsvorstellungen in der Gesellschaft im Kontext des Gesundheitssystems mit all seinen Teilbereichen. In der gesundheitsökonomischen Evaluation ermöglichen spezifische Erhebungsinstrumente (Person Trade-Off) oder Verteilungsgewichte die Möglichkeit einer Abwägung zwischen Effizienz und Gerechtigkeit. Die Verantwortung der adäquaten Berücksichtigung von Gerechtigkeitsaspekten liegt dann in den Händen des Gesundheitsökonomen; dem Entscheidungsträger werden Aussagen zur Wirtschaftlichkeit zur Verfügung gestellt, die bereits Gerechtigkeitsaspekte beinhalten. ________________ 14

Vgl. Lindlholm (1996); Olsen (1994); Dolan (1998); Johannesson (1996).

15

Vgl. Rodriguez-Miguez (2002); Olsen (2000).

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Der Person Trade-Off bewertet einen Gesundheitszustand nicht hinsichtlich seiner Wertigkeit für ein Individuum, sondern für die Gesellschaft. Dabei liegen soziale Komponenten zugrunde, bei denen unklar bleibt, was sie eigentlich beinhalten. Denkbar wären implizite Gerechtigkeitsvorstellungen, aber auch individuelle Erfahrungen der Befragten. Es ist somit zwar möglich, verschiedene Aspekte der Ressourcenallokation in der Befragung zu integrieren, die Aspekte sind jedoch im Person Trade-Off nicht quantitativ messbar und es ist nicht auszuschließen, dass Aspekte berücksichtigt werden, die vom Gesundheitsökonomen nicht gewünscht werden. Verteilungsgewichte werden aus einer direkten Befragung der Bevölkerung als quantitativer Wert gewonnen oder indirekt aus den Ergebnissen von Meinungsbefragungen selbst generiert. Analog hierzu werden Entscheidungsträger direkt befragt oder frühere politische Entscheidungen analysiert.16 Die so erhobenen Verteilungsgewichte führen durch Gewichtung definierter Subgruppen, z.B. nach Alter oder Geschlecht zu einem Gerechtigkeitsausgleich zwischen den entsprechenden Subgruppen. Als Ergänzung zu gesundheitsökonomischen Evaluationen könnten Effekte und Kosten im Sinn von Sensitivitätsanalysen nach Gerechtigkeitsaspekten variiert werden. Dies hätte den Vorteil, dass auch hypothetische – also nicht empirisch belegte – Verteilungsgewichte Anwendung finden. Insgesamt muss die Evidenz der Verteilungsgewichte und ihrer empirischen Erhebung allerdings als gering eingestuft werden. Insbesondere im bundesdeutschen Kontext muss man sich der Situation klar sein, dass es keine empirische Evidenz für Verteilungsgewichte aus der deutschen Bevölkerung gibt. Erfolgt im Rahmen gesundheitsökonomischer Evaluationen keine Abwägung zwischen Effizienz und Gerechtigkeit, müssen die Ergebnisse gesundheitsökonomischer Evaluationen transparent, vollständig und nachvollziehbar berichtet werden. Insbesondere muss dann auch durch den Gesundheitsökonomen eine Einschätzung distributiver Implikationen in den verwendeten Methoden erfolgen und expliziert werden. In diesem Fall obliegt es dem Entscheidungsträger, die Ergebnisse hinsichtlich normativer Gerechtigkeitsvorstellungen oder empirisch belegter Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung zu korrigieren. Unabhängig davon, ob der Gesundheitsökonom oder der Entscheidungsträger die Abwägung zwischen Effizienz und Gerechtigkeit trifft, treten zusätzliche praktische Probleme auf, denn an beide ist die Forderung einer umfassenden einschlägigen Ausbildung zu stellen. Außerdem müssen methodische Vorge________________ 16

Vgl. Sassi (2001).

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hensweisen entwickelt werden, die eine gewisse Standardisierung und Eingrenzung von Ermessensspielräumen gewährleisten. Darüber hinaus müsste in der Praxis ein System der externen Qualitätskontrolle geschaffen werden.

II. Das Spannungsfeld zwischen ethischen Verteilungsprinzipien und gesundheitsökonomischer Evaluation Nicht alle Kosten-Wirksamkeits-Analysen eignen sich dazu, Ergebnisse für Entscheidungsprozesse auf allen Ebenen des Gesundheitssystems zu liefern, so dass sich für Ergebnisse verschiedener Analysetypen unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten ergeben. Kosten-Effektivitäts-Analysen zeichnen sich typischerweise dadurch aus, dass sich die Studienpopulationen von Interventions- und Kontrollgruppe nicht signifikant hinsichtlich der Altersstruktur, der Geschlechtsverteilung, der Diagnose und ihrer Ausprägung möglicher Komorbiditäten unterscheiden. Die Studienpopulationen sind somit vergleichbar hinsichtlich der Schwere ihrer Erkrankung und einer möglichen Fähigkeit, von Leistungen zu profitieren. Die Arten der berücksichtigten Kosten, also direkte und/oder indirekte Kosten unterscheiden sich ebenso wenig wie das Effektmaß. Den gleichen Zustand finden wir, wenn Kosten-Nutzwert-Analysen oder Kosten-Nutzen-Analysen durchgeführt werden, mit dem Ziel, zwischen einer Intervention A oder B zu entscheiden, solange die Parameter Population, Kosten und Effekt vergleichbar oder identisch sind. Wird aber bei Kosten-Nutzwert-Analysen oder Kosten-Nutzen-Analysen über verschiedene Diagnosen hinweg verglichen, dann entstehen ethische Fragen, weil unterschiedliche Studienpopulationen verglichen werden, die sich hinsichtlich des Alters, Geschlechtes, Komorbiditäten u.a. unterscheiden können und aufgrund dieser Parameter unterschiedliche Kosten-Wirksamkeits-Relationen bedingen. Die Problematik sei an folgendem Beispiel dargestellt: Es soll entschieden werden, ob finanzielle Ressourcen in die Einführung einer neuen Chemotherapie bei leukämiekranken Kindern fließen sollen oder in die Einführung eines neuen Operationsverfahrens bei Bandscheibenschäden. Nicht nur die Intervention – Chemotherapie versus Operationsverfahren – ist hier unterschiedlich, sondern auch die Studienpopulation unterscheidet sich hinsichtlich Altersverteilung, Diagnose inklusive Schwere der Komorbiditäten und hinsichtlich der Fähigkeit, von einer Leistung zu profitieren. Fällt eine Kosten-WirksamkeitsRelation bei ansonsten gleichen Parametern für die Chemotherapie günstiger aus, da die Heilungschancen 100% sind, während bei einer Bandscheibenoperation lediglich eine Verbesserung aber keine Heilung erzielt werden kann, kann es zu einer Verteilung kommen, die unter bestimmten ethischen Perspektiven als

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ungerecht bewertet wird, weil sie im Ergebnis auf die Vorenthaltung von Leistungen an die Älteren und Gruppen, die eine unterdurchschnittliche Fähigkeit haben, von einer Leistungen zu profitieren, hinausläuft. Den Methoden gesundheitsökonomischer Evaluationen sind distributive Implikationen inhärent, die hier kurz dargestellt werden sollen. Die zwei wesentlichen Möglichkeiten, den Nutzen einer Technologie monetär zu bewerten, sind die Zahlungsbereitschaft und der Humankapitalansatz. Grundsätzlich ist bei einer monetären Bewertung die ethische Frage zu stellen, ob es moralisch verwerflich ist, Leben in Geldeinheiten zu bewerten. Breyer und Zweifel argumentieren, dass es besser sei, diese monetäre Bewertung explizit durchzuführen, statt sie implizit vorzunehmen.17 Die Zahlungsbereitschaft ist abhängig vom Einkommen oder der finanziellen Gesamtsituation des Befragten. Je höher ein verfügbarer Betrag ist, desto leichter können Ressourcen für die Verbesserung eines Gesundheitszustandes aufgewendet werden. Folgendes Beispiel soll den Umstand erläutern: Ein allein stehender Manager mit einem monatlichen Einkommen von 8.000 Euro, Besitzer einer schuldenfreien Eigentumswohnung, ist potentiell eher bereit, einen zusätzlich Betrag von 200 Euro monatlich für seine gesundheitliche Versorgung zu zahlen, als ein Familienvater mit drei Kindern und einem monatlichen Einkommen von 3.000 Euro, der in einer gemieteten Doppelhaushälfte lebt. In einer Kosten-Nutzen-Analyse werden dann Effekte durch Personen mit einem hohen Einkommen höher eingeschätzt (größere Zahlungsbereitschaft), und es kommt in der Folge zu einer günstigeren Kosten-Nutzen-Relation für Personengruppen mit hohem Einkommen, so dass Therapien, die primär diesen Personen zugute kommen, prioritär finanziert werden sollten. Das Beispiel kann auch so formuliert werden, dass die Zahlungsbereitschaft nicht mit absoluten Geldbeträgen, sondern mit Anteilen am jeweiligen Einkommen gemessen wird; hier bleibt der Grundkonflikt, wenngleich abgemildert, bestehen, wenn Gesundheit ein superiores Gut ist und der Grenznutzen des Geldes mit steigendem Einkommen abnimmt. Indirekte Kosten sind Kosten, die durch einen Produktivitätsausfall entstehen, d.h. bei Erwerbstätigen durch einen Arbeitsausfall, bei Hausfrauen durch den Verlust der Arbeitskraft im Haushalt. Wird der Produktivitätsausfall durch das dem Erkrankten auf dem Arbeitsmarkt individuell entgangene Einkommen gemessen, ergibt sich eine Benachteiligung derjenigen, die (wie die Hausfrau) dort kein Einkommen erzielen. Denn eine Kostenersparnis durch die Rückführung in den Arbeitsprozess, die die Kosten-Wirksamkeits-Relation günstiger ________________ 17

Vgl. Breyer/Zweifel (1999).

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ausfallen lässt, kann nur bei Personen mit Arbeitseinkommen eintreten. Dies mag zu einer Priorisierung von solchen medizinischen Interventionen führen, die erwerbswirtschaftliche Produktivitätsverluste vermeiden. Mit der Berücksichtigung von indirekten Kosten verlässt die gesundheitsökonomische Evaluation das engere Konzept des Extra-Welfarism und geht in Richtung einer Maximierung von Nutzen im wohlfahrtstheoretischen Sinn, ohne aber die Nutzendefinition des Utilitarismus zu erreichen. Es könnte hier ethisch diskutiert werden, dass eine alleinige Berücksichtigung der Erwerbstätigkeit eine einseitige Erweiterung des Extra-Welfarism bedeutet, die eine Benachteiligung von Nichterwerbstätigen ermöglicht. Konsequenterweise wäre hier jedoch nur die zusätzliche Berücksichtigung von weiteren Aspekten wie Zufriedenheit oder die Bedeutung des Einzelnen für die Gesellschaft als Erweiterung des Extra-Welfarism zu fordern. Nutzwerte setzen sich aus den beiden Dimensionen Lebensqualität eines Gesundheitszustandes und Dauer in diesem Gesundheitszustand zusammen. Die distributiven Implikationen sollen hier nur am Beispiel des QALYs diskutiert werden. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität kann durch verschiedene Methoden gemessen werden, die jedoch nicht zu identischen Ergebnissen führen, sondern teilweise erheblich voneinander abweichen. Die Bewertung eines Gesundheitszustandes kann für verschiedene Patientengruppen unterschiedlich ausfallen: So mag ein älterer Patient einen Gesundheitszustand anders bewerten als ein jüngerer, ein Patient mit hohem Einkommen anders als ein Patient mit niedrigem Einkommen. Im QALY-Konzept hat typischerweise jeder gewonnene QALY den gleichen Wert für die Gesellschaft, unabhängig vom Patientencharakteristikum und der Anzahl gewonnener QALYs. Es bleibt dabei also unbedeutend, ob viele Menschen wenig QALYs gewinnen oder wenige Menschen viele QALYs. Aus ethischer Perspektive mag es ungerecht erscheinen, dass der Gewinn von jeweils 0,1 qualitätsadjustierten Lebensjahren durch 200 Patienten (Fall 1) in dieser Logik höher gewichtet wird als der Gewinn von 19 Lebensjahren durch 1 Person (Fall 2). In der beschriebenen Situation würde ein Verfechter eines egalitaristischen Ansatzes die gleiche Verteilung von Leistungen für möglichst viele Patienten befürworten (Fall 1). Andererseits könnte es aber auch als gerecht angesehen werden, dass derjenige Patient die Leistung erhält, der mit 19 Lebensjahren am meisten davon profitiert (Fall 2). Ein Extra-Welfarist wiederum würde alleine an der Maximierung von Gesundheit interessiert sein und so die Verteilung von 0,1 QALYs auf 200 Patienten einem Gewinn von 19 QALYs für eine Person (Fall 2) vorziehen.

Gesundheitsökonomische Evaluationsstudien und Ethik

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C. Forschungsbedarf Der Forschungsbedarf an der Schnittstelle zwischen Verteilungsgerechtigkeit und gesundheitsökonomischer Evaluation im Kontext des deutschen Gesundheitssystems ist groß. Eine Anwendung normativer Gerechtigkeitsvorstellung auf weite Bereiche des Gesundheitssystems ist bislang nicht erfolgt, ebenso wenig wie die empirische Erhebung von Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung. Es wäre wünschenswert, die normativen und empirischen Forschungsansätze zur Verteilungsgerechtigkeit zu koordinieren und die Ergebnisse zusammenzuführen. Die normative Ethik kann zwar Impulse zu einer Umsetzung der Abwägung von Effizienz und Gerechtigkeit geben, sie bedarf aber insbesondere im Bereich der Gesundheitsversorgung einer starken Legitimation durch die Bevölkerung. Dies bedeutet jedoch, dass methodische Erhebungsinstrumente zur Messung von Gerechtigkeitsvorstellungen entwickelt werden müssen bzw. bestehende Erhebungsmethoden weiterentwickelt und standardisiert werden sollten. Die Annahme, dass die Bevölkerung eine Abwägung von Effizienz und Gerechtigkeit wünscht, kann mit einigem Recht aufgestellt werden. Weitere Untersuchungen müssen zeigen, wie diese Abwägung aussehen soll und welche Grenzen ihr gesetzt sind. Die Umsetzung der Abwägung von Effizienz und Gerechtigkeit steckt international wie national noch in den Kinderschuhen. Die hier beschriebenen Ansätze lassen noch viele methodische Fragen offen und sind Gegenstand der gegenwärtigen Diskussion zwischen Wissenschaftlern der verschiedenen beteiligten Fachdisziplinen. Alle Ansätze jedoch benötigen noch eine empirische Untermauerung.

Literaturverzeichnis AG Reha Ökonomie: Gesundheitsökonomische Evaluation in der Rehabilitation, in: Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (Hg.): Förderschwerpunkt „Rehabilitationswissenschaften“ – Empfehlungen der Arbeitsgruppen „Generische Methoden“, „Routinedaten“ und „Reha-Ökonomie“, 1999, Frankfurt, S. 103-246. Breyer, F./Zweifel, P.: Gesundheitsökonomie, 1999, Berlin. Brouwer, W./Koopmanschap, M.: On the economic foundation of CEA. Ladies and gentlemen, take your positions!, in: Journal of Health Economics 19, 2000, S. 439-459. Butler, J.: Welfare economics and cost-utility analysis, in: Health Economics Worldwide. Hg. von P. Zweifel/H. Frech, 1991, Dordrecht, S. 143-157. CCOHTA: Guidelines for Economic Evaluation of Pharmaceuticals, 1994, http://www.ccohta.ca.

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Dolan, P.: The measurement of individual utility and social welfare, in: Journal of Health Economics 17, 1998, S. 39-52. Drummond, M. et al.: Methods for the economic evaluation of health care programmes, 1997, New York. Gold, M. et al.: Cost-Effectiveness in Health and Medicine, 1996, New York. Hannoveraner Konsens Gruppe: Deutsche Empfehlungen zur gesundheitsökonomischen Evaluation – Revidierte Fassung des Hannoveraner Konsens, in: Gesundheitsökonomie und Qualitätsmanagement 4, 1999, S. A62-A65. Johannesson, M./Gerdtham, U.-G.: A note on the estimation of the equity-efficiency trade-off for QALYs, in: Journal of Health Economics 15, 1996, S. 359-368. Leidl, R.: Der Effizienz auf der Spur: Eine Einführung in die ökonomische Evaluation, in: Das Public Health Buch. Hg. von F. Schwartz et al., 1998, München, S. 346-369. Lindholm, L./Rosen, M./Emmelin, M.: An epidemiological approach towards measuring the trade-off between equity and efficiency in health policy, in: Health Policy 35, 1996, S. 205-216. NICE (2002): Health Select Committee Inquiry: submission of supplementary evidence. Paper 2 of 2, http://www.nice.org.uk Niebuhr, D. et al.: Verfahren und Kriterien zur Konkretisierung des Leistungskatalogs in der Gesetzlichen Krankenversicherung, in: ZeS-Arbeitspapier Nr. 5, 2003. Olsen, J.: Person vs years: two ways of eliciting implicit weights, in: Health Economics 3, 1994, S. 39-46. - Eliciting distributive preferences for health, in: Journal of Health Economics 19, 2000, S. 541-550. Rodriguez-Miguez, E.-P./Pinto-Prades, J.: Measuring the social importance of concentration or dispersion of individual health benefits, in: Health Economics 11, 2002, S. 43-53. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen: Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit, Band III: Ueber-, Unter- und Fehlversorgung, 2000/2001. Sassi, F./Archard, L./Le Grand, J.: Equity and the economic evaluation of healthcare, in: Health Technology Assessment 5, 2001, S. 1-138. SGB V, in: SGB-Sozialgesetzbuch, 2001, München. Siebert, U.: Transparente Entscheidungen in Public Health mittels systematischer Entscheidungsanalyse, in: Das Public Health Buch. Gesundheit fördern, Krankheiten verhindern. Hg. von F. Schwartz et al., 2003, München, S. 485-502. Siebert, U./Mühlberger, N./Schöffski, O.: Formale Entscheidungsanalyse, in: Gesundheitsökonomische Evaluationen. Hg. von O. Schöffski/J.-M. Graf v. d. Schulenburg, 2000, Berlin. Sohmen, E.: Allokationstheorie und Wirtschaftspolitik, 1992, Tübingen.

Regulierungsnotwendigkeiten bei Gentests Peter Oberender und Jochen Fleischmann

A. Problemstellung Gentechnologische Anwendungen in der Medizin und in anderen Bereichen menschlichen Lebens sind nichts Neues und beschäftigen die Politik schon seit Längerem. Allerdings sind diese Anwendungsmöglichkeiten durch die Fortschrittsdynamik, die die Humangenetik in den vergangenen Jahren an den Tag gelegt hat,1 stark ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Die häufig publikumswirksam inszenierten Entwicklungssprünge in diesem Bereich lassen Hoffnungen auf Heilung bisher unheilbarer Krankheiten entstehen, lösen aber auch Ängste aus, unter anderem motiviert durch die Vorstellung vom „gläsernen Menschen“ oder dem „Menschen nach Maß“ als Ausdruck einer völligen Planbarkeit und Gestaltbarkeit menschlichen Lebens. Technologische Möglichkeiten von derartiger Tragweite haben einen kaum zu überschauenden Einfluss auf das menschliche Zusammenleben. Es müssen daher Ansätze gefunden werden, wie dieser Einfluss kanalisiert, Konflikte gelöst und diese Entwicklung in geordnete Bahnen gelenkt werden kann. Dabei darf es keineswegs darum gehen, der technologischen Entwicklung unter dem Vorzeichen extremer Risikoaversion möglichst viele Hindernisse in den Weg zu stellen. Allerdings neigt die öffentliche Diskussion – vor allem angesichts extremer Beispiele wie des Klonens von Menschen – zu einer restriktiven Haltung gegenüber solchen Technologien. Das hat aber zur Folge, dass möglicherweise viele positive Aspekte der Gentechnologie unterdrückt werden. Ein rationaler Umgang mit diesen technologischen Möglichkeiten ist bisher nur in den seltensten Fällen gefunden. Die Wissenschaft ist daher aufgefordert, Aufklärungsarbeit zu leisten2 und dabei unter anderem Vorschläge institutioneller Art zu unterbreiten, wie der ________________ 1

Ein Überblick der Anwendungsmöglichkeiten der Gentechnologie findet sich bei Münchener Rück (2002). Speziell zu den hier thematisierten Gentests siehe Hennen et al. (2001). 2

Darunter fällt bspw. eine nüchterne Darlegung der tatsächlichen gentechnologischen Möglichkeiten, so z.B. in Bartram et al. (2000), S. 5ff., die zeigen, dass ein – in der öffentlichen Diskussion häufig unterstellter – genetischer Determinismus jeglicher Grundlage entbehrt.

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Umgang mit diesen Technologien gestaltet und mögliche Spannungsfelder ausgeräumt werden können. Dieser Aufsatz diskutiert einen Teilaspekt der aus der Humangenetik erwachsenden technologischen Möglichkeiten, nämlich die prädiktive Gendiagnostik. Bei der prädiktiven Gendiagnostik handelt es sich um ein „modernes Werkzeug der Informationsgewinnung“3, das es Menschen ermöglicht, Wissen über ihre genetische Struktur zu erlangen. Dieses Wissen kann genutzt werden, um eine Krankheitsdisposition noch vor Ausbruch klinischer Symptome zu erkennen. Mit diesem Wissen ist aber nicht nur Nutzen verbunden, vielmehr kann es auch zu unbestreitbaren Gefahren für die getestete Person führen – insbesondere dann, wenn diese von ihrer Disposition für eine unheilbare Erbkrankheit erfährt. Gendiagnostische Anwendungen existieren bereits seit Jahrzehnten, spielen aber momentan eine eher untergeordnete Rolle. Allerdings ist zu erwarten, dass Gentests immer billiger und leichter anzuwenden werden und deshalb ihre Verbreitung zunehmen wird. Die Furcht vor „privaten Genbuden“4, die einer unkontrollierten Kommerzialisierung und einem massenhaften Missbrauch bzw. massiven Fehlentwicklungen durch die Etablierung weitgehend sinnloser Tests Vorschub leisten, ist daher laut geworden.5 Damit einher geht der Ruf nach einer restriktiven Regulierung des Umgangs mit Gentests, der in keinem Fall den Gesetzmäßigkeiten des freien Marktes allein überlassen werden dürfe.6 Ziel der Ausführungen ist es zu erörtern, wie der Umgang mit Gentests gestaltet werden sollte. Im Kern geht es um die Frage: Soll jeder nach Belieben Gentests an sich durchführen lassen können oder soll dies angesichts zahlreicher Risiken der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen weitgehend entzogen werden? Es geht also weniger um die weiteren gesellschaftlichen Folgen (unter diese fällt beispielsweise die Frage, wie Versicherungen mit den aus Gentests entstehenden Informationen umgehen dürfen7) als vielmehr um die institutionelle Flankierung der direkten Inanspruchnahme dieser Technologie aus ökonomischer

________________ 3

Seel (2002), S. 217.

4

Bartram, zitiert nach Bayertz et al. (1999), S. 106.

5

Vgl. als Beispiel für Kommerzialisierungsbestrebungen Blech (2002), der von dem Erbguttest „You & Your Genes“ berichtet, der vor allem für Wellness-Kunden auf den Markt gebracht worden ist und maßgeschneiderte Gesundheitsratschläge erarbeitet, die auf dem Test von neun Genen beruhen. 6 So beispielsweise die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Jahre 1999. Vgl. Bayertz et al. (1999), S. 106. 7

Vgl. dazu z.B. Oberender/Fleischmann (2002).

Regulierungsnotwendigkeiten bei Gentests

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und ethischer Sicht. Die Betrachtungen sind dabei auf den Anwendungsbereich der prädiktiven genetischen Tests beschränkt.8 Dabei wird wie folgt vorgegangen: Nach einer kurzen Darlegung der Untersuchungsperspektive wird das Problemfeld, das Gentests aus gesellschaftlicher Sicht aufspannen, aufgezeigt. Aus diesem Problemfeld wird ein Teilaspekt herausgegriffen, dessen spezifische Probleme dargelegt und institutionelle Lösungsmöglichkeiten präsentiert. Diese werden anschließend einer Bewertung unterzogen.

B. Ökonomik und Ethik Ziel dieses Aufsatzes ist es, verschiedene Regulierungsoptionen für die Inanspruchnahme von Gentests zu betrachten und zu bewerten, um auf diese Weise Ratschläge zu einem rationalen Umgang mit den aus der Humangenetik entspringenden technologischen Möglichkeiten zu geben. Wenn hier eine ökonomische Perspektive eingenommen wird, dann soll damit nicht gesagt werden, dass das hier betrachtete Problemfeld einseitig einem materiell-monetär ausgerichteten Effizienzgedanken9 oder gar unter ökonomistischen Gesichtspunkten analysiert werden soll. Vielmehr soll die gestalterische Kompetenz der Ökonomik bei der Weiterentwicklung gesellschaftlicher Regelsysteme genutzt werden. Dabei kann die Ökonomik dazu beitragen, „Gestaltungswissen zur Stabilisierung und Weiterentwicklung der institutionellen Rahmenordnung, die die soziale Ordnung konstituiert, zu generieren“10. Damit Ökonomik dies leisten kann, muss sie als Institutionenökonomik konzipiert sein, die in der Lage ist, gesellschaftliche Konfliktfelder zu lösen oder abzumildern. Aus ökonomischer Perspektive ist die Anwendung genetischer Diagnostik weit mehr als ein rein technologisches Problem. Die Ökonomik ist – neben anderen Sozialwissenschaften – geeignet, die damit verbundenen gesellschaftspolitischen Herausforderungen zu erfassen. Ihr kommt dabei zugute, dass sie sich mit komplexen Interaktionsstrukturen in arbeitsteiligen Zusammenhängen unter den Bedingungen der Knappheit befasst und über das Instrumentarium verfügt, Institutionenstrukturen herauszuarbeiten und zu beurteilen, die ein Funktionieren dieser arbeitsteiligen Zusammenhänge garantieren. Ziel einer Institutionen- oder Regelstruktur ist es, eine sinnvolle Koordination menschlicher Handlungen zu erreichen. Den Individuen wird damit der Weg aus knapp________________ 8

Vgl. zu weiteren Anwendungskontexten Feuerstein et al. (2002), S. 31ff.

9

Eine solche Sichtweise lässt sich teilweise bei einer reinen Kosten-Nutzen-Betrachtung von Gentests finden (vgl. z.B. Schöffski 2001). 10

Gerecke (1998), S. 268.

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heitsbedingten Interessenkonflikten gewiesen, die sich häufig in Rationalitätenfallen oder sozialen Dilemmata widerspiegeln.11 Die dabei entwickelten Grundprinzipien lassen sich nun nicht nur auf rein „ökonomische“ Gegebenheiten anwenden, sondern auf gesellschaftliche Interessenkonflikte jeglicher Art. Aus ökonomischer Perspektive lassen sich also prinzipiell auch Vorschläge ableiten, wie die Gewinnung und der Austausch genetischer Informationen institutionell zu gestalten bzw. zu regulieren sind, um hier Interessenkonflikte zu vermeiden und den Nutzen der Beteiligten zu erhöhen. Dem Bürger soll es also durch geschickte institutionelle Gestaltung ermöglicht werden, Nutznießer des technischen Fortschritts zu sein. Geht man davon aus, dass die Generierung genetischer Informationen grundsätzlich ein Nutzenpotential für die zu testende Person bringt und die betreffende Person dieses Potential auch einschätzen kann12, so sollte auch die Austauschbeziehungen für diese Informationen den Markt- und Wettbewerbskräften unterliegen, d.h. prinzipiell muss Wahlfreiheit in Bezug auf diese Austauschbeziehungen gewährleistet werden. Diese Wahlfreiheit ist allerdings nicht grenzenlos; sie geht notwendigerweise mit Verantwortung einher, die der Einzelne übernehmen muss. Im Kern besteht das Problem der Institutionengestaltung also darin, das Verhältnis zwischen Wahlfreiheit und Verantwortung sorgfältig auszuloten. Die mit der Institutionengestaltung verbundene Lenkung menschlichen Verhaltens dient also zum einen der gesellschaftlichen Koordination, zum anderen aber auch der Vermeidung schädlichen Verhaltens. Bei einem insbesondere aus liberaler Perspektive gegebenen grundsätzlichen Vorrang von Freiheit und Privatautonomie muss also geprüft werden, an welcher Stelle der noch darzulegenden Austauschbeziehungen es zu Koordinationsmängeln oder sozial schädlichen Verhaltensweisen, die destabilisierend wirken können, kommen kann. Gerade letzteres wird im Rahmen der Regulierung gentechnologischer Anwendungen relevant; das Verhalten in Bezug auf Gentechnik soll in gesellschaftlich erwünschte Bahnen, die moralisch vertretbar sind, gelenkt werden.13

________________ 11

Vgl. Homann/Suchanek (2000). Ein Beispiel für eine solche Regelstruktur ist eine Wettbewerbsordnung, die insbesondere auf dem Prinzip der Freiheit und der Einheit von Handeln und Haften beruht. Eine solche Ordnung hält die Wettbewerber zur Orientierung an den Konsumentenwünschen und zum sparsamen Umgang mit Ressourcen an (vgl. Eucken 1990). 12 Dieses Nutzenpotential ist insbesondere dann gegeben, wenn es für die diagnostizierte Krankheit auch eine Therapie gibt. 13

Vgl. Heyd (2002), S. 4.

Regulierungsnotwendigkeiten bei Gentests

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Neben das Prinzip der Privatautonomie können daher die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit sowie der Fürsorge und der Schadensvermeidung treten.14 Diese Prinzipien sind aber nicht notwendigerweise umsetzbar, insbesondere nicht unter Knappheitsbedingungen. Daher müssen sich Ethik und Ökonomik bei der Institutionengestaltung ergänzen, um eine tragfähige gesellschaftliche Rahmenordnung zu formen.15 Ordnungspolitische Anstrengungen bedeuten also, dass die Rahmenordnung (Institutionen) dieser Märkte so gestaltet werden muss, dass die Marktkräfte (individuelles Verhalten entlang dieser Rahmenordnung) in die gewünschte Richtung gelenkt werden. Ethische Aspekte fließen dabei über die Rahmenordnung in die Betrachtung mit ein, d.h. es wird nicht darauf vertraut, dass Einzelne von sich aus moralisch handeln – sie sind damit häufig überfordert – sondern es wird sichergestellt, dass Marktteilnehmer einen Anreiz haben – also aus Eigeninteresse – dies zu tun.16 Neben diesem Beitrag zur direkten Institutionengestaltung ist die Ökonomik weiterhin geeignet, Gestaltungsvorschläge zur institutionellen Metaebene zu machen – also der Ebene, auf der Regeln zur Biopolitik beschlossen werden. Dem liegt folgendes Problem zugrunde: An sich sind viele der im Zusammenhang mit der Gentechnologie auftretenden Probleme aus ethischer Sicht nicht unbedingt problematisch. Ein Beispiel ist das Klonen von Menschen. Ob sich jemand auf natürlichem Wege oder mit Hilfe einer Klonierungstechnik fortpflanzt, ist nur bedingt von Bedeutung. Ethische Probleme entstehen nur dann, wenn die Klonierungstechnologie noch nicht ausgereift ist und Nebenwirkungen nach sich zieht. Dennoch dürfte es für viele Menschen nicht einfach unproblematisch sein, Klonierungstechnologien anzuwenden. Aufgrund persönlich internalisierter Normen werden sie ein Unbehagen demgegenüber empfinden, das Widerstände hervorruft. Institutionenökonomisch formuliert: Es besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen formellen und informellen Institutionen. Dies lässt sich als „Geschwindigkeitsfalle“ der Biopolitik bezeichnen: Technologische Entwicklung und formelle Institutionen schreiten der Entwicklung der informellen Institutionen mit einem größer werdenden Vorsprung voran. Die Institutionenökonomik ist geeignet, diesen Konflikt zu thematisieren und Lösungsansätze aufzuzeigen. Lösungsansätze liegen beispielsweise in informationspolitischen Maßnahmen oder der direkten Beteiligung der Bürger an Entscheidungen.17 ________________ 14

Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft (2003), S. 32f.

15

Vgl. dazu grundsätzlich Schramm (2002), der Begründungsebene und Anwendungsebene unterscheidet. 16

Vgl. Homann (2001), S. 92ff.

17

Vgl. Jakubowski (2001).

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Die Ökonomik ist also geeignet, Hinweise zu geben, wie stabile Austauschbeziehungen mit genetischen Informationen zustande kommen, wobei gleichzeitig technologischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Wandel zugelassen werden soll. Zusammenfassend lässt sich also folgende Aussage zum Beitrag der Ökonomik zum gesellschaftlichen Umgang mit Gentests treffen: Sie kann Hilfestellung leisten, wie die Handlungsmöglichkeiten (Freiheitsspielräume) in Bezug auf Gentests und die daraus erwachsenden Informationen eingegrenzt werden sollten, wenn funktionierende gesellschaftliche Koordinationsprozesse die zugrunde gelegte Zielvorstellung sind. Dabei geht es darum, den Spagat zwischen einer wohlfahrtssteigernden Evolution von Märkten für genetische Informationen und den daraus möglichen Gefährdungen des Gesamtsystems und einzelner Systemteilnehmer zu bewältigen.

C. Das Problemfeld Unter einem Gentest versteht man die „molekularbiologische Untersuchung von DNA-Sequenzen hinsichtlich möglicher Strukturveränderungen und funktionell relevanter Mutationen bei einem Individuum“18. Im Gegensatz zu den meisten anderen gentechnologischen Anwendungen beinhalten Gentests keine bewussten Eingriffe in Genstrukturen. Gentests sind aber die „Basistechnologie vieler weiterer Entwicklungen der Gentechnologie“19 (u.a. für Präventivmedizin, für individuelle Gentherapie). Das Wissen, das im Rahmen von Gentests erzeugt wird, zieht weitreichende Implikationen sowohl für die betroffenen Individuen als auch für die Gesellschaft nach sich, die institutionell bewältigt werden müssen. Nicht selten wird in diesem Wissen und im gesellschaftlichen Umgang damit die eigentliche Herausforderung der entstehenden Gentechnologie gesehen.20 Gentests sind unter anderem anwendbar im Rahmen der pränatalen Diagnostik, der Präimplantationsdiagnostik, der prädiktiven Diagnostik und des genetischen Screening.21 Hier soll der Schwerpunkt auf der prädiktiven und präsymptomatischen Diagnostik liegen. Worin liegt die gesellschaftspolitische Problematik dieser Technologie? Methoden der genetischen Diagnostik schaffen durch Bereitstellung von Informationen neue Rahmenbedingungen für menschliche Entscheidungen. So können mit Hilfe der prädiktiven genetischen Diagnostik beim Menschen Krankheitsdisposi________________ 18

Beckmann (2001), S. 275, vgl. auch Burke (2002), S. 1867.

19

Münchener Rück (2002), S. 21.

20

Vgl. Sass (1994), S. 343, Long (1999), S.1f.

21

Feuerstein et al. (2002), S. 29ff, Deutsche Forschungsgemeinschaft (2003), S. 20ff. Für aktuelle Informationen siehe www.geneclinics.org (vgl. Burke 2002).

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tionen erkannt werden oder Aussagen über individuelle Erkrankungswahrscheinlichkeiten gewonnen werden, bevor die spezifische Krankheit überhaupt manifest wird. Prädiktive Gentests spüren also genetische Dispositionen, die später im Leben zu einer Krankheit führen können, auf. Die gewonnenen Informationen sind dabei deterministisch (genetische Veränderung führt mit Sicherheit zur Krankheit) oder probabilistisch (Eintrittswahrscheinlichkeit bekannt).22 Dieses Wissen birgt Chancen und Risiken zugleich; es ist geeignet, Lebensplanung und Lebenschancen eines Betroffenen drastisch zu verändern. So kann der Einzelne das Wissen um eine mögliche Erkrankung nutzen, um frühzeitig Vorbereitungen zu treffen, möglicherweise Prävention zu betreiben. Das gilt umso mehr, als die Tatsache der Krankheitsdisposition noch nichts über Schwere und Verlauf der zu erwartenden Krankheit aussagt.23 Darüber hinaus erlaubt dieses Wissen nicht nur Individuen einen bewussten Umgang mit Erbkrankheiten, auch ganze Familienverbünde sind durch dieses Wissen in der Lage, auf solche Krankheiten zu reagieren, beispielsweise durch bewusste Heiratsplanung. Die Chance der Gentests liegt also darin, dass der dadurch bedingte Wissenszuwachs einen rationaleren und bewussteren Umgang mit Krankheiten sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene erlaubt.24 Allerdings sind auch andere Wirkungen vorstellbar: Wissen über die eigene Genstruktur und damit verknüpfte persönliche Gesundheitsrisiken eines Menschen sind mögliche Quellen von Angst und Verwirrung – insbesondere dann, wenn die Bedeutung dieser Informationen fehl interpretiert wird. Es entsteht die Personengruppe der „gesunden Kranken“, die um ein positives Testergebnis in Bezug auf eine bestimmte Krankheit wissen, bei denen diese Krankheit aber noch nicht zum Ausbruch gekommen ist.25 Diskriminierung (beispielsweise hinsichtlich Versicherungsabschlüssen), beeinträchtigte Sozialbeziehungen und schwerwiegende Entscheidungskonflikte sind vorstellbare Folgen. Besondere Bedeutung erlangen diese Probleme, wenn Diagnosemethode und Möglichkeiten zur Heilung drastisch auseinander fallen: „Kann es sinnvoll sein, einem Menschen heute mitzuteilen, dass er einen genetischen Defekt aufweist, der zukünftig u. U. eine bestimmte Krankheit auslöst, ohne über ein entsprechendes Heilverfahren zu verfügen?“26 Die Möglichkeiten der prädiktiven Diagnostik ________________ 22

Vgl. Feuerstein et al. (2002), S. 39f.

23

Vgl. Juengst (1995), S. 199.

24

Vgl. allgemein zur Bedeutung von Informationen im Gesundheitswesen Oberender (2001).

25

Vgl. Feuerstein et al. (2002), S. 41.

26

Jakubowski (2001), S. 595. Das gilt auch, wenn Prävention nur durch sehr drastische Maßnahmen möglich ist, beispielsweise im Falle von Brustkrebs durch vorbeugende Brustamputation (vgl. Surbone 2001).

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führen also dazu, dass nicht mehr nur die Krankheit zur Belastung wird. Vielmehr wird durch Personalisierung des Risikos der Einzelne schon durch das Wissen um eine zukünftige Krankheit erheblich belastet; gleiches gilt für seine gesamte Familie und weitere Generationen.27 Ob Chancen oder Risiken überwiegen, ist grundsätzlich strittig.28 Gerade deshalb stellt sich aber die Frage, in welcher Weise die genetischen Informationen genutzt werden können und sollen, um einerseits den Nutzen aus diesen Tests möglichst groß werden zu lassen, gleichzeitig aber mögliche Schäden zu minimieren. Im Kern handelt es sich dabei um ein komplexes Ordnungsproblem, bei dem die Sozialbeziehungen der an genetischen Tests beteiligten Individuen und Organisationen festzulegen sind. Beteiligt sind hauptsächlich das zu testende Individuum bzw. sein Familienverbund, die Anbieter von Tests, gegebenenfalls ergänzt um Berater, sowie staatliche oder private Organisationen, die das gesellschaftliche Umfeld regeln, in dem diese Transaktionen stattfinden.29 Dabei ergeben sich mehrere Detailfragen, unter anderem: Welche Anforderungen sind an denjenigen zu stellen, der den genetischen Test durchführt? Darf der Einzelne von sich aus über die Inanspruchnahme eines solchen Tests entscheiden oder darf er dies erst nach einer ärztlichen Beratung tun? Wie soll er mit den gewonnenen Informationen umgehen? Müssen die Ergebnisse zwingend an Familienangehörige weitergegeben werden? Dürfen Einzelne zu Gentests gezwungen werden? Dürfen einzelne Organisationen, beispielsweise Versicherungen, Entscheidungen auf Basis dieser Informationen treffen? Wer definiert hier „genetische Normalität“? Welche Unterschiede, die auf Basis genetischer Informationen gemacht werden, sind gerechtfertigt, welche nicht? Wie stellt sich die Gesellschaft zu Personen, die mit besonderen genetischen Risiken zu kämpfen haben, welche Solidaritätsnormen müssen hier gelten? Letzteres stellt insbesondere eine Herausforderung an die soziale Krankenversicherung dar, die zu entscheiden hat, wie sie mit genetischen Risiken umgeht, ob sie Gentests erstattet, welche Risiken werden versichert?30 Im Rahmen der Biopolitik müssen diese Fragen beantwortet werden. Es ist festzulegen, wer über die Erzeugung und Weitergabe des genannten Wissens entscheiden darf und welche Kontroll- und Sanktionsmechanismen zu etablieren ________________ 27

Vgl. Wild/Jonas (2003), S. 352.

28

Long betont: „The information provided by those tests is a mixed blessing, depending on whether the tests are carried out properly and how the information is used.“ (Long, 1999, S. 6). 29

Vgl. Juengst (1995), S. 200.

30

Vgl. für einen Überblick dieser Fragestellungen Surbone (2001), S. 151f.

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sind, damit diese Prozesse in gesellschaftlich geordneten Bahnen, also moralische Standards berücksichtigend, ablaufen. Im Prinzip handelt es sich also um ein typisches Ordnungsproblem, das darin besteht, Handlungsrechte zuzuweisen und sozial produktiv zu institutionalisieren. Erkenntnisse der Ordnungs- und Institutionenökonomik können auf dieses Problem angewandt werden. Im Kern gilt es zu klären, welche Entscheidungen bei staatlichen Instanzen angesiedelt werden sollen, was Experten (in Selbstregulierungsprozessen) entscheiden sollen und was schließlich dem Individuum selbst überlassen werden sollte. Auch die Frage der Konkurrenz von Regulierungssystemen untereinander spielt hier eine Rolle, da jeder Staat unterschiedliche Antworten auf dieses Probleme geben kann.31 Um die Frage nach einer sinnvollen Rahmenordnung für die Inanspruchnahme genetischer Testverfahren (und der Verwendung des daraus resultierenden Wissens) beantworten zu können, müssen zunächst die betreffenden Austauschbeziehungen analytisch getrennt und dargelegt werden. Dabei liegt es nahe, drei aufeinander aufbauende Ebenen des Austausches zu unterscheiden (vgl. dazu Abbildung 1).32 Zu unterscheiden sind eine Forschungs- bzw. Wissenschaftsebene, die Anwendung der dabei erzielten Erkenntnisse auf einem Markt für genetische Informationen sowie die Verwendung der dabei gewonnenen Informationen in einem weiteren gesellschaftlichen Kontext. Es ist also im Kern zu trennen zwischen einer Regulierung der Forschung, einer Regulierung der Verwendung (bzw. Inanspruchnahme) von Gentests an sich und einer Regulierung ihrer weiteren sozialen Folgen (z.B. Entsolidarisierung). Ausgangspunkt bildet also das im Zuge der humangenetischen Forschung erzeugte Wissen. Gesellschaftliche Folgen zieht dieses Wissen aber erst nach sich, wenn es in ökonomische Prozesse einfließt und in Tauschbeziehungen verwertet wird.33 Sozial produktiv werden die in der humangenetischen Grundlagenforschung gewonnenen Erkenntnisse also über den Markt für individuelle genetische Informationen oder genauer den Markt für die Dienstleistung „Durchführung von Gentests und Erzeugen von Informationen über die individuelle Genstruktur“. In einer solchen Austauschbeziehung werden die aus den Grundlagenerkenntnissen generierten Anwendungen auf ein konkretes Indivi________________ 31

Vgl. Heyd (2002), S. 10.

32

Der Informationsfluss ist der Einfachheit halber nur in eine Richtung laufend dargestellt. Tatsächlich handelt es sich aber um ein interdependentes Geflecht. Beispielsweise würden auch von den Märkten für genetische Informationen Impulse auf die vorgelagerten Wissenschaftsmärkte ausgehen (vgl. Oberender/Fleischmann 2003). 33

Vgl. zum Verhältnis von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik Korff (1999), S. 102f., siehe auch Heyd (2002), S. 5.

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duum angewandt, das Informationen über seine genetische Struktur und deren Auswirkungen erhalten möchte (Nachfrageseite). Das Angebot wird hier durch Personen oder Organisationen konstituiert, die in der Lage sind, genetische Informationen zu generieren. Eine der zentralen Fragen, die hier zu beantworten ist, lautet: Sind genetische Informationen besondere Güter, die ordnungspolitische Sicherungsmechanismen erforderlich machen?34 Erkenntnisse der Humangenetik

Informationsmarkt Erzeugung von Informationen über individuelle Genstruktur

Gesundheitsversorgung

Sonstige Versicherungs- Verwendung märkte z.B. Arbeitsmarkt, Heiratsmarkt

Privatversicherung

Sozialversicherung

Abbildung 1: Ebenen des Austausches

In der Regel werden die Informationen über die genetische Struktur eines Individuums auf nachgelagerten Märkten weiterverwendet. Beispiele hierfür sind die Gesundheitsversorgung, Versicherungsmärkte, Arbeitsmärkte oder Heiratsmärkte. Dieser Aspekt soll hier allerdings ausgeblendet werden; es soll allein um die direkte Inanspruchnahme von Gentests gehen.35 Auf dem Markt für genetische Informationen im eigentlichen Sinne lassen sich folgende Beziehungen identifizieren: Die zu testende Person und ein entsprechend fachkundiger Anbieter treten in Interaktion und generieren Wissen über die Genstruktur der zu testenden Person. Noch zwei weitere direkt oder indirekt involvierte Akteure sind festzustellen (vgl. Abbildung 2). In vielen Fällen dürfte der Nachfrager den Wunsch nach Wissen über seine Genstruktur nicht alleine äußern, sondern wird von einem fachkundigen Berater, in der ________________ 34 35

Vgl. für einen Überblick dieses Marktes Bayertz et al. (1999).

Gesellschaftspolitische Probleme der Verwendung von im Rahmen von Gentests erzeugten Informationen werden bei Oberender/Fleischmann (2003) dargelegt.

Regulierungsnotwendigkeiten bei Gentests

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Regel einem Arzt begleitet. Darüber hinaus ist als Besonderheit genetischer Informationen zu beachten, dass diese häufig Aussagen über den Familienverbund der getesteten Person erlauben. Damit können von Ergebnissen auch Dritte betroffen sein, die zunächst nicht beteiligt waren. Betroffene Dritte Recht auf Nichtwissen? Anbieter Regulierung des Marktzugangs? Qualitätssicherung?

Genetische Information

Nachfrager Sind sie fähig, mit Informationen über ihre Genstruktur umzugehen?

Berater Wo liegen seine Kompetenzen?

Abbildung 2: Informationsmarkt

D. Regulierungsoptionen und ihre Bewertung Die institutionelle Ausgestaltung dieser Transaktionsbeziehung und des innerhalb dieser Beziehung ablaufenden Informationsbeschaffungsprozesses ist umstritten. Es scheint hier die Tendenz zu bestehen, möglichst weitgehend regulierend tätig zu werden. Beispielsweise wurde in Österreich ein Gesetz verabschiedet, das die Möglichkeit, genetische Tests in Anspruch zu nehmen, für den Einzelnen sehr stark einschränkt.36 Im Folgenden soll unter Beachtung der oben aufgezeigten Grundpositionen aufgezeigt werden, wie die institutionelle Ausgestaltung dieser Tauschbeziehung aussehen sollte. Insbesondere ist zu klären, ob und inwieweit eine über den herkömmlichen Rahmen einer Marktordnung hinausgehende Regulierung notwendig ist. Was ist Ziel einer solchen Regulierung? Ziel soll die Herstellung einer stabilen Tauschbeziehung sein, die es dem Nachfrager ermöglicht, das von ihm als notwendig erachtete Wissen über seine genetische Struktur zu erlangen und damit verantwortungsvoll umzugehen. Dabei sei davon ausgegangen, dass dieses Wissen für den Nachfrager von Nutzen ist, er also eine gewisse Zah________________ 36

Vgl. Bernat (2002), S. 189f.

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lungsbereitschaft dafür besitzt. Diese resultiert aus dem möglichen medizinischen Nutzen einer solchen Information, aus anderen Zwecken (z.B. Familienoder Heiratsplanung), aber auch aus dem reinen Interesse an der persönlichen genetischen Struktur. Märkte, auf denen Wissen, insbesondere Wissen mit Implikationen für zukünftige Tatbestände, erzeugt und gehandelt wird, existieren in der Realität in vielfältiger Form. Nicht jeder dieser Märkte ist starken Regulierungen unterworfen. Was könnte bei Gentests anders sein, dass eine solche Regulierung gerechtfertig ist? Bei der Gestaltung des institutionellen Rahmens dieses Marktes sind mehrere potentielle Problemfelder zu beachten: Zunächst besteht die Möglichkeit, dass dieses Wissen schlicht falsch ist. Daher muss sichergestellt werden, dass in den genannten Austauschbeziehungen nur Informationen erzeugt werden, die auch der tatsächlichen Genstruktur der zu testenden Person entsprechen. Selbst wenn dies gelingt, ist die Problematik noch nicht vollständig entschärft. Das (richtige) Wissen, das aus Gentests entsteht, kann weitere unmittelbar schädliche Folgen für das Individuum haben. Es ist möglicherweise gar nicht in der Lage dieses Wissen zu interpretieren und damit umzugehen. Daher muss gegebenenfalls die Inanspruchnahme eingeschränkt werden bzw. restriktiven Bedingungen unterworfen werden. Eine solche Bedingung kann unter anderem darin bestehen, dass ein Berater hinzugezogen wird, der das genetische Wissen interpretieren hilft. Die Inanspruchnahme von Gentests könnte auch auf bestimmte Indikationen eingeschränkt werden.37 Und schließlich: Die generierten Informationen können Auswirkungen auf dritte Personen haben, beispielsweise wenn ein Familienmitglied aus den Testergebnissen eines anderen Familienmitglieds auf seine eigene genetische Disposition schließen kann.38

I. Qualitätsregulierung Das erste Problem betrifft die Angebotsseite auf Märkten für genetische Information. Auf seinen ökonomischen Kern reduziert handelt es sich um ein Qualitätsproblem. Durch den Ordnungsrahmen der betreffenden Tauschbeziehung soll garantiert werden, dass die Testergebnisse der Wahrheit entsprechen. Die Qualität der Informationen aus genetischen Tests ist für den Nachfrager nur schwer einschätzbar; für ihn haben sie den Charakter eines Erfahrungs- oder gar ________________ 37

Vgl. für einen Überblick möglicher Regulierung Bayertz et al. (1999).

38

Vgl. Damm (1999), S. 433.

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Glaubensgutes.39 Der Wahrheitsgehalt ist erst nach gewisser Zeit oder gar nicht feststellbar. Das kann fatale Folgen nach sich ziehen, insbesondere dann, wenn auf Basis falscher Informationen über Genstrukturen frühzeitig Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Wie können also die Handlungsspielräume der Anbieter (Anreizstrukturen) ausgestaltet werden, so dass es in ihrem Interesse liegt, gute Qualität zu liefern? Kriterien, um die Qualität von Gentests anzugeben, wurden bereits entwickelt und sind auch ausführlich dokumentiert.40 Diese Vorgaben können genutzt werden, um mehr oder weniger weitreichende Regulierungen zu implementieren, die zum Ziel haben, die weniger gut informierte Marktseite zu schützen. Derartige Eingriffe finden sich auf zahlreichen Märkten (unter anderem gehäuft im Gesundheitswesen); eine besonders drastische Form ist die administrierte Qualitätssicherung verbunden mit weitreichenden Verhaltensvorschriften für Anbieter.41 Soll über einen solchen Regulierungseingriff entschieden werden, so ist zu bedenken, dass solche Maßnahmen das Selbststeuerungspotential in den betrachteten Tauschbeziehungen einschränken (sowohl in statischer als auch in dynamisch-evolutorischer Hinsicht). So haben reine Marktlösungen durchaus das Potential, die genannten Qualitätsprobleme zu lösen (z.B. über die Notwendigkeit für die Anbieter, Reputation aufzubauen).42 Allerdings tritt diese Lösung häufig erst mittel- bis langfristig ein, so dass kurzfristig der Druck entsteht, eine Regulierungslösung zu implementieren.43 Bei einer solchen Lösung ist dann darauf zu achten, durch kurzfristig starre Regelungen die mittel- bis langfristig wirksamen Selbststeuerungskräfte eines solchen Marktes nicht zu stark einzuschränken. Regulierung und Wettbewerb müssen also Hand in Hand gehen. Eine Lösung könnte folgendermaßen aussehen: Ein erster Schritt besteht hier darin, Markteintrittsschranken zu errichten, die gewisse Mindestvoraussetzungen (z.B. Befähigungsnachweise) von denjenigen, die Gentests durchführen, verlangen.44 Eine weitere Zutrittsschranke besteht analog zu Arzneimitteln in Zulassungsvoraussetzungen für genetische Tests.45 Das ist allerdings keine hinreichende Bedingung, um Qualität zu schaf________________ 39

Vgl. dazu Borrmann/Finsinger (1999), S. 474ff.

40

Vgl. Feuerstein et al. (2002), S. 65ff.

41

Vgl. Oberender/Daumann (1996).

42

Vgl. dazu die Beispiele bei Kunz (1985).

43

Vgl. Weizsäcker (1998), S. 270ff.

44

Siehe z.B. einige der Vorschläge in OECD (2000).

45

Vgl. Watson (1999), S. 97, vgl. auch die Hinweise bei Juengst (1995), S. 207.

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fen. So können auch entsprechend qualifizierte Anbieter bei fehlendem Wettbewerb dazu neigen, nur mindere Qualität zu produzieren, also geneigt sein, das bei ihnen grundsätzlich vorhandene Potential nicht zu nutzen. Daher müssen Marktzutrittsregulierungen mit der Sicherung eines wirksamen Wettbewerbs einhergehen. Wettbewerbsdruck zwingt die Anbieter von Gentests, qualitativ hochwertige Produkte (Informationen) zu liefern. Ergänzt werden muss dies durch eine Haftung der Anbieter von Gentests. Liefern sie falsche Informationen über die Genstruktur des Betroffenen, so haben sie für die aus dieser Falschinformation entstandenen Schäden einzustehen.46

II. Arztvorbehalt Neben den (angebotsseitigen) Problemen der Informationsqualität ist auch der (nachfrageseitige) Umgang mit den im Rahmen von Gentests entstandenen Informationen möglicherweise regelungsbedürftig. Während die Beschaffung und Mitteilung der genetischen Information bei guter Qualität der Testergebnisse unproblematisch ist, können Schwierigkeiten bei der sich an Beschaffung und Mitteilung anschließenden Verwertung dieser Information entstehen. Der Einzelne – häufig sogar auch der Arzt ohne spezifische Ausbildung in diesem Bereich – ist meist nicht unmittelbar in der Lage, aus den mitgeteilten Informationen die richtigen diagnostischen Schlüsse zu ziehen.47 Zudem ist zu bedenken: Ein negativ verlaufener Gentest hat sicherlich hohe Entlastungswirkung. Anders allerdings ein Test mit positivem Ergebnis. Ein solcher Test ist von einer hohen „Eingriffstiefe“48 in die Persönlichkeit bzw. das Leben der betreffenden Testperson gekennzeichnet. Das Selbstverständnis, das Verhalten und möglicherweise auch ganze Lebensentwürfe (z.B. Familienplanung, Berufsplanung) sind davon bedroht. Daraus ergeben sich mehrere Fragen: Können die Patienten mit den Informationen aus Gentests ohne weiteres umgehen? Wie kann diese Fähigkeit eventuell gestärkt werden? Muss der Zugang zu Gentests von der Nachfrageseite her reguliert werden? Müssen spezielle Abwehrrechte im Sinne eines „Rechts auf Nichtwissen“ installiert werden? Letzteres ist insbesondere deswegen bedeutsam, da Gentests erhebliche Drittwirkung haben können, beispielsweise auf Verwandte.49 ________________ 46

Zu klären ist hier noch die Frage, wie eine solche Haftung in praktikabler Weise auszugestalten ist. 47

Vgl. Seel (2002), S. 218.

48

Damm (1999), S. 435.

49

Vgl. Bartram et al. (2000), S. 82.

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Auf der Nachfrageseite ist also zu fragen: Welche Handlungsspielräume sind den „Konsumenten“ von Gentests einzuräumen? Ist es sinnvoll, ihnen unbeschränkten Zugang zu solchen Verfahren zu geben? Da genetische Tests und ihre Interpretation spezifisches Wissen erfordern und zudem hohe Relevanz für den Gesundheitszustand haben, wird die zu testende Person in der Regel nicht alleine über die Inanspruchnahme entscheiden. Sie wird von sich aus einen sachkundigen Berater hinzuziehen, den sie in der Regel in Form eines Arztes findet.50 Es stellt sich nun allerdings die Frage, ob dieses Hinzuziehen eines sachkundigen Beraters zur Pflicht gemacht werden soll, ob also Gentests systematisch nur im Rahmen einer Arzt-Patient-Beziehung vereinbart werden dürfen. Diese „Arztvorbehalt“ genannte Regelung – häufig verknüpft mit einer Art „Verschreibungspflicht für Gentests“51 – soll die Abfolge von Beratung, Gentest und erneuter Beratung sicherstellen; prädiktive genetische Diagnostik soll ausschließlich dem Arzt vorbehalten sein.52 Eine weitere Regulierung besteht in diesem Zusammenhang darin, bestimmte Indikationen zur Voraussetzung eines Gentests zu machen, Gentests also nur zu Gesundheitszwecken zuzulassen.53 Im Hintergrund dieser Regulierungsempfehlung steht immer die Sorge, der Einzelne könne mit der genetischen Information nicht umgehen oder es komme zu übertriebenen Erwartungen, die schließlich in ein „Übermaß an genetischer Planung“54 münden.55 Beide Regulierungsoptionen – Arztvorbehalt und Anbindung an bestimmte Zwecke – würden die Durchführung von Gentests stark an das bestehende System der Gesundheitsversorgung anbinden und sollen einer Kommerzialisierung außerhalb dieses Systems vorbeugen. Der Arztvorbehalt bestimmt, dass bestimmte Tätigkeiten nur ein Arzt vornehmen darf. Dabei geht es insbesondere ________________ 50

In Deutschland sind Gentests momentan in der Regel mit der Hinzuziehung eines Arztes verbunden. 51

Bartram et al. (2000), S. 103.

52

Vgl. Bundesärztekammer (2003), S. A-1297.

53

Demgegenüber unterscheidet die Deutsche Forschungsgemeinschaft in lungnahme (2003) Life-Style-Tests, die der Lebensgestaltung dienen (S. Beispiel wird dort ein Polymorphismus im ACE-Gen genannt, bei dem Ausprägungen mit überdurchschnittlicher körperlicher Leistungsfähigkeit wurden. 54 55

ihrer Stel27f.). Als bestimmte verknüpft

Damm (1999), S. 440.

Vgl. Bayertz et al. (1999). Die Bindung an Gesundheitszwecke soll außerdem verhindern, dass Gentests zur Diskriminierung auf anderen Märkten verwendet werden.

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darum, Patienten gegen die Ausübung dieser Tätigkeiten durch Unkundige zu schützen.56 Es steht aber nicht nur diese Schutzfunktion im Mittelpunkt. Vielmehr spielen der Arztvorbehalt und die Bindung an ärztliche Indikationen eine wesentliche Rolle bei der Ablehnung bestimmter, von „Patientenseite“ gewünschter Handlungen.57 Beide Regulierungsoptionen sollen also individuell und sozial schädliche Wirkungen von prädiktiven Gentests eindämmen. Eine Diskussion dieser Optionen läuft auf die Frage hinaus: Sind Informationen aus Gentests „besondere Informationen“, deren Verwendung einer besonderen Kontrolle und Regulierung unterliegen sollte? Die Meinungen dazu gehen auseinander.58 Genetisches Wissen und die Möglichkeit, dieses relativ leicht zu generieren, wird das allgemeine Verständnis von Krankheit und Gesundheit nachhaltig ändern.59 Auch ist zu konstatieren, dass den Informationen aus genetischen Tests ein hohes Gefahrenpotential innewohnt. Insbesondere dann, wenn die getestete Person dieses Wissen nicht sachkundig einordnen kann oder unzureichend beraten wird, sind weitreichende Fehlentscheidungen möglich. Eine schnelle Kommerzialisierung könnte dieses Gefahrenpotential noch potenzieren (insbesondere durch die Verbreitung von Test-Kits, die für jedermann zugänglich und leicht anwendbar sind), zumal genetisches Wissen komplexer Natur und für den Laien nur bedingt zu interpretieren ist.60 Wird dieses Gefährdungspotential sehr hoch eingeschätzt und sollen sämtliche der skizzierten Probleme unter allen Umständen vermieden werden, so resultiert daraus die Forderung nach Umsicht und Behutsamkeit im Umgang mit dieser Technologie. Dann spricht alles für eine strikte Regulierung, die sowohl Arztvorbehalt als auch Beschränkung auf medizinische Zwecke kennt. Insbesondere die Institution „Arztvorbehalt“ würde dann dafür sorgen, dass die Testpraxis in stark geregeltem Rahmen abläuft. Sieht man von möglicherweise auftretenden Kapazitätsengpässen ab, so wären Beratung und Durchführung der Tests eng aneinander gekoppelt, so dass günstige Voraussetzungen für eine kompetente Durchführung des jeweiligen Tests bestehen.61 Als Vorteil einer solchen Regelung wird vor allem angeführt, dass sie die Autonomie des Patien________________ 56

Vgl. die bei Lippert (1999), S. 268, aufgeführten Beispiele.

57

Vgl. Lanzerath (2000), S. 18.

58

Vgl. z.B. Beckmann (2001), S. 276 oder Bernat (2002), S.192ff.

59

Vgl. dazu Schröder (2002).

60

Vgl. Bartram et al. (2000), S. 83, Bundesärztekammer (2003), S. A-1297.

61

Vgl. Bayertz et al. (2001).

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ten stärkt. Durch Beratung vor und nach der Durchführung eines Gentests wäre garantiert, dass der Patient über die notwendigen Informationen verfügt, um in Ausübung seiner Autonomie über die Inanspruchnahme eines Tests sowie Konsequenzen daraus entscheiden zu können.62 Diese Stärkung der Autonomie gilt insbesondere dann, wenn die Beratung nicht direktiv geschieht und den Prinzipien der informierten Zustimmung folgt.63 Darüber hinaus stellt die Verankerung von Gentests im Arzt-Patient-Verhältnis die Existenz eines besonderen Vertrauensverhältnisses sicher.64 Datenschutz, Schweigepflicht und die bereits entwickelten Standards der ärztlichen Berufsausübung sind weitere Argumente für eine Anbindung genetischer Diagnostik an den ärztlichen Berufsstand.65 Institutionenökonomisch interpretiert: Ärztliches Handeln ist an bestimmte lange gewachsene – zum Teil formelle, zum Teil informelle ethische Gesetzmäßigkeiten gebunden. Diese Gesetzmäßigkeiten bilden im Sinne eines Selbstregulierungsmechanismus einen Schutz gegenüber einem Missbrauch der in Rede stehenden Technologien.66 Allerdings sollte bei einer Einführung solcher Regulierungsoptionen auch Folgendes bedacht werden: Genetische Informationen können sicherlich in vielfältiger Weise fehlinterpretiert und gar missbraucht werden können. Jedoch darf nicht der Fehler gemacht werden, diese möglichen Fälle zum massenhaft auftretenden Normalfall zu erklären. Jede neue Technologie und die daraus entstehenden Informationen erfordern immer einen Prozess des Lernens des Umgangs mit dieser Technologie und ihrer Folgen, sowohl auf Seiten der Anbieter als auch auf Seiten der Nachfrager. Genetische Informationen unterscheiden sich hier nicht von anderen Informationen, zumal ein genetischer Determinismus nicht festgestellt werden kann. Die häufig geäußerten Befürchtungen, genetische Informationen seien besondere Informationen, beruht hier eher auf der Neuheit dieser Technologie und den noch nicht eingespielten Kommunikationsprozessen zwischen Anbietern und Nachfragern auf Märkten für genetische Tests.67 Der damit verbundene Lernprozess kann staatlicherseits

________________ 62

Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft (2003), S. 35f.

63

Vgl. dazu Quante (1997), S. 209ff.

64

Vgl. Bundesärztekammer (2003), S. A-1297.

65

Vgl. Bayertz et al. (1999), Deutsche Forschungsgemeinschaft (2003).

66

Vgl. hierzu Lanzerath (2000).

67

Damit soll nicht unterstellt werden, dass genetische Informationen völlig ohne Unterschied zu anderen Informationen sind. Es wird hier lediglich ausgesagt, dass diese Unterschiede im Zuge sozialer Lernprozesse beherrschbar sind.

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allenfalls begleitet werden68, aber nicht komplett durch regulatorische Maßnahmen gesteuert werden. Auch in dieser – einer Regulierung eher skeptisch gegenüberstehenden – Argumentationslinie steht die Autonomie des Patienten bzw. des Bürgers im Zentrum. Hier soll der Patient ebenfalls durch einen verbesserten Informationsstand in die Lage zu rationalen Entscheidungen über die Inanspruchnahme von Gentests und die Weiterverwendung der auf diesem Wege erworbenen Informationen versetzt werden. Allerdings wird hier argumentiert, dass eine zwangsweise Erhöhung dieses Informationsstandes nicht notwendig ist. Es geht hier vielmehr darum, die Konsumentensouveränität in Bezug auf Gentests zu stärken, d.h. Anreize zur Informationsaufnahme zu schaffen, aber auch ergänzende staatliche Maßnahmen (z.B. Bildungskampagnen) durchzuführen.69 Gegenüber einem gesetzlich geregelten Arztvorbehalt hat dieser Ansatz den Vorteil, dass Paternalismus vermieden wird. Die Gefahr, dass die Autonomie des Patienten missachtet wird, besteht hier nur in geringem Ausmaße; die Verpflichtung des Arztes zum Schutz des Individuums wird nicht über dessen Recht auf Selbstbestimmung gesetzt. „Es gehört zu den Grundrechten eines erwachsenen, aufgeklärten und entscheidungsfähigen Menschen, ohne Bevormundung entscheiden zu können, ob, wann, und in welchem Umfang er für seine Person von genetischen Testverfahren Gebrauch macht“70. Das ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn man bedenkt, dass Gentests und die daraus entstehenden Informationen ihre positive Wirkung nur dann erfüllen können, wenn der Patient in der Lage ist, das daraus erwachsende präventive Potential zu nutzen. Das präventive Potential von Gentests zu nutzen erfordert häufig drastische Änderungen des Lebensstils. Die daraus sich möglicherweise ergebenden Konflikte zwischen den Präventionsnotwendigkeiten und individuellen Prioritäten kann der Arzt nicht an Stelle des Patienten lösen, sondern kann ihm hier allenfalls beratend zur Seite stehen.71 Vom Patienten verlangt dies mehr Gesundheitsmündigkeit, die allerdings nicht dadurch zustande kommt, dass er sich verpflichtend vom Arzt beraten lassen muss. Somit sprechen langfristige Überlegungen gegen einen Arztvorbehalt und eine Beschränkung auf medizinische Zwecke bei der Anwendung von Gentests. ________________ 68

Vgl. die Hinweise bei OECD (2000); Watson (1999). Vgl. aus einer Public–Health– Perspektive Brand (2002). 69

Vgl. zur Konsumentensouveränität grundsätzlich Heissel (2002).

70

Beckmann (2001), S. 279.

71

Vgl. Sass (1994), S. 344.

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Dem Bürger sollte ein offener Umgang mit dieser neuen Technologie ermöglicht werden. Unterstellt man die grundsätzliche Fähigkeit des Bürgers zu eigenverantwortlichem Handeln (mündiger Bürger), so ist davon auszugehen, dass Interessenten für Gentests von sich aus Informationen über mögliche Folgen solcher Tests suchen und sich hier an fachkundige Berater wenden. Genauso besteht seitens der Anbieter ein Interesse, darauf zu achten, genetische Information und genetische Beratung in sinnvoller Weise miteinander zu koppeln. Die einzige, aber auch unumgängliche staatliche Regelungspflicht besteht hier in der Herstellung der institutionellen Voraussetzungen für qualitativ hochwertige genetische Informationen. Ein solches Maßnahmenbündel, wie es oben aufgezeigt wurde, ist damit die ordnungspolitische Voraussetzung für eine Selbstorganisation der Informationsprozesse auf diesen Märkten. Aus institutionenökonomischer Sicht spricht allenfalls die oben angeführte Geschwindigkeitsfalle der Bioethik für die Einführung strikter Regulierungsmechanismen auf dem Markt für genetische Informationen.72 Demnach sind die Bürger durch die neuen gentechnischen Möglichkeiten zunächst moralisch überfordert; der Umgang mit den gentechnologischen Möglichkeiten soll sich erst einmal unter dem ‘Schutzmantel’ einer Regulierung entwickeln können. Damit sich langfristig aber nicht die restriktiven Effekte einer solchen Regelung durchsetzen, ist es in einem solchen Falle unumgänglich, die Regulierung von vorneherein als Übergangslösung – gegebenenfalls in kontext- oder testdifferenzierter Form73 – zu konzipieren, die nach absehbarer Zeit ausläuft. Eine längerfristige Regulierung der beschriebenen Art sollte es damit nicht geben. In der Beziehung von Testperson, Testanbieter und beratendem Arzt ist also eine Stärkung der Autonomie und Eigenverantwortung des Patienten notwendig. Autonomie heißt dabei zunächst auch, dass das betroffene Individuum entscheiden kann, von der Inanspruchnahme eines Tests abzusehen und für sich ein „Recht auf Nichtwissen“ seiner genetischen Struktur in Anspruch nehmen kann. In der Diskussion um die Autonomie des Individuums in Bezug auf Gentests wird aber häufig vorgebracht, dass es berechtigte Gründe gibt, dieses Recht auf Nichtwissen einzuschränken. Zum einen wird ein Widerspruch zwischen dem Recht auf Nichtwissen und dem Grundgedanken der Autonomie postuliert. Zum anderen gibt es am eigentlichen Gentest unbeteiligte Personen, die ein Interesse daran haben, die genetische Struktur der Testperson zu kennen. Es sind dies insbesondere Blutsverwandte, weitere Familienmitglieder, Organisationen des Gesundheitssystems, Versicherungen (vor allem Kranken- und Lebensversiche________________ 72

Vgl. zu diesem Argument Jakubowski (2001).

73

Vgl. Seel (2002).

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rungen) und der Arbeitgeber, die jeweils aus unterschiedlichen Gründen ein solches Interesse haben.74 Aus den Interessen dieser dritten Personen ergeben sich vor allem folgende Fragestellungen: Müssen Informationen, die über die Genstruktur einer Person ermittelt werden, automatisch an die genannten Interessierten weitergegeben werden? Müssen beispielsweise die Blutsverwandten automatisch informiert werden, möglicherweise schon im Vorfeld des Tests im Rahmen einer kollektiven informierten Zustimmung?75 Müssen institutionelle Schutzvorkehrungen getroffen werden, die dafür sorgen, dass die Blutsverwandten in keinem Fall informiert werden, wenn diese wiederum von ihrem Recht auf Nichtwissen Gebrauch machen möchten?76 Kann der Einzelne gegebenenfalls sogar verpflichtet werden, seine Genstruktur testen zu lassen, weil dies gesellschaftliche Ansprüche an ihn erforderlich machen? Beispiele für letzteres wären die Abwendung von Schaden von seiner Familie oder die Möglichkeit, die notwendigen Basisinformationen zum Betreiben von Prävention zu erwerben.77 Ohne dieses stark umstrittene Problem hier einer Lösung zuführen zu wollen, lässt sich doch Folgendes aussagen: Das Recht auf Nichtwissen wird häufig im Widerspruch zur Autonomie des Individuums gesehen. Da Autonomie rationales Handeln auf Basis eines hohen Informationstandes impliziere, sei im Zustand des Nichtwissens autonomes Entscheiden gar nicht möglich.78 Tatsächlich aber wird hier ein nicht erreichbares Ideal von Autonomie unterstellt, bei dem perfekt informierte Menschen höchst rational über ihre eigenen Angelegenheiten entscheiden. Ein solcher Zustand ist allerdings nicht erreichbar79, so dass ein Widerspruch zwischen Autonomie und Recht auf Nichtwissen nicht feststellbar ist. Ein Individuum kann also in Wahrung seiner Autonomie die Inanspruchnahme eines Gentests ablehnen und damit den Zustand des Nichtwissens seiner genetischen Struktur dem Zustand des Wissens vorziehen. Damit ist es auch nicht zwingend notwendig, Informationen, die aus Gentests entstehen, automatisch und ohne deren Einwilligung an möglicherweise betroffene Blutsverwandte weiterzugeben. Auch deren Entscheidungsautonomie muss gemäß dem Primat der individuellen Freiheit gewahrt bleiben. ________________ 74

Vgl. Chadwick (1997), S. 1.

75

Vgl. hier zum Beispiel Brustkrebs die Ausführungen bei Surbone (2001).

76

Vgl. Quante (1997), S. 222.

77

Vgl. zu diesem Problemfeld Quante (1997), Chadwick (1997).

78

Vgl. die Hinweise bei Quante (1997), S. 220f.

79

Vgl. Oberender (2001).

Regulierungsnotwendigkeiten bei Gentests

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Diese prinzipielle Vereinbarkeit von Autonomie, individueller Handlungsfreiheit und einem Recht auf Nichtwissen sagt aber noch nichts darüber aus, ob dieses Recht auf Nichtwissen absolut zu setzen ist. Auch andere Handlungsrechte relativieren sich im gesellschaftlichen Kontext; dadurch dass der Einzelne in eine Gesellschaft eingebunden ist, können Rechte nie absolut gesehen werden, sondern finden ihre Grenzen in Handlungsrechten anderer. Sind also im Falle von Gentests Konstellationen denkbar, die solche Einschränkungen rechtfertigen können? In der Literatur wird hier gelegentlich mit den Ansprüchen der Gemeinschaft an den Einzelnen argumentiert, beispielsweise dahingehend, dass eine durch die Inanspruchnahme des Rechts auf Nichtwissen verursachte Weitergabe von Erbkrankheiten zu einer Belastung für die Gesellschaft werden kann, insbesondere dann, wenn Gesundheitsleistungen solidarisch finanziert werden. In einem solchen Fall sei das Individuum in der Pflicht, sich über seine Genstruktur zu informieren und danach seine Familienplanung auszurichten.80 Bei derartigen Forderungen handelt es sich im Kern um eine gesellschaftliche Werteverschiebung von einem am freien, selbstbestimmten Individuum orientierten Gesellschaftsmodell hin zu einem eher kommunitaristischen, am sozialen Wohl orientierten Modell.81 Im genannten Beispiel würde dieses anonyme soziale Wohl in einem solidarisch finanzierten Gesundheitswesen bestehen. Durch das Vorhandensein humangenetischer Diagnostik könnte der Bestand dieses Systems gefährdet sein. Daher, so die Argumentation weiter, ist auch ein Zwang zu Gentests gerechtfertigt, um dieses System aufrecht zu erhalten. Diese Debatte zeigt ähnliche Züge wie die Debatte, ob denn Prävention in einem solidarischen Gesundheitswesen zur Pflicht gemacht werden sollte. Auch hier ist aber einzuwenden, dass eine Orientierung am anonymen Gesamtwohl aus ordnungspolitischer Sicht höchst bedenklich ist, insbesondere dann, wenn sich diese Sichtweise an einem normativen Individualismus orientiert. Dann ist es gar nicht gesagt, ob die Individuen eine Gesellschaft, in der Solidarität durch Zwangsgentests gesichert wird, einer Gesellschaft, in der Solidarität in der aktuell vorliegenden Form zwar gefährdet ist, aber auf zwangsweise Gentests verzichtet wird, vorziehen. Bei einer liberalen Grundausrichtung, die Begriffen wie dem anonymen sozialen Wohl eher skeptisch gegenüber steht, spricht hier vieles eher dafür, den Begriff der Solidarität unter weitgehender Beibehaltung der Autonomie des Einzelnen neu zu justieren. Wie bereits ausgeführt, darf aber das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen dennoch nicht absolut angesehen werden. Es gibt durchaus Fälle, in ________________ 80

Vgl. die Hinweise bei Chadwick (1997), S. 7.

81

Vgl. Quante (1997), S. 217.

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denen es sinnvoll ist, vom Einzelnen einen genetischen Test zu verlangen, beispielsweise wenn es um den Abschluss eines Arbeitsvertrages geht.82 Der entscheidende Unterschied zum zwangsweisen genetischen Test auf Grundlage des sozialen Wohls liegt aber in der Tatsache, dass hier immer noch die Wahlfreiheit des Einzelnen gewährleistet bleibt.

E. Fazit Prädiktive Gendiagnostik spielt derzeit zwar eine untergeordnete Rolle, dürfte aber in Zukunft an Bedeutung zunehmen. Angesichts dieser Entwicklung stellen sich Fragen nach der Regulierung des Angebots, der Inanspruchnahme und Verwendung von Gentests. Hier wurde vor allem die direkte Inanspruchnahme von Gentests als regelungsbedürftige Austauschbeziehung thematisiert. Die Forderung nach einem generellen Arztvorbehalt, die die Entscheidung über die Inanspruchnahme solcher Tests dem Einzelnen entzieht und dem Arzt sowie dem ihn steuernden Regulierungssystem übergibt, wird hier als nicht sinnvoll erachtet. Angesichts der Neuheit genetischer Informationen kommt es vielmehr gerade darauf an, gesellschaftliche Lernprozesse ablaufen zu lassen, die eine Anpassung an die neuen technologischen Möglichkeiten zulassen. Eine strikte Regulierung kann dies nicht leisten. Voraussetzung eines solchen Ansatzes ist aber eine Sicherung der Qualität genetischer Informationen. Gleichzeitig muss über ein Recht auf Nichtwissen die Freiheit des Einzelnen, auf Informationen über seine Genstruktur zu verzichten, gewährleistet bleiben.

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________________ 82

Vgl. Bernat (2002), S. 199.

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Rationierung von Gesundheitsleistungen aus Altersgründen? Perspektiven theologischer Ethik unter Berücksichtigung intergenerationeller Gerechtigkeit1 Peter Dabrock Der Sozialstaat im Allgemeinen und das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem im Besonderen geraten unter immer stärkeren Legitimationszwang. Für diese Entwicklung lassen sich strukturelle Ursachen (bspw. Globalisierung, demografische Entwicklung), aber auch semantische Gründe (bspw. eine um sich greifende Individualisierungskultur) angeben. Im Sommer 2003 erregten die medial in Szene gesetzten Vorschläge des Bochumer katholischen Sozialethikers Joachim Wiemeyer, des Konstanzer Ökonomen Friedrich Breyer und des JU-Vorsitzenden Philipp Mißfelder die Gemüter.2 Die sich anschließende breite Debatte, die mit Schlagworten wie ‘Eklat’ und ‘Tabubruch’ geführt wurde, könnte in ihren Übertreibungen wie Einseitigkeiten als Paradebeispiel für eine medienethische Metaanalyse dienen. Wie es sich auch immer verhielt, das Thema ‘Altersrationierung’ war auf der Agenda. Ziel der folgenden Ausführungen ist es jedoch nicht, die genannte mediale Debatte mit ihren Irrungen und Wirrungen darzustellen, sondern die drängende Frage selbst in den Mittelpunkt zu stellen, ob fortgeschrittenes Alter ein oder das Kriterium für die Rationierung von Gesundheitsleistungen sein kann. Weil die Frage nach möglicher Altersrationierung zugleich die Solidarität der Generationen auf den Prüfstein ________________ 1

Die folgenden Ausführungen wurden erstmalig vorgetragen beim Hochschulforum „Nachhaltige Entwicklung: Konstruierte Generation? Bildung für eine Gesellschaft der Generationengerechtigkeit“, veranstaltet von der Evangelischen Landeskirche Württemberg am 26.01.2002 in Stuttgart. 2

Einen guten Überblick über die Debatte zur umstrittenen Report-Sendung und der sich anschließenden Diskussion bietet eine vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung herausgegebene Broschüre; vgl. http://www.bmgs.bund.de/download/broschueren/A317.pdf (23.10.2003); zu den Äußerungen von Mißfelder möge man unter google.de dessen Namen sowie das zum Symbol der Debatte geronnene ‘Hüftgelenk’ eingeben. Man erhält (Tag der Recherche: 23.10.2003) allein 721 Eintragungen. Zu umfassenderen thematischen Darlegungen der beiden im Zentrum der Debatte und Kritik stehenden Wissenschaftler vgl. Breyer (2002); Wiemeyer (2002); eine leicht zugänglichen Übersicht über die in der Debatte vorgetragenen Argumente bietet jetzt Marckmann (2003).

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stellt, werden beide Komplexe: ‘Altersrationierung’ und ‘Generationengerechtigkeit’ in ihrer wechselseitigen Bedeutung verhandelt. Dabei wähle ich folgendes Vorgehen: Der systematische Einstieg erfolgt über eine Interpretation des Gebotes „Du sollst Vater und Mutter ehren“. Das biblische Elterngebot steht wie ein semantischer Pfeiler im Strom, der das tradierte Konzept des Generationsvertrages symbolisiert. Anschließend gehe ich auf die empirische bzw. konstruierte Ausgangssituation des demografischen Wandels ein, um dann Theorien vorzustellen, die von dieser Situationsbeschreibung her einen Generationenkonflikt wahrnehmen. Diesen meinen sie nur so lösen zu können, dass sie mehr oder weniger der älteren Generation aus moralischen Gründen medizinische Leistungen vorenthalten möchten. Demgegenüber möchte ich zum Zwecke einer fairen Verhältnisbestimmung der Generationen im Gesundheitswesen ein übergeordnetes Kriterium vorlegen, das dennoch alters- und generationsgemäße Differenzierungen zulässt.

A. Die Aktualität des alttestamentlichen Elterngebotes Gerade das Elterngebot wurde immer wieder genutzt, um familiär, aber auch gesellschaftlich eingespielte Hierarchien gegenüber den Jüngeren oder den in der Hierarchie unten Stehenden zu legitimieren. Beredtes Zeugnis für diese Deutung sind Luthers Katechismen, in denen der Reformator vom Elterngebot ausgehend den Gehorsam gegenüber „weltlicher Obrigkeit“3 ableitet. Wenn sich auch andere Elemente, wie die Forderung wechselseitiger Verantwortung der Generationen4 bei Luther wiederfinden, so war – auch keineswegs überraschend – die breite Rezeptionsgeschichte der Katechismusauslegung von dieser Autoritätsprätention der familiären und gesellschaftlichen Hierarchien her geprägt. Blickt man – und da kann man dankbar sein, dass wir die historisch-kritische Exegese haben – jedoch auf die ursprüngliche Intention des Gebotes zurück, so entdeckt man auch und gerade für das aktuelle Thema, nämlich der Konstruktion von Generationalität, hochinteressante Weichenstellungen. Zunächst geht es im Dekalog5 im Allgemeinen und im Elterngebot im Besonderen6 nicht um ein ________________ 3

Der Autoritätsanspruch der weltlichen Obrigkeit ist umfassend zu denken; vgl. Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (1992), S. 598f.: „Desgleichen ist auch zu reden von Gehorsam weltlicher Obrigkeit, welche (...) alle in den Vaterstand gehöret und am allerweitesten um sich greifet.“ 4 Nach umfangreichen Darlegungen über die Pflichten der Kinder bzw. der Untertanen beschließt Luther seine Ausführungen zum 4. Gebot mit solchen zur Verantwortung des Eltern- und Obrigkeitsamtes selbst (vgl. ebd., S. 603-605). 5

Vgl. zum ersten Überblick Schmidt (1993); Crüsemann (1993).

6

Noch immer maßgeblich Albertz (1978).

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„Weltethos“, eine Naturrechtssammlung oder „der Juden Sachsenspiegel“ – wie ihn Luther in diesem Sinne nannte –, also nicht um eine von Alter, Position, Geschlecht und Vermögen unabhängige Universalmoral. Vielmehr richteten sich die Zehn Gebote an die landbesitzenden und -bearbeitenden, rechtsfähigen, männlichen Israeliten. Ihnen trägt der Dekalog die Art und Weise vor, wie das Leben in der Gemeinschaft gemeinschaftsfördernd zu gestalten ist. Dabei schreibt er nicht nur erfahrungsgesättigt Rechte und Pflichten vor, sondern – und das ist in den konservativen Interpretationen meistens übersehen worden – bindet die Gebote Gottes an die Selbstvorstellung Gottes.7 Sowohl nach der Überlieferung des Buches der Befreiung, also des Exodus, als auch nach der Tradition des Buches der Gesetze, also des Deuteronomium, offenbart sich JHWH als Schenker der Freiheit: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“ (Ex 20,2; vgl. Dtn 5,6). Zu Recht hat man daher den Sinn des zweifach übermittelten Dekaloges in die Formel „Bewahrung der Freiheit“8 – und zwar der geschenkten und der kommunikativen Freiheit9 – gefasst. So wie Gott das Leben und die Freiheit aus Ägypten geschenkt hat, so soll mit dieser geschenkten Freiheit verantwortlich umgegangen und sie im Leben mit den Hausgenossen und Stammesgenossen bewährt und an die nächsten Generationen weitergegeben werden. Bei dieser Grundanweisung, gemeinschaftliches Leben als Bewahrung der Freiheit zu verstehen und zu gestalten, kommt dem Elterngebot eine zentrale Bedeutung zu. Das ist durch zwei Indizien erkennbar. Zum einen eröffnet das Elterngebot und nicht – wie unsereins denken könnte – das vielen von uns heute wahrscheinlich noch elementarer erscheinende Tötungsverbot10 die Tafel der Sozialgebote11. Zum anderen ist das Elterngebot mit dem letzten Gebot der theologischen Tafel, also dem ihm direkt vorangehenden ________________ 7

Die Sonderstellung des Dekalogs wird auch dadurch noch untermauert, dass er als einzige Gebotssammlung als direkte Rede Gottes zum Volk, die also nicht durch die Institution Mose vermittelt ist, vorgestellt wird (vgl. Ex 20,1). 8

Crüsemann (1993).

9

Vgl. Theunissen (1980), S. 46: „Kommunikative Freiheit bedeutet, daß der eine dem anderen nicht als Grenze, sondern als Bedingung der Möglichkeit seiner eigenen Selbstverwirklichung erfährt.“ 10

Welche Bedeutung das Tötungsverbot gegenwärtig besitzt, zeigt die (trotz des Negativbeispiels USA) zunehmende Ächtung der Todesstrafe oder der Umstand, dass der berühmte jüdische Philosoph Emmanuel Levinas seine gesamte Philosophie der Anerkennung des anderen auf das Tötungsgebot gründet; vgl. Levinas (1992), S. 18-20. 11

Traditionell werden die Zehn Gebote in die erste Tafel der theologischen Gebote und die zweite Tafel der Sozialgebote unterteilt.

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Sabbatgebot, das einzig positiv formulierte Gebot. Diese Verknüpfung wiederum symbolisiert nicht nur allgemein die Zusammengehörigkeit von theologischen und sozialethischen Geboten, sondern räumt dabei dem Elterngebot in der Gestaltung des Zusammenlebens die zentrale Rolle ein. Warum? Wendet sich – wie erwähnt – der Dekalog ausschließlich an Erwachsene, ist unter dem im 4. Gebot angesprochen Kern des Zusammenlebens, also dem Kern kommunikativer Freiheit, nicht die Elternautorität gegenüber minderjährigen, möglicherweise ungehorsamen, aber zum Gehorsam zu erziehenden Kindern gemeint; sondern unter Berücksichtigung der genannten Adressatengruppe, also der erwachsenen Israeliten, kann es nur darum gehen – und das bestätigen alle exegetischen Untersuchungen –, dass die gesellschaftlichen Verantwortungsträger der älteren Generation auch nach ihrem Ausscheiden aus dem aktiven Arbeitsleben ein nachhaltig gesichertes Existenzrecht gewähren (sollen). Machen wir uns nichts vor: Das Alte Testament gibt an vielen Stellen beredt Kunde davon: Wo ein Gebot so nachdrücklich nachgerade eingetrichtert werden muss, da scheint eine solche zentrale und beständige Ermahnung (immerhin wird kein Gebot in der Bibel so häufig eingefordert wie das Elterngebot) seine lebenspraktische Relevanz und Dringlichkeit besessen zu haben. Offensichtlich gab es hochproblematischen Umgang mit den alten Eltern: Schlagen (vgl. Ex 21,15), Fluchen (Ex 21,17), Verachten (Ez 22,7), Verspotten (Prov 30,17), Berauben (Prov 28,24), Unterdrücken (Prov 19,26), Vertreiben (Prov 19,26) – das sind betrübliche Zeugnisse im Umgang mit der älteren Generation, denen sich das für die Bewahrung, d.h. also auch die Weitergabe der Freiheit zentrale Elterngebot entgegenzustellen sucht.12 Entgegen solchen Missständen meint gemäß dem Alttestamentler Rainer Albertz das Elterngebot „konkret die angemessene Versorgung der alten Eltern mit Nahrung, Kleidung und Wohnung bis zu ihrem Tod, darüber hinaus einen respektvollen Umgang und eine würdige Behandlung, die trotz der Abnahme ihrer Lebenskraft ihrer Stellung als Eltern entspricht. Dazu gehört schließlich eine würdige Beerdigung.“13 Trifft diese Exegese zu, dann führt uns das Elterngebot in seiner ursprünglichen Bedeutung nahe an das Thema der Generationenkonstruktion. Wie im Alten Testament entdeckt man auch in der Frage der Verteilung von Sozialleistungen im Allgemeinen und von Gesundheitsleistungen im Besonderen eine duale Generationalitätskonstruktion, in der sich gesellschaftliches Konfliktpotential überhaupt widerspiegelt. Nicht das Zusammenleben dreier oder gar von vier Generationen wird thematisiert, sondern dichotomisierend ist hier ________________ 12

Vgl. Crüsemann (1993), S. 60.

13

Albertz (1978), S. 374.

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von den Älteren und dort von den Jüngeren die Rede. Noch schärfer formuliert heißt dies, dass es beim alttestamentlichen Elterngebot und, wie ich zeigen möchte, auch in unserem Sozial- bzw. Gesundheitswesen um den Konflikt zwischen der mittleren Generation – d.h. in diesem Fall der der ca. 20 - 50-Jährigen oder nach anderen Prognosen der 30 - 60-Jährigen – und der älteren Generation geht. In aktuellen Debatten um sozialstaatliche Generationengerechtigkeit, aber auch im alttestamentlichen Elterngebot ist als primäre Adressatengruppe, die zur Handlung aufgefordert wird, die so genannte „Sandwich-Generation“, also die zwischen Kindheit und Alter befindliche, angesprochen. Das Selbstverständnis ihrer Solidarität nicht gegenüber ihren Kindern qua Bildung, sondern ihrer Solidarität qua Versorgung gegenüber ihrer Elterngeneration ist das eigentliche Thema der derzeitigen sozialstaatlichen Debatte über intergenerationelle Gerechtigkeit. Auf den Punkt gebracht: Für die heutigen Kinder werden die sozialen Sicherungssysteme jedenfalls (höchst wahrscheinlich) so auf Kapitaldeckung umgestellt sein, dass der Nachhaltigkeitsgrundsatz auf alle Fälle nicht mehr derartig wie gegenwärtig verletzt sein wird. Für die derzeit in ihrem letzten Lebensdrittel Stehenden werden die vorzunehmenden Einschnitte politisch nicht dermaßen zügig umgesetzt werden können, dass dies für sie noch gravierend existentielle Konsequenzen zeitigen wird. Betroffen ist also die Generation der 20 - 50- oder je nach politischem Reformeifer auch die der 30 - 60-Jährigen. Dass Generationengerechtigkeit das existentielle Thema der mittleren Generation ist, zeigt ein weiterer Blick auf den Dekalog, von dem ich dann in unsere Gegenwartskonstruktionen überleiten möchte. Ein anderer Alttestamentler, nämlich Frank Crüsemann, formuliert das von Rainer Albertz zum Sinn des Elterngebotes Festgehaltene noch einmal grundsätzlicher, indem er schreibt: „Das Gebot regelt also die Weitergabe der Freiheit durch die Kette der Generationen an ihrem schwächsten Glied“14. Crüsemann bindet also das Einzelgebot zurück an die Gesamtintention des Dekaloges, nämlich die weitergebende Bewahrung der geschenkten und kommunikativen Freiheit. Von dieser grundsätzlichen Gebotsrichtung her wird das Einzelgebot eigentlich erst fundiert. Dadurch könnte aber sein Sinn nicht unbedingt in sein Gegenteil, aber doch in eine andere Richtung, als es der ursprüngliche Wortlaut vermuten lässt, verändert werden. Wenn die Bewahrung der Freiheit sich nach Crüsemann, und da dürfte er Recht haben, an einer vorrangigen Option für Benachteiligte, Schwächere oder solche, die in der Gefahr stehen, ins Abseits oder in existentielle Not zu geraten, auszurichten ist, könnte diese Interpretation bedeuten, dass nicht die ältere, sondern die mittlere Generation das schwächste Glied in der Generationenkette darstellt. So jedenfalls wird es ________________ 14

Crüsemann (1993), S. 62 (Hervorhebung P.D.).

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von ihr bisweilen gemutmaßt.15 Sie sieht sich in der Klemme zwischen der wohl wieder versorgten Kindergeneration und der wohl noch hinreichend versorgten Generation der Älteren. Freiheit – das heißt offensichtlich hier: soziale Sicherheit – und Lebensgrundlagen gewähren kann nur der, der selbst frei ist. Deshalb kann das Elterngebot möglicherweise vom Grundgebot des Dekaloges, dem Imperativ der Bewahrung der Freiheit, in der Situation einer demografischen Krise relativiert werden. Diese angedeutete Befürchtung, dass die Älteren das Finanz- und Humankapital der jetzigen mittleren Generation gefährden könnten, speist sich aus dem sattsam bekannten Umstand der demografischen Veränderung.

B. Die Ausgangslage des demografischen Wandels Als dramatische Herausforderung für den Sozialstaat im Allgemeinen und das Gesundheitssystem im Besonderen wird immer wieder die demographische Entwicklung erwähnt, die der Philosoph Wolfgang Kersting etwas übertrieben, aber sprachlich einprägsam als „Metamorphose einer Pyramide in einen Pilz“16 beschrieben hat. Besondere Dramatik erlangt dieser Wandel durch seine Intensität, die gerne durch das Schlagwort vom „dreifachen Altern“17 charakterisiert wird. Darunter versteht man, dass in Deutschland noch stärker als in anderen OECD-Staaten nicht nur ƒ

die Anzahl der älteren Menschen absolut zunimmt, sondern

ƒ

im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung auch der Anteil der älteren Menschen wächst, und

ƒ

insbesondere die Zahl der Hochbetagten, d.h. der über 75-Jährigen, steigt.

In solchen normativ geprägten Beschreibungen wird das eben auf die Dualität von Jungen und Alten reduzierte Generationenverhältnis nochmals geradezu monozentrisch, wenn nicht gar monoman in das Bild einer „alten Gesellschaft“ verdichtet. Also: aus der Frage: „Wie ist das Verhältnis der Generation?“ wird das Bild einer alle belastenden Generation. Und wie so oft transportiert eine solche Situationsbeschreibung zudem eine implizite Handlungsnorm: Weil man in der Veralterung der Gesellschaft, im „greying“, eine der Hauptursachen, wenn nicht gar die Hauptursache für den Kostenanstieg im Gesundheitswesen diagnostiziert, muss man etwas gegen diese spezielle Last tun, die wiederum den Generationenkonflikt heraufbeschwört.

________________ 15

Vgl. Lakotta (1999).

16

Kersting (2000), S. 13.

17

Ritter/Hohmeier (1999), S. 22f.

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C. Forderungen nach Therapieverzicht für die ältere Generation Interessant ist für mich als Ethiker zu beobachten, wie gegenwärtige Ethikansätze, die sich mit Gerechtigkeit im Gesundheitswesen befassen, auf die als Bedrohung wahrgenommener Nachhaltigkeitsgefährdung und einen daraus prognostizierbaren Generationenkonflikt reagieren. Wie konstruieren sie das Moment ‘Alter’ und wie damit das Verhältnis der Generationen unter den Bedingungen knapper sozialer Güter? Spannend zu beobachten sind manche vorgetragenen Konzeptionen vor allem deshalb, weil sie zwar in der Regel auf Handlungs- und Entscheidungsdruck reagieren, also – wie man so schön sagt – kontextuell entworfen worden sind, aber doch immer mit dem Anspruch auftreten, überempirische, das heißt nichts anderes als: vernünftige oder scheinbar vernünftige Gründe anzuführen, die auch unabhängig von dieser akuten Krisenund Knappheitssituation gelten müssten. Deshalb gilt die Aufmerksamkeit der nun folgenden Ausführungen einigen einflussreichen Positionen, für die angesichts des Problems der Verteilung knapper Güter der mögliche Generationenkonflikt so „gelöst“ wird, dass direkt oder indirekt der älteren Generation einfach qua ihres Altseins ein Verzicht medizinischer Leistungen nahe gelegt oder aufgebürdet wird.

I. Entscheidungskriterien bei der Verteilung als knapp erachteter Güter In einem Verteilungssystem, das knappe oder zumindest als knapp erachtete18 Güter, die zudem als gemeinschaftsrelevant eingestuft werden, zu verteilen hat, gelten gemeinhin einerseits Gerechtigkeit und Solidarität, andererseits Effizienz und Nutzen als die maßgeblichen (semantischen) Entscheidungskriterien. Ohne näher auf die Bedeutungen (Semantiken) der einzelnen Begriffe einzugehen19, kann man über ihr Verhältnis sicher festhalten: Angesichts knapper ________________ 18

Knappheit ist nicht einfach ein natürliches Faktum und damit schicksalsmäßig zu ertragen, sondern immer auch sozial konstruiert (vgl. Seedhouse 1998, S. 143, 145; Jähnichen 1999) und damit (prinzipiell) gestaltbar; dies kann aber sicher nicht leicht geschehen, weil sich hinter der sozialen Konstruktion von Knappheit immer auch gesellschaftliche Präferenzen verbergen, deren Veränderung einer nicht geringen Trägheit unterworfen ist. 19

Während ‘Gerechtigkeit’ und ‘Solidarität’ Pflichtmaßen formulieren, sind ‘Effizienz’ und ‘Nutzen’ auf Folgen und Konsequenzen achtende Verhaltensregeln. Gerechtigkeit und Solidarität unterscheiden sich darin, dass erstere eine universal gültige Forderung erhebt, während Solidarität nur für eine Gruppe gilt – das solidarisch finan-

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Ressourcen darf man nicht so tun, als ob ‘Gerechtigkeit’ und ‘Effizienz’ einander ausschließende Entscheidungskriterien wären. Im Gegenteil: Angesichts knapper Ressourcen ist möglichst hohe Effizienz eine Gerechtigkeitsforderung. Anders formuliert: Ressourcenverschwendung ist angesichts knapper Mittel moralisch verwerflich. Aber dennoch gibt es die berühmten Konfliktfälle in denen die Leitkriterien Gerechtigkeit und Effizienz offensichtlich nicht zu versöhnen sind. Darunter scheint auch die Frage zu fallen, ob man im Verhältnis der Generationen einfach den Faktor Alter als ein Rationierungskriterium bestimmen kann oder nicht.

II. Nutzentheorien Auf die Nutzentheorien gehe ich nicht näher ein20, weil sie nur ein Instrumentarium sind, knappe Ressourcen möglichst effizient zu verteilen. Indem sie helfen, Therapieeffekte und/oder Kosten konkurrierender Methoden oder Medikamente zu testen, vermeiden sie Über-, Unter- und Fehlversorgung. Diesem Anliegen ist nicht zu widersprechen. Prekär werden die Modelle für die Generation der Älteren dennoch, weil in ihnen der Outcome einer medizinischen Maßnahme in Lebensjahren berechnet wird, sei es, dass dies, was eigentlich nicht mehr vorkommt, rein quantitativ, sei es, was die Regel ist, qualitätsbereinigt durchgeführt wird. Denn mit zunehmendem Alter sinkt die Lebenserwartung und damit zwangsläufig der Grenznutzen einer medizinischen Intervention. Man kann also festhalten: Eher indirekt als direkt, aber doch mit ziemlicher Sicherheit geraten Ältere in die Mühlen solcher präferentiell am Nutzen orientierten Verteilungsmodelle von Gesundheitsleistungen.

III. Gerechtigkeitstheorien Spannender und provozierender ist jedoch der Gedanke einiger gerechtigkeitstheoretischer Ansätze, die direkt, ohne Umschweife und zum Teil radikal einen Therapieverzicht der Generation der Älteren aus dezidiert moralischen Gründen befürworten. Wie argumentieren diese Ansätze, die – auch das ist bemerkenswert – eben nicht aus der in Deutschland verpönten utilitaristischen, ________________ zierte Gesundheitssystem beschränkt sich auf die Gemeinschaft der Deutschen (und da auch noch nicht mal aller). Wo Gerechtigkeit und Solidarität als Verteilungsregeln fungieren, da gilt der bekannte Grundsatz „jedem das Seine“, wobei sehr unklar ist, was das in concreto bedeutet; vgl. Elster (1992); Dabrock (2001), S. 48-50. 20

Vgl. zum ersten Überblick Breyer/Zweifel (1999), S. 20-24.

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also am Nutzen orientierten Sichtweise sprechen21, sondern die gerechtigkeitstheoretisch vorgehen? In der Literatur habe ich drei unterschiedliche Begründungsstrategien gefunden, die zu einem derartigen, für viele vielleicht irritierenden Ergebnis kommen: 1. Tugendethischer Ansatz Aus dem Repertoire der tugendethisch ausgerichteten Bewegung des Kommunitarismus22 plädiert der Amerikanische Bioethiker Daniel Callahan – inzwischen einer der wichtigsten bioethischen Berater von Präsident Bush – für eine Limitation von Gesundheitsleistungen gegenüber der älteren Generation.23 Den Hintergrund für diesen Vorschlag bildet sein Plädoyer für eine – wie er es bezeichnet – nachhaltige Medizin:24 Unter diesem Label subsumiert er a) die Diagnose, dass wir uns den technologischen Fortschritt so nicht mehr leisten können, b) die Prognose, dass es bessere Wege im Umgang mit Krankheit und Tod gibt als die pathogenetisch orientierte Medizin unserer Tage, und c) das Therapeutikum, dass wir das Gemeinwohl am ehesten steigern, wenn wir nicht rein individualistisch denken. Allen drei Voraussetzungen liegt wiederum der Gedanke zu Grunde, dass der Mensch seine Endlichkeit akzeptieren solle. Obwohl sich Callahan dafür ausspricht, explizit eine Schwelle festzulegen, ab der keine (insbesondere technologisch aufwendigen und teuren) lebenserhaltenden Maßnahmen mehr an ältere Menschen zugeteilt werden sollen, will er auf jeden Fall palliative, ja sogar lang andauernde Pflege bezahlen.25 Seine Konstruktion der Rolle der älteren Generation und des Verhaltens der Jüngeren ihr gegenüber ist offensichtlich: Altersrationierung stellt für ihn also eine Art moralische Aufrüstung dar, sich mit dem unvermeintlichen „Sein zum Tode“ ________________ 21

Von verzerrenden, teilweise karikierenden (auch und gerade theologischen) Pauschaldarstellungen des Utilitarismus hebt sich wohltuend ab v. Soosten (2001). 22

Gegen einen politischen Liberalismus, der angesichts weltanschaulicher Pluralität die (Begründung der) Rolle des Staates auf die Gewährung negativer Freiheit oder auf das Gerechte beschränkt, klagt der Kommunitarismus die Werte-, Traditions- und Gemeinschaftsgebundenheit (der Begründung) des Zusammenlebens, kurzum: die Besinnung auf das Gute, ein; vgl. zum Überblick Reese-Schäfer (1997). 23

Vgl. bes. Callahan (1987); ebd. (1988).

24

Vgl. ebd. (2000), S. 262.

25

Dass den Autor offensichtlich selbst die Courage verlässt, die Konsequenzen seiner eigenen Position zu bedenken, zeigt, wenn er als Ausnahme der strengen Altersrationierung den Fall des „physically vigorous elderly person“ (Callahan 1987, S. 184) in Erwägung zieht. An diesem Fall wird die Schwäche einer mangelnden Prinzipienreflexion deutlich, wie Dan Brock bereits zu Recht kritisiert hat (Brock 1989, S. 311).

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auseinander zu setzen. Sie konfrontiert jeden zwangläufig und existentiell mit der eigenen Endlichkeit. Nicht aus ökonomischen oder nutzentheoretischen Gründen, nicht aus der sozialethischen Rechenschaft gegenüber sozialer Gerechtigkeit, sondern aus der alten Traditionslinie, Gerechtigkeit als individuelle Tugend zu begreifen, plädiert er für diese Behandlungsunterlassung. In einer pluralistischen Gesellschaft kann man zwar für eine solch starke moralische Sicht werben – selbstverständlich kann man an das „memento mori“ jedes Einzelnen der älteren Generation und an seine Bescheidenheit appellieren, aber man kann diesen moralischen Perfektionismus, der im Übrigen – das sei nicht vergessen – aus einem elitären Lebensmilieu stammt und sich als notwendige Bedingung für den Versuch der Tugendrealisierung erweist, nicht anderen aufzwingen. Denn Zwang, zumal im Blick auf eine solch existentielle Situation, in der sogar lebenserhaltende Maßnahmen vorenthalten würden –, ist auch im Sinne einer politischen Ethik, die die Freiheit an der Freiheit des anderen bemisst, nicht akzeptabel. 2. Das Modell rationaler Klugheitswahl Eine zweite Argumentationsstrategie, von der Gerechtigkeit als handlungsorientierender Norm her eine Rationierung von medizinischen Leistungen gegenüber der älteren Generation zu begründen, verfährt über das besonders in den Philosophien des politischen Liberalismus beliebte Konstrukt des Urzustandes. Nach diesem natürlich nicht real möglichen, sondern nur als (rekonstruktives) Gedankenexperiment inszenierten Konstrukt überlegen sich rein rational und an Eigennutz orientierte Individuen, wie sie unter einem Schleier des Nichtwissens26 knappe Ressourcen im Gesundheitswesen verteilen würden. Nach Norman Daniels würden sich diese Individuen, die nur eine begrenzte Menge von Ressourcen für sich besitzen, so entscheiden, dass sie sie eher für eine Behandlung in jüngeren Jahren nutzen würden statt für Behandlungen im Alter. Denn die entscheidenden Lebenspläne, die das Leben lebenswert machten, – so Daniels – würden in den früheren und mittleren Jahren verfolgt und

________________ 26

Das vor allem durch John Rawls popularisierte Modell des Schleiers des Nichtwissens (vgl. Rawls 1975, S. 159-166) besagt, dass in einem so genannten Urzustand („original position“) die rationalen Akteure zwar medizinische, ökonomische, psychologische etc. Grundkenntnisse haben, aber keineswegs ihre eigene monetäre, aber auch gesundheitliche Position im Realleben kennen. Wie würden sie sich also in einer solchen (künstlichen, aber unparteilichen) Situation entscheiden, die von ihren Erfindern wegen der Abblendung individueller Präferenzen als universalisierbar und somit verfahrensgerecht und das heißt als fair eingestuft wird?

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verwirklicht.27 Wenn sich dieser Gedanke aber, und diesen Anspruch erhebt ja das Gedankenexperiment des Urzustandes, universalisieren lässt, dann kann man die intrapersonale Klugheitserwägung in eine interpersonelle Gerechtigkeitsforderung umwandeln. Anders formuliert: in der intrapersonalen Klugheitsabwägung28 spiegelt sich eine gerechte Gesundheitsversorgung wider, d.h. sie reformuliert die intergenerationelle Gerechtigkeit, also die Gerechtigkeit zwischen den Generationen. In einem Prinzipiensatz lässt sich Daniels Klugheitswahlansatz wie folgt ausdrücken: „jeder hat ein Recht auf die faire Chance einer normalen Lebensspanne, aber nachdem man sie erreicht hat, besteht gerechterweise kein Anspruch mehr auf lebenserhaltende Maßnahmen“. Wegen dieser klugheitstheoretischen Begründungsstrategie und der Abzweckung auf eine begrenzte Gesundheitsversorgung, hat die Konzeption den Titel „prudential life span account“ erhalten. Abgesehen von der Diskrepanz zwischen hohem intellektuellen Aufwand und geringer Operationabilität29 ist auch noch das Ergebnis keineswegs überzeugend. Nach D. Brock würde selbst der an Eigennutz orientierte, rationale Klugheitswähler kritisch fragen: „What is the relative frequency of various life-threatening conditions in persons beyond the normal lifespan? What is the cost of various life-extending treatments for such conditions, and what other goods would have to be generally forgone if those costs are to be borne? What is the expected length and quality of life extension from such treatments, and what is the relative importance of the typical plans and projects that could be pursued or completed during that period of life extension?“30 Kurzum, der rationale Klugheitswähler hält es sehr wahrscheinlich für unklug, ab einem bestimmten Punkt auf alle lebenserhaltenden Maßnahmen zu verzichten, rechnet mit ihn befriedigenden Plänen jenseits dieser Schwelle und wird sich deshalb eine gewisse Versorgung auch für diese Zeit aufsparen. Entsprechend wenig taugt der Analogieschluss für die Bestimmung des Generationenverhältnisses, denn auch die ältere Generation wird kaum zustimmen können, dass ihr Leben ab einem bestimmten (statistisch ermittelten) Zeitpunkt keiner Lebensrettung mehr würdig sei. ________________ 27

Vgl. Daniels (1988); ebd. (1996), S. 257-283.

28

Diese sagt: „Ich will lieber in jungen Jahren gerettet werden als in älteren, weil die entscheidenden Lebenspläne in jüngeren und mittleren Lebensjahren verwirklicht sein wollen.“ 29

Man erhält schließlich nur die eine Auskunft darüber, dass man ab einer gewissen – dazu noch sicher in der konkreten Bestimmung umstrittenen – Lebensspanne kein Anrecht mehr auf lebenserhaltende Maßnahmen habe, wobei das Modell nicht einmal klären kann, ob vor der Altersschwelle jüngere oder ältere Patienten zu bevorzugen sind. 30

Brock (1989), S. 310f.; zu ähnlicher Kritik vgl. McKerlie (1989); ebd. (1992).

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3. Der intuitionistische Ansatz Ohne den großen Aufwand von Urzustandskonstruktion und Schleier des Nichtwissens kommt ein letzter, auf Gerechtigkeit als Handlungsnorm setzender Begründungsansatz aus. Das Hauptargument deckt sich sachlich zwar mit Daniels Prinzip der Chance auf einen fairen Anteil Lebenszeit. Aber die These stellt sich allein auf ihre (vermeintliche) Evidenz. Es ist daher eher eine an unseren Gerechtigkeitssinn appellierende, eine intuitionistische Theorie. Der als so genanntes „fair-innings-argument“ bekannt gewordene Ansatz wurde erstmalig von John Harris vertreten und von Alan Williams erheblich ausdifferenziert.31 Es sei doch klar, so Harris, das jeder ein Anrecht auf eine „faire Runde Leben“ habe – und die Ermöglichung einer solchen „fairen Runde“, nicht das Wohlergehen einzelner Patienten(populationen) sei das oberste Gebot der Gesundheitsversorgung. Wie schon Daniels kann der ansonsten als Utilitarist bekannte, hier aber so stark deontologisch argumentierende Harris über die eine Situation der Entscheidungsnot zwischen einem Patienten jenseits und einem diesseits der Altersschwelle hinaus keine weiteren ethischen Empfehlungen geben. Schon im Falle einer auf Gesundheitsverbesserung zielenden Therapie greift das „fair innings argument“ nicht mehr, sondern versagt. Diese mangelnde Operationabilität hat den bekannten Gesundheitsökonomen Alan Williams dazu veranlasst, das fair-innings-argument auszudehnen, indem er es mit der utilitaristischen Methode der Lebensqualitätsmessung und den erwarteten Kosten der Behandlung kombiniert. Der Vorteil des Williams-Modells liegt darin, dass es aufgrund dieser Verknüpfung unterschiedlicher Aspekte auf einen strikten Cutoff-Point verzichten kann, wie ihn Callahan, Daniels und Harris propagiert haben. Da seine Methode nicht auf einen einzigen Entscheidungspunkt fixiert ist, sondern ein Kalkül bildet, ist es skalierungsfähig und kann nicht nur lebenserhaltende Maßnahmen, sondern auch andere Formen der Gesundheitsverbesserung bedenken. Das Modell wird dadurch zwar anwendbar, bleibt aber insbesondere für Ältere prekär; denn gesetzt den Fall, dass von zwei Personen, die bis auf das Alter in allen relevanten Faktoren übereinstimmen, nur eine zur Behandlung zugelassen werden könnte, wobei die eine Person bereits oberhalb der (beim Altersfaktor) festgelegten Zahl an Lebensjahren, die andere darunter liegt, würde Williams bei gleichen Erfolgsaussichten die jüngere bevorzugen.32 Prä________________ 31

Vgl. Harris (1995), S. 134-164; ebd. (1996); ebd. (1999); Williams (1997); ebd. (1999); zum Überblick vgl. Tsuchiya (2000); zur Kritik vgl. Savulescu (1998); ebd. (1999); Rivlin (2000). 32

Allerdings würde nach einer hier nicht näher darstellbaren Berechnung der Ältere bevorzugt werden, wenn der Nutzen bei der jüngeren Patientin äußerst gering ausfallen würde.

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ferentiell haben also Jüngere bei medizinischen Behandlungen solange Vorrang, bis der Grenznutzen ihrer Behandlung derartig sinkt, dass der limitierende Altersfaktor ausgeglichen wird. Insofern Williams eine intuitonistische Begründung mit einem schon eben kritisch bewerteten utilitaristischen Instrumentarium verbindet, sind Begründung und Instrument zusammen ethisch erst recht problematisch. Ich komme zu einer abschließenden ethischen Bewertung der dargestellten Modelle:

D. Kritische Gesamtbewertung der vorgestellten Modelle Sicher, eine angewandte Ethik weiß, dass in der pragmatischen Alltagsrealität auch der Grundsatz, dass jeder Mensch Würde hat, also über allen Preis erhaben ist, an seine Grenzen stößt – wir können unter den Bedingungen „natürlicher“ Knappheit nicht alles Geld in die Medizin stecken, dann würden andere öffentliche Güter wie Sicherheit, Bildung oder Verkehr gefährdet. Wir müssen also pragmatisch vernünftige Szenarien zwischen Aufwand und Ertrag entwerfen, die sich im Einzelfall konflikthaft leider schädlich auswirken können. Wogegen aber eine an Würde und an der sie entfaltenden sozialen Gerechtigkeit orientierte Ethik sich zu Recht wendet, ist der Versuch, ein einzelnes Kriterium exklusiv zum Entscheidungsmaßstab über Leben und Tod aufzuschwingen. Gegenüber den einfachen Ursache-Wirkungsvorstellungen „die Alten sind Schuld an der Krise der sozialen Sicherung im Allgemeinen und des Gesundheitswesen im Besonderen“ ist Vorsicht geboten und daher zu differenzieren: ƒ

zum einen: Nicht das Alter alleine, sondern die Nähe zum Tod ist ein entscheidender Faktor expandierender Kosten, wie zahlreiche Untersuchungen belegen.33 Dadurch ist natürlich mittelbar die Kohorte der Älteren eher kostenintensiver, weil eben mehr Menschen im höheren Alter sterben als im jüngeren. Aber allein der Umstand, dass bei altersjüngeren Sterbenden die Ausgaben in der Terminalphase höher liegen als bei hoch betagten Sterbenden34, sollte ein eilfertiges Urteil verhindern, dass die ältere Generation für die Kostensteigerung haupt- oder alleinursächlich verantwortlich sei. Schließlich gibt es nicht einfach hier die teure Generation der Alten, da die günstigere Generation der Jüngeren.

________________ 33

Vgl. zum Überblick Felder (1997); Breyer (1999).

34

Vgl. bspw. Scitovsky (1989); Lubitz/Beebe/Baker (1995).

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ƒ

zum anderen: Alter, bzw. Nähe zum Tod ist ein Kostensteigerungsfaktor, aber nicht der einzige. Das Realität schaffende Sozialkonstrukt „Knappheit der Ressourcen im Gesundheitswesen“35 ist nämlich durch eine Vielzahl von einander ergänzenden Faktoren bestimmt. Nur schlagwortartig seien erwähnt: Einerseits die allgemeinen Faktoren: Änderung der Lebensformen, Panoramawechsel der Krankheiten, Änderung des Lebensstiles, anderseits die gesundheitssystemimmanenten Faktoren: Krise der Einnahmen, europarechtlicher Druck auf eine Angleichung von Wettbewerbschancen im Gesundheitswesen, medizintechnologischer Fortschritt, Unter-, Über-, Fehlversorgung, zu starke Regelung des Arzneimittelmarktes, Medieneinfluss, haftungsrechtlich induzierte Maximalbehandlung, angebotsinduzierte Nachfragesteigerung.

Ohne auf die einzelnen Faktoren näher eingehen oder sie gewichten zu können, ist klar: Wo es so viele Ursachen gibt, kann man nicht einen Faktor, also beispielsweise das Alter, exklusiv verantwortlich für die gesamte Krise machen. Eine solche diskriminierende Exklusivthese widerspricht auch deshalb eindeutig dem Würdegedanken weil sie den Einzelnen in Gruppenhaftung nimmt. Dies ist insbesondere dann unmoralisch, wenn dieses Kriterium zudem äußerst unspezifisch ist. Schließlich weiß man seit langem, dass zwischen biologischem und chronologischem Alter zu unterscheiden ist. Es gibt also Menschen, die chronologisch sehr alt, aber biologisch noch durchaus sehr vital sind und die nach einer kleinen, aber lebenserhaltenden Operation (beispielsweise eine Appendektomie) ihr Leben eigenständig weiterführen können. Hier kann man nicht generalistisch über Leben und Tod verfügen. Ein solches Verfahren wäre genauso absurd, als wenn man vorsorglich alle 18Jährigen einsperrte, nur weil eine Statistik erwiesen hätte, dass sie die am häufigsten zur Kriminalität neigende Altersgruppe wären.36 Natürlich kann eine angewandte Ethik, will sie als Entscheidungskriterienberatung im sittlich-politischen Diskurs fungieren, bei diesem Widerspruch allein nicht stehen bleiben. Was aber kann sie anwendungsorientiert und doch nicht begründungsvergessen raten?

________________ 35

Jähnichen (1999).

36

Vgl. Rivlin (2000).

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E. Generationen integrierender und differenzierender Grundsatz der Befähigungsgerechtigkeit Das Wichtigste besteht darin, den künstlich isolierten Faktor „vordringlich die ältere Generation ist schuld an der Kostensteigerung im Gesundheitswesen“ wieder zu rekontextualisieren. Das Problem der intergenerationellen Gerechtigkeit im Blick auf unsere Sozialsysteme im Allgemeinen und das Gesundheitswesen im Besonderen stellt uns deshalb jenseits von sich als rational gebärdenden Exklusionsverfahren einer Generation vor die prinzipielle, generationenübergreifende Aufgabe, offen und gesellschaftlich breit einige grundsätzliche Fragen zu stellen und zu debattieren. Es gilt zu fragen, ƒ

was wir überhaupt unter Gesundheit und Krankheit – und das kann generationenrelativ sein – verstehen,

ƒ

was uns die so verstandene Gesundheit – wiederum möglicherweise generationenrelativ – wert ist, und

ƒ

ob und wenn wie und wieweit wir Solidarität gegenüber den von Krankheit Betroffenen (und das sind immer mehr chronisch Kranke) üben wollen und ob und wie wir Gesundheitsversorgung überhaupt solidarisch finanzieren wollen und können.

Vor dem Hintergrund dieser Generationen integrierenden Rekontextualisierungen sollte man aber auch nach übergeordneten Kriterien suchen, nach denen man die Allokation der knappen Mittel im Gesundheitswesen verteilt. Für diesen Zweck schlage ich als Kriterium vor: Notwendig und generationenübergreifend gerecht ist eine Gesundheitsversorgung, die befähigt zu einer längerfristigen, leiblich-integral-eigenverantwortlichen Lebensführung zwecks Teilnahmemöglichkeit an interpersoneller Kommunikation. Dabei soll das Epitheton ‘leiblich’ ausdrücklich die körperlichen, altersbedingten und sozialen Umstände menschlicher Lebensführung anzeigen. Wenn wir die Prioritäten der Gesundheitsversorgung an diesem Kriterium festmachen, wenn wir es zudem einbetten in einen Kranz von ergänzenden Gerechtigkeitsforderungen wie Bedarf, Beteiligung, Verfahrenstransparenz, Kompensation für nicht erhaltene Leistungen auf einer untergeordneten Versorgungsstufe und [nachrangig] Berücksichtigung der compliance37, dann wird nicht einfach ein inhaltlicher Faktor (wie eben das Alter [oder bei anderen: Verdienst, Nutzen, Kosten]) isoliert, sondern dieser Faktor dem Grundgedanken der Befähigung zur sozialen Kommunikation untergeordnet. ________________ 37

Vgl. dazu ausführlicher Dabrock (2000), S. 192-199.

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Mit diesem Kriterium werden zugleich die Besonderheiten von Behinderungen, Krankheiten und Alter, also die Abweichungen von einem normal functioning range akzeptiert und nicht einfach nur als Devianz abgekanzelt. Dennoch sperrt sich dieser moderate Gesundheitsbegriff aber auch gegen extravagante Forderungen, die diesem Kriterium entsprechend nicht mehr gerechterweise von der Solidargemeinschaft des liberalen Rechts- und Sozialstaates finanziert werden müssen. So gerecht es also ist, Funktionsstörungen zu beheben, die einen Menschen hindern, nachhaltig soziale Kommunikationen aufzunehmen und zu pflegen, so wenig können in Zeiten knapper Ressourcen rein subjektive Bedürfnisse in der solidarischen Finanzierung des Gesundheitswesens berücksichtigt werden.38 Inwiefern führt das Kriterium der Befähigung zur Teilnahme an interpersoneller Kommunikation weiter als die zuvor skizzierten Vorschläge, die die Generation der Älteren unmittelbar aus der Gesundheitsversorgung ausschließen? Zwei weiterführende Konsequenzen ergeben sich m.E.: ƒ

auf der Makroallokationsebene: Wenn sich eine gerechte Gesundheitsversorgung an der Befähigung zu einer leiblichen Lebensführung orientiert, dann impliziert dieses Kriterium auch die Berücksichtigung von Altersangemessenheit. Das bedeutet nicht, dass man für einen exklusiven Therapieverzicht plädiert, dies besagt aber, dass manche altersbedingten Ausfallerscheinungen nicht als Krankheit, sondern schlechterdings als leiblich normale Phänomene, eben als Alterserscheinungen zu beurteilen sind.39 Wenn also Leiblichkeit – und dies scheint mir sehr plausibel, weil wir alle leibliche Wesen sind – in das gerechtigkeitstheoretisch abgefederte Entscheidungskalkül einbezogen wird, dann kann, ja muss es in unterschiedlichen Lebensstadien unterschiedliche Bestimmungen von Gesundheit, Krankheit und Behinderung geben.40

________________ 38

Aus einem Kleinwüchsigen muss man gerechtigkeitstheoretisch keinen Basketballspieler (jedenfalls keinen Center-Spieler) zaubern, auch wenn er dieses als persönliche Präferenz angibt. Die solidarische Finanzierung subjektiven Wohlergehens kann nach dem genannten Kriterium der Befähigungsgerechtigkeit nicht begründet eingefordert werden. 39 Um ein einfaches Beispiel zu bringen, das nur die Richtung der Argumentation andeuten kann: Künstliche Befruchtung (ICSI [Intracytoplasmatische Spermieninjektion]) lässt sich für den nicht mehr zeugungsfähigen, älteren Herrn durch das Leibkriterium, Unterfall Alterserscheinung, gerechterweise aus einem Katalog solidarisch finanzierter Gesundheitsleistungen herausstreichen. 40

Eine solche Ausdifferenzierung widerspricht nicht, sondern konkretisiert den Gleichheitsgrundsatz, der ja nicht nur sagt, dass Gleiches gleich zu behandeln ist, sondern damit auch zum Ausdruck bringt, dass Ungleiches ungleich oder Gleiches nicht ungleich oder Ungleiches nicht gleich zu bewerten ist.

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ƒ

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auf der Mikroallokationsebene: Wenn – und ich rede jetzt nicht einfach von der älteren Generation, sondern von den in der Nähe zum Tod Stehenden – das Leben eines Menschen in seine terminale Phase eingetreten ist, was sich nicht leicht erkennen lässt, sondern vielmehr den geschulten ärztlichen oder pflegerischen Blick erfordert, dann ist auch über eine Therapiezieländerung von der kurativen zur palliativen Medizin hin nachzudenken. Eine solche Umgestaltung der Therapie darf nicht paternalistisch von oben erfolgen, sondern muss in Verantwortungspartnerschaft zwischen Arzt, Pflegenden, Patienten und sozialem Umfeld erwogen werden. Sie kann zwar indirekt auch ökonomischer Effizienz dienen. Sie allein darf nicht der Ausschlag gebende Grund sein. Dafür wird sich eine an Würde und Befähigungsgerechtigkeit orientierte theologische Ethik einsetzen.

Beachtet man neben den übergeordneten Kriterien von Würde und Befähigungsgerechtigkeit die Sachdimension, dass zumindest im Gesundheitswesen das Generationenkonstrukt „das Alter ist schuld“ als einziges Krisenphänomen nicht kontextlos fokussiert werden darf, dann können vorschnelle wechselseitige Schuldzuweisungen zurückgenommen werden, dann braucht hier nicht vorschnell ein Generationenkonflikt konstruiert zu werden, den es woanders, beispielsweise in der Rentenkasse, viel deutlicher gibt. Eine solche Differenzsensibilität im Umgang mit Generationenproblemen verhindert Pauschalurteile über die Alten oder die Jungen. Manche Probleme stellen sich eben auch quer zur Konstruktion eines Generationenkonfliktes. Sie übergreifend anzugehen, dient der Bewahrung der kommunikativen Freiheit, die dem Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ zu Grunde liegt.

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Implikation und Projektion

Die Gesundheitsreform im Spagat zwischen Theorie und Praxis Christian Pihl und Notburga Ott

A. Einleitung Die Proteste, die sich in der öffentlichen Diskussion um die jüngste Gesundheitsreform lautstark artikulieren, beklagen eine Gerechtigkeitslücke bei den beschlossenen Maßnahmen. Die Ursache wird vielfach in einer argwöhnisch beäugten Ökonomisierung gesehen, d.h. in dem Bestreben durch mehr Eigenverantwortung und marktwirtschaftliche Elemente die Effizienz des Gesundheitssystems zu steigern. Innerhalb der aktuellen Reformdiskussionen im Gesundheitswesen und der Interessenvertretungen der verschiedenen am Prozess beteiligten Akteure taucht immer wieder eine Grundsatzdiskussion über die Frage auf, inwiefern eine ökonomische Herangehensweise an die Problembereiche des Gesundheitswesens überhaupt angebracht ist. Begründet wird die Abneigung gegen eine ökonomische Betrachtungsweise üblicherweise mit den besonderen Eigenschaften des „Gutes“ Gesundheit, das sich einer analogen Betrachtung zu ‘normalen’ auf Märkten gehandelten Gütern entziehe. Eine Verlagerung des überwiegend öffentlich finanzierten Systems im Zuge der diskutierten und geplanten Gesundheitsreformen in den Bereich der privaten Vorsorge würde die verschiedenen Gruppen der Bevölkerung ungleich belasten und stehe damit dem Ziel einer „gerechten“ umfassenden Versorgung mit Gesundheitsgütern entgegen. In diesem Beitrag soll die Frage diskutiert werden, welche Konfliktlinien in der öffentlichen Diskussion vorherrschen und inwieweit die ökonomische Betrachtungsweise und das entsprechende Instrumentarium hilfreich sein kann, diese Konflikte zu lösen.1 Dabei soll dargestellt werden, welche Anreize einzelne, in der Öffentlichkeit diskutierten Reformvorhaben auf individueller und ________________ 1

An dieser Stelle sei Marcel Erlinghagen für die zahlreichen Diskussionen und kritischen Anmerkungen gedankt.

Chr. Pihl und N. Ott

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kollektiver Ebene setzen, welche Auswirkungen zu erwarten sind und inwiefern die Vorhaben zu einer Effizienzsteigerung beitragen können. Dies wird dann unter Gerechtigkeitsüberlegungen zu beurteilen sein.

B. Konfliktlinien der Sozialpolitik Die aktuelle öffentliche Diskussion über die Reformierung des Gesundheitswesens unterscheidet sich grundsätzlich nicht von den sozialpolitischen Auseinandersetzungen, die in der Vergangenheit geführt wurden. Im Rahmen eines demokratischen Legitimationsprozesses ist dies auch nicht weiter verwunderlich, da eine breite gesellschaftliche Diskussion über das Ausmaß der Absicherungen bzw. Umverteilung eine notwendige Vorraussetzung der Durchsetzbarkeit und der allgemeinen Anerkennung darstellt. Die Diskussion ist aber insbesondere dann problematisch und auch dem eigentlichen Anliegen nicht förderlich, wenn auf unterschiedlichen Ebenen diskutiert wird und die dahinter stehenden Ziele und Standpunkte nicht geklärt werden. So manifestieren sich mehrere Konfliktlinien, die sich je nach Akteur und Betrachtungsweise wie folgt darstellen.2

I. Die Frage der Verteilungsgerechtigkeit Eine Konfliktlinie betrifft das normative Verständnis von „Verteilungsgerechtigkeit“, die sich als Spannung von „Korrektur der Marktergebnisse“ versus „Chancengleichheit mit Risikoabsicherung“ kennzeichnen lässt. Während einerseits eine Angleichung im Lebensstandard und dabei insbesondere der Abbau von Einkommens- und Vermögensungleichheiten gefordert wird, wird von anderer Seite das Kriterium der Leistungsgerechtigkeit betont. Unterschiede bestehen dabei vor allem in der Bewertung, welche Verteilungsergebnisse des Marktes dem Einzelnen als Folgen seines Handelns zugeschrieben werden können und sollen, und welche durch solidarisches Handeln ausgeglichen werden sollen. Werden die Handlungsspielräume des Einzelnen als gering angesehen, weil das Marktergebnis vor allem aufgrund von Machtkonstellationen ein Verteilungsergebnis produziert, das als ungerecht angesehen wird, wird man eine nachträgliche Korrektur der Marktergebnisse durch Umverteilung anstreben. Vertraut man jedoch prinzipiell dem Markt als geeignetem Allokationsmechanismus, wird dagegen eher der Gedanke des Ausgleichs von Startchancen und der Risikoabsicherung von großen unwägbaren Lebensrisiken im Vordergrund stehen und entsprechend ein Vorsorge- und Versicherungssystem ________________ 2

Vgl. dazu im Folgenden Ott (2003), S. 489ff.

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präferiert werden. Chancengerechtigkeit ist dabei insofern von großer Bedeutung, da die Marktergebnisse immer auch von der jeweiligen Ausgangsverteilung abhängen.

II. Die Rolle des Staates Eine andere Konfliktlinie betrifft die Rolle des Staates bei der Verfolgung der Sicherungsziele. Das Spektrum der Meinungen bewegt sich dabei zwischen den Grundanschauungen, dass die staatliche Aufgabe entweder in der direkten Produktion von sozialer Sicherheit oder aber in der Organisation einer hinreichenden Eigenvorsorge bestehe. Dabei sind unterschiedliche, durchaus kontroverse Verteilungsziele mit den jeweiligen Auffassungen hinsichtlich staatlicher Aufgaben vereinbar. So ist die Forderung nach Eigenverantwortlichkeit sowohl mit einem Minimalstaat wie auch mit hoher staatlich organisierter Risikoabsicherung kompatibel. In Deutschland findet sich ein zentrales Sozialstaatsprinzip – das v.a. der katholischen Soziallehre entstammende Subsidiaritätsprinzip – das zumindest gewisse Kriterien für die Rolle des Staates angibt. Nach diesem Prinzip hat das Individuum bzw. die kleinere Gemeinschaft das Recht wie auch die Pflicht, diejenigen Aufgaben zu übernehmen, die es eigenverantwortlich lösen kann. Gleichzeitig beinhaltet das Subsidiaritätsprinzip auch die Verpflichtung einer Gemeinschaft zur Übernahme der Aufgaben, die nur sie lösen kann. Dies bedeutet insbesondere auch die Verantwortung der größeren Gemeinschaft für Bedingungen, die das Individuum bzw. die kleinere Gemeinschaft in die Lage eigenverantwortlichen Handelns versetzen – soweit die größere Gemeinschaft diese Bedingungen beeinflussen kann. Das Subsidiaritätsprinzip drückt somit einen Vorrang für nichtstaatliche Lösungen aus, fordert aber gleichzeitig dort staatliche Eingriffe, wo die formale und materiale Freiheit soweit eingeschränkt sind, dass eigenverantwortliche Aufgabenerfüllung nicht mehr erwartet werden kann. Dabei sind Maßnahmen die einer „Hilfe zur Selbsthilfe“ entsprechen einer staatlichen Übernahme der Aufgaben vorzuziehen.

III. Die Problematik der Finanzierung Die aktuelle Diskussion der Reformvorhaben in der Gesundheitspolitik ist stark von der Betonung der Eigenverantwortlichkeit und der Forderung nach einer entsprechenden Umgestaltung des Gesundheitssystems geprägt. Ursächlich dafür ist die absehbare mangelnde Finanzierbarkeit des bisherigen Systems, zu der mehrere Entwicklungen beigetragen haben. Die aus dem Geburtenrückgang folgende Alterung der Gesellschaft führt zu einer höheren Belastung der jüngeren Generationen, weil mit zunehmendem Alter mehr Krankheitskosten verursacht werden und so die Prämien bei steigen-

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dem Anteil Älterer angehoben werden müssen. Die zunehmende Belastung des Krankenversicherungssystems durch einen steigenden Anteil älterer Menschen wird zusätzlich durch eine steigende Lebenserwartung verschärft. Mitverantwortlich ist hier der medizinisch-technische Fortschritt, der zwar einerseits eine medizinische Errungenschaft ist, auf der anderen Seite aber auch einen nicht unerheblichen Kostenfaktor darstellt. Ein schwerwiegendes Problem auf der Kostenseite der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist die schrittweise Ausweitung des Leistungskatalogs der GKV seit Entstehen der Versicherung, die ebenfalls zum Anstieg der Beitragsbelastung geführt hat. Dies wird verschärft durch die Erosion der beitragspflichtigen Einkommen bei anhaltend hoher Massenarbeitslosigkeit und einer veränderten Erwerbs- und Einkommensstruktur in der Gesellschaft. Schließlich ist „ein nicht zu quantifizierender Teil des Ausgabenanstiegs in der Gesetzlichen Krankenversicherung auch auf effizienzmindernde Organisationsstrukturen und Fehlanreize zurückzuführen“3, indem erhebliche Fehlanreize mit entsprechender Ressourcenverschwendung existieren. Hier wurde in der Vergangenheit bereits mehrfach dargelegt, dass an einer effizienten Leistungserbringung erhebliche Zweifel angebracht sind und gleichermaßen Über-, Unterund Fehlversorgung existieren.4 Angesichts dieser Entwicklungen erscheint der Weg zu verstärkter Eigenvorsorge notwendig, will man nicht eine fehlende Sicherung bei elementaren Lebensrisiken für einen Großteil der Bevölkerung in Kauf nehmen. Umstritten ist dabei jedoch nach wie vor, ob und inwieweit sich diese Eigenvorsorge bei Rücknahme staatlicher Absicherung selbst organisiert und daher den Märkten überlassen werden kann oder ob andere staatliche Maßnahmen zur Sicherstellung eines hinreichend hohen Absicherungsniveaus notwendig sind.

C. Lösungsansätze aus theoretischer Sicht Ein wesentliches Problem in der öffentlichen Diskussion um die Reformierung des Gesundheitswesens besteht darin, dass die geschilderten Ebenen vermischt werden und daher alle vorgeschlagenen Konzepte nicht durchsetzbar erscheinen oder zumindest auf erhebliche Akzeptanzprobleme stoßen. Die Akzeptanz einer so grundlegenden Reform, wie sie im Gesundheitswesen notwendig ist, erfordert jedoch eine in sich konsistente Konzeption, deren ________________ 3 Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme (2003), S. 143. 4

Beispielsweise SVRkAiG (1996).

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Anreiz- und Verteilungswirkungen offen kommuniziert werden müssen. Dazu gehört es, die Problemlage erschöpfend zu analysieren und darzustellen, die Notwendigkeit staatlicher Maßnahmen zu begründen und die konkreten Maßnahmen an klar definierten Zielen auszurichten.

I. Marktversagen auf Gesundheitsmärkten und Notwendigkeit staatlicher Eingriffe In demokratischen, pluralistischen Gesellschaften mit einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Wirtschaftsordnung bedürfen staatliche Eingriffe in den Marktprozess einer Begründung, damit sie im politischen Prozess Akzeptanz finden. Solche Begründungen können aus ökonomischer Sicht entweder allokativer Natur sein, weil Marktprozesse gestört sind und zu ineffizienten Lösungen und damit Ressourcenverschwendung führen, oder distributiver Natur, weil die Gesellschaft die Marktergebnisse aus Gerechtigkeitsgründen für korrekturbedürftig ansieht. Dies gilt auch für die aktuelle Diskussion um die Reform des Gesundheitswesens, in der sich die Kontroverse zwischen den Forderungen nach mehr marktwirtschaftlichen Elementen einerseits und nach staatlicher Verantwortung für eine umfassende Versorgung mit Gesundheitsleistungen andererseits zunehmend zuspitzt.5 Nun unterscheiden sich die Märkte für Gesundheitsleistungen in vieler Hinsicht von anderen Märkten, was mit der Besonderheit des Gutes „Gesundheit“ zusammenhängt, dem die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen dient. Diese Besonderheiten führen zu Marktversagensphänomenen, die eine staatliche Einflussnahme begründen mögen. ƒ

Vielfach wird von einer eingeschränkten Konsumentensouveränität6 bei Gesundheitsleistungen ausgegangen. Zum einen ist die Entscheidungsfähigkeit des Patienten in akuten oder gar lebensbedrohlichen Situationen vielfach erheblich beschränkt, was auf Seiten der Leistungsanbieter Möglichkeiten und Anreize zum Ausnutzen der Situation zum eigenen Vorteil schafft. Zum anderen kann die Qualität der medizinischen Leistung vom Patienten häufig nicht angemessen beurteilt werden, da erstens Gesund-

________________ 5 6

Vgl. zum Folgenden ausführlicher Ott (2001), S. 525ff.

Damit Märkte effizient funktionieren, bedürfen sie des Wettbewerbs, d.h. sowohl Anbieter wie Nachfrager müssen die Möglichkeit besitzen, zu Konkurrenten abwandern zu können und sie müssen in der Lage sein, diese Entscheidung auch fällen zu können. Anderenfalls ist die andere Marktseite in der Lage, sich Vorteile aus der Situation zu Lasten des Betroffen zu ziehen.

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heitsleistungen meist nur unregelmäßig nachgefragt werden, so dass ein Qualitätsvergleich mit anderen Anbietern kaum möglich ist, und zweitens der Zusammenhang zwischen Behandlung und Gesundheitszustand nicht eindeutig identifiziert werden kann. Daher kann überwiegend der Leistungsanbieter Umfang und Art der medizinischen Leistung bestimmen. Bei solchen für Gesundheitsgüter typischen Informationsasymmetrien besteht staatlicher Regulierungsbedarf hinsichtlich der Qualitäts- und Kostenkontrolle. ƒ

Die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ist mit positiven Externalitäten, d.h. positiven Effekten für Dritte verbunden. Impfungen und Behandlungen von Infektionskrankheiten verringern die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung anderer Gesellschaftsmitglieder, zudem entwickelt sich die Medizin als Erfahrungswissenschaft mit jedem Behandlungsfall weiter. Diese externen Effekte begründen eine gewisse Umverteilung im Gesundheitssystem, indem alle zur Finanzierung dieser Aufgaben mit herangezogen werden.7

ƒ

Medizinische Leistungen haben darüber hinaus den Charakter eines Optionsgutes. Der Bedarf ist zum Großteil nicht vorhersehbar, hat aber bei Eintritt häufig eine hohe Dringlichkeit, die aus ethischen Gründen auch Menschen ohne entsprechende Eigenvorsorge zugestanden wird. Eine gewisse Reservehaltung von Kapazitäten liegt daher im Interesse aller Gesellschaftsmitglieder und begründet eine entsprechend allgemeine Finanzierung.

Neben diesem in den Gutseigenschaften begründeten staatlichen Regulierungsbedarf erfordern auch Marktmängel auf den Versicherungsmärkten staatliche Eingriffe. Gerade bei Gesundheitsrisiken treten die klassischen Informationsprobleme mit ihren negativen Folgen für Versicherungsmärkte auf.8 ƒ

Da der Gesundheitszustand der Versicherten von den Versicherern nur unzureichend beobachtet werden kann, ist grundsätzlich mit adverser Selektion9 zu rechnen. Will man aus Gründen einer effizienten Versorgung oder

________________ 7

Sofern in der Bevölkerung ein gewisser Altruismus herrscht, indem Leid und Krankheit zu Mitgefühl führen, reduziert zudem die Behandlung von Krankheiten solch psychische Externalitäten. 8

Vgl. zu den Problemen auf Versicherungsmärkten aufgrund asymmetrischer Information ausführlicher Ott (2001), S. 504ff. 9

Unter adverser Selektion versteht man einen Prozess der Selbstselektion, wenn der Versicherer weniger Informationen als der Versicherte hat, und er daher nur eine durchschnittliche Prämie für unterschiedliche Risiken kalkulieren kann. Personen mit niedrigem Risiko würden eine solche Versicherung, die gemäß ihrem individuellen Risiko zu

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aus ethischen und verteilungspolitischen Gründen eine Patientenselektion auf der Anbieterseite verhindern, ist zumindest ein Kontrahierungszwang notwendig. ƒ

Moral Hazard-Probleme10 treten bei Krankenversicherungen in zweifacher Hinsicht auf. Zum einen kann der Versicherte das Erkrankungsrisiko durch seine Lebensweise und präventive Maßnahmen stark beeinflussen (ex ante moral hazard), zum anderen hängen im Krankheitsfall die Kosten der Behandlung ebenfalls vom Verhalten des Patienten ab (ex post moral hazard). Beide Arten des moral hazard können jedoch durch geeignete, anteilige Selbstbeteiligungsregelungen verringert werden.

Nicht zuletzt ist eine gesellschaftliche Absicherung von Gesundheitsrisiken ein Gebot der Chancengerechtigkeit. Der ethische Grundsatz, die Startchancen anzugleichen und allen Menschen jederzeit einen gewissen sozio-ökonomischen Mindeststandard zu gewährleisten, lässt sich mit dem Rawls’schen Denkmodell der vorkonstitutionellen Gesellschaft11 auch vertragstheoretisch begründen und für die Gestaltung sozialpolitischer Maßnahmen fruchtbar machen. Unter dem „Schleier des Nichtwissens“, d.h. in einer hypothetischen Situation, in der sämtliche individuellen Merkmale, Risiken und Lebenschancen unbekannt sind, haben die Individuen ein Interesse an einer gewissen Grundsicherung für den Fall, dass die Lebenschancen zu ihren Ungunsten verteilt sind. Entsprechende gesellschaftliche Regelungen sind daher im Interesse aller, weshalb vom Grundsatz her auch ein common sense über eine derartige gesellschaftliche Umverteilung besteht.12 Da eine solche Grundsicherung allerdings immer auch den Anreiz zu Trittbrettfahrerverhalten, nämlich keine eigene Vorsorge zu betreiben, in sich birgt, besteht gleichzeitig die Notwendigkeit einer Vorsorgepflicht, die letztlich nur vom Staat durchgesetzt werden kann. Nun sind gesundheitliche Beeinträchtigungen im späteren Leben vielfach auf genetische Ungleichheiten ________________ teuer ist, nicht nachfragen und die kalkulierten Prämien würden bei den Versicherungen zur Deckung der Schadenssumme nicht ausreichen. Dieser Prozess kann zu Ineffizienz oder gar Zusammenbruch des Versicherungsmarktes führen. 10

Unter moral hazard versteht man bei Versicherungen die Gefahr zu hoher Schadensfälle, weil die Versicherten aufgrund der Versicherung weniger Schadensvorsorge betreiben. Sofern dieses verhalten für den Versicherer nicht beobachtbar ist, kann er dies bei seiner Prämienkalkulation nicht berücksichtigen. 11

Mit dem Denkmodell des „Schleiers des Nichtwissens“ geht Rawls (1971) von einer hypothetischen Situation aus, in der die Individuen ihren Platz in der Gesellschaft noch nicht kennen. Risikoaverse Individuen werden in einer solchen Situation eine Verteilungsregel präferieren, in der sie im schlechtesten Fall möglichst gut gestellt sind. 12

Sozialpolitische Umverteilungsmaßnahmen lassen sich somit als vorkonstitutionelle Versicherung gegen elementare Lebensrisiken rekonstruieren.

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oder Schädigungen zurückzuführen, die vom Einzelnen weder vorherzusehen noch zu verantworten sind. Insofern ist gerade im Gesundheitsbereich eine soziale Ausgestaltung der Absicherung als Pflichtversicherung mit einer vom individuellen Risiko unabhängigen Prämie im Sinne einer Versicherung unter dem „Schleier des Nichtwissens“ angebracht.13

II. Grundversorgung mit Gesundheitsgütern Wenngleich es verschiedene Gründe für staatliche Eingriffe in Gesundheitsmärkte und eine staatliche Verantwortung für eine Grundversorgung mit Gesundheitsgütern gibt, über die auch von Grunde her ein common sense in unserer Gesellschaft besteht, bleibt doch die Frage offen, wie umfangreich eine solche Grundversorgung ausgestattet sein soll und mit welchen Instrumenten den Marktmängeln begegnet werden soll. Letztlich stellt sich hier die Frage nach dem Umfang staatlichen Zwangs mit entsprechenden Einschnitten in individuelle Freiheitsrechte. Die angemessene Abgrenzung zwischen staatlicher Fürsorge und individueller Freiheit, die sich bei allen staatlichen Maßnahmen insbesondere im sozialpolitischen Bereich stellt, ist im speziellen Fall des Gesundheitswesens besonders problematisch. Was unter „Gesundheit“ zu verstehen ist, lässt sich nicht hinreichend und für alle gleichermaßen gültig operationalisieren. Unter „Gesundheit“ wird nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation „ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden“ verstanden14, was darauf hinweist, dass der Prozess zur Erlangung von Gesundheit vielschichtig und komplex ist und nicht allein durch biologische Faktoren bestimmt wird. Ein solches Gesundheitsverständnis kann nur rein subjektiv sein und ist und nicht geeignet, ein gesellschaftlich gültiges Niveau der Grundsicherung zu bestimmen. So werden denn auch im bundesdeutschen Solidarsystem die Gesundheitsleistungen auf das „medizinisch Notwendige“ begrenzt.15 Was allerdings als „medizi________________ 13

In dem Maße, in dem jedoch in Zukunft auch die genetische Ausstattung nur noch teilweise von Zufällen abhängen wird, wird die Sozialpolitik im Gesundheitsbereich vor völlig neue Herausforderungen gestellt. 14 „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.“ Preamble to the Constitution of the World Health Organization as adopted by the International Health Conference, New York, 19-22 June, 1946; signed on 22 July 1946 by the representatives of 61 States (Official Records of the World Health Organization, no. 2, p. 100) and entered into force on 7 April 1948. 15

SGB V §1: Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern, wobei die Leistungen dann durch § 12 begrenzt werden: Wirtschaft-

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nisch notwendig“ angesehen werden soll und wer darüber entscheidet, ist nicht geregelt. Allerdings zeigt diese Abgrenzung, dass von einem gesellschaftlichen Vorverständnis über einen gesundheitlichen Standard ausgegangen wird. Ohne Zweifel gibt es klar definierte Krankheitsbilder, die von allen als Beeinträchtigung, d.h. als ein Abweichen von einem ‘Normal’-Zustand angesehen werden. Entsprechend wird eine Heilung oder zumindest Linderung dieser Beeinträchtigung angestrebt und hat hohe Priorität gegenüber anderen Bereichen der Lebensführung. Die Kosten für die notwendigen Gesundheitsleistungen sind als unerwünschte Schadensfälle anzusehen, weshalb eine Absicherung dieser Kosten z.B. durch eine Versicherung eine Wohlfahrtssteigerung bedeutet. Staatliche Maßnahmen zur Sicherstellung einer solchen Absicherung – insbesondere bei Großrisiken, die erhebliche Einschnitte in der Einkommenslage verursachen – werden kaum als Eingriffe in persönliche Freiheitsrechte empfunden. Auf der anderen Seite sind Befindlichkeiten, wie sie in der Gesundheitsdefinition der WHO zum Ausdruck kommen, auch ganz eindeutig der individuellen Lebensweise geschuldet. Ob ein Fitnessstudio besucht wird, Anti-Aging-Programme in Anspruch genommen oder Schönheitsoperationen durchgeführt werden, hängt von den individuellen Interessen ab. Solche Leistungen stehen wie alle Konsumgüter in Konkurrenz zu anderen Gütern der Lebensführung und werden entsprechend der individuellen Präferenzen und des zur Verfügung stehenden Budgets nachgefragt. Eine staatliche Reglementierung der Nachfrage nach solchen Gütern oder gar ihrer Finanzierung würde die individuellen Freiheitsrechte in unbotmäßiger Weise beschneiden. Staatliche Maßnahmen sind in diesem Bereich lediglich zur besseren Funktionsweise der Märkte angebracht. Abgrenzung? „Lifestyle“

Prävention?

Konsum Sportlichkeit

Schönheit Genuss

„sozio-ökonomischer Gesundheitsstandard“

Befähigung Bildung

Erwerbsleben

Gesellschaftliche Partizipation

________________ lichkeitsgebot (1) Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.

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Legt man das Ziel der Chancengerechtigkeit zugrunde, gilt es, staatlicherseits einen sozio-ökonomischen Gesundheitsstandard zu gewährleisten, der sich an der Befähigung zur Teilhabe an allen gesellschaftlichen Bereichen orientiert. Lifestyle-Güter sollten dagegen der individuellen Verantwortung überlassen bleiben. Zwischen diesen beiden Bereichen gibt es allerdings erhebliche Abgrenzungsprobleme, die insbesondere auch zwischen den Individuen je nach sozialer Lage, den eigenen Möglichkeiten, der Risikoaversion, dem Schmerzempfinden u.ä. differieren können. So mag z.B. bei einzelnen Menschen die psychische Belastung einer leichten Entstellung eine kosmetische Operation zur weiteren Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erforderlich machen. Vor allem präventive Maßnahmen, die ja auch aus Kostengründen im Interesse der Versichertengemeinschaft liegen, lassen sich von reinen Konsumaktivitäten wie Sport, Wellness und bestimmten Essgewohnheiten kaum abgrenzen. Diese Festlegungen zwischen den Bereichen der solidarischen Absicherung und der individuellen Eigenverantwortung müssen – um Akzeptanz zu finden – im offenen gesellschaftlichen Diskurs bestimmt und angesichts ständig wachsender medizinischer Erkenntnisse und der Fortschritte im medizinisch-technischen Bereich neu ausgehandelt werden.

III. Das Gesundheitssystem in Deutschland Den Anforderungen an eine staatliche Sicherstellung des sozio-ökonomischen Gesundheitsstandards kann nun mit unterschiedlichen Instrumenten und Organisationsformen begegnet werden. Vom Grundprinzip bieten sich zwei Wege an. Entweder der Staat übernimmt die Bereitstellung der Gesundheitsleistungen selbst im Rahmen steuerfinanzierter nationaler Gesundheitsdienste wie z.B. in Großbritannien. Oder er sichert die Finanzierung der von anderen Anbietern erbrachten Leistungen über ein staatlich organisiertes Versicherungssystem ab. In Deutschland wurde der Weg einer Versicherungslösung gewählt, gekoppelt mit starken Reglementierungen der Märkte für Gesundheitsleistungen. Das Gesundheitssystem ist relativ komplex16, was zu geringer Transparenz und Anreizstrukturen führt, die erhebliche Ineffizienzen implizieren.17 ƒ

Es existiert keine allgemeine Versicherungspflicht. Pflichtversichert sind lediglich alle Arbeitnehmer mit einem Einkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze sowie Rentner, Studenten, Arbeitslose, Landwirte, Künstler

________________ 16

Vgl. z.B. Lampert/Althammer (2004), S. 245ff.

17

Vgl. Ott (2003), S. 529ff.

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und Publizisten.18 Dies führt dazu, dass auch in Deutschland etliche Personen keine eigene Vorsorge betreiben und gegebenenfalls zu Lasten der Allgemeinheit im Rahmen der Sozialhilfe Gesundheitsleistungen beziehen. Zudem findet bei den Höherverdienenden adverse Selektion statt, indem die „guten Risiken“ in die Private Krankenversicherung (PKV) abwandern. ƒ

Es gibt kaum Anreize auf Patientenseite, die entstehenden Kosten zu reduzieren. Selbstbeteiligungsregelungen gibt es kaum, zudem sind sie pauschaliert und hängen nicht von der Höhe der entstandenen Kosten ab, so dass sie kaum geeignet sind, moral hazard einzudämmen.

ƒ

Das Vergütungssystem für Ärzte, das auf Einzelleistungen beruht, birgt ebenfalls die Gefahr eines moral hazard durch Erbringung von medizinisch nicht notwendigen Leistungen.

Aber auch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten hat das gegenwärtige System erhebliche Mängel. Neben den Umverteilungseffekten, die durch die Patientenselektion zwischen PKV und GKV entstehen, produzieren gerade die Elemente in der gesetzlichen Krankenversicherung, die dem sozialen Ausgleich dienen sollen, zusätzliche Verteilungsprobleme. Die Beiträge sind bis zur Beitragsbemessungsgrenze proportional zur Höhe des Erwerbseinkommens gestaffelt. Damit findet nicht nur der entsprechend dem Ziel der Chancengerechtigkeit (vgl. Abschnitt C.1) intendierte Ausgleich zwischen den Anfangsrisiken statt, sondern es wurde auch noch eine Umverteilung von höheren Einkommensgruppen zu niedrigeren angestrebt. Dieser findet allerdings nur innerhalb einer gewissen Einkommensklasse statt, da weder die Einkommen oberhalb der Bemessungsgrenze noch Nichterwerbseinkommen herangezogen werden. Zudem sind Personen, die nicht in der GKV versichert sind, an dieser Einkommensumverteilung nicht beteiligt. Gleiches gilt auch für die beitragsfreie Absicherung von Familienmitgliedern, bei der es sich um eine intendierte Familienförderung handelt. Auch hier gilt, dass an dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe alle Gesellschaftsmitglieder und nicht nur die in der GKV Versicherten beteiligt sein sollten. Darüber hinaus wird auch innerhalb der GKV das intendierte Ziel verfehlt, indem auch nichterwerbstätige Ehepartner, die keine Kinder erziehen, ohne Beitrag leistungsberechtigt sind, während kindererziehende erwerbstätige Eltern doppelte Beiträge zahlen. Schließlich produzieren diese adversen Umverteilungseffekte innerhalb der GKV weitere Anreize zu adverser Selektion, indem begünstigte Personen (z.B. mit großer Familie) auch ohne Versicherungspflicht in der GKV verbleiben, während andere diese möglichst zu verlassen versuchen. ________________ 18

Selbständige und Arbeitnehmer mit einem höheren Einkommen sind nicht versicherungspflichtig, bei ihnen wird davon ausgegangen, dass sie in hinreichendem Maße Eigenvorsorge betreiben. Beamte erhalten eine direkte (teilweise) Kostenerstattung vom Arbeitgeber.

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D. Die aktuelle Gesundheitsreform I. Ziel des Gesetzes Mit der aktuellen Gesundheitsreform, die zum Januar 2004 in Kraft getreten ist, sollen notwendige Gesetzesänderungen veranlasst werden, um Ineffizienzen und strukturelle Mängel innerhalb des gesetzlichen Gesundheitssystems zu beseitigen. Problembereiche, die angeführt werden, sind insbesondere: ƒ

die großen Volkskrankheiten,

ƒ

der Ausgabenanstieg durch die demografische Entwicklung und technologische Innovationen,

ƒ

die Beitragsproblematik durch die Belastung der Löhne.

Durch die Reform sollen die Effektivität und Qualität der Versorgung verbessert werden. Erreicht werden soll dies durch eine systematische Einbeziehung aller Akteure, die gleichermaßen an den Sparmaßnahmen beteiligt werden sollen. Durch die Gesundheitsreform werden verschiedenste Ebenen sowohl der Leistungserbringung als auch der -nachfrage tangiert. Kennzeichen der Reform ist jedoch, dass sie nur punktuell an den verschiedenen Problembereichen anknüpft und lediglich eine partikulare Umsetzung verschiedener Instrumente darstellt. Eine systematische Neugestaltung kann nicht gesehen werden. Im Folgenden werden daher exemplarisch nur die Bereiche der Leistungsausgliederung bzw. Selbstbeteiligungsregelungen19, die einen wesentlichen Teil des Gesetzes bilden, hinsichtlich ihrer Grundkonzeption, der ökonomischen Perspektive und der Verteilungswirkung betrachtet. Zudem werden am Beispiel der Ausgliederung des Zahnersatzes die Inkonsistenzen des Gesetzes aufgezeigt, da sie in diesem Fall besonders deutlich werden.

II. Umgang mit den genannten Problemen und Anreizwirkungen der Reform Vor dem Hintergrund der eingangs genannten Konfliktlinien innerhalb der sozialpolitischen Diskussion ist im Rahmen der aktuellen Reform besonders ________________ 19

Ausgeklammert werden dabei die Möglichkeiten der „neuen“ Selbstbeteiligungsregelungen, die den Krankenkassen in Zukunft als Handlungsspielraum eingeführt wird wie z.B. die Möglichkeit der Beitragsrückerstattung bei freiwillig Versicherten, oder ermäßigter Beitragssätze für Versicherte, die sich bei einem Hausarzt eingeschrieben haben.

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problematisch, dass die grundlegende Frage, ob und welche Form der Versicherung gewählt werden soll und welches Ausmaß diese haben soll, eine nach gelagerte Diskussion im Gesetzgebungsverfahren war. Grundsätzlich hätte zunächst die Frage der erwerbszentrierten Finanzierung versus alternativer Finanzierungsverfahren wie ein steuerfinanziertes System oder die vorgeschlagenen Kopfpauschalen geklärt werden müssen. Diese Debatte wurde zwar teilweise initiiert, die Diskussion wurde aber nicht abgeschlossen, sondern ist für eine unbestimmte Zeit aus der Tagespolitik verschwunden. Auch die grundlegenden Fragen, die sich auf die oben erwähnte Ausgangsverteilung und die Allokation der Ressourcen beziehen, sollten zunächst gestellt werden. Dabei muss beantwortet werden, welche Verteilungsregel gewählt werden soll, so z.B. inwieweit man am bisherigen System der Umverteilung in der GKV festhält. Eine zukunftsfähige Umgestaltung des Gesundheitssystems hätte genau die Klärung dieser Fragen als Legitimationsgrundlage erfordert. Das Problem hierbei ist allerdings nicht ein Mangel an konsistenten Konzepten sondern das willkürlich anmutende Herausgreifen einzelner Maßnahmen durch die Politik aus den Vorschlägen von wissenschaftlichen Kommissionen20, die isoliert häufig genau das Gegenteil der ursprünglichen Intention bewirken. Dies entspricht zwar den Erkenntnissen der Politischen Ökonomie21, wonach Politiker als rational handelnde Individuen nur kurzfristige Ziele verfolgen, da ihr eigentliches Anliegen die eigene Wiederwahl ist. Jedoch hängt die Wiederwahl auch der Akzeptanz und somit von der Konsistenz einer Reform ab. Es sollte daher auch im Sinne der Rationalität eines Politikers liegen, eine konsistente und langfristig orientierte Reform auf den Weg zu bringen. 1. Die Veränderung der Selbstbeteiligungsregelungen im Einzelnen Innerhalb der Gesetzesregelungen nimmt die Veränderung der Zuzahlungsregelungen einen breiten Raum ein und dürfte wohl das am häufigsten diskutierte Element der Gesetzesreform sein.22 Die Neugestaltung der Selbstbeteiligungsregelungen ist sehr umfangreich und bezieht sich auf die Eigenanteile bei der Inanspruchnahme von Leistungen. Diese ________________ 20

Vgl. beispielsweise das Gutachten der Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme: Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme (vgl. FN 3), oder die regelmäßig erscheinenden Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (vgl. FN 4). 21 22

Downs (1968).

Eine Übersicht über die verschiedenen Zuzahlungsregelungen findet sich u.a. unter http://www.aok-bv.de/politik/agenda/reform/index.html, Aufruf vom 2.4.2004.

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wurden dabei sowohl in Form einer fixen Zuzahlung pro Quartal (Praxisgebühr) als auch in Form einer prozentualen Beteilung mit Ober- und Untergrenze (Medikamentenzuzahlung) oder als prozentuale Beteiligung plus eine einmalige Verordnungsgebühr (Heilmittel und häusliche Krankenpflege) eingeführt.23 Die Zuzahlungsregelungen unterliegen Belastungsgrenzen, wobei nicht mehr als zwei Prozent, bei chronisch Kranken nicht mehr als ein Prozent des Bruttoeinkommens als Zuzahlung geleistet werden müssen. 2. Beurteilung der „neuen“ Selbstbeteiligungen Selbstbeteiligungen können ökonomisch grundsätzlich in einen Lenkungseffekt und in einen Finanzierungseffekt unterteilt werden. Der Lenkungseffekt zielt auf Verhaltensanreize mit der Überlegung, dass bei einer entsprechenden monetären Beteiligung des Versicherten das Verhalten so gesteuert wird, dass unnötige Leistungen nicht mehr in Anspruch genommen werden (ex post moral hazard) bzw. eine verstärkte Risikoprävention betrieben wird (ex ante moral hazard). Der Finanzierungseffekt ergibt sich aus der Tatsache, dass bei zusätzlicher Beteiligung auch mehr Geld eingenommen wird.24 Zuzahlungen im Gesundheitswesen setzen damit einerseits direkt an der Einnahmeseite an und andererseits soll durch Verhaltenskorrekturen der Versicherten die Effizienz des Systems gesteigert werden. Der Erfolg der Maßnahmen hängt aber davon ab, wie elastisch die Nachfrage nach Gesundheitsgütern auf eine Preisanhebung reagiert. Finanzierung- und Lenkungseffekt bewegen sich somit immer im einen Spannungsfeld und sind hinsichtlich der Auswirkungen in kurz- und langfristiger Perspektive nur ungenau vorherzusehen.25

________________ 23

Für einen Besuch beim Arzt, Zahnarzt oder beim Psychotherapeuten müssen Erwachsene seit 1. Januar 2004 eine Praxisgebühr in Höhe von zehn Euro bezahlen. Kinder und Jugendliche bezahlen nichts. Fällig wird die Praxisgebühr bei jeder ersten Inanspruchnahme eines Arztes in einem Quartal. Bei Heilmitteln wie zum Beispiel Krankengymnastik, Ergotherapie oder Massage müssen Patienten zehn Prozent der Kosten selbst tragen. Hinzu kommen zehn Euro pro Rezept. Bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, Verbandmittel und bei Hilfsmitteln (z.B. Einlagen) müssen Patienten künftig zehn Prozent der Kosten selbst tragen. Die Zuzahlung beträgt mindestens fünf, höchstens jedoch zehn Euro. Im Falle einer stationären Behandlung müssen für die ersten 28 Tage 10 Euro am Tag erbracht werden. Fahrtkosten werden nur noch in Ausnahmefällen erstattet. 24 Einen Überblick über die verschiedenen Formen der Selbstbeteiligung und die Auswirkungen findet sich bei Klose/Schellschmidt (2001). 25

Vgl. zur aktuellen Problematik der Zuzahlungsregelungen Pfaff et al. (2003).

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Da die Selbstbeteiligungen von jedem Mitglied der GKV bei der Inanspruchnahme von Leistungen aufzubringen sind, findet hierdurch eine Veränderung der ursprünglichen Umverteilungssituation statt, die aber überdurchschnittlich Geringverdiener belastet.26 Insgesamt findet somit eine Individualisierung der Kosten in der GKV statt, die zumindest in kurzfristiger Perspektive alle Leistungsbezieher schlechter stellt. Für gesunde Versicherte ändert sich dagegen nichts. Im Falle einer Beitragssenkung werden diese die Nutznießer der Reform sein. Die Kompensationszahlungen für die Verschlechterung der Lage z.B. in Form sinkender Krankenkassenbeiträge sind jedoch nicht gewiss und kommen dann auch nur den Beitragszahlern zu Gute, nicht aber allen Leistungsberechtigten.27 Der intendierte Lenkungseffekt dürfte bei der konkreten Ausgestaltung der Zuzahlungsregel auch nur begrenzt eintreten. Um moral hazard wirksam einzudämmen sind Selbstbehaltregelungen notwendig, die mit Anstieg der Kosten ebenfalls steigen. Fixe oder begrenzte Zuzahlungen, wie sie überwiegend im Gesetz vorgesehen sind, verlieren bei hohen Kosten ihre steuernde Wirkung, da der Selbstbehalt dann auf einen kaum spürbaren Anteil schrumpft. Die ausschließliche Lenkung über den Preis ist zudem kritisch zu beurteilen, da auf das Produkt selber weiterhin nur wenig Einfluss genommen werden kann. Das angebotene Leistungsspektrum der Krankenkassen, der Ärzte und Krankenhäuser bleibt weiterhin streng staatlich reguliert über den Leistungskatalog des SGB V. Wahlmöglichkeiten existieren damit nur in geringem Maße und beschränken sich weiterhin überwiegend auf den Wettbewerb über den erhobenen Beitragssatz. Über die langfristigen Effekte besonders hinsichtlich der Folgekosten und Folgeerkrankungen einer reduzierten Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen aufgrund der Zuzahlungen lässt sich nur wenig aussagen. So zeichnet sich bereits zu ________________ 26

Die jährliche Zuzahlung ist gedeckelt auf 2% des jährlichen Bruttoeinkommens, bei chronisch Kranken sinkt diese Grenze auf 1% des jährlichen Bruttoeinkommens. Problematisch ist dabei erstens die Definition der chronisch Kranken, die nicht objektiv sein kann, sondern immer eine willkürliche Dimension hat. Die Definition dieser Ausnahme obliegt dem Gemeinsamen Ausschuss. Auch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten ist zweifelhaft, dass nur die Gruppe der chronisch Kranken nach den entsprechenden vorgegebenen Kriterien einer anderen Belastungshöchstgrenze unterliegt und somit diese gegenüber akut Erkrankten bevorzugt werden, unabhängig davon, welche Ursache die Krankheit hat und welchen Umgang sie mit dieser pflegen. 27

Der Umstand, dass Reformen meistens keine „harmonischen“ und somit paretosuperiore Reformen darstellen, ist die besondere Problematik in der sozialpolitischen Gesetzgebung. Vgl. hierzu Ribhegge (1998), S. 301.

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Jahresbeginn 200428 ein Rückgang der Arztbesuche als Folge der Praxisgebühr ab, der prinzipiell unproblematisch ist, wenn es sich hierbei um Bagatellerkrankungen oder nicht notwendige Arztbesuche handelt. Nicht intendiert in diesem Falle wäre aber eine Verschleppung von Erkrankungen wegen Nichtinanspruchnahme oder einer Verlegung des Arztbesuches in ein anderes Quartal. Dies könnte langfristig auch höhere Folgekosten verursachen und somit die Praxisgebühr letztlich einen kontraproduktiven Lenkungseffekt produzieren. Zudem belastet diese fixe Gebühr die unteren Einkommensschichten überproportional, indem sie einen höheren Anteil des verfügbaren Einkommens bindet. 3. Die Privatisierung des Zahnersatzes Ab 2005 ist für jeden Versicherten obligatorisch eine Zahnersatzversicherung Pflicht, die sowohl über die PKV als auch die GKV abgeschlossen werden kann. Die Beiträge werden entsprechend direkt entrichtet oder aber, entsprechend der bisherigen Praxis, direkt über den Lohn einbehalten. Eine Wahlmöglichkeit besteht somit nur in der Auswahl der Versicherung. Wer jedoch einmal die private Versicherung gewählt hat, kann in diesem Leistungsbereich nicht mehr in die gesetzliche Krankenversicherung zurückwechseln. Mitversicherte Familienangehörige sind beitragsfrei. Die Beiträge werden als Festbetrag29 und nicht einkommensabhängig gestaltet. Neu ist, dass auch Sozialhilfeempfänger Beiträge entrichten müssen, Niedrigeinkommensbezieher aber auf Antrag im Falle der Notwendigkeit des Zahnersatzes Zuschüsse bis zur doppelten Höhe der Festzuschussregelung erhalten können. Kontrolluntersuchungen und Standardprozeduren wie Füllungen werden weiterhin über den Basiskatalog angeboten. Durch die gewählte Form der Pflichtversicherung und die beibehaltende Finanzierungsform stellt die Ausgrenzung des Zahnersatzes aus dem Leistungskatalog der GKV eine weitere Abkehr von der solidarischen Finanzierung und insofern eine Privatisierung der Kosten dar. 4. Beurteilung der Ausgliederung des Zahnersatzes In der Logik der aktuellen Gesundheitsreform die Eigenverantwortung zu stärken und das System (wieder) finanzierbar zu machen, stellt die Auslagerung des Zahnersatzes aus dem Leistungskatalog in der umgesetzten Regelung ein Paradoxon dar. Entsprechend des vorkonstitutionellen Rawls’schen Denkmo________________ 28 Vgl.: „Zahl der Arztbesuche sinkt deutlich“, in: Handelsblatt vom 17.2.2004; Pressemitteilung BMGS 2/2004: 100 Tage Gesundheitsreform, 1. 29

Die Höhe des Beitrags legt der Gemeinsame Ausschuss fest.

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dells lässt sich durchaus argumentieren, dass Zahnersatz nicht in den Leistungskatalog der gesundheitlichen Grundsicherung gehört: ƒ

Es handelt sich um ein planbares Ereignis, dass normalerweise niemanden mit ungewohnter Härte trifft und über die Lebenszeit gesehen aber jeden ereilt. Es steht also durchaus ausreichend Zeit zur Verfügung, entsprechend Rücklagen zu bilden bzw. sich abzusichern.

ƒ

Zahnersatz ist kein lebensnotwendiges Gut. Somit bestehen keinerlei Gründe, ethisch-moralische Vorbehalte zu haben, wenn ein Individuum entsprechend seinen persönlichen Präferenzen diesen nicht wählt.

Auch im Sinne der ökonomischen Theorie liegt keine Form des Marktversagens vor, die ein Eingreifen des Staates mit einer Versicherungspflicht rechtfertigen würde. Zusätzlich zu den hier angeführten Argumenten handelt es sich üblicherweise beim ‘Risiko des Zahnersatzes’ um ein Risiko, das durch eine entsprechende Prävention wie der Ernährung oder Hygiene individuell beeinflusst werden kann und bei entsprechender Präventionsaufklärung in die Eigenverantwortung des Einzelnen gelegt werden kann. Weiterhin bleiben die präventiven Maßnahmen wie der regelmäßige Kontrollbesuch beim Zahnarzt im Leistungskatalog erhalten und stehen somit jedem Versicherten zur Verfügung.30 Nicht nachvollziehbar ist deshalb der Entschluss, den Zahnersatz aus der Grundversorgung des gesetzlichen Leistungskataloges auszugliedern, gleichzeitig diesen jedoch zu einem Gut zu deklarieren, das in Abhängigkeit von Einkommen, Bildung und Schicht zu wenig nachgefragt werden würde, und daher eine Versicherungspflicht zu etablieren. Diese ist aber schon von daher nicht nachzuvollziehen, da es sich nicht um ein Großrisiko handelt. Eine Versicherungspflicht stellt in diesem Fall einen paternalistischen Eingriff des Staates dar, der die Fähigkeit des Einzelnen zur Eigenverantwortung als nicht ausreichend ansieht und sich anmaßt, besser die Interessen der Gesellschaftsmitglieder vertreten zu können als diese selbst. Durch die Festbetragsregel wird in der GKV zudem ein Systemwechsel von einer Versicherung mit Sozialausgleich hin zur Kopfpauschale im Bereich des Zahnersatzes vollzogen, ohne dass dieser als solcher offen thematisiert wird. Aber auch für die PKV bedeutet die Regelung einen Systembruch, da die Zusatzversicherung für GKV-Versicherte nicht risikoäquivalent kalkuliert werden darf und zudem Ansprüche aus dem Bonusprogramm übernommen ________________ 30

Im Rahmen der Vorsorge- bzw. Kontrolluntersuchungen wird dann auch nicht die Praxisgebühr fällig.

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werden müssen. Darüber hinaus müssen bei Vorliegen der Voraussetzungen Familienangehörige beitragsfrei mitversichert werden. Hier werden plötzlich völlig neuartige Regulierungsmaßnahmen im privaten Sektor etabliert, deren Begründung für derart drastische Einschnitte in keinem Verhältnis steht. Schließlich ergibt sich noch ein besonderer Umverteilungseffekt zu Lasten von Sozialhilfeempfängern und Beziehern von anderen bedarfsgeprüften Sozialleistungen. Auch diese fallen unter die Versicherungspflicht einer zusätzlichen Zahnersatzversicherung. Lediglich beim Eigenanteil sind Härtefallklauseln bei der Kostenerstattung vorgesehen. Sofern aber bereits in der Vergangenheit der Sozialhilfesatz ausschließlich das sozio-kulturelle Existenzminimum abgedeckt hat, wird ohne eine Anpassung der Sozialhilfesätze dieses in Zukunft unterschritten. Durch das Gesetz wurde ebenfalls die Stärkung der Konsumentensouveränität beabsichtigt.31 Besonders in dieser Sicht ist aber eine obligatorische Versicherten aus ökonomischer Perspektive kritisch zu beurteilen. Jeder Teil des Einkommens, der nicht zur freien Disposition steht, sondern für eine staatlich oktroierte solidarische Krankenversicherung aufgewendet werden muss, stellt einen Eingriff in die Konsumentensouveränität dar.32 Die Konsumentensouveränität wäre gestärkt durch die Möglichkeit der freiwilligen Zusatzversicherung, wie dies auch bislang gegeben war. Der Handlungsspielraum solch eine Versicherung abzuschließen muss aber im Ermessen des Einzelnen liegen, wobei die entsprechende gesundheitliche Aufklärung und Basisversorgung weiterhin im Leistungskatalog der GKV verbleiben sollte, um gleiche Startchancen zu gewährleisten. Der Leistungskatalog der Zusatzversicherung braucht dann aber nicht mehr gesetzlich normiert zu werden, sondern kann durch den Wettbewerb um das beste Angebot und die Präferenzen der Bürger bestimmt werden.

E. Fazit Die aktuelle Gesundheitsreform stellt einen erheblichen Einschnitt und höhere Belastungen zu Ungunsten der Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Besonders offensichtlich bei der Durchsetzung der Reform war dabei wieder das Spannungsfeld, in dem sich eine solche Umgestaltung eines Sozialsystems befindet. Zu diesem Zweck wurden in diesem Aufsatz vorherrschende Konfliktlinien in der sozialpolitischen Theorie dargestellt. Außerdem wurde der Frage nachgegangen, welche Lösungsansätze hierzu die ökonomische ________________ 31

Vgl. Eckpunkte der Konsensverhandlungen zur Gesundheitsreform vom 22. Juli 2003.

32

Vgl. Oberender/Fibelkorn (1998), S. 107.

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Theorie bietet ohne dabei notwendigerweise allen Gerechtigkeitsvorstellungen entgegen zu stehen. Das Problem der mangelnden Akzeptanz scheint dabei weniger auf eine zu ökonomische Sichtweise zurückzuführen zu sein, als vielmehr auf eine inkonsistente Vorgehensweise, die für die Einzelnen wenig Verlässlichkeit schafft und nicht nachvollziehbar ist. Die Gesundheitsreform folgt mit den hier beschriebenen Regelungen weiterhin der bislang praktizierten Politik der diskretionären Eingriffe. Leider hat man dabei wieder versäumt, das System langfristig auf ein verändertes und solides Fundament zu stellen. Hierzu hätte zunächst die Konsolidierung der Einnahmeseite gehört, verbunden mit einer Modernisierung der Versorgungsstrukturen unter Einbezug aller Akteure. Auch die grundsätzliche Frage der Verteilung wurde durch das Gesetz berührt aber nicht geklärt. Die Veränderung der Zuzahlungsbedingungen mit ihren unterschiedlichen Verteilungswirkungen kann dabei nicht als gerecht empfunden werden, zumal für die Zukunft weder Sicherheit noch Verlässlichkeit für die Bürger geschaffen wurde. Die neuen Zuzahlungsregelungen und Leistungsausgliederungen bedeuten durch die dargestellte Ausgestaltung eine implizite Abkehr vom Solidarmodell. Auch ist eine mangelnde Wahlfreiheit der Versicherten, die sich besonders am Beispiel der Ausgliederung des Zahnersatzes manifestiert, weiterhin nur sehr eingeschränkt möglich. Zur verbesserten Akzeptanz wäre eine verstärkte Wahlmöglichkeit aber sicherlich sinnvoll und würde zudem Effizienzreserven mobilisieren. Weiterhin scheint man aber am Bild eines nur eingeschränkt souveränen Bürgers festzuhalten, der nicht in der Lage ist, seine Interessen angemessen zu vertreten. Eine als gerecht empfundene Politik muss aber an den Präferenzen der Bürger ansetzen. Instrumente hierzu liefert die ökonomische Theorie. Erst durch die gesellschaftliche Diskussion, eine langfristige Weichenstellung des Systems und eine entsprechende Ausgestaltung, die es ermöglicht, den unterschiedlichen individuellen Präferenzen Handlungsspielräume einzuräumen und gleichzeitig Effizienzreserven zu mobilisieren, wird es gelingen, ein langfristig stabiles und von einer Mehrheit akzeptiertes System zu etablieren. Die Ökonomie steht dabei nicht in Konflikt mit einer gerechten Gesundheitsversorgung, sondern liefert Instrumente, die zur Optimierung des Systems beitragen. Das Problem der Gesundheitsreform ist jedoch, dass marktwirtschaftliche Instrumente in einem System, das aufgrund seiner historischen Entwicklung und Ausgestaltung nicht marktwirtschaftlich funktioniert nur punktuell eingesetzt werden und die Instrumente somit an Wirkung verlieren. Die Problematik des Gesundheitswesens, die durch die Reform allenfalls gelindert, aber nicht beseitigt werden, ist somit weniger eine Folge einer vorangeschrittenen Ökonomisierung und einer daraus resultierenden Gerechtigkeits-

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lücke, sondern vor allem die Folge einer unsystematischen und inkonsistenten Gestaltung seitens der politischen Akteure.

Literaturverzeichnis BMGS: 100 Tage Gesundheitsreform, Pressemitteilung, 2/2002. Breyer, F./Zweifel, P.: Gesundheitsökonomie, 4. Auflage, 2003, Berlin. Bundesgesetzblatt Jahrgang 2003 Teil I Nr. 55, Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG) Vom 14. November 2003. Downs, A.: Ökonomische Theorie der Demokratie, 1968, Tübingen Hohmeier, J.: Gerechtigkeit bei der Verteilung und der Rationierung von Gesundheitsleistungen – eine wirtschaftsethische Analyse der Gesetzlichen Krankenversicherung, 2000, Herdecke. Klose, J./Schellschmidt, H.: Finanzierung und Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung. Einnahme- und ausgabenbezogene Gestaltungsvorschläge im Überblick, WIDO-Materialen 45, 2001, Bonn. Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme: Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme, Bericht der Kommission. Hg. von BMGS, 2003, Berlin. Lampert, H./Althammer, J.: Lehrbuch der Sozialpolitik, 7. Auflage, 2004, Berlin. Oberender, P./Fibelkorn-Bechert, A.: Krankenversicherung. In: Ökonomische Theorie der Sozialpolitik, Bernhard Külp zum 65. Geburtstag. Hg. von E. Knappe/N. Berthold, 1998, Heidelberg. Ott, N.: Ökonomische Effizienz und Familienlastenausgleich. In: Familienwissenschaftliche und familienpolitische Signale. Hg. von A. Habisch/B. Jans/E. Stutzer, 2000, Grafschaft, S. 185-200. - Sozialpolitik, in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Band 2, 2003, München, S. 487-543. Pfaff, A./Langer, B./Mamberer, F./Freund, F./Kern, A.O./Pfaff, M.: Zuzahlungen nach dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) unter Berücksichtigung von Härtefallregelungen. Volkswirtschaftliche Diskussionsreihe der Universität Augsburg, Nr. 253, 2003. Ribhegge, H.: Sozialpolitische Reformen in demokratischen Systemen. In: Ökonomische Theorie der Sozialpolitik. Hg. von E. Knappe/N. Berthold, 1998, Heidelberg, S. 13-42. Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen: Gesundheitswesen in Deutschland. Kostenfaktor und Zukunftsbranche. Bd. I: Demographie, Morbidität, Wirtschaftlichkeitsreserven und Beschäftigung, 1996, Baden-Baden.

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Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend: Gerechtigkeit für Familien – Zur Begründung und Weiterentwicklung des Familienlasten- und Familienleistungsausgleichs. Schriftenreihe des BMFSFJ, Bd. 202, 2001, Stuttgart.

Ordnungsethik des Gesundheitswesens und gesundheitsmündige Bürger Hans-Martin Sass

A. Institutionen als Handlungsträger Gesundheitswesen und Krankenversorgung findet in dafür geschaffenen sozialen Institutionen statt, nicht mehr in der Interaktion individueller Ärzte und Patienten. Institutionen haben ein Eigenleben; sie werden geboren, verändern sich, werden sklerotisch oder bleiben flexibel und fit; sie können introvertiert oder extrovertiert sein, auch autoaggressiv, sind gefürchtete oder beliebte Nachbarn, Diebe oder Helfer, Vorbilder oder Schreckgespenste. Institutionen haben Identitätsprobleme, solche des Selbstentwurfs, von Macht und Ohnmacht, unterschiedliche Probleme im Metabolismus und in der Interaktion mit der sozialen, politischen und natürlichen Umwelt. Sie wollen überleben, haben Freunde und Feinde. Wie Individuen beuten sie andere Personen und Institutionen aus oder helfen ihnen; sie bilden Netzwerke und haben zumeist einen starken Überlebenswillen, nicht selten um jeden Preis. Gesundheitsethik und Medizinethik müssen deshalb im größeren Rahmen von Ordnungsethik und Institutionenethik diskutiert werden; Ärzte und Patienten, Prädiktion, Prävention, Akutintervention und chronische Begleitung, Pflege und Beratung, auch medizinische und Gesundheits-Forschung agieren nur innerhalb der von Ordnungspolitik und Institutionenpolitik vorgegebenen Parameter. Begriffe wie Corporate Mission und Corporate Identity, Corporate Profile, Corporate Ethics und Governance wurden entwickelt, um Institutionen als Handlungsträger und Rechts‘personen’ analysieren und strategisch modifizieren zu können. In der Corporate Ethics geht es um zwei Ziele: (1) Führung nach innen und (2) Profilierung nach außen. Krankenhäuser, mehr noch Krankenkassen, sind Profilzentren und Profitzentren. Die Führung nach innen soll einen der Corporate Mission entsprechenden qualitativ gleichbleibenden und berechen- und bezahlbaren Service durch Mitarbeiterführung und Corporate Governance sichern; die Profilierung nach außen dient der Information und Vertrauensbildung bei potentiellen oder faktischen Nachfragern der Dienste des korporativen Nachbarn, insbesondere auch in der Konkurrenzsituation.

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In der Bundesrepublik ist die Rolle der Institutionen konzeptionell und philosophisch am klarsten von der Freiburger ordnungspolitischen Schule Walter Euckens entwickelt worden, aus der Ludwig Erhard, Mueller-Armack und Herder-Dorneich hervorgingen. Arztethik, Patientenethik, Medizinethik sind wesentlich auch Institutionenethik und heute nur innerhalb dieses Rahmens kritisch diskutierbar. Notwendige Reformen, auch Änderungen im Einstellungsverhalten von Ärzten und gesunden und kranken Bürgern, sind nur innerhalb des vorgegebenen Rahmens interaktiver Verhaltensregeln der individuellen und korporativen Handlungsträger möglich.

B. Leistung und Grenzen des Prinzips Solidarität Ethik und Ökonomie sind keine Gegensätze; sie brauchen es jedenfalls dann nicht zu sein, wenn die wirtschaftlichen Strukturen ordnungspolitisch durch ordnungsethische Regeln bestimmt werden, die sich an den Rechten und Pflichten mündiger Bürger und den Prinzipien der Solidarität und Verantwortung orientieren. Das über 100 Jahre alte deutsche System der Krankenversicherung war bisher weltweit vorbildlich in Konzeption und Realisierung. Zeitgebunden war es ordnungspolitisch eine Risikoversicherung gegen Krankheit, als die Medizin sowohl in Prädiktion wie in Therapie wenig leistungsfähig war. Es basierte auf dem einen ordnungsethischen Prinzip der Solidarität gegen unbekannte und unkontrollierbare Risiken. Nicht allein, aber gemeinsam mit verbesserter Bildung, Hygiene, Ernährung, Wohnung und Arbeit hat dieses Modell zu besserer Gesundheit als Voraussetzung für Lebensqualität und Lebenserwartung geführt. In den letzten Jahrzehnten haben sich nun aber medizinische Prädiktion und Intervention in Leistung und Qualität gesteigert, während das ordnungsethische Modell statisch unverändert blieb. Dies sind einige der Symptome der degenerativen Sklerose des einstmals optimalen Modells: (1) makroökonomische „Deckelung“ von Kosten und kostenorientierte Regulierung von Behandlungen und Arzneimitteln greifen sachfremd in die Verantwortung von Ärzten und die Bedürfnisse von Patienten ein; (2) vor allem gegen Ende von Abrechnungszeiträumen kommt es zu verändertem Behandlungs- und Verschreibungsverhalten, damit auch zu gesundheitsschädlichen Verschiebungen oder Verweigerungen von Interventionen sowohl in der Praxis wie in der Klinik; (3) das „Überleben“ von Krankenhäusern und anderen Einrichtungen hängt zunehmend mehr von der Kreativität und Virtuosität kaufmännischer Leiter als von der Kunst der Ärzte oder Leistungen in Pflege und Labor ab. Diese Situation wird fälschlicherweise als „Knappheit der Ressourcen“ beschrieben. Ordnungsethisch und gesundheitsethisch handelt es sich nicht um Knappheit, sondern um Fehlsteuerung der Ressourcen möglicherweise begründet im Behar-

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rungsvermögen und Überlebensinteresse sklerotisch gewordener Institutionen. Die Ressourcen sind fehlgesteuert, weil die Gesundheitspolitik (1) prädiktive und präventive Leistungen der modernen Medizin unterbewertet, (2) Informationsmöglichkeiten und Bildungsstand nicht zur Entwicklung von Gesundheitsmündigkeit und Gesundheitsverantwortung nutzt, (3) Tendenzen zu einer Mentalität des Vollkasko in Sachen Gesundheit stärkt, (4) Medikalisierung lebensweltlicher Probleme fördert und (5) nicht eindeutig genug unterscheidet zwischen Leistungen zur Bekämpfung von Krankheiten oder Krankheitsrisiken und solchen zur Verbesserung von Lebensqualität, Lebenslust und Leistungskraft. Insgesamt führt diese Fehlsteuerung der Ressourcen (a) zu Gesundheitsunmündigkeit und Abhängigkeit der Bürger, (b) zu Degeneration und Leistungsverlust des Systems und (c) zur Perversion des originalen ordnungsethischen Prinzips der Solidarität. Sowohl die Realität wie die Änderungsversuche verstoßen gegen das Prinzip der Solidarität, das sie doch zu fördern vorgeben.

C. Gesundheitsmündigkeit als ethisches Prinzip Statt fälschlicherweise von der Knappheit der Ressourcen sollte man richtiger von der Fehlsteuerung der Ressourcen sprechen, weil die Diskussion bisher im Wesentlichen ökonomistisch geprägt ist und weder die Validität noch die Steuerungsleistung des Prinzips Solidarität ökonomisch und ethisch kritisch überprüft. Die medizinethische Validierung von leistungsstarker Medizin und mündigem Bürgersinn stellt die alleinige Geltung des Prinzips der Solidarität infrage. Sie versichert sich neben dem Prinzip der Solidarität des Prinzips Mündigkeit als des zweiten Beins eines modernen, sowohl Solidarität wie Selbstbestimmung sichernden und fördernden Gesundheitssystems. Bessere medizinische Kenntnisse und bessere Informationsmöglichkeiten machen den Übergang zwingend von einem veralteten Modell der Schwerpunktsetzung auf Akutintervention, in welchem Medizin nicht selten als vermeintlich ziemlich preiswerter Betrieb für Reparatur von vermeidbaren Gesundheitsschäden betrachtet wurde, zu einem zukunftsorientierten Modell mit einer doppelten Schwerpunktsetzung: Prädiktion und Prävention auf der einen und Akutintervention und Begleitung chronischen Krankseins auf der anderen Seite. Der Übergang von dem alten zu einem neuen Modell der solidarischen Gesundheitsfinanzierung und -förderung ist völlig unabhängig von den Finanzierungsaspekten ethisch und medizinisch überfällig. Wie wenig Solidarität als einziges Prinzip ohne die Interaktion mit dem Prinzip Mündigkeit als Verantwortungsmündigkeit ausrichten kann, zeigt sich an den Verantwortungs- und Mündigkeitsleistungen, die zum Beispiel von Diabetikern, Dialysepflichtigen und Transplantierten erbracht werden müssen, damit ärztliche Kunst und ökonomische Kosten wirksam werden können. Es zeigt sich auch an den Verantwortungsansprüchen, die an Bluthochdruck- und Blutfettpatienten, an

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Abhängige und an alle diejenigen gestellt werden, die mit vererbten oder erworbenen gesundheitlichen Belastungen leben müssen und die eine verbesserte Gesundheit, Lebensqualität und Lebenserwartung nicht allein von der Solidargemeinschaft, sondern vor allem auch sich selbst verdanken. Die rasante Entwicklung der genetischen Prädiktion im Blick auf individuelle Risiken für Gesundheit, Arzneimitteltoleranz, Lebensstil und Arbeitsplatz wird jedem Einzelnen von uns Informationen geben können, die vom Fachmann erläutert und begleitend beratend überhaupt erst dem medizinischen Laien erlauben, sich entsprechend dem eigenen Verständnis von Lebenszielen und Lebensqualitäten selbstbestimmt und selbstverantwortlich mit Chancen und Risiken von Anlage und Umwelt für Gesundsein und Gesundfühlen auseinander zu setzen. Das enorme Wachstum von Internetseiten zu Gesundheit (vgl. www.health-literacy.org) und die aktive Nachfrage nach solchen Seiten ist ein Beweis, dass Bürger und Patienten mündiger sind oder sein wollen, als Institutionen der Krankenversorgung und Gesundheitspflege es zur Kenntnis nehmen und entsprechende Angebote machen. Das Recht zu Mündigkeit und Verantwortung kann nur wahrnehmen, wer Informationen hat über Risiken und Risikostrategien. Deshalb wird die gesundheitsethisch notwendige Transformation zu einem bipolaren ordnungsethischen Modell einer Interaktion von Solidarität vordringlich von einem Recht zum Wissen ausgehen und dieses ordnungspolitisch und gesundheitspolitisch fördern und sichern müssen. Es gibt keine Pflicht, sich entsprechend den Informationen über Risiken und ihre Vermeidung oder Milderung verhalten zu müssen – eine solche Pflicht könnte nur in faschistischen Staaten ohne Respekt vor der Würde des Gewissens auf Selbstbestimmung gefordert werden und freiheitliche Gesellschaften müssten alles tun, um das Recht auf Autonomie auch im Umgang mit Gesundheit zu sichern –, aber es gibt eine Bürgerpflicht zur Gesundheitsmündigkeit, sich über generelle und individuelle Risiken für Gesundheit und den Umgang mit diesen informieren zu lassen, und eine ordnungsethische Pflicht, diese Informationen anzubieten und zu vermitteln. Es ist selbstverständlich, dass diese Pflicht zum Wissen nur diejenigen Informationen betrifft, deren Kenntnis sinnvoll für die Vermeidung oder Verringerung von Schäden für die Gesundheit sind. Eine Gesellschaft mündiger Bürger darf kein Recht auf Nichtwissen und Köhlerglauben akzeptieren, das sind wir dem Respekt individueller Selbstbestimmung und der Optimierung der Opportunitätschancen aller Mitbürger schuldig. Krankheiten kommen manchmal „einfach so daher“; wir wissen aber heute immer genauer, woher sie kommen, wie sie sich entwickeln und wie man sie vermeiden oder erträglich machen kann. Deshalb ist auch der Gesundheitsbegriff der WHO, welcher Gesundheit als einen „Zustand vollständiger körperlicher, geistiger und sozialer Gesundheit“ bezeichnet und von daher mit Recht an Solidarität in der Akutintervention appelliert, nicht mehr zutreffend. Gesundheit ist auch Ergebnis

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eigenen Bemühens: Gesundheit ist Ergebnis gesundheitsmündiger und risikokompetenter Pflege des eigenen körperlichen, geistigen, emotionalen und sozialen Gesundseins und Gesundfühlens, im Umgang mit eigener Begabung und Behinderung und mit Herausforderungen gesellschaftlicher und natürlicher Umwelt, mit Rat und Tat kompetenter medizinischer Fachleute und in einem gerechten Zugang zu den Ressourcen eines solidarisch finanzierten Gesundheitswesens. Aus diesem zeitgemäßen und breiter gefassten Gesundheitsbegriff leiten sich individuelle Forderungen an die Solidargemeinschaft zu einer radikalen Änderung in der Steuerung der Ressourcen solidarischer Gesundheitspflege ab.

D. Fünf Säulen solidarischer und mündigkeitsbasierter Gesundheitssysteme Zu den tragenden Elementen eines auf Mündigkeit und Solidarität gemeinsam abgestützten Gesundheitswesens gehören die folgenden fünf Säulen: (1) Stärkung von Gesundheitsmündigkeit als Recht und Pflicht der Bürger. (2) Kostenlose individualisierte Gesundheitsinformation. (3) Solidarische Finanzierung akuter Basisversorgung. (4) Individuelle Finanzierung sonstiger Kosten. (5) Gesellschaftliche Akzeptanz individuell unterschiedlichen Umgangs mit Gesundheit und Gesundheitsrisiken. Gesundheitsmündigkeit ist ein Bürgerrecht, das zu entwickeln und zu stärken zu den primären Zielen eines solidarischen Systems von Gesundheitspflege gehört. Es beinhaltet primär das Recht, über generelle und individuelle Gesundheitsrisiken, ihre Vermeidung oder Reduktion angemessen aufgeklärt zu werden und mit Rat und Tat bei der Ausbildung von Gesundheitsmündigkeit und -pflege unterstützt zu werden. Im Kostenvergleich ist diese Prioritätensetzung eher gering, der Aufwand an aufklärerischer und emanzipatorischer Arbeit gerade wegen der vergangenen Fehlsteuerung der Ressourcen jedoch enorm. Ganz abgesehen von den Kosten, in einer solidarischen Gesellschaft mündiger Bürger gehören Information über den Umgang mit Behinderung und Begabung und die Auseinandersetzung mit Grenzfragen des Lebens – unheilbaren Krankheiten, Schwäche, Alter, Demenz und Sterben – zum öffentlichen Diskurs und zum verantwortlichen sozial- und ordnungsethischen Umgang mit Mitmenschen und Mitbürgern. Individuelle Gesundheitsinformationen sind die Voraussetzung dafür, dass ich überhaupt angemessen mit den speziellen Risiken für meine Gesundheit (alters-, erb-, umwelt-, lebens- und arbeitsstilbezogen) mich auseinander setzen kann. Untersuchungen zur Vorsorge, auch genetische Diagnosen, sollten einen neuen Stellenwert in der solidarischen Finanzierung haben und den Patienten oder potentiellen Patienten mit schriftlichen Informationen über Gesundheitszustand und mit individualisierten Ratschlägen für das Risikomanagement versor-

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gen und begleiten. Es verstößt nicht gegen Bürgerrechte, das Mündigkeits- oder Solidarprinzip, wenn Vorsorgeuntersuchungen staatsbürgerliche Pflicht von solidarisch Versicherten werden. Die Beachtung präventiver Ratschläge, die sich aus der Untersuchung ergeben, darf aber in nicht-totalitären Gesellschaften nicht verlangt werden. Es dürfte auch nicht der individuellen Verantwortung für Gesundheit widersprechen und noch weniger dem Solidaritätsprinzip, wenn die Wahrnehmung des „Rechts auf Nichtwissen“ über den eigenen Gesundheitszustand durch höhere Solidarbeiträge erkauft werden müsste. Medizinische Grundversorgung muss solidarisch finanziert werden. Ein Streit um die Frage, was zu einer Grundversorgung gehört, ist generell kaum lösbar und darf auch nicht uniform gelöst werden. In jedem Fall hat der Einzelne das Recht auf ein individuelles Grundversorgungspaket entsprechend eigenen Risikoprofilen und Behinderungen. Darüber hinaus gibt es Klugheitsmodelle, die sich optimal am Verantwortungs- und Solidaritätsmodell orientieren: (1) Eine Basisfinanzierung darf niemals uniform sein, sondern muss entsprechend dem Prinzip der Solidarität individuellen genetischen und anderen Risikoprofilen Rechnung tragen. (2) In der Praxis lässt sich die Problematik der Formulierung des Umfangs und Inhalts der Grundfinanzierung dadurch verringern, dass Versicherer in und neben einem identischen Kernbestand Schwerpunkte setzen. (3) Wenn ein Ausgleich unter den Versicherern ausgeschlossen wird, dann werden Bürger indirekt durch Wahl entscheiden, welches der leicht unterschiedlichen Pakete der Grundversorgung ihren Notwendigkeiten, Werten und Wünschen besser entspricht.

E. Mündige Bürger, Solidarität und Subsidiarität Es gibt medizinische Leistungen, die nicht zum Grundbestand einer solidarischen Versicherung gegen die Launen von Natur und Mitmenschen und gegen die individuell unterschiedlichen Begabungen und Behinderungen gehören. Das sind (1) Leistungen, die mit dem Recht auf individuelle Bestimmung von Lebensqualitäten und Lebenszielen zusammenhängen, (2) Gesundheitsrisiken, die sich aus bestimmten Tätigkeiten ergeben, und (3) ethisch innerhalb der Solidargemeinschaft umstrittene Interventionen. Es spricht ordnungsethisch nichts dagegen, die Kosten einiger oder aller dieser Interventionen steuerlich vergleichbar zu behandeln wie die Prämien zu Gesundheitskassen, Lebensversicherungen oder Bausparbeiträgen. Es ist ethisch nicht begründbar und nicht wünschbar – eindeutige Krankheitsbilder ausgenommen, die selbstverständlich Solidarität verlangen –, dass lebensstilrelevante, beispielsweise schlankmachende, erektionsfördernde, beruhigende oder Ärger und Trauer vertreibende Medikamente, die individuell das Leben lebenswerter machen sollen, von der solidarischen Notgemeinschaft finanziert werden sollen. Auch die Wahl von gesundheitsfördernden und -er-

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haltenden Lebensmitteln, Vitaminen, Mineralien, ebenso wenig wie gesunde Kleidung und Schuhwerk, dürfen solidarisch vorgeschrieben oder finanziert werden. Für soziale Notfälle hat die Solidargemeinschaft ein Sozialsystem entwickelt, das notfalls auch die Beiträge zur medizinischen Grundversorgung übernehmen muss, das aber nicht mit dem Gesundheitssystem verwechselt oder vermischt werden darf. Auch eng definierbare Gesundheitsrisiken, die sich aus sportlichen oder beruflichen Freuden oder Pflichten ergeben, sind aus der solidarischen Grundversicherung auszuklammern und in eigenen Unfall-, Auto-, oder Skiversicherungen abzudecken. Und vor allem sind innerhalb der Solidargemeinschaft ethisch umstrittene medizinische Maßnahmen und deren Kosten schon aus ethischen Gründen aus der Grundversicherung auszuschließen. Solange etwa 50% der Deutschen den Schwangerschaftsabbruch ethisch nicht akzeptieren, verstößt es zutiefst gegen das Prinzip der Solidarität, alle Mitglieder der Notgemeinschaft einer medizinischen Grundversorgung in ihrem Gewissen und mit ihren Kosten durch solidarische Finanzierung weltanschaulich umstrittener Interventionen zu belasten. Für diese Klassen von Gesundheitsrisiken oder individuell erwünschten und definierten Verbesserungen von Gesundheit darf und kann die Solidargemeinschaft nicht aufkommen. Das würde dem Prinzip der Solidarität widersprechen, auch dem Prinzip der Verantwortung und dem Recht zu individuell unterschiedlicher Lebensauffassung und Lebensgestaltung. Sofern diese Klassen von gesundheitlichen Risiken oder Erwartungen nicht individuell verantwortet und finanziert werden können, bietet es sich an, ein anderes klassisches Prinzip der gegenseitigen Hilfe für diese Fälle ethisch nutzbar zu machen, das Prinzip der Subsidiarität. Subsidiarität bedeutet Hilfe für andere, die sich selbst nicht helfen können; sie wird teils von solchen erbracht, die mit den Bedürftigen gemeinsame Werte und Erwartungen teilen, oder von denen, die schlichtweg helfen wollen, auch wenn sie die Werte und die Lebensumstände der Bedürftigen nicht teilen. Gerade für weltanschaulich umstrittene Ziele und Maßnahmen, wie etwa beim Schwangerschaftsabbruch, gibt es immer eine Seite, die vehement für die Werte und Ziele der Betroffenen und Kritisierten eintritt; es dürfte deshalb nicht schwer sein, subsidiär Mittel aufzubringen; das wäre in den meisten Fällen auch ordnungspolitisch zu fördern.

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F. Von der Krankenversorgung zur Gesundheitsvorsorge Wenn wir vom Referenzsystem der akuten Krankenversorgung zu dem der nichtakuten präventiven und prädikativen Gesundheitsvorsorge für und durch gesundheitsmündige Bürger übergehen wollen, dann versagt das Referenzprinzip Solidarität und muss durch das Referenzprinzip Mündigkeit erweitert werden. Wenn Gesundheitsrisiken erkennbar und durch Prävention vermeidbar oder reduzierbar werden, dann würde der ausschließliche Bezug auf das Solidaritätsprinzip ungerecht sein und den eigenen Regeln solidarischer Fairness widersprechen. Ordnungsethisch würde es Unverantwortlichkeiten und Unmündigkeiten im Umgang mit der eigenen Gesundheit fördern und eine Kostenlawine lostreten. Prioritäten in einem auf Verantwortung statt auf Solidarität als dem tragenden ethischen Prinzip beruhenden öffentlichen System der Gesundheitsvorsorge sind die allgemeine Erziehung zur Gesundheitsmündigkeit und der individuelle Zugang zu Informationen über eigene Gesundheitsrisiken, ihre Vermeidung oder Reduktion. Diese Transformation des Referenzprinzips bedeutet keine Begrenzung von Leistungen, sondern eine Transformation von Leistungen, weg von der Finanzierung von Krankheit hin zur Finanzierung von Vorsorge. Um Gesundheit zu erhalten und Lebensqualität zu verbessern, brauchen wir nicht von den Gefahren einer Begrenzung der Leistungen zu sprechen. Was wir tun müssen zur Erhaltung unserer Gesundheit ist eine ordnungspolitische Transformation der Leistungen der „öffentlichen Hand“ und der Träger der solidarischen Gesundheitsversorgungsnetze, keine Begrenzung. Gesundheitserziehung und Gesundheitsinformation stärken die individuelle Gesundheitsmündigkeit. Das im Grundgesetz thematisierte Recht auf Gesundheit bedarf einer durch das Verantwortungsprinzip modifizierten Interpretation. Das Recht auf Gesundheit ist zunächst einmal primär mein garantiertes Recht, selbst für meine Gesundheit zu sorgen, und nicht ein Recht, von anderen Kosten für die Wiederherstellung meiner Gesundheit einzufordern. Recht auf Gesundheit ist daher auch eine Pflicht, dieses Recht für sich in Anspruch zu nehmen. Ansprüche leiten sich aus diesem Recht auf Gesundheit an die Solidargemeinschaft und die Ordnungspolitik nur insofern ab, dass diese mir helfen müssen, durch die Bereitstellung von Opportunitätschancen, mein Recht und meine Pflicht für meine Gesundheit zu sorgen, auch kompetent und informiert wahrnehmen zu können. Die KVs (Krankenversicherungen) sollten sich in GVs bzw. GVaGs (Gesundheitsvorsorge-Versicherungen auf Gegenseitigkeit) umbenennen, um schon vom Namen her zu demonstrieren, dass sie konzeptionell die neuen Herausforderungen erkannt haben und sich ihnen stellen wollen. Auch das traditionelle Gegensatzpaar Gesundheit-Krankheit, das konstituierend für die Einrichtung einer solidarischen Krankenversicherung war, kann in dieser Eindimensionalität medizinisch nicht mehr aufrechterhalten werden und muss daher auch sozial- und ordnungsethisch revidiert werden. Wir unterscheiden heute nicht

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mehr einfach zwischen gesund und krank, wie das früher einmal zur Zeit der Gründung von Krankenkassen möglich gewesen sein mag, sondern zwischen subjektiven und objektiven Befindlichkeiten von Wohlfühlen und Wohlsein: Bei Kopfschmerzen nach einer langen Nacht oder beim „Kratzen im Hals“ fühle ich mich unwohl, bin aber nicht eigentlich krank; bei hohen Blutfettwerten oder einem noch nicht symptomatischen Karzinom fühle ich mich pudelwohl, bin aber ziemlich krank. Die Fortschritte der prädikativen Medizin werden uns zwingen, unser Vokabular zu bereichern und Begriffe für die einzelnen Komponenten eines Konglomerats differenzierter und unterschiedlicher symptomatischer oder präsymptomatischer Prädispositionen für vermeidbare, behandelbare, nichtbehandelbare, in ihrem Ausbruch verschiebbare, durch Umwelt, Arbeitswelt, Lebensstil beeinflussbare oder nichtbeeinflussbare oder modifizierbare Gesundheitsrisiken zu unterscheiden. Das ethische Management dieser unterschiedlichen Szenarien kommt nicht mehr mit dem Begriff der Solidarität als dem einzigen Prinzip aus. Je nach Information, Risikokompetenz und Gesundheitsverantwortung wird der Einzelne mit Gesundheitsrisiken, die nicht mehr vom Krankheitsbegriff abgedeckt werden, anders umgehen. Nur das Referenzprinzip der Verantwortung und Gesundheitsmündigkeit erlaubt sinnvolle Diskussionen ethischer und ordnungspolitischer Aspekte der Gesundheitsvorsorge.

G. Ethische Prioritätssetzungen unterschiedlicher Gesundheitssysteme Bisherige Versuche, ordnungspolitisch unter Ausklammerung des Prinzips der Gesundheitsmündigkeit und -verantwortung Gesundheitssysteme effizienter zu machen und bezahlbar zu halten, sind gescheitert und werden scheitern. Dabei denke ich nicht nur an das deutsche System, das ordnungspolitisch mit Recht als ein quasi-Markt-System von Interessenverbänden als Marktteilnehmern verstanden werden kann, sondern auch an die Experimente mit Systemen sozialistischer oder staatssozialistischer, oregonisierter oder marktwirtschaftlicher Schwerpunktsetzung. Die meisten Systeme sind Systeme paternalistischer Kostenkontrolle, die einen über den Zugang zum System, die anderen innerhalb des Systems über Warteschlangen, Positiv- oder Negativlisten oder uniforme, nichtindividualisierte Kostenerstattungen. Von all diesen Modellen scheint mir ordnungsethisch das von Oregon, USA, in dem über den Anteil der Solidarkosten für Gesundheitspflege am Bruttosozialprodukt und über Allokationen durch Positiv- und Negativlisten demokratisch befunden wird, das Akzeptabelste zu sein. Damit wäre die ordnungsethische Letztverantwortung beim Bürger und den gewählten Vertretern. Die Sachkompetenz wäre von den Medizinern zu erbringen und auch die Verantwortung, innerhalb des Rahmens die Mittel zum Wohl der Patienten auszugeben. Keines der Systeme wagt im Übrigen, für durch Modifikation des Lebensstils mögliche Vermeidungen von Gesundheitsrisiken Prämien und für Nichtvermei-

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dungen Strafen auszusetzen; für ausschließlich auf dem Prinzip der Solidarität aufgebaute Systeme wäre eine solche Einforderung von Einhaltung und Beachtung staatlich oder solidarisch vorgegebener Gesundheitsprofile unverzichtbar, wenn nicht das Prinzip sich selbst strafen und den egoistischen Trittbrettfahrer des Systems belohnen soll.

H. Panoptikum der Gesundheitssysteme I. „Socialized Medicine“ ƒ

Makroökonomische Allokation von Ausgaben

ƒ

Mikroökonomische Steuerung durch Warteschlangen und Diagnose

ƒ

Zielkonflikte: Politische Ausgabensteuerung

ƒ

Sozialethisches Prinzip: Gleichheit

ƒ

Ordnungsethisches Prinzip: Allokation im BSP

II. Marktorientierte Systeme ƒ

Angebot- und nachfragegetriebene Kostenentwicklung

ƒ

Zielkonflikte: mangelnde Versorgung von Marktschwachen

ƒ

Sozialethisches Prinzip: Selbstbestimmung

ƒ

Ordnungsethisches Prinzip: Marktkräfte und Eigennutz

III. Oregonisierende Systeme ƒ

Positivlisten für solidarische Finanzierung

ƒ

Ausgabensteuerung durch demokratische Entscheidungen

ƒ

Zielkonflikte: Finanzierung sonstiger Kosten

ƒ

Sozialethisches Prinzip: Solidarische Vereinbarungen

ƒ

Ordnungsethisches Prinzip: Demokratische Abstimmungen

IV. Solidarsysteme ƒ

Finanzierung von Krankheitskosten auf Gegenseitigkeit

ƒ

Ausgabensteuerung durch quasi-Markt round-table Gremien

ƒ

Zielkonflikte: Gerechte Ausgabenbegrenzung

Ordnungsethik des Gesundheitswesens und gesundheitsmündige Bürger

ƒ

Sozialethisches Prinzip: Solidarität

ƒ

Ordnungsethisches Prinzip: Solidarität

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V. Verantwortungsbasierende Systeme ƒ

Solidarische Finanzierung von Gesundheitsinformation

ƒ

Priorität von Gesundheitsvorsorge vor Akutintervention

ƒ

Solidarische Finanzierung von akuter Grundversorgung

ƒ

Private Finanzierung sonstiger Versorgung

ƒ

Zielkonflikte: Grenzen individueller Verantwortungskompetenz

ƒ

Sozialethisches Prinzip: Verantwortung

ƒ

Ordnungsethisches Prinzip: Selbstverantwortung in Solidarität

I. Den Bürger beteiligen und Leistungen verbessern Das Skandalöse an unseren Diskussionen um die Reform der Gesundheitsvorsorge ist die ausschließliche Konzentration auf Finanzierungsfragen und die verzweifelten, aber vergeblichen Versuche der Anklammerung an das Solidaritätsprinzip und der Ausklammerung des Verantwortungsprinzips. Nur in einem solchen Szenarium kann die Parole diskutiert werden: Leistungen begrenzen – Gesundheit erhalten; diese Perspektive ist falsch. Die Parole muss vielmehr lauten: Leistungen verbessern. Es muss daher heißen: Leistungen verbessern – Gesundheitsmündigkeit fördern. Die Verbesserung der Leistungen der Institutionen des Gesundheitssystems liegt nicht in einem Mehr an Finanzierung, sondern in einem Mehr an Aufklärung, Information, Prädiktion und Prävention. Die Änderung des Systems wird jedoch nicht erfolgen, ohne dass wir individuell und gesellschaftlich unsere Einstellungen zur Verantwortung für die eigene Gesundheit ändern. Die Art und Weise, wie wir mit der modernen Medizin als einem Reparaturbetrieb für Gesundheitssünden und als Medium der individuellen und kulturellen Verdrängung von Alter, Sterben und Tod umgehen, lässt die Hoffnungen auf die medizinisch mögliche, ethisch notwendige und ordnungspolitisch überfällige Transformation der Gesundheitssysteme nicht gerade in den Himmel wachsen. Die Entwicklung eines Mischsystems von Grund- und Zusatzversorgungen, wie es von vielen, von mir seit 1985, vertreten wird, wäre ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu einem Gesundheitsmündigkeit stärkenden und Lebensqualität verbessernden gesundheitsfördernden System. Zur Grundversorgung gehört neben und vor einer Liste akuter Interventionen, die solidarisch finanziert werden, die Realisierung des ordnungsethischen Auftrages, die Wahrnehmung

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des Rechts auf Gesundheit zu gewährleisten durch Erziehung zur Gesundheitsmündigkeit und die Bereitstellung von Informationen für die individuelle Gesundheitsvorsorge. Die Alternative zum Wohlfahrtsstaat ist der Mündigkeitsstaat. In der Mündigkeitsgesellschaft werden Verantwortungskompetenz und Selbstbestimmungspflicht des Einzelnen gefördert, nicht unterdrückt. Die Transformation der Wohlfahrtsgesellschaft, die ordnungsethisch und sozialethisch, oft auch finanziell, an ihre Grenzen gekommen ist, in eine Mündigkeitsgesellschaft ist kein revolutionärer Prozess, sondern verlangt, dass Schritt für Schritt das Prinzip Verantwortung gestärkt und das Prinzip Solidarität ihm nachgeordnet wird. Deshalb lautet meine zweite These: Das traditionelle und statische System der Krankenversorgung muss aus ordnungsethischen und gesundheitsethischen Gründen zu einem differenzierten mehrfach gegliederten System einer modernen Gesundheitspflege entwickelt werden. Die im Anhang abgedruckten Tugendkataloge für Patienten oder potentielle Patienten, Ärzte, Pfleger und Administratoren sollen die verantwortungsethischen Vernetzungen in einem primär auf Verantwortung und nachgeordnet auf Solidarität und Subsidiarität aufgebauten komplexen System einer zukunftsorientierten Gesundheitspflege aufzeigen.

J. Traditionelle Krankenhäuser und künftige Gesundheitszentren Eine zentrale Rolle bei der Entwicklung eines zukunftsorientierten Gesundheitswesens wird die Reform der Krankenhäuser zu modernen und leistungsstarken Zentren der Gesundheitspflege spielen müssen. Auch Krankenhäuser und Gesundheitszentren haben ein Gesicht, ein Profil, einen Charakter, eine mehr oder weniger geschätzte oder kalkulierbare Werthaltung und ein Leistungsprofil. In Philosophie und Unternehmenstheorie sprechen wir von „korporativen Personen“, die gut oder schlecht sind, die jung und dynamisch oder alt und sklerotisch sein können, einflussreich oder Spielball von anderen menschlichen oder juristischen Personen. Vor allem aber bewerten wir korporative Personen nach den Werten und Leistungen, die sie in unsere Gemeinschaft einbringen, nach den guten nachbarschaftlichen Diensten, die sie für Einzelne, die Stadt oder Gemeinde oder die Gesellschaft insgesamt erbringen. Das Charakterprofil eines Gesundheitszentrums stellt sich primär unter ethischen und gesundheitsethischen Aspekten dar; man kann sich aber auch mit der notwendigen Profilierung unter Gesichtspunkten des Wettbewerbs auseinandersetzen. Im Vordergrund der Diskussion um die Krankenhausreform stehen leider sehr häufig nur ökonomische Überlegungen und Zwänge. Von der notwendigen Reform des Krankenhauses kann man aber nicht reden, wenn man sich nicht auf das unternehmerische Ziel, das ein ethisches ist, konzentriert. Im Mittelpunkt des wirtschaftlichen Handelns des Krankenhauses stehen ethisch notwendige

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und gesellschaftlich erwünschte medizinische Leistungen, genauer die des stationären Heilens, Pflegens, Linderns und Begleitens. Stationäre Versorgung ist aber im Zeitalter moderner prädikativer, präventiver und akut intervenierender Medizin eng verzahnt mit der nichtstationären allgemeinmedizinischen und fachärztlichen peristationären Versorgung. Diese Situation zwingt zu einer Transformation bisheriger ethischer und medizinischer Parameter bei Laien und Experten, bei Patienten und Ärzten. Auch das Krankenhaus der Zukunft muss sich sowohl aus medizinischen wie aus ethischen Gründen innerhalb des größeren Szenariums der Dienstleistungen moderner Gesundheitsfürsorge neu definieren. Nichtakute Gesundheitsvorsorge und die akute Krankenversorgung gehören zusammen; beide zusammen bestimmen Leistung und Leistungsprofil des Gesundheitszentrums der Zukunft. Die Qualitätssicherung dieses doppelten Unternehmensziels und die Profilierung des modernen Gesundheitszentrums Mitarbeitern, Nachfragern, Finanzierern und der Öffentlichkeit gegenüber ist die zentrale Herausforderung für Führung und Management. Ökonomisches Überleben der korporativen Person und ihre fachliche, ethische und gesellschaftliche Anerkennung als eines geachteten institutionellen Mitbürgers wird durch Führung und Management im Wettbewerb entschieden. Das leistungs- und qualitätsorientierte marktwirtschaftliche Krankenhaus ist eine Herausforderung an Medizinethik und Unternehmensethik gleichermaßen. Die stationären Dienste eines Krankenhauses müssen sich innerhalb des breiten Angebots moderner Gesundheitsfürsorge neu definieren und an einem breiter gefassten ethischen Unternehmensziel ausrichten. Die medizinisch-ethischen Kriterien für die Qualitätssicherung gesundheitsfürsorglicher Dienstleistungen sind seit Jahrhunderten bekannt und weitgehend unumstritten. Sie gelten auch für die Hochleistungsmedizin in der stationären und peristationären Versorgung von heute. An den Kriterien des Schadensverbots und des Hilfsgebots, der professionellen Verantwortung und dem Respekt vor dem Patienten in der Achtung seiner Würde und Selbstbestimmung zu rütteln, wäre sowohl medizin-technisch wie medizinisch-ethisch verheerend, weil es das Vertrauensverhältnis nicht nur zwischen individuellen Anbietern und Nachfragern zerstört, sondern auch im Wettbewerb profilschädigend – und damit auch profitschädigend – wirkt. Die Hochleistungsmedizin muss mehr noch als die frühere technisch weniger leistungsfähige Medizin auch die Frage nach dem Sinn und den Grenzen des Einsatzes des technisch Möglichen im Lichte des menschlich und medizinisch Sinnvollen und Wünschenswerten stellen und mitbedenken. Die Abwägung des Hilfsgebots, bonum facere, und des Nichtschadensgebots, nil nocere, beispielsweise darf nicht nur unter technischen Aspekten, sondern muss auch unter ethischen Aspekten erfolgen. Nicht bei jedem Patienten ist bei gleicher Diagnose und Prognose dieselbe Behandlung indiziert. Ein Krankenhaus würde im Wettbewerb verlieren, wenn der

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Kunde befürchten muss, dass nur Symptome uniform und generell, nicht aber Mitmenschen individuell behandelt werden. Die Intensität der Intervention an sich ist kein Maßstab für eine gute Leistung, sondern muss sich zurückbinden in die patientenorientierte differentialdiagnostisch und differentialethisch gerechtfertigte Leistung, welche die Maschinen dort einsetzt, wo es sinnvoll, notwendig und erwünscht ist, welche aber auch die Angst vor den Maschinen, vor dem medizinisch verlängerten langsamen Sterben und die Selbstbestimmung des Patienten ausgedrückt in einer Betreuungsverfügung ernstnimmt. Gerade im Zeitalter der Hochleistungsmedizin müssen die Prinzipien des Nichtschadens und des Helfens, der ärztlichen Verantwortung und der Selbstbestimmung des Patienten, wo immer sie in Spannung miteinander stehen, im Medium des gegenseitigen Vertrauens abgewogen werden. Wo Institutionen der Gesundheitspflege die Vertrauensbasis verlieren, verlieren sie ihr wichtigstes Kapital im Wettbewerb; Vertrauen ist nicht nur profilrelevant, sondern auch profitrelevant. Deshalb formuliere ich als meine vierte These: Ohne gute Medizin, die den Patienten als Menschen und nicht nur die Symptome behandelt, ist Erfolg im Wettbewerb um stationäre Dienstleistungsangebote nicht möglich.

K. Qualitätssicherung, Wettbewerb und Unternehmensethik Pluralitäten von Expertise und Werten bestimmen die moderne Dienstleistungsgesellschaft. Ethik hat mit Werten zu tun, mit individuellen und mit gesellschaftlichen. Im Umfeld der Szenarien der stationären Behandlung sind hier die Prinzipien von Heilen, Helfen, Vorsorgen, Informieren zu nennen, aber auch die der Solidarität, Subsidiarität und Selbstverantwortung, die der Transparenz, der Finanzierbarkeit und des Erfolges, der Marktstärke und Leistungsstärke; aufgezählt sind also vorwiegend ethische Prinzipien oder nichtethische Prinzipien mit starkem ethischen Gewicht. Insofern alle wirtschaftlichen Unternehmungen und ärztlichen Interventionen es mit Zielen und Zielkonflikten unter vorgegebenen Werten zu tun haben, gehören sowohl in der Medizin wie in Management und Wirtschaft Ethik und Expertise zusammen. Die technischen, ökonomischen und nicht zuletzt die medizinischen Parameter der stationären Versorgung so mitmenschlich und diakonisch, so kultiviert und professionell wie möglich zurechtzuschneiden, geht nur im Wettbewerb und deshalb ist Wettbewerb nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine ethische Kategorie. Ohne Ethik sind Technik, Management, Ökonomie und Medizin, jede professionelle Qualitätssicherung und -leistung blind in Bezug auf ihre Zielsetzungen, ohne Expertise in professioneller Qualität in Ökonomie oder Medizin ist Ethik stumpf und schließlich erfolglos im Erreichen des Zieles. Zu einer leistungsstarken und im Wettbewerb erfolgreichen qualitätsorientierten Unternehmung gehört ein gutes Corporate Profile als Führungsinstrument nach innen und als Marken- und Erkennungszeichen nach außen. Was das Krankenhaus betrifft, so

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sind es vor allem Kriterien der Corporate Ethics, die für die innere Führung und das äußere Erscheinungsbild entscheidend sind. Die zentralen ethischen Prinzipien, an denen sich das Krankenhaus im Wettbewerb orientieren muss, sind medizinische Leistungen, wie es vergleichbar für den Anbieter in der Autobranche technische Leistungen sind. Organisationsethische und wirtschaftsethische Parameter umgeben danach wie konzentrische Ringe die im Mittelpunkt des Service stehenden medizinischen und medizinethischen Leistungen. Wachsende Kritik der Bürger an der seelenlosen Apparatemedizin, steigender Kostendruck in einer ausschließlich technisch sich verstehenden Hochleistungsmedizin, wohlfahrtsstaatlicher Missbrauch des Solidarsystems, bessere Gesundheitsinformation von Bürgern durch das Internet und grenzübergreifende Märkte für Gesundheitsdienste zwingen zu einer strategischen Neukonzeption des Stellenwerts der stationären Gesundheitsversorgung im Modell dieser drei konzentrischen Ringe. Es ist ein sowohl ethischer wie wirtschaftlicher Vorteil des Wettbewerbs, dass er das im Wettbewerb stehende Unternehmen zwingt, sich auf die Produkte und ihre Qualität konzentrieren zu müssen, die es besser als andere oder ebenso gut mit zusätzlichen Vorteilen oder Nebenleistungen im Markt anbieten kann. Von ideologischen Kritikern des Marktes wird immer wieder das Gewinnstreben als das vorgeblich zentrale Prinzip des Wettbewerbs von einer am Wohl und Interesse des Kunden orientierten Serviceleistung und langfristigen Marktdurchdringung isoliert und kritisiert. Diese Kritik des Wettbewerbs ist deswegen ideologisch und realitätsfern, weil es, wie der Praktiker weiß, wirtschaftlich falsch wäre, das Profitmotiv von anderen Zielen des Unternehmens im Wettbewerb zu isolieren; Profitmaximierung um jeden Preis ist wettbewerbschädlich und außerdem wirtschaftsethisch falsch. Das gilt vor allem für solche Wettbewerber, bei denen langfristig das Corporate Profile und die Corporate Ethics die besten Chancen der Marktdurchdringung und -behauptung garantieren. Bei wert- und lebensweltrelevanten Dienstleistungen ist langfristig Profit ohne wertrelevantes Profil nicht möglich. Auch für das Krankenhaus, das sich im Wettbewerb durchsetzen will, gilt daher die alte Weisheit jeder guten Unternehmensführung: Ohne Corporate Profile und Corporate Ethics ist langfristig ein Erfolg im Markt nicht möglich.

L. Sechs Kriterien eines erfolgreichen Gesundheitszentrums Die ethischen Parameter des Gesundheitszentrums oder Krankenhauses liegen an den Schnittstellen zwischen medical ethics, management ethics und business ethics, die sich wie konzentrische Ringe umgeben. Falls es einen Wettbewerb unter Krankenhäusern gäbe, müssten sich wettbewerbsstrategische Überlegungen an diesen Kriterien orientieren. Ich bezweifle, dass wir in der Bundesrepublik heute eine echte Wettbewerbssituation unter Krankenhäusern

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haben und dass es einen funktionierenden Markt im Dienstleistungsangebot der stationären Versorgung überhaupt gibt. Zu sehr scheint die stationäre Krankenversorgung in einem unflexiblen Geflecht von Trägern, Kassen, Ärzten und Finanzierungsmodellen statisch verkrustet zu sein. Bürger als potentielle Patienten haben selten eine Wahlmöglichkeit, Kassen kennen kein Marktrisiko und stellen sich nur außerordentlich ungenügend dem Wettbewerb untereinander, sind in gewisser Weise durch den internen Augleich von Defiziten sogar vom Wettbewerb ausgeschlossen, nehmen daher ihre marktwirtschaftliche Verantwortung auch selten wahr. Das Krankenhaus bekommt seine Patienten durch ein paternalistisches Geflecht überweisender Ärzte oder durch die Nähe zum Wohnoder Unfallort. Ambulante und stationäre Versorgung sind kaum integriert, auch nicht Prädiktion, Prävention und akute Intervention. Versicherungsträger treten nicht als Betreiber und Anbieter auf; dabei sind die herausragenden Leistungen von anbietenden Versicherern wie beispielsweise Berufsgenossenschaften auf allen drei Gebieten oder von betriebs- und lebensweltnahen Gesundheits- und Präventionsdiensten in den USA nicht zu übersehen. Verkrustete Strukturen eines primär auf Akutintervention und Krankenbehandlung und weniger auf Gesundheitsvorsorge, Prädiktion und Prävention aufgebauten Gesundheitssystems verdecken nicht nur die Leistungsschwächen des Krankenhauses, das sich keinem Wettbewerb zu stellen braucht, sondern auch eines Gesundheitsvorsorgesystems gesundheitsmündiger Bürger, das im wesentlichen immer noch ein Krankenversorgungssystem paternalistischer Medizin mit Stationsegoismus und wenig integriertem medizinischen Betrieb ist. Dieses Fehlen eines echten Wettbewerbs und eines flexiblen Marktes von Anbietern und Nachfragern hat nicht nur ökonomische und medizinische, sondern schwerwiegende ethische Nachteile. Deshalb braucht das Krankenhaus der Zukunft in seiner Funktion und Rolle als nachbarschaftlicher Anbieter von Gesundheitsdiensten vor allem auch aus medizinethischen und medizinischen, nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen mehr Wettbewerb im Interesse einer sich im Wettbewerb erst herausbildenden Dienstleistungskultur optimaler Angebote der Gesundheitsvorsorge. Die Integration von ärztlicher und pflegerischer Expertise und Ethik ist primär ein Thema für die Arztethik und Pflegeethik; sie gehört aber auch in den zentralen Verantwortungsbereich des Trägers und Managers von stationären Einrichtungen der Gesundheitsvorsorge hinein. Die Führungsverantwortung des Trägers und Managers kann die Notwendigkeit der Verzahnung optimaler technischer und ethischer, auch mitmenschlicher Leistungen im ärztlichen und pflegerischen Bereich nicht ausschließlich denen überlassen, die sie erbringen müssen. In unserem Zusammenhang sollen die beiden letzten Kriterien eines Werteprofils für eine wettbewerbsfähige stationäre Versorgung vor allem auch deswegen besonders betont werden, weil deren konkrete Umsetzung sicher am

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meisten kontroverse Diskussion auslösen wird, die Optimierung der technischen und menschlichen Gastdienste. Medizinische, pflegerische und gastgebende Dienste überschneiden sich natürlich oft, aber für die Strategie ihrer jeweiligen Qualitätssicherung und -steigerung sollten sie zunächst separat geplant, durchgeführt und verantwortet werden. Immer mehr Krankenhäuser haben freundliche, menschlich und ästhetisch ansprechende Räumlichkeiten, auch im Wohnbereich, den man Bettenbereich nennt, auch in den Aufenthalts-, Ruhe- oder Kommunikationsräumen, auch in den Empfangshallen. Der Patient gibt mit seinem Aufenthaltswechsel doch weder seine ästhetischen, noch seine Bedürfnisse an Wohn-, Intimitäts- und Kommunikationskultur auf. Wer im Bett liegen muss, hat besonders spezielle Anforderungen an die Kommunikation und an Dienste, die das Stationäre der eigenen Existenz kompensieren. Gastdienste müssen ebenso wenig wie ärztliche Dienste vom Träger selbst erbracht werden; eine unprofessionell gemachte hundertprozentige eigene Fertigungs- und Dienstleistungsdichte ist nicht nur technisch und menschlich, sondern wohl auch unter Gesichtspunkten des Wettbewerbs und der Qualitätssicherung suboptimal. Wo sind die selbstverständlichen oder zusätzlichen privatwirtschaftlichen Dienste von Trägern oder von Subunternehmern bei Zeitungs-, Post-, Einkaufs-, Essens- und zusätzlichen Versorgungsdiensten, vierundzwanzig Stunden am Tag? Jeder Untersuchungsgefangene kann über private Dienste für sein leibliches Wohl verfügen; der „Krankenhausinsasse“ bekommt seine letzte, oft gesunde oder zuträgliche oder dem persönlichen Geschmack entsprechende Mahlzeit gegen fünf Uhr abends, schon physiologisch und medizinisch nicht sehr sinnvoll, mitmenschlich und ethisch nicht akzeptabel, und in einer Wettbewerbssituation völlig undenkbar; hat er Durst, muss er nach einem vielbeschäftigten und für diese Dienste überqualifizierten Pfleger klingeln. Uniform, steril und unpersönlich wie Kittel der Ärzte und Würde der Zimmer sind Ernährungs- und Kommunikationsdienste. Die Studie von Schauder zur Verpflegung in 56 niedersächsischen Krankenhäusern hat zusammengestellt, dass der Fettanteil von 42 Prozent zu hoch und der Kohlehydratanteil von 43 Prozent zu niedrig ist, gemessen an den Kriterien der WHO, die 30 Prozent bzw. 50 Prozent empfiehlt. Diese Zahlen sind im Vergleich mit ernährungsbedingten Folgekosten in der BRD von etwa 80 Milliarden Euro nicht sehr vertrauenserweckend; sie wären wettbewerbsfeindlich, wenn es denn einen Wettbewerb gäbe. Bei mehr und mehr standardisierten medizinisch-technischen Angeboten in der stationären Versorgung kommt dem Gastservice eine bisher noch nicht entdeckte Profilierungs- und Wettbewerbsfunktion zu. Ich will mich nicht in weiteren Details verlieren, sondern diese Überlegungen zum Wettbewerbsprofil in einer fünften These zusammenfassen: Das Wettbewerbsprofil eines Krankenhauses orientiert sich an den sechs Kriterien für gute stationäre Krankenversorgung: technisch gute

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Medizin, menschlich gute Medizin, technisch gute Pflege, menschlich gute Pflege, gute Wohnumwelt, gute Kommunikationsumwelt.

M. Bürger und Träger als Marktteilnehmer Erst wenn der Wettbewerb bei stationären Anbietern von Dienstleistungen erleichtert wird, wird es überhaupt möglich sein, den wichtigsten Marktteilnehmer als Konsumenten zu aktivieren, den Bürger in der Rolle des potentiellen Patienten. Der derzeitige quasi-Markt unter Interessentengruppen wird durch die Integration individueller Marktteilnehmer und die Durchbrechung der Schranken zwischen Finanzierern, Trägern und Dienstleistenden durchsichtiger und bürgernäher, sicherlich medizinisch und ethisch akzeptabler und vermutlich auch viel billiger. Mit der Aufnahme ins Krankenhaus gibt der Bürger in der Regel auch eine gehörige Portion von Selbstbestimmung und Lebensgestaltung auf, nicht nur weil er schwach und krank ist, sondern weil es eine traditionelle Rolle der Submission unter ein fremdes, vermutlich hierarchisch organisiertes System ist, das man nicht versteht oder nicht verstehen will, und in dem man nichts zu sagen hat, weil man ja auch nichts bezahlt; die Kasse „bezahlt“ ja, nicht der Patient. Diese passive Haltung des Patienten muss nicht sein; sie ist im Gegenteil medizinisch und medizinethisch unerwünscht, wird aber durch das verkrustete System ohne echten Wettbewerb auf der KV-Ebene überdeckt und perpetuiert, häufig an den Rand der Finanzierbarkeit gedrückt. Mengensteuernde Finanzierung nach dem Gesundheitsstrukturgesetz bestraft diejenigen, die eigene Konturen im Dienstleistungsangebot entwickeln. Der gesetzliche Rahmen und die Flexibilität und Kreativität der Kassen werden letztendlich entscheiden, ob es im Interesse einer bürgernahen Gesundheitspflege und einer patientennahen Krankenversorgung zu mehr Wettbewerb kommt. Eine deutlichere Angebotsprofilierung der im Wettbewerb von Gesundheitszentren und Krankenhäusern sich in den Außenbeziehungen zu potentiellen Patienten darstellenden sechs Leistungskriterien werden dafür sorgen, dass sich Schritt für Schritt ein Markt auch für den Nachfrager von stationären Dienstleistungen entwickelt. Dabei wird der Nachfrager sich je nach technischem Schwerpunkt seiner Nachfrage, dem Gastservice der Institution, auch dem Preis und nach seinen individuellen Abwägungen für das eine oder andere Angebotsprofil entscheiden. Besondere Angebotsspezialisierungen innerhalb des medizinischen Angebots oder der Art und Weise, wie das Angebot erbracht wird, im Belegbettenmodell beispielsweise, sind von besonderer Wirksamkeit im Wettbewerb. Zu den differenzierten Dienstleistungen, die von einer primär stationäre Gesundheitsdienste anbietenden Unternehmung nachgefragt werden, gehören zumindest die folgenden sechs: aggressive und intensive Akutintervention mit kämpferischem Ethos,

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chronische Versorgung mit partnerschaftlichem und pflegerischem Ethos, prädiktive und präventive Dienste mit Informations-, Aufklärungs- und Beratungsethos, peristationäre Versorgung mit dem vertrauensbasierten stationsübergreifenden Ethos der Integration ambulanter und stationärer Sorge, geriatrische Betreuung und Sterbebegleitung mit dem Ethos der Mitmenschlichkeit, des Respekts vor der Menschenwürde des unheilbar Kranken und Sterbenden und der Akzeptierung des Rechts zur Selbstbestimmung auch im unheilbar Kranksein und im Sterben. Über die jeweils anderen ethisch-medizinisch-ökonomischmenschlichen Herausforderungen dieser sechs unterschiedlichen Angebote müsste ausführlicher ethisch reflektiert werden. Für die Entwicklung eines umfassenden Qualitätsservice und für die Initiierung des Wettbewerbs bedarf es der Entdeckung und Aktivierung des wichtigsten Marktteilnehmers, des Bürgers, als Patienten oder potentiellen Patienten; deshalb müssen Eigenbeiträge und Subsidiaritätsleistungen, Angebotsprofilierung und Angebotsspezialisierung als wichtige Instrumente zur Wettbewerbs- und Qualitätsverbesserung von den Partnern neu entdeckt werden.

N. Gesundheitszentrum und peristationäre Dienste Vom Wettbewerb im Krankenhaus und unter Krankenhäusern kann man nicht sprechen, ohne die nicht im Zentrum der stationären Versorgung liegenden, aber im Wettbewerb auch aus ethischen Gründen wichtigen sonstigen Dienstleistungen zu berücksichtigen, die von einem Krankenhaus in seiner Funktion als Health Care Center erbracht werden können und sollen. Im wettbewerbsstarken Gesundheitszentrum der Zukunft ist das Kranken-Haus ein Haus unter anderen, ein Modul unter vielen, die in differenzierter Weise der Gesundheitsvorsorge dienen: Pflegehäuser, Präventionsgebäude, geriatrische Häuser, Praxishäuser, Beratungs- und Informationshäuser, Apotheken, Buch- und Medienläden. Da ist zunächst die menschlich, medizinisch und ethisch wenig befriedigende starre Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung zu nennen. Ich hatte bereits von dem medizinisch und ethisch sehr sinnvollen peristationären Bezugsrahmen gesprochen, der überall dort aufgebaut werden kann, wo es sich nicht um unerwartete Akutfälle handelt und wo die korporative Person des Krankenhauses mit ihren Diensten in das Umfeld der Gemeinde ausgreifen kann. Das Belegbettenprinzip trägt ebenfalls zur Reduktion des Bruches zwischen der ambulanten und der stationären Behandlung bei. Natürlich gibt es einen aktuellen Interessenkonflikt zwischen den Lagern der ambulanten und der stationären Versorgung; aber Grenzen sind nicht ewig, vor allem, wenn sie sachlich nicht gerechtfertigt und medizinisch wie ethisch nicht wettbewerbsfähig sind. Aus Konfrontation kann Kooperation werden. Krankenhausträger

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könnten beginnen, neben die stationären Einheiten Praxiskliniken zu setzen, wenn die Verordnungs- und Finanzierungsnetze derzeit keine optimalere Integrationen für patientenorientierte Versorgung erlauben. In den USA sind unter dem Einfluss moderner medizinischer Möglichkeiten, eines marktwirtschaftlichen Wettbewerbs und einer dadurch notwendig gewordenen Konzentration auf das ethische Unternehmensziel des Gesundheitszentrums in der Zeit von 1985 bis 1993 die Einnahmen von Gesundheitszentren aus nichtstationären Serviceleistungen von 15% auf 35% gestiegen, die durchschnittliche Dauer des stationären Aufenthalts um ein Drittel gesunken. In den USA sind die stationären Zentren der Krankenversorgung selbstverständlich gleichzeitig Zentren für Präventionsservice, für medizinische Information und Aufklärung. Vortragsveranstaltungen oder -serien mit oder ohne Eintrittsgebühren zu Themen, so weit gestreut wie Herzkreislauf-Vorsorge, Diät, Informationen über Risiken beim Prostata- oder Mammakarzinom, oft gekoppelt mit Sonderkonditionen für Vorsorgeuntersuchungen; Unterrichtsklassen für Kreislauftraining und Gewichtskontrolle leisten einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen und individuellen Gesundheitspflege und würden nicht schlecht in das Profil eines deutschen Zentrums für Gesundheitspflege und Krankenversorgung passen. Transparenz des Angebots stationärer und peristationärer oder zusätzlicher Dienstleistungen und neue Berufungen von Ärzten und Mitarbeitern sowie Entwicklungen in der Spezialisierung und Hinweise auf Termine für Vortragsveranstaltungen und Klassen werden in exemplarischer Weise in der (kostenlosen) Hauszeitschrift des Health Care Centers zusammengefasst. Eine solche Hauszeitschrift profiliert das Bild des Krankenhauses nach außen und stärkt das Selbstverständnis nach innen. Es ist bezeichnend für die deutsche Situation, dass wir den Begriff Health Care Center nicht so einfach ins Deutsche übersetzen können; Krankenhaus ist nicht die richtige Übersetzung und nicht das richtige Bild, auch nicht mehr das zukunftsorientierte Profil einer erfolgreichen Unternehmung in der Gesundheitsvorsorge. Zusätzliche sowohl ethisch notwendige wie wettbewerbswirksame Leistungen eines Krankenhauses als eines Gesundheitszentrums sind Beiträge zur Integration von ambulanter und stationärer Behandlung, von Prävention und Information, eigene diakonische Sonderleistungen und Angebotstransparenz.

O. Gesundheitsmündige Bürger als Partner Gesundheitsversorgung und Gesundheitsfinanzierung sind im Umbruch. Die Gründe dafür liegen einmal in den Fortschritten nicht nur der akuten und intensiven Intervention, sondern auch der nichtakuten langfristigen Prädiktion und Prävention in der Gesundheitsvorsorge. Sie liegen zum anderen in den im Zeitalter von Selbstbestimmung und Multikulturalität zunehmend unterschiedlichen Nachfragerhaltungen. Das heutige System ist finanziell und medizinisch nicht solide und ethisch und medizinisch nicht wünschbar. Umfassende Quali-

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tätssicherung und die Schaffung eines Marktes kompetenter Stakeholder als mündiger Partner sollen über die Mechanismen des Wettbewerbs, weniger über die Mechanismen einer engmaschigen Ordnungspolitik ethisch notwendige und wirtschaftlich erfolgreiche Modelle einer qualitativ hochstehenden gesundheitlichen Versorgung entwickeln. Die Aufgabe der Ordnungspolitik im Gesundheitswesen wäre es, die Voraussetzungen für die sich nur im Wettbewerb entwickelnden optimalen Strukturen einer auf den ethischen Prinzipien der Mündigkeit, der Solidarität und Subsidiarität gegliederten Landschaft von Anbietern und Nachfragern zu schaffen. Entscheidend ist aber, dass die korporativen Personen – Versicherungen, Krankenhäuser, medizinische und pflegerische Dienste – genug Energie, Charakter, Klugheit und Weitsicht entwickeln, um sich selbst auf die Herausforderungen der Zukunft im Blick auf Profil und Profit, Charakter und Lebensfähigkeit vorzubereiten und sie zu bestehen. Im Wettbewerb von qualitativen Leistungen muss das Krankenhaus sich zu einem Gesundheitszentrum entwickeln mit einem breiten Angebot an Diensten und zu einem guten Nachbarn für den gesundheitsmündigen Bürger werden. Das Gesundheitszentrum der Zukunft muss sich ebenso wie das traditionelle Krankenhaus an dem ethischen Unternehmensziel von Gesundheitspflege und Krankenversorgung ausrichten. Es kann dieses Unternehmensziel nur an der Qualität des Angebots und den Bedürfnissen der Nachfrager orientieren und reformieren. Steht der frische Wind des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs im Widerspruch zum Unternehmensziel des Krankenhauses? Die Antwort des Ethikers ist eine doppelte und stellt Forderungen an die Gesundheitsethik und Wirtschaftsethik der Anbietern und Nachfrager: (1) Marktwirtschaft bei Krankenkassen und Gesundheitszentren zwingt zu einer medizinisch und ethisch erwünschten Konzentration auf Angebot und Qualität von Service; sie ermöglicht im Interesse des ethischen Unternehmensziels bessere Medizin. (2) Marktwirtschaftlicher Wettbewerb unter Krankenhäusern und mit anderen Anbietern trägt zur medizinsch und ethisch notwendigen Transformation des klassischen Krankenhauses zu einem modernen Gesundheitszentrum bei; er ermöglicht im Interesse des ethischen Unternehmensziels nicht nur mit Sicherheit bessere, sondern vermutlich auch preiswertere und mit Sicherheit menschlichere und kultiviertere Medizin. Sicherstellung ethischer und medizinischer Qualität durch Institutionen der Gesundheitspflege und Krankenversorgung schließlich ist nicht möglich ohne die aktive Teilnahme des Bürgers als Patienten oder potentiellen Patienten, nicht ohne Gesundheitsmündigkeit, Verantwortungskompetenz und Selbstbestimmungspflicht. Bestehende Gesetze und geplante Strukturreformen im Gesundheitswesen dürften eher das bestehende verkrustete System starrer Restriktionen von Ausgabenbudgets verstärken, als den Bürger als Partner und Stakeholder zu akzeptieren und zu stärken.

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Das System der Krankenversicherung in Deutschland ist krank und siech. Für die ethische Diagnose liegt die Ursache der Degeneration aber nicht in der Medizin; die Krankheit ist nicht iatrogen; sie ist ökonogen und politogen. Das unflexible Modell der ausschließlichen Orientierung am Prinzip der Solidarität unter Vernachlässigung der Prinzipien Mündigkeit und Subsidiarität ist dafür verantwortlich. Das medizinethische Konzept einer an medizinischen Möglichkeiten und emanzipatorischen Notwendigkeiten sich orientierenden Trias von Solidarität, Mündigkeit und Subsidiarität kann dagegen die ökonomischen Ressourcen so steuern, dass nicht mehr von Knappheit die Rede sein muss, sondern dass wir den Reichtum von neuem Wissen und neuen Informationen und Mündigkeiten solidarisch und selbstbestimmt für eine bessere Gesundheitspflege und einen reicheren Ertrag für Leben und Lebensqualität von Bürgern nutzen können. Die Institutionen der Gesundheitspflege und die sie regulierenden politischen und verordnenden Obrigkeiten handeln weder ethisch noch ökonomisch, wenn sie dem Prinzip der Mündigkeit der Bürger in Gesundheitsangelegenheiten keinen Raum gewähren und diese weiterhin paternalistisch unmündig, unaufgeklärt, unfrei und unterversorgt halten. Gesundheitsethik ist deswegen vor allem auch Institutionenethik und politische Ethik. Arztethik und Patientenethik sind demgegenüber im Blick aus der ethischen Vogelperspektive nachgeordnet. Die nachfolgenden vernetzten vier Tugendkataloge geben den Forderungen an Politiker, Regulierer und Versicherer Vorrang vor denen an Ärzte und Bürger, weil die derzeitigen ordnungsethischen Rahmenbedingungen für die Entwicklung oder Unterdrückung von Mündigkeit und Kompetenz, auch von Solidarität und Subsidiarität nicht unterschätzt werden sollten.

P. Gesundheitsethische nachhippokratische vernetzte Tugendkataloge I. Regeln für Gesundheitspolitiker und Verordner ƒ Schaffe einen ordnenden Rahmen für Mündigkeit, Solidarität und Subsidiarität im Gesundheitswesen. ƒ Fördere und sichere individualisierte Gesundheitsinformation und -beratung. ƒ Sichere und garantiere eine Basisversorgung basierend auf individuellen gesundheitlichen Risikoprofilen. ƒ Sorge für Ordnung und Qualität in einem Markt für zusätzliche Dienstleistungen für Gesundheit und deren Finanzierung. ƒ Ermögliche die Verbesserung fairer und qualitätsorientierter Gesundheitsdienste entsprechend den Fortschritten in Prädiktion, Prävention, Behandlung und Begleitung.

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ƒ Sichere Mündigkeit und Selbstbestimmung von Bürgern in Fragen der Gesundheit, auch das Recht auf vorsorgliche Behandlungs- und Betreuungsverfügungen. ƒ Sei dir der Grenzen des politisch und verordnend Machbaren bewusst; lass Bürgern und Serviceanbietern genügend Spielraum für individualisierte Entscheidungen. ƒ Nutze alle Möglichkeiten einer bürgerfreundlichen Differenzierung und Selbstbestimmung von Bürgern in Fragen von Lebensqualität und im Umgang mit Gesundheitsrisiken. ƒ Schaffe und erhalte einen transparenten und fairen Markt für alle Partner. ƒ Trage deinen Teil bei zu einem verantwortlichen und solidarischen Umgang der Partner im Gesundheitswesen

II. Regeln für Serviceanbieter ƒ Behandle Bürger und Angehörige medizinischer Berufe als Mitmenschen, nicht nur als Rädchen im System der Vorschriften. ƒ Mache Erziehung zur Gesundheitsmündigkeit und die individuelle Gesundheitsinformation zu den Prioritäten einer verantwortungsbasierten Vorsorge. ƒ Sichere eine patientenfreundliche Akutbehandlung, bei der das „Wertbild“ des Patienten eine ebenso wichtige Rolle spielt wie das „Blutbild“. ƒ Erwarte vom Versicherten die Erstellung vorsorglicher Verfügungen. ƒ Verlange vom Versicherten die Wahrnehmung individueller Gesundheitsinformation und sichere eine angemessene Beratung und Hilfe bei der Prävention. ƒ Stelle dich der Konkurrenz mit anderen Modellen von Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsfinanzierung. ƒ Sei dir der Grenzen des organisatorisch und planerisch Machbaren bewusst; beteilige Bürger und Mediziner an Organisations- und Planungsverbesserung. ƒ Nutze alle Möglichkeiten einer bürgerfreundlichen Rationalisierung und Dezentralisierung, auch in Verantwortung, Finanzierung und Management. ƒ Verbinde Ethik mit Expertise zur Reduktion administrativer und zur Vermeidung ethischer Risiken. ƒ Trage deinen Teil bei zu einem verantwortlichen und solidarischen Umgang mit den Kosten des Gesundheitswesens.

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III. Regeln für Bürger ƒ Suche dir einen Arzt deines Vertrauens. ƒ Entwickle Verantwortung und Mündigkeit für deine Gesundheit und die Kriterien der Qualität deines Lebens. ƒ Vermeide Gesundheitsrisiken und nutze die Möglichkeiten der prädikativen und präventiven Medizin. ƒ Erwarte von der Medizin Heilung oder Milderung, aber sei dir der Grenzen und der Risiken der medizinischen Intervention bewusst. ƒ Sei ein verantwortlicher und zuverlässiger Partner für Ärzte und ihre Mitarbeiter bei einer notwendig werdenden Behandlung. ƒ Erwarte von Arzt, dass er dich über Risiken und Ziele einer akuten Behandlung oder einer Prognose hinreichend informiert und diskutiere diese mit dem Arzt. ƒ Erkenne auch in Krankheit oder Behinderung Möglichkeiten und Herausforderungen zur Entwicklung individueller Lebensqualität. ƒ Sei dir bewusst, dass unterschiedliche Lebensstufen, auch das Alter, nicht durch reduzierte, sondern durch modifizierte Formen von Lebensqualität sich unterscheiden. ƒ Diskutiere mit deinem Arzt, mit Freunden und Familie, deine Kriterien von Lebensqualität für den Fall, dass andere einmal für dich über Behandlungsrisiken entscheiden müssen; halte deine Vorstellungen schriftlich fest und beauftrage einen Vertrauten mit stellvertretenden Entscheidungen. ƒ Trage deinen Teil bei zu einem verantwortlichen und solidarischen Umgang mit den Kosten des Gesundheitswesens.

IV. Regeln für Ärzte ƒ Behandle deinen Patienten als Mitmenschen, nicht nur seine oder ihre Symptome oder Krankheiten. ƒ Hilf deinem Patienten zu Gesundheitsverantwortung und Gesundheitsmündigkeit. ƒ Integriere die Befunde von „Blutbild“ und „Wertbild“ deines Patienten und mache sie zur Grundlage von Prognose, Intervention und Interventionsüberprüfung. ƒ Sei dir der Grenzen des technisch Machbaren bewusst und diskutiere diese mit deinem Patienten.

Ordnungsethik des Gesundheitswesens und gesundheitsmündige Bürger

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ƒ Entscheide, so weit wie möglich, in Partnerschaft mit dem Patienten über Optionen oder Verzicht von Intervention. ƒ Entwickle eine differenzierte und individualisierte Strategie für Intervention und Beratung. ƒ Hilf deinem Patienten bei der langfristigen Erstellung von Wertbildern, die bei Koma, Demenz oder Multimorbidität adjuvantiv oder regulativ herangezogen werden können. ƒ Wähle für klinische Studien Patienten nicht nur nach dem Krankheitsprofil, sondern auch nach ihrem Wertprofil aus. ƒ Verbinde Ethik mit Expertise zur Reduktion technischer und zur Vermeidung ethischer Risiken. ƒ Trage deinen Teil bei zu einem verantwortlichen und solidarischen Umgang mit den Kosten des Gesundheitswesens.

Literaturverzeichnis Baier, H.: Eigenverantwortung in der GKV – Chancen der Patientenautonomie im Werte- und Strukturwandel des Gesundheitswesens, in: Auf dem Weg zum mündigen Patienten, Patientenautonomie im System der GKV. Hg. von Technikerkrankenkasse, 1998, Hamburg, S. 13-18. Goodman, J./Musgrave, G.: Patient Power, 1992, Washington DC. Herder-Dorneich, P.: Ordnungstheorie des Sozialstaates, 1983, Heidelberg. Sass, H.M. (Hg): Ethik und öffentliches Gesundheitswesen, 1988, Heidelberg. - Zielkonflikte im Wohlfahrtsstaat, Sicherheit und Freiheit, in: Sicherheit und Freiheit. Zur Ethik des Wohlfahrtsstaates. Hg. von C. Sachße/H.T. Engelhardt, 1990, Frankfurt, S. 71-84. - On the Road towards Two-Tier Health Care Systems: European Developments and Experiences, in: The Journal of Medicine and Philosophy 20, 1995, S. 587-688. - New Options for Health Care Policy and Health Status Insurance: Citizens as Customers, in: Croatian Medical Journal 44, 2003, S. 562-567. Sass, H.M./Massey, R.U. (Hg.): Health Care Systems. Moral Conflicts in European and American Public Policy, 1988, Dordrecht. Schröder, P.: Vom Sprechzimmer zum Internetcafe. Medizinische Informationen und ärztliche Beratung im 21. Jahrhundert, 2002, Bochum.

Standards und Wertekonzepte im Gesundheitswesen Implikationen für das Krankenhaus der Zukunft Eckhard Nagel und Karl Jähn

A. Einleitung Die jüngste Phase der Gesundheitsstrukturreform hat in wichtigen Bereichen, in denen es zuvor Freiraum für Eigeninitiative gab, Restriktionen geschaffen. Die Partizipanten im Gesundheitswesen bekommen die Auswirkungen dieser Entwicklung auf verschiedene Art zu spüren und erheben die berechtigten Einsprüche aus ihrer Sicht. So haben die Vertreter der Ärzteschaft die Meinung geäußert, dass „die Signale aus Berlin den Weg zu einer Budgetpolitik mit anderen Mitteln weisen und dass diese einseitige Ausrichtung auf Kosteneinsparungen die Nutzung von so genannten Rationalisierungsreserven zu weiteren substanziellen Eingriffen in das ärztliche Privileg der Diagnose- und Behandlungsfreiheit, zur Ausgrenzung ganzer Gruppen von Leistungsanbietern und zu unterschiedlich starker Positionen der Vertragspartner in stationärer und ambulanter Versorgung führen werde.“ Die forcierten Reglementierungen von der Therapie bis hin zur Abrechnung werden von politisch Verantwortlichen und Kostenträgern häufig mit der – auch den Patienten gegenüber schwer kommunizierbaren – Zielvorstellung propagiert, Rationalisierungspotenziale in der medizinischen Versorgung zu realisieren und zugleich eine Verbesserung von Prozess- und Ergebnisqualität erreichen zu können. In dem Bericht einer Expertenkommission mit dem Titel „Qualitätssicherung von Diagnose und Therapie“ geht man davon aus, dass die Forcierung von Richtlinien in der Gesundheitsversorgung bzw. die Standardisierung ärztlicher Leistungen einen rationelleren Einsatz medizinischer Ressourcen möglich macht, um mit der „Vermeidung von Überversorgung“ die vermeintlich „explodierenden Kosten“ im Gesundheitswesen zu reduzieren und zugleich die „notwendige Versorgung“ zu unterstützen. Wie derartige Standards in der medizinischen Praxis konkret umgesetzt werden könnten, wird jedoch auch hier als komplexes und weitestgehend ungelöstes Problem angesehen. Die Empfehlung, sich an naturwissenschaftlichen Modellen und Kontrolltechniken zu orientieren,

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wirkt dabei angesichts der Gegebenheiten in der medizinischen Praxis eher rhetorisch. So ist gerade in jenen zahlreichen Situationen in der Medizin eine vereinheitlichende Reglementierung verunmöglicht, in denen eine Qualitätssicherung der therapeutischen Maßnahmen am wünschenswertesten wäre: ƒ

Situationen, zu denen keine evidenzbasierten Handlungsanweisungen vorliegen,

ƒ

Handlungsoptionen, die ob einer „wahrscheinlich“ ungünstigen Prognose, „rein ökonomisch“ eine „vermeintliche Fehlinvestition“ darstellen könnten, aber für den Betroffenen eine erhebliche Konsequenz innehaben, bzw. sonstige

ƒ

Handlungsoptionen, die eine hohe Belastung der Lebensqualität des Betroffenen und/oder hohe Material- und Personalkosten mit sich bringen, ohne ein vorab definierbares Resultat garantieren zu können.

Gerade für diese Situationen wären weiter gefasste Handlungsempfehlungen in Form von orientierenden Entscheidungshilfen vonnöten, die wie die Behandlungsund die Versorgungsstandards einer wissenschaftlichen Validation unterzogen werden könnten.

B. Versorgungs- und Behandlungsstandards Die medizinischen Behandlungsstandards allein sind in Zeiten der Ressourcenknappheit keine adäquate Basis für die zwingenden Allokationsentscheidungen, die sicherstellen sollen, dass in allen Fällen eine standardgemäße Therapie zur Verfügung steht. Diese Basis sollten Versorgungsstandards liefern. Sie legen fest, welche Gesundheitsleistungen aus dem Blickwinkel der Gesellschaft und der Gesundheitspolitik „angemessen und notwendig“ genug sind, um nach dem Solidaritätsprinzip vom Gesundheitssystem finanziert zu werden. Analog zu den geforderten Handlungsempfehlungen fließen gerade in Versorgungsstandards zusätzliche ethische und soziopolitische Wertungen mit ein. Dies beginnt bereits mit der Definition von Gesundheit und Krankheit, die Teil der Versorgungsstandards ist. Die Gesundheits- und Sozialpolitik darf die Verantwortung für die von ihr festzusetzenden Versorgungsstandards nicht scheuen, zumal Abweichungen vom medizinischen Standard keineswegs zwangsläufig medizinisch begründet sind. Wenn der Versorgungsstandard den medizinischen Standard übersteigt, dann darf man dies als Indikator für Einsparungspotenzial betrachten: Da eine über den medizinischen Standard hinausgehende weitere Behandlung nicht notwendig ist, fällt sie nicht eindeutig in den auf Solidaritätsbasis zu finanzierenden Bereich.

Standards und Wertekonzepte im Gesundheitswesen

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Wenn der Versorgungsstandard den medizinischen Standard nicht erreicht, kann dies ein Indikator für offene oder versteckte Rationierung sein: Die verfügbaren bzw. zur Verfügung gestellten Ressourcen reichen nicht aus, den medizinischen Standard ausnahmslos zu erfüllen, so dass einige Patienten nicht die notwendige medizinische Versorgung erhalten. Die Kluft zwischen medizinischem Standard und Versorgungsstandard könnte – beschleunigt durch das Haftungsrecht – eine Entwicklung in Gang setzen, die eine Annäherung der Standards zueinander mit sich bringt. Das Erzielen einer völligen Deckungsgleichheit hingegen bleibt Fiktion, da die in verschiedenen in Konsensuskonferenzen bzw. wissenschaftlichen Vereinigungen ausformulierten Therapiestandards oft sehr heterogen sind. Evidenzbasierte und zugleich international anerkannte Leitlinien liegen nur für wenige Indikationen vor. Parallel sollten auch vorhandene Standards, in denen mangels wissenschaftlich korrekter Studien normative Annahmen eingeflossen sind, erst als bindend betrachtet werden, wenn sie einer klinischen Bewertung standgehalten haben.

C. Reglementierung von ärztlicher Therapiefreiheit und Patientenautonomie Die ärztliche Freiheit der Therapiewahl ist kein Ziel an sich – damit würde man die Analogie zwischen „ärztlicher Kunst“ und „Kunst“ überstrapazieren. Sie steht vielmehr im Dienste der Gesundheitsinteressen des Individuums und der Gesellschaft. Selbstverständlich müssen Standards den Ärzten das nötige Maß an Ermessensspielraum lassen, eine differenzierte Einschätzung der individuellen Umstände vorzunehmen. Andererseits muss der Arzt verpflichtet bleiben, dem Patienten die Gründe für gegebenenfalls von den Behandlungsstandards abweichende Empfehlungen darzulegen. Die Furcht, Standardisierung könne mit einem Verlust der essenziellen ärztlichen Entscheidungsfreiheit bei der Therapiewahl einhergehen, ist nicht immer nachzuvollziehen, da bereits heute eine weitest mögliche Orientierung an dem so genannten „Stand der Wissenschaft“ als bindend angesehen wird. (Dass dabei die Übernahme „neuester Erkenntnisse“ in der breiten Praxis auch Zeiten der Konfrontation mit der „persönlich erfahrenen Evidenz“ der klinisch tätigen Ärzte mit sich bringen, kann nur als weiterer Aspekt einer schon länger bestehenden systemimmanenten Qualitätssicherung angesehen werden). Eine wesentliche Zunahme an expliziten Reglementierungen innerhalb der gesetzlichen Krankenversorgung ist demnach weniger zu erwarten als ein Zuwachs an Transparenz, Strukturierung und Dokumentation. Diese Entwicklung könnte auch dem praktizierenden Arzt zugute kommen, der angesichts der international mehr als 40.000 neu erscheinenden Fachartikel zunehmend überfordert ist, die für ihn relevante Information zu selektieren, geschweige denn als reiner Informationsempfänger dem Publikations-Bias in der Primärliteratur

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hin zu „zeitgemäßen“ und von positiven Ergebnissen geleiteten Veröffentlichungen beurteilen zu können. Folgende Aspekte lassen sich hervorheben: ƒ

Standards legen für die medizinische Versorgung ein bestimmtes Niveau fest, indem sie die leere Formel „medizinisch angemessen und notwendig“ mit relevanten Inhalten füllen.

ƒ

Standards können zu einer größeren Einheitlichkeit der Versorgung führen.

ƒ

Prinzipiell erlauben Standards die Suche nach Rationalisierungspotenzial.

ƒ

Standards schränken darüber hinaus unzureichende Behandlungen ebenso ein, wie exzessive Diagnostik und Therapie. Und sie reduzieren „defensive Medizin“.

ƒ

Standards geben unabhängig von ihrer Vollständigkeit bezogen auf alle Indikationen Impulse hin zu einer Transparenz kondensierten Fachwissens für Angehörige medizinischer Professionen und letztlich auch für den Patienten.

Das Primat der Versorgungsstandards kann unter bestimmten Umständen die Autonomie des Patienten beeinträchtigen. Kompensiert wird dies durch die größere Transparenz, die detaillierteren Informationsmöglichkeiten für den Patienten und die erweiterten Kontrollrechte seitens der Gemeinschaft der Versicherten. So kann die behandelte Person verlangen, dass Informationen über alle möglichen Leistungen, deren Verfügbarmachung oder Vorenthaltung sowie über spezielle Regeln auf den neuesten Stand gebracht und offen gelegt werden. Versorgungs- und Behandlungsstandards werden zwingendermaßen dazu beitragen, das Vorgehen der Ärzte transparenter zu machen und dem Patienten eine eigene Objektivierung eventueller Über-, Unter- oder Fehlbehandlungen erlauben, wie dies beispielsweise in der für ihn zusehends attraktiven komplementären Medizin mangels wissenschaftlicher Evidenz noch deutlich seltener der Fall ist. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Erstattungsfähigkeit einer Leistung per se in der Öffentlichkeit schnell als Qualitätsmerkmal verstanden wird, ohne dass dem Patient bewusst wäre, dass Krankenkassen im Interesse einer Kundenorientierung vereinzelt auch Kosten für Verfahren übernehmen, deren Wirksamkeit gemeinhin noch nicht anerkannt ist. Auch die größere Transparenz durch die Recherchemöglichkeiten im WWW wie z.B. die von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) aufbereiteten „Leitlinien für Patienten“ wird das ihrige dazu beitragen, dass Patienten mehr als zuvor davon Kenntnis nehmen,

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wenn Ihnen beispielsweise bei vereinzelten Indikationen eine im internationalen Vergleich „erstattungswürdige“ Leistung hierzulande vorenthalten bleibt. Die Frage bleibt, inwieweit der Patient als „Kunde“ tatsächlich ermächtigt werden kann und will, gesundheitsassoziierte oder medizinische Leistungen derart zu beurteilen, dass seine Vorstellungen als maßgebliche Richtschnur ärztlichen und pflegerischen Handelns herangezogen werden können.

D. Richtlinien als Marktchance für Krankenhäuser Bislang vermögen nur die wenigsten Patienten die Inhalte von medizinischen Leitlinien oder Versorgungsrichtlinien geschweige denn die über MedlineDatenbank offen zugänglichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen auf ihre Wertigkeit hin zu beurteilen und ihrer individuellen Situation fachlich korrekt zuzuordnen. Sie befinden sich in einer „freiwilligen“ Abhängigkeit von den Institutionen im Gesundheitswesen und weisen daher bei dem so populären, wie diskussionswürdigen Vergleich mit dem Kunden in der Wirtschaft eine eingeschränkte Konsumentensouveränität auf. In seiner Mehrfachrolle als Leistungsfinanzierer, Leistungsveranlasser und Leistungsempfänger nehmen die Patienten in zunehmendem Maße die Informationen der Massenmedien und der Selbsthilfegruppen in Anspruch. So ist es nicht verwunderlich, dass die Marketingstrategien einiger pharmazeutischer Unternehmen vermehrt auf die Selbsthilfegruppen und die Massenmedien ausgerichtet sind. In Einzelfällen unterliegen sie dabei dem Vorwurf, im Interesse neuer Absatzmärkte die so genannte „Medikalisierung des Alltags“ („Disease Mongering“) zu betreiben. Der Darstellung klinisch irrelevanter Symptome als „krankhaft“ („Alopezie“), der übertriebenen Betonung der Gefährlichkeit denkbarer Komplikationen und Risiken („Sodbrennen“, „Osteoporose“), der Anpreisung eines ungesicherten therapeutischen Verfahrens („Reizdarmsyndrom“), bis hin zu der gezielten Kreation eines „neuen“ Krankheitsbildes („Sissi-Syndrom“, „Soziale Phobie“, „Female Sexual Dysfunction“), sollte von allen Versorgungsleistern Einhalt geboten werden. Dem Krankenhaussektor kommt dabei eine besondere Bedeutung zu: Hier verbindet sich die interdisziplinäre Fachkompetenz mit der Verpflichtung zur Aus- und Weiterbildung des medizinischen Nachwuchses. Die jüngsten Regelungen zur Continuing Medical Education – „CME“ (Zertifizierte ärztliche Kompetenzerhaltung und Fortbildung) und die ersten Aktivitäten der Krankenhäuser zur Implementierung des so genannten Continuing Professional Development – „CPD“ (Persönliche Entwicklung der beruflichen Fähigkeiten über die rein fachliche Kompetenz hinaus wie z.B. hinsichtlich sozialer Fähigkeiten, (Qualitäts-)Management oder IT-Kompetenz) zielen letztlich auf die gleichen Perspektiven ab, wie die praktische Umsetzung von Behandlungsstandards. Die entsprechenden Aktivitäten nach innen und außen offen zu propagieren, bieten

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neben dem Aspekt der fachlichen Kompetenzentwicklung und der Qualitätssicherung die Chance, sich in einem zunehmend reglementierten Gesundheitswesen marktgerecht zu positionieren. Die Effektivität der Krankenhausleistungen weiter zu verbessern und dabei die Zufriedenheit der Mitarbeiter aufrecht zu erhalten, kann gerade im Sinne der Profilierung des Krankenhauses im Markt und der Erzielung einer hohen Patientenzufriedenheit den steigenden ökonomischen Anforderungen entgegenkommen. In diesem Kontext birgt auch ein weiterer Aspekt ein noch kaum absehbares Potenzial in sich: Der Patient vergleicht seine Wahrnehmung der Krankenhausqualität mit seinen Erwartungen. Patientenzufriedenheit liegt dann vor, wenn der persönliche Eindruck die Erwartungen erreicht oder übertrifft. Eine politisch, ökonomisch und ethisch geforderte Orientierung zum Patienten hin verlangt demzufolge, dass die Erwartungen der Patienten laufend untersucht und diese in das Verhältnis zwischen Medizin und Ökonomie im Krankenhaus eingepasst werden. Krankenversorgung ist nicht nur durch medizinische und pflegerische Kompetenz geprägt, sondern in entscheidendem Maße auch durch menschliche Zuwendung. Diese in ein offen zu propagierendes Wertekonzept einzubinden, stellt nicht nur einen medizinethischen sondern auch einen marktorientierten Eigenwert dar. Auf der Basis einer (keineswegs in sich widersprüchlichen) ethischen wie ökonomischen Sachlogik kann das Krankenhaus der Zukunft die Chance nutzen, sein Leistungsangebot in einer multipolaren Gesellschaft zu spezialisieren. In diesem Sinne wäre auch die Entwicklung von ethischen Richtlinien in Krankenhäusern nicht nur als Maßnahme der „internen Qualitätssicherung“ zu verstehen, sondern auch als externes Marketinginstrument. In medizinischer Hinsicht birgt sie darüber hinaus die Chance, medizinübergreifende Aspekte des therapeutischen Handelns, wie sie in der Psychoonkologie bereits besondere Berücksichtigung erfahren, in die Behandlungsstrategien zu integrieren.

E. Ausblick Aus dem Blickwinkel der Gesellschaft sind die gute Versorgung Kranker und die gesetzliche Krankenversicherung zunächst einmal unabhängig von ökonomischen Erwägungen zu betrachten. Finanzielle Belange, selbst die der Gesellschaft als Ganzem, können dem Recht auf Leben und Schutz des Individuums nicht voran gestellt werden. Die grundlegenden Strukturen unseres gesetzlichen Gesundheitssystems sind wert, geschätzt zu werden. Praktizierte und praktikable Solidarität darf nicht vor dem Phantom einer vermeintlich unkontrollierbaren Kostenexplosion zurückweichen. In einer Phase der radikalen Veränderung, die die Gesundheitspolitik gerade durchläuft, ist es nur legitim, dass auf jedem einzelnen Gebiet der Medizin Entscheidungsfindungsstrukturen, Ressourcengebrauch und Entwicklungspotenziale mit größtmöglicher Offenheit transparent gemacht werden.

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Abschnitt V des Sozialgesetzbuches legt darüber hinaus in einem imperativ formulierten Passus fest, dass jede krankenversicherte Person gleichzeitig selbst für ihre eigene Gesundheit verantwortlich ist, d.h. diese z.B. durch eine gesunde Lebensweise oder durch Teilnahme an vorbeugenden Maßnahmen erhalten muss. Selbst in einem weiterhin auf Gegenseitigkeit beruhenden Unterstützungssystem werden die Mitglieder nur in dem Ausmaß Hilfe leisten können, in dem sie dazu in der Lage sind. Ein vergleichbarer Imperativ gilt für die Erhaltung des Systems und betrifft die Leitung und Koordination der verschiedenen Institutionen, die den Rahmen des Systems bilden. Weder Ärzte noch Krankenversicherungen noch die Wirtschaftsunternehmen dürfen dem Prinzip des auf Gegenseitigkeit beruhenden Systems zuwiderhandeln. Alle Handlungsbereiche sind der Pluralität der Bedürfnisse, Wünsche und Werte der Bevölkerung verpflichtet. Verbunden mit den aktuellen Strukturwandlungen im Gesundheitswesen führt dies zu einer größeren Varianz nicht nur der krankenhausspezifischen Wertekonzepte und der damit verbundenen Angebote. Aus dem Verhalten aller Institutionen im Gesundheitswesen muss deutlich werden, dass sie Mitglieder der Gesellschaft sind und dass ihre Handlungen der Lebensdienlichkeit nutzen. Das ist der fundamentale Unterschied zwischen dem „Gesundheitsmarkt“ und anderen Märkten. Zweifellos sind viele Dinge verbesserungsbedürftig. Das gilt auch für die finanziellen Aspekte, für die ein Regulationssystem gefunden werden muss. Regulationen, die man für die Einführung notwendiger Behandlungs- und Versorgungsstandards braucht, bieten hier eine Gelegenheit. Doch die Verantwortung für die Festlegung der Standards muss bei denen bleiben, die am System beteiligt sind. Strukturrichtlinien können zu mehr Innovation und Effizienz führen. Eine vernünftige Rangordnung fundamentaler Prinzipien ist unerlässlich. Hier sind es gerade die Krankenhäuser, die ihre Kompetenz bei der Verbesserung des Gesundheitssystems und der Einbindung der Gesundheitserhaltung in die Gesamtstruktur der Gesellschaft unter Beweis stellen können – auch und gerade als ein gut funktionierender Wirtschaftsbetrieb. Jede Pflicht zur Veränderung – sei es aufgrund einer angespannten Marktsituation oder aufgrund eines womöglich als überreglementiert empfundenen Behandlungs- und Abrechnungsszenarios birgt die Chance zur Innovation – auch im Sinne der Aufrechterhaltung der Solidarität und der Subsidiarität sowie einer Annäherung an den Patienten.

Expertise und Führung

Ethikkommissionen als Expertenkrise: Ein ökonomisch-philosophischer Essay Birger P. Priddat

A. Kritische Analyse Experten sind Experten, deren Qualität nur von anderen Experten eingeschätzt und beurteilt werden darf. So meinen wir gemeinhin, vor allem aber die Experten, die sich als scientific community auffassen. Das gilt für Ärzte umso mehr; ihr Adelsname lautet in Deutschland: ‘Mediziner’. Wenn Ethikkommissionen eingeführt werden, scheint es so, als ob es einen institutionalisierten Angriff auf die Integrität der Experten gibt. Denn was ist eine Ethikkommission erst einmal anderes als ein Infragestellen der Kompetenzen von Experten in Fällen, die als ‘ethisch’ klassifiziert werden. Man macht eine Unterscheidung zwischen ‘ethischen’ und ‘nicht-ethischen’ Problemen; die Experten bleiben weiterhin Experten für ‘nicht-ethische’ Problemfälle. Für die ‘ethischen’ hingegen gibt es eine gesonderte Kommission. Aber wer entscheidet, was ‘ethische’ und was ‘nicht-ethische’ Problemfälle sind? Denn wenn Experten Experten bleiben, gehörte es in ihre Kompetenz, diese Unterscheidung zu fällen. Doch müssten sie dann eine Unterscheidung und Entscheidung fällen, die die Grenzen ihrer Expertise anzeigt. Sie entschieden, in diesem Fall nicht weiter zu wissen. Das verträgt sich nicht mit dem Selbstbewusstsein des Experten, aber auch nicht mit der Einschätzung der Wissenschaft, die die Wahrheitswerte ihrer Aussagen durch niemand anderen als durch Wissenschaftler, also Experten, prüfen lassen kann. Warum aber sollten Experten dennoch einer solchen Verlagerung ihrer Kompetenz in eine Ethikkommission zustimmen (die ja immerhin wiederum aus Experten zusammengesetzt ist)? Ethikkommission sind Indikatoren für eine fallweise Aussetzung der ExpertiseKompetenz von Experten. Wann stimmen denn Experten zu? Wenn Ethikkommissionen Ausweitungen arbeitsteiliger Organisation von Risikozusammenhängen sind. Ethikkommissionen sind, um es anders zu beantworten, vordringlich keine Antwort auf ethische, sondern auf Risiko/Kompetenz-Probleme. Ethische Notierungen von medizinischen Problemen fallen dann an, wenn die Konsequenzen negative soziale externe Effekte generieren, die durch medizini-

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B. P. Priddat

sche Entscheidungen alleine nicht geklärt werden können. Bzw. eine alleinige medizinische Entscheidung würde mögliche Konsequenzen für die Mediziner haben, die sie – arbeitsteilig, in Gremien – vorab geklärt haben möchten. Solche Konsequenzen können haftungsrechtlicher, moralischer, reputativer oder aber strafrechtlicher Art sein. Es geht nicht um medizinische Fehler (was man auch unter ethischen Gesichtspunkten sehen könnte: z.B. unter verantwortungsethischen). Ethikkommissionen legitimieren ärztliche Handlungen, wenn es um Fälle geht, in denen die Gesellschaft anders entscheiden würde als die Mediziner es gemeinhin tun würden. Man gibt die medizinische Entscheidung als ethisch legitime aus, und zwar als von Medizinern gefällte ethische Entscheidung. Das ist nicht unproblematisch: fragen wir nach der governance structure. Wie sieht die Führungs- und Kontrollstruktur aus, die diese Ethikkommission darstellt? Es scheint folgende governance-Struktur vorzuliegen: ƒ

Die Arzt/Patient-Beziehung wird durch Dritte kontrolliert (‘third-partyenforcement’).

ƒ

Nun gilt das nicht für jede A/P-Beziehung, sondern nur für riskante Beziehungen. Ethikkommissionen müssen sich legitimieren, indem sie lediglich die ‘ethisch fragwürdigen’ Fragen thematisieren. Doch indem ‘ethisch fragwürdige’ von ethisch irrelevanten oder nicht-fragwürdigen medizinischen Fragen unterschieden werden, entsteht bereits ein Misstrauen, wieso es denn überhaupt ethisch fragwürdige medizinische Themen gibt.

ƒ

Riskant sind viele A/P-Beziehungen geworden, die früher unter den Mantel ärztlich-kollegialer Tabuisierung gefallen waren. Heute werden A/PBeziehungen vielfältiger beobachtet: von Kollegen, von den Patienten selbst, von Verwandten der Patienten, von den Medien etc. Die gewohnten korporatistischen Intransparentierungsmechanismen funktionieren nicht mehr vollständig. Ärzteversagen kann visibilisiert werden, und neuerdings sogar juridifiziert.

ƒ

Diese Risiken nehmen auch zu, weil neue Methoden eingeführt werden, mit Versagensfolgen, die nicht mehr individualisiert werden sollen. Ethikkommissionen sind eine Art von ‘Versicherung’, für die Handlungen, die möglicherweise fehl gehen, vorab Legitimation erhalten zu haben. Oder aber die Kommissionen raten, wegen zu hoher Riskanz, ab.

ƒ

Die alte Form des intransparenten Korporatismus wird in eine neue Form der arbeitsteiligen Legitimation überführt: man deckt offiziell Methoden, Verfahren, Entscheidungen etc. Vieles muss abgelehnt werden, weil in der Intransparenz mehr Risiken eingegangen werden konnten. Funktional aber ist die Ethikkommission dem Intransparenzkorporatismus äquivalent. Sie reduziert Riskanz durch Verfahren.

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ƒ

Die Ethikkommission hat keine governance. Der Rat der Ethikkommission muss überzeugen. Aber selbst wenn Ärzte gegen ihren Rat handeln, sichert sich die Ärzteschaft gegen Verfehlungen ab: ab jetzt wären Fehler individualisiert.

ƒ

Als Risikoberatungsinstanz für Ärzte ist die Ethikkommission unvollständig institutionalisiert. Erst wenn sie in die Öffentlichkeit geht und gleichwertig Patienten berät, vervollständigte sie ihren Auftrag. Ethikkommissionen müssten ebenso Patienten beraten, bestimme Therapien nicht einzugehen, wie die Ärzte.

ƒ

Erst wenn ihnen das gelingt, gewinnen sie die relative Neutralität zurück, die die Anerkennung ihrer Geltung voraussetzt. Denn als ‘third-partyenforcement’ gegenüber einer Arzt/Patient-Beziehung sind sie für beide Beziehungssendungen zuständig. Die governance funktioniert erst, wenn die ‘dritte Instanz’ nicht allein die Ärzte berät, sondern zugleich die Patienten, die gezeigt bekommen, was ihr Arzt tun soll oder bleiben lassen soll.

ƒ

Dann aber wären Ethikkommission Experten – wie Klientenberater. Die erste Extension: arbeitsteilige Ausweitung medizinischer Kollegialität, wird in eine zweite Extension überführt: Patientenberatung – und zwar aus gleicher Motivlage: Risikominderung.

ƒ

Denn es wäre eigensinnig, nur die Risiken der Ärzte zu senken, wenn es eigentlich in der Diagnostik und Therapie um Heilung und Gesundung geht, d.h. um Risikosenkungen bei Patienten.

ƒ

Ethikkommissionen sind keine Ärztevertretungen, obwohl ihre Zusammensetzung oft nichts anderes vermuten lässt. Aus der Funktion der doppelten Risikoreduktion lässt sich eine neue Zusammensetzung schließen: Patientenvertreter, Verbraucherschutzverbände, Philosophen etc. Solche Ethikkommissionen einzurichten, wäre die ethische Konsequenz der Einsicht in die Funktion von Ethikkommissionen, wenn man sie nicht mehr nur als Ärztelegitimationsinstanz betrachtet.

B. Ökonomie und Ethik Ethikkommissionen im medizinischen Bereich müssen sich um Fragen der ethischen Relevanz von ökonomischen Entscheidungen kümmern. Erst als Kostenfragen in Kliniken bedeutsamer wurden, begann die Einrichtung von Ethikkommissionen. Denn wenn Fragen der medizinischen Versorgung von der Allokation knapper werdender Mittel (Budgets, Investitionen in medizinische Ausrüstungen etc.) abhängig werden, tauchen mehr und mehr Entscheidungen auf, die fragen, welche medizinisch gerechtfertigte Methode nicht angewandt wird, welche Patienten

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B. P. Priddat

Zugang zu welchen Analysegeräten in welchen Wartefrequenzen bekommen, ob es sich lohnt, alten Patienten teuere Hüftgelenke einzusetzen etc. Mediziner müssen Gründe für Handlungsauslassungen und -unterlassungen akzeptieren lernen, die nicht mehr medizinisch, sondern ökonomisch vorgetragen werden. Dabei fragen sich viele Ärzte, ob es zulässig ist aus ökonomischen Gründen medizinische unbeachtet zu lassen. Sie halten das für ein ethisches Problem. Was Ärzte für eine ethische Fragestellung halten, ist meist erst einmal ein Problem der ‘Rückeroberung medizinischer Lufthoheit’, nun aber mittels eines neutraleren Vokabulars. Für sie ist schwer verständlich, dass Gründe, die vorher galten, nun nicht mehr gelten sollen. Dabei ist nichts Unwürdiges geschehen: jedoch müssen sie jetzt ihre medizinischen Wünsche nach Investitionen mit ökonomischen Gründen vortragen, nicht nur auf Basis medizinischer Argumente. Ethikkommissionen sind Institutionen, die eingerichtet werden, um dem ökonomischen, meist kostenrechnerischen Ansinnen der Klinikleitungen einen Art Widerpart zu bieten, der nicht mit gleicher Münze heimzahlt, sondern mit medizinisch-ethischen Gründen Entscheidungen zu revidieren sucht, die die ‘ökonomisch argumentierende’ Klinikleitung vorträgt. Ethikkommissionen dienen der Aufrechterhaltung kollegialer Solidarität. Denn wenn Ärzte begönnen, ihre eigenen medizinischen Entscheidungen in economic terms zu begründen, würden sie eindeutig zueinander in Konkurrenz treten und unterschiedliche Produktivitäten zur Sprache bringen müssen. Dies würde bedeuten, dass einige Ärzte als unproduktiv gälten und damit nicht mehr geachtet werden könnten, andere dagegen zur Leistungselite zählten (vorbei an denen, die sich, ohne solche Konkurrenzbeobachtung, einbilden, sie wären ‘Elite’, nur weil sie Pfründe besitzen, ohne dabei besonders ‘gut’ zu sein). Ethikkommissionen sind, in einer ersten Näherung, Konkurrenzvermeidungsveranstaltungen. Ethikkommissionen betrachten medizinische Entscheidungen als Entscheidungen, denen im Konflikt ethische Argumente beigesellt werden, um ganz spezifische medizinische Entscheidungen von anderen spezifischen medizinischen Entscheidungen zu separieren. Die Ethik (der Ethikkommissionen) ist dann ein Vokabular, in dem medizinische Differenzen ausgesprochen werden können, ohne auf ökonomische Vokabularien zurückgreifen zu müssen. Ethikkommissionen vermeiden ökonomisches Vokabular. Ethische Sprachspiele gelten daher als höherwertig gegenüber ökonomischen Sprachspiele (medizinische Sprachspiele gelten für Mediziner eventuell als noch höherwertiger). In beiden – ökonomischen wie ethischen – Sprachspielen sind Entscheidungen formulierbar und reformulierbar. Die ethische Sprache wird in den medizinischen Ethikkommissionen als Entscheidungsvokabular eingeführt, das gegenüber

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ökonomischen (vor allem kostenrechnerischen) Argumenten andere, höherwertige Argumente für medizinisch bessere (und teurere) Versorgungen leisten kann. Es geht um folgende Asymmetrie: ökonomische Sprachen argumentieren für low-budget-medicine (bei Einhaltung therapeutischer Effizienz), ethische Sprachen hingegen für high-budget-medicine (weil therapeutische Effizienz oft teurere Verfahren einsetzen muss). Es wird offensichtlich, dass sich bei der Durchsetzung von high-budget-medicine auch die Einkommen von Medizinern erhöhen. Man kann diese Unterstellung auf Relevanz prüfen, wenn man eine medizinisch-ethische Entscheidung folgender Art aufbereitet: Eine medizinische Therapieeinrichtung verlangt von einer Klinik so hohe Kosten, dass diese sie aus ökonomischen Gründen (‘die Investition lohnt sich nicht’) zurückweist. Die Ethikkommission hingegen befürwortet aus ethischmedizinischen Gründen – „alle medizinischen Mittel ausschöpfen“ – die Einrichtung. In der Kommission sitzt – zufälligerweise – ein Philosoph, der vorschlägt, da eine zu treffende ethische Entscheidung über einen medizinischen Sachverhalt vorliegt, ethisch insoweit zu reagieren, a) die höheren Investitionsaufwendungen zu fordern, b) aber ethisch zu verlangen, dass nicht die Klinik das finanzieren müsse (die es ökonomisch nicht kann), sondern die fordernden Ärzte, durch Gehaltseinbußen, und die Patienten. Alle lachen ihn aus, vor allem der Personalrat und die Ärzte, die Patienten schimpfen. Jedoch hat der Philosoph lediglich den Ethikauftrag missverstanden, dass nämlich die Ethikkommission nicht für die Ärzte, sondern für die Patienten zu entscheiden habe. Wenn die Therapie medizinisch bedeutsam ist, dann wird sie den Patienten vermehrt Nutzen stiften, was bedeutet, sie trotz Finanzmisere zu beschaffen, allerdings nicht auf Kosten der Klinik, sondern eigenverantwortlich. So hat sich niemand die Arbeitsweise der Ethikkommission vorgestellt. Ihre Funktion ist anders konzipiert, und zwar ethische Argumente für medizinische Investitionen zu finden, die den Kostenargumenten standhalten. Die Medizin, kann man vermuten, hat sich neue Partner besorgt – die Ethik. Sie will, mit der Ethik jene Normalität wiederherstellen, die sie durch die Anfrage der zuvor genannten als gestört betrachten musste. [Sie hatte entdeckt, dass die Ethik an sich eine Form der Normalität darstellen kann, wenn man sie als agens movens für Fragen verwendet, die anderer Natur sind: z.B. für Risiko-Fragen. Die neue Sehnsucht, durch ethische Gründe von bestimmten medizinischen Therapien abgeraten zu bekommen, stärkt die medizinischen Gründe. Sie werden aufgerüstet. Die Gründe, die ethisch legitimiert werden, sind besonders tauglich und legitimieren den Arzt in neuem/alten Licht – als Glanzgestalt.]

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B. P. Priddat

Mediziner sind natürlich für ethische Fragen empfänglicher und nutzen den Glanz des Ethischen. Ingenieure würden eher über funktionelle oder Effizienzmetaphern versorgt werden. Das Ethische ist der Medizin nahe, weil es um existentielle Fragen des Menschen geht. Man schmückt sich in der Medizin mit dem Ethischen eher, als mit dem Fachlichen. Eine gelungene Mensch/MenschBeziehung ist gleichwohl Ideal der Medizin wie der Ethik, unklar bleibt jedoch, was als gelungen gelten darf. Wenn die Medizin sich von Ethikkommissionen beraten lässt, lässt sie es zu, nicht-medizinischen Sachverstand in medizinische Entscheidungen einfließen zu lassen. Sie lässt es zu, aufgrund spezifischer Gründe, in denen angenommen wird, dass ethische Entscheidungen medizinische stützen und medizin-nah verlaufen. Wenn nicht-medizinische Entscheidungen aber zugelassen werden in der Expertokratie, dann bleibt offen, warum nicht auch andere Gründe gelten können, z.B. ökonomische. Zudem erscheint es als allgemein anerkannt, dass ökonomische Gründe für das Betreiben von Organisationen entscheidend sind, und dass Arztpraxen wie Kliniken eben solche Organisationen sind. Wenn man das ausblendet, aber die ökonomischen Gründe ständig mitlaufen, bleibt offen, welche medizinischen Argumentationen welche ökonomischen Gründe beanspruchen, ohne sie auszusprechen. Wir haben es nicht – gegen den Anschein – mit einem Zwei-Sprachen-Problem zu tun: Medizin und Ethik, sondern mit einem Drei-Sprachen-Problem: Medizin, Ethik und Ökonomie. Denn wir müssen ausschließen, dass sich medizinische Problemfälle ausschließlich ethisch lösen lassen, wenn sowohl alle ethischen als auch medizinischen Lösungen auf ihre Kosten/Nutzen-Relationen geprüft werden müssen. Wenn dies aber der Fall ist, dann sitzen in den Ethikkommissionen zum Teil die falschen Experten; ein Großteil der Mitglieder müsste dann Gesundheitskostenexperten bzw. Gesundheitsökonomen sein. Erörtern wir eine Situation, z.B. irgendeine typische Warteschlangenallokation. Es gibt mehr Patienten als Therapieplätze. Die Warteschlange wächst, nicht alle können aber beliebig warten. Wie soll die Warteschlange neu sortiert werden? Wer kommt auf die vorderen Plätze der Schlange, d.h. wird sogleich oder bald behandelt? Wer wird sehr viel später oder gar nicht behandelt? Wonach werden diese Fälle bemessen? Wir haben es mit einem prima facie medizinisch gelösten Problem zu tun, das anscheinend durch die teueren Geräte verursacht wird: es gibt nur einen Therapieplatz, statt z.B. 13 parallel. Das Problem wird durch die begrenzten Budgets ausgelöst, seine Lösung soll ethisch erfolgen, d.h. nach Kriterien der Knappheitsbewirtschaftung, die nicht ausschließlich wirtschaftliche sind. Ausschließlich wirtschaftliche Kriterien wären Preise für die Plätze in der Warteschlange; eine höhere Zahlungsbereitschaft sichert einen vorderen Platz.

Ethikkommissionen als Expertenkrise

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Was hier als ungemäßes Prinzip gilt, ist aber de facto bereits Realität. Privatpatienten (auch in Private Kassen einzahlende Patienten) bekommen Vorzugsbehandlungen, und zwar nach dem Kriterium ihrer höheren Zahlungsfähigkeit. Die Dreisprachigkeit Medizin/Ethik/Ökonomie findet längst statt. Eine ethische Fragestellung ergäbe sich darin, eine neue Ordnung innerhalb der Warteschlange, unter Ausschluss der Zahlungsfähigkeit, zu erstellen. De facto können wir es nicht wirklich ausschließen, wenn Privatpatienten andere Verträge haben (bzw. eine höhere Mobilität um an andere Plätze zu gehen, an denen noch offene Therapien angeboten werden). Die Ethikkommission müsste dann Regeln erstellen: ƒ

z.B. stochastische Mischungen der Alterszusammensetzung, um zu vermeiden, dass alte Menschen ausgegrenzt werden (mit dem Argument, dass sie jüngeren den Platz wegnähmen, aber weniger Lebenszeit vor sich hätten),

ƒ

oder andere Regeln: Beispielsweise ob die Krankheit aus eigenem, längerem Fehlverhaltenen entstanden ist. Wer sich gleichsam vorsätzlich in die Krankheit gebracht hat, wird eher nach hinten gestellt, als ein Mensch, den sie ‘überfallen’ hat. Hier wird das momentum ethicum auch nach der Seite der Patienten verlängert. Welche Entscheidung, welche Verantwortung übernehmen sie?

C. Komplexe Urteile: Positive Analyse Es ist klar, dass diese Einschätzung nicht für alle medizinisch-ethischen Situationen gelten kann, z.B. nicht für Regeln der Sterbehilfe. Was in Deutschland verboten ist, ist in der Schweiz wie in den Niederlanden erlaubt – nach bestimmten Regeln. Die Schweizer Akademie für medizinische Wissenschaften hat 2003 neue Empfehlungen herausgegeben, die die Voraussetzungen festlegen, wann über einen Suizid gesprochen werden kann, wann er unterstützt werden darf. Es muss therapeutisch alles ausgeschöpft werden, bevor Mediziner wie Pfleger über Sterbehilfe nachdenken dürfen. Damit wird eine Regel gegeben, welche die Sterbehilfe legitimiert, wenn die ärztliche Hilfe nicht mehr greift. Dabei muss seitens der Ärzte und Pflege ein weiträumiger Abwägungsund Entscheidungsprozess vorausgehen. Dazu braucht es eigentlich keine Ethikkommission, sie war aber tätig, um die Regel so zu verfassen, dass sie ƒ

ethisch legitimiert und

ƒ

operativ praktisch ist.

Einwände werden natürlich längst diskutiert, weil es deutsche Ärzte gibt, die solche Regeln auch für Deutschland fordern; Kritiker befürchten ein „stilles Töten aus Kostengründen“. Hier werden ethischen Regeln (als Ergebnisse von

192

B. P. Priddat

Ethikkommissionen) ökonomische Argumente unterstellt, wo sie gerade Grenzfälle medizinischer Therapie ethisch absichern soll. Da es sich bei der medizinischen Therapie oft um ‘Grenzmanagement’, zwischen ‘Leben und Tod’ handelt, benötigen selbst hoch erfahrene medizinische Experten Regeln, die ihnen bei existentiellen Entscheidungen helfen, angemessene Urteile zu fällen (denen Handlungen wie Therapien oder deren Unterlassungen folgen). Die Ärzte brauchen Regeln, da sie ansonsten ohne klare Richtlinien therapieren, wissend, dass es nichts mehr fruchtet. Institutionelle Unklarheit treibt die Kosten in die Höhe. Sterbehilferegeln können ethisch legitimiert klare Entscheidungen treffen. Die Kostenfrage bleibt von der medizinischen abhängig. Doch sinken die Transaktionskosten der Behandlung, weil man weiß, wann es legitim nicht mehr hilfreich ist. Ohne solche Sterbehilferegeln wird ‘sinnlos’ weitertherapiert (weil ja auch keine Alternativen bestehen). Man kann nicht ‘einfach so’ aufhören zu therapieren. Die Regel hingegen gibt ein – legitimiertes – Abbruchkriterium. Die Ethik tritt in diesem Fall als Regel des Therapieabbruchs im medizinischen ‘Grenzmanagement’ auf. [Sie weist auf Grenzen der Medizin hin und legt diese dann fest]. Wieder haben wir die Risikolegitimation von außen: durch eine nicht-medizinische Semantik. Dabei ist die Ökonomie noch überhaupt nicht im Spiel, obwohl sie selbstverständlich bereits mitläuft: nicht intentional, aber im Konsequenzraum des jeweiligen Handelns. Natürlich ist eine Therapie, unter Ausschöpfung aller medizinischen Mittel, vielleicht über 14 Tage stationärer Behandlung, teuerer als eine leichtfertige Sterbehilfe, die anstelle der medizinischen Möglichkeiten träte. Diese Konstellation wird von den Kritikern hervorgehoben. Man kann aber, nur weil eine leichtfertige Einstellung zur Sterbehilfe aus ökonomischen, d.h. aus Kostengründen unterstellt wird, nicht das ökonomische Raisonnement ausschalten. Natürlich sind alle Therapien hinsichtlich ihrer Dauer, Erfolge und Kosten zu überprüfen. Wir haben es aktuell mit dem Umstand zu tun, dass Therapien nicht ökonomisch betrachtet werden, mit der Folge, dass es für Mediziner keine ausweisbaren Effizienzkriterien gibt, d.h. keine klugen Überlegungen, effiziente Therapien und Kostengünstigkeit zu korrelieren. Es gibt keine Anreize, diese Korrelationen zu erreichen (wie auch keine Anreize für ‘palliativmedizinische Investitionen’). Wenn aber keine Kosten- und Effizienzstrukturen offen liegen, müssen andere Kriterien herhalten, um Entscheidungen zu erreichen, die durch die medizinische Fach- und Sachgerechtigkeit alleine nicht mehr zu entscheiden sind. Ethische Entscheidungen (meist von Medizinern, die die Ethikkommissionen besetzen, also nicht von professionellen Ethikern) sind dann Therapien lenkende oder einschränkende Entscheidungen, die Abwägungen vornehmen, die noto-

Ethikkommissionen als Expertenkrise

193

risch Kosten- und Effizienzerwägungen enthalten. Es wäre ein problematisches Ethikverständnis, diese Komponenten aus den Entscheidungen der ‘Ethikkommissionen’ herauszuhalten. Denn es kommt wesentlich auf die Kompetenz der Entscheidung an, nicht auf ihre alleinige medizinische, ethische oder ökonomische Richtigkeit. Die Entscheidungen sind in ihrem Urteilsraum zu öffnen, um komplexe Urteile zu erreichen, anstelle der einfachen Abwägungsrelationen (Medizin/Ethik; Medizin/Ökonomik; Ethik/Ökonomik). Wir haben es – unserer drei Sprachspiele eingedenk – mit triadischen Urteilskomplexionen zu tun, die Medizin, Ethik und Ökonomik im Nexus denken (eine juridische Dimension wäre ebenso hinzuzuziehen). Erst dann kommen die Ethikkommissionen aus ihren Dilemmata heraus, denn die ethische Restriktion von medizinischen Therapien ist immer dann fraglich, wenn Werte ins Spiel kommen, auf die man sich anstelle von Therapien einigen muss. Anstatt große Wertediskussionen zu führen, können zusätzliche Argumente ins Spiel gebracht werden – nicht als dominierende, wie es der Ökonomie immer abwehrend unterstellt wird, aber als den Erwägungsraum ausweitende –, die die Kosten- und Effizienzstruktur untersuchen. So entsteht ein abstrakter Zirkel, der durch Verfahren (by consent oder durch Abstimmung) durchbrochen werden muss: ƒ

medizinische Therapien gehen gegen ‘Grenzen’.

ƒ

um sie nicht – unzulässig – zu überschreiten, regeln Ethikkommissionen diesen ‘Grenzverkehr’.

ƒ

Wer aber regelt die ethischen Regeln? Was man im Therapeutischen nicht mehr meint eindeutig entscheiden zu können: wieso glaubt man das durch ‘Ethik’ besser zu erreichen?

ƒ

Die ‘Ethikkommission’ ist nicht nur eine Institution der Regelgenerierung (as an institution), sondern selber die Regel (as a constitution), die diese Regeln generieren lässt. Das ist aber konfliktanfällig.

ƒ

Denn die ethische Beurteilung von medizinischen Therapiegrenzen ist nicht durch ethische Regeln lösbar, weil ethische Regeln selber uneindeutig sind, also selber zu erörtern. Eher dient die Redeweise von ‘ethischen Regeln’ dazu, den Urteilsraum zu öffnen, bisher nicht vorhandene Differenzierungen einzuführen, um die Urteilsfähigkeit der Beteiligten zu erhöhen.

ƒ

Dazu gehören auch ökonomische Urteile. Nicht nur marginal, sondern ebenso zentral wie die medizinischen, weil sie erlauben, bei ähnlichen Therapien Kostendifferenzen ausschlaggebend werden zu lassen.

ƒ

Natürlich können eingeführte ökonomische Argumente wieder durch medizinische konterkariert oder neu erwogen werden, aber die Argumente

194

B. P. Priddat

gewinnen Aspektierungen, stehen in neuen Attributionsfeldern und gewinnen eine Komplexität, die sie ohne dieses Anreicherungsverfahren des ethikkommissialen Diskurses nicht gewonnen hätten – vorausgesetzt, die Ethikkommissionen schränken sich nicht selber ein, indem sie ethischen Purismus betreiben. Es gibt keinen Grund, Ethikkommissionen das Gelingen dieser Urteilsbalancen einfach zuzugestehen. In dem schwierig konstruierten Gesundheitssystem unserer Gesellschaft stehen immer auch Interessen auf dem Spiel. Ethikkommissionen, die vornehmlich mit Ärzten besetzt sind, geraten leicht in die Nähe einer erweiterten Standesvertretung. Deshalb ist zu folgern, dass Ethikkommissionen mindestens mit drei Sprachspielpopulationen besetzt sein sollen: Medizinern, Philosophen und Ökonomen. In diesem transdisziplinären Feld Regeln zu entwickeln ist allemal solider und fern von Standesvertretungsverdachten. Dass auch hier wieder vorschnell die Patienten, um die es schließlich finaliter geht, vergessen werden, zeigt, dass sie dazukommen müssen, weil die Experten notorisch ohne sie agieren.

D. Was folgt? Die Idee, Ethikkommissionen könnten jene Schwierigkeiten steuern, die die Mediziner in komplexen modernen Gesellschaften nicht rein medizinisch lösen sollten, erweist sich als sinnvoll, wenn man die Ethikkommissionen erweitert und alle stakeholder, die in diese komplexen Arzt/Patientenbeziehungen einbezogen sind, einbezieht. Das sieht aus wie eine Demokratisierung der ethischen Steuerung medizinischer Prozesse. Wir haben aber gezeigt, dass es noch ökonomische Gründe gibt, die jeweils mitgedacht werden müssen. Die ökonomischen Gründe – neues Argument – sind letztlich entscheidend für die Durchsetzung von bestimmten Therapien gegenüber anderen. In einem System, in dem weder die Patienten noch die Krankenkassen dazu drängen können (gar entscheiden können), welche effizienteren Therapien verschrieben werden, bleibt die Wahl zwischen medizinischer und ökonomischer Anforderung allein beim Arzt. Jetzt kann man sich noch eine weitere Funktion der Ethikkommissionen vorstellen, die Ärzte aus dem bisher individuell zu lösenden Dilemma herauszuholen, indem sie ihnen standardisiert Therapien, mit hohen Effizienzgraden (bei gleicher medizinischer Effektivität), empfehlen. Dann würden die Ethikkommissionen zumindest die Brücke zwischen Medizin und Ethik schlagen.

Freiwilliges Arbeitsengagement unter besonderer Berücksichtigung des Gesundheitsbereichs Hans-Werner Bierhoff und Elke Rohmann

A. Einleitung Die heutige Arbeitswelt von Krankenhäusern ist zunehmend durch einen Ökonomisierungsdruck gekennzeichnet, der in Richtung einer Standardisierung der Arbeitsabläufe weist. Sehr viele Arbeiten lassen sich aber nur sehr bedingt standardisieren. Das gilt auch für den Pflegebereich. Hier ergeben sich spezifische Anforderungen an die Arbeitnehmer, welche nicht immer durch Arbeitsverträge geregelt werden können. Die Rede ist hier von Leistungen seitens der Mitarbeiter, welche auf Freiwilligkeit beruhen. In diesem Zusammenhang sprechen wir von prosozialem Verhalten am Arbeitsplatz. Ein Beispiel ist die Krankenschwester, die einem Patienten Mut zuspricht. In Organisationen, die im Gesundheitsbereich tätig sind, wird – wie auch in anderen Berufsfeldern – die Bereitschaft der Mitarbeiter zu diesem freiwilligen Arbeitsengagement erwartet oder vorausgesetzt. Im Gegensatz dazu erwarten viele Mitarbeiter vom Arbeitgeber bestimmte Anreize, damit sie dieses freiwillige Arbeitsengagement auch zeigen. In der Regel ist freiwilliges Arbeitsengagement der Mitarbeiter für die Organisation funktional, wenn es auch nicht als Vertragsverpflichtung eingefordert werden kann.1 Darunter fällt einerseits die Unterstützung von Kollegen, andererseits die von Klienten. Die Vorteile des freiwilligen Arbeitsengagements für die Organisation werden deutlich, wenn wir Beispiele, die sich auf Kollegen beziehen, betrachten, wie Hilfeleistung durch Übernahme der Erledigung von Aufgaben gegenüber überlasteten Kollegen oder die Weitergabe von erfolgreichen Arbeitsmethoden an neue Mitarbeiter. Wir werden im Folgenden noch ausführlicher darauf eingehen. Die Sichtweise, dass nur die Organisation von einem freiwilligen Arbeitsengagement profitiert, ist zu einseitig. Im Gesundheitsbereich profitieren insbe________________ 1

Vgl. Kaufman/Borman (2003).

H.-W. Bierhoff und E. Rohmann

196

sondere auch die Klienten von freiwilligem Arbeitsengagement, das sich z.B. in Höflichkeit und Hilfsbereitschaft der Mitarbeiter äußern kann. Dadurch kommt eine umfassendere Beratung und bessere Information zustande und das Wohlbefinden der Klienten wird gefördert. Aber auch die Mitarbeiter selbst haben etwas davon, da ihre Arbeitszufriedenheit, ihr Selbstbewusstsein und ihre Identifikation mit der Organisation gesteigert werden können, was insgesamt zum Wohlbefinden der Arbeitnehmer beiträgt. Darüber hinaus kann freiwilliges Arbeitsengagement Raum für Selbstgestaltung und Selbstbestimmung schaffen. Der „Wandel durch Selbstorganisation“2 ist zu einem festen Bestandteil des Arbeitslebens sowohl im öffentlichen Dienst als auch in Unternehmen geworden. Freiwilliges Arbeitsengagement ermöglicht also die Ausübung von eigenverantwortlichen Tätigkeiten, die intrinsisch motiviert sind. Auch auf diesen Punkt gehen wir im Folgenden noch ausführlicher ein. An weiteren „Pluspunkten“ auf Mitarbeiterseite sind zu nennen: Freiwilliges Arbeitsengagement kann zu einer verbesserten Arbeitszufriedenheit führen, was die Freude an der Arbeit steigert. Außerdem gilt, dass Mitarbeiter, die sich freiwillig engagieren, durch ihre Vorgesetzten besser bewertet werden, was ihre Aufstiegschancen verbessert. Freiwilliges Arbeitsengagement hat auch eine ökonomische Auswirkung: Als Gegenpol zu Standardisierungsprozessen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen kann es verhindern, dass diese ökonomisch gut gemeinten Maßnahmen zu seiner Unterminierung beitragen und auf diese Weise die Effektivität des Handelns gerade reduzieren (s. unten). Bei genauer Betrachtung sind viele Tätigkeiten ohne Anteile von freiwilligem Engagement nicht richtig vorstellbar. Das gilt vor allem dann, wenn es sich um Dienstleistungen handelt. Man denke zum Beispiel daran, wie hilflos Klienten häufig den Gesundheitsbehörden gegenüber stehen, etwa wenn es um das Ausfüllen von Formularen geht. Eine Beratung der Klienten durch die Mitarbeiter der Pflegeeinrichtung, die zusätzliches Engagement wie z.B. Freundlichkeit, Geduld, Einfühlungsvermögen erfordert, ist hier sehr häufig notwendig. Schon frühzeitig wurde in der Organisationspsychologie erkannt, dass nicht jeder Arbeitsschritt in Vorschriften festgelegt werden kann.3 Trotzdem ist die Diskussion um freiwilliges Arbeitsengagement auch kontrovers, da Assoziationen mit psychologischer Manipulation nahe liegen. Freiwilliges Engagement ist so gesehen ein diskussionswürdiges Gut, für das im Einzelnen zu klären ist, wer davon profitiert und wann man es fördern sollte. Was aber die anfänglichen Bemerkungen zeigen ________________ 2

Rolff (1995).

3

Vgl. Katz/Kahn (1978).

Freiwilliges Arbeitsengagement

197

sollten, ist, dass es wichtig ist zu beachten, dass freiwilliges Arbeitsengagement nicht nur für eine Seite (z.B. nur für die Arbeitgeber) von Vorteil ist. Eine weitere wichtige Frage lautet, wie sich freiwilliges Arbeitsengagement auf das soziale Netzwerk eines Menschen im privaten Bereich auswirken kann. Werden dadurch die Familie und die Beziehung zu Freunden beeinträchtigt? Ein Zusatzengagement kann sich so weit verselbstständigen, dass andere Sozialbeziehungen davon negativ überschattet werden. Es ist uns wichtig, diesen Punkt zu erwähnen, um auf die Gefahren des freiwilligen Engagements im Beruf für den Privatbereich aufmerksam zu machen. Das gilt insbesondere auch für Frauen, die gleichzeitig Kinder zu Hause erziehen und damit einem erheblichen Zeitdruck ausgesetzt sind.4 Dadurch kann ihre Bereitschaft, sich an zusätzlichen Aktivitäten am Arbeitsplatz zu beteiligen, beeinträchtigt werden. Es kann unter Umständen wichtig sein, eine Beratung von Mitarbeitern in Hinblick auf das Ziel, eine Balance zwischen Arbeit, familiären Beziehungen und Freizeit zu finden, anzubieten bzw. durchzuführen. Kann man freiwilliges Arbeitsengagement fördern? Die Beantwortung dieser Frage setzt Kenntnisse über die Determinanten von freiwilligem Engagement voraus. Zunächst setzt die Förderung freiwilligen Engagements voraus, dass die Arbeitssituation so gestaltet ist, dass sie für den Mitarbeiter einen ausreichenden Freiraum lässt, einem Kollegen behilflich zu sein, ohne dass er selbst mit seiner Arbeit in den Rückstand gerät. So ist davon auszugehen, dass Arbeitsengagement aus freien Stücken eine untergeordnete Rolle spielt, wenn die Tätigkeit Fließbandcharakter hat. Ein solcher Fließbandcharakter kann im Krankenhaus- und Pflegebereich z.B. dadurch zustande kommen, dass die Verweildauer je Klient sehr knapp bemessen wird. Je weniger standardisiert die Tätigkeit ist, desto eher besteht die Möglichkeit für die Mitarbeiter, eigene Vorstellungen in die Tätigkeit einzubringen. Freiwilliges Arbeitsengagement setzt eine geringere Standardisierung der Arbeitsabläufe mehr oder weniger stark voraus. Das spricht insgesamt dafür, die Arbeitsabläufe mehr in Richtung größere Autonomie und Entscheidungsfreiheit der Mitarbeiter festzulegen. Daher sind Bestrebungen des Gesundheitsmanagements, die Tätigkeit der Mitarbeiter bis zur letzten Minute durchzustrukturieren, als ungeeignet im Hinblick auf eine sinnvolle Erfüllung der Aufgaben der Mitarbeiter zu bezeichnen. Eine Fließbandabfertigung kann leicht Bumerangeffekte erzeugen, die z.B. in einem hohen Krankenstand der Mitarbeiter aber auch in einer latenten Unzufriedenheit der Klienten zum Ausdruck kommt.

________________ 4

Vgl. Sanders/Flache/van der Vegt/van der Vliert (im Druck).

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198

B. Bedeutung der intrinsischen Motivation Wir haben in der Einleitung schon auf den Zusammenhang zwischen freiwilligem Arbeitsengagement und Eigenverantwortung verwiesen. An dieser Stelle soll dieser Aspekt weiter ausgeführt werden, weil er für ein Verständnis moderner Organisationen im Gesundheitsbereich von zentraler Bedeutung ist. Eine vereinfachte Sichtweise geht davon aus, dass Menschen im Berufsbereich primär extrinsisch motiviert sind, sei es durch die Höhe des Gehalts, durch Sondergratifikationen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld oder durch Aufstiegschancen. Diese extrinsischen Anreize spielen sicher eine gewisse Rolle. Sie werden aber in ihrer Bedeutung für die Arbeitsmotivation weit überschätzt. Denn sie werden durch intrinsische Motive ergänzt, die häufig viel wichtiger sind als die extrinsischen Anreize. Die Motivation eines Mitarbeiters kann durch den „Work Preference Inventory“ gemessen werden.5 In diesem Fragebogen werden 30 Feststellungen vorgegeben, die sowohl intrinsische als auch extrinsische Motive erfassen. Die intrinsische und die extrinsische Orientierung werden jeweils durch zwei Skalen repräsentiert. Extrinsische Skalen sind „Kompensation“ (Beispielitems: „Ich bin stark durch die Auszeichnung motiviert, die ich mir verdienen kann“ oder „Ich habe immer die Ziele im Auge, die ich durch erfolgreiche Arbeit erreichen kann“) und „Orientierung nach außen“ (Beispielitems: „Ich bin stark motiviert durch die Anerkennung, die ich erreichen kann“ oder „Ich glaube, dass es nichts bringt, seinen Job gut zu machen, wenn es niemand mitbekommt“) Intrinsische Skalen sind „Herausforderung“ (Beispielitems: „Ich gehe gerne Probleme an, die komplett neu für mich sind“ oder „Ich löse gerne komplexe Probleme“) und „Spaß an der Arbeit“ (Beispielitems: „Am Wichtigsten ist mir, dass mir das, was ich tue, Spaß macht“ oder „Es ist mir lieber, wenn ich mir eigene Ziele setzen kann“). Untersuchungsergebnisse zeigen, dass ein Überwiegen der intrinsischen Arbeitsmotivation mit besseren Leistungsergebnissen zusammenhängt. Wer mehr Freude an der Arbeit hat und sich mehr durch die Arbeitsaufgaben herausgefordert fühlt, arbeitet effektiver.6 Dieses Ergebnis lässt sich auf Mitarbeiter im Gesundheitsbereich generalisieren. Hier spielt die intrinsische Motivation vermutlich sogar eine besondere Rolle, weil die Mitarbeiter täglich mit Menschen umgehen, deren Probleme und Nöte ihnen vor Augen geführt werden. Der Umgang mit Not leidenden Menschen lässt sich vermutlich individuell besser gestalten, wenn ein gewisses Ausmaß an Autonomie am Arbeitsplatz vorliegt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass intrinsische Arbeitsmotivation Eigenverantwortung der Mitarbeiter zum Ausdruck bringt. Die Eigenver________________ 5

Vgl. Amabile/Hill/Hennessey/Tighe (1994).

6

Vgl. Bierhoff/Müller (im Druck).

Freiwilliges Arbeitsengagement

199

antwortung fördert ihrerseits auch das freiwillige Arbeitsengagement. Diese Überlegungen verdeutlichen auch, dass freiwilliges Arbeitsengagement nicht allen Mitarbeitern gleichermaßen „nahe liegen“ wird. Manche werden eher skeptisch sein, insbesondere wenn sie ein traditionelles Bild des Arbeitnehmers zum Leitbild nehmen, das von extrinsischen Anreizen ausgeht. Andere werden sich damit eher identifizieren können, vor allem auch dann, wenn sie Eigenverantwortung übernehmen wollen. Solche Mitarbeiter sind im Gesundheitsbereich besonders erwünscht. Diese individuellen Unterschiede sind eher mit Motivationsunterschieden als mit Unterschieden im Wissen oder in den Fertigkeiten zu erklären.

C. Freiwilliges Arbeitsengagement konkretisiert I. Was ist das eigentlich? Durch Stellenbeschreibungen und teilweise auch im Arbeitsvertrag sind die Pflichten eines jeden Arbeitnehmers festgehalten. Wie wir aber aus unserer täglichen Praxis wissen, sind zur Erreichung der Organisationsziele auch freiwillige und innovative Verhaltensweisen der Mitarbeiter notwendig, die über die vertraglich vorgegebenen Berufsaufgaben hinausgehen. Organisationen oder Arbeitsgruppen in denen die Mitglieder nur das tun, was vertraglich von Ihnen verlangt wird, werden in kürzester Zeit in Schwierigkeiten geraten. Freiwilliges Arbeitsengagement kann als eigenständige Form des beruflichen Leistungsverhaltens verstanden werden, die von aufgabenbezogenem Verhalten unabhängig ist. Unter der Annahme, dass diese freiwilligen Verhaltensweisen wesentlich zum besseren Funktionieren einer Organisation beitragen, wurde in den letzten 20 Jahren dem freiwilligen Arbeitsengagement in der Forschung viel Aufmerksamkeit geschenkt. Denn häufig wechselnde Aufgaben, der steigende Koordinations- und Kooperationsbedarf in vielen Arbeitsfeldern, das Arbeiten in Gruppen und Projekten erfordert Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die nicht nur einfach ihre Aufgaben erledigen, sondern selbstständig Handlungsbedarf erkennen und flexibel auf unterschiedliche Aufgabenkonstellationen reagieren. In der Sozialpsychologie nennt man alle vertraglich nicht geregelten Verhaltensweisen, die die Mitarbeiter zeigen, um den Arbeitserfolg zu erhöhen, freiwilliges Arbeitsengagement. Dieses prosoziale Verhalten am Arbeitsplatz steht auch im Dienste des Unternehmenserfolges. Untersuchungen zeigen, dass sich freiwilliges Arbeitsengagement sowohl auf die Quantität als auch auf die Qualität der Leistung auswirken kann (s. unten). Aber auch der Arbeitnehmer kann davon profitieren, da er eine günstigere Leistungsbewertung erhält und Gehaltserhöhungen und Beförderungsempfehlungen damit verbunden sein können. Im Folgenden werden sieben verschiedene Verhaltensformen beschrieben, die zusammen genommen freiwilliges Arbeitsengagement ausmachen. Dabei handelt es sich um Hilfeleistung, Unkompli-

H.-W. Bierhoff und E. Rohmann

200

ziertheit, Loyalität mit der Organisation, Einhaltung der Spielregeln, Eigeninitiative, Entfaltung bürgerlicher Tugend und Selbst-Entwicklung. Hilfeleistung ist vermutlich die häufigste Form des freiwilligen Arbeitsengagements im Gesundheitsbereich. Sie hat viel zu tun mit eigenverantwortlichem Handeln in Organisationen.7 Übernimmt jemand freiwillig die Verantwortung, führt dies z.B. dazu, dass Kollegen, die überlastet, verhindert oder krank sind, Unterstützung bekommen. Auf diese Weise werden bleiben Aufgaben nicht unerledigt liegen. Unkompliziertheit (englisch: sportsmanship) stellt eine passive Form des freiwilligen Arbeitsengagements dar. Wer unkompliziert ist, erträgt kleine Unannehmlichkeiten und Ärgernisse während der Arbeit, ohne sich darüber aufzuregen oder zu beschweren. Unkompliziertes Verhalten am Arbeitsplatz impliziert, dass man eher die positiven als die negativen Seiten der Arbeit betont. Loyalität mit der Organisation lässt sich besonders dann beweisen, wenn eine Organisation in die öffentliche Kritik gerät. Zur Loyalität gehört die positive Darstellung der Organisation in der Öffentlichkeit und gegenüber Familienangehörigen, Freunden, Bekannten und Fremden. Die Loyalität liegt in der Regel höher, wenn ein Mitarbeiter eine enge Bindung an seine Organisation aufweist.8 Einhaltung von Spielregeln wird auch als Gewissenhaftigkeit bezeichnet.9 Sie umfasst Verhaltensmuster wie Pünktlichkeit bei der Arbeit, den Dienstschluss einzuhalten und sich genau an den Verfahrensregeln der Organisation zu orientieren. Die Einhaltung der Spielregeln kann als Selbstverpflichtung gesehen werden, die als Teilkomponente der sozialen Verantwortung aufgefasst werden kann.10 Die Einhaltung der Spielregeln ist nicht überall selbstverständlich. Denn es gibt Organisationen, die eine Prämie zahlen, wenn eine Arbeit in dem dafür vorgesehenen Zeitraum erledigt wird. Eigeninitiative bezieht sich einerseits auf verschiedene Formen der Übererfüllung der Erwartungen der Organisation. Ein Sozialarbeiter, der sich über die Arbeitszeit hinaus für Drogenabhängige engagiert, zeigt besondere Sorgfalt und besonderen Einsatz, die der Organisation und der Gesellschaft nützen, ohne dass die Mehrleistung vertraglich geregelt worden ist. Andererseits geht es auch um die Unterbreitung innovativer Vorschläge, die zur Verbesserung der Arbeitsleistung führen. Wenn z.B. ein Mitarbeiter von „Essen auf Rädern“ eine verbesserte ________________ 7

Vgl. Koch/Kaschube (2000).

8

Vgl. Moser (1996).

9

Vgl. Smith/Organ/Near (1983).

10

Vgl. Bierhoff (2000).

Freiwilliges Arbeitsengagement

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Fahrtroute vorschlägt, die Zeit spart und dadurch ermöglicht, dass mehr Zeit pro Klient zur Verfügung steht, wird dadurch der Arbeitsablauf besser organisiert. Unter bürgerliche Tugend fällt die aktive Teilnahme an Versammlungen der Mitarbeiter. Weiterhin fällt darunter die Ausführung von Schutzmaßnahmen, die das Auftreten von Fehlern oder auch die Bedrohung der Mitarbeiter verhindern (z.B. Schutztüren schließen, die offen stehen). Selbst-Entwicklung bezeichnet Aktivitäten, die der Weiterbildung und generell dem Wissenserwerb, der für die Aufgabenbewältigung genutzt werden kann, dienen. Ein Beispiel wäre etwa gegeben, wenn ein Sozialarbeiter privat Englischkurse belegt, damit er sich mit ausländischen Klienten besser verständigen kann. In diesem Fall würden bessere Sprachkenntnisse eine Vereinfachung des Arbeitsprozesses bewirken.

II. Mehrdimensionaler Ansatz Die sieben Formen des freiwilligen Arbeitsengagements lassen es sinnvoll erscheinen, einen mehrdimensionalen Beschreibungsansatz zu verwenden. Damit ist z.B. impliziert, dass Fragebogen, die eine generelle Bereitschaft zum freiwilligen Arbeitsengagement erfassen, durch solche Verfahren ergänzt werden, die mehrere Formen berücksichtigen. Hilfeleistung lässt sich z.B. durch die Vorgabe folgender Feststellungen messen:11 ƒ

Mitarbeitern, die abwesend sind, wird geholfen;

ƒ

Mitarbeiter machen freiwillig Dinge, die nicht erforderlich sind.

Eigeninitiative wird durch die folgende Vorgabe erfasst: ƒ

Mitarbeiter machen innovative Vorschläge, wie man es besser machen könnte.

Gewissenhaftigkeit wird mit den folgenden Themen angesprochen:12 ƒ

Pünktlichkeit,

ƒ

Willkürlich Pausen machen (wird umgekehrt kodiert).

Verschiedene Formen des freiwilligen Arbeitsengagements hängen in Untersuchungen mit der Leistung in Gruppen, die längerfristig kooperieren, zusammen. Hilfeleistung und Unkompliziertheit korrelierten positiv mit der Quantität der Arbeit. Hilfeleistung allein war ein bedeutsamer Prädiktor der Qualität der Arbeit.13 ________________ 11

Vgl. Bierhoff/Müller/Küpper (2000).

12

Vgl. Smith/Organ/Near (1983).

13

Vgl. Podsakoff et al. (1997).

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III. Gerechtigkeit in der Organisation Gerechtigkeit ist eine bedeutsame Determinante der Altruismusdimension des freiwilligen Arbeitsengagements.14 Denn höhere wahrgenommene Fairness unter den Mitarbeitern ist mit mehr Altruismus assoziiert. Aus sozialpsychologischer Sicht wird Gerechtigkeit differenziert betrachtet. Grundsätzlich wird zwischen Verteilungsgerechtigkeit, prozeduraler Fairness und interaktionaler Fairness unterschieden.15 Vor allem die wahrgenommene prozedurale Fairness am Arbeitsplatz hängt mit dem freiwilligen Arbeitsengagement zusammen, also Fragen danach, ob Versprechen eingehalten werden, ob die Betriebsregeln konsistent angewandt werden und ob Unvoreingenommenheit des Managements gegeben ist. Auch durch die Verwirklichung der Verteilungsgerechtigkeit, die sich auf die Verteilung von Einkommen, Privilegien und Beförderung bezieht, trägt zum freiwilligen Arbeitsengagement bei.16 Durch ein Trainingsprogramm, in dem Fairness trainiert wird, kann das freiwillige Arbeitsengagement erhöht werden,17 Gewerkschaftsfunktionäre diskutierten Prinzipien der prozeduralen Fairness und Methoden zu ihrer Verwirklichung. Nach drei Monaten zeigte sich, dass Gewerkschaftsfunktionäre, die an dem Training teilgenommen hatten, mehr freiwilliges Arbeitsengagement in ihrem Arbeitsbereich verwirklicht hatten als solche, die nicht teilgenommen hatten.

IV. Theoretische Konzepte Zur Analyse des freiwilligen Arbeitsengagements wurden von unterschiedlichen Autoren drei theoretische Konzepte entwickelt: ƒ

das organisational citizenship behavior18,

ƒ

das prosocial organisational behavior19,

ƒ

und die organisationale Spontaneität.20

________________ 14

Vgl. Organ (1988).

15

Vgl. Folger/Cropanzano (1998).

16

Vgl. Scholl/Cooper/McKenna (1987).

17

Vgl. Skalicki/Latham (1996).

18

Vgl. Smith et al. (1983).

19

Vgl. Brief/Motowidlo (1986).

20

Vgl. George/Brief (1992).

Freiwilliges Arbeitsengagement

203

Alle drei Konzepte basieren auf der Kennzeichnung des „Extra-Rollenverhaltens“ von Mitarbeitern in Organisationen durch Katz und Kahn.21 Damit wird das „In-Rollenverhalten“ dem „Extra-Rollenverhalten“ gegenüber gestellt, wobei ersteres dem Arbeitsvertrag und den beruflichen Verpflichtungen entspricht und letzteres dem freiwilligen Arbeitsengagement. Die drei verwendeten Begriffe überschneiden sich in erheblichem Umfang22 und lassen sich unter dem Begriff des „freiwilligen Arbeitsengagements“ zusammenfassen.

D. Wem nützt Freiwilliges Arbeitsengagement? Wie oben ausgeführt können die Facetten des freiwilligen Arbeitsengagements Hilfeleistung und Unkompliziertheit einen Nutzen für die Organisation haben, da durch sie Quantität und auch Qualität der Arbeit gesteigert werden konnten. Inwieweit sich hilfsbereites Verhalten auf den Erfolg auswirken kann, zeigen weitere Untersuchungen aus dem angloamerikanischen Raum, die in Wirtschaftsunternehmen durchgeführt wurden. In einer Untersuchung23 schätzen Mitarbeiter einer Einzelhandelskette das hilfsbereite Verhalten in ihrem Laden ein. Es konnte in den Filialen ein erhöhter Umsatz verzeichnet werden, in denen die Mitarbeiter besonders hilfsbereit waren. Aber auch das Personal selbst hat etwas von freiwilligem Arbeitsengagement, da es in der Regel positive Rückmeldung und anerkennende Worte von Kunden zu hören bekommt. Eine Untersuchung, in der freiwilliges Arbeitsengagement in Schnellrestaurants untersucht wurde, zeigte, dass freiwilliges Arbeitsengagement mit hoher Kundenzufriedenheit und höherer Effizienz der Schnellrestaurants einherging.24 Man kann sich gut vorstellen, dass freiwilliges Arbeitsengagement unter Mitarbeitern zu einem effizienteren Umgang mit Ressourcen beiträgt und beispielsweise Vorgesetzten erlaubt, sich mehr auf produktive Tätigkeiten wie Planen, Disponieren und Problemlösen zu konzentrieren. Zudem trägt es zu einem positiven Arbeitsklima bei und macht den Arbeitsplatz für die Arbeitnehmer attraktiv, so dass es für sie wünschenswert ist, ihrer Organisation treu zu bleiben. Dadurch wird die Fluktuation verringert.

________________ 21

Vgl. Katz/Kahn (1978); vgl. Nerdinger (2000).

22

Vgl. Bierhoff/Herner (1999); George/Brief (1992).

23

Vgl. George/Bettenhausen (1990).

24

Vgl. Kaufman/Borman (2003).

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204

Aber nicht nur die Organisation profitiert von freiwilligem Arbeitsengagement, sondern auch die Mitarbeiter. Denn auch für sie ist natürlich ein positives Arbeitsklima wünschenswert, was dazu führt, dass die Arbeit mit mehr Freude verbunden ist. Aber auch die Leistungsbewertung wird positiver, und Gehaltserhöhungen und Beförderungsempfehlungen können die Folge von freiwilligem Engagement sein. Forschungsarbeiten zeigen, dass Vorgesetzte das freiwillige Engagement ihrer Mitarbeiter bei der Leistungsbeurteilung berücksichtigen, wobei in einigen Fällen freiwilliges Engagement sogar stärker berücksichtigt wird als objektive Leistungsdaten.25 Dies betrifft insbesondere auf gehobene Positionen zu, in denen das Ausmaß konkreter Arbeitsanweisungen relativ gering ist.

E. Welche Bedingungen stimulieren das freiwillige Arbeitsengagement? Arbeitszufriedenheit kann sowohl als Folge als auch als Ursache von freiwilligem Arbeitsengagement angesehen werden. Einerseits sind Mitarbeiter zufriedener, die in einem Team arbeiten, das freiwilliges Arbeitsengagement zeigt. Andererseits führt Arbeitszufriedenheit auch dazu, dass die Bereitschaft entsteht, sich über das Notwendigste hinaus am Arbeitsplatz zu engagieren. Eine weitere Determinante des freiwilligen Arbeitsengagements ist die prosoziale Persönlichkeit. Ist freiwilliges Arbeitsengagement einmal in Gang gekommen, kann es sich in entsprechenden Persönlichkeitsmerkmalen, die unter dem Begriff der prosozialen Persönlichkeit zusammengefasst werden, verfestigen. Menschen, die dazu neigen soziale Verantwortung zu übernehmen und die auch eher in der Lage sind sich in andere hinein zu versetzen, sind eher hilfsbereit und solidarisch am Arbeitsplatz als Personen, die diese Einstellungen und Fähigkeiten weniger zum Ausdruck bringen. Soziale Verantwortung wiederum hängt vor allem mit Gewissenhaftigkeit zusammen.26 Auch die Arbeitssituation wirkt sich auf das freiwillige Arbeitsengagement aus. George und Brief27 nehmen an, dass die primäre Arbeitsgruppe zentral ist für die Entwicklung von freiwilligem Arbeitsengagement und dabei vor allem die positive Stimmung während der Arbeit von entscheidender Bedeutung ist. Für die Stimmung sind Kontextfaktoren wie die Ausstattung des Arbeitsplatzes, angenehme Hintergrundmusik sowie eine ansprechende Architektur von großer Bedeutung. Weiterhin sind motivationale Faktoren wie das Vorhandensein eines ________________ 25

Vgl. ebd.

26

Vgl. Bierhoff (2003).

27

Vgl. George/Brief (1992); siehe auch George (1996).

Freiwilliges Arbeitsengagement

205

angemessenen Belohnungssystems und die Förderung intrinsischer Motivation zu berücksichtigen. Aus der Stimmungsforschung wird die Annahme abgeleitet, dass Stimmung zweidimensional erfasst werden kann, da sich eine positive Dimension („interessiert“, „munter“, „inspiriert“, „enthusiastisch“) von einer negativen Dimension („gereizt“, „geschafft“, „aufgebracht“, „nervös“) unterscheiden lässt. (Häufig wird die Stimmung über Adjektiv-Vorgaben erfasst.) Diese Stimmungszustände werden im Hinblick auf einen bestimmten Zeitrahmen beurteilt. Mitarbeiter berichten generell über mehr positive als negative Gefühle am Arbeitsplatz. Bemerkenswert ist das Ergebnis, dass die Stimmungseinschätzungen eine hohe Stabilität über die Zeit aufweisen. Ein Mitarbeiter, der zu wiederholten Zeitpunkten über seine Stimmung am Arbeitsplatz befragt wird, tendiert dazu, ähnliche Einschätzungen abzugeben. Die Stimmung am Arbeitsplatz fluktuiert weniger als man erwarten könnte, was darauf verweist, dass eine dispositionale Komponente in den Stimmungseinschätzungen enthalten ist. Weiterhin ist dafür die Konstanz der Arbeitsbedingungen in einer Arbeitsgruppe über die Zeit verantwortlich. Positive Stimmung wird durch positive Ereignisse wie z.B. positive Berufserlebnisse hervorgerufen. Darunter fallen soziale Anerkennung, das Erlebnis eigener Kompetenz, Erhöhung des Gehalts oder Beförderungen. Außerdem kann die positive Stimmung gefördert werden, indem die oben erwähnten Kontextbedingungen verbessert werden. Negative Ereignisse beeinflussen das negative Stimmungsmuster.28 Ein Beispiel ist ein zu knapper Zeitplan, der Hetze und Verspätungen auslöst. Im Allgemeinen machen wir in unserem Berufsalltag sowohl positive als auch negative Erfahrungen. Diese werden nicht zu einem neutralen Gesamteindruck verrechnet, sondern unabhängig von einander werden durch die widersprüchlichen Erfahrungen positive und negative Gefühle hervorgerufen. Der Zusammenhang zwischen Stimmung und freiwilligem Arbeitsengagement wird in einer Untersuchung von Bierhoff und Müller29 analysiert, in der zusätzlich das Konzept der Gruppenatmosphäre einbezogen wurde. Diese bezieht sich auf das vorherrschende Arbeitsklima, das auf zwei Dimensionen erfasst werden kann: positiv und negativ. Nach den Ergebnissen stellt die positive Gruppenatmosphäre eine positive Determinante des freiwilligen Arbeitsengagements dar, während sich die negative Gruppenatmosphäre ungünstig ________________ 28

Vgl. Larsen/Ketelaar (1991).

29

Vgl. Bierhoff/Müller (1999).

H.-W. Bierhoff und E. Rohmann

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auswirkt. Weiterhin lässt sich sagen, dass sich Stimmung vermittelt über die Gruppenatmosphäre auf freiwilliges Arbeitsengagement auswirkt. Weitere wichtige Determinanten des freiwilligen Arbeitsengagements wurden schon genannt: Arbeitszufriedenheit, Bindung an die Organisation und wahrgenommene Fairness am Arbeitsplatz. Die erlebte Fairness am Arbeitsplatz ist häufig eng mit dem Führungsstil des Vorgesetzten verknüpft. Verhält sich der Vorgesetzte fair und lässt ausreichenden Handlungsspielraum der Mitarbeiter zu, kann freiwilliges Arbeitsengagement eher entfaltet werden. Handlungsspielräume lassen sich z.B. dadurch vergrößern, dass Gruppenarbeit und die Bereitstellung von partizipativen Entscheidungsstrukturen gefördert werden. Ein weiterer günstiger Führungsstil für freiwilliges Arbeitsengagement ist dadurch gekennzeichnet, dass der Vorgesetzte die unterstellten Personen unterstützt sowie eine gute positive Austauschbeziehung mit ihnen herstellt, die durch gegenseitige Unterstützung und Vertrauen gekennzeichnet ist.30

F. Schlussbemerkung Freiwilliges Arbeitsengagement ist ein Verhalten, das zum Erfolg der Arbeit beiträgt. Sowohl in der privaten Wirtschaft als auch im öffentlichen Dienst (Beispiel Gesundheitsbereich) ist freiwilliges Arbeitsengagement unverzichtbar. Berücksichtigt man die sozialpsychologischen Determinanten wie z.B. positive Gruppenatmosphäre und unterstützender Führungsstil des Vorgesetzten, die freiwilliges Arbeitsengagement begünstigen, ergeben sich Ansätze für die Förderung von freiwilligem Engagement im Arbeitsbereich. Die vermehrte Förderung von freiwilligem Arbeitsengagement ist insofern ein erstrebenswertes Ziel, da es Mitarbeitern, Vorgesetzen und Klienten gleichermaßen nützt. Daher ist auch daran zu denken, freiwilliges Arbeitsengagement gezielt zu fördern, z.B. auch durch Führungskräfte- und Mitarbeitertrainings. Mit freiwilligem Arbeitsengagement trägt jeder einzelne aktiv zur Gestaltung seines Arbeitsfeldes im Krankenhaus oder im Pflegebereich bei und erweitert damit die Autonomie seines beruflichen Handelns. In diesem Sinne zu Agieren ist aber nicht nur das Ergebnis individueller Neigungen und Entscheidungen der Mitarbeiter. Vielmehr hängt es auch von den institutionellen Rahmenbedingungen ab. Vor allem ist dafür wichtig, dass das Gesundheitsmanagement einen Fließbandcharakter der Arbeit vermeidet. Zwar ist die Versuchung nahe liegend, Ökonomisierungsprozesse im Gesundheitsbereich in oberflächlicher Weise in eine Durchstrukturierung und Standardisierung der Arbeitsabläufe umzusetzen, ________________ 30

Vgl. ebd. (im Druck).

Freiwilliges Arbeitsengagement

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aber die negativen Effekte im Hinblick auf eine Beeinträchtigung des freiwilligen Arbeitsengagements werden in vielen Fällen die positiven Effekte überlagern.

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Autorenverzeichnis Pamela Aidelsburger Dr. med., MPH, ist freie Mitarbeiterin in Forschungsprojekten des Lehrstuhls für Medizin-Management der Universität Duisburg-Essen und Geschäftsführerin der CAREM GmbH, Egling bei Wolfartshausen. Hans-Werner Bierhoff Dr. phil., ist Professor für Sozialpsychologie an der Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität-Bochum. Alexander Brink Dr. rer. pol. Dr. phil., ist Juniorprofessor für Angewandte Ethik mit dem Schwerpunkt Unternehmens- und Wirtschaftsethik an der Universität Bayreuth. Peter Dabrock Dr. theol., M.A., ist Juniorprofessor für Bioethik im Fachgebiet Sozialethik des Fachbereichs Theologie an der Philipps-Universität Marburg. Johannes Eurich Dr. theol., ist wissenschaftlicher Assistent am Diakoniewissenschaftlichen Institut der Universität Heidelberg. Jochen Fleischmann Dipl.-Volkswirt, ist Assistent am Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre (Wirtschaftstheorie) von Prof. Dr. Oberender an der Fakultät für Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Bayreuth. Christofer Frey Dr. theol., ist emeritierter Professor für Systematische Theologie (Schwerpunkt Ethik) der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Jürgen Hädrich M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Jungen Akademie und Doktorand am Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften an der Humboldt Universität zu Berlin.

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Autorenverzeichnis

Karl Jähn Dr. med., ist Lehrbeauftragter an der Universität Bayreuth und Leiter der Arbeitsgruppe e-Health und Health Communications am Institut für Medizinmanagement und Gesundheitsfragen an der Fakultät für Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Bayreuth. Hartmut Kliemt Dr. phil., ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Duisburg-Essen. Christian Krauth Dr. rer. pol. Dipl.-Volkswirt, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Öffentliche Gesundheitspflege, Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung der Medizinischen Hochschule Hannover. Andreas Langer Dr. rer. soc., ist wissenschaftlicher Assistent am Institut Arbeit und Technik in Gelsenkirchen. Eckhard Nagel Dr. med. Dr. phil., ist Professor für Medizinmanagement und Gesundheitsfragen an der Fakultät für Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Bayreuth. Peter Oberender Dr. rer. pol. Dr. h.c., ist Professor für Volkswirtschaftslehre (Wirtschaftstheorie) an der Fakultät für Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Bayreuth. Notburga Ott Dr. rer. pol., ist Professorin für Sozialpolitik und öffentliche Wirtschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Christian Pihl Dipl.-Soz.Wiss., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialpolitik und öffentliche Wirtschaft von Frau Professor Ott an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Birger P. Priddat Dr. rer. pol., ist Professor für Politische Ökonomie an der Zeppelin University in Friedrichshafen.

Autorenverzeichnis

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Elke Rohmann Dr. phil., ist wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Sozialpsychologie von Professor Bierhoff an der Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität-Bochum. Hans-Martin Sass Dr. phil., ist emeritierter Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum und Senior Research Scholar am Kennedy Institute of Ethics der Georgetown University, Washington D.C. Peter Schröder Dr. phil., ist Dezernent für Fragen europäischer Gesundheitspolitik im Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (lögd) in Nordrhein-Westfalen. Jürgen Wasem Dr. rer. pol., ist Alfred-Krupp-von-Bohlen-und-Halbach-Stiftungsprofessor für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen.