Performanzkritik Der Paulusbriefe 3161522133, 9783161522130

Die biblischen Texte stammen aus einer Kultur, in der die Schrift in der Regel dem gesprochenen Wort diente. Das Geschri

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Performanzkritik Der Paulusbriefe
 3161522133, 9783161522130

Table of contents :
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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik
1.1 Zur Geschichte der Methode
1.1.1 Brieftheorie
1.1.2 Rhetorik
1.1.3 Mündlichkeit
1.1.4 Performanzkritik
1.2 Wesen der Performanz
1.2.1 Materialität und Körperlichkeit
1.2.2 Rahmung durch gesellschaftliche Konventionen
1.2.3 Interaktion mit dem Publikum und im Publikum
1.2.4 Ephemeralität und Emergenz durch die autopoietische feedback-Schleife
1.2.5 Rückverweis auf bereits Vorhandenes
1.3 Methodik der Performanzkritik
1.3.1 Ziel und Grenze der Methode – Ephemeralität und Emergenz
1.3.2 Konventionen des Briefempfangs – Rahmen der Briefperformanz
1.3.3 Grundsätzliches zur Textanalyse in der Performanzkritik
1.3.4 Textanalyse und Materialität der Performanz
1.3.5 Textanalyse und Rolle des Publikums in der Performanz
1.3.6 Textanalyse und Rückverweis auf Vorhandenes in der Performanz
Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe
2.1 Adressierung eines gespaltenen Publikums
2.1.1 Die Zuhörer der Paulusbriefe waren nicht einheitlich
2.1.2 Der Sprecher stellt sich auf ein gemischtes Publikum ein
2.1.3 Die Gruppen im Publikum beeinflussen sich gegenseitig
2.1.4 Der Sprecher beeinflusst die Interaktion im Publikum
2.1.5 Performanzkritik versteht den Briefvortrag als Handlung
2.2 Herausheben einzelner Zuhörer
2.2.1 Drei-Gruppen-Situation nach Simmel
2.2.2 Empfehlung einzelner Personen
2.2.3 Kritik an einzelnen Personen
2.2.4 Unterstützung einzelner Personen
2.2.5 Ermahnung einzelner Personen
2.2.6 Briefe an Einzelpersonen, die vor einer Gemeinde vorgetragen werden
2.2.7 Ergebnis
2.3 Aufmerksamkeit auf den Vortragenden als Medium der Kommunikation
2.3.1 Philemon 8–9
2.3.2 1. Korinther 5,3
2.3.3 Galater 4,13–20; 6,17
Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen
3.1 Streit um die Speise in Rom (Römer 14,1–15,13)
3.1.1 Kontext und Abgrenzung
3.1.2 Gliederung
3.1.3 Einzelauslegung
3.1.4 Zusammenfassung
3.2 Stiften von Freundschaft (Platon, 6. Brief)
3.3 Befriedung nach Unruhen (Claudius an die Alexandriner)
3.4 Spannungen durch Geistbegabungen in Korinth (1. Korinther 12,3)
3.4.1 Das Problem von 1. Korinther 12,3
3.4.2 1. Korinther 12,3 als propositio
3.4.3 Die Parallelität von 1. Korinther 12,3 und 12–27
3.4.4 Spannungen unter den Korinthern
3.4.5 Versöhnung von Gegensätzen in 1. Korinther 12,3
3.5 Verhältnis der Leitenden zu den Geleiteten
3.5.1 1. Thessalonicher 5,12–15
3.5.2 Galater 6,1–10
Kapitel 4: Abgrenzungsstrategien in Briefen
4.1 Zurückgewinnen der Zuhörer (Galaterbrief)
4.1.1 Der Anlass des Briefes
4.1.2 Die Gegner des Paulus gehören zu den galatischen Gemeinden
4.1.3 Die Gegner sind prominente Judenchristen
4.1.4 Die Performanzsituation in Galatien
4.1.5 Der Verlauf der Performanz
4.1.6 Zusammenfassung
4.2 Vertreibung der Gegner (1. Clemensbrief)
4.2.1 Die Performanzsituation in Korinth
4.2.2 Der Verlauf der Performanz
Resümee und Ausblick
Literatur
1. Quellen
2. Sekundärliteratur
Register
1. Stellen
Altes Testament
Neues Testament
Frühchristliche Schriften
Antike Autoren
2. Autorinnen und Autoren
3. Personen und Sachen

Citation preview

Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Friedrich Avemarie (Marburg) Markus Bockmuehl (Oxford) James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL)

296

Bernhard Oestreich

Performanzkritik der Paulusbriefe

Mohr Siebeck

Bernhard Oestreich, geboren 1949; Studium der Theologie in Friedensau, Leipzig, Rostock, Halle (Saale), Berrien Springs (Michigan, USA); 1997 Promotion (Andrews University, USA); Dozent für Neues Testament an der Theologischen Hochschule Friedensau.

e-ISBN 978-3-16-152280-2 ISBN 978-3-16-152213-0 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Bwgrkl ist eine Schrift von BibleWorks, LLC.

Für Hannelore

Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist erwachsen aus einer Frage, die mich seit langem beschäftigt: Wie kam das Wort, das wir heute in der Bibel lesen, bei den ursprünglichen Empfängern zur Wirkung? Dass da mehr geschah als nur ein gedankliches Aufnehmen der im Text enthaltenen Information, ist nicht neu. Schon die Formgeschichte ging davon aus, dass das, was wir heute in den Evangelien des Neuen Testaments lesen, seinen Sitz im Leben in mündlicher Kommunikation in bestimmten sozialen Situationen hatte. Das aber bedeutet, dass die Weitergabe dessen, was von Jesus überliefert wurde – die oft dramatischen Episoden aus seinem Leben oder seine pointierten Aussprüche in manchmal brisanter Lage – gemeinschaftlich erlebte Ereignisse waren, die die Hörer emotional bewegten und die bestimmte, vom Vortragenden gewünschte Reaktionen auslösten. Wie kann man sich diese Ereignisse vorstellen? Auch die Briefe des Neuen Testaments zielen auf mündliche Kommunikation. Sie wurden an Versammlungen von Christusgläubigen gesandt und dort vorgelesen (1 Thess 5,27). Das muss für alle Zuhörenden ein beeindruckendes Erlebnis gewesen sein und nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben (2 Kor 10,10). Lässt sich Genaueres über die Wirkungsweise der Briefe erkennen? Ein wesentlicher Anstoß, diesen Fragen nachzugehen, war mein Interesse an der Homiletik. Bis heute hat das Predigen für mich nichts von seiner Faszination verloren. Mit Freude arbeite ich in homiletischen Kursen mit Studentinnen und Studenten, mit Pastorinnen und Pastoren, mit Laienpredigerinnen und Laienpredigern. Mit Freude experimentiere ich in meiner eigenen Predigttätigkeit. Das Hören einer Predigt ist eine gemeinschaftliche Erfahrung. Das gilt auch in der heutigen europäischen Kultur, wenn auch die Hörerreaktionen im Vergleich zur Antike sehr verhalten ausfallen. In der Predigt wird – wenn es gelingt – das überlieferte Wort zu einem Ereignis für die Hörer. Ganz von selbst ergab sich daraus die Frage, wie das wohl bei den ersten Hörern des biblischen Wortes gewesen sein mag. Ein starker Impuls, diese Frage intensiver zu erforschen, ging von Publikationen aus, die damit ernst machten, dass die Schriften des Neuen Testaments in einer Kultur entstanden, die wesentlich von mündlicher Kommunikation bestimmt war. Besonders möchte ich die von Gerhard Sellin und François Vouga herausgegebene Aufsatzsammlung Logos und

VIII

Vorwort

Buchstabe: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Judentum und Christentum der Antike (Tübingen: Francke 1997) und die von Joanna Dewey in Semeia 65 (1995) unter dem Titel Orality and Textuality in Early Christian Literature veröffentlichten Beiträge nennen. Ich bin ihnen und vielen anderen dankbar und neugierig gefolgt wie auf einem durch ihre Spuren geschaffenen Pfad hinein in eine Welt, wo das in der Bibel Geschriebene nicht nur schriftlicher Text, sondern gemeinsam gelebtes Ereignis ist. In diese Welt ein wenig tiefer hineinzuführen ist auch das Anliegen der vorliegenden Studie. Viele haben durch Anregungen und Kritik zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen. Wie auf jeder Seite des Buches zu sehen ist, waren es viele Autorinnen und Autoren, von deren Gedanken und Hypothesen ich profitiert habe und auf deren Vorarbeit meine Studie aufbaut. Gute Gespräche mit Kollegen und Studierenden an der Theologischen Hochschule Friedensau haben mir den Blick geschärft. Mein Dank gilt Prof. Glenn S. Holland und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der interdisziplinären Konsultation “Performance Criticism of Biblical and Other Ancient Texts” der Society of Biblical Literature, durch die ich über mehrere Jahre vielfältige Anregung und Kritik erfahren durfte. Ich danke auch der neutestamentlichen Sozietät der theologischen Fakultät der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg unter der Leitung von Prof. Udo Schnelle, die mir mehrfach Gelegenheit geboten hat, meine Untersuchungen zur Diskussion zu stellen. Ich danke der Theologischen Hochschule Friedensau für die Möglichkeit eines Freisemesters zur konzentrierten Arbeit an diesem Projekt. Prof. Jörg Frey danke ich für die Aufnahme des Buches in die erste Reihe der Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlages Mohr Siebeck für die gute Betreuung bei der Druckvorbereitung. Ich danke meinem Sohn Raimar Oestreich und allen anderen Helfern, die bei der Korrektur und bei der Formatierung des Manuskripts geholfen haben. Ein besonders inniger Dank gebührt meiner Frau Hannelore, meiner treuen Begleiterin über die vielen Jahre, die mir – wie auch sonst so oft – bei dieser Arbeit geholfen und mir immer wieder Lasten abgenommen hat. Friedensau, im August 2012

Bernhard Oestreich

Inhalt Vorwort .............................................................................................. VII

inleitung ........................................................................................... 1 Kapitel 1 Theorie der Performanzkritik ........................................................... 7 1.1 Zur Geschichte der Methode ............................................................ 7 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4

Brieftheorie ........................................................................... 7 Rhetorik .............................................................................. 15 Mündlichkeit ....................................................................... 28 Performanzkritik .................................................................. 36

1.2 Wesen der Performanz ................................................................... 45 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4

Materialität und Körperlichkeit ............................................. 46 Rahmung durch gesellschaftliche Konventionen .................... 51 Interaktion mit dem Publikum und im Publikum .................... 52 Ephemeralität und Emergenz durch die autopoietische feedback-Schleife ................................................................ 55 1.2.5 Rückverweis auf bereits Vorhandenes ................................... 56 1.3 Methodik der Performanzkritik ...................................................... 60 1.3.1 Ziel und Grenze der Methode – Ephemeralität und Emergenz ............................................................................ 60 1.3.2 Konventionen des Briefempfangs – Rahmen der Briefperformanz .................................................................. 62 1.3.3 Grundsätzliches zur Textanalyse in der Performanzkritik ....... 70 1.3.4 Textanalyse und Materialität der Performanz......................... 73 1.3.5 Textanalyse und Rolle des Publikums in der Performanz ....... 79 1.3.6 Textanalyse und Rückverweis auf Vorhandenes in der Performanz .......................................................................... 83

X

Inhalt

Kapitel 2 Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe ............. 87 2.1 Adressierung eines gespaltenen Publikums ..................................... 87 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5

Die Zuhörer der Paulusbriefe waren nicht einheitlich ............. 87 Der Sprecher stellt sich auf ein gemischtes Publikum ein ....... 91 Die Gruppen im Publikum beeinflussen sich gegenseitig ....... 95 Der Sprecher beeinflusst die Interaktion im Publikum ........... 96 Performanzkritik versteht den Briefvortrag als Handlung ....... 98

2.2 Herausheben einzelner Zuhörer ...................................................... 99 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6

Drei-Gruppen-Situation nach Simmel ................................... 99 Empfehlung einzelner Personen .......................................... 102 Kritik an einzelnen Personen .............................................. 104 Unterstützung einzelner Personen ....................................... 108 Ermahnung einzelner Personen ........................................... 111 Briefe an Einzelpersonen, die vor einer Gemeinde vorgetragen werden ............................................................ 115 2.2.7 Ergebnis ............................................................................ 121 2.3 Aufmerksamkeit auf den Vortragenden als Medium der Kommunikation .......................................................................... 122 2.3.1 Philemon 8–9 .................................................................... 123 2.3.2 1. Korinther 5,3 ................................................................. 129 2.3.3 Galater 4,13–20; 6,17 ......................................................... 131

Kapitel 3 Versöhnungsstrategien in Briefen ............................................... 137 3.1 Streit um die Speise in Rom (Römer 14,1–15,13) .......................... 137 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4

Kontext und Abgrenzung.................................................... 137 Gliederung ........................................................................ 138 Einzelauslegung ................................................................. 141 Zusammenfassung ............................................................. 170

3.2 Stiften von Freundschaft (Platon, 6. Brief) .................................... 171 3.3 Befriedung nach Unruhen (Claudius an die Alexandriner) ............. 174

Inhalt

XI

3.4 Spannungen durch Geistbegabungen in Korinth (1. Korinther 12,3) ...................................................................... 176 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5

Das Problem von 1. Korinther 12,3 ..................................... 176 1. Korinther 12,3 als propositio .......................................... 178 Die Parallelität von 1. Korinther 12,3 und 12–27 ................. 179 Spannungen unter den Korinthern ....................................... 181 Versöhnung von Gegensätzen in 1. Korinther 12,3 .............. 185

3.5 Verhältnis der Leitenden zu den Geleiteten ................................... 189 3.5.1 1. Thessalonicher 5,12–15 .................................................. 189 3.5.2 Galater 6,1–10 ................................................................... 197

Kapitel 4 Abgrenzungsstrategien in Briefen ............................................... 206 4.1 Zurückgewinnen der Zuhörer (Galaterbrief) .................................. 206 4.1.1 Der Anlass des Briefes ....................................................... 206 4.1.2 Die Gegner des Paulus gehören zu den galatischen Gemeinden ........................................................................ 208 4.1.3 Die Gegner sind prominente Judenchristen .......................... 213 4.1.4 Die Performanzsituation in Galatien ................................... 219 4.1.5 Der Verlauf der Performanz ............................................... 220 4.1.6 Zusammenfassung ............................................................. 233 4.2 Vertreibung der Gegner (1. Clemensbrief) ................................... 234 4.2.1 Die Performanzsituation in Korinth .................................... 234 4.2.2 Der Verlauf der Performanz ............................................... 238

Resümee und Ausblick ................................................................. 249 Literatur ............................................................................................ 257 Register ............................................................................................. 289 1. Stellen .................................................................................... 289 2. Autorinnen und Autoren .......................................................... 297 3. Personen und Sachen ............................................................... 303

Einleitung Es geht in dieser Studie um die Performanz der Paulusbriefe in den urchristlichen Gemeinden, also um die mündliche Aufführung von schriftlich abgefassten sprachlichen Äußerungen. Ist das nicht ein Widerspruch? Was hatten Briefe im ersten Jahrhundert nach Christus mit mündlich vorgetragener Rede gemeinsam? In der Schrift de elocutione, die dem Demetrius von Phaleron (4. Jhdt. v. Chr.) zugeschrieben wird, aber aus späterer Zeit stammt,1 wird die briefliche Kommunikation sehr eng mit dem mündlichen Austausch verknüpft. Dort wird ein Brief folgendermaßen bestimmt (223–224): Artemon nun also, der die Briefe des Aristoteles herausgegeben hat, sagt, man müsse auf dieselbe Weise sowohl einen Dialog wie auch Briefe verfassen; es sei nämlich ein Brief wie die eine von den beiden Rollen des Dialogs. Etwas trifft er damit wohl richtig, sicher aber nicht das Ganze. Man muss den Brief nämlich ein wenig besser als den Dialog durchgestalten, ahmt doch der Dialog eine improvisierte Stegreifäußerung nach, während ein Brief abgefasst und gewissermaßen als Geschenk übersandt wird.2

An dieser ältesten bekannten Äußerung zur Brieftheorie ist bedeutsam, dass der Brief, obwohl schriftlich verfasst und mit einer in Dialogform gestalteten schriftlichen Abhandlung verglichen, in die Nähe mündlicher Kommunikation gerückt wird. Das zeigt sich erstens daran, dass dem Artemon zugestimmt wird, dass der Brief einem Dialog vergleichbar sei. Wie der schriftlich verfasste Dialog ist auch der Brief ein Text, der mündliche Gesprächsäußerungen abbildet. Das zeigt sich zweitens an der Weise, wie Demetrius erklärt, was sich für einen Brief nicht schickt. Er demonstriert das an nicht weniger als vier Beispielen mündlicher Sprachverwendung, die alle ein öffentliches Reden darstellen: Ein Brief soll einem Gespräch mit einem Freund entsprechen, also einen einfachen Stil haben, und nicht an einen Festvortrag erinnern (225). Er soll auch nicht im dialogischen Stil verfasst werden, was eher zu einem Schauspieler passen würde (226). Die Satzperioden sollten nicht zu kompliziert sein, als würde man eine Gerichtsrede verfassen (229). Als Ermahnung sind Sprichwörter er1 Klauck 1998, 149 datiert zwischen 200 v. Chr. und 100 n. Chr.; Malherbe 1988, 5 und Poster 2007, 23 setzen das 1. Jhdt. v. Chr. an. 2 Übersetzung nach Klauck 1998, 149; vgl. Thraede 1970, 17–19.

2

Einleitung

laubt, weil sie volkstümlich sind, nicht dagegen feierliche Denksprüche und Mahnungen, wie sie von einer mechanischen Hebebühne im Theater 3 erklingen (323). Für den Verfasser, der ja seine Äußerungen zum Briefstil als Exkurs in einer Abhandlung über die Stilarten mündlicher Rede bringt, war also die briefliche Kommunikation so eng mit Mündlichkeit verbunden, dass er seine Hinweise zum Schreiben von Briefen durch Vergleiche mit mündlicher Sprache erklärt.4 Dass bei Demetrius rhetorische Praxis dazu dient, zu zeigen, wie die Sprache der Briefe nicht gestaltet sein soll, ist von Heikki Koskenniemi und anderen so verstanden worden, dass der Verfasser dieser Redelehre prinzipielle Gegensätze zwischen dem Brief und der öffentlichen Rede sieht, „so dass man sich nicht vorstellen kann, dass der Briefschreiber in seinem Brief dem Empfänger eine, wenn auch noch so schmucklose, Rede hält.“5 Andere sehen eine prinzipielle Trennung zwischen Brief und Rede darin, dass der Brief schriftlich, die Rede mündlich ist. 6 Aber ist damit die Abgrenzung des Briefes von der Rede in de elocutione richtig beschrieben? Immerhin widmet Demetrius dem Brief einen Exkurs in seinem Werk zur Rhetorik, die ja in der Antike eine Disziplin der gesprochenen Sprache war.7 Damit zeigt er, dass für ihn der Brief der mündlichen Sprachform nahe bleibt. So fordert er einen Stil, der dem zwanglosen Austausch unter Freunden entspricht (225).8 Seine Unterscheidung ist also nicht die zwischen schriftlicher und mündlicher Kommunikation, sondern die zwischen freundschaftlichem Austausch und öffentlicher Rede. 3

Zur mhcanh, vgl. Klauck 1998, 151. Auch Cicero vergleicht die Sprache in Briefen mit der mündlicher Redeformen wie Gerichtsrede oder Volksrede; dazu unten auf S. 20. 5 Koskenniemi 1956, 43; ebenso Porter 1993, 112; Stamps 1995, 143–145; Byrskog 1997, 31–32. Auch Bünker 1983, 21 deutet Demetrius so, dass er „bereits die Schriftlichkeit als konstitutiv für den Brief betrachtet.“ 6 Porter 1993, 112: “Demetrius recognizes that there is something inherent in the written nature of the letter that is different from spoken discourse.” 7 Malherbe 1988, 3 urteilt, dass die Brieftheorie erst allmählich in die Rhetorik aufgenommen wurde. 8 Vgl. Cicero, Att. 8.14.1: „cum quasi tecum loquor“. Vgl. Seneca, epist. 75.1–2: „Wie mein Stil beschaffen wäre, wenn wir zusammensäßen oder spazierengingen, nämlich ungezwungen und salopp, so sollen meine Briefe sein, wünsche ich, die nichts Gesuchtes enthalten und Gekünsteltes … Auch wenn ich diskutierte, würde ich nicht mit dem Fuß aufstampfen noch mit der Hand gestikulieren, noch die Stimme erheben, sondern ich hätte das den Rednern überlassen.“ Aufstampfen mit dem Fuß oder Hochreißen der Arme, das ist typisch für den öffentlichen Redner, so Quintilian, inst. 10.3.21 und 10.7.26. Auch Quintilian, inst. 9.4.19–22 unterscheidet den Stil einer Rede von dem eines Briefes oder einer Unterhaltung, vergleicht den Brief dabei aber immer mit mündlicher Kommunikation. Vgl. Porter 1993, 113–114, der auch auf Philostratus von Lemnos, de epistolis (3. Jhdt.) hinweist. 4

Einleitung

3

Andererseits ist ein Brief jedoch mehr als ein spontaner Gesprächsbeitrag und sollte deshalb mit größerer Sorgfalt gestaltet werden (224). Mit dieser Bestimmung ist für den Brief genau das gefordert, was für ein freundschaftliches Gespräch nicht gilt, jedoch in hellenistischer und römischer Zeit für die öffentliche Rede üblich war, nämlich eine sorgfältige, oft schriftliche Vorbereitung, die dann dem mündlichen Vortrag diente und eventuell schließlich in überarbeiteter Form schriftlich publiziert wurde.9 Also auch mit dieser Anweisung bleibt der Brief der mündlichen Rede vergleichbar. Dass Demetrius mit Beispielen aus der rhetorischen Praxis zeigt, was sich für einen Brief nicht schickt, bedeutet also nicht, dass ein Brief mit einer Rede nichts zu tun hat, sondern dass die briefliche Situation eine eigene Art der Rede erfordert, die von den klassischen Redegattungen der Rhetorik zu unterscheiden ist und im Stil irgendwo zwischen dem der Gerichts- und Festredner und der Umgangssprache liegt. Schließlich wird bei Demetrius die Schriftlichkeit des Briefes als Begründung dafür angeführt, dass bei der sprachlichen Gestaltung des Briefes größere Sorgfalt angebracht ist. Hier ist offenbar daran gedacht, dass der Brief durch seine Schriftlichkeit auch etwas Materielles ist und auch deshalb einen anderen Rang hat als rein gesprochene Äußerungen. Dabei geht es wohl nicht darum, dass die Schriftlichkeit die gewichtigere Kommunikationsform wäre und die Informationen besser transportieren könnte, etwa weil der Empfänger den Brief mehrfach lesen kann. Die antike Kultur schätzte die Bedeutung und die Verbindlichkeit der gesprochenen Sprache höher ein als die der geschriebenen. 10 Die Hochschätzung des Briefes wird vielmehr damit begründet, dass er dem Empfänger wie ein Geschenk zugesandt wird (224). Der Empfänger bekommt also etwas, was er in die Hand nehmen kann, etwas Bleibendes. Seit alter Zeit gehört das zur Magie des Geschriebenen, dass in ihr die Sprache, die normalerweise immateriell und vergänglich ist, zu etwas Materiellem und Dauerhaftem 9

Zur Bedeutung des Schreibens für den Redner vgl. Quintilian, inst. 10.1.2.: „Nam neque solida atque robusta fuerit unquam eloquentia, nisi multo stilo vires acceperit“ („Denn gediegen und bei immer frischer Kraft kann die Redekunst nur sein, wenn sie aus gründlicher schriftlicher Übung ihre Kräfte gewonnen hat.“); ähnlich 1.1.28–29; 10.1.1– 3; 10.3.1–18; 10.6.3; 10.7.28–29. Für die Auffassung, dass man Reden durch Lesen lernt, vgl. Quintilian, inst. 10.1.16–131, dazu Dormeyer 1993, 32 mit Hinweis auf Theon, prog. 1,84–92. Vgl. Fuhrmann 1990; Fantham 1998, 226 u. ö.; Morstein-Marx 2004, 25–30. Zur Überarbeitung für die Publikation vgl. Quintilian, inst. 10.7.30–31. 10 Stirewalt 2003, 6: “There was a general distrust of the written word: Isocrates, obviously referring to literary letters, gives three reasons why it is better to offer advice in person rather than by letter, one of which states that people believe things spoken more readily than things written because they take the spoken word as practical advice but the written as an artistic composition.” vgl. Isokrates, ep. 1,2–3. Zur Höherschätzung des gesprochenen Wortes vgl. Botha 1993a; zur Kritik am geschriebenen Wort vgl. Alexander 1990; Frede 1997.

4

Einleitung

wird. Es sind vor allem die Kulturen, in denen die Mündlichkeit eine große Rolle spielt, die sich den Sinn für die Verdinglichung der Sprache in der Schrift bewahrt haben. 11 Auch diese Äußerung spricht also nicht gegen eine Nähe des Briefes zu mündlicher Sprache, sondern setzt sie vielmehr voraus.12 Die vorliegende Studie greift einen Aspekt der in der Antike so selbstverständlichen Verknüpfung der brieflichen Kommunikation mit der Mündlichkeit auf. Sie beschäftigt sich mit den Briefen des Paulus und untersucht die Situation, in der die Briefe den Empfängern laut vorgelesen wurden. Die Frage lautet: Wie ist das Ereignis vorzustellen, wenn der Brief des Paulus die Empfänger erreicht und dort zur Wirkung kommt? Es handelt sich bei diesem Geschehen um ein Ereignis (oder mehrere Ereignisse), bei dem mehrere Personen involviert sind: der den Text Vortragende und die Zuhörenden. Das ist eine typische Performanzsituation. Gemeinsam generieren die Anwesenden die Bedeutung des Textes, der sie erreicht hat. Wie geschieht das? Welche Interaktion zwischen den Beteiligten findet dabei statt?13 Der Verfasser des Briefes ist indirekt beteiligt, indem er sich beim Gestalten seines Textes die Situation vorstellt und gleichsam in Gedanken anwesend ist (1 Kor 5,3). Wie hat die gedankliche Vorwegnahme dieses Geschehens die Gestaltung des Brieftextes beeinflusst? Oder aus der heutigen Perspektive gefragt: Wie hilft die Berücksichtigung der Performanz des Briefes, den Text besser zu verstehen? Diese Fragen sollen in dieser Studie erörtert werden. Dabei gehen wir in drei Schritten vor. Zunächst soll gezeigt werden, auf welchen Vorarbeiten die hier vorgelegte Untersuchung aufbaut. Ein grober Überblick über die Fülle der Literatur wird zeigen, dass es mehrere Strömungen der neutestamentlichen Forschung sind, die zu dem zusammen-

11

Vgl. dazu z. B. Niditch 1996, 78–88. Vgl. die Bedeutung des Briefes als materieller Gegenstand bei Seneca, epist. 40.1: „Numquam epistulam tuam accipio, ut non protinus una simus. Si images nobis amicorum absentium iucundae sunt, quae memoriam renovant et desiderium falso atque inani solacio levant, quanto iucundiores sunt litterae, quae vera amici absintis vestigia, veras notas adferunt? Nam quod in conspectu dulcissimum est, id amici manus epistulae inpressa praestat, agnoscere.“ („Niemals nehme ich Deinen Brief in Empfang, ohne dass wir sogleich zusammen sind. Wenn uns Bilder abwesender Freunde erfreulich sind, die die Erinnerung auffrischen und die Sehnsucht mit unbegründetem und leerem Trost erträglich machen, um wieviel erfreulicher ist ein Brief, der echte Spuren, echte Zeichen des abwesenden Freundes überbringt. Denn was beim Anblick des Freundes am wohltuendsten ist, das leistet die dem Brief aufgedrückte Handschrift des Freundes, nämlich ihn wiederzuerkennen.“ Übersetzung: Klauck 1998, 157). 13 Zur Rolle der Zuhörerschaft – der vom Redner konstruierten und auch der realen – und zu ihrem Einfluss auf den Redner und damit auf den Ausgang des Redeereignisses vgl. Perelman und Olbrechts-Tyteca 2004, 22–34. 12

Einleitung

5

fließen, was im Begriff ist, sich als performance criticism zu etablieren.14 Dabei konzentrieren wir uns auf die Paulusbriefe und nennen einige Studien zur Performanz der Evangelien oder anderer biblischer Literatur nur am Rande. Im zweiten Schritt folgt eine Klarstellung dessen, was in dieser Untersuchung unter Performanz verstanden werden soll. Wir werden hier vor allem von den einschlägigen Arbeiten in Kulturanthropologie und Theaterwissenschaft profitieren. Aus der aktuellen Diskussion werden sich fünf zentrale Merkmale herausschälen, durch die Performanz definiert werden kann. Aus diesen Merkmalen wird dann abgeleitet, welche Methoden und Arbeitsschritte für die Performanzkritik der Paulusbriefe anzuwenden sind. Ein Ergebnis der Erforschung von Performanzereignissen ist die Erkenntnis, dass sie in einer „performance arena“ (Foley) geschehen. Performanz ist ein Handeln innerhalb eines gesellschaftlich konventionalisierten Rahmens, der es möglich macht, dass sich die Anwesenden als Vortragende bzw. als Publikum definieren und erst dadurch eine Performanz konstituieren. Weil es zu den Aufgaben der Performanzkritik gehört, diesen Rahmen zu berücksichtigen, werden wir die Konventionen für das Aufführen von Briefen in griechisch-römischer Zeit kurz beschreiben. Dieser Teil wird sich auf das stützen, was von Historikern zu den kulturellen Gepflogenheiten für die Situation des Briefempfangs erarbeitet wurde. Schließlich wird im dritten Schritt, dem Hauptteil dieser Arbeit, an Beispielen vorgestellt, wie diese Methode das heutige Textverständnis der Paulusbriefe erhellen kann. Vielfältige Untersuchungen dazu wären möglich, zum Beispiel die akustische Qualität der Performanz 15 oder die besondere Rolle derer, die den Brief vortragen. 16 Wir konzentrieren uns bei den Beispielen auf einen Aspekt, der von großer Bedeutung ist, aber bisher kaum untersucht wurde. Wir wählen Texte, in denen die Zuhörer nicht als eine homogene Gruppe angesprochen sind, sondern in denen das mehr oder weniger problematische Verhältnis verschiedener Gruppen unter den Zuhörern zueinander vorausgesetzt oder thematisiert wird. Die Gruppen können sich durch ihre soziale Stellung in der Gesellschaft oder in der Gemeinde unterscheiden, sie können aber auch verschiedene theologische oder glaubenspraktische Auffassungen haben. Nicht selten werden mehrere Aspekte zusammenwirken. In der Gemeinde Korinth zum Beispiel gab es Spaltungen zwischen Anhängern verschiedener Persönlichkeiten (1 Kor 1,10), zugleich auch Spannungen zwischen Wohlhabenderen und Ärmeren

14

Vgl. Rhoads 2006. Vgl. Dean 1996; 1998; Harvey 1998; 2002; Esler 2003, 216–219; Sellin 2006. 16 Vgl. Johnson 2009. 15

6

Einleitung

(1 Kor 11) oder zwischen denen, die unterschiedliche Geistesgaben praktizierten (1 Kor 12).17 Die vorgestellten Beispiele werden zeigen, wie die Berücksichtigung der Performanzsituation bei der Briefrezeption dazu hilft, die rhetorische und performative Strategie des Paulus zu erkennen und das Gesagte zu verstehen. Vergleiche mit außerkanonischen Briefen und anderen Quellen werden deutlich machen, dass es sich bei den Strategien des Paulus nicht um etwas Außergewöhnliches handelt, sondern um weithin übliche Methoden, durch die das Verhältnis zwischen Vortragendem und Publikum und zwischen Teilen des Publikums untereinander gestaltet werden konnte.

17

Vgl. dazu Theißen 1989a; 1989b; 1989c.

Kapitel 1

Theorie der Performanzkritik 1.1 Zur Geschichte der Methode 1.1 Zur Geschichte der Methode

Es sind vor allem drei Ströme, die zur Erforschung der Briefe des Neuen Testaments unter dem Gesichtspunkt der Performanz zusammenfließen: Brieftheorie, Rhetorik und Mündlichkeitsforschung. 1.1.1 Brieftheorie Ein Schwerpunkt der Erforschung der neutestamentlichen Briefe liegt seit Adolf Deissmann auf der Frage, wie sie in die Vielfalt der antiken Briefliteratur einzuordnen sind. Deissmann selbst verglich die Paulusbriefe mit den in Ägypten gefundenen Papyrusbriefen und hielt sie für „echte Briefe“, für Gelegenheitsschreiben, die im Gegensatz zu den „Episteln“ ganz aus der konkreten Situation geboren sind, verfasst ohne literarisches Interesse und ohne Gedanken an einen weiteren oder späteren Leserkreis. 1 Inzwischen ist offensichtlich, dass die Unterscheidung in echte Briefe und Episteln zu einfach ist und sowohl der Vielfalt brieflicher Texte als auch der Komplexität der neutestamentlichen Briefe nicht gerecht wird. 2 Dennoch hat sich Deissmanns Forschungsansatz weithin durchgesetzt, nämlich durch den Vergleich mit außerbiblischen Brieftexten und unter Berücksichtigung der antiken Texte zur Epistolographie das Wesen und die Aussage der neutestamentlichen Briefe zu erhellen. 3 Der Vergleich umfasste bisher vor allem die sprachliche Form der Briefe,4 also das Briefformular und die verwendeten Formeln, 5 dazu die 1

Deissmann 1923, 198. Deissmanns Unterscheidung von Brief und Epistel findet sich auf S. 194 –195. 2 Vgl. Doty 1969; 1973, 24–27; Stowers 1986, 18–20. 3 Zum Beispiel Sykutris 1931, 187–188; White 1986 (Ausgabe einer Auswahl von Papyrusbriefen und Vergleich mit christlichen Briefen); Malherbe 1988 (Ausgabe wichtiger Texte zur antiken Epistolographie); vorsichtiger Berger 1974. Vgl. den Forschungsgeschichtlichen Überblick bei Conring 2001, 17–36. 4 Doty 1973, 12–15 betont die Formgebundenheit und formelhafte Sprache: “… amazingly stereotyped and bound to tradition” (S. 12). 5 Koskenniemi 1956; Thraede 1970; Bahr 1966; 1968 (zur eigenhändigen Nachschrift in Briefen); Mullins 1964 (disclosure); 1968 (greeting); 1972 (formulas); 1977 (benedic-

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Brieftopik 6 und die briefliche Gattung.7 Die mit dem Brief verknüpften Ereignisse, also das Abfassen des Briefes, der Briefempfang, die Briefrezeption durch den Empfänger, waren in diesen Untersuchungen kaum im Blick. Heikki Koskenniemi (1956) hat vor allem für den griechischen Brief die Formen und Konventionen untersucht, nach denen ein Brief gestaltet wurde und die mit der typischen Briefsituation zu tun haben. Nach ihm ist die Aufgabe des Briefes, durch Gedankenaustausch die Freundschaft zu pflegen, 8 und zwar dadurch, dass durch den Brief eine geistige Anwesenheit des räumlich entfernten Freundes erzeugt wird (parousi,a). Koskenniemi formuliert: Prinzipiell kann man für primär gewiss die Auffassung halten, dass die Worte des Briefschreibers nicht aus weiter Ferne kommen, sondern dass dieser durch seine Worte dem Empfänger gleichsam persönlich begegnet, was bedeutet, dass die Aufmerksamkeit sich anstatt auf den Zeitpunkt des Schreibens auf den Augenblick des Briefempfangs konzentriert, wo sich der Brief gewissermaßen erst verwirklicht. 9

Wie das genau im „Augenblick des Briefempfangs“ geschieht, wird allerdings kaum bedacht. Klaus Thraede (1970) hat mit ganz ähnlicher Zielstellung die lateinische Briefliteratur hinzugenommen, um die antike Bildungstradition zu erhellen, die sich in Thematik und Phraseologie des Briefes niederschlägt. Zwar spricht Thraede von „einer selbständigen, durch Bildung und Gesellschaft vorgezeichneten ‚Briefsituation‘“ und will herausfinden, „in welchen festen Gedanken zu Sinn, Form und Erlebnis des Briefwechsels sie im Laufe der Zeiten Gestalt gewonnen hat“, 10 behandelt aber ausgehend vom Briefwechsel Ciceros das Erlebnis des Briefempfangs nur in dem Sinn, dass der Freundschaft ausdrückende Brief den realen Kontakt ersetzt und eine tion); White 1983; 1984; 1972 (letter body); 1988 (mit Bibliographie); Arzt 1994 (formula valetudinis, Danksagung); Reed 1996 (thanksgivings); Alexander 1989 für den Philipperbrief; Hartman 1998 (petition and request); Müller 1997 (Schluss des Hauptteils). 6 Koskenniemi 1956, 34–47 identifiziert drei Themen: Philophronesis, Parousia, Homilia. Zur Parousia vgl. Funk 1966, 164–269 (travelogue); 1967 (parousia); Mullins 1973 (visit talk). Zur Verwendung von Formeln und Gedanken des Freundschaftsbriefs im 1 Thess Schoon-Janßen 1991; 2000. 7 Zum Beispiel Empfehlungsschreiben, Familienbrief, offizielle Briefe von Herrschern und Administratoren, Trostbrief; vgl. White 1988, 88–95. Vegge 2006, 225–229 sieht eine Verbindung der neutestamentlichen Briefe zum philosophischen Lehrbrief. 8 Koskenniemi 1956, 35–47. 9 Koskenniemi 1956, 46. Schnider und Stenger 1987, 100 verweisen auf 1 Kor 5,3: „Die brieflich vermittelte Präsenz des Apostels hat sozusagen juristische Konsequenzen: ‚Hier soll der Brief den Verfasser geradezu rechtsverbindlich verkörpern.‘“ (zitiert ist Thraede 1970, 147). 10 Thraede 1970, 9.

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geistige Gegenwart bewirkt, indem das Schreiben bzw. Lesen ein Erlebnis geistigen Sehens schafft. 11 Dass die durch die „Gesellschaft vorgezeichnete Briefsituation“ auf der Empfängerseite in der Regel ein Ereignis des Sprechens und Hörens ist und wichtige soziale Komponenten hatte, bleibt unberücksichtigt. Auch John L. White (1972, 1984) untersucht die formale und inhaltliche Gestaltung der neutestamentlichen Briefe im Vergleich zur antiken Epistolographie. 12 Deutlicher als andere vor ihm betont er das soziale Ereignis des Briefempfangs. Er versteht den Brief als ein Mittel, trotz räumlicher Distanz die mündliche Kommunikation aufrecht zu erhalten: “The letter arises because of the inability of two or more parties to communicate face to face. Thus, the letter becomes the written means of keeping oral conversation in motion.”13 Er nimmt an, dass der Hauptteil der Paulusbriefe die Art des Paulus reflektiert, das Evangelium in den Gemeinden in der Predigt darzulegen: “… there is surely warrant for suggesting that the letter is the written equivalent of the oral presentation which Paul would have delivered to the congregation, if he had actually been present.”14 Die Situation des Briefempfangs ist daher die Gemeindeversammlung, in der der Apostel vermittelt durch seinen Brief mit seiner ganzen Autorität gegenwärtig ist: … the letter was the substitute for Paul’s apostolic presence with his Christian communities. His use of Christian formulas shows, more exactly, that the setting for which the letter served as a surrogate was the Christian congregation at worship. Namely, it was in his capacity as God’s representative that Paul addressed his congregations. Given the Jewish conception of the evocative power of the spoken word of God, one may understand Paul’s reticence in using the letter as a surrogate medium for that message. On the other hand, the religious and cultic nuances of the letter, as well as Paul’s use of rhetorical techniques that are reminiscent of oral argumentation, all make sense in this light.15

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Thraede 1970, 39–47 mit Beispielen vor allem aus dem Briefwechsel Ciceros. Zum Beispiel White 1972; White 1986, 193–213. 13 White 1984, 1731. Zur Entwicklung des Briefes aus mündlicher Kommunikation vgl. White 1986, 192–193; 1988, 87–88. 14 White 1984, 1743; vgl. Doty 1973, 16–17: “In each case, then, the original situation implied by the language and by the form of the letter is the personal confrontation, the conversation, or the oral encounter.” 15 White 1986, 19. Ähnlich Doty 1973, 44 –45; Stirewalt 2003, 13. Vgl. auch White 1984, 1743: “Therefore we can speak of the assembled congregation as the common recipient of Paul’s letters and of Paul as an addressor who, in every case, writes in his official capacity as apostle.” Ähnlich 1739: “Apart from Philemon … all of Paul’s letters are addressed to Christian congregations with an eye to their corporate setting in worship.” Zum Philemonbrief als Brief an die Hausgemeinde vgl. Schnider und Stenger 1987, 22 und 50–51: „Die paulinischen Briefe wenden sich nämlich nicht an Einzelpersonen, sondern an ein größeres Publikum, was auch für den Philemonbrief gilt. Damit 12

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Die apostolische Autorität wird für die Hörer des Briefes erkennbar durch Hinweise auf frühere Ermahnungen und auf die beispielhafte Lebensführung des Paulus, durch Verweise auf den Brief selbst oder auf die Abgesandten des Paulus und auch durch eine Besuchsankündigung. 16 Auch durch den eigenhändigen Schluss (1 Kor 16,21; Gal 6,11; Phlm 19; ebenso Kol 4,18; 2 Thess 3,17; wohl auch 1 Thess 5,26–27) wird die Autorität des Apostels unterstrichen. 17 Obwohl bei White einige soziale Aspekte des Briefempfangs angesprochen werden, bleiben doch viele andere unberücksichtigt. So fehlt auch bei White ein Nachdenken darüber, wie diese Autorität in der Situation des Briefempfangs verkörpert wird – etwa durch den Boten oder den Vorlesenden, der dem Absender seine Stimme gibt. Vor allem gibt es keine Erörterung der Rolle, die die Empfänger spielen. Wie White betont auch Stanley K. Stowers (1986) die soziale Einbettung brieflicher Kommunikation 18 und beschreibt die Funktion von Briefen in der Ehre-Kultur der Antike oder in der philosophischen Seelenführung.19 Er analysiert eine Reihe von Brieftypen (orientiert an Ps.-Demetrius, formae epistolicae und Ps.-Libanius, characteres epistolici) und stellt neutestamentliche Brieftexte neben eine Fülle von Beispielen außerbiblischer Briefe.20 Allerdings liegt der Fokus auf dem Brief als einem Objekt, das unter Berücksichtigung traditioneller Formen gestaltet ist, um im sozialen Kontext bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Obwohl Stowers in der Einleitung schreibt, “that ancient letters will be difficult to understand on their own terms unless we also understand something about the contexts of Greco-Roman society in which the actions were performed and had their meanings,” 21 kommt doch der Brief als Teil einer Performanz, eines sozialen Geschehens nicht in den Blick. Der Überblick über einige wichtige Werke zeigt, dass die Forschung die Seite der brieflichen Kommunikation bei den Empfängern, „wo sich der nähern sich die paulinischen Briefe stärker als der dem Gespräch unter Freunden vergleichbare hellenistische Privatbrief dem Genus der Rede.“ 16 White 1984, 1746–1747; vgl. White 1972, 29–31; Funk 1967. 17 White 1984, 1741: “… he would add his personal weight to the letter’s message.” Zu eigenhändigem Schluss in Briefen und juristischen Dokumenten Bahr 1966; 1968; Doty 1973, 41; Schnider und Stenger 1987, 135–144 und 145–167 passim; Kremendahl 2000, 42–49. Dass die Eigenhändigkeit des Schlusses im Text Gal 6,11 erwähnt wird und daher für diejenigen gegenwärtig wird, die den Brief nicht sehen, sondern hören, dazu Kremendahl 2000, 118. 18 Auch Bünker 1983, 12 betont die soziokulturelle Bedingtheit des Briefes und versteht seine Arbeit als Beitrag zur Soziologie des Urchristentums. 19 Stowers 1986, 27–31 (Ehre-Kultur), 36–40 (philosophische Seelenführung). 20 Vgl. auch Fitzgerald 1990, der Anklänge an eine Reihe von antiken Brieftypen in 2 Kor 10–13 findet. Ähnlich geht auch Klauck 1998 vor. Aune 1987, 162 vermisst bei Stowers die Berücksichtigung der offiziellen Briefe. 21 Stowers 1986, 16.

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Brief gewissermaßen erst verwirklicht“, 22 bisher noch wenig bedacht hat. Meist werden die neutestamentlichen Briefe als Objekte betrachtet, deren Eigenschaften zu bestimmen sind und deren Behandlung zu untersuchen ist, weil so Erkenntnisse über die mit diesen Objekten vollzogene menschliche Kommunikation gewonnen werden können. Die Eigenschaften sind vor allem durch die Herstellung der Briefe bedingt. Daraus resultiert das vorrangige Forschungsinteresse an der Textentstehung, an der Arbeit des Verfassers, der – evtl. gemeinsam mit seinem Sekretär23 – den Text inhaltlich konzipiert, formal strukturiert, sprachliche Formen auswählt und dem Schreiben ein Gepräge gibt.24 Aufmerksamkeit findet auch die Absendung und die Übermittlung der Briefe bis zu den Empfängern. 25 Wie aber dann der Brief seinen Empfängern zur Kenntnis kommt, bleibt weithin unbeachtet.26 Diese Betonung der Textentstehung ist Ergebnis unserer Schriftkultur, die geprägt ist von der Vorstellung, dass Kommunikation durch schriftliche Texte geschieht, die hergestellt wurden, die man in die Hand nehmen und deren Sinn durch Deuten der optischen Zeichen erfasst werden kann. Eine solche Vorstellung ist aus zwei Gründen problematisch. Einmal, weil der Rezipient eines Textes nicht passiv ist, sondern aktiv dazu beiträgt, dem Geschriebenen einen Sinn zu geben. Darauf haben vor allem leserorientierte Auslegungsmethoden hingewiesen. 27 Zum andern ist sie problematisch, weil in der Kultur, in der die neutestamentlichen Briefe entstanden, Kommunikation nicht so stark auf geschriebene Texte fokussiert war, sondern viel mehr als ein zwischenmenschliches Ereignis verstanden wurde, bei dem das Geschriebene zwar eine bedeutsame, aber doch nur mittelbare Rolle spielte.28 Man kann die Briefe in die Hand nehmen, auch aufbewahren und vervielfältigen. Das eigentliche Kommunikationsereignis, dem sie dienen sollen, kann jedoch nicht bewahrt werden, denn das ist ein soziales Geschehen. Private Briefe sind Ersatz für das 22

Koskenniemi 1956, 46. Vgl. Richards 1991. 24 Dass auch die Entstehung der Paulusbriefe ein gemeinschaftliches Geschehen ist, wird durch Studien betont, die auf die Rolle der Mitverfasser und Schreiber des Paulus eingehen: Bahr 1966; Botha 1993b, 415–417; Murphy-O’Connor 1995, 16–34; Stirewalt 2003, 9–11; Richards 2004, 26–27, 34–35, 59–93. 25 Zum Beispiel Riepl 1913; Llewelyn 1995; 1998; Murphy-O’Connor 1995, 37–41; Stirewalt 2003, 11–12; Richards 2004, 171–209. 26 Zum Beispiel fehlt bei Murphy-O’Connor 1995 eine Erörterung des Briefempfangs. Richards 2004, der die Entstehung, Absendung und Übermittlung von Briefen in der Antike beschreibt, macht nur wenige Bemerkungen zum Empfang und Vortrag des Briefes (S. 185 und 202; er nennt sie „Performanz“). 27 Grundlegend Warning 1975; Iser 1976. 28 Hearon 2006, 4–6 spricht vom Geschriebenen als „written remains“ des Kommunikationsereignisses. 23

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persönliche Gespräch. 29 Ein Brief eines Apostels wird durch Boten überbracht und den Empfängern laut vorgelesen (1 Thess 5,27). 30 Der Brief dient einem mündlichen Ereignis. 31 Dies ist immer einmalig und unwiederholbar, auch dann, wenn der Brief später erneut gelesen wird. Es ist abhängig von der Situation, dem Umfeld, dem Raum und vor allem vom Vorlesenden und den Zuhörenden und ihren vielfältigen Reaktionen. Es ist ein schmaler Band von Martin Luther Stirewalt (2003), in dem ein entscheidender Schritt in diese Richtung unternommen wird. Das ganze Geschehen im Zusammenhang mit den Briefen des Paulus, dazu gehört die Abfassung eines Briefes wie auch die Situation des Briefempfangs, wird als soziales Ereignis thematisiert.32 Das ist erhellend für das Verständnis der Briefe, weil soziale Regeln festlegen, wie die Kommunikation zwischen Personen oder Gruppen von höherem, gleichem oder niedrigerem sozialen Rang zu geschehen hat. Der soziale Status der Briefpartner und das Verhältnis von Absender und Empfänger beeinflusst also, was gesagt wird und wie es gesagt wird.33 Auch Stirewalt vergleicht die Paulusbriefe mit antiken Briefen, kommt aber anders als Deissmann zu dem Ergebnis, dass sie nicht den Privatbriefen, sondern mehr offiziellen Briefen (epistula principum) entsprechen: “His [Paul’s] letters were communal letters addressed to ecclesiae or house churches to whom he ministered in an authoritative capacity.” 34 Er bestä29

Cicero, fam. 2.4.1; Att. 9.10.1 („quasi loquerer“). Vgl. Klauck 1998, 129–130, 155– 156; ausführlich bei Thraede 1970. 30 Cox 1998 nimmt an, dass Briefe die ersten christlichen Texte waren, die in den christlichen Versammlungen vorgelesen wurden – neben den Schriften, die aus der Synagoge übernommen wurden. Erst später kamen die Evangelien dazu. 31 Aune 1987, 158: “The Greek word epistole (‘epistle’) originally referred to an oral communication sent by messenger.” Funk 1966, 248: “The letter, consequently, is an appropriate substitute for oral word – it is as near oral speech as possible – yet it provides a certain distance on the proclamation as event.” Funk 1966, 264–269 deutet die Reisenotizen („travelogue“) des Paulus als Versprechen, dass dem schriftlichen Wort das – so Funk – höher geschätzte mündliche folgen wird; z. B. S. 269: “It has already been suggested that the travelogue is related to the body in the same way that the promise (or threat) of oral word is related to the written word in Paul’s disposition toward language.” Vgl. auch Funk 1967; Tsang 2009. 32 Stirewalt 1993, 2 nennt es „extended setting“, wo ein Brief, z. B. ein offizielles Schreiben, einen weiteren Kreis von Absendern und Hörern einschließt: “That is, a community exists at each end of the communication … The writer lives in a community the personnel of which he may include or exclude as he wills. The addressees represent the recipient community, the members of which the writer may also include or exclude as he wills.” Einen wichtigen Aspekt dieses sozialen Geschehens, nämlich die Rolle der Abgesandten, die einen Brief und mündliche Botschaften überbrachten, behandelt Mitchell 1992. 33 Aune 1987, 158. 34 Stirewalt 2003, 9. Ihm folgt Long 2008, 100–101.

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tigt damit eine Vermutung, die bereits früher geäußert wurde.35 Offizielle Briefe sind Schreiben, die dem administrativen und politischen Geschäft des Staates oder anderer leitender Persönlichkeiten dienen und amtliche Mitteilungen und Anweisungen transportieren oder diplomatische Anliegen verfolgen. 36 In ihnen drückt sich Autorität aus. Paulus hat diese Form für seine Zwecke adaptiert und nutzbar gemacht. Stirewalt untermauert seine These, indem er den Prozess der Abfassung, der Übermittlung und des Empfangs offizieller Schreiben untersucht (Kap. 5–8) und dann im Hauptteil des Buches die Spuren dieses Prozesses in den Paulusbriefen aufspürt (Kap. 9–18). Solche Spuren sind Zusätze zum Namen des Paulus, die Nennung von Mitverfassern, Adressierung an mehrere (Gemeinde, Hausgemeinde oder Gruppe von Gemeinden), zweigeteilter Hauptteil des Briefes (Hintergrund und Mitteilung bzw. Aufforderung), eigenhändige Nachschrift, die selbst noch einmal die brieflichen Formen wie Anfangsgruß, kurz zusammengefasster Inhalt, Grüße und Schlussgruß enthält. Stirewalt betont, dass das Verfassen des Briefes ein gemeinschaftliches Tun war. “Paul wrote from within a community. He surrounded himself with helpers: co-senders named in the salutation, scribes, greeters from the local congregation, commissioners and visitors from other churches. This group of people provided a kind of voluntary ad hoc secretariat.”37 Die Mitverfasser waren Mitverantwortliche und Zeugen für das gesamte Briefgeschehen. 38 Auch der Empfang eines offiziellen Briefes war ein soziales Geschehen, 39 das nach traditionellem Protokoll ablief, wie es von Thukydides (7.10) und Lukas (Apg 15,30–32) dargestellt und in anderen Quellen 35

Doty 1973, 26: “Paul, insofar as he was not writing as a private person but as an apostle, and not primarily to individual persons but to churches, did indeed write letters which had a public intent, bringing them closer to the official pronouncement than to the private letter.” Vgl. auch Doty 1969, 198. Aune 1987, 160: “Their [early Christian letters] very length suggests a comparison with the longer literary and official letters of antiquity …” Vgl. Aune 1987, 164–165, wo er offizielle Briefe behandelt. Ähnlich Schnider und Stenger 1987, 91–92, die die Paulusbriefe mit hellenistischen Königsbriefen an Städte vergleichen. Vgl. Güttgemanns 1971, 111–115; Andresen 1965, der das offizielle jüd. Diasporaschreiben als Formgrundlage für Apg 15,23–29 und andere frühchristliche Schreiben annimmt. Dagegen Dormeyer 1993, 193, der im neutestamentlichen Briefkorpus keine offiziellen Schreiben sieht, da sich die Schreiber „nicht als hierarchisch übergeordnete Administratoren verstehen.“ 36 Zu offiziellen Briefen vgl. Stirewalt 1993, 6–10; Stirewalt geht davon aus, dass offizielle Briefe der Ursprung des Briefschreibens sind (S. 6). Vgl. White 1986, 192; 1988, 85. 37 Stirewalt 2003, 10. 38 Stirewalt 2003, 54. 39 Zu den Konventionen beim Empfang eines offiziellen Abgesandten vgl. Mitchell 1992.

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berichtet wird. Dazu gehörten der mündliche Bericht der Briefboten, die offizielle Präsentation des Schreibens, die öffentliche Verlesung – meist durch eine wichtige Persönlichkeit der Adressatengruppe – und die weitere Befragung der Boten.40 Durch den mündlichen Bericht, das laute Vorlesen vor der Versammlung der Adressaten und durch die mündliche Befragung und Kommentierung durch die Boten ist der Brief in die Kultur mündlicher Kommunikation eingebettet. Besonders der Vorlesende machte das geschriebene Wort lebendig und ließ die Hörer die Gegenwart des Absenders spüren. 41 Stirewalt fasst das Geschehen so zusammen: Through the centuries, then, in different communities and settings, the official, administrative letter was treated consistently. It was prepared by competent, authorized persons and was carried by envoys who delivered it with ceremony appropriate to the particular assignment. It was addressed and delivered to a constituted body and read before that assembly or its representatives. Carriers also delivered oral messages and answered inquiries related to the letter’s content.42

Zum Verständnis der neutestamentlichen Briefe als einem Ereignis hat Stirewalt einen wichtigen Beitrag geleistet. Er hat gezeigt, wie die gemeinschaftliche Vorbereitung und sorgfältige Abfassung des Schreibens mit Blick auf die Empfängersituation, wie die Rolle der Briefboten und wie die Aufgabe dessen, der den Brief vorzutragen hat, zu einem Briefereignis zusammenwirken, das in soziale Konventionen eingebettet ist. Dabei ist vor allem der Vorgang des Briefempfangs als eine Performanz zu verstehen, wo Akteure und Publikum gemeinsam ein Geschehen vollziehen, das in einer von Mündlichkeit geprägten Kultur bestimmten Konventionen folgt und doch jeweils einmalig ist. 40

Stirewalt 2003, 7; ähnlich Tsang 2009, 216, allerdings fehlt die Befragung der Boten. Vgl. das Protokoll der Übermittlung von Botschaften und die Verknüpfung von schriftlicher und mündlicher Botschaft im alten Orient bei Meier 1989, bes. S. 137–226. 41 Stirewalt 2003, 16; vgl. Stirewalt 1993, 5. Vgl. dazu die briefliche Anwesenheit bei Koskenniemi 1956, 38–47, 172–180; Thraede 1970, 39–47, 55–61, 146–157 . Zur Rolle des Vorlesenden vgl. Botha 1992b, 25–27. 42 Stirewalt 2003, 8. Zur mündlichen Ergänzung des Briefinhalts durch den Überbringer vgl. White 1986, 216 mit Hinweis auf P. Col. III.6: “The rest please learn from the man who brings you the letter. For he is no stranger to us.” Vgl. auch Mitchell 1992, 650; Richards 2004, 183–184, 201–202; vor allem Head 2009, 288–289, der zu folgendem Ergebnis kommt: “… that the trusted letter-carrier often has an important role in extending the communication initiated by the letter. The letter-carrier thus brings fuller personal knowledge into the communication process, which is only partly embodied in the letter” (S. 296). Die Bedeutung der mündlichen Botschaft als Ergänzung zur schriftlichen zeigt auch die Veränderung des offiziellen Postdienstes durch Augustus, die Sueton Augustus 49.3 berichtet: Zunächst stationierte Augustus junge Männer in kurzen Abständen entlang der Militärstraßen, die Briefe weitertrugen, später stationierte er Wagen, damit auch der Mann, dem der Brief übergeben worden war, den Empfänger erreichte und befragt werden konnte; vgl. Llewelyn 1995, 341.

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1.1.2 Rhetorik Wenn in der Antike der Empfang eines Briefes Teil eines mündlichen Sprachereignisses ist, wenn also die Paulusbriefe ihre Wirksamkeit dadurch erreichten, dass sie vor einem Gemeindepublikum vorgetragen wurden, dann müssen sie im Zusammenhang mit der antiken Rhetorik gesehen werden. Rhetorische Aspekte gehörten seit dem Altertum ganz selbstverständlich zur Interpretation des Neuen Testaments. 43 Dabei galt die besondere Aufmerksamkeit den sprachlichen Formen und Stilmitteln, die der Rede Überzeugungskraft verleihen. 44 Ende des 19. Jahrhunderts fiel die Rhetorik unter das Urteil, bloße Ausschmückung der Sprache zu sein, und geriet in den Hintergrund. Es war vor allem der Galaterbriefkommentar von Hans Dieter Betz (1979), der an die lange Tradition rhetorischer Auslegung anknüpfte und die Bedeutung der Rhetorik wieder ins Bewusstsein der neutestamentlichen Forschung brachte. 45 In der Folge erschienen eine Fülle von Studien zur rhetorischen Auslegung der neutestamentlichen Briefe. 46 Betz orientierte seine Auslegung des Galaterbriefs an der antiken Rhetorik, wie sie in den antiken Handbüchern zur Rhetorik dargelegt ist. 47 Er ging davon aus, dass die Paulusbriefe Argumentation enthalten, und untersuchte vor allem, welcher rhetorischen Gattung48 sich der Brief zuordnen lässt, welche Argumente gebracht werden (inventio) und wie die Argumente organisiert sind (dispositio). Die stilistischen Ausformungen der Rede (elocutio), die in früheren rhetorischen Auslegungen im Mittelpunkt standen, traten in den Hintergrund. Betz und die, die ihm gefolgt sind, haben ein historisches Interesse und versuchen, die Rhetorik zu rekonstruieren, wie sie der Autor im damaligen sozialen Kontext mit dem Ziel nutzte, seine Hörerschaft zu überzeugen.49 Die Methode der rhetorischen Analyse wurde dann von George A. Kennedy (1984) systematisiert und weiterentwickelt.50 Die Arbeitsschritte Kennedys umfassen die Abgrenzung des als rhetorische Einheit verstan43

Vgl. Kennedy 1999; Classen 1991; 1993. Zur Geschichte der Rhetorik in der Auslegung des Neuen Testaments vgl. Mack 1990, 9–24; Stamps 1995, 130–141; Kern 1998, 39–89. Eine Übersicht über die rhetorische Exegese des Neuen Testaments bietet auch Lampe 2010. 44 Beispiele im 19. Jhdt.: Wilke 1843; Heinrici 1887; Weiss 1897. 45 Betz 1975 und 1979 (deutsch 1988); danach Betz 1985 zu 2 Kor 8 und 9. Vor Betz bereits Wilder 1964. 46 Vgl. die Bibliographie in Watson und Hauser 1994. 47 Dagegen fordert Mitchell 1991, 6, dass neben den Handbüchern auch echte Reden beachtet werden müssen; ebenso Watson und Hauser 1994, 112. 48 Juristisch, deliberativ oder epideiktisch, vgl. Aristoteles, rhet. 1.3.3. 49 Watson und Hauser 1994, 110. 50 Kennedy 1984. Vgl. auch die methodischen Überlegungen bei Mitchell 1991, 6–7.

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denen Textabschnitts, die Erfassung der rhetorischen Situation und des behandelten Problems, die Bestimmung der verwendeten rhetorischen Gattung, die Analyse von Inhalt (inventio), Gliederung (dispositio) und Stil (elocutio) der Rede und schließlich eine Bewertung des Erfolgs der Rede in der rhetorischen Situation. 51 In der Folge erschienen viele Studien, die die Methodik von Kennedy anwandten. 52 Kennedy geht davon aus, dass die Regeln der Rhetorik, die sich ja ursprünglich auf ein mündliches Geschehen beziehen, auch auf die Auslegung der Schriften des Neuen Testaments angewandt werden können, weil in der griechisch-römischen Kultur sowohl mündliche als auch schriftliche Kommunikation weithin nach diesen Regeln gestaltet war. 53 Für ihn ist Rhetorik eine universale Bedingung menschlicher Kommunikation. 54 Er sucht die rhetorische Kraft der Texte in ihrer damaligen Welt zu rekonstruieren. 55 Als Konsequenz solcher Überlegungen wurden die Ergebnisse der modernen Rhetorikforschung in die Auslegung biblischer Texte einbezogen. 56 Besonders einflussreich in dieser Hinsicht war das Werk von Chaim Perelman und Lucie Olbrechts-Tyteca (1958). Sie verstehen Rhetorik als Grundlage jeder Kommunikation, mündlich oder schriftlich, und wenden sich vor allem dem sozialen Diskurs zu, also der Frage, wie sprachliche Kommunikation in ihrer sozialen Einbettung ihre Wirkung erzielt.57 Davon 51

Kennedy 1984, 33–38; vgl. Wuellner 1987, 455–458; Watson 1988, 1–28; vgl. die Kritik von Black 1989, 256–257. 52 Zum Beispiel Watson 1988; Mitchell 1991; Smit 1993; Bakke 2001; Long 2008. 53 Kennedy 1984, 10: “He [Paul] and the evangelists as well would, indeed, have been hard put to escape an awareness of rhetoric as practiced in the culture around them, for the rhetorical theory of the schools found its immediate application in almost every form of oral and written communication: in official documents and public letters, in private correspondence, in the lawcourts and assemblies, in speeches at festivals and commemorations, and in literary composition in both prose and verse.” Vgl. Longenecker 1990, cxiii, cxix; Mack 1990, 28–31; Porter 1993, 104–110. 54 Kennedy 1984, 10. 55 Kennedy 1984, 158–159. 56 Classen 1993, 268: “When one turns to the categories of rhetoric as tools for a more adequate and thorough appreciation of texts, their general structure and their details, one should not hesitate to use the most developed and sophisticated form, as it will offer more help than any other. For there is no good reason to maintain that a text could and should be examined only according to categories known (or possibly known) to the author concerned. For rhetoric provides a system for the interpretation of all texts (as well as of oral utterances and even of other forms of communication), irrespectively of time and circumstances …” Ebenso z. B. Wuellner 1976; 1979; 1987; 1990; Anderson 1998, 30–33. Gegen eine solche Ausweitung: Mitchell 1991, 6–7. 57 Vgl. Wuellner 1989, 33–34, 38: Es geht nicht nur darum, was die Texte inhaltlich sagen (Hermeneutics), sondern vor allem darum, wie sie wirken, wie sie eine Reaktion herausfordern (Rhetorics). Vgl. auch Wuellner 1976, 330. Vgl. Stamps 1995, 167: “Rhet-

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angestoßen erschien eine Fülle von wertvollen Untersuchungen. 58 In der Untersuchung des Galaterbriefs kamen sie auch zu anderen Ergebnissen als Betz.59 Die rhetorische Analyse wurde von Vernon K. Robbins (1993; 1996) und anderen erweitert zu einer sozial-rhetorischen Interpretation. Rhetorische und soziologische Methoden sollen zusammen mit literarischen, kommunikationstheoretischen und ideologiekritischen Methoden eine umfassende Interpretation ermöglichen. Robbins geht es darum, nicht nur die Texte, sondern auch die gesellschaftliche und kulturelle Situation, in die sie eingebettet sind, zu berücksichtigen. Es ergeben sich verschiedene Ebenen des Zusammenspiels. Robbins verwendet dafür das Bild vom Gewebe und untersucht die Verknüpfung der einzelnen Textbausteine untereinander und die Verknüpfung des Gesamttextes mit anderen Texten, mit den herrschenden gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen und ihren Ideologien und mit dem religiösen Umfeld. Mit Blick auf die vorliegende Studie sind es vor allem zwei Probleme, mit denen die rhetorische Auslegung der neutestamentlichen Briefe zu ringen hat. Als erstes ist sie konfrontiert mit der Frage, mit welchem Recht schriftliche Texte mit Hilfe von Regeln und Konventionen interpretiert werden, die eine vor einem Publikum mündlich vorgetragene Rede im Blick haben. Das zweite Problem ist die Inkonsequenz der rhetorischen Auslegung, die darin besteht, dass von den fünf Aufgaben des Redners nur die ersten drei bedacht werden (inventio, dispositio, elocutio), das Einorical criticism would thus generally be defined by its attempt to identify the textuallyembedded strategies that seek to persuade the reader, to assess the effectiveness of these strategies, and then to evaluate the ideological positions to which the reader(s) is being moved.” Für eine evtl. begrenzte rhetorische Analyse, die nicht durch die antike Schulrhetorik bestimmt ist, sprechen sich auch aus: Porter 1993, 107–108; Stamps 1995, 151– 154; Kern 1998, 165–166, 256–259. Anderson 1998, 280–291: Auch wenn Paulus wohl kaum Kontakt zu rhetorischer Schulung hatte, war Rhetorik doch einflussreich und kann die Texte zu verstehen helfen. 58 Beispiele: Wuellner 1976; 1979; 1986; 1991; Siegert 1985; Jewett 1986; Vouga 1988; Watson 1989; Hughes 1989; Thurén 1990; 2000; Wanamaker 1990; Olbricht 1990; Wire 1990; Elliott 1990; Crafton 1991; Pogoloff 1992; Litfin 1994; Hester 1998; in Kombination mit linguistischen Methoden: Johanson 1987; auch Stamps 1999. Vgl. Literatur, die von Mack 1990, 19–24 kommentiert wird, die Liste der rhetorischen Studien zu Briefen bei Porter 1993, 102–103, Anm. 7, die Bibliografie in Watson und Hauser 1994, Watson 1995 und die Übersicht in Robbins 2002. 59 Der Galaterbrief ist nicht eine juristische Rede, sondern eine deliberative, so Kennedy 1984, 145–146; Hall 1987; Smit 1989, 1–26. Longenecker 1990, cix–cxiii findet eine Mischung verschiedener Genera; Hansen 1989 bestimmt den Galaterbrief als „rebuke letter“; Classen 1991, 8–15, 29–33 hält eine Zuordnung zu einem rhetorischen Genus für nicht sinnvoll. Anderson 1998, 189 versteht den Galaterbrief mehr als Lehre eines Philosophen als eine Rede im Sinne der Rhetorik. Überblick bei Anderson 1998, 129–142; Surburg 2004; Tolmie 2005, 1–19.

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prägen (memoria) und Vortragen der Rede (pronuntiatio oder actio) dagegen ausgeklammert werden. Mit welchem Recht finden die Regeln der antiken Rhetorik bei der Auslegung der neutestamentlichen Briefe Verwendung? 60 Schließlich zielte die antike Rhetorik auf die öffentliche Rede, also auf ein mündliches Geschehen. 61 Das Schreiben von Briefen dagegen folgt eigenen Regeln und produziert zunächst einmal einen schriftlichen Text, der dem Ausleger heute vorliegt. Diese Frage ist ein weithin diskutiertes Thema. Lauri Thurén fasst die Positionen folgendermaßen zusammen: 62 Auf der einen Seite steht die Auffassung, dass Epistolographie und Rhetorik voneinander zu trennen sind. 63 Dem stehen Ausleger gegenüber, die Briefe als Reden verstehen, die nur wegen der räumlichen Trennung des Autors von den Adressaten in Schriftform gefasst sind. 64 Briefe sind dann gleichsam Reden mit brieflichem Anfang und Ende.65 Eine dritte Position will sowohl die Brieftheorie als auch die Rhetorik auf die neutestamentlichen Briefe anwenden. Beide Disziplinen dienen ihrem Verständnis, weil sie unterschiedliche Aspekte der Briefe beleuchten.66 60 Schon Hübner 1984, 242, 245, 249 stellt diese Frage in seiner Rezension des Galaterkommentars von Betz. Vgl. auch Stamps 1995, 141; Anderson 1998, 120. 61 Selbst dass der Rhetor bei der Vorbereitung seiner Rede auch schriftlich arbeitete, diente dem mündlichen Vortrag, denn der Vortrag ist die wichtigste Aufgabe des Redners: Quintilian, inst. 10.3; 11.3.06 ; Cicero, de orat. 1.33.150; 3.56.213. Zur schriftlichen Vorbereitung von Reden vgl. Winter 1997, 205–206; Long 2008, 31–32; Habinek 2009, 123. 62 Thurén 1990, 57–64. Ähnlich gruppieren auch Watson und Hauser 1994, 120–121; Klauck 1998, 165–169; Kremendahl 2000, 15–20. 63 Zum Beispiel Anderson 1998, 117–121; Classen 1991, besonders 1–7; Classen 1993, 265–291, er wendet sich vor allem gegen eine zu mechanische Anwendung der Regeln der Rhetorik auf die neutestamentlichen Briefe, ohne zu bestreiten, dass die Berücksichtigung der Rhetorik in der Exegese fruchtbar ist; Reed 1993; Porter 1993; 1999, 226– 234; Byrskog 1997; Kern 1998, 14–34; Becker 2002, 22–24. Pointiert Porter 1999, 248: “To be a letterwriter was to be doing something different than being a speechmaker in the Greco-Roman world.” 64 Aune 1987, 158, 197–199. Schnider und Stenger 1987, 51–52; Dabourne 1999, 78, 107. 65 Kennedy 1984, 86–87. Allgemein zum Verhältnis von Rede und Geschriebenem Kennedy 1999, 127–136; Berger 1974; Wuellner 1979; Hübner 1984; 1992; Hughes 1989, 26–30; Aune 1991, 278–281. Berger 1984, 1334 nennt die Paulusbriefe „apostolische Rede“ in schriftlicher Form. 66 Zum Beispiel Bünker 1983; Johanson 1987; Thurén 1990; Schoon-Janßen 1991; Kremendahl 2000, explizit S. 4, 14; vgl. Stowers 1986, 27–28, 51–57. Lampe 2010, 10– 17 beklagt, dass epistolographische (also schriftlich orientierte) und rhetorische (also mündlich orientierte) Analyse der Paulusbriefe oft unverbunden nebeneinander stehen oder sogar als Gegensatz verstanden werden. Er verweist auf vielfältige Verknüpfungen

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Vertreter der ersten Richtung verweisen darauf, dass Briefeinleitung und -schluss nicht mit Redeeinleitung und Redeschluss gleichgesetzt werden können, weil der Brief als schriftliche Gattung seinen eigenen Gesetzen folgt.67 Es ist sicherlich richtig, dass die Briefform in ihrer Eigenart gewürdigt werden muss. Wenn man jedoch beachtet, dass sich das Briefformular und da besonders der Briefanfang aus der traditionellen Botenformel ableitet, zeigt sich auch der Brief als Teil eines ursprünglich mündlichen Geschehens. Der Anfang des Schreibens, das ein Bote überbringt und in dem Absender und Empfänger genannt werden, entspricht der Einführung des Boten, der im Namen des Auftraggebers sprechen wird: So spricht X zu Y. Diese mündliche Seite des Briefgeschehens gilt besonders für offizielle Briefe an Gruppen oder Gemeinschaften, deren mündlicher Vortrag übliche Praxis war.68 Gegen die rhetorische Auslegung der neutestamentlichen Briefe wird vor allem eingewandt, dass das Briefschreiben nicht Teil der antiken Handbücher der Rhetorik ist und es deshalb nicht angebracht ist, die Briefe nach den Regeln der antiken Rhetorik zu analysieren. 69 Tatsächlich wird das Briefschreiben in der Rhetorik des Aristoteles nicht behandelt und in dem Werk des Quintilian nur am Rande erwähnt (inst. 9.4.19–20). Allerdings ist zu beachten, dass Aristoteles sehr wohl darüber referiert, wie Texte zu verfassen sind, die zum Vorlesen bestimmt sind. Er fordert da einen sorgfältig ausgearbeiteten Stil und grenzt ihn von dem Stil einer Gerichtsrede oder einer Rede in einem Wettbewerb ab, wo der Redner mehr ähnlich einem Schauspieler agiert.70 Aristoteles kann also einen geschriebenen Text, der vor einem Publikum vorgetragen werden soll, prinzipiell mit einer mündlichen Rede vergleichen, betont aber deutlich die Unterschiede im Stil. Einen solchen Vergleich des Briefes mit mündlich vorgetragenen Reden und auch eine ähnliche Abgrenzung fanden wir auch oben im Exkurs des Demetrius über den Brief (de elocutione, 224), wo er darlegt, in welchem Stil ein Brief zu verfassen sei. Überhaupt sind es immer wieder Stilfragen, erörtert im Sinne der rhetorischen Aufgabe der elocutio, die in den Abhandlungen über Briefe verhandelt werden. Auch in den beiden bekannten antiken brieftheoretischen Schriften mit Sammlungen von Musterbriefen wird die Frage nach dem für Briefe angemessenen Stil immer wieder ganz im Sinne der rhetorischen Aufgabe der von Epistolographie und Rhetorik und setzt damit den integrativen Weg von Kremendahl fort. 67 Stamps 1995, 147. 68 Vgl. Stirewalt 1993, 4–5; 2003, 7; Sykutris 1931, 191 und das oben auf S. 13–14 zum Protokoll der Überbringung eines offiziellen Schreibens Gesagte. 69 So z. B. Porter 1993, 110–116; Stamps 1995, 145; Klauck 1998, 166–168; 1999, 232. Vorsichtiger White 1983, 435–436; Reed 1993, 311–314. 70 Aristoteles, rhet. 3.12; vgl. Sonkowsky 1959, 260–261; Gagarin 1998, 165–166.

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elocutio erörtert: Ps.-Demetrius, formae epistolicae spricht sich zunächst für einen dem Anlass entsprechenden Stil aus, bevor er eine Reihe von Musterbriefen bietet.71 Ps.-Libanius, characteres epistolici 46–50 plädiert für einen gemäßigten attischen Stil. 72 Ganz ähnliche Gedanken finden sich bei Cicero in einem Brief an seinen Freund Paetus (fam. 9.21.1): „Quid enim simile habet epistula aut iudicio aut contioni?“73 Dieser Satz wird oft zitiert und als Hinweis darauf verstanden, dass für Griechen und Römer Brief und Rede verschiedene Dinge waren. 74 Aber worum geht es Cicero bei seiner Frage?75 Es geht in diesem Brief um den Stil der öffentlichen Rede. Cicero, vom Freund wegen seiner Redekunst geschmeichelt, verweist in gespielter Bescheidenheit darauf, dass er nicht immer eine so ausgearbeitete Sprache verwendet und führt dazu seine Briefe an den Freund an, die eine einfache Sprache zeigen. Ja sogar in den öffentlichen Reden vor Gericht passt er seinen Stil der jeweils behandelten Sache an und verwendet für weniger bedeutsame Prozesse einen einfachen Stil. Nur für Prozesse um Leben und Tod oder um die gesellschaftliche Ehre eines Bürgers gebraucht er eine schmuckreiche Sprache. Am Ende des Abschnitts fasst Cicero zusammen: „epistulas vero cottidianis verbis texere solemus.“ 76 Das heißt: Zwar sind Freundesbrief und öffentliche Rede – jedenfalls bei schwerwiegenden Rechtsfällen – im Sprachstil verschieden, aber es gibt für Cicero eine prinzipielle Vergleichbarkeit zwischen Rede und Brief. Daher ist es ihm möglich, auf das Lob des Briefpartners für seine Sprachkunst in der Gerichtsrede77 mit dem Hinweis auf die Einfachheit der Sprache seiner Briefe zu reagieren. Die Grenze zwischen mündlicher Rede und Brief ist also nicht scharf gezogen. 78 So erscheint es nur natürlich, dass in der Rhetorik des Julius Victor (4. Jhdt.) ein Exkurs zum Brief erscheint (27). Der erste Satz lautet: „Epistolis conveniunt multa eorum, quae de sermone praecepta sunt.“79 Dann heißt es 71

2. Jhdt. v. Chr. bis 3. Jhdt. n. Chr. 4.–6. Jhdt. n. Chr. In beiden antiken Schriften über den Brief finden sich Musterbriefe, die sich in die drei Genera der Rhetorik einordnen lassen, z. B. der lobende, der gratulierende Brief (epideiktisch), der anklagende oder verteidigende Brief (juristisch), der ratende oder warnende Brief (deliberativ). 73 „Was hat ein Brief gemeinsam mit einer Rede im Gericht oder in der Bürgerversammlung?“ 74 Anderson 1998, 118–119; Klauck 1998, 130, 166; Kremendahl 2000, 15, Anm. 5. 75 Vgl. dazu Müller 2001, 85–86. 76 „Briefe allerdings pflegen wir in alltäglichen Worten zu verfassen.“ 77 Wahrscheinlich der Philippica, die Cicero 44 v. Chr. schriftlich herausgegeben hat, so Müller 2001, 86. 78 Probst 1991, 99 mit Hinweis auf Philostrat (3. Jhdt. n. Chr.). Vgl. Vegge 2006, 345: Rhetorische Sprache ist Bildungssprache, der Unterschied zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache hat dabei untergeordnete Bedeutung. 79 „Für Briefe treffen viele Regeln zu, die für die Rede gelten.“ 72

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weiter über den offiziellen Brief, dass alle Regeln der Rhetorik gelten mit der Ausnahme, dass kein zu elaborierter Stil anzuwenden ist und die mehr normale Redeweise den Brief beherrscht. Zum Privatbrief wird gesagt, dass er vor allem kurz und klar und im Stil dem Empfänger angemessen sein soll. Wie selbstverständlich wird bei Julius Victor ein Zusammenhang zwischen mündlichem Redeauftritt und Briefschreiben vorausgesetzt. 80 Befürworter der rhetorischen Auslegung können darauf hinweisen, dass der Brief dazu dient, trotz räumlicher Trennung eine Kommunikation zu ermöglichen. Hans Hübner urteilt deshalb in seiner Rezension zum Galaterkommentar von Betz, dass im Gegensatz zur rhetorischen und epistologischen Theorie eine scharfe Trennung zwischen Brief und Rede in der Praxis relativiert ist. „Gehört aber die Parusie des Briefschreibers zur Hauptfunktion des Briefes, so ist dadurch die Diastase von Brief und Rede im Grundsatz durchbrochen.“ 81 Dazu muss noch bedacht werden, dass die neutestamentlichen Briefe apostolische Schreiben sind: Kommt nun noch im Fall des Gal konkret hinzu, dass es sich um den Brief eines Apostels handelt, also um den Brief eines solchen, der als Apostel der mit dem mündlichen Wort Betraute ist, m. a. W., ist der apostolische Brief Ersatz für die Verkündigung …, so ist für einen solchen Brief erst recht die Diastase problematisch … Die Kombination von (literarischer) Rede und Brief im Gal wird von daher verständlich, dass Paulus Apostel war und als solcher, sofern er schreibt, ‚redend schreibt‘. 82

80 Vgl. Poster 2007, 35–37. Anderson 1998, 118–119 nimmt mit R. Giomini und M. S. Celentano („Praefatio“, in G. Iulii Victoris: Ars Rhetorica, 1980, xxii–xxiii) an, dass dieser Exkurs über den Brief übernommen ist von Julius Titianus, der im späten 2. Jhdt. lebte. Das würde darauf hindeuten, dass die Verknüpfung von Brief und Rhetorik älter ist (vgl. auch Koskenniemi 1956, 31) und der Exkurs über den Brief in Demetrius, de eloc. 223–235, zeitlich nicht völlig isoliert steht. Weitere antike Bemerkungen über den Stil von Briefen im Vergleich zur mündlichen Rede: Isokrates (436–338 v. Chr.), ep. 2,13: „… dass die maßvolle Länge nicht unversehens zum Wortschwall einer Rede [lo,gou mh/koj] umschlage“ (Übersetzung: Klauck 1998, 166); Philostratus von Lemnos, de epistulis (3. Jhdt.), II.257.29–258.28 spricht sich für einen attischen Stil der Briefe aus (Malherbe 1988, 42–43); Libanius (4. Jhdt.), Ep. 528.4, bemerkt: avllV( w= daimo, nie( dei/xon h`mi/n pro. tou/ sw, matoj to.n r`h,tora\ dhlou/tai me.n ga.r h` te,cnh kai. dia. tw/ n gramma,twn) „Vor Deiner Person, mein Lieber, zeige uns aber den Rhetor, denn die rhetorische Kunst wird auch in den Briefen offenbar“ (Übersetzung: Klauck 1998, 167). 81 Stirewalt 1993, 9, Anm. 27, verweist darauf, dass Briefe ursprünglich Ergänzungen zur mündlichen Botschaft des Abgesandten sind, weshalb “… the written message accompanying the oral speech and secondary to it was naturally written in the rhetorical style.” Vgl. auch Dormeyer 1993, 62, 190–193. Vgl. Sampley 2010, ix: “Because Paul (and his scribe[s]) knew that at their destination, the letters were to be read aloud, that is, performed, it is a necessity for us to treat them as letters and as speeches, because they were both from their beginnings, and intentionally so” (Hervorhebung im Original). 82 Hübner 1984, 245; vgl. White 1983, 439. Hübner 1992, 169 nennt den Römerbrief des Paulus „ein rhetorisches Meisterstück theologischer Argumentation.“

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Für Klaus Berger ist „der Apostelbrief eine verbindliche, auf Gott zurückgeführte schriftliche Apostelrede.“83 Beispiele solcher schriftlich übermittelten, aber als mündliche Rede gedachten Briefe finden sich bei dem berühmten Redner Demosthenes. 84 Er wandte sich 323 v. Chr. aus seiner Verbannung in Briefform an die Bürgerversammlung von Athen und schreibt im dritten Brief (ep. 3.35): tau/tV eiv me.n parh/n( le,gwn a'n u`ma/j evdi,daskon\ evpeidh. dV evn toiou,toij eivmi, evn oi-j( ei; tij evmou/ kate,yeustai evfV oi-j avpo,lwla( ge,noito( gra,yaj evpe,stalka.85 Auch Isokrates hielt seine Reden nicht öffentlich, sondern verbreitete sie schriftlich und erwartete, dass sie von anderen laut vorgetragen wurden.86 Es erhebt sich die Frage, ob nicht Paulus bewusst die briefliche Kommunikation in einen Gegensatz zur mündlichen gesetzt hat, indem er zum Beispiel entschied, die anstehenden Probleme in Korinth nicht durch eine selbst vorgetragene Rede vor der Gemeindeversammlung zu lösen, sondern ihnen einen Brief zu schreiben (2 Kor 1,12–2,11)? 87 Wie ambivalent dieses 83 Berger 1974, 219, ebenso 231; vgl. 214: „Botenstil und Briefstil können eben deshalb bisweilen zur Deckung kommen, weil beide als Übermittler Worte ausrichten.“ 84 Klauck 1998, 166: „Die Briefe des großen Redners (!) Demosthenes … sind als eine Form der deliberativen Selbstverteidigung zu beurteilen und ersetzen Reden, die wegen der Zeitumstände nicht gehalten werden konnten.“ Zur Echtheit vgl. Klauck 1998, 100. Zur rhetorischen Analyse der Briefe des Demosthenes – im Anschluss an Goldstein 1968 – vgl. Probst 1991, 77–83. Für eine Liste von Reden in Briefform siehe Long 2008, 21–22, außerdem die Beispiele dort S. 27–28. 85 „Wenn ich [selbst] anwesend wäre, würde ich diese [Angelegenheiten] sprechend [= mündlich] erklären, nachdem ich aber in solchen [Umständen] bin, in die geraten soll, wenn jemand mich verleumdet hat, wodurch ich verloren bin, habe ich euch [meine Botschaft] geschickt, nachdem ich [sie] aufgeschrieben habe.“ Antike Reden in schriftlicher Form von Isokrates und Demosthenes im Vergleich mit Paulusbriefen analysiert Hughes 1989, 19, 45–50. Kremendahl 2000, 133–140 vergleicht den Galaterbrief mit dem zweiten Brief des Demosthenes aus dem Exil, den er als einen Verteidigungsbrief bestimmt. Long 2008, 102–112 analysiert Briefe des Demosthenes, Isokrates und Platon als rhetorische Verteidigungen. Vgl. auch Anderson 1998, 121–123. 86 Kennedy 1999, 86, 129; vgl. Winter 2004, 326–327. Weitere Beispiele für schriftlich übersandte Reden bei Anderson 1998, 122. Zu Reden in Briefform vgl. Long 2008, 26–28. Fuhrmann 1990, 56 betont, dass schriftlich herausgegebene Reden mit Notwendigkeit die Spuren ihres mündlichen Hintergrundes tragen mussten, um die Autorität des Autors zu verdeutlichen. „Die Gattung Rede unterlag also, als sie literarisch fixiert wurde, einer gewissen Perfektionierung ihrer Form, aber keinen grundsätzlichen Veränderungen – offensichtlich, weil ihr nur dann Authentizität zukam, wenn sie die Bedingungen ihres Entstehens offen zur Schau trug. Wer eine Rede gehalten hatte, vor dem Volke oder vor Gericht, gehörte zu denen, die für die damalige Entscheidung maßgeblich gewesen waren; der Redner hätte sich selbst seiner Autorität beraubt, wenn er es sich hätte einfallen lassen, aus seiner Rede ein zeit- und raumenthobenes Gedankending zu machen.“ 87 Vgl. Bosenius 1994. Die Reflexionen des Paulus als briefliche Meta-Kommunikation untersucht Becker 2002, 141–205. Auch Stirewalt 2003, 117 reflektiert darüber,

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Argument ist, ist daran zu erkennen, dass Frank W. Hughes gerade den zweiten Korintherbrief als Argument dafür anführt, dass die Paulusbriefe einer mündlichen Rede nahe stehen. 88 Dass die Gegner des Paulus nach 2 Kor 10,10 seine Briefe und da vor allem den in 2 Kor 2,4 erwähnten Brief stärker empfanden als seinen Auftritt als Redner – eine Einschätzung, die dem entgegensteht, dass in der Antike normalerweise die mündliche Kommunikation höher geschätzt wurde als die schriftliche –, nimmt er als Zeichen dafür, dass die Briefe des Paulus Dokumente kraftvoller Rhetorik waren. In der Regel wurde der vorbereitete Text nicht abgelesen, sondern ins Gedächtnis eingeprägt und in einer Form vorgetragen, die einer spontanen Rede entsprach. 89 Allerdings gab es auch Redner, die eine schriftlich vorbereitete Rede vorlasen. 90 Beide Möglichkeiten sind in den erhaltenen römischen Standbildern, Reliefs und Münzen dokumentiert. Ein Relief zeigt den Kaiser Hadrian, der mit der linken Hand eine entrollte Schriftrolle vor sich hält, mit der rechten gestikulierend. 91 Offenbar trägt der Kaiser den Inhalt des Schriftstücks den Zuhörern vor. Häufiger sind Darstellungen, die eine zusammengerollte Schriftrolle in der linken Hand des Redners zeigen. 92 Zur Klärung des Verhältnisses von Rhetorik und Epistolographie ist bisher zu wenig berücksichtigt worden, welche Rolle Schriftstücke in der rhetorischen Praxis spielen, also in der Vorbereitung der Rede und dann im Vortrag vor dem Publikum. 93 Denn in dieser Praxis geschieht es, dass Geschriebenes und mündlicher Vortrag, das eigentliche Ziel aller rhetorischen Bemühung, miteinander verknüpft werden. Für die Untersuchung von Briefen bedeutet das, dass der Brief als schriftliches Dokument im Zusammenhang mit dem Geschehen gesehen werden muss, das Koskenniemi „den Augenblick des Briefempfangs“ nennt, „wo sich der Brief gewisser-

warum Paulus die Briefform wählte, allerdings auf dem Hintergrund, dass die Wirkung des offiziellen Briefes, der von autorisierten Boten überbracht und von geeigneten Personen vorgetragen wird, nicht allein von dem Schriftstück, sondern ganz wesentlich von dieser Performanzsituation abhängt. Vgl. auch Sampley 2010, xvi, der die Vorteile des Briefes gegenüber der persönlichen Gegenwart und Rede in einer Konfliktsituation mit einer Gemeinde erwägt. 88 Hughes 1989, 19. 89 Fuhrmann 1990, 55. 90 Aldrete 1999, 46 mit Hinweis auf Sueton, Aug. 48. 91 Aldrete 1999, 48. 92 Aldrete 1999, 46–48, 93, 95–96. 93 Dazu Sonkowsky 1959. Zum Vortrag literarischer Texte vgl. Sonkowsky 1983a; 1983b. Oft wurden Reden nachträglich in Schriftform herausgegeben; Long 2008, 23–24 bietet eine Liste. Zur Rolle von geschriebenen Problemstellungen (controversiae) zur Vorbereitung von rhetorischen Übungen vgl. Imber 2001.

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maßen erst verwirklicht.“94 Das gilt besonders für solche Briefe, die sich wie die Paulusbriefe an eine Gruppe von Menschen wenden und vor ihnen durch eine autorisierte und dafür geeignete Person laut vorgetragen werden. In diesem Geschehen, das man die Performanz des Briefes nennen kann, ist Epistolographie und Rhetorik verknüpft.95 Der Brief darf also nicht als ein schriftliches Dokument verstanden werden, wie es unserer von der Schrift beherrschten Zeit entspricht, wo ein Leser die Botschaft direkt aus den Schriftzeichen erkennt. Das wird in der rhetorischen Analyse meistens nicht beachtet. In einer Gesellschaft, die vor allem durch Mündlichkeit geprägt war, kamen Briefe in mündlicher Form zur Geltung.96 Das Vortragen des Briefes war das eigentliche briefliche Ereignis, gleichsam die Anwesenheit des Briefabsenders bei den Empfängern,97 verkörpert und hörbar gemacht durch den Vortragenden. 98 Damit ist bereits das zweite Problem der bisherigen rhetorischen Analyse angesprochen, nämlich dass von den fünf Aufgaben des Redners die beiden letzten (das Einprägen und Vortragen) in der Regel ausgeklammert werden.99 Die rhetorische Analyse der neutestamentlichen Briefe hat den Fokus auf die drei Aspekte der Rhetorik gelegt, die mit der Produktion des Textes zu tun haben und die auch Aristoteles in seiner Rhetorik ausführlich behandelt hat: inventio, dispositio und elocutio. Traditionell ist die rhetorische Interpretation mit stilistischen Merkmalen (elocutio) beschäftigt, die sich auch auf schriftliche Texte anwenden lassen. 100 Seit der Wiederbelebung der rhetorischen Auslegung durch Betz ist besonders der Aufbau des Textes und die Anordnung der Argumente im Fokus (dispositio). Aber die rhetorische Analyse wird dabei im Wesentlichen zu einer mit den Mitteln der antiken Rhetorik arbeitenden Argumentationsanalyse. Diese Richtung wird konsequent fortgesetzt bei denen, die im Anschluss an die 94

Koskenniemi 1956, 46. Kremendahl 2000, 19 deutet das an, wenn er schreibt: „Zugleich muss der Horizont erweitert werden, in dem das Verhältnis von Epistomolographie und Rhetorik in den Paulinen bestimmt wird. Übergeordnet ist diesem das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit.“ Zur Mündlichkeit siehe unten im Abschnitt 1.1.3. 96 Kennedy 1984, 87. 97 Zur brieflichen Parusia vgl. vor allem Thraede 1970, 146–161. 98 In diesem Zusammenhang sind vor allem die Untersuchungen von Stirewalt 1993 zur Übermittlung von offiziellen Briefen von Bedeutung. 99 Die Rhetorica ad Herennium 1.3 (ca. 80 v. Chr.) nennt fünf Aufgaben des Redners: inventio, das Finden des Stoffes der Rede, dispositio, Anordnung des Stoffes und der Argumente, elocutio, Formulierung der Gedanken in angemessenem Stil, memoria, das Einprägen der Rede, pronuntiatio, der Vortrag vor dem Publikum. Ebenso Cicero, de orat. 1.31.142. Vgl. Ueding 1995, 39–41; Olbricht 1997. 100 Schon Wuellner 1987, 452–453 beklagt, dass rhetorische Kritik oft identisch ist mit literarischer Kritik. Der ästhetischen Seite der Sprache und den sprachlichen Figuren hat sich Sellin 2006 zugewandt. 95

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Neue Rhetorik von Perelman und Olbrechts-Tyteca die Ergebnisse der modernen Rhetorikforschung in die Analyse einbeziehen 101 oder die rhetorische Auslegung verknüpfen mit einer Analyse der soziologischen und ideologischen Hintergründe.102 Diese Begrenzung der rhetorischen Analyse auf inventio, dispositio und elocutio ist umso bemerkenswerter, weil nach dem Urteil der antiken Rhetoriker der Vortrag vor den Hörern die wichtigste Aufgabe des Redners ist.103 Da ist es inkonsequent, dass in der rhetorischen Auslegung die Situation der Verwirklichung der Kommunikation vor einem Publikum nur kaum bedacht wird. 104 Manchmal wird ihre Relevanz rundweg bestritten. 105 Das damit angedeutete Problem ist auch deutlich bei George A. Kennedy zu erkennen. Er ist sich der Problematik bewusst, dass sich die Regeln der Rhetorik eigentlich auf ein mündliches Geschehen beziehen und dass das Ergebnis der rhetorischen Kunst ein mündliches Sprachereignis ist, nicht ein Text. Er betont, dass der Ausleger des Neuen Testaments damit rechnen muss, dass die Texte in der Regel vor einer Gruppe laut vorgelesen wurden und die Bibel viel stärker als moderne Texte eine mündliche Qualität für die Zuhörer bewahrt hat. 106 Kennedy formuliert als Ziel der rhetorischen Auslegung, die neutestamentlichen Briefe so zu hören, wie eine griechisch sprechende Zuhörerschaft sie damals gehört hätte: “What we need to do is to try to hear his [Paul’s] words as a Greek-speak101

Zum Beispiel Siegert 1985; Wuellner 1990. Zum Beispiel Robbins 1993; 1996; Amador 1999. 103 Demosthenes, danach gefragt, welche Aufgabe des Redners die wichtigste sei, antwortet: der Vortrag, der Vortrag, der Vortrag. Das wird berichtet und zustimmend aufgenommen von Philodemus, de rhetorica 4, Col.15, Z.3–6, Cicero, de orat. 3.56.213; or. Brut. 56 und Quintilian, inst. 11.3.6. Zur Bedeutung des Vortrags vor allem in der Zeit der zweiten Sophistik Winter 2004, 326–332. 104 Diese Begrenzung der rhetorischen Untersuchung beklagt Botha 1992b, 26: “While many scholars have turned to Greco-Roman rhetoric for help in interpreting Paul’s letter (with worthwhile results), the oral, performative aspect of ancient communication, and specifically ancient rhetoric have been neglected.” Ähnlich Holland 2007, 322. Vgl. Kelber 1995b, 200: “All discussions of rhetoric should commence with its oral underpinnings and oral aspirations.” Ähnlich Loubser 2001. 105 Porter 1993, 108, Anm 21: “Several of the categories of the handbooks are neglected, including memory (memoria) and delivery (pronuntiatio), probably because they do not have ready application to letters.” Reed 1993, 296: “The last two of this group [der fünf Aufgaben rhetorischer Praxis] had little, if any, place in letter writing, being irrelevant of the task.” In einer Anmerkung dazu ergänzt Reed, dass der Sprecher des Briefes, wenn er ihn vorliest, mit dieser Seite der Rede zu tun haben mag, nicht aber Paulus als Schreiber. Betz 1988, 69: „Da es sich um nichts als ein lebloses Stück Papier handelt, ist eine der wichtigsten Waffen des Rhetorikers, der mündliche Vortrag, ausgeschaltet.“ 106 Kennedy 1984, 5. Bereits Funk 1966, 248 betont, dass der Brief der mündlichen Konversation nahe ist und ein Sprachereignis schafft. 102

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

ing audience would have heard them, and that involves some understanding of classical rhetoric.” 107 Dieses Ziel, das mündliche Sprachereignis zu rekonstruieren, wird aber in der rhetorischen Auslegung kaum erreicht. Trotz seiner Einsicht in die Bedeutung der mündlichen Seite des rhetorischen Geschehens, nimmt Kennedy die Situation des Briefvortrags nicht in den Blick.108 Ein weiterer Hinweis darauf, dass die rhetorische Auslegung auf die Textentstehung fokussiert ist, zeigt sich in der Erörterung der rhetorischen Situation. Im Anschluss an Lloyd F. Bitzer bestimmt Kennedy die rhetorische Situation als einen Zustand aktueller oder potentieller Dringlichkeit, der durch eine sprachliche Äußerung wenigstens teilweise überwunden werden kann. 109 Zu dieser Situation gehören auch die beteiligten Personen, wobei die Zuhörer für Kennedy von besonderer Bedeutung sind. “The critic needs to ask of what this audience consists, what the audience expects in the situation, and how the speaker or writer manipulates these expectations.”110 Im Blick ist dann allerdings nur, wie der Redner mit seiner Äußerung auf die Situation zu reagieren beabsichtigt: seine Strategie die Hörer zu gewinnen und sein Anliegen vorzutragen. Die Zuhörer bleiben in einer passiven Rolle. Ihre Reaktionen während des Vortrags und ihre Interaktion mit dem Vortragenden und untereinander werden nicht bedacht. Bei Wilhelm Wuellner ist zwar von aktiven Empfängern der sprachlichen Äußerungen die Rede: “Rhetorical criticism changes the status of readers to that of judges and critics to that of validators.”111 Aber weil Wuellner nicht an Zuhörer, sondern an Leser denkt, kommt auch bei ihm die lebendige und interaktive Reaktion der Zuhörer nicht in den Blick. Das ist überhaupt ein Problem der bisherigen rhetorischen Analyse. Weil der Fokus auf den vorhandenen schriftlichen Texten liegt, geht man davon aus, dass die Texte ihre Wirkung über die Schriftform entfalten. So beschränkt sich die Untersuchung meist auf die Aspekte der Rhetorik, die auch im 107

Kennedy 1984, 10. Allerdings scheint auf S. 5 in anachronistischer Weise vorausgesetzt zu sein, dass die Briefe von Einzelnen für sich selbst gelesen wurden: “… reading the Bible as it would be read by an early Christian, by an inhabitant of the Greekspeaking world in which rhetoric was the core subject of formal education and in which even those without formal education necessarily developed cultural preconceptions about appropriate discourse.” 108 Kennedy 1984, 14 klammert memory und delivery bewusst aus seiner Untersuchung aus. 109 Kennedy 1984, 35. Watson 1999 erörtert, wie rhetorische Analyse die in den Text eingeschriebene rhetorische und die dahinterstehende historische Situation erhellen kann. Vgl. Bitzer 1968 und die Kritik bei Amador 1999, 29–31 im Anschluss an Vatz 1973. 110 Kennedy 1984, 35. 111 Wuellner 1987, 461.

1.1 Zur Geschichte der Methode

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geschriebenen Text gut zu erkennen sind. Elemente der Kommunikation, die im schriftlichen Text nicht codiert werden – Gestik und Gesichtsausdruck, viele emotionale Elemente und auch die Reaktion des Publikums – bleiben weithin unberücksichtigt. Allerdings gibt es Ausnahmen. Thomas H. Olbricht fordert, dass der Exeget die Situation des Vortrags in die Auslegung der Texte mit einbezieht. “What if at some stage in trying to understand the text the critic read aloud while at the same time visualising appropriate vocal and physical responses to the text?”112 Während er an die mündliche Ausgestaltung des Textes durch den Redner denkt, sollte sich der Ausleger auch angemessene Publikumsreaktionen vorstellen. Für die Untersuchung neutestamentlicher Texte bietet J. Eugene Botha erste Überlegungen zu einem intensiven Studium der Gesten und anderer Elemente nonverbaler Kommunikation, die nicht nur die Rede begleiten, sondern zugleich soziale Werte und Positionen anzeigen und festigen. 113 Margaret E. Lee (früher Margaret E. Dean) fragt nach der Wirkung des Klanges der Sprache.114 An der sozialrhetorischen Interpretation von Robbins kritisiert sie, dass er mehr vom modernen gedruckten Text ausgeht.115 Sie legt Wert darauf, dass antike Texte zum Hören gestaltet sind, weil in der hellenistischen Welt die Gestalt nicht nur einer Rede, sondern auch eines geschriebenen Textes davon geprägt war, dass die Übermittlung mündlich geschah. Sprecher und Zuhörer sind durch den Klang der Rede miteinander verbunden. Für die Auslegung ist es ihr wichtig, die Situation des öffentlichen Vortrags und die vielfältige Reaktion der Zuhörer, also die Performanzsituation zu beachten. 116 Deshalb studiert sie, wie die Paulusbriefe durch den Klang von Silben strukturiert sind und wie dadurch Sinn generiert wird.117 Dass in der rhetorischen Analyse die Situation des mündlichen Vortrags mitbedacht werden muss, erinnert daran, dass alle Rhetorik eine mündliche 112

Olbricht 1997, 166; vgl. 1999, 123. Botha 1996. Allerdings untersucht Botha nur die Hinweise auf Gesten in narrativen Texten (Apg und Gal 2). 114 Dean 1998; Lee und Scott 2009. 115 Dean 1998, 82. 116 Dean 1998, 81: “Public reception in an auditory mode shaped the composition of every literary work in the Hellenistic world. Literature was known by means of vocal sounds, not by the sight of marks on a page … But authors certainly crafted their compositions with audience impact in mind, even if they focused their theme, prepared the flow of an argument, and assembled examples and illustrations in advance … If New Testament literature in its first-century rhetorical context was publicly spoken and heard rather then privately written and silently read, each composition’s public, oral delivery and auditory reception is essential to its full and faithful interpretation.” 117 Ähnlich arbeitet Sellin 2006 mit dem Klang der Sprache. Lautliche Strukturen untersucht Harvey 1998 und 2002. Vgl. außerdem Parunak 1981 und Wendland 2008, 30, 97–98 und öfter. 113

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

Grundlage hat.118 Es sind vor allem die Untersuchungen zur Mündlichkeit, die diese Engführung der rhetorischen Interpretation überwinden. Das leitet über zur dritten Wurzel der in dieser Arbeit angewandten Methode der Performanzanalyse: die Mündlichkeitsforschung. 1.1.3 Mündlichkeit Milman Parry (1928, 1930, 1932) und Albert B. Lord (1960) erforschten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mündlich vorgetragene Heldendichtungen, wie sie nicht schriftkundige Sänger auf dem Balkan vortrugen, um die formelhafte Sprache und die wiederkehrenden Themen und Strukturen der Dichtung Homers zu verstehen und die Entstehung seiner Epen zu erhellen. Sie zeigten in ihren Untersuchungen, dass die Dichtung Homers wie auch die Epen südslavischer Sänger nicht das Ergebnis schriftstellerischer Arbeit bestimmter Autoren sind, sondern in einer jahrhundertealten poetischen Tradition wurzeln und in eine mündlich geprägte Kultur eingebettet sind. Bei der Erforschung dieser Kultur zeigte sich, dass vieles, was im Zeitalter des Buchdrucks so selbstverständlich ist, dass es nicht ins Bewusstsein rückt, nicht für die antiken Kulturen gilt, die – sofern sie überhaupt eine Schriftsprache hatten – nur mit der Hand geschriebene Texte kannten. Das gilt zum Beispiel für die Art zu Lesen und zu Schreiben, für den Umgang mit Geschriebenem, für Fragen nach Autorschaft, Intertextualität oder Weitergabe von Tradition. Aus der Beschäftigung mit diesen Fragen hat sich die Mündlichkeitsforschung als ein eigener Wissenschaftszweig entwickelt. Hielten sich Wissenschaftler früher vor allem an das Aufgeschriebene als Gegenstand ihrer Untersuchung, so wurden nun mündliche Traditionen als Forschungsgegenstand interessant, vor allem für Anthropologen, Kulturwissenschaftler, Altertumswissenschaftler und Literaturwissenschaftler. 119 Diese Welle der Erforschung mündlicher Tradition war wohl neben dem wissenschaftlichen Interesse auch beeinflusst von den nationalistischen Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, die ihre Identität in den frühen Traditionen der eigenen Kultur suchten. 120 Vor allem aber wurde sie befördert durch die Entwicklung neuer Medien für das Aufzeichnen von Information: zunächst Tonaufzeichnung (Parry und Lord nutzten Aluminiumzylinder für die Aufzeichnung der Lieder jugoslawischer Sänger) und Film, später elektronische Aufzeichnung. Dadurch rückte die Schrift, die 118

Kelber 1995b, 200–202. Eine Übersicht über die amerikanische Erforschung mündlicher Traditionen bietet Boedeker 1988. Vgl. auch Vansina 1985; Assmann 1992; Assmann, Assmann und Hardmeier 1998; dazu die Aufsätze der Zeitschrift Oral Tradition. Zum Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit vgl. Raible 1991; 1995; 1998. 120 Finnegan 1990, 131. 119

1.1 Zur Geschichte der Methode

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bisher wie selbstverständlich die Weitergabe von Information beherrschte, als Medium der Kommunikation mit ihrer eigenen Wirkung ins Bewusstsein. Die Medienabhängigkeit des Wissens, Denkens und Kommunizierens wurde besonders von Marshall McLuhan (1962), Eric A. Havelock (1963) und Jack Goody und Ian Watt (1968) deutlich gemacht.121 Havelock griff die Thesen von Parry und Lord über den mündlichen Hintergrund der Dichtung Homers auf und nutzte sie zu einer Analyse der gesamten griechischen Welt. Ihm erschien die Erfindung der alphabetischen Schrift durch die Griechen der Ursprung der modernen Kultur zu sein mit rationalem Denken, Geschichtsbewusstsein, Individualismus, Demokratie und technologischer Entwicklung. 122 Wenn auch eine so radikale These auf Kritik gestoßen ist,123 so ist es doch sein Verdienst, die äußeren Bedingungen des Kommunizierens und Tradierens als einen wichtigen Faktor der Kulturgeschichte ins Bewusstsein gerückt zu haben. Dadurch wurde die Selbstverständlichkeit erschüttert, mit der die Bedingungen unserer modernen Gesellschaft mit ihrer Vorherrschaft der Schrift auf antike Gesellschaften übertragen wurden. Die Forschung wurde sensibilisiert für die Andersartigkeit der antiken Kultur. Die Erforschung der mündlich geprägten Kultur der Antike arbeitete zunächst die Unterschiede zu unserer gegenwärtigen vom gedruckten Wort beherrschten Kultur heraus. Es galt zunächst die Annahme, dass Texte entweder der mündlichen oder der schriftlichen Kultur angehören und dass zwischen beiden Kulturen erhebliche Unterschiede bestehen. Entsprechend gegensätzlich fiel auch die Beschreibung der mündlichen und schriftlichen Kultur aus. Das gilt auch für Walter Ong, der in seinem einflussreichen Werk Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes (engl. Original 1982) auf Parry, Lord und Havelock aufbaute.124 Für ihn hat die Erfindung der Schrift wie keine andere Erfindung das menschliche Bewusstsein verändert.125 Er beschrieb folgende Charakteristika der mündlichen Kultur im Gegensatz zur schriftlichen: – Formelhafte und rhythmische Sprache als mnemotechnische Hilfe – Additive Struktur des Erzählens im Gegensatz zur subordinierenden – Mehr aggregatives Beschreiben (z. B. stereotype Epitheta) als analytisches Zergliedern – Hohe Redundanz 121

McLuhan 1962, deutsch: 1968; Havelock 1963; 1982, deutsch: 1990; Goody und Watt 1968; Goody 1968. Eine Darstellung der Forschungsgeschichte in Havelock 1986, 24–29. 122 Vgl. auch Goody und Watt 1968. 123 Vgl. Aleida und Jan Assmann, „Einleitung“, in: Havelock 1990, 1–35, dort auch Literatur. Vgl. auch Goetsch 1991. 124 Ong 1987, engl. Original: 1982; vgl. auch Ong 1967. 125 Ong 1987, 81.

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

– Konservative und traditionalistische Denkweise – Nähe zum menschlichem Leben und Handeln – Kämpferischer Ton – Starke Identifikation mit dem Erzählten, weniger objektive Distanz – Homöostasie – aus der Erinnerung geht verloren, was für die Gegenwart keine Relevanz mehr hat – Eher situatives als abstraktes Denken 126

Der Übergang von einer mündlich geprägten zu einer schriftlich geprägten Kultur schien eine Höherentwicklung zu sein: von einfachen mündlich geprägten Formen mit Wiederholungen und beigeordneten Satzteilen bis zu komplizierten Satzperioden schriftlicher Kommunikation. Diese gedachte Entwicklungslinie wurde bis zur Ausprägung abstrakten Denkens weitergeführt. Der scharfe Gegensatz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit – oft vermischt mit der Vorstellung, dass Mündlichkeit eine primitivere Vorstufe darstellt – hat sich als ethnozentrisches westliches Vorurteil herausgestellt. 127 Die Einführung der Schrift bedeutete nicht einen Wendepunkt, der ein früheres Stadium hinter sich ließ, sondern löste eine intensive Interaktion zwischen geschriebener und gesprochener Kommunikation aus. 128 Die Eigenarten der mündlichen Sprache fanden sich nun auch in schriftlichen Texten, sogar noch gesteigert.129 Andererseits eröffnete die Schrift neue Möglichkeiten für mündliche Sprachformen, wie es sich in der Rhetorik zeigt, die von schriftlicher Vorbereitung profitierte.130 Besonders Ruth Finnegan hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es keine große Trennung („Great Divide“) zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit gibt.131 Sie weist durch eigene Forschung in Afrika und viele andere Zeugnisse nach, dass bestimmte Charakteristika der mündlichen Komposition, wie sie Lord und andere behauptet haben, nicht als typisch gelten können. 132 Sie entlarvt die Vorstellung von einer ganz anderen früheren mündlichen Kultur als Nostalgie derer, die in der modernen, rationalistischen Gesellschaft 126

Ong 1987, 42–54; zur Homöostasie vgl. Goody und Watt 1968, 30–31. Aleida und Jan Assmann, „Einleitung“, in Havelock 1990, 20; vgl. Foley 2002, 37: Das Denken in Gegensätzen war nicht vergeblich, weil es zunächst Raum geschaffen hat für die Erforschung mündlicher Texte, aber nun ist es Zeit für eine genauere Betrachtung der Phänomene in ihrer Vielfalt; vgl. auch Foley 1995, 169. 128 Vgl. Tannen 1982; Weissenrieder und Coote 2010. Auch Ong erklärt die Eigenarten mündlicher Kultur immer wieder an Sprachgewohnheiten, die sich auch noch in heutiger westlicher Kultur finden und die er als Reste mündlichen Denkens bezeichnet (z. B. 1987, 44, 49). 129 Dewey 1989, 33; Beispiele aus den veröffentlichten Reden Ciceros bringt Fuhrmann 1990. 130 Quintilian, inst. 10.1.2–3, 10.3.1; Cicero, de orat. 1.33.152. 131 Finnegan 1988, 12–14; 1976, 137–144. 132 Finnegan 1976; Finnegan 1990, 141. 127

1.1 Zur Geschichte der Methode

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leben, und wendet sich gegen einen technologischen Determinismus, nach dem die Erfindung der Schrift zwangsläufig zu einer Revolution der Kultur führen müsste. Vielmehr spielen soziale Strukturen – wer hat Macht über eine Technologie, wem nützt sie? – eine große Rolle in der Frage, in welcher Weise sich Kommunikationstechnologien auswirken. 133 Zur Klarheit über das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit haben besonders Peter Koch und Wulf Oesterreicher beigetragen. 134 Die Vielfalt der sprachlichen Möglichkeiten systematisieren sie, indem sie zwischen dem „Sprachkonzept“ und der „medialen Realisation“ der sprachlichen Äußerung unterscheiden. Die mediale Realisation der Sprache betrifft die Frage, ob die Äußerung mündlich oder schriftlich geschieht. Es geht also um die jeweilige Verwirklichung der sprachlichen Äußerung im graphischen oder im phonischen Code. Davon ist zu unterscheiden das Sprachkonzept, der „Duktus, die Modalität der Äußerungen sowie die verwendeten Varietäten“ der Sprache.135 Die Möglichkeiten des Sprachkonzepts stellen ein Kontinuum dar und reichen von typischer gesprochener Sprache („Sprache der Nähe“, z. B. Dialog, aber auch persönlicher Brief) bis zu typischer geschriebener Sprache („Sprache der Distanz“, z. B. Verwaltungsvorschrift, aber auch wissenschaftlicher Vortrag). Bezogen auf das Konzept können Texte also mehr auf der Seite des mündlichen Pols, mehr auf der Seite des schriftlichen Pols oder auch irgendwo in der Mitte situiert sein. Die Unterscheidung von medialer Realisation und Konzept überwindet das einfache Gegensatzschema von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und erlaubt eine genauere Einordnung verschiedenster sprachlicher Äußerungen sowohl in früheren mündlich geprägten als auch in modernen Gesellschaften. Sie erlaubt auch ein differenziertes Erfassen des „Ausbaus“ der geschriebenen Sprache der Distanz, also der Realisierung einer typischen konzeptionellen Schreibsprache, die oft erst das Produkt eines langen historischen Prozesses ist.136 In den letzten Jahren ist es besonders John Foley, der die Erforschung mündlicher Texte vorangetrieben hat. Er weist nach, dass mündliche Dichtung ein äußerst vielgestaltiges Phänomen ist, das auf der ganzen Welt vorkommt von der Antike bis in die Gegenwart. 137 Foley schlägt vor, vier Kategorien der mündlichen Dichtung zu unterscheiden – ohne jede Wertung oder Entwicklungslinie: 1) Dichtung, die 133

Finnegan 1988, 8–12; 1990, 143–145. Koch und Oesterreicher 1985; 1994; Oesterreicher 1997. 135 Koch und Oesterreicher 1994, 587. 136 Koch und Oesterreicher 1994, 589. Vgl. Bakker 1998 für eine Anwendung dieser Präzisierungen auf die Texte Homers. 137 Foley 2002, 1–10, 25–26, 34–35, 128–129, 141–145; vgl. Finnegan 2005, 166– 168; Middleton 2005. 134

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

mündlich komponiert und aufgeführt wird vor einem Publikum („Oral Performance“). 2) Texte, die für eine Aufführung vor dem Publikum vorher aufgeschrieben wurden („Voiced Texts“). Die Aufführung kann von jemandem anders vollzogen werden als dem Autor des Textes. 3) Texte aus der Vergangenheit, deren Aufführung längst vergangen ist, die aber im Text Spuren ihrer mündlichen Komposition oder Aufführung tragen, für die oft auch Berichte oder Hinweise zu ihrer Aufführung erhalten sind („Voices from the Past“). 4) Für Leser geschriebene Dichtung, die die Merkmale mündlicher Dichtung trägt („Written Oral Poems“). 138 Als methodisches Repertoire nennt er drei Vorgehensweisen: 1) Performanztheorie: Das kommunikative Ereignis ist eine Performanz. 139 Die Zuhörer sind daran ebenso beteiligt wie der Vortragende.140 Man kann die Bedeutung nicht von der Aufführung trennen. Daher ist Partizipation am Ereignis der Schlüssel zum Verstehen: “Performance is part of the meaning.”141 In einem geschriebenen Text lässt sich nur ein kleiner Teil der Performanz ausdrücken. Es kommt beim Verstehen des Textes darauf an, so weit wie möglich zur Partizipation zu gelangen: “being there”. 142 2) Ethnopoetics: Es gilt bei einer Performanz nicht nur auf den Wortinhalt, sondern auf alle Details zu achten, zum Beispiel auf Tonfall, Lautstärke, Geschwindigkeit der Sprache, Pausen, Gestik, Stellung im Raum u. v. m. Weil in antiken Texten diese Elemente der Performanz nicht mehr zu erkennen sind, liegt der Fokus auf der Struktur der Texte, “[it] restores the poetry in them.” 143 3) Immanent Art144: Foley arbeitet heraus, dass formelhafte Sprache, typische Szenen und wiederkehrende Erzählstrukturen, die so typisch sind für Texte einer von Mündlichkeit geprägten Kultur, auf die Tradition verweisen. Foley nennt das “an immanent art: a process of composition and reception in which a simple, concrete part stands for a complex, intangible reality. Pars pro toto, as it were.”145 „Metonymisch“ evozieren die Formeln eine Vorstellungswelt, die weit umfassender ist als das unmittelbar im Text Gesagte. Die Wahl der sprachlichen Eigenarten („register“), die typischen Bedingungen der Performanz („performance arena“) und die 138

Foley 2002, 39–53. Foley 2002, 79–94; vgl. Finnegan 2005. 140 Foley 2002, 138: “Poet and audience are partners in the same process: making and receiving are inextricably linked.” Foley 1991, 42–45 stellt einen Zusammenhang zur Rezeptionsästhetik her. 141 Foley 2002, 164. 142 Foley 2002, 136: “We must project the ‘play’ from the ‘script’ as best as we can, converting the object (back) into an event as far as possible.” 143 Foley 2002, 103; zu Ethnopoetics S. 95–108. 144 Foley 2002, 109–124; vgl. Foley 1991. 145 Foley 1997, 63 (kursiv im Original). 139

1.1 Zur Geschichte der Methode

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traditionellen Ausdrucksweisen als effektive Kommunikation („communicative economy“) tragen dazu bei, dass die Performanz implizit ein ganzes Universum der Tradition lebendig werden lässt.146 Für Texte aus der Vergangenheit kommt es darauf an, so weit wie möglich diese Welt der Tradition zu kennen. Foley vergleicht dieses Bemühen mit dem Erlernen einer Sprache, die Sprache der jeweiligen mündlichen Dichtung. 147 Die Erforschung des Verhältnisses von mündlicher und schriftlicher Kommunikation in den antiken Kulturen hat eine Fülle von wichtigen Ergebnissen gebracht, wie sie zum Beispiel in Sammelbänden publiziert worden sind,148 aber auch zu Einzelfragen, wie zum Beispiel zu den Schreib- und Lesekenntnissen der Antike, 149 zum Lernen von Lesen und Schreiben, 150 zur Praxis des Lesens bzw. Vorlesens, 151 zur Rolle von Büchern und Schriften 152 und zur Rolle des Gedächtnisses und mündlicher Geschichte.153 Natürlich war Bibelauslegern schon immer bewusst, dass vor und neben den schriftlichen Überlieferungen eine mündliche Weitergabe der Inhalte stattgefunden hat. Besonders die Formgeschichte hat ausgehend von dieser mündlichen Tradition die Entstehung der schriftlichen Texte, zum Beispiel der Evangelien, zu verstehen versucht. 154 Wie in der Homerischen Frage bei Parry konzentrierte sich die Fragestellung der Formgeschichte zunächst darauf, die Quellen der schriftlichen Texte zu erheben und den Weg der Textwerdung zu erhellen. Auch die Suche nach der sozialen Einbettung der mündlichen Kommunikation („Sitz im Leben“) war diesem Ziel untergeordnet. Es war dann vor allem Werner Kelber (1983), der aufbauend auf den Studien von Ong, Havelock und anderen in einem bahnbrechenden Werk die Ergebnisse der Mündlichkeitsforschung in die neutestamentliche For146

Vgl. Foley 1995. Foley 2002, 136, 139. 148 Stolz und Shannon 1976; Foley 1981; 1987; Tannen 1982; Thompson 1983; VogtSpira 1990; Olson und Torrance 1991; Raible 1991; 1995; 1998; Bauman 1992; Baumann, Günther und Knoop 1993; Günther 1994/ 96; Sellin und Vouga 1997; Bakker und Kahane 1997; Assmann, Assmann und Hardmeier 1998; Mackay 1998; Watson 2001; siehe auch die Zeitschrift Oral Tradition. 149 Harris 1989; Lentz 1989; Thomas 1992; Bar-Ilan 1992 für Palästina; Yaghjian 1996; Hezser 2001. 150 Robb 1994; Snyder 2000; Morgan 2000. 151 Starr 1991; Saenger 1997; Botha 2005; Johnson 2010; vgl. auch die Diskussion über leises oder lautes Lesen: Balogh 1927; Hendrickson 1929/30; Clark 1930/31; Knox 1968; Saenger 1982; Achtemeier 1990; Slusser 1992; Gilliard 1993; Burfeind 2002. 152 Olson 1994; Gamble 1995; Small 1997; Alexander 1998; Millard 2000; Jaffee 2001; Carr 2005. 153 Gerhardsson 1961; Vansina 1985; Thompson 1988; Assmann 1992; Byrskog 2000. 154 Vgl. dazu Kelber 1987a, 98. 147

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

schung eingebracht hat.155 Für Kelber sind mündliche und schriftliche Texte deutlich getrennt.156 Die unterschiedlichen Medien behandeln Information entsprechend unterschiedlich: Die Mündlichkeit verbindet den Mund mit den Ohren, die Schriftlichkeit verbindet die Augen mit dem Text.157 In den Erzählungen sieht Kelber die mündliche Charakteristik darin, dass das Leben in Gegensätzen begriffen wird, 158 dass Konfrontation mehr geschätzt wird als Harmonie 159 und dass die Tradition in sozialer Interaktion mit den Zuhörern zensiert und ratifiziert wird. 160 Das Markusevangelium ist ein schriftliches Werk und steht in einer Spannung zum mündlich tradierten Evangelium. Markus sucht die mündlichen Stimmen seiner Vorgänger zu überwinden161 und die Tradition in eine neue Form zu überführen. 162 In den Paulusbriefen findet Kelber eine Verknüpfung des Evangeliums mit dem mündlichen Wort.163 Er greift dazu Gedanken von Robert Funk auf, der die Reisenotizen des Paulus so deutet, dass der Apostel die mündliche Übermittlung der Botschaft bevorzugt und dazu sein Kommen in Aussicht stellt.164 Seine eigene Berufung, das machtvolle Wort Gottes, der aus dem Hören erwachsende Glaube (Röm 10,16–17; 1 Thess 2,13), der Gegensatz des lebendigen Wortes zum geschriebenen Gesetz (2 Kor 3,1–6) – alles das zeigt, dass Paulus dem gesprochenen Wort verpflichtet war. “In Pauline theology the ear thriumphs over the eye.”165 Die Briefe des Paulus sind der mündlichen Kommunikation nahe – und zeigen doch als schriftliche Kommunikation zugleich erste Spannungen zum rein mündlichen Evangelium. 166 Kelber ist kritisiert worden für den scharfen Gegensatz, den er zwischen dem mündlich tradierten Evangelium, dem Wort Jesu, wie es von Petrus und den anderen Jüngern mündlich weitergetragen wurde, und seiner 155 Kelber 1983, vgl. auch 1987b und 1995a; vor ihm bereits Lord 1978 zu den Synoptikern. Vgl. die Würdigung bei Farrell 1987. Für das Alte Testament ist zu erwähnen: Niditch 1996; 2003; Person 1998; Miller 2011; religionsgeschichtlich Graham 1987. Eine Literaturübersicht über Studien zur Mündlichkeit im Alten und Neuen Testament ab Ende des 19. Jhdts. bis zu Werner Kelber bietet Culley 1986. 156 Vgl. bereits Güttgemanns 1971, 103–104. 157 Kelber 1983, xv. 158 Kelber 1983, 55. 159 Kelber 1983, 71. 160 Kelber 1983, 92. 161 Kelber 1983, 104. 162 Kelber 1983, 130. 163 Kelber 1983, 141–183. 164 Funk 1966, 264–269: „Travelogue“. 165 Kelber 1983, 143. 166 Kelber 1983, 172–177, 204–205.

1.1 Zur Geschichte der Methode

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schriftlichen Fassung durch Markus, dem rationalisierten und interpretierenden Lebensbericht über Jesus sieht.167 Sein Verdienst ist es jedoch, einen wichtigen Anstoß gegeben zu haben, die Bedeutung des Kommunikationsmediums für die Entwicklung des frühen Christentums und für die Interpretation der frühchristlichen Texte zu erforschen. Zunächst war vor allem der Übergang der Evangelientradition von der mündlichen zur schriftlichen Form im Mittelpunkt des Interesses der neutestamentlichen Forschung. Mit dieser Problematik schloss die Forschung an die formgeschichtliche Fragestellung an, die bereits die Verschriftlichung mündlicher Tradition vorausgesetzt hatte. 168 Besonders das Markusevangelium stand im Mittelpunkt des Interesses. Bald aber wurde im Gefolge von Kelber und unter dem Einfluss literarischer Zugänge zu den Evangelientexten, zum Beispiel der narrativen Analyse, nicht mehr eine mündliche Vorstufe des Evangeliums rekonstruiert, sondern der vorliegende Text selbst als Ausdruck einer mündlichen Kultur erforscht. 169 Auch die Paulusbriefe wurden unter dem Aspekt der Mündlichkeit untersucht. So geht John Harvey (1998) davon aus, dass die Briefe als gesprochene Sprache zur Wirkung kamen. Er untersucht Parallelismus, Chiasmus, Inclusio, Refrain, Wortketten, Inversion, kurze Merksätze und andere Formen in den Paulusbriefen, die als typisch für die gesprochene Sprache gelten, und vergleicht sie mit Formen aus der griechisch-römischen Literatur und Rhetorik und mit Formen in der Septuaginta. 170 Ähnlich geht Casey Wayne Davis (1999) vor. In seiner Studie zum Philipperbrief kombiniert er rhetorische und linguistische Methoden mit einer Untersuchung mündlicher Formen. 171 Im Zentrum seines Interesses stehen Strukturen und Formen wie Chiasmus, Wiederholung, Parallelis-

167

Boomershine 1987; Halverson 1994; A. Dewey 1995, 113: “Once a new medium has made its cultural appearence, the old medium does not die out, nor does it exist independently of the new; on the contrary there now exists the possibility to use the old in light of the new and vice versa.” Vgl. auch die Kritik bei Henaut 1993, 53–74. 168 Vgl. Breytenbach 1986; Schröter 1997; bereits Güttgemanns 1971, 69–150. Dieser Ansatz findet sich erörtert bei Dunn 2003a und durchgeführt in Dunn 2003b, besonders 192–254. Kritisch zu Kelbers Ansatz, der von Dunn weitergeführt wurde, Gerhardsson 2005. Henaut 1993, 195 hält einen Rückschluss von Evangelientexten auf mündliche Tradition für unmöglich: “The oral phase of the Jesus tradition is now forever lost.” Das Verhältnis von mündlicher und schriftlicher Tradition bei den jüdischen Gelehrten untersucht Jaffee 2001. 169 Zum Beispiel Boomershine 1988; Dewey 1989; 1992; Botha 1991; Horsley und Draper 1999; Rhoads 2004; und die Aufsatzsammlungen Silberman (ed.) 1987; Dewey (ed.) 1995; Horsley, Draper und Foley (eds.) 2006, dort besonders S. 125–190; Weissenrieder und Coote 2010. 170 Harvey 1998. 171 Davis 1999; er reflektiert seine Methode auf S. 55 und 63.

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

mus, aber auch der Klang. 172 Was in diesen Arbeiten fehlt ist eine Berücksichtigung der Zuhörerschaft, ihre Interaktion mit dem Sprecher und untereinander. 173 So bleiben sie doch weithin textorientierte Studien. 1.1.4 Performanzkritik Die Erforschung der mündlichen Aspekte der antiken Kultur hat deutlich gemacht, dass die Texte in der Regel laut vorgetragen wurden, und zwar vor einer kleineren oder größeren Versammlung, und so zu einem gemeinschaftlichen Ereignis wurden. Sie gewannen ihre gedankliche, emotionale und soziale Wirkung in einer Performanzsituation mit ihrer vielfältigen Interaktion zwischen Vortragendem und Zuhörenden und den Zuhörenden untereinander. 174 Das bedeutet, dass der Aspekt der Mündlichkeit für das Textverstehen relevant ist. Besonders unter dem Einfluss von Foley wurde die Situation des mündlichen Vortrags, der Performanz – nicht nur der vorliterarischen Tradition, sondern auch der geschriebenen Texte – in den Blick genommen. Mögliche Modelle dieser Situation zu rekonstruieren, die Funktion der überlieferten Texte in dieser Situation zu erkennen und daraus Schlüsse für ihre Interpretation zu ziehen, das ist die Aufgabe, die unter der Bezeichnung Performanzkritik (performance criticism) zusammengefasst wird. Bereits bei Kelber wurde die Mündlichkeitsforschung nicht nur zur historischen Rekonstruktion der Textentstehung herangezogen, sondern in ihrer Relevanz für das Textverstehen gesehen. Thomas L. Boomershine und andere haben diese Aufgabe weitergeführt und haben gezeigt, wie bedeutsam es für das Verständnis der überlieferten Texte ist zu berücksichtigen, dass sie in eine Kultur gehören, in der die mündliche Kommunikation dominierte. 175 Sie bestehen darauf, dass man dem Verständnis 172

Ähnlich Sellin 2006. Die Wirkung auf die Zuhörer hat Dabourne 1999 in ihrer Studie zu Röm 1,16–4,25 im Blick. Aber auch bei ihr wird die Aktivität der Zuhörer nicht reflektiert. 174 Schon Georgi 1964, 131 hat für die Synagoge darauf hingewiesen, „dass das durch die Zweiheit von Schriftlesung und Schriftauslegung bestimmte synagogale Zeremoniell zu einer geradezu theatralischen Bewegtheit Anlass bot.“ Er beschreibt den Synagogengottesdienst als eine auch für Heiden attraktive Performanz. „Das Zeremoniell war also in Wirklichkeit eine Darbietung vor einem Publikum, ein geistliches Theater.“ Georgi verweist dazu auf die Architektur der Synagoge (S. 132) und erörtert den Charakter der Versammlungen als „pneumatische Demonstrationen“ (S. 133). „Da sich aber dieser pneumatische Prozess im Können der einzelnen Charismatiker manifestierte, so erschien er in differenzierter Form und forderte ganz selbstverständlich zum Vergleich zwischen den einzelnen Leistungen auf“ (S. 134). 175 Boomershine 1987; 1995; Horsley, Draper und Foley 2006; J. Dewey 1995; Loubser 1993; 1995; 2001; Hearon 2006 und die Aufsätze in Weissenrieder und Coote 2010. 173

1.1 Zur Geschichte der Methode

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der Texte näher kommt, wenn man sie im Kontext dieser Performanzkultur zu verstehen sucht.176 David Rhoads (2006) hat schließlich die Methode der Performanzkritik des Neuen Testaments177 vorgestellt.178 Er beginnt mit einem Rückblick auf die Ursprünge der Methode und einer Kritik an der traditionellen Auslegung, die unreflektiert davon ausgeht, dass der angemessene Gebrauch der Texte des Neuen Testaments unserer heutigen durch die Printmedien beherrschten Kultur entspricht, und die daher in Bezug auf das Kommunikationsmedium einem Anachronismus verfällt. Danach beschreibt er die antike Kultur als eine Kultur, die von mündlicher Kommunikation beherrscht war. Schrift war in Gebrauch, vor allem in der Oberschicht, aber diente dem mündlichen Vortrag, wobei in der Regel nicht abgelesen, sondern auswendig deklamiert wurde. Die Wirksamkeit des Geschriebenen erfuhren die Menschen in der Performanz, also in einem akustischen und sozialen Ereignis. Rhoads definiert die Performanz so: “… any oral telling/retelling of a brief or lengthy tradition – from saying to gospel – in a formal or informal context of a gathered community by trained or untrained performers – on the assumption that every telling was a lively recounting of that tradition.” 179 Performanz ist also der Ort, wo das Wissen der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe weitergegeben und interpretiert wurde und wo die Interpretation gemeinschaftlich getestet und kritisiert wurde. Um einen bleibenden Eindruck auf die Hörer zu erzielen und so die Tradition im Gedächtnis zu verankern, kam es auf ausdrucksstarke und einprägsame Rede an. Rhoads skizziert dann die Rolle der Evangelien und der neutestamentlichen Briefe in der beschriebenen Kultur und kommt zu dem Ergebnis, dass die Texte immer wieder neu, wohl auch mit kleinen und größeren Abweichungen vorgetragen worden sind, und dass es nicht die geschriebenen Texte, sondern diese Performanz-Ereignisse waren, durch die die christliche Botschaft Bedeutung hatte und verbreitet wurde. 176 Weil in der Antike in der Regel laut gelesen wurde, schlägt Boomershine 1987, 52–59 vor, die Texte laut vorzulesen. Die dabei entstehende psychologische Nähe („sympathetic participation“) hilft zu einem angemessenen Textverstehen, weil die mündliche Kommunikation weniger Distanz bringt als leises Lesen von Texten, bei dem man eher distanziert bleibt und eine wertende Haltung einnimmt. So kommt Boomershine z. B. zu dem Ergebnis, dass die Petrusverleugnung im Markusevangelium eher als Bekenntnis des Betroffenen zu verstehen ist und nicht als eine Verurteilung von außen. 177 Vgl. die einführenden Aufsätze in Hearon und Ruge-Jones 2009. Für das Alte Testament vgl. Doan und Giles 2005; Giles und Doan 2009, dort weitere Literatur. Ansätze auch bei Hardmeier 2005. 178 Rhoads 2006, dort weitere Literatur; vgl. Rhoads 2009. Rhoads (2004, 176–201) selbst hat das Markusevangelium und andere Texte als Performanz vorgetragen, vor ihm bereits Boomershine 1987. 179 Rhoads 2006, 119.

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

In einem nächsten Schritt analysiert Rhoads sieben Aspekte des Performanz-Ereignisses und zieht dazu auch seine eigenen Erfahrungen bei der Aufführung auswendig gelernter neutestamentlicher Texte heran: 1) Performanz ist ein Akt, der neben Sprache alle Möglichkeiten des stimmlichen und gestischen Ausdrucks umfasst, also eine ganzheitliche Aufführung darstellt. 2) Der dargestellte Inhalt wird nicht direkt aus den aufgeschriebenen Worten generiert, sondern aus dem, was in Geist und Leib des Darstellers lebt und in diesem Moment seiner eigenen Situation und der des Publikums entspricht. Was aufgeführt wird, ist also trotz vorbereitetem Text eine jeweils eigene und einmalige Komposition, eine verkörperte Interpretation des Textes. Natürlich können die vielen Aufführungen nicht rekonstruiert werden, aber die Hinweise der verschiedenen Texte auf eine je angemessene Aufführung verdienen Beachtung des Auslegers, um zu erkennen, wie die einzelnen Teile und das Ganze ihre Wirkung entfalten. 3) Der Vortragende ist mit seiner ganzen Person die Verkörperung des Textes und seiner Werte und Vorstellungen. Die Zuhörer/Zuschauer erleben den Text nicht ohne eine solche Verkörperung und werden die Inhalte nur aufnehmen, wenn sie dem Vortragenden die nötige Kenntnis, Integrität und Autorität zusprechen. 4) Die Zuhörer/Zuschauer sind ein wesentlicher Faktor jeder Performanz. Sie sind aktiv und beeinflussen die Aufführung, und zwar als Gemeinschaft, die durchaus ganz verschiedene Gruppen umfassen kann. Ihre Zusammensetzung und soziale Position lässt das Gesagte jeweils anders klingen. 5) Der Ort und materielle Kontext der Performanz beeinflusst die Aufführung. 6) Die geschichtliche und soziale Situation, in der die Performanz geschieht (politische Spannung, Verfolgung, Armut usw.), wird jeweils neue Bedeutungen einzelner Details des vorgetragenen Textes generieren. 7) In der Performanz wird der vorgetragene Text eine Wirkung auslösen, die nicht nur mit Ideen, Vorstellungen und Werten zu tun hat, sondern Beziehungen verändern und Handlungen auslösen wird. Die Zuhörer werden verwandelt. Es geht also bei der Performanzkritik nicht allein darum, was ein Text bedeutet, sondern was er bewirkt und wie das geschieht. Im folgenden Teil seines Aufsatzes bezieht Rhoads alle bisherigen Methodenschritte neutestamentlicher Exegese und zusätzlich noch manche andere in die Performanzkritik mit ein. Weil Performanzkritik den Wechsel vom Schriftmedium zum mündlichen Kommunikationsmedium impliziert, ist diese neue Forschungsmethode nach seiner Meinung nicht nur eine neben anderen, sondern ein insgesamt neuer Zugang zu den Texten, der die bisherigen Methoden einschließt und von ihnen profitiert und ihnen gleichzeitig neue Impulse gibt. Schließlich plädiert er dafür, dass die neutestamentlichen Texte vor Publikum „aufgeführt“ werden – wie er es selbst seit Jahren tut –, weil erst aus dieser Erfahrung ein Verständnis für

1.1 Zur Geschichte der Methode

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die Performanzanalyse der Texte gewonnen werden kann und vertiefte Interpretation möglich wird. Rhoads listet am Ende einige methodische Schritte auf (z. B. kultureller Kontext der Texte, mögliches PerformanzEreignis, mündliche Charakteristik der Texte, daraus resultierend eine Interpretation der Texte und Aufführung vor Publikum). Sein Entwurf eröffnet den Blick für eine bisher wenig beachtete Dimension der Textinterpretation. Allerdings müssen die genauen Arbeitsschritte und Kontrollmethoden noch erarbeitet werden. 180 Dazu einen Beitrag zu leisten, ist auch das Ziel dieser Arbeit. Einen Schritt in diese Richtung geht bereits das Buch von Whitney Shiner (2003). Er geht davon aus, dass die Menschen, für die das Markusevangelium geschrieben wurde, den Sinn des Werkes nicht aus dem geschriebenen Text, sondern aus dem lebendigen Vortrag des Werkes innerhalb einer Gemeinschaft erkannt haben. 181 Um die Performanz des Markusevangeliums zu rekonstruieren, greift er auf zwei Methoden zurück.182 Erstens erschließt er aus Hinweisen in den antiken Quellen, wie eine ideale Aufführung eines Textes in der damaligen Kultur gestaltet war. Zweitens liest er die Hinweise im Markusevangelium auf stimmliche Gestaltung (z. B. rufen, laute Stimme), auf körperliche Bewegungen (z. B. Umherschauen, Zeigen mit der Hand) und auf Emotionen gleichsam als Bühnenanweisungen für den Vortragenden, der mit seinem Vortrag das erzählte Geschehen dramatisch aufführt. 183 Nach einer Einführung in die von Mündlichkeit geprägte Kultur des ersten Jahrhunderts (Kap. 1 und 2) entfaltet Shiner die Performanz des Markusevangeliums zunächst aus der Perspektive des Vortragenden (Kap. 3–6, z. B. Emotion, Vortragstechnik, Gestik), dann aus der der Zuhörenden (Kap. 7–9, z. B. Zuhörerreaktionen, Grund und Gelegenheit für Applaus, Einbeziehen der Zuhörer). Shiner hat mit seiner Untersuchung einen Weg gewiesen, wie die Performanz erzählender Texte der frühen Christen erforscht werden kann. 184

180

Zum Beispiel kritisiert Henaut 1993, 113–119 die Methode, „mündliche“ Strukturen (Alliteration, Parallelismus, Chiasmus usw.) in schriftlichen Texten zu finden, weil sich solche Formen häufig auch in schriftlichen Texten finden lassen, die nicht mündliche Tradition übermitteln. 181 Shiner 2003, 78: “The meaning of any oral performance is found only in that communal context as it is presented by the performer and as it is received by the audience. Delivery is the art of filling the lifeless words on a scroll with fire and life and emotion. Orations may later be studied privately as models of style, but the written oration is a museum piece, deprived of the breath that gives it life and the situation that gives it meaning.” Dazu bereits Bahn 1932. 182 Shiner 2003, 3–4. 183 Vgl. Shiner 2003, 68. 184 Vgl. Wire 2011. Für rabbinische Texte vgl. Jaffee 2001.

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

Die Performanz des Vorlesenden hat auch William D. Shiell (2004) untersucht, und zwar am Beispiel der Apostelgeschichte.185 Er geht von der griechisch-römischen Kultur und ihren Konventionen des Vortrags geschriebener Texte aus, die er anhand von schriftlichen und bildlichen Quellen erklärt. Texte entfalteten ihre Wirkung durch öffentliches oder privates Vorlesen durch geschulte Leser. Die Konventionen werden dann für die Verlesung von Texten in den Gruppen früher Christen ausgewertet. Shiell nimmt an, dass das Verlesen von Texten seinen Platz hatte in den Versammlungen von Gläubigen in den Häusern und vergleichbar ist mit Lesungen und Aufführungen bei Symposien. 186 So war auch das Verlesen eines Briefes ein wichtiges Ereignis für die ganze Gemeinde. 187 Shiell zeigt am Beispiel der Apostelgeschichte, wie der Vorlesende die Reden und Episoden im Text durch Gesten, Gesichtsausdruck und stimmlichen Ausdruck gestaltet. Die aktive Rolle der Zuhörer wird bei Shiell betont, indem er die Rolle des Vortragenden aus den kulturellen Erwartungen der Zuhörer rekonstruiert.188 Auch Bobby Loubser (2007) hat eine Studie zur Performanzkritik der neutestamentlichen Texte vorgelegt. Die akademische Arbeit in Afrika, einem Umfeld vieler Kulturen, die von der traditionellen akademischen Kultur Europas und Nordamerikas sehr verschieden sind, hat ihn für diese Problematik besonders sensibilisiert. Er plädiert dafür, dass die neutestamentlichen Texte in der von Mündlichkeit dominierten Manuskript-Kultur der griechisch-römischen Welt verstanden werden müssen, in der sie verwurzelt sind. 189 Er bestimmt die Kultur als eine “intermediate manuscript (rhetorical) culture”, in der trotz Schriftgebrauch die Denk- und Stilformen der Mündlichkeit weithin intakt bleiben. Ausgehend von einem detaillierten Kommunikationsmodell legt er zunächst dar, wie wichtig es ist, das Medium der Kommunikation zu reflektieren, um den übermittelten Inhalt angemessen zu erfassen. Dabei ist es nicht genug, die Inhalte der erhaltenen Texte zu studieren, sondern den gesamten Kommunikationsprozess zu betrachten. Dieser Prozess umfasst neben der expliziten Botschaft, die in Texten codiert sein kann, auch nichtausgesprochene Elemente sowie eine vielfältige Interaktion zwischen Sender und Empfängern. Das ganze Geschehen ist eingebettet in ein komplexes soziales System. 190 Loubser betont – im Anschluss an McLuhan –, dass das Kommunikationsgeschehen durch die Möglichkeiten und Grenzen der verwendeten Medien mitbe185

Shiell 2004. Shiell 2004, 127–133. 187 Shiell 2004, 127. 188 Shiell 2004, 201. 189 Loubser 2007; Vorarbeiten Loubser 1993 und 1995. 190 Zur Systemtheorie verweist Loubser auf Luhmann und vor allem auf Bailey 1994. 186

1.1 Zur Geschichte der Methode

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stimmt ist. Das wird in der Untersuchung der neutestamentlichen Texte oft übersehen, weil die verwendeten Medien unreflektiert bleiben. Seine Methode der Medienkritik der neutestamentlichen Texte umfasst folgende Schritte:191 1) Einordnen des Textes in seine soziale und kulturelle Welt mit ihren vorherrschenden Kommunikationsmedien. 2) Untersuchung des Textes auf explizite und implizite Hinweise zu Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Hinweise auf Sprechen/Hören und Schreiben/Lesen, aber auch auf Sehen). 3) Untersuchung der kommunikativen Qualität und Funktion der Formen im Text (z. B. formelhafter Stil, Wiederholungen, Gesten, Machtworte wie z. B. Fluch oder Segen). 4) Untersuchung der hermeneutischen Funktionen des Textes (Distanz zur heutigen Kultur, die das Verständnis erschwert, z. B. magische Macht des gesprochenen Wortes, personen- und gemeinschaftsbezogene Kommunikation, gegenwartsbezogen und doch eingebettet in Tradition, konkrete und direkte Sprache). 5) Ethische und theologische Schlussfolgerungen. Diese Schritte werden am Beispiel von Lk 9,51–56 vorgestellt. Loubser untersucht dann die neutestamentlichen Texte (Lukas, Paulus, Johannes) auf ihre Offenheit hin zur mündlichen Performanz – wobei der Einfluss des ja ebenfalls wirkenden schriftlichen Mediums etwas in den Hintergrund tritt (Kap. 4 bis 8). Dabei behandelt er nach den oben genannten Schritten sowohl die Hinweise im Text auf mündliche und schriftliche Kommunikation192 als auch die allgemeinen Denk- und Kommunikationskonventionen in der umgebenden Gesellschaft und Kultur. 193 Es schließt sich eine Reflexion zur Ethik der Auslegung an. Für die Paulusbriefe, auf die er nur kurz eingeht, konstatiert Loubser: “In the Pauline letters writing also mainly served as a mnemonic prop for the performance by the oral reader.”194 Das bedeutet, dass der Verfasser vieles auslassen konnte, weil er wusste, dass der Vortragende es ergänzen würde. 195 Die Botschaft war nicht der geschriebene Brief, sondern die Performanz. Der Brief war die Gedächtnisstütze. Loubser schlussfolgert: “The global purpose of the inter-

191

Loubser 2007, 73 und 76. Loubser 2007, 92, wo er in 2 Kor 2,17; 10,10–11; Gal 6,11 ein Vorurteil gegen Schriftlichkeit findet. 193 Zum Beispiel korporative Persönlichkeit, Autorität des gesprochenen Wortes, Situationsbezogenheit, Gegenwartsbezogenheit, Verhältnis von Originalität und Traditionsabhängigkeit. Es ist bemerkenswert, dass Shiner 2003 ähnlich vorgeht. 194 Loubser 2007, 62. Er vermutet, dass der Bote den Brief auch vortrug und kommentierte. “If therefore, ‘Paul’ introduces a fellow-worker without stating the reason, we may assume that it has to do with the delivery and performance of the message.” Ebenso S. 90. 195 Dem widerspricht Wendland 2008, 44–46, 53–54, indem er auf die Texttreue beim Vortrag Wert legt. 192

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

preter of the Pauline texts should thus be to reconstruct the performance and audience reception of these texts.”196 Für die neutestamentlichen Brieftexte steht eine umfassende Untersuchung noch aus. Wichtige Arbeiten sind aber bereits geleistet worden.197 So hat James D. Hester – eine Anregung von Vorster aufnehmend und an die Sprechakttheorie von Searle anknüpfend – in der Diskussion um die rhetorische Situation beim Vortrag der Paulusbriefe darauf gedrängt, die Zuhörer in ihrer aktiven Rolle zu beachten. 198 Es geht beim rhetorischen Ereignis nicht nur um Information, sondern darum, dass etwas durch Sprache geschieht. Dabei wird die Bedeutung des Gesagten in der Interaktion mit den Hörern konstruiert. Der Vortrag eines Briefes in der Gemeindeöffentlichkeit ist ein soziales Ereignis. Dabei muss man mit vielfältiger Interaktion aller Beteiligten rechnen. Dazu schreibt Hester: “The particular audiences with which he [Paul] was dealing [in his letters] were complex, in many cases containing factions which had to be treated inventionally differently from one another.”199 Auch Pieter Botha legt Wert darauf, dass die Übermittlung der Briefe als eine vorgetragene Rede, als eine Performanz gedacht werden muss.200 Er hat in verschiedenen Aufsätzen dargestellt, dass die Briefübermittlung nicht als ein rein intellektueller Vorgang, sondern als ein soziales Ereignis mit mündlicher Performanz zu verstehen ist.201 Er wendet das – wenn auch sehr skizzenhaft – auf den Galaterbrief an und verweist auf die autoritative „Gegenwart“ des Paulus durch den Vortragenden, auf die Bedeutung einer beeindruckenden Performanz für die Durchsetzungskraft von Gedanken 196

Loubser 2007, 63. A. Dewey 1995 schließt in seiner Studie über Römer 10 aus dem Wortlaut des Textes auf die Performanz des Paulusbriefs, z. B. S. 119 zu Röm 10,15–21: “The very words of Scripture speak to the efforts of people like Paul. Indeed, the person who delivered Paul’s letter is indirectly referred to, if one understands the implications of such words coming true in the audience’s presence … Quite significantly v. 21 would allow the deliverer of the letter an opportunity for a dramatic gesture of open arms.” Tsang 2009 diskutiert kurz die Implikationen des mündlichen Vortrags der Paulusbriefe. 198 Hester 1998. 199 Hester 1998, 78. Die Unterschiedlichkeit des Publikums beachtet auch Amador 1999, 68: “Often, the composite quality of audiences requires the speaker to construct an audience in such a way that it does not exclude or insult one or more groups that may compose the empirical audience (those who actually listen).” Er beschreibt die unterschiedlichen möglichen Reaktionen von Zuhörern, bedenkt aber nicht, wie sie sich gegenseitig beeinflussen können. 200 Botha 1992b; 1993b; ebenso Ward 1995; Wire 1995. 201 Botha 1992b, besonders S. 25, und 1993b. Vgl. auch Ward 1995, 101: “Texts (such as written gospels or letters) recited or orally composed in Christian worship harkened back to the immediacy of oral discourse. Letters served orality and were thus returned to oral space by way of the public reader.” 197

1.1 Zur Geschichte der Methode

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und Vorstellungen und auf den zupackenden, emotionalen, drohenden und fast magischen Einsatz der Sprache (Gal 1,8–9; 3,1). 202 Rollin A. Ramsaran untersucht 1 Kor 15 auf Signale der Performanz des Briefes, zum Beispiel Register und Situation („performance arena“), metonymische Verweise auf die Tradition, dialogische Struktur des Abschnitts und Gliederung in Gedankeneinheiten, die für das Gedächtnis geeignet sind, sprachliche Signale, die das Zuhören erleichtern (z. B. Stichwörter, Chiasmus, Parallelismus, Steigerung). Er lehnt sich an die Arbeit von Richard A. Horsley und Jonathan A. Draper (1999) zum Markusevangelium an, die sich ihrerseits auf Dell Hymes und John M. Foley stützen. Auch Gerhard Sellin schreibt: Im Sinne der Rhetorik waren Schriften allerdings nicht nur Denkmäler, sondern auch Partituren oder Drehbücher, die im Akt der Rede und des Gesprächs zur Aufführung gebracht wurden. … der Versammlung verlesen und damit aufgeführt wurden sie [die paulinischen Briefe] von einem Rhetor, d. h. einem rhetorisch versierten Mitglied der Adressatengemeinde. Der Verleser bemühte sich, die ‚Stimme‘ des Paulus erklingen zu lassen – und der Autor (Paulus) hatte nicht nur seine inhaltlichen Gedanken, sondern seine ganze rhetorische Kraft den Buchstaben anvertraut. 203

Bei der Aufführung des Briefes kam es entscheidend auf den Vorlesenden und dann bei der anschließenden Aussprache auf den Briefboten des Paulus an. So wird der Erfolg des von Paulus nach Korinth geschriebenen Briefes (2 Kor 2,4) wesentlich auf das Geschick des Titus zurückzuführen sein. 204 Schließlich ist noch das Werk von Ernst R. Wendland (2008) zu nennen, der vier kürzere neutestamentliche Briefe auf ihre mündliche Wirkung hin untersucht.205 Sein Ziel ist nicht allein das angemessene Verstehen der biblischen Texte, sondern darüber hinaus ihre Übersetzung in moderne Sprachen. Weil die Texte dazu bestimmt waren, mündlich vorgetragen zu werden und auf diese Weise ihre Wirkung beim Hörer zu entfalten, soll die moderne Übersetzung nicht nur dem semantischen Inhalt gerecht werden, sondern für das mündliche Medium geeignet sein und beim heutigen Hörer eine Wirkung haben, die dem ursprünglichen Text entspricht. Wendland nennt das eine “literary funktional equivalence (LiFE) translation.” 206 Nach einer Einführung in die Performanzkritik konzentriert sich seine Analyse der Texte darauf, im Text Spuren der Mündlichkeit zu erkennen und ihre rhetorische Wirkung zu bestimmen. Dazu dienen vor allem Methoden, die 202

Botha 1992b, 27–30; die briefliche Parusia im Anschluss an Funk 1967. Sellin 2006, 411 (kursiv im Original). 204 Johnson 2009; vgl. Mitchell 1992, 642; Wire 1995, 130. 205 Wendland 2008. Er untersucht den Jakobusbrief, den ersten Johannesbrief, den Philemonbrief und den ersten Petrusbrief. 206 Wendland 2008, 259–267; vgl. Wendland 2006 und Maxey 2009. 203

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

den Text rhetorisch und stilistisch untersuchen. Wendland nennt fünf Arbeitsschritte: 1) Gattungsanalyse, 2) Analyse des Textaufbaus durch Untersuchung der „compositional shifts“ (Wechsel von Ort, Zeit, Person, Thema usw.), 3) Analyse aller Formen von sprachlicher oder lautlicher Wiederholung („patterned recursion“ wie Parallelismus, Inclusio), 4) Beachtung der rhetorischen Intensität und Betonung („artistic highlighting“ durch rhetorische Fragen, Übertreibung, Ironie, Metaphern, Ausrufe, aber auch durch die lautliche Gestalt der Sprache wie Rhythmus, Assonanz, Reim, Alliteration) und schließlich 5) eine umfassende rhetorische Analyse des Textes. 207 Diese Methodenübersicht zeigt bereits, dass das Werk Wendlands stark an der lautlichen Gestaltung und rhetorischen Wirkung des Textes interessiert ist, weniger an dem Ereignis der Performanz selbst. So wird zum Beispiel die Reaktion des Publikums kaum bedacht – trotz Betonung, wie wichtig die Rolle des Publikums ist.208 Auch die Rolle des Vortragenden erscheint bei Wendland begrenzt auf eine genaue Reproduktion des Textes. 209 Es geht Wendland mehr um eine „Proklamation“ des autoritativen Textes, weniger um „Performanz“. 210 Die hier vorliegende Studie greift die vielfältigen Anregungen zur Performanzkritik auf und wendet sie auf die Paulusbriefe an. Zuvor muss aber noch das Wesen von Performanz bedacht werden. Bisherige Studien haben verschiedene Listen von wichtigen Arbeitsschritten der Performanzkritik erstellt,211 aber keine Kriterien geliefert, mit deren Hilfe die Arbeitsschritte evaluiert und zueinander in Beziehung gesetzt werden könnten. Deshalb lässt sich schwer sagen, ob eine Aufzählung zu umfangreich ausgefallen ist oder ob etwas fehlt. Es ist eine möglichst genaue Vorstellung von dem nötig, was Performanz eigentlich ausmacht. Sie wird den Blick schärfen 207 Diese Übersicht über die Arbeitsschritte bietet Wendland 2008, 214; die Durchführung für Jakobus 70–95, für Philemon 215–258. 208 Zum Beispiel Wendland 2008, 16–17. 209 Wendland 2008, 53 (kursiv im Original): “It seems probable that the conservative Jewish scribal tradition put a much greater emphasis upon the accurate reproduction and a precise reading (recitation, cantillation, singing) of the biblical text than on its energetic performance before a religious congregation.” S. 54: “Indeed, it was presented orally in a communal setting, no doubt often on the basis of the emissary-herald’s memory (perhaps aided by a sparse ‘note page’ of key terms or topics), but the emphasis would still have been upon the writer’s message, not the manner in which it was dramatically ‘performed,’ as if it were a conventional stage production or a secular oration on some current socio-political issue.” 210 Wendland 2008, 54–56. 211 Loubser 2007, 73, 76 hat zunächst sieben, dann fünf Methodenschritte; Rhoads 2006, 126–131 listet sieben Aspekte des Performanz-Ereignisses auf, 173–180 werden 13 Methoden der Performanzkritik genannt, gefolgt von einer Reihe von 9 aufeinanderfolgenden Arbeitsschritten; Wendland 2008, 214 hat fünf Aspekte; vgl. auch die Kapitel bei Shiner 2003, die nach einer Einführung (Kap. 1 und 2) sieben Aspekte widerspiegeln.

1.2 Wesen der Performanz

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für die Fragen, die Performanzkritik an den Text stellen muss, wird diese Fragen angemessen systematisieren und wird zugleich helfen, eine Abgrenzung zu anderen Methoden der Textinterpretation zu finden.

1.2 Wesen der Performanz 1.2 Wesen der Performanz

Die Methode der Performanzkritik, wie sie aus der Rhetorik und der Mündlichkeitsforschung herausgewachsen ist, geht davon aus, dass ein biblischer Text, etwa ein Paulusbrief, dadurch zur Wirkung kommt, dass er vor einer Zuhörerschaft laut vorgetragen wird, also nicht wie in unserer Kultur üblich als geschriebener Text von einzelnen Lesern mit den Augen aufgenommen und dadurch in seinem Sinn verstanden wird. Mit dieser etwas ungenauen und vorläufigen Bestimmung dessen, was unter Performanz zu verstehen ist, arbeiten die meisten der Autoren, die diese Methode vorstellen. 212 In den Worten von David Rhoads: “These compositions [the New Testament writings] were oral presentations. There was a performer or storyteller. The performances were heard/experienced rather than read. There was a communal audience. There was a physical location and a socio-historical circumstance that shaped the performance and the reception.”213 Rhoads vergleicht die ursprünglich selbstverständliche mündliche Aufführung biblischer Texte mit der Aufführung von Musik und Theaterstücken und fragt, warum Bibelausleger die Texte analysieren, ohne je eine Aufführung zu erleben oder ihren Performanzcharakter zu berücksichtigen. 214 Er stellt den mündlichen Vortrag dem Lesen des geschriebenen Textes gegenüber. Das ist ein Gegensatz zweier verschiedener Medien für die Übermittlung eines sprachlichen Inhalts. Tatsächlich war es ein wichtiger Impuls bei der Herausbildung der Performanzkritik, die Mündlichkeit als das Medium zu berücksichtigen, das in der Antike zur Übermittlung der biblischen Botschaft verwendet wurde.215 Thomas E. Boomershine formuliert im Anschluss an Marshall McLuhans Aussage, dass das Medium die Botschaft ist: “Media criticism is based on the recognition of the causal

212 Vgl. den Versuch einer – wenn auch etwas unsystematischen – Umschreibung dessen, welche Aspekte zu Performanz gehören, bei Giles und Doan 2009, 12–16, 20–23. 213 Rhoads 2006, 118; vgl. Rhoads 2004, 177–186. 214 Rhoads 2006, 119. Der Vergleich mit der Musik findet sich häufig, z. B. Boomershine 1987, 54; Saenger 1982, 371: “A written text was essentially a transcription which, like modern musical notation, became an intelligible message only when it was performed orally to others or to oneself.” Der Vergleich, dass in der Antike Texte wie Musik über das Hören des laut Gelesenen aufgenommen und verstanden wurden, findet sich schon bei Hendrickson 1929/30, 184. 215 Zum Beispiel Boomershine 1987, 49–51.

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

relationship between medium and meaning.”216 Allerdings ist mit der Berücksichtigung der Mündlichkeit noch nicht ausreichend erfasst, was Performanz ausmacht. Rhoads nennt in seiner Umschreibung der Performanz auch das Publikum und die sozio-kulturellen Bedingungen der Aufführung. Wie gehören sie zur Performanz dazu? Deshalb müssen wir nach dem Wesen einer Performanz fragen. Als sehr einflussreich in der Erörterung dieser Frage haben sich die Untersuchungen von Richard Bauman erwiesen, der sich als Anthropologe mit der Performanz von traditionellen sprachlichen Kunstwerken wie Heldenliedern, Preisliedern, Erzählungen, Weisheitssprüchen, dichterischen Rededuellen und religiösen oder zeremoniellen Reden beschäftigt hat. Er definiert Performanz folgendermaßen: Fundamentally, performance as a mode of spoken verbal communication consists in the assumption of responsibility to an audience for a display of communicative competence … Performance involves on the part of the performer an assumption of accountability to an audience for the way in which communication is carried out, above and beyond its referential content. From the point of view of the audience, the act of expression on the part of the performer is thus marked as subject to evaluation for the way it is done, for the relative skill and effectiveness of the performer’s display of competence. Additionally, it is marked as available for the enhancement of experience, through the present enjoyment of the intrinsic qualities of the act of expression itself.217

Diese Definition enthält wichtige Hinweise für eine Performanztheorie und soll hier als Ausgangspunkt der Überlegungen dienen, die zu einer für die Performanzkritik der Paulusbriefe brauchbaren Bestimmung von Performanz führen sollen. 1.2.1 Materialität und Körperlichkeit Bauman definiert Performanz als eine spezielle Art der Kommunikation. Diese Kommunikation zeichnet sich dadurch aus, dass es besonders auf die Art ihrer Ausführung ankommt, und zwar über das hinaus, was die Sprache inhaltlich ausdrückt. Bauman schließt damit an John L. Austin an, der wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Begriffe „Performanz“ und „Performativität“ in der heutigen Diskussion eine so große Rolle spielen. 218 Austin unterscheidet einen „normalen“ Gebrauch von Sprache, der etwas bezeichnet oder beschreibt, von einem performativen Gebrauch, der mittels Sprache etwas tut oder bewirkt. Er zeigt den performativen Gebrauch vor allem an solchen Sprechakten wie Versprechen, Schwören, Benennen usw. Dabei werden Verben gebraucht, die das aussagen, was mit ihrem Gebrauch getan wird, wo die Sprache also nicht auf die außersprachliche 216

Boomershine 1987, 51; vgl. McLuhan 1964, 7. Bauman 1977, 11; vgl. Bauman 1986, 3. 218 Zum Konzept der Performativität bei Austin und Searle vgl. Carlson 2004, 61–63. 217

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Welt verweist, sondern auf sich selbst, auf ihren eigenen Vollzug, durch den sie die außersprachliche Welt verändert. Solche Äußerungen werden nicht danach beurteilt, ob sie wahr oder falsch sind, sondern ob sie gelingen oder nicht. Der Gegensatz zwischen referentiellem und performativem Gebrauch von Sprache ist allerdings nicht absolut. Austin selbst hat im weiteren Verlauf seiner Ausführungen diesen Gegensatz aufgegeben, weil sich keine klaren grammatischen Kriterien für eine Unterscheidung angeben ließen und auch referentielle Aussagen gelingen oder misslingen können. 219 Stattdessen hat er dann für alle sprachlichen Äußerungen drei Aspekte des Handelns unterschieden: lokutionär (die Produktion einer den Regeln entsprechenden Aussage), illokutionär (die durch das Gesagte vollzogene Handlung) und perlokutionär (die Wirkung auf den Adressaten). 220 Dennoch hat Austin mit der Untersuchung performativer Äußerungen die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt der Sprache gerichtet, der lange Zeit wenig bedacht wurde. Anders als Austin hat Bauman den Fokus nicht nur auf den Sprachgebrauch, sondern auf die kommunikativen Fähigkeiten insgesamt gelegt, die bei der Aufführung von sprachlichen Werken vor einem Publikum dargestellt und von diesem beurteilt werden. Bauman stellt die Art der Kommunikation, ihre Techniken, wie etwas gesagt wird, ins Zentrum, nicht den referentiellen Inhalt. So erscheint bei Bauman, ähnlich wie bei Austin, die Referenzfunktion der Kommunikation wie ein Gegensatz zur Performanz, als käme es bei der Performanz auf eine inhaltliche Aussage nicht an. Das ist natürlich nicht der Fall, denn auch die Aufführung sprachlicher Kunst oder traditioneller Texte verweist auf etwas Außersprachliches und lässt sich inhaltlich verstehen und deuten. Dieser Gegensatz ist also nicht absolut, sondern diente vor allem dazu, das Besondere der Performanz herauszuheben, nämlich das, was beim Umgang mit sprachlicher Kommunikation lange vernachlässigt war und nun in den Fokus genommen wurde: die mediale Seite der Kommunikation. 221 Unter dem Einfluss von neuen Entwicklungen in der Theaterkunst und besonders angeregt durch die Aktionskunst bzw. Performanzkunst hat die Performanztheorie den Gegensatz zwischen Zeichenhaftigkeit und Media219

Vgl. dazu Bohle und König 2001, 15–17; Krämer und Stahlhut 2001; Krämer 2002, 333; Krämer 2003. 220 Die damit begründete Sprechakttheorie wurde von Searle 1969 weitergeführt. 221 Hier berührt sich die Performanzforschung mit dem verstärkten Interesse an der Mündlichkeit und dem Unterschied zwischen mündlicher und schriftlicher Tradition. Das Medium ist bei Bauman allerdings nicht einfach nur die mündliche Sprache, sondern auch die körperliche Präsenz, die Kunstfertigkeit und Wirksamkeit des Vortragenden insgesamt.

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lität bzw. Materialhaftigkeit weiter reflektiert und verallgemeinert. 222 Erika Fischer-Lichte arbeitet im Anschluss an die Theatertheorie von Max Herrmann heraus, dass es der menschliche Körper ist, der als Bedingung der Performanz zu gelten hat, und zwar in einer leiblichen Ko-Präsenz von Performer und Publikum. 223 Dabei wird der menschliche Körper nicht nur und oft nicht einmal zuerst als ein Zeichen für eine vorhandene Bedeutung aufgefasst. So nämlich hatte man seit dem 18. Jahrhundert die Aufgabe des Schauspielers verstanden, der die Figur eines Stücks möglichst so perfekt zu „verkörpern“ hatte, dass der eigene Körper des Schauspielers unsichtbar wurde und hinter der gespielten Rolle verschwand. Das erwies sich als Illusion. 224 Im Gegensatz dazu holen modernes Theater und Aktionskunst ans Licht, was schon immer für die Performanz galt: Der menschliche Körper wird in seiner Materialität direkt wahrgenommen und von den Zuschauern erlebt. Erika Fischer-Lichte kommentiert eine Performanz einer Aktionskünstlerin: Die Körper- bzw. Materialhaftigkeit der Handlung dominierte hier also bei weitem ihre Zeichenhaftigkeit … Sie ist vielmehr jedem Versuch einer Deutung, die über die Selbstreferentialität der Handlung hinausgeht, vorgelagert. Die körperliche Wirkung, welche die Handlung auslöst, scheint hier Priorität zu haben. Die Materialität des Vorgangs wird nicht in einen Zeichenstatus überführt, verschwindet nicht in ihm, sondern ruft eine eigene, nicht aus dem Zeichenstatus resultierende Wirkung hervor.225

Was bei Austin die sprachlichen Äußerungen eines Sprechakts sind, die auf nichts anderes verweisen als auf das, was sie selbst aussagen, das ist bei der Performanz die Selbstreferentialität der Handlung, die zuerst einmal nichts anderes ausdrückt als das, was sie vollzieht, die also auf sich selbst verweist. Willmar Sauter untersucht besonders die Performanz im Theater und kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Auch für ihn ist ein „Theaterereignis“ ein Akt der Kommunikation. 226 Er stellt ein dreigliedriges Schema für die Interaktion zwischen Performer und Publikum vor. Die erste Ebene ist der „sensory level“, wo der Performer seinen Körper und seine geistige Verfassung in „exhibitory actions“ einem Publikum präsentiert und das Publikum mit Aufmerksamkeit und mit Gefühlen reagiert. Das entspricht etwa der medialen Ebene bei Bauman oder der körperlichen Ebene bei 222

Vgl. Fischer-Lichte 2004, 17–21; 2003c, 98–100; Fischer-Lichte und Roselt 2001, 242–244; Krämer 2002, 345. 223 Fischer-Lichte 2003c, 103–104; 2004, 46–57. 224 Zur Körperlichkeit der Aufführung und zur Veränderung der Vorstellung von „Verkörperung“ im Theater durch die „performative Wende“ siehe Fischer-Lichte 2003a, 20–22; 2004, 130–160. 225 Fischer-Lichte 2004, 21. 226 Sauter 2000, 6–9, 53–61.

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Fischer-Lichte. Die zweite Ebene bei Sauter ist der „artistic level“, wo der Performer in „encoded actions“ Handlungen vollzieht, die die künstlerische Fähigkeit des Performers zeigen, die aber auch die gesellschaftlichen Konventionen über die Art der Performanz und die damit verbundenen Erwartungen berücksichtigen. Auch diese Ebene hat zu tun mit der medialen Seite der Kommunikation, bezieht aber das mit ein, was Bauman durch die Rahmung zu erfassen sucht. 227 Die dritte Ebene bei Sauter ist der „symbolic level“, wo die Handlungen der Performer – wie er sie nennt – „embodied actions“ sind, also Handlungen, denen eine Bedeutung zugeschrieben wird, und zwar sowohl durch den Performer als auch durch das Publikum. Alle drei Ebenen in Sauters Konzept, ebenso wie die beiden Seiten der Kommunikation bei Bauman, beeinflussen einander. Sie können zwar unterschieden werden, werden jedoch gleichzeitig erlebt, wenn auch mit wechselnder Intensität. Man kann eine Aufführung eines Künstlers erleben und ihre inhaltliche Aussage zu verstehen suchen und kann zugleich auf seine künstlerischen Fähigkeiten achten. Man kann sich aber auch ganz auf die inhaltliche Aussage konzentrieren. Oder man kann die Aufführung des Künstlers bewundern, ohne den symbolischen Inhalt des Dargestellten zu beachten oder zu verstehen. Wir können also als ein wesentliches Merkmal der Performanz festhalten, dass es auf den Einsatz der Körperlichkeit derer ankommt, die etwas aufführen, und derer, die die Aufführung erleben: auf das Können oder Nichtkönnen der Akteure,228 auf ihre Präsenz und Verkörperung, auf ihre und der Zuschauer Organisation im Raum, auf ihre Zeitlichkeit und Endlichkeit, auf ihren Atem, der Stimme ermöglicht und wieder vergehen lässt.229 Die Körper der an der Performanz Beteiligten und das mit ihnen Vollzogene, also das gesprochene Wort, die Gesten, die Bewegungen im Raum usw., werden dabei nicht nur als Zeichenträger wahrgenommen – obwohl alles auch Zeichen sein kann und meistens sein wird –, sondern auch als eigene Realität mit eigener Wirkung. So ist das, was aufgeführt wird, nicht allein und manchmal nicht einmal primär ein Text, der durch einen hermeneutischen Zugang erschlossen werden muss, sondern es ist das Ereignis selbst, worauf es ankommt. Es geht nicht allein um ein Verstehen, sondern auch um ein Erleben. Wie geschieht das Erleben, wenn die Wirkung einer Performanz nicht allein und oft nicht einmal primär dadurch ausgelöst wird, dass eine im 227

Dazu siehe unten auf S. 51–52. Sauter 2000, 174–186 stellt fest, wie entscheidend die Qualität der Schauspieler für die Bedeutsamkeit der gesamten Aufführung ist. Vgl. auch S. 4: “If a spectator does not like the actors, the performance becomes ‘meaningless.’” 229 Zur Präsenz Fischer-Lichte 2004, 160–175, zur Räumlichkeit 187–199, zur Stimme 219–226, zur Zeitlichkeit 227–239. 228

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Skript oder im aufgeführten Text vor-gedachte Bedeutung verstanden wird? Es wird ausgelöst durch ein körperliches Empfinden. 230 Das Hören der Stimme von Sprechern, das Wahrnehmen von Gesten und Bewegungen, auch Gerüche und nicht selten Berührungen, alles das sind zuerst einmal körperliche Geschehnisse, die auch körperlich auf das Publikum einwirken. Sie bewirken ein Empfinden, das nicht durch ein Verstehen der Gesten und Laute entsteht, sondern durch Mimesis, durch ein Nachvollziehen dessen, was die Akteure mit dem Körper tun. Diese körperliche Wirkung wird oft mit der Metapher der „Ansteckung“ umschrieben. 231 Die Haltungen, Anspannungen und Bewegungen beim Sprechen und Agieren vor dem Publikum, also die Materialität der Körper, lösen im Publikum korrespondierende körperliche Reaktionen aus – selbst wenn sie nur ganz rudimentär wären. Peter Middleton erklärt in einer Studie über öffentliche Lesungen von Lyrik diese körperliche Reaktion am Beispiel des Tanzes: Alongside this conscious activity of semiotic interpretation is another kinesthetic response, equally cognitive, but not linguistic, in which the audience senses the movements of the dancers in terms of their own bodies … The watcher dances with the dancer in an imaginative empathy which is not allowed to call the musculature to action … Similarly, a sound heard as the voice of another also produces virtual responses throughout the bodies of the audience. When the speaker utters the poem, the listeners also speak it in virtuality. 232

Über den Prozess der Interpretation des Gehörten hinaus wird also in einer Performanz eines Textes für alle Beteiligten eine weitere Ebene der Erfahrung eröffnet, und zwar die Erfahrung der gehörten Laute in ihrer körperlichen Resonanz und in der körperlichen Kenntnis ihrer Produktion, die durch den Vortragenden bei den Zuhörern ausgelöst wird. Aus dem körperlichen Erleben einer Performanz resultieren weitere körperliche Reaktionen, zum Beispiel, dass die Zuschauer oder Zuhörer den Atem anhalten, Muskeln anspannen, zittern, weinen oder lachen. 233 Über alle diese Körperreaktionen kommt ein Verstehen mit dem Körper zustande – zum Beispiel Antizipation von Gefahr, von Schmerzen, ein Gefühl für Verletzlichkeit, Erregtsein, Beschwingtsein –, das dann das Verstehen über das Denken anstößt, durch das sich also Sinn erschließt. Bei diesem Prozess des körperlichen Erlebens geht das Denken also der körperlichen Reaktion nicht voraus, sondern folgt ihr nach. 234 Dadurch werden durch 230

Vgl. die Diskussion der Ansätze von Eugenio Barba bei Carlson 2004, 27. Fischer-Lichte 2004, 54, 138, 162–166. 232 Middleton 1999, 240–241. 233 Besonders deutlich erkennbar ist das bei artistischen Vorführungen oder bei gewagten körperlichen Gefahren (Stierkämpfe), auch bei Selbstverletzungen in Performanzkunst. 234 Vgl. Schechner 1990, 35–36; besonders S. 41: “The doing of the action of a feeling is enough to arouse the feeling both in the doer and in the receiver.” 231

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vielfältige Assoziationen und Vernetzungen neue Deutungsmöglichkeiten eröffnet.235 Die Performanz generiert erweiterte Bedeutung, sie verwirklicht nicht nur das im Skript oder im Text Vorgegebene. Natürlich ist jede Kommunikation auf ein Medium angewiesen, und die Art und Weise, wie das Medium als Material verwendet wird, spielt immer eine wichtige Rolle. Auch für die schriftliche Kommunikation gibt es ein Bewusstsein für die Medialität, die zum Beispiel durch Kalligraphie und Buchkunst in den Blick kommt. Aber der bisher vorherrschende hermeneutische Zugang ließ die Art, wie etwas präsentiert wird, immer vor allem als zu deutendes Zeichen in den Blick kommen. Begünstigt durch den weiten Gebrauch der Schrift, die ja große Teile der mündlichen Kommunikation nicht codieren kann, ist das zur scheinbar normalen Praxis des Umgangs mit sprachlichen Äußerungen geworden. Die Performanztheorie macht darauf aufmerksam, dass das eigentlich eine Reduktion ist. 1.2.2 Rahmung durch gesellschaftliche Konventionen In seiner oben zitierten Definition bestimmt Bauman Performanz als eine besondere Art von Kommunikation. Sie ist herausgehoben aus anderem Kommunikationsgeschehen durch eine bestimmte Markierung. Durch bestimmte gesellschaftlich definierte Signale wissen die Anwesenden, dass sie in der Rolle eines Publikums sind und die Art und Weise der Kommunikation – die ästhetische Qualität, die Fähigkeiten des Vortragenden, seine Wirksamkeit – beachten und auch beurteilen sollen. John Miles Foley nennt den durch diese Signale geschaffenen Raum die „performance arena“. 236 Das ist der „Ort“, wo die Performanz stattfindet und alle Beteiligten, Vortragende und Publikum, körperlich anwesend sind und sich auf das Geschehen einstellen. Den Gedanken, dass bestimmte soziale Ereignisse und Handlungen durch gesellschaftlich definierte kommunikative Signale abgegrenzt, „gerahmt“ sind, hat Bauman von Erving Goffman übernommen. Die schon von Gregory Bateson für das Spiel diskutierte Rahmung und die den Rahmen markierenden „Schlüssel“ („keys“) hat Goffman für die soziale Interaktion analysiert.237 Ein wichtiges Beispiel bei ihm ist das Ereignis „Theater“. Als Zeichen für solche Rahmungen dienen sowohl institutionalisierte Settings, dazu gehören etwa räumliche Markierungen oder auch zeitliche Informationen, als auch Beziehungszeichen wie Gestik, Mimik, Körperhaltungen und Bewegungen. Bauman führt eine Anzahl von Markierungen („keys“) auf, die für Aufführungen gelten. Foley übernimmt und 235

Vgl. Middleton 1999, 242. Foley 2002, 116–117. 237 Bateson 2007 (1955); Goffman 1974; vgl. Carlson 2004, 35–36, 45–46. 236

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diskutiert diese Markierungen und weist darauf hin, dass sie kulturabhängig sind. 238 In der „performance arena“ werden die Worte mit besonderer Bedeutung aufgeladen. Die Rahmung schafft einen Interpretationsrahmen (Bauman), so dass das Gesagte nicht einfach nur nach dem üblichen Wortsinn und in den normalen Konventionen gedeutet wird. Baumans strenge Gegenüberstellung von inhaltlich orientierter und performativer Kommunikation lässt ihn formulieren: “In artistic performance of this kind, there is something going on in the communicative interchange which says to the auditor, ‘interpret what I say in some special sense; do not take it to mean what the words alone, taken literally, would convey.’” 239 Foley betont die Rolle der Tradition, die das in der Performanz Gesagte mit Bedeutung anreichert.240 Dabei geht es nicht nur um den Wortsinn, sondern um alle Elemente der Kommunikation, die in der Performanz eingesetzt werden. So wird zum Beispiel in einer Performanz, auch in einem Redevortrag, das Groteske oder die Übertreibung nicht als unangemessen erlebt, so etwas wird sogar eher erwartet. Auch ist im Rahmen einer Performanz mehr möglich als im realen Leben, zum Beispiel werden gesellschaftliche Konventionen darüber, was in der Öffentlichkeit akzeptabel ist, auf der Bühne außer Kraft gesetzt (im Theater werden Verbrechen aufgeführt, Schauspieler können auf der Bühne nackt auftreten, Performanzkünstler verletzen sich selbst).241 Die Rahmung der Performanz durch gesellschaftlich definierte Markierungen macht deutlich, dass Performanz immer in einen gesellschaftlichen Kontext gehört.242 Performanz kann daher in verschiedenen Kulturen und Gesellschaften ganz unterschiedlich aussehen. Jedes Studium der Performanz muss diesen Kontext mit bedenken. 243 1.2.3 Interaktion mit dem Publikum und im Publikum Ein drittes Element in Baumans Definition von Performanz ist die Gegenwart eines Publikums. Der Vortragende übernimmt vor einem Publikum 238

Bauman 1977, 15–24; Foley 2002, 85–93. Bauman 1977, 9. 240 Foley 2002, 117–122. 241 Fischer-Lichte 2004, 11 verweist auf Performanzkunst, wo die Grenzen der Markierungen ausgetestet werden: Wenn die Performanzkünstlerin sich selbst verletzt, soll man eingreifen oder nicht? Gilt das übliche Handeln, wo man aus Menschlichkeit eingreifen würde, oder ist durch die Performanz ein anderes Handeln angemessen, wo man auch ungewohnte Handlungen der Künstlerin respektiert? 242 Vgl. Fischer-Lichte 2004, 32. 243 Vgl. Sauter 2000, 9–10. Foley 2002, 128–130 verweist darauf, wie vielfältig die von ihm untersuchte mündliche Dichtung [„Oral Poetry“] ist, und verschiebt daher das Augenmerk von der Frage, was Oral Poetry ist, zu der Frage, wie sie wirkt. 239

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die Verantwortung für die Art der Gestaltung. Das Publikum ist nach Bauman die Gruppe von Beteiligten, die die mediale Qualität des Vorgetragenen beurteilen. Was sie hören und sehen, bewerten sie nach der Art, wie es gestaltet ist (Fähigkeiten des Vortragenden, Effektivität). Die gesellschaftliche Konvention, die die Rahmung des Ereignisses markiert, drängt sie in diese Rolle. Damit ist allerdings nur eine Seite dessen beschrieben, was das Publikum zu einer Performanz beiträgt. Es ist nämlich ebenso wie die Akteure beteiligt am gesamten Prozess der Aufführung. Zeugnisse aus der Antike belegen, dass die Publikumsreaktionen bei Theateraufführungen und Redevorträgen lebhaft waren. 244 Dabei wurden nicht nur die Vortragenden, sondern auch einzelne Zuschauer, die durch ihre Reaktion Aufmerksamkeit erregt hatten, durch Beifall ausgezeichnet oder durch Zurufe verhöhnt. Aufführungen hatten Volksfestcharakter, und das gilt von den antiken Spielen zu Ehren der Götter bis zu Theater- und Akrobatikaufführungen mit ihrer langen Geschichte. Erst im Theater des 18. Jahrhunderts bekam das Publikum seinen Platz im verdunkelten Raum zugewiesen, von dem es möglichst unsichtbar und unhörbar wie durch ein Fenster das Geschehen auf der Bühne beobachtete.245 Auch angeregt durch die Anthropologie und ihre Erforschung von Ritualen, in denen es zwar Hauptakteure gibt, aber in denen doch jeder Teilnehmer, auch der bloße Zuschauer, am Gesamtgeschehen beteiligt ist, hat die moderne Theater- und Performanzkunst den strikten Gegensatz zwischen Akteuren und Publikum im Theater des 18. und 19. Jahrhunderts wieder aufgebrochen. 246 Die moderne Performanztheorie zeigt, dass das Publikum nicht nur Beobachter und Kritiker ist, also nicht nur damit beschäftigt, die gebotenen Zeichen zu entschlüsseln und zu deuten. 247 Das Publikum reagiert auf das, was aufgeführt wird, und umgekehrt reagieren die Akteure auf das Verhalten des Publikums. 248 Es entsteht das, was Erika Fischer-Lichte eine „autopoietische feedback-Schleife“ nennt. 249 Diese feedback-Schleife um244 Kindermann 1979, 22, 24, 129; Korenjak 2000, 68–149; heftige Publikumsreaktionen bei politischen Reden beschreibt Morstein-Marx 2004, 119–124. 245 Fischer-Lichte 2004, 59. 246 Für das Theater vor allem Max Reinhardt, Richard Schechner; vgl. dazu FischerLichte 2004, 58–67. 247 Sauter 2000, 2 betont die Mitwirkung des Publikums beim Generieren von Bedeutung. “Here it is important to keep in mind that in the theatre the ‘message’ is not something which is neatly packed and distributed to an anonymous consumer, instead, the meaning of a performance is created by the performers and the spectators together, in a joint act of understanding.” Vgl. Fischer-Lichte 2003b, 39. 248 Sauter 2000, 60–61. 249 Fischer-Lichte 2004, 59–61.

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fasst alle Anwesenden. Auch die Reaktionen des Publikums untereinander spielen eine bedeutende Rolle. 250 Barbara Kirshenblatt-Gimblett berichtet über chassidische Aufführungen von Purim-Spielen im jüdischen Lehrhaus in Brooklyn, wo für die Zuschauer ein wesentlicher Teil der Performanz in den Reaktionen des Rabbis besteht, der einen prominenten Platz vor der provisorisch errichteten Bühne einnimmt, und wo wegen der Abtrennung des Frauenbereichs viele Frauen im Publikum weder in der Lage waren, den Rabbi zu sehen, noch das Geschehen auf der Bühne verfolgen konnten, aber die Performanz durch die Reaktion der weiter vorn Stehenden miterlebten. 251 Es ist auch daran zu denken, wie prominente Persönlichkeiten im Publikum – meist an exponierter Stelle platziert – durch ihre Reaktion das übrige Publikum beeinflussen. 252 Die Interaktion des Publikums untereinander und die Abhängigkeit der gesamten Performanz von der Reaktion des Publikums haben von der Antike bis zur Neuzeit bestellte, manchmal auch bezahlte Claqueure ausgenutzt.253 Die Verantwortung für das Geschehen liegt also nicht allein bei den Vortragenden. 254 Die Inszenierung, also die überlegten und vorbereiteten Strategien, die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu lenken und ein Geschehen für sie präsent zu machen, kann nicht letztlich determinieren, wie die Aufführung verlaufen wird. 255 Inszenierung kann vom Publikum erkannt werden oder unbemerkt bleiben. Wenn sie erkannt wird, wird die Inszenierung auch mit beurteilt. Zu erkennen, wie die Aufführung geplant und gestaltet ist, behindert nicht notwendig das Erlebnis der Aufführung. 256 Die leibliche Präsenz von Publikum und Akteuren ermöglicht die Interaktion, zu der auch die Interaktion des Publikums untereinander gehört. Die Aufführung ist das Resultat dieser Interaktion. Der Blick auf die Performanz verlegt also den Schwerpunkt weg von dem aufgeführten „Stück“, das als vorhandenes Werk lange im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, hin zu dem Ereignis selbst und allen daran Beteiligten.

250 Vgl. Fischer-Lichte 2004, 54–55, die im Anschluss an Max Herrmann davon spricht, dass sich das Publikum in seinem Erleben gegenseitig „ansteckt“. 251 Kirshenblatt-Gimblett 1990, 114. 252 Vgl. für die Antike Kindermann 1979, 25–27. Korenjak 2000, 149 verweist auf Philostratus, der in den Vitae Sophistarum von der Einflussnahme des Caracalla auf die Zuhörer beim Vortrag des Sophisten Heliodor, eines Günstlings des Kaisers, berichtet. 253 Kindermann 1979, 22 (griechisch), 128–129 (römisch); Morstein-Marx 2004, 132– 135; Korenjak 2000, 124 –127. 254 Vgl. Fischer-Lichte 2004, 47–57. Sie verweist auf Max Herrmann, der das Theater als „ein Spiel aller für alle“ beschrieb. 255 Zur Definition von Inszenierung vgl. Fischer-Lichte 2004, 236–330. 256 Fischer-Lichte 2004, 331–332.

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1.2.4 Ephemeralität und Emergenz durch die autopoietische feedbackSchleife Richard Bauman hat in seiner Definition darauf verwiesen, dass Performanz eine Erfahrung bietet, die darin besteht, sich an der Qualität des Kommunikationsaktes selbst im Moment der Aufführung zu erfreuen. Damit ist der Ereignischarakter der Performanz angedeutet. Es entsteht nicht etwas Bleibendes, etwa ein Kunstwerk, sondern das Eigentliche, worum es geht, ist nur während der Performanz vorhanden. Performanz ist flüchtig. 257 Das wird besonders deutlich in der modernen Performanzkunst. Sie wird zwar durch Text und Bild oder auch durch Videoaufzeichnungen dokumentiert, aber diese Dokumente können die Performanz selbst nicht erfassen oder konservieren. Auch die Aufführungen kultureller mündlicher Traditionen, wie sie Bauman erforschte, oder traditioneller Theaterstücke, deren Text schriftlich vorliegt, werden unter Performanz-Gesichtspunkten nicht zuerst als Übermittlung eines permanenten Inhalts verstanden, sondern als unwiederholbare Präsentation der rhetorischen und darstellerischen Kompetenz der Akteure. An der Einmaligkeit und Ephemeralität der Performanz ist auch das Publikum wesentlich beteiligt. Der Vortragende ist ständig gefordert, die Aufmerksamkeit des Publikums zu halten – gegen äußere Einflüsse, gegen Ablenkung aus dem Publikum und gegen alle Formen von Ermüdung. 258 Alles, was im Publikum geschieht, löst Reaktionen aus, auch bei den Vortragenden. Die Interaktion zwischen allen Beteiligten bestimmt das Performanz-Ereignis. Keine Aufführung gleicht der anderen, weil die Situation der Darsteller und die unvorherzusehende Zusammensetzung und Einstellung des Publikums immer wieder anders ist. Diese unvorhersehbaren Elemente jeder Performanz sorgen zugleich für ihren emergenten Charakter. Es entsteht jedes Mal etwas Einmaliges. Performanz bringt im Moment des Geschehens etwas hervor, was es vorher nicht gab und nie wieder geben wird. Erika Fischer-Lichte erörtert die Emergenz der Performanz anhand der „autopoietischen feedback-Schleife“.259 Alles, was in der Performanz geschieht, sowohl auf der Seite der Darsteller als auch auf der Seite des Publikums, wirkt zurück auf die Performanz selbst. Das ist unvermeidbar durch die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern. So entstehen, auch aus geringsten Anlässen, neue, unvorhergesehene Situationen. 257

Fischer-Lichte 2004, 127; 2003b, 38–39. Vgl. Middleton 1999, 221–222. 259 Fischer-Lichte 2004, 63–82 im Zusammenhang mit dem Rollenwechsel zwischen Zuschauern und Akteuren, wo die Grenze zwischen diesen beiden Gruppen verwischt wird, wo alle am Geschehen beteiligt sind, aber keiner das Geschehen allein kontrollieren kann. 258

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

Die feedback-Schleife ist eine erweiterte Form der Selbstreferentialität, die jeder Performanz eigen ist. Dabei geht es nicht nur um die Sprache, die auf sich selbst verweist, wie bei Austin, sondern das gesamte Geschehen verweist auf sich selbst und wirkt auf sich selbst zurück. Peter Middleton erörtert am Beispiel von Dichterlesungen, also einer Performanz, die einen schriftlich vorliegenden Text durch Vorlesen aufführt und dadurch dem Vorlesen von Paulusbriefen sehr nahe kommt, dass in unserer vom geschriebenen Wort geprägten Kultur eine ideale Vorstellung dieses Lesevorgangs existiert, nämlich dass ein Individuum unter optimalen Bedingungen einem Text begegnet und dass materiale Bedingungen und Begrenzungen wie Stimme und Stimmung, Raum und Licht, auch dass Unterbrechungen oder Intersubjektivität zwischen Vorlesendem und Zuhörenden für den Rezeptionsprozess eigentlich keine Rolle spielen. Solche Erscheinungen werden als Unvollkommenheiten betrachtet und möglichst ausgeblendet.260 Dabei wird übersehen, dass eine öffentliche Lesung wie ein mündlicher Diskurs gerade in Raum und Zeit geschieht und immer durch solche konkreten Ausformungen der Materialität geprägt ist.261 Was als Unvollkommenheit beim Lesevorgang betrachtet wird, ist in Wirklichkeit Teil des Aktes, ist wichtige Komponente des Ereignisses selbst, durch die der Text mit den realen Bedingungen konfrontiert wird, unter denen schließlich jede Kommunikation geschieht. Da ist es nicht gleichgültig, wer liest. Der Sprecher füllt das Gelesene mit Lebensgeschichte, mit seinem eigenen Maß an Glaubwürdigkeit, auch mit persönlicher Beziehung zwischen ihm und den Hörern. Stimme, Betonung, Gestik, aber auch Atmosphäre im Raum und Reaktion der Zuhörer produzieren einen ständigen begleitenden Kommentar zum Gelesenen, der sogar im Widerspruch zum vorgetragenen Text stehen kann. 1.2.5 Rückverweis auf bereits Vorhandenes Ein letzter Aspekt der Performanztheorie muss noch bedacht werden, der in der Definition von Bauman nur implizit anklingt. Bauman definiert eine Performanz als ein Geschehen, in dem die Kompetenz und Wirksamkeit, mit denen der Kommunikationsakt ausgeführt wird, von einem Publikum bewertet wird. Für eine solche Bewertung werden Möglichkeiten des Vergleichs mit etwas schon früher Vorhandenem benötigt. Dell Hymes, auf dem Bauman aufbaut, bezieht Performanz auch auf Tradition, wenn er 260

Middleton 1999, 221–224. Middleton 1999, 221: “Writing and silent reading have helped create assumptions about reading which would not seem so obvious in an oral society, and theorists forget that reading depends on similar conditions to discourse and, like discourse, is always an uncompleted stage in heterogeneous transactions that exceed the moment of encounter, which is itself always taking place in a material space and time.” 261

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Performanz definiert als ein Verhalten, in dem jemand “assume[s] a responsibility to an audience and to tradition as they understand it.” 262 Jede Performanz, obwohl sie etwas Einmaliges darstellt, verweist also immer auch auf etwas schon Dagewesenes zurück. “There is no performance without pre-formance.”263 Bei der Aufführung von Texten der mündlichen Tradition, wie sie Bauman untersuchte, aber auch im Theater verweist die Performanz in einem doppelten Sinn auf Vorhandenes zurück. Einerseits verweist sie inhaltlich auf den aufgeführten Text beziehungsweise auf das Theaterstück (Skript). Inhaltlicher Rückbezug liegt auch in dem, was Foley Immanent Art nannte, also der Verweis auf umfassende Elemente der Tradition, die durch eine Formel, ein Stichwort, eine Wendung für die evoziert werden, die in dieser Tradition zu Hause sind. 264 Der inhaltliche Verweis auf Vorhandenes entspricht der Referenzfunktion der Sprache, mit der sie auf etwas Außersprachliches, auf die Welt verweist. 265 Obwohl die traditionellen Texte, deren Performanz Bauman untersuchte, auf einen Inhalt verweisen, hat er in seiner Definition die inhaltliche Seite außer Acht gelassen und stattdessen die mediale Seite hervorgehoben, um die Performanz von „normaler“ Sprachverwendung zu unterscheiden. In der medialen Seite der Sprache liegt die zweite Art des Rückverweises begründet: Die Performanz verweist auf frühere Aufführungen dieses Textes oder Stückes zurück oder auch auf bisherige Konventionen von performativem Handeln. Nur so kann das Wie der Kommunikation von den Zuschauern bewertet werden. Dazu gehört auch, dass jede Performanz auf die gesellschaftlichen Bedingungen von Aufführungen verweist, auf den Rahmen, auf die Markierungen und die „performance arena“, die die Performanz erst als solche erkennbar machen. Es wird also auch dadurch auf etwas verwiesen, was es schon gibt, dass ein konventioneller Rahmen die Performanz kennzeichnet.266 Sowohl der „inhaltliche“ Verweis auf ein Skript als auch der „mediale“ Verweis auf frühere Aufführungen können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Während viele Aufführungen einen Text oder ein Stück präsentieren, verzichtet experimentelles Theater oder moderne Performanzkunst oft völlig auf ein sprachliches Skript – obwohl der Ablauf der Handlungen 262

Hymes 1975, 13, zitiert in Carlson 2004, 12. John MacAloon, zitiert bei Carlson 2004, 12; vgl. Schumacher 2002, 386–387. 264 Foley 2002, 109–124. 265 Jacques Derrida hat dagegen eingewandt, dass sprachliche Äußerungen nicht auf einer außersprachlich vorhandenen primären Realität basieren können, sondern auf frühere Diskurse zurückgreifen, also immer in gewissem Sinn Zitation sind. Vgl. dazu Kertscher 2003, 48–52; vgl. auch Carlson 2004, 75–76 und die dort genannte Literatur zur Diskussion zwischen Derrida und Searle. 266 Vgl. Carlson 2004, 76. 263

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

durchaus vorbedacht ist, soweit das der emergente Charakter der Performanz zulässt. Der inhaltliche Verweis auf etwas Früheres liegt bei diesen Aufführungen also nicht fest, sondern wird – in gewissen Grenzen – der freien Assoziation des Zuschauers überlassen, der dem Vorgeführten eine Bedeutung zuschreiben kann, indem er es mit seinem Wissen von der Welt und mit seinen früheren Erfahrungen verknüpft. 267 Auch für die mediale Seite der Performanz, die körperliche Präsenz des Künstlers und seine Fähigkeit, die Zuhörer mit seinen Aktionen zu fesseln, kann das Publikum bei solchen Aufführungen kaum auf einen Vergleich mit früheren Aufführungen zurückgreifen, sondern ist mehr auf das angewiesen, was das Ereignis in ihnen auslöst, was jedoch immer auch vorgeprägt ist durch gesellschaftliche Konventionen. Wenn sich zum Beispiel eine Performanzkünstlerin selbst verletzt, dann löst das beim Publikum Reaktionen aus, die durch Empathie, aber auch durch Wertvorstellungen oder gesellschaftliche Tabus mitbestimmt sind. 268 Auch bei der Beurteilung der medialen Qualität der Aufführung werden die Zuschauer also ganz unterschiedliche Maßstäbe anlegen, die jeweils aus früheren Erfahrungen und kulturellem Wissen konstruiert sind. Richard Schechner drückt den Bezug der Performanz auf bereits Vorhandenes aus, indem er von „restored behaviour“ spricht. 269 Demnach schließt Performanz das Bewusstsein ein, dass ein vorgeprägtes Verhalten im Spiel ist, zum Beispiel eine soziale Rolle oder eine Rolle im Theater. Andererseits wird jede Aufführung – sei es moderne Performanzkunst oder auch ganz traditionelles Theater oder die öffentliche Rezitation eines vorhandenen Textes – das Überkommene niemals nur einfach wiederholen. 270 Jede Aufführung ist zur gleichen Zeit Anknüpfung an Vorhandenes und Veränderung des Bisherigen. Das Vorgegebene wird mit dem Besonderen und Einmaligen der Personen, der Umstände, der Stimmungen in der jeweiligen Aufführung konfrontiert. So entsteht ein Bewusstsein einer Doppelung: Es wird zugleich das vorgegebene und doch – in vielfältiger Modifikation des früheren – ein neues Verhalten und Handeln vollzogen. 271 Dadurch ist jede Aufführung nicht nur eine Besinnung auf etablierte Traditionen und bewährte Rollen, sondern enthält immer auch das Potential, Traditionen zu unterlaufen oder zu durchbrechen. Im Akteur findet die beschriebene Doppelung ihren Ausdruck in der gleichzeitigen Präsentation sowohl der eigenen Person als auch der vor267

Fischer-Lichte 2004, 145, 244 spricht von einer Pluralisierung der Bedeutungsmöglichkeiten, vgl. auch Fischer-Lichte und Roselt 2001, 246–247. 268 Vgl. Fischer-Lichte 2003a, 28–29; 2004, 266. 269 Schechner 1985, 35. 270 Carlson 2004, 188; Krämer 2002, 331, 345. 271 Vgl. Carlson 2004, 46–47.

1.2 Wesen der Performanz

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gegebenen Rolle: der eigenen Person, das heißt der Mensch in seiner Individualität, mit seinem Körper und seinen Fähigkeiten und Grenzen, mit seinen Erfahrungen und Wünschen; der vorgegebenen Rolle, sei es die Rolle eines Theaterstückes, sei es die gesellschaftlich vorgegebene Rolle eines Berufsstandes wie Arzt, Pastor oder Polizist oder sei es die provozierende Rolle in einer selbst imaginierten Aktion eines Performanzkünstlers. Der Akteur ist sich bewusst, etwas Vorgegebenes darzustellen, und doch stellt er es mit seiner ganz eigenen Person, mit seinem eigenen Leib und Wesen dar. Dieses Bewusstsein der Verdoppelung ist sogar auch dann vorhanden, wenn jemand sein eigenes Verhalten mit einem Ideal oder einer Möglichkeit vergleicht, wenn also der Performer sich selbst beobachtet und bewertet, gleichsam für sich selbst das Publikum ist.272 Wir haben oben gesehen, dass die körperlichen Eigenschaften der an der Aufführung Beteiligten ebenso wie die anderen medialen Bedingungen eine wichtige Rolle spielen. Dadurch ist die Aufführung zuerst einmal ein Erlebnis, nicht gleich und allein ein intellektuelles Verstehen eines Textes oder Stückes. Dieses mit allen Sinnen des Körpers aufgenommene Erlebnis führt seinerseits zu einem Verstehen, es erschließt zusätzliche Deutungsmöglichkeiten, die über das hinausgehen, was im aufgeführten Stück oder präsentierten Text steht. Daraus ergibt sich die Frage, wie die durch das Erlebnis erschlossene Deutung auf das zu beziehen ist, was der aufgeführte Text aussagt? Im Licht der Performanz erscheint die im Text liegende Bedeutung wie eine Abstraktion. Sie ist eine Reduktion auf Wesentliches. So wie ein abstrakter Begriff (etwa „Kreis“) eine Fülle von konkreten Erscheinungen bezeichnet, aber als solche Abstraktion nicht existieren kann (den Kreis gibt es nicht, nur konkrete Ausführungen), so muss ein Text durch eine konkrete Person unter konkreten Bedingungen verkörpert werden, um in Erscheinung zu treten.273 Der Aufführende verkörpert die Bedeutung auf seine spezielle Weise. Er fügt eine neue Dimension hinzu, und zwar durch seine körperliche Präsenz, nicht durch neuen Text. Auch die Rahmung, also die gesellschaftlich vorgegebenen Bedingungen für Aufführungen sind eine Abstraktion. Auch sie existieren nicht an sich, sondern nur in konkreten Ausformungen realer Aufführungen. Der Blick auf die Performanz macht also deutlich, dass eine bloße Beschäftigung mit dem 272

Carlson 2004, 5. Fischer-Lichte 2004, 256 formuliert pointiert: „Die jeweils hervorgebrachte Figur ist an die spezifische Körperlichkeit des Schauspielers gebunden, der sie hervorbringt. Der phänomenale Leib des Schauspielers, sein leibliches In-der-Welt-Sein bildet den existentiellen Grund für die Entstehung der Figur. Jenseits dieses individuellen Leibes hat sie keine Existenz. Das heißt, wenn der Schauspieler eine Figur darstellt, so bildet er nicht etwas nach, das woanders – im Text des Stückes – vorgegeben ist, sondern er schafft etwas vollkommen Neues, etwas Einzigartiges, das es so nur durch seine individuelle Leiblichkeit geben kann.“ Vgl. Fischer-Lichte 2003c, 107–108. 273

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

Text mit einem Abstraktum arbeitet und wichtige Seiten der damit verbundenen Realität gar nicht in den Blick nimmt. 274

1.3 Methodik der Performanzkritik 1.3 Methodik der Performanzkritik

Aus dem, was Performanz im Wesentlichen ausmacht, können wir nun ableiten, was in dieser Studie unter Performanzkritik verstanden werden soll und welche methodischen Schritte sie umfasst. Wir orientieren uns dabei an den fünf Merkmalen, die als Wesen der Performanz herausgearbeitet worden sind, und beginnen mit der Ephemeralität und Emergenz, weil sie geeignet sind, das Ziel und die Grenze der hier erörterten Methode zu bestimmen. Es folgt die gesellschaftliche Rahmung, denn durch die Erforschung der gesellschaftlichen Bedingungen kann so etwas wie ein Ideal für bestimmte Aufführungen in einer bestimmten Zeit und Kultur herausgearbeitet werden, das dann geeignet ist, eine mögliche Performanz der vorliegenden Texte zu rekonstruieren. Nach einigen grundsätzlichen Überlegungen darüber, wie Performanzkritik mit einem schriftlichen Text umzugehen hat und wie Elemente der Aufführung im geschriebenen Text ihren Niederschlag finden können, folgen dann die Methoden, mit deren Hilfe erforscht wird, wie aus einem vorliegenden Text auf die Materialität, auf die Publikumsbezogenheit und auf den Verweis auf bereits Vorhandenes in der Performanz des Textes geschlossen werden kann. 275 1.3.1 Ziel und Grenze der Methode – Ephemeralität und Emergenz Performanzkritik der neutestamentlichen Texte geht davon aus, dass diese Texte auf das Ereignis ihrer Aufführung vor einem Publikum zielen und Zeugnisse solcher Ereignisse sind. “Even when oral poetry survives only in manuscript, the imperative remains: we must project the ‘play’ from the ‘script’ as best we can, converting the object (back) into an event as far as possible.”276 Was John Miles Foley hier über mündliche Dichtung sagt, gilt 274

Hier berührt sich die Performanzforschung mit der Rezeptionsästhetik, wie sie von Wolfgang Iser und anderen entwickelt wurde. Sie macht ebenfalls deutlich, dass der Text nicht alles enthält, was seine Bedeutung ausmacht, sondern dass der Leser zur Generierung von Textbedeutung beiträgt. Im Gegensatz zur Performanz entfällt beim Lesen allerdings die Interaktion mehrerer Personen, die autopoietische feedback-Schleife. Zur Rezeptionsästhetik vgl. Warning 1975; Iser 1976; Körtner 1994. 275 Vgl. die von Shiner 2003, 3–4 vorgestellte Methodik. Die Erforschung der gesellschaftlichen Rahmung der Performanz entspricht ungefähr seinem ersten Methodenschritt. Die Erforschung der Spuren der Performanz im vorliegenden Text ist zum Teil in seinem zweiten Methodenschritt enthalten. 276 Foley 2002, 137.

1.3 Methodik der Performanzkritik

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ähnlich für die Briefe des Neuen Testaments wie auch für die erzählenden Texte. Es ist nötig und auch möglich, sie als Spuren von Aufführungen zu verstehen. So werden wir diesen Texten besser gerecht, denn sie wurden verfasst, um ihre Wirkung beim mündlichen Vortrag zu entfalten. Das Ziel, die Texte, die uns als geschriebene Objekte vorliegen, zurückzuverwandeln in lebendige Ereignisse, wie Foley es fordert, trifft allerdings auf das Problem, dass jede Performanz ephemerisch ist. Aufführungen der Vergangenheit lassen sich nicht im vollen Sinn rekonstruieren, wie ja auch zukünftige Aufführungen immer letztlich unverfügbar bleiben. Wie oben dargestellt wurde, gehört es zum Wesen der Performanz, dass in ihr etwas nie Dagewesenes entsteht und unwiderruflich vergeht. Eine seriöse Performanzkritik muss sich dem stellen und die Grenzen dieser Methode reflektieren und respektieren. Die Aufgabe der Performanzkritik ist es, ein Verstehensmodell einer Performanz des Textes zu erstellen, soweit das möglich ist. Es wird also eine mögliche und wahrscheinliche Performanz konstruiert, die das Typische zu erfassen sucht und damit geeignet ist, das im Text vorausgesetzte Ereignis, etwa den Empfang eines Paulusbriefs, zu verstehen. Damit ist Performanzkritik ein Reflektieren über die Performanz anhand eines überlieferten Textes, der selbst wichtiger Teil der ursprünglichen Performanz war. Analyse und Reflexion sollen dazu dienen, zu verstehen, was in der Performanz erlebt wurde. Es geht also um eine intellektuelle Erforschung sowohl der Verkörperung als auch des Inhalts des Gesagten. Es geht um ein Analysieren des Ereignisses und seiner Wirkung auf die Zuhörer. Das ist ein gedanklicher und sprachlich ausdrückbarer Vorgang. Das Verstehen des Ereignisses ist nicht dasselbe wie die Erfahrung selbst. Für Performanzkritik gilt, was Erika Fischer-Lichte generell zum Nachdenken über Aufführungen sagt: Es hilft zum Verstehen, bewirkt aber zugleich auch eine Veränderung. Im Nachdenken wird ins sprachliche Bewusstsein überführt, was als Erlebnis mehr Gefühl und Impuls ist, als dass es sich sprachlich fassen ließe. Es entsteht eine gewisse Distanz. Denn die Sprache verfügt als ein besonderes Medium über eine nur ihr eigene Materialität und als ein besonderes Zeichensystem über nur ihr eigene spezifische Regeln. Indem sie bei der Beschreibung [einer Aufführung] zugrunde gelegt bzw. befolgt werden, verselbständigt sich der Schreibprozeß; er entwickelt eine eigene Dynamik, die ihn durchaus in eine gewisse Nähe zu den erinnerten Wahrnehmungen bringen mag, ihn jedoch zugleich mit Notwendigkeit von ihnen fortführt. Jede sprachliche Beschreibung, jede Deutung, kurz: jeder Versuch, eine Aufführung nachträglich zu verstehen, trägt zur Hervorbringung eines Textes bei, der eigenen Regeln gehorcht … Der Versuch, eine Aufführung zu verstehen, erzeugt so einen eigenständigen Text, der nun seinerseits verstanden werden will.277

277

Fischer-Lichte 2004, 280.

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

Was ist der Gewinn dieser Reflexion für die Auslegung neutestamentlicher Texte? Es ist ein doppelter. Erstens kommt in den Blick, dass es sich um Texte handelt, die unserer von der schriftlichen Kommunikation beherrschten Kultur nicht entsprechen. Dem Ausleger wird bewusst, dass eine Interpretation, die die sprachlichen Äußerungen lediglich als eine Verweisung auf einen außersprachlichen Sachverhalt betrachtet, die also allein die Referenzfunktion der Sprache berücksichtigt und die performative Funktion übersieht, nur mit einer Abstraktion arbeitet, also nur einen Teil dessen erfasst, was mit der sprachlichen Äußerung geschah. Auch ist die häufig vorherrschende Konzentration auf den Autor nicht angemessen, weil der Autor (und später dann sein Text) nicht das gesamte Geschehen einer Performanz kontrollieren kann.278 Durch Performanzkritik wird der Blick geöffnet für die mediale Qualität der Kommunikation (Materialität und Verkörperung, Ästhetik), für ihre gesellschaftliche Einbettung (Rahmen), für die Interaktion mit dem Publikum und die vielfältigen Verweisungsstrukturen. Dadurch werden auch neue inhaltliche Aspekte erschlossen, es werden Bedeutungen und Wirkungen erkennbar, die sonst verborgen blieben. 279 Und zweitens weist das Textverstehen voraus auf eine Situation, wo der Text erneut zum Ereignis wird, etwa in Predigt oder anderer gemeinschaftlicher Zuwendung zum Text. Performanzkritik bringt keine Re-Performanz der neutestamentlichen Texte hervor. Allerdings ist sie ein notwendiger Schritt dahin, weil ein tieferes Verstehen ihrer Performanz eine neue körperliche Ausformung der Kommunikation durch diese Texte befruchten kann. Dass es eine beeindruckende und für das Verständnis der Texte wichtige Erfahrung ist, ihre Performanz zu erleben und selbst zu gestalten, darauf haben Forscher wie Thomas E. Boomershine, David Rhoads und Whitney Shiner, die solche Aufführungen selbst praktizieren, immer wieder hingewiesen. 280 1.3.2 Konventionen des Briefempfangs – Rahmen der Briefperformanz Wichtiges Kennzeichen von Performanz ist die gesellschaftlich konventionalisierte Rahmung. Für die Performanzkritik bedeutet das, dass neben 278 Fischer-Lichte 2004, 80–81 spricht von „Unverfügbarkeit“ und betont, „dass der Prozess der Aufführung sich stets als Selbsterzeugung vollzieht … Selbsterzeugung meint, dass zwar alle Beteiligten sie gemeinsam hervorbringen, dass sie jedoch von keinem einzelnen vollkommen durchgeplant, kontrolliert und in diesem Sinne produziert werden kann, dass sie sich der Verfügungsgewalt jedes einzelnen nachhaltig entzieht.“ 279 Maassen 2001, 294–295 zeigt das am Beispiel von stimmlicher Umsetzung eines Textes: „Oralität, Mündlichkeit, ist ein Effekt der performance des Textes; sie fügt dem Text einen semantischen Mehrwert hinzu.“ Vgl. auch Middleton 1999, 218. 280 Zum Beispiel Shiner 2003, 6–8; Rhoads 2004, 176–201; Boomershine 2004.

1.3 Methodik der Performanzkritik

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anderen Aspekten des außersprachlichen Kontexts eines biblischen Textes – Fragen zur sozialen Organisation, zur Kultur, zu den wirtschaftlichen Bedingungen, zum Rechtswesen, zur Religion usw. – auch die besonderen Bedingungen seiner Aufführung untersucht werden. Dazu gehören zum einen die Konventionen zum Umgang mit geschriebenen Texten, zur Publikation von Schriften und zu ihrer inhaltlichen Rezeption. Dazu gehören zum anderen die gesellschaftlichen Bedingungen und Regeln für die Übermittlung und vor allem für den Vortrag der Texte. 281 1.3.2.1 Umgang mit geschriebenen Texten Die Performanz der neutestamentlichen Texte und speziell der Paulusbriefe ist eingebettet in die Bedingungen, unter denen in griechisch-römischer Kultur geschriebene Texte verwendet wurden. Dazu sind wichtige Forschungen geleistet worden.282 Mündlichkeit und Schriftlichkeit bildeten ein spannungsreiches Miteinander und beeinflussten sich gegenseitig. 283 Obwohl die Schrift weite Verbreitung und vielfältige Verwendung fand, war die Gesellschaft doch weithin von mündlicher Kommunikation geprägt. 284 Schreiben war unbequem und teuer.285 Mündliche Kommunikation wurde bevorzugt und als verlässlicher eingeschätzt. 286 Wurde Schriftkenntnis gebraucht, standen Spezialisten für diese Aufgaben zur Verfügung. Für die meisten Menschen war Schriftkenntnis nicht erforderlich. 287 Auch literarische und kulturelle Bildung konnte man erwerben, ohne selbst lesen zu können. 288 Die Schrift wurde weniger als ein Zeichensystem der direkten Kommunikation verstanden, mehr als ein System zur Codierung der mündlichen Sprache.289 So war es normal, dass schriftliche Texte laut vorgelesen wur281

Vgl. Horsley und Draper 1999, 160. Vgl. dazu Botha 1992a; J. Dewey 1995, 39–47; Shiell 2004, 9–136; Loubser 2007, 55–72; für Rom Woolf 2009; für Griechenland Lentz 1989; für Palästina Hezser 2001; für das alttestamentliche Israel Niditch 1996. 283 Finnegan 1988, 12–14, 172, 175; vgl. Foley 2002, 66–69. Zur Verwendung von Büchern und zum Miteinander von mündlicher und schriftlicher Kommunikation vgl. Gamble 1995, 28–32; vgl. auch Goldhill 2009, 98; Habinek 2009. 284 Ong 1967, 22–87; Downing 2000, 75–83. Knoop 1993, 222 zeigt, dass erst im 19. Jhdt. die gesprochene Sprache ihre Wirkungsmächtigkeit verliert und die geschriebene Sprache den Sprachprimat erhält. 285 Harris 1989, 193–196; vgl. Hezser 2001, 132–133. 286 Alexander 1990. 287 J. Dewey 1995, 41. 288 Vgl. die Diskussion antiker Quellen bei J. Dewey 1995, 45–46; Downing 2000, 29–40. 289 Lentz 1989, 63–65; Thomas 1992, 91. Nach Knoop 1993, 221–222 gab es vor der Moderne gar keine eigene Schriftsprache: „Alles Geschriebene ist nur Intonationsvorlage 282

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

den und erst dadurch die mit ihnen verbundene Kommunikationsabsicht zum Ziel kam. 290 Dabei wirkte die im schriftlichen Medium codierte Information mit den nur mündlich übermittelbaren Komponenten der Sprache (Stimme, Lautstärke, Tempo) und mit außersprachlichen Signalen (z. B. Zeigegesten, Positionierung im Raum) zusammen. 291 1.3.2.2 Konventionen des Briefempfangs Für die Performanzkritik der Briefe des Neuen Testaments ist besonders der Rahmen für die Übermittlung von Briefen von Bedeutung, also die gesellschaftlichen Konventionen, die ein solches Ereignis kennzeichneten. Performanzkritik wird daher berücksichtigen, welche konventionellen Signale das Ereignis des Briefempfangs markierten und in welche Haltung und Einstellung dadurch alle Beteiligten versetzt wurden und was man von ihnen erwartete. Der Rahmen einer Performanz bewirkt, dass die gesagten Worte anders aufgenommen werden, als wenn sie ohne diese Rahmung gesprochen würden. 292 Was heißt das für bestimmte Passagen im Brief, zum Beispiel solche, die Bescheidenheit ausdrücken (1 Kor 2,1–4; Phlm 9), die den Wunsch nach Nähe formulieren (Röm 1,9–12) oder Reisepläne verkünden (2 Kor 13,1; Phlm 22)?293 In dieser Studie, in der es darum geht, wie die Briefe des Paulus bei den Empfängern zur Wirkung kamen, sind die Konventionen von besonderer Relevanz, die mit der Situation des Briefempfangs und seiner Verlesung bei den Empfängern verknüpft sind. 294 und von daher potentielle gesprochene Sprache, also im Sprechen oder Vorlesen vorzubringen. Insofern ist gesprochene Sprache die Sprache, die eine Aufzeichnungsmöglichkeit in der Schrift hat.“ Zur antiken Bildung insgesamt Bonner 1977; Lentz 1989, 46– 70; Harris 1989, 233–248; Shiell 2004, 14–29; Vegge 2006. 290 Achtemeier 1990 und die oben auf S. 33, Anm. 151 genannte Literatur zur Diskussion um leises und lautes Lesen; Lefèvre 1990. 291 Hibbitts 1992 hat für die Verständigung über das Recht an Rechtsurkunden gezeigt, dass Kulturen, in denen die Schrift eine weniger dominante Rolle spielt als heute (er nennt sie „performance cultures“), dafür alle Sinne nutzen. Absatz 3.4: “Ultimately, the meaning of significant cultural and legal messages resides less in the individual components of communication (although these must be recognized) than in their synthesis, performance.” 292 Alexander 1989 vergleicht den Philipperbrief mit Briefen, wo es nur um die Pflege der Gemeinschaft geht, um keinen anderen Inhalt; vgl. Koskenniemi 1956, 107, der von „Verbindungsbriefen“ spricht. Was Cicero an Atticus (Att. 9.10.1) schreibt: „Ich habe nichts, was ich schreiben könnte“, gehört in den Rahmen brieflicher Kommunikation und würde außerhalb dieses Rahmens nicht geäußert werden; ähnlich Att. 8.14.1. 293 Zu Reiseplänen vgl. Funk 1967; Mullins 1973; Schnider und Stenger 1987, 92– 107. 294 Vgl. dagegen Richards 2004, der die Konventionen der Entstehung des Briefes untersucht.

1.3 Methodik der Performanzkritik

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M. Luther Stirewalt hat überzeugend dargelegt, dass die Briefe des Paulus mit den offiziellen, administrativen Briefen von Herrschern oder Beamten vergleichbar sind. 295 Für den Empfang und die Rezeption der Paulusbriefe ergibt sich daraus ein gesellschaftlich etablierter Ablauf, der folgende Schritte umfasst:296 1) Der Brief wird überbracht. In der Regel waren es von Paulus abgesandte Boten, die seine Briefe transportierten. 297 Oder er vertraute seinen Brief Gemeindegliedern an, die eine Reise vorhatten (z. B. Phöbe, Röm 16,1). Das entsprach üblicher Praxis der Briefübermittlung. 298 2) Der Brief wird dem Empfänger oder einem Repräsentanten der Empfängergruppe ausgehändigt. Das Übergeben des Briefes wird ausdrücklich erwähnt in Apg 15,30, und zwar vor dem Verlesen und der anschließenden Diskussion. Diese Handlung scheint Teil des üblichen Protokolls zu sein. Damit geht der Brief in die Verfügungsmacht der Empfängergruppe über. Das wird auch in 1 Thess 5,27 vorausgesetzt, wo die Empfänger beschworen werden, für das Vorlesen des Briefes zu sorgen. Das war also die Verantwortung der Empfänger oder der Empfängergruppe, nicht des Boten. Das Übergeben des Briefes erinnert daran, dass Demetrius, de elocutione (224) den Brief mit einem Geschenk vergleicht. 3) Vom Briefempfänger wird jemand beauftragt, den Brief vorzutragen (vgl. 1 Tim 4,13). Weil der Brief in die Hand des Empfängers übergeben wurde, ist es nicht wahrscheinlich, dass der Überbringer den Brief vorträgt, wie oft vermutet wird,299 der Empfänger hätte ihn ja dem Überbringer zurückgeben müssen. Auch hätte der Bote auf sich selbst verweisen müssen, wenn er den Abschnitt des Briefes vorträgt, der ihn als Boten den Empfängern empfiehlt. Peter Head hat die Papyrusbriefe untersucht, in denen der Briefbote erwähnt wird. Niemals ist es darin die Aufgabe des Überbringers, den Brief zu verlesen, niemals erscheint Schriftkenntnis als eine Voraussetzung zum Botendienst.300 295 Stirewalt 2003, 5–8, 13–18; siehe dazu oben im Forschungsüberblick auf S. 12–13; vgl. auch Schnider und Stenger 1987, 91. 296 Stirewalt 2003, 6 nennt nur “official presentation, public reading, and oral reports.” Tsang 2009, 16 nennt zusätzlich das Einberufen der Versammlung, in der der Brief vorgetragen wird. 297 Zum Beispiel Timotheus (1 Kor 4,17), Titus (2 Kor 2,12–13; 8,16–24), Tychikus (Kol 4,7–9), Epaphroditus (Phil 2,25–30) und Onesimus (Phlm). Vgl. Mitchell 1992. 298 Riepl 1913, 241–244; Epp 1991; Llewelyn 1995; 1998; Hezser 2001, 265; Wagner 2003, 2–4. 299 Zum Beispiel Botha 1993b, 419; Cox 1998, 81, 90; Ramsaran 2003, 10–11, 29; Shiell 2004, 32–33; Richards 2004, 181, 202; Wendland 2008, 16. Als Begründung wird oft genannt, dass der Bote des Paulus genaue Kenntnis darüber hatte, wie der Brief vorzutragen sei. 300 Head 2009. Für antike semitische Briefe vgl. Meier 1989, 194–195.

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

Die öffentliche Verlesung des Briefes erfordert die Fähigkeit, die sichtbaren Zeichen wieder in hörbare Sprache zu verwandeln. Dazu waren nicht viele in der Lage. 301 Schriftkenntnis hatten vor allem die Angehörigen der Oberschicht. Schriftkenntnis galt als Statussymbol. 302 Schrift war für sie ein Mittel der Kontrolle und des Machterhalts, zum Beispiel durch administrative Briefe, Berichte, Inschriften, Propaganda und anderes.303 Schriftkenntnis hatten außerdem die von der Oberschicht benötigten Spezialisten, zum Beispiel Beamte und für die Schriftverwendung ausgebildete Sklaven. 304 Selbst wenn jemand lesen konnte, so bedeutete das nicht, dass er oder sie in der Lage war, ein Schreiben öffentlich vorzutragen. 305 Daher wird es nur ein begrenzter Personenkreis sein, 306 der immer wieder mit dem Vortragen von Schriftstücken beauftragt wurde. Daraus wurde dann später das Amt des Lektors.307 In den christlichen Gemeinden werden diese Personen zu den Häusern der wenigen Mitglieder aus etwas reicheren und gebildeteren Schichten gehört haben. 4) Der Beauftragte bereitet sich auf den Vortrag vor, indem er den Brief durcharbeitet und einstudiert. Man musste den Text kennen, wenn man ihn vortragen wollte. Scriptio continua und wenige oder keine optisch erkennbaren Gliederungssignale machten es schwierig, ein Schriftstück spontan vorzutragen.308 Schrift war vor allem konservierte Mündlichkeit. 309 Dem

301 Zur Verbreitung von Schriftkenntnis im römischen Reich siehe Harris 1989. Er schätzt in den Städten um 15 % der männlichen Bevölkerung (S. 329), auf dem Land und bei Frauen deutlich darunter. Seine Ergebnisse sind weithin anerkannt worden, z. B. Botha 1992a, 199. Für die griechische Kultur vgl. Thomas 1992. Geringe Schriftkenntnis für Palästina nehmen an Bar-Ilan 1992; Niditch 1996, 39–59; Hezser 2001, 27–38. Etwas höhere Verbreitung vermuten Klauck 1998, 61–62; Gamble 1995, 7. 302 Harris 1989, 248, 250; Botha 1992a, 205–206. 303 J. Dewey 1995, 40–41. Thomas 1992, 21 zitiert Lévi-Strauss 1976, 393: “… the primary function of writing, as a means of communication, is to facilitate the enslavement of human beings.” Zu Schrift und Macht vgl. die Artikel in Bowman und Woolf 1994. 304 Vgl. Habinek 2009, 122; zum Sklaven als Lektor vgl. Shiell 2004, 31–33. 305 Vgl. Plinius minor, epist. 9.34, wo er als hochgebildeter Adliger zugibt, nicht gut vorlesen zu können. 306 Cox 1998, 81 vermutet, dass es in kleinen Gemeinden wohl nur ein oder zwei Personen waren; vgl. J. Dewey 1995, 50. 307 Zum Lektor vgl. Shiell 2004. 308 Achtemeier 1990, 17 verweist auf Petronius, Satyrikon 75, wo Trimalchio einen Sklaven lobt, weil er vom Blatt (vor-)lesen kann, also ohne den Text vorher für sich selbst zu analysieren. Vgl. auch Bahn 1932, 433; Saenger 1982, 370–371; Achtemeier 1990, 10; Starr 1991, 343; Hezser 2001, 451, 463; Tsang 2009, 212. 309 Thomas 1992, 91; Dean 1996; vgl. Lentz 1989, 63–64 mit Hinweis auf Plutarch, de musica, 1131d.

1.3 Methodik der Performanzkritik

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Leser erschloss erst die Übertragung in Klang den Sinn des Textes. 310 Wer etwas vorzulesen hatte, musste sich den Text also zunächst selbst laut vorlesen oder vorlesen lassen, um zu wissen, wie er zu gestalten war. Harry Y. Gamble schreibt: The initial reading of any text was inevitably experimental because it had to be decided, partly in retrospect, which of the possible construals of scriptio continua best rendered the sense. If public reading were not to be halting, tentative, or misleading, those decoding judgments had to be made in advance through rehearsals of the text.311

5) Eine Versammlung wird einberufen. Wie bei offiziellen Briefen üblich, waren die Paulusbriefe an eine Gruppe gerichtet. Der Empfang eines solchen Briefes war ein öffentliches Ereignis. Wenn diese Gruppe zusammenkam, war Gelegenheit, den Brief vor allen zu verlesen. Das werden in der Regel die regelmäßigen Versammlungen der Gemeinde gewesen sein (vgl. 1 Tim 4,13; Offb 1,3), die am Abend im Zusammenhang mit einer gemeinsamen Mahlzeit und anschließender Gemeinschaft mit Verkündigung und Gespräch stattfanden. 312 6) Die Teilnehmer der Versammlung nehmen ihre Plätze ein. Die Sitzordnung war häufig sozial organisiert. Das gilt für das Theater im großen, aber auch für das Symposion im kleinen Rahmen. Zusammengehörige Gruppen saßen zusammen. 313 Ehrenplätze waren gut sichtbar.314 Die Bänke waren entweder im Halbkreis angeordnet oder es gab umlaufende Sitzreihen an drei oder manchmal vier Wänden des Raumes. Diese Sitzord-

310 Vgl. oben den Vergleich mit der Musik auf S. 45, Anm. 214; ebenso Small 1997, 23 mit Hinweis auf Svenbro 1989, 236. 311 Gamble 1995, 205. Vgl. auch J. Dewey 1995, 51; Hezser 2001, 452; Stirewalt 2003, 17; Vegge 2006, 115; Wendland 2008, 9. Auf die Schwierigkeit beim Vortrag, die Zusammengehörigkeit der Wörter richtig zu erkennen, geht Aristoteles, rhet. 3.5.6 ein. Darauf, dass der Sinn eines Textes richtig verstanden wird, wenn die „korrekten“ Atempausen beachtet werden, die ja im Schriftstück nicht erkennbar sind, verweist Irenäus in adv. haer. 3.7.1; vgl Gamble 1995, 229. 312 Vgl. Wick 2002. 313 Vgl. Jak 2,2; Lk 14,8. Dass nach 1 Kor 11,21 in Korinth einige satt und betrunken sind, während andere nicht genug haben, ist schwer denkbar, wenn nicht die Wohlhabenden „möglicherweise räumlich getrennt von den anderen und an einem eigenen Tisch“ lagen, so Theißen 1989c, 297. Zur Sitzordnung im Theater vgl. Kindermann 1979, 132: „‚Das ganze Theater bot somit ein übersichtliches Bild der römischen Bevölkerung, gegliedert nach ihrer politischen Struktur‘ (T. Bollinger) und ihrem Sozialstatus“; vgl. auch 126, 128, 187, für Athen 20, 24. 314 Ein römisches Gesetz von 68 v. Chr. reservierte die ersten vierzehn Reihen hinter der Orchestra (eines temporären Theaters) für den Ritteradel, der zuvor nur für den senatorischen Adel bestimmt war; Beacham 1995, 67. Das Publikum reagierte nicht nur auf das Geschehen auf der Bühne, sondern auch auf die anwesenden Prominenten; Beacham 1995, 133, 149, 169.

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nung begünstigte lebhafte Interaktion aller Versammelten. 315 „Das Theater ist in dieser Hinsicht beispielhaft für viele andere Schauplätze antiker Rhetorik: Wie wir sehen werden, sitzen die Hörer meist auf Stufen und in einem Halbkreis (oder offenem Rechteck), und Freilichtaufführungen sind eher die Regel als die Ausnahme.“316 Auch im Odeion oder im Bouleuterion saß man im Halbkreis oder auf konzentrischen Sitzreihen an den Wänden. 317 Die ältesten antiken Synagogen zeigen umlaufende Sitzreihen an zwei, drei oder vier Wänden. 318 Carsten Claußen zieht daraus den Schluss: „Durch die umlaufenden Sitzbänke sind die Synagogenbesucher einander zugewandt. Diese architektonische Struktur deutet möglicherweise darauf hin, daß die Diskussion unter den Synagogenbesuchern eine große Rolle spielte.“319 Beim Symposion gab es die Anordnung mit drei Klinen als offenes Rechteck (Triklinium) oder als halbkreisförmiges Liegepolster, außerdem Versammlungshäuser mit Liegemöglichkeiten an drei von vier Wänden. 320 Das bedeutet, dass man einander sehen konnte, dass es gegenseitige Beeinflussung und Kontrolle unter den Hörern gab. 7) Der Bote wird öffentlich begrüßt, der Brief wird präsentiert. In manchen Fällen wird ein erster mündlicher Bericht des Boten dem Verlesen des Briefes vorangehen. 321 Darauf deutet der Umstand, dass in manchen Briefen die Empfehlung des Boten vor der eigentlichen Information steht und einen sehr breiten Raum einnimmt. 322 In jedem Fall hat der Bote die Aufgabe, Zeuge der Verlesung des Briefes zu sein und dem Absender Bericht über die unmittelbare Reaktion des Publikums zu erstatten. 323 8) Der Brief wird vorgetragen.324 Dieser Vortrag entsprach antiken Redevorträgen. Skulpturen von Rednern zeigen den Redner entweder mit dem 315

Zur internen Kommunikation im Publikum vgl. Korenjak 2000, 147–149. Korenjak 2000, 30. 317 Korenjak 2000, 29–30: „… wogegen die verschiedenen Publikumssektoren sich gegenseitig durchaus im Blickfeld haben und optisch und akustisch miteinander kommunizieren können … Darüber hinaus gibt es im Freien und bei Tageslicht keine Möglichkeit, die Hörer durch Verdunkeln des Zuschauerraums voneinander abzuschneiden und ihre Aufmerksamkeit auf eine erleuchtete Bühne zu fokussieren – ein Umstand, der gruppendynamische Effekte zusätzlich erleichtert.“ 318 Vgl. Claußen 2002, 169 (Gamla), 172 (Masada), 175 (Herodium), 184 (Modi’in), 192, (Delos); 207 (Dura Europos). Vgl. Strange 1999, 32–35, der die Architektur der Synagoge mit der des Bouleuterions vergleicht. 319 Claußen 2002, 177. 320 Vgl. Klinghardt 1996, 62–83. Für die Sitzordnung in Qumran und im Sanhedrin vgl. Gerhardsson 1961, 245–247. 321 Meier 1989, 131–245; Stirewalt 2003, 8. 322 Nach Stirewalt 2003, 9 ist der Brief ursprünglich der mündlichen Botschaft untergeordnet. 323 1 Clem 63,3; 65,1. 324 Vgl. Riepl 1913, 371–374. 316

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geöffneten Text oder er hält ihn zusammengerollt in der linken Hand. 325 Zusammengerollt diente der Text als Zeichen für die Quelle der Rezitation, nicht als unmittelbare Hilfe für den Vortrag. Rezitiert wurde meist aus dem Gedächtnis. 326 Aber auch wenn der Text aus dem geöffneten Schriftstück vorgetragen wurde, glich die Performanz mehr einer Textaufführung als einem Ablesen. 327 Das Vortragen des Briefes orientierte sich an der Praxis öffentlicher Rede. Stimmlicher Ausdruck, Gestik und persönliches Auftreten waren dem ähnlich, was die Zuhörer aus Reden, Rezitationen und Schauspiel kannten. 328 In römischer Zeit haben Redner von Schauspielern gelernt, wie ein Text vorzutragen sei. 329 Durch das öffentliche Verlesen wird der Brief den eigentlichen Empfängern, bei den Paulusbriefen der Gemeinde oder einer Gruppe von Gemeinden, zur Kenntnis gebracht.330 Das laute Lesen machte die Autorität des Absenders hörbar, der Vorlesende verkörperte die Gegenwart des Absenders.331 Die typischen Redeformen der Mündlichkeit, die in den Brief eingeschrieben sind, bestärken die Autorität des Absenders, denn sie machen seine Kompetenz erkennbar, auf die Öffentlichkeit durch das gesprochene Wort Einfluss zu nehmen.332 Bereits beim Vortragen des Briefes ist mit lebhafter Reaktion des Publikums zu rechnen. 333 325

Vgl. Aldrete 1999, 46. Quintilian, inst. 01.11.14; vgl. auch Olbricht 1997. 327 Vgl. Sonkowsky 1959 zum Vortrag geschriebener Texte in der Rhetorik des Aristoteles. Quintilian, inst. 10.7.31–32 erlaubt nur einen gelegentlichen Blick auf den schriftlich vorbereiteten Text, plädiert generell dafür, die Rede auswendig zu lernen. 328 Vgl. Shiell 2004, 34–101; Ward 1995, 99–101, der Quintilian für die Rezitation bei den Christen auswertet. 329 Vgl. Quintilian, inst. 11.2.33. Beacham 1995, 156: “… a symbiosis in which theatrical performance drew upon the style and sentiments informing political oratory, while in turn politicians looked to the theatre as a platform both for impressive display and for mass communication and manipulation of popular feeling. Aesopus even gave Cicero lessons in elocution.” Bonner 1977, 224 verweist auf Plinius minor, epist. 5.19.3, der seinen Vorleser Zosimus lobt, weil er die Qualitäten eines Komödienschauspielers hat. Allerdings warnt Quintilian, inst. 10.8.2; 1.11.06 –12; 2.10.13; 11.3.4; 11.3.57 davor, Texte zu schauspielern oder die Stimme zu weit anzupassen. Vgl. auch Aldrete 1999, 67–73. 330 Holland 2006; vgl. Schnider und Stenger 1987, 123: „Grußauftrag und Kuß sind also textpragmatisch besehen so etwas wie ein Veröffentlichungssignal.“ Diesem Ziel dienen auch die Leseanweisungen (1 Thess 5,27; Kol 4,16), dazu Oestreich 2004. 331 Stirewalt 1993, 5; Holland 2006, 9–15. 332 Vgl. Fuhrmann 1990, 56, der darauf hinweist, dass die Spuren der Mündlichkeit in einer geschriebenen Rede auch als Zeichen dafür dienten, dass der Verfasser die Autorität und Kompetenz besaß, durch seinen mündlichen Auftritt vor dem Volk oder vor Gericht eine bestimmte Entscheidung herbeizuführen. „Der Redner hätte sich selbst seiner Autorität beraubt, wenn er es sich hätte einfallen lassen, aus seiner Rede ein zeit- und raumenthobenes Gedankending zu machen.“ 333 Zur Publikumsreaktion vgl. Korenjak 2000, 68–95. 326

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9) Der Brief wird in der Versammlung diskutiert. Der Bote beantwortet Fragen oder erklärt Teile des Briefes. Auf diese Weise werden die mündliche und die schriftliche Botschaft kombiniert. 334 Der Bote hat die Autorität, im Auftrag des Senders zu sprechen. 335 Seiner Legitimation dient ein Abschnitt des Briefes, der den Boten den Empfängern empfiehlt.336 Meist steht die Empfehlung am Ende des Briefes, also unmittelbar vor dem Auftritt des Boten.337 In den Fällen, wo die eigentliche Botschaft nur mündlich gegeben wurde, diente der Brief vor allem der Legitimation des Boten und der Bestätigung der mündlichen Botschaft. 338 Dem entsprechend kann die Empfehlung des Überbringers in diesem Fall am Anfang des Briefes stehen oder sogar den wesentlichen Briefinhalt darstellen (vgl. Apg 15,25–29). 10) Schließlich wird eine Antwort vorbereitet (vgl. 1 Clem 63,3; 65,1) oder der Brief wird weitergeleitet (Kol 4,16). Der Bote wird entlassen. Oft überbringt der Bote die Antwort.339 1.3.3 Grundsätzliches zur Textanalyse in der Performanzkritik Bevor nun die speziellen Arbeitsschritte der Performanzkritik erörtert werden, die im vorliegenden Text nach Spuren der Performanz suchen, sollen zunächst grundsätzliche Methodenfragen bedacht werden. 1.3.3.1 Text als Ganzheit Methodisch wird Performanzkritik vom überlieferten Text ausgehen. Dabei wird der Text als Ganzheit betrachtet. Bei den Briefen des Paulus, die hier untersucht werden sollen, ist davon auszugehen, dass sie bei einer Gemeindeversammlung vollständig vorgetragen wurden. Kein Brief ist so lang, dass er durch seinen Umfang nicht als ganzer zu Gehör kommen konnte. Das bedeutet, dass die Wirkung des Textes zuerst über den Gesamteindruck erzielt wird. Die Zuhörer sind nicht in der Lage, sich jede Formulierung und jedes sprachliche Detail zu merken und zu analysieren. 334 Eph 6,21–22; Kol 4,7–8. Sykutris 1931, 200; Doty 1973, 45–46; Reck 1991, 204– 205; Hezser 2001, 263; Richards 2004, 171–209, 182–185, 201–204. Riepl 1913, 374 beschreibt „die Sitte, ihm [dem Boten] mündliche Aufträge und Erläuterungen mitzugeben.“ Vgl. dazu Head 2009, 288–291, 294–297 mit Textbeispielen aus den Papyrusbriefen. 335 Mitchell 1992, 649–650. 336 Zur Empfehlung in Briefen vgl. Keyes 1935; Kim 1972. 337 Zum Beispiel Röm 16,1–2; 1 Kor 16,10–11; Kol 4,7–9. Vgl. dazu Venetz 1994, 15–19. 338 Vgl. Lehmann 2003, 91–94 für zwei Lachisch-Ostraka; Hezser 2001, 277 für einen Brief von Bar Kochba. 339 Vgl. Josephus, ant. 11.8.3; 13.5.8; 13.9.2; Meier 1989, 230–244.

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Wahrscheinlich wird auch nicht jedes inhaltliche Detail verstanden. Anders als bei der heute üblichen Arbeit am schriftlichen Text können die Zuhörer die Textrezeption nicht anhalten, um Zeit zur Reflexion zu gewinnen. Sie können nicht zu weit zurückliegenden Textpassagen springen, um Vergleiche anzustellen – es sei denn, parallele Aussagen sind deutlich kenntlich gemacht, etwa um einen Rahmen zu bilden. Die Zuhörer können auch nicht vorausschauen, wohin das Textgeschehen sie führen wird und so die Deutung vom Ende her konzipieren, zumindest nicht beim ersten Erleben der Performanz und auch nur sehr eingeschränkt beim wiederholten Hören, weil Performanz immer einmalig ist und dazu nötigt, sich voll auf das gegenwärtige Geschehen einzulassen. 340 Wenn der Text vom Gesamteindruck der Performanz her verstanden wird, besteht weniger die Gefahr, dass Spekulationen über Detailfragen zu völlig textfernen Ergebnissen führen. 341 1.3.3.2 Performanz ist dem Text eingeschrieben Wie kann eine mögliche und wahrscheinliche Performanz von Texten rekonstruiert werden, die nur noch schriftlich überliefert sind? Foley nennt solche Texte „Voices from the Past“ und vergleicht sie mit den Scherben, die ein Ausgräber als Zeugen vergangener Kulturen findet. 342 Er findet im Text Anzeichen, die die Mediengeschichte markieren, die also auf ihre ursprüngliche Performanz verweisen. 343 Performanzkritik wird auf diese im Text enthaltenen Spuren achten. Irmgard Maassen, die frühneuzeitliche Texte auf ihre Performativität untersucht, nennt diese Spuren „performative Textstrategien.“ Sie weist darauf hin, dass diese Strategien nicht irgendwelche zusätzlichen Merkmale sind, die mehr oder weniger ausgeprägt zu finden sind, sondern dass die Performanz diesen Texten eingeschrieben ist. Performanz im Text bezeichnet demgegenüber die performativen Textstrategien, die im textuellen Medium selbst der Simulation von Präsenz, Authentizität, Körperlichkeit, Sinnlichkeit, ereignishaftem Vollzug dienen, also die im eigentlichen Sinne performativen Strukturen des Textes … Performanz im Text heißt an dieser Stelle jedoch nicht …, 340

Etwas anderes ist es, dass der Text bestimmte Erwartungen und Vorstellungen, die er bei der Rezeption erzeugt hat, frustrieren bzw. korrigieren kann. Durch solche Frustrationen wird bewusst gemacht, dass das bisherige Verständnis nur vorläufig ist, dass ein tieferes Verstehen möglich ist. Der Rezipient wird eingeladen, mit dem im Verlauf der Performanz gewonnenen Verständnis den Text noch einmal von vorn zu erleben. 341 Vgl. z. B. unten auf S. 177–178 die unterschiedlichen Deutungen von 1 Kor 12,3. 342 Foley 2002, 45–50. Er schließt Teile des NT ausdrücklich ein (S. 46). 343 Foley 2002, 48: “Research has isolated key features, somewhat different for each tradition and genre of course, that mark a poem’s media heritage. These features are the residue of oral performance; they constitute ‘what’s left’ when an oral poem is reduced to a text.”

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

dass im Sinne einer linearen Entwicklungslogik nach Überresten von performativen Praktiken im historisch neueren Medium Schrifttext, nach Spuren der Oralität z. B., gesucht wird. Solche Spuren werden nicht als Zeugnisse von älteren, ‚authentischeren‘ performativen Kulturpraktiken gelesen, die der Text zufällig irgendwie bewahrt hat und die alles sind, was vom eigentlichen Gegenstand der Untersuchung übriggeblieben ist. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass diese Spuren des Performativen bewusst gelegt sind, dass sie eine Textstrategie darstellen, die der intendierten Inszenierung von Oralität und Authentizität dient.344

Die Texte sind geschrieben für Aufführungen, wie ein Theaterstück für das Theater geschrieben ist und nicht wie ein Roman erzählt, wie eine Predigt für den mündlichen Vortrag gestaltet ist und daher in Sprache und Strategie nicht einem Essay entspricht. Für antike Texte weist Robert P. Sonkowsky nach, dass die Merkmale des Vortrags bereits bei der – oft schriftlichen – Vorbereitung der Rede mitbedacht wurden: On the basis of the evidence pertaining to theory, however, this conclusion may be advanced, that in the Aristotelian tradition, which includes the Theophrastan and the Ciceronian, the techniques of delivery are not merely something that is added in a superficial way after the process of literary composition has been completed, but something that is vitally involved in the very labors of composition anticipating the public presentation.345

Im Anschluss an Foley betonen auch Horsley und Draper, dass Texte, die auf eine mündliche Performanz verweisen, in einem „mündlichen Register“ geschrieben sind, also in einer sprachlichen Gestalt, die es erlaubt, die Performanz zu rekonstruieren. 346 Diese performativen Textstrategien zu erkennen und auszuwerten, das ist Aufgabe der Performanzkritik. 347 Dabei ist zu beachten, dass die Performativität in Texten mehr oder weniger stark ausgeprägt sein kann. Es gibt also nicht ein Entweder-Oder für die performativen Strategien schriftlicher Texte, sondern graduelle 344 Maassen 2001, 291. Maassen nennt im Text eingeschriebene performative Strategien wie zum Beispiel „Dialogisierungen, die Simulation von Körperlichkeit, Sinnlichkeit und Präsenz mit sprachlichen Mitteln, Regime der Blicke, Authentisierungsfiktionen, self-fashioning und Adressaten-fashioning, spielerisches Entwerfen und Unterminieren von sozialen Rollenmodellen: das Potential für kreative Neuinterpretation im Akt der Iteration von sozialen und kulturellen ‚Skripten‘.“ 345 Sonkowsky 1959, 273. 346 Horsley und Draper 1999, 184. 347 Das entspricht nur teilweise der Methode von Shiner 2003, 4, der die im erzählenden Text beschriebenen Hinweise auf den Einsatz der Stimme von sprechenden Personen, auf ihre Gesten und Bewegungen als Handlungsanweisungen für den Vortragenden nimmt. Diese Beschreibungen geben dem Text nicht unbedingt eine performative Qualität, sondern haben ihre Funktion im schriftlichen Medium, weil dies Elemente der Performanz nicht direkt codieren kann und sie deshalb explizit machen muss. Anders ist es mit dem Aufspüren von „applause markers“ bei Shiner (S. 158), die ein in den Text eingeschriebenes Element der Performanz im Sinne von Maassen darstellen.

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Unterschiede. Texte lassen sich so auf einer Skala platzieren, wo auf der einen Seite solche Texte wie Theaterskripte oder Lieder stehen – die man natürlich auch lesen kann –, auf der anderen Seite etwa wissenschaftliche Abhandlungen – die man auch als Vorlesung vortragen kann. 348 Obwohl die Paulusbriefe entsprechend der damaligen Kultur für den mündlichen Vortrag gestaltet sind, zeigt ihre Rezeptionsgeschichte, dass sie auch als gelesene Texte Wirkung entfalten konnten. Entsprechend hat Performanzkritik nicht das Ziel, alle bisherigen exegetischen Methoden zu ersetzen, sondern sie so zu ergänzen, dass ein wesentlicher Aspekt der neutestamentlichen Texte nicht länger unbeachtet bleibt. 1.3.4 Textanalyse und Materialität der Performanz Wir hatten gesehen, dass die Materialität der Kommunikation für die Performanz von großer Bedeutung ist. Das Wie der Kommunikation wird in seiner eigenen Bedeutung wahrgenommen. Die Medialität der Kommunikation löst Wirkungen aus und generiert Bedeutung. In der mündlichen Kommunikation ist das vor allem die Körperlichkeit aller an der Performanz Beteiligten, sowohl Vorführende als auch Publikum. Performanzkritik wird also in besonderer Weise auf die im Text enthaltenen Elemente der Medialität und Körperlichkeit achten. 349 Dabei werden diese Elemente nicht nur als Träger eines zu deutenden Inhalts bewertet, sondern sie werden als Auslöser einer ganz eigenen Wirkung beachtet, die den gedanklich zu verstehenden Inhalt des Textes verstärken, abschwächen oder modifizieren kann. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen hier vier Gesichtspunkte der Materialität und Körperlichkeit genannt werden. 1.3.4.1 Mündliches Ereignis Performanz der Texte war ein mündliches Ereignis. In der hörbaren Sprache, also wenn Atem und Stimme des Vortragenden und wenn akustische Resonanz im Körper der Hörenden erlebt werden, manifestiert sich die Körperlichkeit der Performanz und entfaltet ihre Wirkung. Performanzkritik wird die Texte daher in das mündliche Medium zurückzuführen suchen. Dabei wird besonders auf solche Merkmale zu achten sein, die das Medium der mündlichen Sprache im geschriebenen Text erkennbar werden lassen. Das sind vor allem sprachliche Formen, die dem Hören entsprechen, zum Beispiel Klang und Klangfolgen, Alliteration, Assonanz, Reim, 348 Im Anhang an ihren Aufsatz bringt Maassen 2001, 302 eine von Manfred Pfister zusammengestellte aufschlussreiche Auflistung von Textstrategien, mit deren Hilfe der Grad der Performativität eines Textes festgestellt werden kann. Vgl. auch die ausführliche und hilfreiche Liste von Merkmalen mündlicher Sprache bei Wendland 2008, 25–30. 349 Vgl. Rhoads 2006, 128.

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Rhythmus, Pausen und Sprechmelodie. 350 Klang und Rhythmus sind im geschriebenen Text erkennbar, wenn man ihn „mit dem Ohre“ liest.351 Sprechmelodie ist dagegen in der Schrift nicht codiert. Auch Pausen lassen sich durch die Schrift der Antike (scriptio continua) kaum ausdrücken. Aber durch lautes Lesen können Stellen erkannt werden, die Sprechpausen sinnvoll und nötig erscheinen lassen. 352 Dazu helfen auch die im Text enthaltenen Merkmale, die den Text strukturieren, also alle Formen von Wiederholungen, besonders Parallelismus und Chiasmus, aber auch Adressatenwechsel, Themenwechsel, narrative Wechsel (handelnde Personen, Ort, Zeit).353 1.3.4.2 Hilfe für das Gedächtnis Mündliche Sprache ist stärker auf das Gedächtnis angewiesen als Schriftsprache, sowohl beim Sprecher als auch beim Hörer. Entsprechend werden sich in Texten, die zur mündlichen Performanz bestimmt sind, häufiger sprachliche Formen finden, die dem Gedächtnis entsprechen und das Behalten unterstützen. Dazu gehören alle Formen von Wiederholung, vor allem Parallelismus, Rahmung und Chiasmus. Dass Rahmung und Chiasmus aus der mündlichen Sprache erwachsen, hat Stephen Nimis am Beispiel von Texten von Homer gezeigt.354 Auch Wiederholungen sind wichtig für das Gedächtnis. Als eine spezielle Form der Wiederholung dient Parallelismus unter anderem dazu, Sprüche im Gedächtnis zu verankern (z. B. 1 Kor 12,26; 15,42–44; 2 Kor 3,6b; 9,6). 1.3.4.3 Körperlichkeit Besonders wichtig für die Performanzkritik von Texten sind die im Text enthaltenen Hinweise auf die Körperlichkeit des Performers und des Publikums. Sind es doch zuerst die Körper, durch die die Performanz zu einem Erlebnis wird, also zu einem Ereignis, das über körperliche Mimesis Bedeutungen generiert, die über das semantische Verstehen hinausgehen. In den Paulusbriefen finden sich Hinweise auf die Körperlichkeit des Absenders, zum Beispiel auf seine Stimme (Gal 4,20), auf seine Tränen (Phil 350

Vgl. dazu die Arbeiten von Dean 1996; Jeal 2002, 6–12; Sellin 2006. Weiss 1897, 166. 352 Vgl. die Schlusssignale in Röm 12,9–21, die Sellin 2006, 421 anführt und die eine Sprechpause erwarten lassen. 353 Zum lebendigen mündlichen Gestalten von Historikertexten vgl. Gärtner 1990, der Subjektwechsel, Wechsel in der Erzählweise, Wechsel des Ortes, wo sich der Erzähler gedanklich befindet, sowie Exkurse und andere „Störungen“ im Gedankengang als Zeichen für die Mündlichkeit auswertet. 354 Nimis 1998. Zu Chiasmus in Paulusbriefen vgl. z. B. Harvey 1998; 2002; MurphyO’Connor 1995, 86–95; Heil 2001. 351

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3,18; vgl. 2 Kor 2,4), auf sein Alter (Phlm 9), auf seine körperliche Gesundheit (2 Kor 12,7; evtl. Gal 4,13–15; 6,17) oder allgemeine Schwachheit (1 Kor 2,3; 2 Kor 4,10; 11,30; 12,5–10; Gal 4,13), sein körperliches Leiden (Kol 1,24; 2 Kor 11,23–30) oder den Umgang mit seinem Leib (1 Kor 7,24–27; Phil 4,11–13).355 Paulus thematisiert seine leibliche Anwesenheit oder Abwesenheit (1 Kor 5,3; 2 Kor 10,10–11; 13,10; Phil 1,27; 2,12; Kol 2,5), ja auch sein Sterben (2 Kor 5,6–8; Phil 1,20–24). Beim Vortrag dieser Stellen wird den Hörern die Körperlichkeit des Absenders bewusst. Wenn zum Beispiel das Alter des Vortragenden mit dem übereinstimmt, was Paulus im Philemonbrief über sich selbst sagt (Phlm 9), also zum Beispiel ein betagtes Gemeindeglied den Brief vorträgt, dann verbalisiert der Vorlesende nicht nur die Gedanken des Apostels, sondern verkörpert ihn sichtbar vor der Versammlung. Wenn dagegen der Brief von einem jungen Menschen vorgetragen wird, dann wird der beim Zuhören erlebte Kontrast zum beschriebenen Zustand des Paulus die Vorstellungskraft der Hörer umso stärker anregen und ihnen seine Situation ins Bewusstsein bringen. 356 Nicht nur die Körperlichkeit des Absenders, auch die körperliche Verfassung der Hörer der Briefe kann durch Paulus thematisiert werden, zum Beispiel indem er die Kraft der Empfänger im Kontrast zu seiner eigenen Schwachheit erwähnt (1 Kor 4,10–13; indirekt in Gal 4,15). Solche Erwähnungen stoßen die Wahrnehmung der Körperlichkeit des Aufführenden wie auch der Zuhörenden an und lösen eine Wirkung aus, die über die semantische Bedeutung der Worte hinausgeht. Eine ähnliche Wirkung hat es, wenn Paulus schreibt, dass er beim Schreiben Tränen vergießt (Phil 3,18). Mit dieser Aussage macht er den Unterschied zwischen seiner Gemütsverfassung und der des Vortragenden bewusst, der an dieser Stelle sehr wahrscheinlich nicht in Tränen ausbricht. Den gleichen Effekt hat die Erwähnung der Stimme in Gal 4,20. Gerade weil Paulus nicht davon ausgeht, dass der Vortragende an dieser Stelle mit veränderter Stimme spricht, erwähnt er, wie seine eigene Performanz klingen würde. Die Vorstellung, dass der Absender durch das Medium des mündlich vorgetragenen Briefes gleichsam anwesend ist (vgl. 1 Kor 5,3; Kol 2,5), wird durchbrochen. 357 Damit wird das Medium der Übermittlung ins Bewusstsein gehoben. 355

Zur Bedeutung der körperlichen Erscheinung in rhetorischer Performanz vgl. Gleason 1995; Larson 2004. 356 Vgl. Fischer-Lichte 2004, 146–150 zur Wirkung des Auftritts gebrechlicher Schauspieler oder der Besetzung männlicher Rollen durch Frauen. 357 Vgl. dazu Holland 2006, 9–18. Er zeigt, dass Paulus die Aufführung seiner Briefe so versteht, dass er gleichsam selbst der Sprecher seiner aufgeschriebenen Worte ist und durch den Vorlesenden bei den Empfängern wirkt. Vgl. zu Briefen als Ersatz der persönlichen Gegenwart Thraede 1970, 39–47; Stirewalt 1993, 86. Betz 1988, 69 deutet Gal

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

Zur Körperlichkeit der Aufführung gehören auch die Gesten. 358 Vor allem die Zeigegesten werden den Aussagen des Textes entsprechen. Wenn im Text auf bestimmte anwesende Personen verwiesen wird, wird das der Vortragende durch seine Handbewegungen und seine Blicke unterstreichen und damit die Blicke der Hörer entsprechend lenken (z. B. Röm 14,3). Das gilt zum Beispiel auch bei den Empfehlungen, die im Brief für die Briefboten ausgesprochen werden. Die Methode, aus dem im Text Gesagten Gesten und Körperhaltung des Sprechers zu erschließen, hat den Nachteil, dass solche Gesten, die die Textaussage ironisieren oder in Frage stellen, nur schwer in den Blick kommen. In Gal 5,10 spricht Paulus sehr unbestimmt von denen, die die Gemeinden mit ihrer Beschneidungsforderung verwirrt haben. Wenn der Vortragende bei dieser Passage bestimmte Personen, die er als Vertreter dieser Forderung kennt, bewusst anschaut, könnte er im Kontrast zu der unbestimmten Aussage einen besonderen Effekt erzielen, der für alle Anwesenden wahrnehmbar wäre. Eine solche Strategie ließe sich vom Text her nur plausibel machen, wenn zu zeigen wäre, dass der ganze Brief mit Ironie arbeitet.359 1.3.4.4 Performativer Raum Ein weiterer Aspekt der Materialität der Performanz ist der „performative Raum“, in dem sich die Aufführung abspielt.360 Damit ist nicht einfach der konkrete Ort gemeint, also das Gebäude oder der Platz, wo Akteure und Zuschauer zusammentreffen, sondern es geht um den Raum, der sowohl durch seine Beschaffenheit als auch durch das, was in ihm geschieht, die Aufführung organisiert und strukturiert, ohne sie jedoch völlig zu determinieren. Die räumliche Anordnung und Bewegung der an der Performanz Beteiligten wird sich je nach dem Ort der Aufführung immer wieder anders ausprägen, und doch wird mehr oder weniger eine bestimmte Grundstruktur verwirklicht. Auch dieser performative Raum ist dem Text eingeschrieben. Es gibt zwar keine ausdrücklichen Anweisungen im Text, wo sich der Vortragende positionieren und wie er sich bewegen soll, aber die Konventionen des Redevortrags und die Gestaltung des Textes lassen Rückschlüs4,20 als Zeichen dafür, dass sich Paulus des Defizits der schriftlichen Kommunikation gegenüber der mündlichen bewusst ist. Er sieht nicht, dass es sich um ein gewolltes Element der Performanz handeln könnte, das das Medium der Übermittlung (Brief und Vortragender) ins Bewusstsein holt. 358 Vgl. Botha 1996; Aldrete 1999. 359 Vgl. Nanos 2002. Zur rhetorischen Strategie der Verschleierung bei Paulus vgl. Given 2001; zu Ironie in Texten über Gott und bei Paulus vgl. Holland 2000. 360 Vgl. Fischer-Lichte 2003c, 100–102; 2004, 187–209.

1.3 Methodik der Performanzkritik

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se zu. Während der Performanz steht der Sprecher an besonderer Position im Raum. Er steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, befindet sich den verschiedenen Gruppen des Publikums gegenüber. Die Person, die einen Paulusbrief in der Versammlung vorträgt, bildet mit ihrer Position im Raum symbolisch die Stellung ab, die Paulus als Apostel in der Gemeinde beansprucht: allen Gliedern der Gemeinde mit ihren verschiedenen Gruppierungen und Interessenvertretern gegenüber in einer besonderen Rolle zu sein. Darauf wird Performanzkritik zu achten haben. Ob im großen Rahmen (Theater oder Forum), ob in geschlossenen Räumen (Odeion, Bouleuterion, Synagoge) oder im mehr familiären Rahmen (Triklinium), der Sprechende hatte die Zuhörer nicht nur direkt vor sich, sondern sie umgaben ihn mehr oder weniger von drei, manchmal sogar von vier Seiten. 361 Die Zuwendung zum Publikum, wenn sie alle Teile des Publikums einschließen sollte, nötigte zum beständigen Wechsel der Blickrichtung und der Körperhaltung. Weil die Sitzordnung des Publikums oft sozial organisiert war und auch generell gilt, dass sich Personen, die sich zusammengehörig fühlen, sich auch zusammensetzen, wird die Zuwendung des Sprechers zu einzelnen Segmenten der Zuhörer sich danach richten, wer inhaltlich angesprochen ist. Performanzkritik macht auf die Positionierung der an der Aufführung Beteiligten aufmerksam und hilft so, den überlieferten Text differenzierter zu lesen. Adressiert der Brief des Paulus bestimmte Gruppen in den Gemeinden, wie wir das zum Beispiel im ersten Korintherbrief finden (1 Kor 1,12; 7,1.8), oder spricht Paulus Gemeindeleiter und einfache Gemeindeglieder getrennt an (1 Thess 5,12–14), dann können wir davon ausgehen, dass jede Anrede mit einer körperlichen Zuwendung verbunden war. Diese Zuwendung kann sich auch im Text niederschlagen. So formuliert Paulus in Phil 4,2: Euvodi,an parakalw/ kai. Suntu,chn parakalw/. Die Wiederholung des Wortes parakalw/ wäre im geschriebenen Text unnötig. Weil aber jeweils zur mit Namen genannten Person gesprochen wird und das mit einer körperlichen Zuwendung verbunden ist, handelt es sich hier nicht um eine unnötige Verdoppelung, sondern um ein Zeichen jeweils individueller Anrede. Die körperliche Zuwendung des Vortragenden erfordert auch Zeit. Die Wortwiederholung bietet diese Zeit und fordert die Körperbewegung geradezu heraus. Wenn einander oppositionell gegenüberstehende Gruppen angesprochen werden, kann sich das im Text in antithetischen parallelen Strukturen äußern (z. B. Röm 14,3). Parallelismus kann also nicht nur dem Gedächtnis dienen, sondern auch die Gruppierungen im Publikum sichtbar machen, die der Verfasser voraussetzt oder konstruiert. Aber auch da, wo sich Paulus in seinem Brief bestimmten Gruppen nicht zuwendet, wo er sie ignoriert oder eine Konfrontation mit ihnen vermeidet, wird sich diese 361

Vgl. zu den Räumen rhetorischer Praxis Korenjak 2000, 30–33.

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

textliche Strategie in Körperhaltung und Blicken des Vortragenden ausdrücken. Einem Text können also ganz unterschiedliche Strategien der Performanz eingeschrieben sein. Zum performativen Raum und damit zur Materialität der Aufführung gehört auch das, was Vortragende und Publikum am Ort der Aufführung vor Augen haben, was man mit Martin Korenjak „den symbolischen Charakter des jeweiligen Ortes nennen könnte, d. h. die Summe der Assoziationen, die mit ihm verknüpft sind und die in der Regel durch seine übliche Verwendung determiniert werden.“362 Wenn man zum Beispiel an einem Ort kultischer Gemeinschaft, etwa in einem Mithräum, zusammenkommt, wird die Wirkung alles Gesagten auf die Teilnehmer anders sein als in einem Gebäude für Lehrdiskussionen. Wenn sich die christliche Gemeinde an einem Ort der Lehre traf (vgl. den Ort der Versammlung in Ephesus nach Apg 19,19), werden solche Kommunikationsmerkmale zu erwarten sein wie Berufung auf persönliche Autorität (Gal 1), Berufung auf autoritative Überlieferung (1 Kor 11,23–25; 15,3–6), autoritäres Beenden einer Diskussion (1 Kor 11,16; 14,36–38), lehrhafte Argumentation und Diatribestil. 363 Solche Hinweise auf Lehrdiskussion finden sich häufig in den Paulusbriefen, sowohl auf der Seite des Paulus in seiner Argumentation als auch auf der Seite der Adressaten in ihren – im Brief reflektierten – Lehrstreitigkeiten. Dass es in den Briefen zugleich liturgische Elemente gibt, 364 deutet auf einen Raum, in dem Lehrdiskussion und Liturgie gemeinsam zu Hause waren, vielleicht ein Hinweis auf die Synagoge als eine gewichtige Tradition im Hintergrund urchristlicher Zusammenkünfte. Ein anderes häufiges Element in den Paulusbriefen ist die Sprache der Familie.365 Die Gemeindeglieder werden Brüder und Schwestern genannt, väterliche Autorität (1 Kor 4,14–15; 1 Thess 2,11–12) und mütterliche Fürsorge (1 Kor 3,2; 1 Thess 2,7) werden als Bilder gebraucht, das Verhältnis der Gemeinde zu Gott wird als Kindschaft definiert (Gal 4,4–7) und das innere Wachstum der Gemeinde wird mit einer Reifung des Menschen verglichen (1 Kor 13,11). Solche Redeweise wird sich zwanglos ergeben, wenn sich die Gemeinde im familiären Bereich versammelt, also in einer 362

Korenjak 2000, 28. Ein Beispiel ist Cicero, Deiot. 6, der beklagt, dass er in einem Privathaus sprechen muss, und darauf verweist, wie die Rede durch den öffentlichen Ort – mit Blick auf die römische Kurie und das Forum – beeinflusst würde. Vgl. für Redner in Rom Aldrete 1999, 19–34; Morstein-Marx 2004, 25–60 (Situation auf dem Forum), 79–82, 92–107 (Statuen im öffentlichen Raum). Vgl. dazu Rhoads 2006, 129–130. 363 Zum Hintergrund der Diatribe in der Lehre vgl. Stowers 1981, 48–78; Schmeller 1987; Campbell 1994, 325–327. 364 Gebetsberichte (z. B. Phil 1,4), Segensworte (z. B. Röm 15,13; 1 Thess 3,11–13; 5,23), Hymnen (z. B. Phil 2,6–11), Lob Gottes (z. B. Röm 11,33–36), liturgische Formeln (z. B. 1 Kor 16,22). 365 Vgl. Birge 2002.

1.3 Methodik der Performanzkritik

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Hausgemeinde. Der jeweilige symbolische Charakter des performativen Raums trägt zur Plausibilität der entsprechenden Redeweise bei. 366 Auch darauf zu achten ist Aufgabe der Performanzkritik. 1.3.5 Textanalyse und Rolle des Publikums in der Performanz Performanzkritik biblischer Texte wird immer alle am Geschehen beteiligten Personen im Blick haben müssen. Dadurch wird die Fokussierung der Auslegung auf das vorliegende Werk und seinen Verfasser – eine Folge der beherrschenden Stellung des schriftlichen Mediums – zugunsten einer Betrachtung des Ereignisses überwunden, so wie es Hester für die neutestamentlichen Briefe gefordert hat.367 Dieses Ereignis ist konstituiert durch die Interaktion zwischen Akteuren und Publikum und die Interaktion des Publikums untereinander. 368 Performanzkritik von Brieftexten wird daher alle Spuren aufnehmen, die auf die Rolle der Briefempfänger als Publikum verweisen oder die auf ihre Aktionen während der Performanz schließen lassen. Im Text ist das Publikum vorausgesetzt, und zwar in zweifacher Weise: einmal dadurch, dass die Zuhörer direkt angesprochen werden, zum anderen dadurch, dass der Text Publikumsreaktionen voraussetzt oder bewusst fördert. 1.3.5.1 Ansprechen des Publikums Während die direkte Anrede der Zuhörer in erzählenden Texten selten ist,369 findet sie sich in den neutestamentlichen Brieftexten gattungsgemäß häufig. Für die Performanzkritik der Briefe spielt die Anrede der Adressaten eine wichtige Rolle. Dabei ist auch das Ansprechen von Einzelpersonen (z. B. Kol 4,17) oder von bestimmten Gruppen der Adressaten (z. B. Gal 6,6) zu berücksichtigen, das direkt oder häufig auch indirekt geschehen kann. Auch macht Performanzkritik ernst mit der Briefadresse des Philemonbriefs (Phlm 1–2), wo ebenso wie in den Schlusswendungen nicht nur Philemon, sondern auch seine Mitarbeiter und seine Hausgemeinde angesprochen werden. In der Regel drückt die Form der Anrede auch das Verhältnis des Paulus zu den Angesprochenen aus, etwa das häufige wohlwollende avdelfoi,, aber auch das erschrockene +W avno,htoi Gala,tai (Gal 366 Die schwierig zu deutende Wendung in 2 Kor 10,7 ta. kata. pro,swpon ble,pete könnte auf etwas verweisen, was Paulus im Raum vorhanden weiß und was uns heute nicht mehr bekannt ist. 367 Hester 1998. 368 Vgl. Rhoads 2006, 128–129. 369 Zum Beispiel die Anrede an den Vorlesenden in Mk 13,14 oder das Zeugnis in Joh 19,35.

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

3,1). Derjenige, der den jeweiligen Brief vorträgt, wird Stimme und Tonfall dem emotionalen Gehalt des Gedankengangs im Brief angepasst haben. 370 Zu beachten sind auch Anspielungen auf anwesende Personen oder Gruppen, sei es dadurch, dass ihre Worte oder Ansichten zitiert werden (z. B. 1 Kor 10,23), oder sei es durch Hinweise auf ihre Lebenspraxis (Röm 14,2; 1 Kor 5,1).371 Ebenso ist zu beachten, wenn eine zu erwartende Anrede fehlt, denn durch das bewusste Ignorieren von Personen werden besondere Wirkungen auf das gesamte Publikum ausgelöst. Fehlende Anrede wird besonders bedeutsam, wenn es um Gegner des Paulus geht. Performanzkritik der Paulusbriefe wird damit rechnen, dass Vertreter der von Paulus abgelehnten oder bekämpften Ansichten und Handlungen beim Vortrag der Briefe anwesend sind, zum Beispiel Vertreter der Beschneidungsforderung in den Gemeinden in Galatien. 1.3.5.2 Interaktion des Publikums untereinander Durch direkte Anrede der Adressatengruppen oder durch Anspielungen auf sie bilden sich im Text die Strukturen des Publikums ab (z. B. Phil 1,2: Gemeinde, Aufseher und Diakone). Zum Beispiel werden durch die oben erwähnten parallelen Strukturen im Text, die durch die Zuwendung zu verschiedenen Gruppen des Publikums entstehen, Oppositionen im Publikum erkennbar. Performanzkritik untersucht darüber hinaus, wie durch die Art der Adressierung oder Anspielung Reaktionen im Publikum ausgelöst werden, die das Verhältnis der einzelnen Gruppen zueinander verändern: Durch die Performanz können Gegensätze verschärft oder Spannungen reduziert werden.372 Performanzkritik versteht die neutestamentlichen Briefe also nicht nur als Übermittlung von Information, sondern als Ereignis, das im Moment des Geschehens Beziehungen zwischen den Beteiligten gestaltet und dadurch Ausstrahlung auch in das Leben außerhalb der Performanz hat. Wenn Paulus in seinen Briefen die Empfänger ermahnt, dann ist das also nicht nur ein Hinweis darauf, was die Briefempfänger in Zukunft tun sollen, sondern die Ermahnung ist durch die Art, wie sie geschieht, in sich selbst ein Ereignis, durch das etwas mit dem Publikum gleich während der Performanz geschieht. 373 Performanzkritik macht diese besondere Dynamik der Performanz erkennbar.

370

So wäre z. B. zu fragen, ob 1 Kor 13 warm („Liebe“) oder eher polemisch klingen muss (ob Menschen- oder Engelssprache, ohne Liebe ist alles „schepperndes Blech“). 371 Kindermann 1979, 25 weist darauf hin, dass in Komödien die Bürger auf den Ehrenplätzen anspielungsreich einbezogen wurden. 372 Vgl. Rhoads 2006, 129. 373 Vgl. Rhoads 2006, 130–31.

1.3 Methodik der Performanzkritik

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Über die Gestaltung von Beziehungen der Personen und Gruppen im Publikum hinaus untersucht Performanzkritik weitere Reaktionen des Publikums, die im Text vorausgesetzt sind oder während des Vortrags ausgelöst werden. Dazu gehören Gelächter, Entrüstung, Erschrecken, Begeisterung, Traurigkeit und Spott. Dass das Publikum der Antike sehr lebhaft reagierte, ist weithin bezeugt.374 Zustimmung oder Ablehnung wurde durch lautes Rufen (vgl. Apg 19,32) oder vielfach wiederholte Akklamationen ausgedrückt (vgl. Apg 19,34). Unter Berufung auf Quintilian und andere rechnet Whitney Shiner damit, dass sich im Text des Markusevangeliums Signale finden lassen, die das Publikum als Aufforderung zum Applaudieren verstand („applause lines“).375 Das sind vor allem Sentenzen am Ende von Abschnitten, die in prägnanter Weise das Gesagte zusammenfassen und die dem entsprechen, was das Publikum für richtig hält. 376 In den Paulusbriefen lassen sich ebenfalls prägnante Wendungen finden. 377 Solche Sentenzen mögen allerdings nicht immer das gesamte Publikum begeistert haben, sondern oft nur die Zustimmung einer Gruppe gefunden haben. Dadurch wurden während der Performanz Minderheiten oder Mehrheiten unter dem Publikum sichtbar, ja oft auch erst geschaffen, denn durch gesteuerten Applaus lässt sich die Meinung eines Publikums manipulieren. 378 Auf diese Weise kann die antizipierte Reaktion des Publikums Teil der Strategie des Briefes sein. 1.3.5.3 Bewertung durch das Publikum Wesentliches Merkmal der Performanz ist die Rolle des Publikums, die ästhetische Qualität der medialen Verwirklichung, zum Beispiel die Kompetenz des Vortragenden, zu beurteilen. Es geht dabei darum, wie etwas dargeboten wird, also um die ästhetischen Komponenten des Geschehens. Beifall oder Kritik durch das Publikum bezogen sich in der Antike nicht nur auf inhaltliche Aspekte der Darbietung, sondern wurden besonders durch sprachliche oder darstellerische Leistung oder Fehlleistung ausgelöst. So geschah es häufig, dass das Publikum eine geschickte Formulierung oder eine meisterliche Darbietung bejubelte, aber auch eine falsche

374 Vgl. Aldrete 1999, 33, 77; für christliche Versammlungen vgl. Shiner 2003, 147– 149; zur Gefahr durch aufgebrachtes Publikum vgl. Morstein-Marx 2004, 165–166. 375 Shiner 2003, 153–170. 376 Korenjak 2000, 131. 377 Zum Beispiel Röm 3,26; 4,25; 1 Kor 9,22; vgl. dazu Holloway 1998. 378 Vgl. Shiner 2003, 144 mit Hinweis auf Plutarch, de recta ratione audiendi 41c, der davor warnt, durch eindrucksvolles Auftreten des Redners und starken Beifall des Publikums beim Hören eines Vortrags unkritisch zu werden; vgl. auch Morstein-Marx 2004, 14–20, 119–143.

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

Betonung oder eine ungeschickte Wendung lautstark kritisierte. 379 Zum Beispiel waren Sentenzen am Ende von Redeteilen nicht nur inhaltliche Zusammenfassung, sondern zugleich Gelegenheiten, die eigene Kompetenz sprachlichen Vortrags zu demonstrieren und auch für die Qualität der Performanz um Applaus zu werben.380 Performanzkritik wird auf alle im Text enthaltenen Hinweise achten, die die bewertende Rolle des Publikums voraussetzen oder daran erinnern. Da sind zunächst die ästhetischen Aspekte der Sprache und des Vortrags zu nennen. Der Verfasser des Briefes wie auch der Vortragende, beide wissen, dass sie von den Zuhörern beurteilt werden. Sie werden daher darauf bedacht sein, eine gute Vorstellung zu geben. Die Charakteristika der mündlichen Sprache wie Rhythmus und Pausen, lautliche Gestaltung wie Alliteration, Assonanz oder Reim, Strukturformen wie Parallelismus oder Chiasmus haben alle einen ästhetischen Reiz, der in der Performanz hörbar ist und der Beurteilung der Zuschauer unterliegt. Der Verfasser wird nicht nur sorgfältig an der sprachlichen Form arbeiten, sondern zugleich auch die Performanz antizipieren und Adressierungen, Gegenüberstellungen, gesellschaftliche Rollen Anwesender, Hinweise auf Ort und Zeit der Performanz, historische Anspielungen, Emotionen und Beziehungen zu den Zuhörenden entsprechend gestalten. Der Vortragende wird sich ebenfalls sorgfältig vorbereiten und die sprachlichen Feinheiten angemessen zur Geltung bringen. Er wird auch in der Modulation der Stimme und in seiner körperlichen Bewegung ganzen Einsatz beweisen. Das Wissen um die Beurteilung durch das Publikum führt auch dazu, dass sich der Verfasser des aufzuführenden Textes von anderen Aufführungen abgrenzen und sich selbst in bestes Licht stellen wird. Performanz war immer auch Wettbewerb.381 Die Bewertung der ästhetischen Qualität des persönlichen Auftritts des Paulus und der Performanz seiner Briefe durch die Korinther wird besonders in 2 Kor 10,1–11 reflektiert. Paulus greift diese Bewertung auf, obwohl er dabei im Urteil vieler Korinther seinen Rivalen unterlegen ist, und kündigt, wenn nötig, einen starken Auftritt an. Auch wenn Paulus am Anfang des Briefes sein Ethos darstellt (2 Kor 4,2; 1 Thess 2,1–8) und sich gegen falsche Verkündiger abgrenzt (Phil 1,15–17; Gal 6,12–14; 2 Kor 11,12–15), seine aufrichtigen Absichten unterstreicht (2 Kor 1,12–2,4; Gal 1,10) und seinen Verzicht auf sophistische Überzeugungsmittel begründet (1 Kor 2,1; 1 Thess 2,3–7), seine rhetorische Kompetenz herunterspielt und zugleich zu erkennen gibt, dass er die

379

Korenjak 2000, 140. Morstein-Marx 2004, 138 bringt ein Beispiel von Cicero. 381 Vgl. Bahn 1932, 436; Thomas 1992, 108; Pogoloff 1992, 173–196; Winter 1997, 126–132. 380

1.3 Methodik der Performanzkritik

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Regeln der Rhetorik beherrscht (1 Kor 2,1–5; 1 Thess 2,1–12), 382 dann ist das nicht unbedingt Verteidigung gegen Vorwürfe, sondern oft ein Zeichen dafür, dass er um die Rolle des Publikums weiß und sich der Beurteilung stellt. Seine Polemik gegen andere Verkündiger (1 Thess 2,5) ist wie eine Einladung an die Zuhörer, der Performanz des Paulus und seines vor ihnen deklamierenden Repräsentanten ein gutes Zeugnis auszustellen. Auch die Diskussion seines Auftritts im Vergleich zu dem des Apollos (1 Kor 3,4– 4,5) offenbart die rhetorische Rivalität zwischen beiden und spricht direkt die bewertende Funktion des Publikums in Korinth an (1 Kor 4,3). Und wenn Paulus an frühere wohlwollende Beurteilungen durch seine Hörer erinnert, dann fordert er dadurch eine erneute positive Bewertung heraus, diesmal der Performanz seines Briefes. 383 In diesem Zusammenhang muss noch einmal darauf verwiesen werden, dass Paulus im Brief auf seine Körperlichkeit hinweist. Indem er auf seine Fesseln (Phil 1,13; Phlm 9; Kol 4,3.18; Eph 6,20), sein Alter (Phlm 9), seine veränderte Stimme (Gal 4,20) oder seine Tränen (Phil 3,18) hinweist, tritt während der Performanz ein Verfremdungseffekt ein. Weil der Vortragende die von Paulus beschriebenen Merkmale nicht an sich hat – er ist nicht in Fesseln, weint nicht, ist vielleicht noch jung, ändert seine Stimme nicht, zumindest nicht so, wie es Paulus tun würde –, wird dem Publikum bewusst, dass sie eine Aufführung erleben, nicht die im Brief beschriebene Realität. Sie mögen zuvor die ihnen bekannte Ausdrucksweise des Paulus wahrgenommen haben, sich in die Gegenwart des Paulus versetzt gefühlt haben, also den Vortrag erlebt haben, als spräche Paulus selbst zu ihnen. Aber nun sind sie aus dieser Illusion herausgerissen, es wird ihnen bewusst, dass sie „nur“ eine Performanz der Pauluskommunikation erleben und dass sie Publikum sind. Zugleich regt das Bewusstsein der Differenz zwischen dem inhaltlich Gesagten und dem körperlich Erlebten dazu an, die mediale Qualität der Performanz zu bewerten. Weil diese Bewertung zu dem gehört, was eine Performanz ausmacht, werden die Zuhörer gleichsam auf ihre Rolle als aktives Publikum verwiesen. 1.3.6 Textanalyse und Rückverweis auf Vorhandenes in der Performanz Als letztes Merkmal von Performanz ist der Rückbezug auf etwas Vorhandenes zu bedenken. Auch dafür lassen sich Spuren im Text finden. Dieser Rückbezug kann inhaltlicher Art sein, also zum Beispiel darauf verweisen, dass die Aufführung ein vorhandenes Skript vor das Publikum bringt. Der Verweis auf Vorhandenes kann auch medialer Art sein, sich 382

Vgl. zu dieser weit verbreiteten Praxis Andersen 2001. Gal 4,13–20; 1 Thess 1,5; 2,1–2.9–12; 2 Thess 2,5; 3,7; zur Erinnerung an die Wirkung früherer Auftritte des Paulus vgl. Holland 2006, 7–9. 383

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

also zum Beispiel auf frühere oder zukünftige Aufführungen beziehen. Für beide Arten des Verweises gibt es Spuren im Text. 1.3.6.1 Inhaltlicher Rückbezug Dass sich Performanz inhaltlich auf ein vorhandenes Skript bezieht, spiegelt sich in den neutestamentlichen Brieftexten dort wider, wo es in ihnen selbstbezügliche Verweise gibt. Wenn Paulus im Brief auf sein Schreiben Bezug nimmt, 384 dann könnte der Vortragende an dieser Stelle auf die Schrift in seiner Hand hinweisen, indem er sie hochhält oder darauf zeigt. Dasselbe gilt, wenn die Stellen vorgetragen werden, wo Paulus auf seine eigenhändige Nachschrift zum Brief hinweist, die dem Publikum beim Zuhören nicht vor Augen war (Gal 6,11; Phlm 19). Performanzkritik wird auch darauf achten, wo im Sinne von Foley durch formelhafte Sprache auf Elemente der Tradition verwiesen wird (Immanent Art). Wie es für mündliche Dichtung typisch ist, stehen einfache Wendungen und geprägte Formulierungen pars pro toto für komplexe Vorstellungswelten, die zur wesentlichen Tradition derer gehören, die in der Performanz zu Hause sind. Für die Briefe des Paulus sind zum Beispiel solche Formeln zu untersuchen wie evn Cristw/| [VIhsou/ ] (z. B. Röm 6,11.23; 8,1–2; 9,1; 12,5; 15,7; 16,3 und noch viel öfter) oder auch dia. Cristw/| (z. B. 2 Kor 1,5; 3,4; 5,18). Diese Wendung gibt ihre formelhafte Funktion auch dadurch zu erkennen, dass sie als Abschlusssignal verwendet ist (Röm 5,21; 6,23; 7,25; 8,29). Weitere Verweise auf die Tradition sind gegeben mit der formelhaften Verwendung von euvagge,lion385 oder ca,rij qeou/386 und vielen anderen Wendungen. Bisher sind diese Wendungen lediglich auf ihre theologische Aussage hin untersucht worden, nicht dagegen als formelhafte Wendungen einer mündlichen Performanz. 1.3.6.2 Medialer Rückbezug Mediale Verweise finden sich in der Performanz von Briefen dort, wo auf frühere Aufführungen zurück- oder auf kommende vorausgeblickt wird. Auf frühere Aufführungen verweist generell jeder Vortrag eines administrativen Briefes, indem er eine bekannte soziale Institution realisiert. 384 Röm 15,15; 1 Kor 4,14; 9,15; 14,37; 2 Kor 1,13; 13,10; Gal 1,20; Phlm 21; vgl. Eph 3,3. Zu den Verweisen des Paulus auf seine schriftliche Kommunikation vgl. Holland 2006. 385 Auch mit formelhaften Erweiterungen wie z. B. durch tou/ Cristou/ (1 Kor 12,9; 2 Kor 2,12; 9,13; 10,14; Gal 1,7; 1 Thess 3,2), tou/ qeou/ (2 Kor 11,7; 1 Thess 2,2; 2,8.9), tou/ ui`ou/ auvtou/ (Röm 1,9). 386 1 Kor 1,4; 3,10; 15,10; 2 Kor 1,12; 6,1; 8,1; 9,14; Gal 2,21; Kol 1,6; 1 Thess 1,12; auch erweitert durch h` doqei/sa (Röm 12,3.6; 15,15; 1 Kor 1,4; 3,10) oder evn h-| e`sth,kamen (Röm 5,2); vgl. auch den Gebrauch in Anfangs- und Schlussgrüßen der Briefe.

1.3 Methodik der Performanzkritik

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Wenn der Autor sich als Briefschreiber thematisiert, wird damit auf ein vorgegebenes Verhalten, auf eine soziale Rolle verwiesen, nämlich auf die Rolle des administrativen Briefautors. Damit wird indirekt auch die Rolle der Briefempfänger definiert. Sie sind seiner Wirksamkeit unterworfen. Paulus setzt sich zum Beispiel als Apostel und Gemeindegründer „in Szene“ und drängt die der Aufführung des Briefes Zuhörenden in die Rolle derer, die seine „Kinder“ (1 Kor 4,15; 1 Thess 2,11–12; Phlm 10.19), sein „Bau“ sind (1 Kor 3,10). Ganz ähnlich wird in den Ignatiusbriefen die Autorität des Bischofs „in Szene“ gesetzt. Diese im Text eingeschriebenen sozialen Rollen werden in der jeweiligen Performanz des Briefes mit den speziellen Gegebenheiten des Vorlesenden (sein Alter, die Kraft seiner Stimme, seine persönliche Gabe zu führen, seine eigene Autorität in der Gemeinde) und mit der je besonderen Situation der Gemeinde zusammentreffen. Performanzkritik kann zwar diese speziellen Bedingungen der einzelnen Aufführungen des Briefes nicht rekonstruieren, wird aber darauf achten, wie stark der Text geeignet ist, den Vortragenden in seiner persönlichen Rolle und Autorität zu stärken. Wenn zum Beispiel Polykarp als Bischof von Smyrna den an ihn adressierten Brief des Ignatius selbst vortrug, aber auch wenn ein ihm unterstellter schriftkundiger Abhängiger diese Aufgabe übernahm, wird sich die bischöfliche Autorität, die im Brieftext zum Ausdruck kommt, mit der Autorität des Polykarp überlagern und sie so verstärken. Das wird auch bei späteren Aufführungen dieses Briefes geschehen, bei denen gleichsam ein anderer Bischof die Rolle des Empfängers übernimmt. Ganz anders dagegen ist es in der Aufführung des Philemonbriefs. Sollte Philemon – oder in späteren Aufführungen eine andere Leitungspersönlichkeit der Gemeinde – den Brief selbst vortragen oder durch einen Abhängigen vortragen lassen, dann wird durch den Text des Paulus die Autorität des Vortragenden nicht verstärkt, sondern eher der Autorität des Paulus unterworfen und damit sein Status dem der zuhörenden Gemeinde angenähert. Aber auch speziell für den jeweils vorliegenden Brief gilt, dass er – falls er zum wiederholten Mal gelesen wird – auf seine früheren Aufführungen zurückverweist, oft auch speziell auf seine „Uraufführung“, also auf die Situation, wo der Brief das erste Mal vor den ursprünglichen Adressaten verlesen wurde. Ein interessantes und recht komplexes Beispiel ist hier die Anspielung des ersten Clemensbriefs auf den ersten Korintherbrief des Paulus (47,1–4). Aus der Anweisung, den Brief des Paulus zur Hand zu nehmen (avnala,bete th.n evpistolh.n tou/ makari,ou Pau,lou tou/ avposto,lou), geht hervor, dass der Brief zum wiederholten Vortrag zur Verfügung stand und wohl auch so genutzt wurde, schließlich wird der Inhalt des Paulusbriefs bei den Korinthern etwa 40 Jahre nach der ersten Lesung als bekannt vorausgesetzt. Zugleich wird aber auf seine „Uraufführung“ angespielt,

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Kapitel 1: Theorie der Performanzkritik

indem auf die damals in der Gemeinde vorhandenen Spaltungen verwiesen wird. Der erste Clemensbrief knüpft also bewusst an die Aufführung eines apostolischen Briefes an – und zwar sowohl an spätere Aufführungen als auch an die ursprüngliche – und nimmt so die bereits vorhandene Rolle autoritärer Briefe bei der Streitschlichtung für sich selbst in Anspruch. Aber auch zukünftig wiederholte Aufführungen können im Text bereits vorausgesetzt sein, zum Beispiel in den Leseanweisungen, die sich in den Paulusbriefen (1 Thess 5,27, Kol 4,16) und auch sonst in Briefen finden. Den Schluss der syrischen Baruch-Apokalypse bildet ein fiktiver Brief des Baruch an die neuneinhalb Stämme Israels. In ihm wird das wiederholte Vortragen des Briefes angemahnt: „Darum – wenn ihr den Brief empfangen werdet, dann lest ihn vor in eueren Versammlungen mit Sorgfalt. Und denkt darüber nach, besonders aber in den Tagen eurer Fasten“ (syrBar 86,1–2).387 Die Anweisung setzt für die Entstehungszeit dieser jüdischen Schrift 388 in der Synagoge die Gewohnheit voraus, dass autoritative Briefe immer wieder gelesen werden. Paulinische Gemeinden könnten mit den Briefen ihres Apostels ähnlich umgegangen sein. Auch dass nach 1 Kor 1,2 der erste Korintherbrief nicht nur an die Gemeinde Korinth, sondern an alle Heiligen, „die den Herrn Jesus Christus anrufen an jedem Ort“, gerichtet ist, deutet auf mehrfaches Vortragen des Briefes hin. 389 Nach 1 Thess 4,18 sollten die vorgelesenen Worte zum gegenseitigen Trost für trauernde Gemeindeglieder werden. Glenn S. Holland schließt daraus, dass der Brief wiederholt vorgetragen werden sollte und dass die Hörer die Worte des Paulus mündlich wiederholten. 390 Performanzkritik wird auf alle diese Hinweise achten.

387

Zur Leseanweisung in syrBar 86.1–2 vgl. Oestreich 2004, 242. Anfang des 2. Jhdts. n. Chr., so Klijn 1976, 107. 389 Wenn diese Erweiterung der Adresse nicht eine nachträgliche Verallgemeinerung ist, dann würde sie darauf schließen lassen, dass Paulus mit einer weiteren Verbreitung seiner Briefe rechnete. Zur Verallgemeinerung der Briefadresse bei der Herausgabe einer Paulusbriefsammlung vgl. Schmithals 1965b, 189; Trobisch 1989, 80–83, 107. 390 Holland 2006, 5. 388

Kapitel 2

Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe Die folgenden Textstudien untersuchen die Briefe des Paulus und anderer Autoren mit den Mitteln der Performanzkritik. Ein wichtiger Aspekt dieser Methode ist die Beachtung der Rolle des Publikums. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Kommunikationsgeschehen während des Vortrags eines Paulusbriefs sollen hier zunächst grundsätzlich bedacht werden.

2.1 Adressierung eines gespaltenen Publikums 2.1 Adressierung eines gespaltenen Publikums

2.1.1 Die Zuhörer der Paulusbriefe waren nicht einheitlich Das Publikum ist aktiv an der Gestaltung der Performanz beteiligt, indem es durch seine körperliche Gegenwart und seine Reaktionen den Vortragenden beeinflusst. Aber das Publikum wirkt nicht nur auf den Vortragenden ein, sondern interagiert auch untereinander und miteinander. Diese Interaktion im Publikum wird umso lebendiger und heftiger sein, je inhomogener das Publikum zusammengesetzt ist oder je stärker das Vorgetragene geeignet ist, das Publikum zu spalten. In den Briefen des Paulus gibt es eine Fülle von Hinweisen darauf, dass es Differenzen und Spaltungen in seinen Gemeinden gab. Den Römerbrief durchzieht die Frage nach dem Verhältnis von Juden und Heiden in der Gemeinde (Röm 1,16–17; Röm 4; Röm 9–11). In den Kapiteln 14 und 15 wird schließlich von einer konkreten Auseinandersetzung gesprochen: Die Christen in Rom verurteilen und verachten einander, weil es unterschiedliche Haltungen zu bestimmten Essensregeln gibt. 1 Die Mehrzahl der Exegeten versteht den Abschnitt als Reaktion des Paulus auf eine reale Kontroverse der Gläubigen in Rom.2 Die Ursache dieser Spannungen, die 1

Eine gute Übersicht über die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten von „Schwachen“ und „Starken“ in Röm 14–15 geben Reasoner 1999, 1–23 und Gäckle 2005, 21–30. 2 Ob Paulus in diesen Kapiteln ein reales Problem anspricht oder nur grundsätzliche Erwägungen anstellt – wie z. B. Karris 1973 annimmt –, ist oft erörtert worden. Eine Literaturübersicht zu dieser Frage bei Reasoner 1999, 24–44; Gäckle 2005, 323–327; vgl. die Aufsätze in Donfried 1991.

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

wahrscheinlich auf jüdische Gesetzesobservanz zurückgehen, wurde so gedeutet, dass nach der Aufhebung des Claudiusedikts die nach Rom zurückkehrenden Judenchristen heidenchristlich dominierte Hausgemeinden vorfanden, die sich wohl aus politischen Gründen von den jüdischen Bräuchen distanziert hatten.3 Diese These haben Wolfgang Wiefel und Peter Lampe ausführlich begründet. 4 Sie hat weithin Anerkennung gefunden. 5 Eine räumliche Dezentralisation, also dass sich die Gläubigen nicht in einer zentralen Gemeinde versammelten, sondern in mehreren größeren Privathäusern, mag zu den gegenseitigen Verdächtigungen und Missverständnissen beigetragen haben. 6 Im ersten Korintherbrief werden Spaltungen (sci,smata) an zwei Stellen ausdrücklich thematisiert (1,10–12; 11,18). Gerd Theißen schreibt: „Die Korinthische Gemeinde ist durch eine innere soziale Schichtung charakterisiert: Einigen tonangebenden Gemeindegliedern aus der Oberschicht steht die große Zahl von Christen aus den unteren Schichten gegenüber.“ 7 Paulus ist durch die Leute der Chloe darüber informiert worden, dass es Spaltungen gibt (1,10–11). Außerdem liegt Paulus ein Schreiben der Gemeinde vor, in dem zu verschiedenen Fragen um eine Stellungnahme gebeten wird. Auch diese Anfragen offenbaren Meinungsverschiedenheiten in der Gemeinde, etwa zum Essen des Götzenopferfleisches (Kap. 8–10) oder zur Bedeutung verschiedener Geistwirkungen (12–14). Zungenrede wird von einigen als Mittel genutzt, Ehre und Anerkennung in der Gemeinde zu gewinnen. Theißen hat auch die Probleme mit dem Abendmahl in 1 Kor 11 untersucht und kommt zu dem Ergebnis, dass sich auch dort zwei Gruppen gegenüberstehen, die sozial differenziert sind: die mh. e;contej und die, die ein eigenes Mahl haben (i;dion dei/pnon).8 Wohl auch zu Fragen der Ehescheidung (Kap. 7) gab es miteinander konkurrierende Meinungen, auch wenn sich das nicht so einfach in zwei gegenüberstehende Lager aufteilen lässt. Schon dass Paulus seine Informationen durch zwei unterschiedliche 3

Michel 1955, 7–9. Wiefel 1970; Lampe 1989. 5 Stuhlmacher 1986, 186; Haacker 1990, 38; Moiser 1990, 576–577; Crafton 1990, 320–325; Jewett 1995, 93; Gäckle 2005, 291–300, 329–330; vgl. bereits Marxsen 1964, 91–93; Wilckens 1974, 120; 1978, 36–39; auch Bartsch 1971, 82–84, 86–87 und passim, für den in Rom noch keine „Gemeinde“ (aus Heiden und Juden) bestand. Ablehnend Thorsteinsson 2003, 92–97, der die Empfänger des Römerbriefs allein als Heidenchristen identifiziert. 6 Gäckle 2005, 305–308; vgl. Jewett 1995, 94–96. 7 Theißen 1989a, 231; vgl. Meeks 1993b; Stegemann und Stegemann 1995, 253–255 relativieren „Oberschicht“: Wohlhabendere, aber nicht Oberschicht. 8 Theißen 1989c. Theißen stellt fest (S. 294), dass das e[kastoj in 1 Kor 11,21 nicht gepresst werden darf, weil es ja die gibt, die gar kein eigenes Mahl haben. Hier spricht Paulus offenbar zu bestimmten Leuten in der Korinthergemeinde. 4

2.1 Adressierung eines gespaltenen Publikums

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Kommunikationskanäle bekommt, kann als Zeichen für die Mehrschichtigkeit der Gemeinde gedeutet werden.9 Es handelt sich um eine mündliche Information, wohl durch Sklaven oder Freigelassene des Haushalts der Chloe, 10 und eine schriftliche, verfasst wohl von offiziellen Repräsentanten der Gemeinde, die sicher einer etwas gehobeneren Schicht zugeordnet werden können. 11 Die mündlich vorgetragene Perspektive auf die Gemeindesituation macht den Streit an Personen fest (Paulus, Apollos, Petrus), die schriftliche an Sachfragen. Margaret Mitchell hat versucht, den ersten Korintherbrief unter einem einheitlichen Grundgedanken zu verstehen: als eine Ermahnung zur Einigkeit. 12 Richtig ist sicher, dass das Thema der Einigkeit nicht auf die ersten Kapitel beschränkt werden kann. Charles K. Robertson hat eine Arbeit vorgelegt, in der er einen systemischen Ansatz zugrunde legt und die Streitigkeiten als Ausdruck dafür versteht, dass die junge Gemeinde noch auf der Suche nach ihrer eigenen Identität ist.13 Zwar sind im zweiten Korintherbrief keine Hinweise mehr auf die Streitigkeiten zu finden, zu denen Paulus im ersten Korintherbrief Stellung nahm, aber dennoch ist die Gemeinde auch nach dem Zeugnis dieses Briefes nicht einig. Die von den „Überaposteln“ – wohl judenchristliche Wanderapostel14 – hervorgerufene Krise im Verhältnis zu Paulus blieb auch in der Gemeinde nicht ohne Folgen. Das zeigt besonders drastisch der Vorfall bei einem kurzen Besuch des Paulus in Korinth (von Ephesus aus, um 54). Ein Gemeindeglied hatte Paulus in beleidigender Weise angegriffen und Unrecht getan (7,12), wohl sein Apostelamt bestritten. Die Gemeinde hat sich nicht auf die Seite des Paulus gestellt. Zwar schlägt Paulus in 2 Kor 2,5–11 versöhnliche Töne an, schränkt aber ein: „Wenn jemand betrübt hat, der hat nicht mich betrübt, sondern zum Teil, damit ich nicht übertreibe (mh. evpibarw/), euch alle.“15 Diese Einschränkung zeigt, dass Paulus nicht von einer einheitlichen Haltung der Korinther ausgehen kann, sondern die Gemeindeglieder immer noch unterschiedlich eingestellt sind. Die Probleme, die Paulus im Galaterbrief anspricht und von denen oft angenommen wird, dass sie von außen an die Gemeinde herangetragen 9

Theißen 1989b, 286–287; 1989c, 309–311. Theißen 1989a, 254 –255. 11 Dass Paulus von einem sci,sma spricht, geht sowohl in 1,11 als auch in 11,18 auf mündliche Information zurück, die in 11,18 von Paulus mit Zurückhaltung aufgenommen wird. Vgl. Theißen 1989b, 286; 1989c, 310. 12 Mitchell 1991. 13 Robertson 2001. 14 Vgl. Georgi 1964; Wolff 1989, 5–8; zur Frage nach der Methode vgl. Sumney 1990. 15 Wolff 1989, 44 deutet das mh. evpibarw/ in 2 Kor 2,5 als qualitative Einschränkung: „nur bis zu einem gewissen Grad“, weil er einen Widerspruch sieht zu dem unmittelbar folgenden „pa,ntaj u`ma/j“. Aber dieser „Widerspruch“ ist unproblematisch in lebendiger Rede. 10

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

worden sind,16 blieben offensichtlich nicht ohne Spuren. In Gal 5,15 warnt Paulus in drastischen Worten vor der zerstörerischen Wirkung von Streit in der Gemeinde. Er wird Grund dazu gehabt haben.17 Aber auch in Gemeinden, in denen keine Streitfälle zu schlichten und keine Spaltungen zu überwinden sind, kann nicht von einer Homogenität der Gemeinde ausgegangen werden. Im Philipperbrief, der durchweg von freundlichen Tönen bestimmt ist, spielt dennoch das Thema der Einigkeit eine wichtige Rolle (1,27–2,11) und wird ein konkreter Fall von Streit zwischen zwei angesehenen Mitarbeiterinnen angesprochen (4,2–3). 18 Über rivalisierendes Verhalten unter Missionaren in seinem eigenen Umfeld spricht Paulus in 1,15–18 und tut das sicher auch im Blick auf die Situation in Philippi. Sein großzügiger Umgang mit denen, die ihm Konkurrenz machen wollen, wird zum Modell für die Lösung ähnlicher Probleme in Philippi. Damit hängt wohl auch die auffällige Erwähnung der Gemeindeverantwortlichen im Briefkopf zusammen (su.n evpisko,poij kai. diako,ónoij, 1,1). Nach dem 1. Thessalonicherbrief scheint das Verhältnis des Paulus zu dieser Gemeinde sehr positiv zu sein. Es sieht nicht so aus, als gäbe es Uneinigkeit in der Gemeinde, obwohl die Liebe untereinander auch in diesem Brief im Gebetswunsch (3,12) und in der Ermahnung (4,9–10) genannt wird.19 Jedoch spricht Paulus auch in diesem Brief von unterschiedlichen Personengruppen. Da werden die genannt, die für die Gemeinde arbeiten und ihr vorstehen (die kopiw,ntej und die proista,menoi, 5,12), wahrscheinlich handelt es sich dabei um Gemeindeglieder, denen auf Grund ihres 16

Zu den Gegnern in Galatien vgl. Rohde 1989, 14 –21; zur Methode Barclay 1987. Eine Übersicht bieten Schewe 2005, 16–59; Elmer 2009, 3–26. Zu welchem Ergebnis Performanzkritik in dieser Frage führt, dazu siehe unten auf S. 208–212. 17 Witherington 1998, 384: “… that Paul believes that factious bickering and disputes are already probably happening in the Galatians congregations.” So auch Schlier 1965, 246; Bruce 1982, 242; Barclay 1988, 71; Schewe 2005, 110; keinen realen Hintergrund sehen Mußner 1974, 373–374; Betz 1988, 472; Becker 1998, 87; unentschieden Vouga 1998, 131. Überblick über die Literatur bei Schewe 2005, 108–110. Diese Stelle, Gal 5,15, hat Lütgert 1919, 9 zu der Annahme geführt, dass es Paulus im Galaterbrief mit zwei gegnerischen Fronten zu tun hat: Judaisten und Libertinisten. Dagegen hat Schewe 2005, 108–116 überzeugend dargelegt, dass der Streit unter den Gläubigen in Galatien „Ausdruck der einen theologischen Krise, die sich mit Gesetzesgehorsam und Beschneidung verbindet“, ist. „Die Gemeinschaftsschädigung ist vielmehr eine zwangsläufige Äußerung einer Anerkennung der Thoraobservanz“ (S. 113, Hervorhebung im Original). 18 Vgl. Holloway 2001, 47–48: Die Uneinigkeit ist die Folge von Entmutigung in Philippi, die vor allem durch die Verhaftung des Paulus ausgelöst wurde. Ausführlich dazu Peterlin 1995, der auf S. 61–62 Auffassungen diskutiert, die in Philippi keine Uneinigkeit sehen. 19 Vgl. aber Friedrich 1990, 251, der mit Meinungsverschiedenheiten rechnet; vgl. auch Masson 1957, 73, 79.

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sozialen Status Leitungsfunktionen zufielen. 20 Auch gibt es die Unordentlichen (a;taktoi), die Mutlosen (ovligo,yucoi) und die Schwachen (avsqenei/j) in der Gemeinde (5,14). Weil sich solche Differenzierungen auch in diesem Brief finden, müssen wir auch hier davon ausgehen, dass die Zuhörer nicht einheitlich sind, obwohl von einem offenbaren Streit in der Gemeinde nichts erkennbar ist. Dieser Überblick zeigt, dass die Unterschiedlichkeiten in den Gemeinden und die eventuell damit verbundenen Gruppenbildungen sehr verschieden qualifiziert sein können. Man kann von einer sozialen Differenzierung ausgehen, wie Theißen das für die Korinthergemeinde darlegt. Man kann auch von religiösen Gruppen sprechen. Jedenfalls hat Paulus die Argumentation etwa über die Schwachen in der Gemeinde Korinth und Rom religiös gestaltet, wenn dieser Konflikt wohl auch noch andere Komponenten hatte. Kulturelle Unterschiede klingen an, wenn Paulus zwischen Griechen und Barbaren, Weisen und Unweisen unterscheidet (Röm 1,14). Die Gruppenbildungen können auch eine ethnische Seite haben, wie zum Beispiel Esler für den Römerbrief gezeigt hat.21 Dass zur Einheit der Gemeinde auch die Überwindung ethnischer Grenzen gehört, zeigt sich in Röm 15,7–12 oder in Gal 3,28. Oft werden mehrere Aspekte zur Gruppenbildung zusammengewirkt haben. Gemeindeleiter waren oft die Angehörigen einer sozial gehobenen Schicht, die als Patrone und Gastgeber ihr Haus öffneten und zugleich als Hausherren auch Leitungsfunktion ausübten. Religiöse und ethnische Faktoren werden zur Gruppenbildung geführt haben, weil die ethnische Herkunft (z. B. aus dem Judentum) oft auch religiöse Praxis bedingte (wobei auch Nichtjuden die religiösen Bräuche der Juden angenommen haben). Nicht immer wird zwischen den verschiedenen Gruppen Rivalität bestanden haben, nicht in jedem Fall lagen die Gruppen miteinander in Streit. Auch in einer friedlichen Gemeinde wie zum Beispiel in Thessaloniki gab es unterscheidbare Gruppen, die gesondert angesprochen werden können. 2.1.2 Der Sprecher stellt sich auf ein gemischtes Publikum ein Dass sich ein Sprecher in einer Performanz einem differenzierten, ja zuweilen sogar sehr gegensätzlichen Publikum gegenüber sieht, ist nichts Ungewöhnliches. Es gehört zu seiner Aufgabe, sich darauf einzustellen und die verschiedenen Zuhörer und Zuhörergruppen ihren Interessen ent-

20 Soziale Unterschiede wird es gegeben haben, obwohl die Gemeinde insgesamt wohl arm war (2 Kor 8,2 für Mazedonien) und Paulus aus Philippi zweimal Geld bekam (Phil 4,16). Sie bestand wohl aus Handwerkern, Lohnarbeitern und kleinen Händlern (Phil 4,11), so vermutet Haufe 1999, 11. 21 Esler 2003; vgl. Walters 1993.

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sprechend anzusprechen. 22 Besonders wichtig ist das in der Gerichtsrede, in der unter den Zuhörern sowohl Prozessgegner als auch Anhänger der eigenen Partei sitzen, dazu auch noch die Richter, die für die eigene Position zu gewinnen sind. Der Redner wird sich bewusst machen, dass jede Gruppe seine Aussagen anders aufnehmen wird. 23 Aber auch in einer Beratungsrede werden unterschiedliche Ansichten über die zu beratende Angelegenheit das Publikum differenzieren oder sogar spalten. 24 Dasselbe gilt für das Ereignis der Briefübermittlung. Paulus war sich darüber klar, dass die Zuhörer bei der Aufführung seiner Briefe oft verschiedener Herkunft und Auffassung sind. 25 Daher differenziert er in seiner Argumentation und in seinen Anreden an die Hörer. Er kann in seiner Adressierung der Hörer auf ihre ethnische Herkunft oder ihren religiösen Hintergrund verweisen (z. B. Röm 11,13: ~Umi/n de. le,gw toi/j e;qnesin), kann eine Gruppe auf ihr Verhalten (z. B. 1 Kor 11,21) oder ihre Auffassung hin ansprechen (1 Kor 15,12). Er kann sich aber auch ohne direkte Anrede bestimmten Gruppen im Publikum zuwenden, etwa dadurch, dass er ein bestimmtes Verhalten, eine Anschauung oder eine typische Aufgabe thematisiert. Die gleiche Wirkung hat es, wenn er einen Slogan einer Gruppe zitiert (z. B. 1 Kor 10,23a) oder ihre Gedanken oder Fragen in eine treffende Formel fasst. In der Regel ist auch dann eine ganze Gruppe gemeint, wenn sich Paulus bestimmten Einzelpersonen zuwendet (z. B. Phil 4,2–3). Mit der genannten Person werden sich immer auch andere im Publikum angesprochen fühlen. Bei Personen mit gewisser sozialer Bedeutung sind das die Abhängigen wie Familienangehörige, Sklaven oder Mitarbeiter, bei anderen sind es Gleichgesinnte, Angehörige der gleichen Hauskirche oder solche im gleichen sozialen Stand, die sich solidarisieren. Ein spezieller Fall der Anrede bestimmter Gruppen im Publikum sind parallele Gestaltungen, die zwei Auffassungen gegenüberstellen, zum Beispiel die Starken und Schwachen in Korinth und Rom (1 Kor 8,7–12; Röm 14,1–4). Es gab ja sicher auch Zwischenpositionen, Unentschlossene 22

Vgl. die verschiedenen Interessen der Altersgruppen bei Aristoteles, rhet. 2.12–17. Fuhrmann 1990, 58 verweist auf die Rede Ciceros, pro Milone, in der der Redner die verschiedenen Gruppen unter den Zuhörern kommentiert. Vgl. Cicero, pro Flacco 66: „Sic submissa voce agam tantum ut iudices audiant; neque enim desunt qui istos in me atque in optimum quemque incitent; quos ego, quo id facilius faciant, non adiuvabo.“ Cicero dämpft seine Stimme, damit die zahlreich anwesenden Juden möglichst nicht hören, was er zum Richter sagt, weil die Juden den Prozess zu beeinflussen suchen. Es ging um ein Verbot der Zahlung der Tempelsteuer aus Asia nach Jerusalem durch Flaccus. 24 Korenjak 2000, 147–149 zeigt an Beispielen aus sophistischen Reden die Kommunikation des Publikums untereinander, die auch Elemente von Gruppenbildung und Konkurrenz enthält. 25 Zu Konflikten in den frühchristlichen Gemeinden vgl. den konflikttheoretischen Ansatz bei Heiligenthal 1996. 23

2.1 Adressierung eines gespaltenen Publikums

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und am Streit gänzlich Desinteressierte. Durch seine Gegenüberstellung reduziert der Apostel die Streitfrage auf zwei Positionen, denen er sich abwechselnd zuwendet – was der Vortragende wahrscheinlich auch durch seine Körperbewegung unterstrichen hat. Genauer müssen wir sagen, dass es drei Positionen sind, denn der Apostel stellt sich in seiner vermittelnden Rolle beiden anderen gegenüber. Diese Positionen bilden sich ganz konkret im Raum ab, wenn der Vortragende im Zentrum steht und die Vertreter der streitenden Parteien beieinander sitzen. Paulus stimmt der jeweils angesprochenen Gruppe zu oder korrigiert sie, lobt sie oder muss sie ermahnen. Er lässt sie und damit auch alle anderen Anwesenden erkennen, in welchem Verhältnis er zu ihnen steht. Das wird durch den, der in der Performanz den Brief vorträgt und damit Paulus repräsentiert, körperlich ausgedrückt. Durch Tonfall und Stimme wird der Vortragende den emotionalen Gehalt der Anrede an die Gruppe zum Ausdruck bringen. Gestik und Körperhaltung werden die Adressierung der Gruppe unterstützen, ja oft erst eindeutig machen. Er wird sich den Angesprochenen körperlich zuwenden, ihnen vielleicht sogar einen Schritt näher treten. Er wird sie anschauen und durch seinen Gesichtsausdruck das Lob oder die Kritik unterstreichen. Auch durch seine Handbewegungen kann er die Angesprochenen kennzeichnen und hervorheben. Die Angesprochenen werden darauf antworten, indem sie besonders aufmerksam sind, ihre Blicke auf den Vortragenden richten, je nach Inhalt des Gesagten lächeln, nicken, skeptisch oder feindlich blicken, auch dazwischenrufen oder protestieren. Die körperlichen Vorgänge gehören zum Wesen jeder Performanz und lassen sie zu einem Ereignis werden, das mehr einschließt als ein Verstehen eines vorgegebenen Inhalts. Weil das Publikum bei der Performanz der Paulusbriefe nicht einheitlich ist und unterschiedliche Gruppen der Zuhörer angesprochen werden, können wir also nicht von der einfachen Vorstellung ausgehen, dass Paulus in jedem Fall die Hörer in gleicher Weise meint und konfrontiert, etwa nach dem einfachen Kommunikationsmodell: Paulus

Brieftext

Hörer

Vielmehr müssen wir damit rechnen, dass Teile seiner Briefe (Argumente, Anspielungen, Zitate, Aufforderungen, Ermahnungen) sich an einzelne Zuhörer oder bestimmte Gruppen unter den Zuhörern wenden. Im einfachsten Fall: Briefteil x

Hörergruppe A

Briefteil y

Hörergruppe B

Paulus

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

Das wird auch seit langem von vielen Auslegern berücksichtigt. 26 Nach Gerd Theißen wendet sich Paulus mit den Ausführungen in 1 Kor 11,17– 22 und der Anrede „Habt ihr nicht Häuser, wo ihr essen und trinken könnt“ in Vers 22 an die sozial besser Gestellten, nicht an die mh. e;contej. Theißen nimmt auch an, dass Paulus in 1 Kor 6 die Reichen anredet, die es sich leisten konnten, vor heidnischen Gerichten zu prozessieren, obwohl er in Vers 4 nur die einfache Anrede in der zweiten Person Plural verwendet. Ebenso: „In 1 Kor 9,3 verteidigt sich Paulus nur vor einigen: toi/j evme. avnakri,nousin.“ Das werden die gewesen sein, die in Korinth etwas zu sagen hatten, die Protagonisten anderer Missionare, die zu den gehobenen Schichten gehörten.27 Philip F. Esler geht in seiner sozialgeschichtlichen Auslegung des Römerbriefs davon aus, dass es zwischen den Christusgläubigen in Rom Spannungen gab, die daraus resultierten, dass einige jüdischen und andere nicht-jüdischen Hintergrund hatten. Das Anliegen des Paulus war es, die Konflikte zu reduzieren, indem er ihre gemeinsame Identität in Christus stärkte. Entsprechend seinem Ansatz achtet Esler genau darauf, welche Gruppe jeweils von Paulus in den Abschnitten des Briefes angesprochen wird. 28

26 Ellis 1970/71, 449 stellt fest, dass Paulus in seinen Briefen verschiedene Personen und Personengruppen direkt anspricht, auch solche, die im Briefanfang nicht genannt wurden. Als Beispiele nennt er: Röm 7,1; 11,13; 14; 1 Kor 11,20–22; Phil 4,2–3. Nach Ellis richten sich Teile des Briefinhalts besonders an die örtlichen Mitarbeiter des Paulus. Schreiber 1977 wendet die Theorien der Gruppendynamik auf die Korinthergemeinde an. Er rechnet damit, dass der Paulusbrief in Korinth von den einzelnen Gruppen unterschiedlich aufgenommen wurde, beachtet aber nicht die Wirkung auf die Gemeinde als ganze, fragt auch nicht, ob Paulus diese Wirkung beabsichtigte. Stirewalt 2003, 13 betont: “Paul’s letters are addressed to whole ecclesiae or to house churches even when he is dealing with one-to-one relationships (Phil 4:1–2; Phlm; cf. Col 4:17) or with factions within a community (1 Cor 3).” Ein Beispiel dafür, dass nicht beachtet wird, wer jeweils angeredet wird: Weil Paulus in 1 Thess 5,11 von einem gegenseitigen Ermahnen der ganzen Gemeinde geredet hat und avdelfoi, verbunden mit parakalei/n z. B. in 4,1 (vgl. Brüder in 4,13; 5,1) für die ganze Gemeinde steht, kommt Holtz 1986, 250 zu dem Schluss (er folgt Best 1972, 229), dass auch in 5,14 die ganze Gemeinde angesprochen ist. Zu dieser Stelle siehe unten im Abschnitt 3.5.1, besonders auf S. 191–193. 27 Theißen 1989a, 257–258; vgl. Theißen 1989b, 286 zu 1 Kor 8–10: „Interessant ist nun, daß Paulus auch seine Antwort fast ausschließlich an die Starken adressiert. Fast alle Stellen, in denen die zweite Person begegnet, sind an sie gerichtet; vgl. etwa: ‚Sehet zu, daß eure Vollmacht nicht für die Schwachen zum Anstoß wird‘ (8,9; vgl. 8,10.11; 10,15.31).“ 28 Esler 2003, 119 wendet sich gegen die Schlussfolgerung aus Röm 1,5–6.13, dass Paulus den Römerbrief nur an Heidenchristen schreibt. Er argumentiert damit, dass es nicht denkbar ist, dass Paulus die beim Briefvortrag anwesenden Judenchristen in seinem Schreiben ignoriert und sie damit beschämt.

2.1 Adressierung eines gespaltenen Publikums

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2.1.3 Die Gruppen im Publikum beeinflussen sich gegenseitig Die meisten Ausleger, die bei den einzelnen Abschnitten der Paulusbriefe die jeweiligen Adressaten berücksichtigen, behandeln den Text als eine sprachliche Information an die jeweils Angeredeten, ohne die Situation des Briefvortrags in den Blick zu nehmen. Aber der Briefvortrag ist ein gemeinschaftliches Ereignis. In dieser Situation hören auch die das Gesagte, die im Moment nicht angesprochen sind. 29 Paulus muss davon ausgehen, dass das, was er über bestimmte Hörer oder zu ihnen sagen wird, immer auch von den anderen gehört und kommentiert wird und auch bei ihnen Reaktionen auslösen wird. Dabei kann er als Verfasser genauso wenig wie auch der Vortragende davon ausgehen, dass die Reaktion der Hörer einheitlich ausfällt. Wo einige Hörer „applaudieren“, werden andere „pfeifen“. Was einige Hörer gewinnt und begeistert, wird andere gleichgültig lassen, wieder andere verärgern. Wenn Paulus beim Schreiben die Situation des Briefvortrags in der Gemeindeversammlung vorwegnimmt, wie es guter Brieftradition entsprach, dann muss er sich darauf einstellen. Wenn sich Paulus zum Beispiel, wie Theißen schreibt, in 1 Kor 6 an einige Wohlhabende wendet und sie kritisiert, weil sie in der Öffentlichkeit vor Gericht gegeneinander prozessieren, dann hören das auch die Armen und die Sklaven in der Gemeinde. Werden sie nicht beim Zuhören ihr Verhältnis zu den Reicheren reflektieren? Vielleicht wurden einige von ihnen als Tross zur Gerichtsverhandlung mitgeschleppt, um den Auftritt der jeweiligen Partei zu unterstreichen. 30 Wird nicht durch den öffentlich vorgetragenen Paulusbrief die selbstherrliche, „richtende“ Autorität der Oberschicht gegenüber den Angehörigen der Unterschicht relativiert? Der Philemonbrief ist nicht nur an den wohlhabenden Besitzer des Sklaven Onesimus gerichtet, sondern auch an seine Hausgemeinde, wie in der Briefadresse und im Fürbittewunsch am Ende des Briefes erkennbar wird (V. 2 und 25). Zu Recht schreibt M. Luther Stirewalt: “It is clear that in this letter the singular address to Philemon takes place in a corporate liturgical setting.” 31 Ähnlich verhält es sich mit der Anweisung an die

29

Witherington 1995, 36: “Each letter includes, therefore, what Paul is willing for an entire congregation to hear, or at least overhear where he singles out a member or group in the congregation.” Vgl. auch A. Dewey 1995, 112: “Thus the appearance of opposing parties (as happens quite often in Paul’s letters) would have a divisive effect, since there is a competition for acoustic space.” 30 Theißen 1989a, 258. 31 Stirewalt 2003, 17. Vgl. S. 15: “Individual messages in a letter require the attention of an assembly.”

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Frauen in Phil 4,2–3 32 oder an Archippus in Kol 4,17. Die Gemeinde ist mitverantwortlich. Was aber bewirkt das, wenn die ganze Hausgemeinde hört, was Paulus mit Philemon über Onesimus zu verhandeln hat? Wessen Partei werden die anderen Sklaven und die kleinen Leute ergreifen? Und wird nicht Philemon einem Druck der Öffentlichkeit ausgesetzt? Steht eventuell seine Autorität auf dem Spiel? Solche und viele andere Fragen stellen sich, wenn man die Briefe des Paulus nicht nur als Informationen an bestimmte, durchaus zu differenzierende Adressaten liest, sondern als Zeugnisse einer mündlichen Aufführung, eines von der vielschichtigen Empfängergruppe gemeinsam erlebten Ereignisses. Paulus wird also in einer als Performanz verstandenen brieflich übermittelten Kommunikation nicht nur verschiedene Gruppen ansprechen, er wird auch durch das direkte Ansprechen einer Gruppe eine andere indirekt beeinflussen. Das ist nicht nur ein unvermeidbarer Einfluss, weil immer alle zuhören, auch dann, wenn sie nicht gemeint sind. Vielmehr können wir davon ausgehen, dass Paulus diese indirekte Beeinflussung der im Moment nicht angeredeten Zuhörer in seine briefliche Strategie bewusst mit einbezogen hat. Wenn er eine bestimmte Gruppe seiner Adressaten anspricht, hat er auch vor Augen, was das, was er den einen sagt, bei den anderen auslöst bzw. auslösen soll: Briefteil x

Hörergruppe A

Briefteil y

Hörergruppe B

Paulus

2.1.4 Der Sprecher beeinflusst die Interaktion im Publikum Wenn Paulus nur einen Teil der Zuhörer anspricht, wird diese Gruppe für alle hörbar herausgehoben. Auf diese Situation werden die Übrigen im Publikum auf ihre Weise reagieren. Sie beziehen ihrerseits Stellung zu den von Paulus Angesprochenen, schauen zu ihnen auf oder auf sie herab, solidarisieren sich mit ihnen oder distanzieren sich. Wenn der Apostel einige seiner Zuhörer zitiert oder ihnen kurze treffende Sätze in den Mund legt, um ihre Meinung zu charakterisieren, wird das starke Publikumsreaktionen auslösen, und zwar bei allen Anwesenden. Je nach Überzeugung wird es Zustimmung oder Ablehnung geben. Solche Zitate lenken die Aufmerksamkeit nicht nur auf gedankliche Positionen, sondern sie lenken auch 32 Vgl. Stirewalt 2003, 18: “Reconciliation between the two women is to be undertaken immediately in the congregational setting, and the companion (Syzygos) who is presiding and reading the letter must initiate the effort.”

2.1 Adressierung eines gespaltenen Publikums

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ganz real die Blicke der Zuhörenden auf einige der Anwesenden, heben sie hervor oder grenzen sie aus und gestalten so das Verhältnis der verschiedenen Gruppen untereinander. Wir dürfen davon ausgehen, dass eine angesprochene Gruppe im Raum lokalisierbar war. Sie wird sich in der Regel durch ihre verbale oder nichtverbale Reaktion erkennbar gemacht haben. Dazu kommt, dass die Sitzordnung in Versammlungen in der Antike oft sozial organisiert war, so dass wir davon ausgehen können, dass oft zusammengehörige Personen auch zusammen saßen. Die Interaktion im Publikum geschieht also nicht nur gedanklich, sondern körperlich und im Raum: durch Blicke, Bewegungen und Rufe. Auch war die Anordnung der Plätze einer Interaktion des Publikums untereinander förderlich, weil die Zuhörer die Reaktionen der anderen sehen konnten. Indem Paulus Teile der Zuhörer gesondert anspricht, löst er auch Reaktionen zwischen den Zuhörergruppen aus: Briefteil x

Hörergruppe A

Briefteil y

Hörergruppe B

Paulus

Das geschieht schon dann, wenn es um Fragen geht, die sachlich nur mit der einen Gruppe zu tun haben, wie zum Beispiel die Prozesse wohlhabender Gemeindeglieder vor öffentlichen Gerichten. Noch viel deutlicher fallen die Reaktionen zwischen den Gruppen aus, wenn sie jeweils auf ihr Verhältnis zu den anderen angesprochen werden, wie wir es in Römer 14– 15 finden. Dass ein solches Geschehen nichts Ungewöhnliches in der Antike war und auch dem Paulus zuzutrauen ist, zeigen zwei Auftritte des Paulus, die Lukas in der Apostelgeschichte berichtet. Dass verschiedene Hörergruppen unterschiedlich reagieren, findet sich in Apg 17. Paulus spricht in Athen vor zwei Gruppen von Philosophen: Stoikern und Epikuräern. Wie bei den Auffassungen dieser Philosophen zu erwarten ist, reagieren sie gegensätzlich: Die einen, die Epikuräer, halten Paulus für einen Schwätzer, die anderen, die Stoiker, vermuten eine neue Gottheit (V. 18).33 Auch die dann folgende Rede auf dem Areopag löst gegensätzliche Reaktionen aus. Als Paulus davon spricht, dass ein göttlicher Richter über die Taten der Menschen urteilen wird und dass dieses Gericht die Auferstehung von den Toten voraussetzt (V. 31), spotten die einen, wohl die Epikuräer, wogegen 33 Vgl. Neyrey 1990, der aber den Bericht des Lukas nicht unter dem Gesichtspunkt der Performanz betrachtet, sondern den Fokus auf die Stereotypen legt, unter denen die gegensätzlichen Gruppen bekannt waren.

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

andere, die wohl stoische Auffassungen vertraten, Interesse zeigen und mehr hören wollen, einige sogar zum Glauben kommen (V. 32). Dass Paulus die Gegensätze unter seinen Zuhörern ausnutzen und ganz gezielt eine Spaltung hervorrufen kann, zeigt Lukas, wenn er von der Verteidigungsrede des Paulus vor dem Hohen Rat in Apg 23,6–10 erzählt. Paulus stiftet einen Aufruhr unter den Zuhörern an, indem er über die Auferstehung von den Toten spricht, wohl wissend, dass seine Zuhörer über diesen Punkt nicht einig sind. Die Performanz des Paulus bewirkt eine so heftige Interaktion des Publikums untereinander, dass die Versammlung abgebrochen werden muss. 2.1.5 Performanzkritik versteht den Briefvortrag als Handlung Performanzkritik versteht den Vortrag eines Briefes als eine (sprachliche und performative) Handlung, nicht nur als eine Mitteilung von Information. Es ist ein Tun mit einem bestimmten Handlungsziel. Das Handlungsziel kann eine ganz bestimmte Interaktion auch zwischen Hörergruppen sein, etwa eine Zuwendung der Gruppen zueinander, Rücksichtnahme oder Kompromissbereitschaft. Performanzkritik der Paulusbriefe fragt danach, wie Paulus auf die verschiedenen Gruppen eingeht, sie anspricht. Sie fragt vor allem danach, welche Reaktionen zu erwarten sind, welche Wirkung das Gesagte bei den verschiedenen Hörern und Hörergruppen hervorgerufen haben wird. Daraus kann darauf geschlossen werden, wie die Performanz verlaufen sein könnte. David Rhoads formuliert es so: Furthermore, a single audience may be comprised of people from diverse social locations. So when we interpret a text as oral composition, we are dealing not with a single ideal reader or homogeneous audience but with multiple hearers in a communal audience from somewhat diverse social locations. As such, a performance will have different meanings and impacts to different people in the same audience … The performance of a composition might divide an audience. Paul may have composed letters designed to have generate division with an assembled audience, as, for example, he wanted to exclude the Judaizers from Galatia (Galatians 1:6–9). And Paul may have composed letters to avoid division, particularly, for example, in Corinth and Rome. Imagine how Paul composed and then had someone perform the Corinthian correspondence so as to retain the attention and increase the commitment of people coming from different points of view and social /cultural places in the assembly itself … Imagining all these different letters being performed to gathered audiences that included both (or several) parties in a conflict helps to sharpen our understanding of what was at stake and what might have happened as a result of the performance.34

34 Rhoads 2006, 129; vgl. Botha 1992a, 211: “The ‘political’ side of Paul’s letters has received little attention, how he uses writing to control and influence others and to promote a (probably) minoritarian viewpoint.”

2.2 Herausheben einzelner Zuhörer

99

Donald Hans Liebert war einer der Ersten, die sich dieser Problematik explizit zugewandt haben, und zwar in einer kurzen Studie über von ihm so genannte „Gruppenbriefe“. Das sind nach seiner Definition Briefe an mehr als einen Empfänger. Er definiert die Funktion der Gruppenbriefe folgendermaßen: “The group letter genre is an orally delivered communication to a diverse but intimate group of people who will be hearing the reading in each other’s presence.” Die Wirkung ist eine veränderte Interaktion zwischen den Hörern.35 Liebert verweist auf den Philemonbrief, den Paulus auch an „Apphia, die Schwester, und Archippus, unseren Mitstreiter, und an die Gemeinde in deinem Hause“ schickt (Phlm 2). “Paul was saying good things about Philemon in the presence of other people and he wanted them to know how he felt about him. Paul wrote with the expectation that the people addressed in his letter would be interacting with each other as they heard this words.”36 Dann geht er auf den ersten Korintherbrief des Paulus ein, der an eine Gemeinde gerichtet ist, in der es Gruppen mit verschiedenen Meinungen und Präferenzen gibt: “If he had written to them as individuals the letter could easily have been interpreted as support for one faction against another faction. Paul made a wise choice. The best way to write to friends who disagree is to write to them in a group letter, especially if you want them to adjust the way they look at each other.” 37 Liebert erkennt, dass das Briefereignis besonders geeignet ist, Versöhnung zwischen streitenden Gruppen zu stiften: “… he wants each to overhear his communication to the other. The group letter is an ideal vehicle for encouraging reconciliation.”38 Was Rhoads fordert und Liebert ansatzweise behandelt, ist ein wesentliches Anliegen der Performanzkritik und soll in den unten folgenden Textstudien gründlicher untersucht werden.

2.2 Herausheben einzelner Zuhörer 2.2 Herausheben einzelner Zuhörer

2.2.1 Drei-Gruppen-Situation nach Simmel Wenn die Briefe des Paulus in den Gemeindeversammlungen vorgetragen wurden, dann könnte man dieses Ereignis als eine Interaktion zwischen 35

Liebert 1996, 437; dort auch: “The uniqueness of intimate letters to more then one person is that the people who are addressed can be directed to orient their action to each other, and not just to the one who wrote the letter … The author intends to adjust the relationships between the people in the audience.” 36 Liebert 1996, 434. 37 Liebert 1996, 438. Dann behandelt er als Beispiel 1 Kor 8–10 und verfolgt den Gebrauch von Briefen an mehrere Absender in der alten Kirche. 38 Liebert 1996, 435.

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

zwei Parteien ansehen: zwischen dem Vortragenden und dem Publikum. Die erste Partei wird repräsentiert durch die Person, die den Brief liest. Sie wurde ausgewählt, weil sie die für diese Aufgabe nötige Bildung besaß, weil sie Leitungsfunktionen ausübte oder weil sie in engerer Beziehung zu Paulus stand. Der Vortragende steht nicht völlig allein, sondern vertritt eine Gruppe. Er ist nicht nur der Repräsentant des Paulus, sondern auch der Gruppe seiner Mitarbeiter und Unterstützer, die in den Briefen oft als Mitabsender erwähnt werden. Samuel Byrskog vertritt die Auffassung, dass die Paulusbriefe nicht von einer Person im Alleingang produziert wurden, sondern von einer Gruppe, die den Brief miteinander diskutiert, gemeinsam mehrere Entwürfe überarbeitet und dann für den Brief gemeinsam Verantwortung übernimmt. 39 Die zweite Partei im Ereignis der Brieflektüre ist die Gruppe der Hörer, der versammelten Gläubigen, denen der Brief vorgetragen wird. Wesentlich für jede Performanz ist die Interaktion zwischen Vortragendem und Publikum. Die Hörer der Paulusbriefe reagierten auf das, was vorgetragen wurde, und auf die Art, wie es dargeboten wurde. Das konnte Zustimmung oder Ablehnung sein, Gefallen oder Missfallen, Gleichgültigkeit oder Begeisterung. Durch ihre Reaktion beeinflussten sie wiederum den Vortrag, denn der Leser des Briefes passte seine Deklamation – Intonation und Tempo, Betonung und emotionales Engagement – der Stimmung des Publikums an. Die gegenseitige Beeinflussung bedingt das Unverfügbare einer Performanz. Die Situation der Performanz ändert sich deutlich, wenn der Vortragende jemanden im Publikum heraushebt. Das kann zum Beispiel dadurch geschehen, dass er sich jemandem zuwendet, eventuell ihn oder sie direkt mit Namen anspricht. Phil 4,2 ist dafür ein Beispiel. Dort hat Paulus eine besondere Ermahnung für zwei Frauen, für Euodia und Syntyche. Aber er muss die herausgehobene Person nicht mit Namen anreden. In 1 Kor 5,1 kommt er auf einen Mann zu sprechen, der die Frau seines Vaters genommen hat. Wenn Paulus durch Mitglieder der Gemeinde von Korinth – wohl durch die Leute der Chloe (1 Kor 1,11) – davon erfahren hat, können wir davon ausgehen, dass jeder in der Versammlung wusste, von wem die Rede ist. Es ist zwar nicht beweisbar, aber doch wahrscheinlich, dass dieser Mann anwesend war. Jedenfalls muss Paulus damit rechnen. Das Ansprechen eines einzelnen Menschen oder einer kleinen Gruppe im Publikum verändert die Situation der Performanz von einer Zwei-Parteien-Situation zu einer Interaktion, an der drei Parteien beteiligt sind. Der Vortragende teilt das Publikum in eine Gruppe, die angesprochen ist – selbst wenn es nur eine Person ist –, und eine andere, die im Moment nicht angesprochen ist, aber das Gesagte mithört. Georg Simmel (Erstveröffent39

Byrskog 1996, 230–250, besonders 249–250; vgl. Stirewalt 2003, 10.

2.2 Herausheben einzelner Zuhörer

101

lichung 1908) hat sich in seiner Soziologie mit dem Wechsel von einer Zwei-Gruppen-Situation zu einer Drei-Gruppen-Situation beschäftigt. Er betrachtet diesen Wechsel als einen großen Schritt zu einer neuen Qualität von Beziehungen, eine viel grundsätzlichere Veränderung als ein Wechsel von einer Drei-Gruppen-Situation zu einer mit vier oder mehr Gruppen. 40 In einer Zwei-Gruppen-Situation bezieht sich jede Gruppe total und ausschließlich auf die andere, sie sind voneinander abhängig. Das Verhältnis beider kann sich zu großer Harmonie steigern, aber auch zu heftiger Feindschaft. In einer Drei-Gruppen-Situation oder bei noch mehr Gruppen gibt es dagegen immer jemanden, der bei Spannungen vermitteln kann, aber auch immer jemanden, der zu große Intimität verhindert. Nach Simmel kann sich eine Drei-Gruppen-Situation in drei Grundformen ausprägen. 41 Erstens, eine Gruppe ist der Vermittler zwischen den beiden anderen. Zweitens, eine Gruppe ist der tertius gaudens, das heißt, eine Partei profitiert von der Rivalität zwischen den beiden anderen. Die dritte Ausprägung nennt er divide et impera, bei der in einer Zwei-Gruppen-Situation die eine Partei die andere absichtlich spaltet, indem sie trennende Kräfte aktiviert, um Dominanz oder einen anderen Vorteil zu gewinnen (Grafik 1).42 Was Simmel beschreibt, ist genau das, was in einer Performanz wie einer Rede oder einer öffentlichen Verlesung eines Briefes geschieht, wenn der Vortragende eine Person im Publikum oder eine kleine Gruppe heraushebt und sie vor allen anderen anspricht. Die durch eine solche Strategie des Vortragenden ausgelöste Dynamik der Interaktion zwischen den drei beteiligten Gruppen soll im Nachfolgenden in den Paulusbriefen und – im Vergleich dazu – in anderen Dokumenten untersucht werden. Wir beschränken uns in diesem Kapitel auf die Fälle, in denen eine Person oder wenige Einzelne angesprochen werden. Hier ist daran zu erinnern, dass die Anordnung der Sitzgelegenheiten oder der Liegepolster an den Orten der Performanz in der Antike die Interaktion nicht nur zwischen den Vortragenden und dem Publikum, sondern auch zwischen einzelnen Personen oder Gruppen im Publikum begünstigte. Ob es im Theater, im Odeion, im Bouleuterion oder in der Synagoge war, aber auch in den Speise- und Versammlungsräumen von Vereinen oder in privaten Häusern, immer waren die Sitzbänke oder klinai, entlang von drei oder vier Wänden angeordnet oder bildeten einen Kreis oder Halbkreis, so dass die Zuhörer die Reaktionen der anderen Zuhörer sehen konnten.

40

Simmel 1992, 114–124. Zu Gruppensituationen siehe auch Sofsky und Paris 1991, 248–379. 42 Die drei Ausprägungen bei Simmel 1992, 125–150. 41

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

1. Mediation 1

1

oder 2

3

2

3

2. Tertius gaudens 1

2

3

3. Divide et impera 1

1 3

oder 2

3

2

Grafik 1: Drei-Gruppen-Konstellationen nach Simmel 2.2.2 Empfehlung einzelner Personen 2.2.2.1 Phoebe (Römer 16,1–2) Der erste Fall ist die Empfehlung von Personen, die den Brief überbracht haben. Der Abschnitt im Brief, der den Boten empfiehlt, ist Teil des Schreibens und wird vor der gesamten Versammlung vorgetragen. Zum Beispiel empfiehlt Paulus Phoebe, die Leiterin der Gemeinde Kenchräa (Röm 16,1–2), am Ende des Römerbriefs. Weil Phoebe den Römerbrief nach Rom gebracht hatte, war sie ganz sicher anwesend, als bei der Performanz des Briefes ihr Name genannt wurde. Wahrscheinlich hat der Vortragende sich ihr zugewandt und sie angeschaut, als er ihren Namen aussprach, vielleicht hat er sogar durch eine Handbewegung auf sie hinge-

2.2 Herausheben einzelner Zuhörer

103

wiesen. In diesem Moment wird die Aufmerksamkeit des Publikums vom Vortragenden, der an einem prominenten Platz in der Versammlung steht, weggelenkt. Alle wenden sich der empfohlenen Person zu. Phoebe ist herausgehoben aus den Zuhörern, sie wird dadurch sozusagen zu einer „dritten Partei“. Der Wechsel der sozialen Beziehungen wird abgebildet durch die Blicke und Haltungen der Anwesenden. Die Wirkung der Empfehlung der Phoebe durch Paulus ist – entsprechend der ersten der drei typischen Konstellationen der Drei-Gruppen-Situation Simmels – die Vermittlung einer Partei zwischen den beiden anderen (Grafik 2). Paulus stellt Phoebe als seine Botin den römischen christlichen Hausgemeinden vor und nutzt dazu seine apostolische Autorität und seine Rolle als Briefabsender. Die Empfehlung von Boten war eine wichtige Funktion von Briefen. Wir finden sie in Phil 2,25–30 (Epaphroditus), 2 Kor 16,10–11 (Timotheus), Kol 4,7–9, Eph 6,21–22 (Tychikus) und Polyk 14 (Crescens).43

Paulus

römische Christen

Phoebe

Grafik 2: Empfehlung von Einzelpersonen 2.2.2.2 Claudius Ephebus, Valerius Bito und Fortunatus (1. Clemens 63,3; 65,1) Eine etwas andere Situation findet sich im ersten Clemensbrief. Dieser Brief, geschrieben am Ende des ersten Jahrhunderts von Rom an die Gemeinde in Korinth, hat das Ziel, die früheren Bischöfe, die von ihrem Posten abgesetzt wurden, wieder ins Amt zu bringen. Am Ende des Briefereignisses werden drei Personen, die Boten aus Rom, die den Brief überbracht haben, als treu, weise und ohne Tadel empfohlen (1 Clem 63,3). Sie werden mit Namen genannt: Claudius Ephebus, Valerius Bito und Fortunatus (65,1).44 Die Beziehung zwischen der Gruppe der Absender, die durch 43 44

Zum Empfehlungsbrief vgl. Keyes 1935; Kim 1972; Reck 1991. Zu diesen Gesandten der römischen Gemeinde vgl. Schmitt 2002, 17–20.

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

den Vortragenden repräsentiert wird, und der Gruppe der Empfänger, der versammelten Korinthergemeinde, wird verändert von einer Zwei-Gruppen-Situation zu einer Drei-Gruppen-Situation. Die empfohlenen Boten werden aus dem Publikum als eine dritte Gruppe herausgehoben. Sie erhalten nun die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Wodurch ist das so entstandene Beziehungsgefüge gekennzeichnet? Vordergründig zeigt sich wieder die Situation der Vermittlung. Allerdings ist mehr im Spiel. Wir haben hier noch eine andere der drei typischen Ausformungen von Simmels Drei-Gruppen-Situationen, nämlich die, die er divide et impera nennt. Der Vortragende, der die Absender repräsentiert und den Zuhörern gegenüber steht, spaltet sein Publikum in zwei Gruppen. Dann verbündet er sich selbst mit der neu geschaffenen Gruppe, mit den Boten. Er nennt sie die Zeugen zwischen der römischen Kirche und den Korinthern (63,3: oi[ìtinej ma,rturej e;sontai metaxu. u`mw/n kai. h`mw/n). Sie sind auf der Seite der Römer und werden über die Reaktion der Korinther auf den Brief berichten. So bilden der Vortragende und die Boten aus Rom zwei Gruppen, die einer dritten gegenüberstehen und sie dominieren. Obwohl die korinthischen Christen im Publikum die Mehrheit der gesamten Versammlung darstellen, sind sie doch im Sinne Simmels unterlegen, weil sie nur eine Gruppe von dreien bilden. Wir können davon ausgehen, dass sich auch diese Drei-Gruppen-Konstellation während der Performanz im Raum abbildete. Die Boten aus Rom saßen oder lagen als prominente Gäste wahrscheinlich zusammen auf einem hervorgehobenen Platz. Als ihre Namen genannt wurden, wandte sich ihnen der Vortragende zu, nahm mit ihnen durch Blick und Gestik Verbindung auf, trat vielleicht sogar einen Schritt näher zu den verehrten Gästen und formte so eine Allianz mit ihnen. So drängte das soziale Gefüge, das die Performanz des Briefes erschuf, die korinthischen Christen dazu, das zu befolgen, was der Brief von ihnen erwartete. 45 2.2.3 Kritik an einzelnen Personen 2.2.3.1 1. Clemens 57,1 Ein weiteres Beispiel der Drei-Gruppen-Situation findet sich im ersten Clemensbrief an der Stelle, wo im Brief diejenigen angesprochen werden, die die Amtsenthebung der früheren Bischöfe durchgesetzt haben. 46 Im 45

Auf eine ähnliche Wirkung scheint der Brief in Apg 15,23–29 zu zielen. Der erste und längste Abschnitt des Briefes ist eine Empfehlung der Boten, die zusammen mit den Absendern (repräsentiert durch den Vortragenden) zwei Gruppen gegenüber der dritten Gruppe, den Briefempfängern, bilden. 46 Vgl. die ausführliche Untersuchung der Performanz dieses Briefes unten im Abschnitt 4.2, S. 234–248.

2.2 Herausheben einzelner Zuhörer

105

Brief wird mehrfach auf sie hingewiesen. Sie werden unbesonnen und anmaßend genannt (1,1), prahlerisch, aufrührerisch (14,1) und heuchlerisch (15,1). Immer wieder wird von ihnen als einer kleinen Gruppe gesprochen (z. B. 47,6, e[n h' du,o). Schließlich werden sie am Ende des Briefes direkt angesprochen (57,1): „Ihr, die ihr den Grund zum Aufstand gelegt habt …“ (~Umei/ j ou;n oi` katabolh.n th/j sta,sewj poih,santej …) Hier haben wir es wieder mit der Strategie zu tun, die Simmel divide et impera genannt hat. Der Vortragende als der Repräsentant der Absender teilt das Publikum und lädt die Mehrheit ein, auf seine Seite zu treten und sich gegen die wenigen zu stellen, die die Probleme in Korinth verursacht haben. An einer Stelle veranlasst er sogar die Zuhörer direkt, auf die Beschuldigten zu blicken: „Jetzt aber seht, wer euch verführt hat …“ (47,5 nuni. de. katanoh,sate ti,nej u`ma/j die,streyan). Das wird sicher ein feindlicher Blick gewesen sein. Diese Leute waren wichtige Mitglieder der Gemeinde, sonst wäre ihre Revolte gegen die früheren Autoritäten nicht erfolgreich gewesen. Sicher saßen sie auf prominenten Plätzen während des Briefvortrags. Durch die Strategie des Briefes entsteht eine feindliche Atmosphäre zwischen denen auf den hinteren Reihen und den leitenden Persönlichkeiten. So wird der Weg vorbereitet, Sanktionen gegen die Verursacher der Probleme durchzusetzen: ihre Verbannung (Kap. 54). Wahrscheinlich wäre ohne die Strategie des divide et impera in der Performanz dieses Ziel nicht erreichbar gewesen. 2.2.3.2 1. Korinther 5,1–5 Eine ganz ähnliche Strategie verfolgt Paulus in 1 Kor 5,1–5, wo er die Gemeinde dazu drängt, ein Gemeindeglied auszuschließen, das die Frau seines Vaters geheiratet hat, wahrscheinlich war sie seine Stiefmutter. Im jüdischen Gesetz (Lev 18,8) ist die Ehe mit der Stiefmutter ausdrücklich verboten. Im römischen Recht wurde eine solche Ehe als Inzest angesehen (stuprum) und mit Verbannung und Verlust von Eigentum und Ehre bestraft.47 Wenn Andrew D. Clarke recht hat, dann ist die schuldige Person ein prominentes Mitglied der Gemeinde. 48 Der Grund dafür, dass er sich mit der Stiefmutter verband, mag finanzieller Art gewesen sein. 49 Oder die Frau war eine Sklavin, denn in diesem Fall läge nach römischem Recht keine strafwürdige Handlung vor. Dass die Gemeinde nicht so auf den Fall reagiert hat, wie Paulus das erwartete, mag an dem gehobenen sozialen 47

Gaius, Institutiones, I 63 (um 160 n. Chr.); Cicero, pro Cluentio 14–15 (Verbindung von Schwiegermutter und Schwiegersohn); vgl. Gardner 1986, 125–127. 48 Clarke 1993, 77–88. 49 Clarke 1993, 80–85: Wenn eine Ehe endete, ging die Mitgift nicht an den Vater der Frau, sondern blieb bei ihr, bis sie wieder heiratete. Wenn die Frau ohne Kinder war, konnte sie ihr Erbe dadurch sichern, dass sie wieder heiratete und Kinder hatte.

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

Stand der Person gelegen haben. 50 Durch die Performanz des Briefes selektiert Paulus dieses Gemeindeglied aus dem Publikum und beschuldigt ihn, schlimmer zu handeln als Ungläubige. So bewirkt er eine Spaltung der Hörerschaft und ruft die Mehrheit der Gemeindeglieder in der Auseinandersetzung auf seine Seite (Grafik 7).51

Paulus Korinther

Unzüchtiger

Grafik 3: Kritik an Einzelpersonen 2.2.3.3 Cicero: de lege agraria Dass es sich bei der hier behandelten Strategie um eine übliche rhetorische Praxis handelte, kann in den Reden Ciceros beobachtet werden. 52 Um das Publikum auf seine Seite zu ziehen und Ablehnung und Feindschaft gegenüber bestimmten Personen zu bewirken, spricht Cicero seine Gegner oft direkt an und nennt sie mit Namen. Ein Beispiel ist die zweite Rede gegen die lex agraria, eine Gesetzesvorlage, die durch Publius Servilius Rullus, einem römischen Volkstribun, 63 v. Chr. vorgelegt wurde. Um dieses Gesetz zu verhindern, erklärt Cicero dem römischen Volk die Nachteile des Gesetzes und beschuldigt diejenigen, die das Gesetz eingebracht haben, selbstsüchtige Ziele zu verfolgen. An vier Stellen wendet sich Cicero direkt an Rullus.53 Er beschuldigt ihn der Heuchelei, weil er und seine 50 Clarke 1993, 79: “It may be that in 1 Corinthians 5 there is a situation … where the honour of a leading figure is defended, rather then justice pursued.” Vgl. auch S. 84–85. 51 Sehr ähnlich ist die Strategie in 1 Kor 6, wo Paulus darauf reagiert, dass in Korinth Gemeindeglieder vor öffentlichen Gerichten gegeneinander streiten. 52 Ich danke Stephan Gäbel für seine Mitarbeit bei der Untersuchung der Reden Ciceros. 53 Cicero, leg.agr. 22, 31, 63–64, 66–67.

2.2 Herausheben einzelner Zuhörer

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Freunde vorgeben, im Interesse der römischen Bauern und der Veteranen ohne Land zu handeln. Er klagt sie an, dass sie das Gesetz nur vorgeschlagen haben, um sich selbst finanzielle Vorteile zu sichern. Und weil das Gesetz vorsah, einen Rat von zehn Männern mit großer Macht auszustatten, wirft Cicero ihnen vor, sie wollten entgegen der bestehenden Ordnung eine neue Machtstruktur mit einem neuen Machtzentrum in Capua aufbauen (74). In seiner Rede verwendet Cicero proswpoii,a, die Redeform, die der Person entspricht, der die Rede in den Mund gelegt wird (speech-incharacter).54 Er stellt Rullus eine Frage und legt ihm dann sofort eine Antwort in den Mund. Auf diese Weise führt er vor dem Publikum eine Befragung des Rullus auf (66–67). Natürlich bringt das Rullus in eine sehr unglückliche Position. Gemäß der Strategie des divide et impera einer Drei-Gruppen-Situation stellt Cicero seinen Gegner vor allen heraus und zieht das verbleibende Publikum auf seine eigene Seite. 2.2.3.4 Cicero: pro lege Manilia 37 Dass Cicero sich des Effekts seiner Strategie bewusst war, kann man in seiner Rede für das Oberkommando des Pompei sehen. Dort deutet er an, dass bestimmte Heerführer das Geld des Staates, das für die Kriegsführung bestimmt war, für sich privat genutzt haben. Er sagt: „Euer Gemurmel, o Römer, zeigt, dass ihr in meiner Beschreibung Männer wieder erkennt, die so etwas getan haben. Aber ich nenne niemanden mit Namen, damit niemand zornig auf mich sein kann ohne dadurch zuvor zu bekennen, dass er falsch gehandelt hat.“55 Ohne Namen zu nennen erinnert Cicero das Publikum an korrupte Befehlshaber. Die Reaktion des Publikums zeigt deutlich, dass sie gegen diese Kommandeure auf der Seite Ciceros stehen. Ein anderes Beispiel ist die folgende Aussage in Ciceros Rede gegen die lex agraria (63, 64): Ich bin es nicht gewöhnt, o Römer, von Männern mit unnötiger Härte zu sprechen, wenn ich dazu nicht genötigt werde. Ich wünschte, es wäre möglich für diese Männer, die darauf hoffen, in den Rat der zehn Männer gewählt zu werden, dass ich ihre Namen nenne, ohne etwas Schlechtes über sie zu sagen. Ihr werdet sehr schnell sehen, was das für Männer sind, denen ihr die Macht gegeben habt, alles zu verkaufen und zu kaufen. Zwar habe ich mir vorgenommen, nicht darüber zu sprechen, aber ihr könnt euch trotzdem eine Vorstellung davon machen.

54

Theon, Progymnasmata 8; vgl. Standhartinger 1999, 37–38. Cicero, Manil. 37: „Vestra admurmuratio facit, Quirites, utagnoscerevideamini qui haecfecerint; ego autemnominoneminem; qua reirascimihinemopoterit nisi qui ante de se voluerit confiteri.“ 55

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

Cicero nennt niemanden mit Namen außer Rullus. Aber das Andeuten der Möglichkeit, Namen zu nennen, hat die Wirkung, dass diejenigen, die unter Verdacht sind, öffentlich bloßgestellt werden. Cicero verbündet sich mit dem Publikum gegen die von ihm gemeinten Personen. 2.2.4 Unterstützung einzelner Personen 2.2.4.1 2. Korinther 2,5–11 Ohne dass er jemanden mit Namen nennt, hebt Paulus in 2 Kor 2,5–11 eine Person der Gemeinde in Korinth heraus. Über diese Person wird beim Briefvortrag öffentlich gesagt, dass Paulus ihr vergeben hat und dass ihr auch die Gemeindeglieder vergeben sollen. Paulus bezieht sich auf ein Ereignis, das wohl während eines kurzen Besuchs in Korinth geschah. Jemand, wohl ein angesehenes Mitglied der Gemeinde, beleidigte Paulus, und die Gemeinde griff nicht ein (7,12). Mit der Hilfe eines Briefes (2,9; 7,8 „Tränenbrief“) und eines Besuches des Titus wurde der Konflikt beigelegt (7,6–7.13–15). Die Gemeinde hat die betreffende Person gemaßregelt (2,6) und dadurch gezeigt, dass das Verhältnis zu Paulus wieder in Ordnung gebracht ist. Wenn die Bestrafung nicht im Ausschluss aus der Gemeinde bestand, sondern in einer Form der Herabstufung oder des Tadels, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass dieses Gemeindeglied beim Vortrag des Briefes gegenwärtig war.56 Warum hat Paulus auf dieses Gemeindeglied hingewiesen? Was passierte, wenn die Aufmerksamkeit des Publikums auf diese Person gelenkt wird? Hans-Josef Klauck erklärt es so: „Das Gegenüber von Apostel (‚ich‘) und Gemeinde (‚ihr‘) wird durch eine dritte Bezugsgröße erweitert (‚einer‘). Sie bleibt bei Paulus namenlos, was keinesfalls bedeutet, dass nicht jeder sofort gewusst hätte, wen Paulus meint.“57 Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde Paulus zwischen dem bußwilligen Übeltäter und der Gemeinde vermitteln. Oberflächlich betrachtet ist es sein Anliegen, dass die Bestrafung beendet wird. Das Gemeindeglied soll nicht von Trübsal übermannt werden. Die Gemeinde wird ermahnt, zu vergeben und das Mitglied wieder in seine vollen Rechte einzusetzen (2,7–8). Allerdings müssen wir fragen: War diese Ermahnung nötig? War die Gemeinde in der Gefahr, die Bestrafung des Übeltäters zu übertreiben? 58 Paulus selbst gibt zu, dass nicht alle Gemeindeglieder die Bestrafung mitgetragen haben 56

Klauck 1990, 157 nimmt an, dass die Strafe ein zeitweiliger Ausschluss aus der Gemeinde war. Aber Wolff 1989, 42, 44 macht darauf aufmerksam, dass i`kano,n in V. 6 andeutet, dass noch drastischere Strafmaßnahmen möglich gewesen wären: „Ausreichend (ist) für solch einen die Strafe, die von der Mehrzahl (unter euch ausgeführt wurde).“ 57 Klauck 1990, 156. 58 So Wolff 1989, 44.

2.2 Herausheben einzelner Zuhörer

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(V. 6).59 Offensichtlich hatte dieses Gemeindeglied einige Unterstützung in der Gemeinde. Das deutet schon darauf hin, dass die Vermittlung nicht die Hauptintention des Paulus sein kann. Dazu kommt, dass Paulus fortsetzt: „Was ich vergeben habe, wenn ich überhaupt etwas vergeben habe …“ (V. 10: ei; ti keca,rismai). Nach all den Schwierigkeiten, die sogar eine Intervention des Titus nötig machten, klingt es jetzt so, als wäre Paulus nicht sicher, dass da überhaupt etwas war, das vergeben werden müsste. Offensichtlich spielt Paulus den Zwischenfall herunter. 60 Außerdem ist auffällig, wie oft Paulus in diesem Abschnitt von sich selbst spricht: ob er angegriffen wurde oder nicht (V. 5), über seinen Brief an die Korinther als einen Test ihres „Gehorsams“ (V. 9), über seine Vergebung (V. 10). Ein starker Ausdruck seines Selbstbewusstseins ist das feierliche parakalw/ u`ma/j (V. 8). Nach seiner Erklärung, warum die Bestrafung beendet werden sollte, ermahnt er die Gemeinde noch expressis verbis, was nicht nötig wäre, weil der vorherige Satz schon imperativen Sinn hat. Diese Beobachtungen legen es nahe, dass es Paulus eigentlich darum geht, wie er selbst in der Gemeinde dasteht. Er spaltet die Zuhörer in zwei Teile, auf der einen Seite die angesprochene Mehrheit, auf der anderen Seite der Übeltäter und – wie wir hinzufügen können – seine Partei. Auf diese Weise hat er Gelegenheit, seine apostolische Autorität und sein Verhältnis zur Gemeinde zu demonstrieren, beides Hauptanliegen im gesamten Brief. Paulus stellt sich selbst als einen dar, der bereit ist, einen Schritt zurückzugehen, zu vergeben und den Unfrieden zu überwinden. Er spielt das Ereignis seiner Beleidigung herunter. Aber er tut das, ohne dass er dabei das Gesicht verliert. Er stellt sich so dar, als würde er den Übeltäter mehr lieben, als die Gemeinde ihn liebt. Er demonstriert seine apostolische Autorität, indem er die Gemeinde ausdrücklich ermahnt (V. 8). Und passend zu seinem Anliegen, Autorität zu zeigen, spricht er davon, dass der frühere Brief ein Test ihres Gehorsams war (V. 9). Wir haben in diesem Abschnitt des Paulusbriefs ein Beispiel für die dritte Ausprägung der Drei-Gruppen-Konstellation Simmels, die er tertius gaudens nennt. Die dritte Partei profitiert von der schon bestehenden Spaltung zwischen den anderen beiden. Paulus lenkt die Aufmerksamkeit zu dem Gemeindeglied, das bestraft wurde, und deutet an, dass die Gemeinde über diese Maßnahme nicht einig war, die Zuhörerschaft also gespalten ist. Indirekt aber wendet er sich an die gesamte Gemeinde, denn auf diese Weise kann er sich selbst in ein vorteilhaftes Licht stellen und seine apostolische Autorität unterstreichen (Grafik 4).

59 h` evpitimi,a au[th h` u`po. tw/ n pleio,nwn: „die Strafe, die die Mehrheit [von euch verhängt hat].“ 60 Klauck 1990, 158.

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Paulus

Korinther

Beleidiger

Grafik 4: Unterstützung von Einzelpersonen 2.2.4.2 Cicero: pro lege Manilia 69 Eine Parallele zu dieser Strategie findet sich in der Rede Ciceros pro lege Manilia. Am Ende der Rede spricht Cicero C. Manilius direkt an, den Mann, der die Gesetzesvorlage eingebracht hat, die Pompei das militärische Kommando gegen Mithridates, den König von Pontos in Asien, und Tigranes, den König von Armenien, geben soll. Cicero lobt die Initiative des Manilius, ermahnt ihn, bei seiner Überzeugung zu bleiben, und versichert ihm schließlich, dass er seine volle Unterstützung hat. 61 In Wirklichkeit gab es nicht viel Widerstand gegen dieses Gesetz.62 Ciceros Zusicherung, dass er auf der Seite des Manilius steht, war eigentlich nicht nötig. Aber Cicero hebt ihn aus der Zuhörermenge heraus und drückt vor den Ohren des gesamten Publikums seine Unterstützung aus, weil das zu seinem eigenen Vorteil dient. Diese Rede war Ciceros erste politische Rede. Es war seine Chance sich dem Volk zu präsentieren. Dass er sich Manilius zuwendet und ihm die volle Unterstützung zusichert, gibt ihm die Gelegenheit, über seine eigenen Fähigkeiten und Vorteile zu sprechen: über seinen Eifer (studium), seine Weisheit (consilium), seinen Fleiß (labor) und seine Fähigkeit (ingenium), über seine Macht als Prätor, über den Ruf seiner Autorität (auctoritas), seine Treue (fides) und Standhaftigkeit (constantia), auch über seine Selbstlosigkeit und sein alleiniges Interesse am Wohlergehen des Staates. Cicero spricht Manilius an, aber eigentlich will er mit diesem Redeabschnitt das Volk und wahrscheinlich auch Pompei erreichen. Ohne stolz oder eingebildet zu wirken kann er sich selbst als 61 62

Cicero, Manil. 69. Fuhrmann in Cicero, Sämtliche Reden, Bd. 1, 2000, 328.

2.2 Herausheben einzelner Zuhörer

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idealen Staatsmann präsentieren. Die Drei-Parteien-Konstellation bietet ihm als Redner einen Vorteil gegenüber den anderen beiden Positionen, dem angeredeten Manilius und dem Volk. 2.2.5 Ermahnung einzelner Personen 2.2.5.1 Euodia, Syntyche, Gnesios Syzygos (Philipper 4,2–3) Eine sehr komplexe Situation wird durch Paulus im Philipperbrief geschaffen, wo Paulus Euodia und Syntyche anspricht (Phil 4,2–3). Er hebt diese beiden Frauen vor der Gemeindeversammlung, in der der Brief vorgetragen wird, heraus: „Euodia ermahne ich und Syntyche ermahne ich, dass sie eines Sinnes seien in dem Herrn.“ (Euvodi,an parakalw/ kai. Suntu,chn parakalw/ to. auvto. fronei/n evn kuri,w|Å) Wie oben schon gezeigt,63 wird die Performanz durch die Wiederholung des finiten Verbs erkennbar.64 In einem normalen Satz mit zwei Subjekten ist es nicht nötig, das Prädikat zu wiederholen. Wenn der Autor ein eigenes Prädikat für jedes Subjekt haben wollte, würde er aus stilistischen Gründen das Prädikat modifizieren oder ein synonymes Verb verwenden. In diesem Fall wird jedoch das Verb wiederholt, so dass eine Art Parallelismus entsteht. Während Paulus den Brief diktiert, hat er wahrscheinlich die Situation der Performanz vor Augen, wo der Vortragende sich zuerst Euodia zuwendet und dann Syntyche und beide Frauen einzeln und nacheinander mit den gleichen Worten ermahnt – wenn auch nicht in direkter Anrede. Offensichtlich haben sie Streitigkeiten und werden zur Versöhnung gerufen. Es folgt eine Anrede an einen gnh,sioj su,zugoj (echter Gefährte), damit er diesen Frauen hilft, ihren Disput zu beenden. Es ist nicht klar, wer der Gefährte ist, ein lokaler Mitarbeiter des Paulus oder vielleicht – wie kürzlich von Antonio Piras diskutiert wurde – die Frau des Paulus.65 Dieser Abschnitt schafft eine Drei-Parteien-Situation. Der su,zugoj ist der Vermittler zwischen den beiden Frauen. Aber dieses Drei-ParteienSystem ist selbst wiederum ein Teil einer größeren Drei-Parteien-Konstellation, die außerdem noch den Vortragenden, der Paulus repräsentiert, und die übrigen Zuhörer einschließt. Mit anderen Worten: Paulus schreibt den Brief in der Weise, dass während der Performanz die Zuhörer aufgeteilt werden in drei Akteure auf der einen Seite und den beobachtenden Rest auf der anderen Seite. Die Aufmerksamkeit des Publikums wird auf die drei Akteure gelenkt, die einen inneren Kreis der gesamten Konstellation 63

Vgl. oben im Abschnitt 1.3.4.4 auf S. 77. Vgl. Lohmeyer 1956, 165: „… die doppelte Setzung des Verbums ‚mahnen‘ ruft die Szene eines Schiedsgerichtes wach, vor dem beide Parteien zum Vergleich aufgerufen werden.“ 65 Piras 2010. Hájek 1964 erwägt, ob es Lukas gewesen sein könnte. 64

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

bilden. Wenn wir Georg Simmels Unterscheidung der verschiedenen Ausprägungen der Drei-Parteien-Situation anwenden, dann haben wir im inneren Kreis die Situation der Vermittlung. Aber welche Rolle hat die Versammlung, die die Ermahnung an die zwei Frauen und ihren Vermittler mithören? Wir haben hier wieder ein Beispiel für die Konstellation des divide et impera. Der Vortragende hebt aus seinem Publikum eine kleine Gruppe heraus und ruft sie zu einer Aktion auf. Beide, er als Vortragender und der Rest des Publikums vereinigen sich in der Rolle des Beobachters. Die kleine Gruppe sieht sich einerseits der apostolischen Autorität gegenübergestellt, die durch den Vortragenden repräsentiert wird, andererseits vor den Augen der Mehrheit der Gemeinde. Eine Gruppe steht zwei anderen, starken gegenüber. So nutzt Paulus eine Strategie, die in der Performanz Druck aufbaut auf die kleine Gruppe, besonders auf Euodia und Syntyche. Der Streit zwischen den Frauen und die Bemühungen zu ihrer Versöhnung werden zu einer öffentlichen Angelegenheit. Auch der angesprochene Mitarbeiter gerät unter Druck. In aller Öffentlichkeit wird ihm die Aufgabe der Vermittlung übertragen, und es wird offensichtlich sein für alle, ob er in seinen Bemühungen zur Versöhnung der beiden Frauen erfolgreich ist oder nicht (Grafik 5). Die Strategie des Paulus hat auch eine Wirkung auf die Gemeindeglieder, die die Vorgänge beobachten. Weil sie Zeugen der Ermahnung sind, werden sie auch Zeugen für die Ergebnisse der Intervention des Paulus sein. Es wird schwierig oder unmöglich für sie, in dieser Angelegenheit gleichgültig zu bleiben und dafür Unwissenheit geltend zu machen. Sie sind Teil des Vorgangs und haben eine Kontrollfunktion.

Paulus

Philipper

Syzygos

Euodia

Syntyche

Grafik 5: Ermahnung von Einzelpersonen (Phil 4,2–3)

2.2 Herausheben einzelner Zuhörer

113

Der Druck auf die drei Personen der inneren Gruppe wird durch ehrende Worte des Apostels ausgeglichen. Der Vermittler ist öffentlich geehrt, indem ihm zugetraut wird, die schwierige Versöhnungsaufgabe zu erfüllen. Die Zuhörer werden wahrscheinlich bewundernd auf ihn geschaut haben. Euodia und Syntyche werden gelobt wegen ihrer früheren Arbeit: „Sie haben mit mir für das Evangelium gekämpft“ (4,3). Dieses Lob deutet darauf hin, dass die Frauen leitende Persönlichkeiten der Gemeinde waren. Das Lob der beiden Frauen wird in die Richtung des Mitstreiters ausgesprochen. Es hilft aber auch zugleich der gesamten Zuhörerschaft, anerkennend auf die beiden Frauen zu blicken. Der positive Rückblick vergrößert die Erwartung, dass der Konflikt ein gutes Ende finden wird. Noch eine andere Wirkung der Strategie des Paulus muss genannt werden: Der Zusammenhalt in der ganzen Gemeinde wird gestärkt. Das Beteiligtsein aller Glieder an den Angelegenheiten ihrer Gemeinde schafft ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Das wird während der Performanz in der Gemeindeversammlung sichtbar, indem die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf eine innere Angelegenheit gelenkt wird. Der äußere Kreis der Beobachter wendet sich einem inneren Kreis zu, der von einigen ihrer Brüder und Schwestern gebildet wird. 2.2.5.2 Archippus (Kolosser 4,17) Ein anderer Fall, wo eine Einzelperson in der Zuhörerschaft herausgehoben wird, ist die Ermahnung des Archippus in Kol 4,17.66 Er wird mit einem Imperativ angesprochen: „Sieh auf das Amt, das du empfangen hast in dem Herrn, dass du es ausfüllst.“ Es ist nicht klar, was das für eine Aufgabe war, aber es muss etwas so Wichtiges gewesen sein, dass eine formale Beauftragung im Namen des ku,rioj angemessen war. Wahrscheinlich geschah diese Beauftragung im Beisein der gesamten Gemeinde. Archippus ist auch in der Adresse des Philmonbriefs (V. 2) erwähnt. Er war offensichtlich ein wichtiges Mitglied der Hauskirchen in Kolossä. Das Wort an Archippus involviert wieder die ganze Gemeinde. Der den Brief Vortragende spricht nicht direkt zu Archippus, sondern ruft die Mehrheit der Zuhörer auf, die Ermahnung an ihn weiterzuleiten (ei;pate VArci,ppw|). Das bedeutet nicht, dass Archippus nicht anwesend gewesen wäre. Vielmehr macht es die Zuhörer zu Teilhabern am Geschehen, und zwar noch stärker als in der Beauftragung des Syzygos im Philipperbrief. Der Vortragende hat nicht nur die Mehrheit des Publikums als Beobachter 66 Es kann hier offen bleiben, ob dieser Brief von Paulus oder in seinem direkten Auftrag von einem seiner engsten Mitarbeiter geschrieben wurde (vgl. Dunn 1996, 38) oder, wie viele annehmen, später von einem Schüler des Paulus (z. B. Pokorný 1987, 2– 17). In jedem Fall zeigt die Ermahnung des Archippus, dass diese Art direkter Ansprache eine allseits bekannte Praxis des Paulus war.

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

der Angelegenheit auf seiner Seite, er schließt das Publikum als kollektiven Teilhaber und Mitarbeiter in die Ermahnung mit ein. 67 Natürlich bewirkt dieses Vorgehen einen starken Druck auf Archippus, die Erwartungen zu erfüllen. Andererseits wird die Verantwortung dafür, dass Archippus seine Aufgabe erfüllt, zu einem beträchtlichen Teil auf die Gemeindeglieder gelegt (Grafik 6).

Paulus Kolosser

Archippus

Grafik 6: Ermahnung von Einzelpersonen (Kol 4,17) James Dunn formuliert es so: “That the whole community (all the recipients) have the responsibility of recalling Archippus to his task (particularly if he was a member of an important household in the community) conforms to Paul’s concept of mutual responsibility and shared authority within the community, to which all, including the more important members, are to be subject.”68 Auch hier hat die gemeinsame Aufgabe eine starke einigende Wirkung. Dunns Schlussfolgerung, dass die Aufforderung des Paulus darauf hindeutet, dass “Archippus seems to have been unwilling or unable (for some reason) to carry it [seinen Auftrag] through”, 69 übersieht die Möglichkeit, dass die Ermahnung nicht zuerst wegen Archippus oder 67

Eine ähnliche Strategie findet sich in der Grußliste am Ende des Römerbriefs. Paulus übermittelt die Grüße an die aufgeführten Personen und Hausgemeinden nicht direkt (avspa,zomai), sondern fordert die Gemeinde auf, die Grüße zu übermitteln (avspa,sasqe). Damit lässt er die Empfänger an den Grüßen mitwirken, bezieht sie also in ein Geschehen mit ein, das gut geeignet ist, die Verbindung untereinander zu stärken. Vgl. auch Stuhlmacher 1989, 220. 68 Dunn 1996, 288. 69 Ebenda.

2.2 Herausheben einzelner Zuhörer

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seinem Versagen in den Brief aufgenommen wurde, sondern wegen der Gemeinde und ihrer Einheit. 2.2.6 Briefe an Einzelpersonen, die vor einer Gemeinde vorgetragen werden 2.2.6.1 Paulus an Philemon Zum Schluss dieses Abschnitts sollen noch zwei frühchristliche Briefe betrachtet werden, die nicht nur einige Teile enthalten, in denen einzelne Personen herausgehoben oder direkt angesprochen werden, sondern die vollständig an Einzelne gerichtet sind und trotzdem eine größere Zuhörerschaft voraussetzen. Es ist oft festgestellt worden, dass der Brief des Paulus an Philemon trotz des sehr persönlichen Anliegens ein Brief an eine Hausgemeinde und ihre leitenden Persönlichkeiten ist. 70 Die Empfänger des Schreibens sind Philemon, der Geliebter und Mitarbeiter genannt wird, Apphia, als Schwester bezeichnet, Archippus, der Mitkämpfer (VArci,ppw| tw/| sustratiw, th| h`mw/ n) und die Gemeinde in Philemons Haus. Die übliche Grußformel ca,rij u`mi/n kai. eivrh,nh steht im Plural. Der ganze Brief ist dann im Singular formuliert und wendet sich an Philemon. Aber am Ende (V. 22), wo Paulus sein baldiges Kommen ankündigt, ist dieser Besuch auf die ganze Gemeinde bezogen: o[ti dia. tw/ n proseucw/ n u`mw/ n carisqh,somai u`mi/n.71 Die Schlussgrüße stehen wieder im Plural: ~H ca,rij tou/ kuri,ou VIhsou/ Cristou/ meta. tou/ pneu,matoj u`mw/ n.72 Der Plural am Anfang und am Ende des Briefes bezeugt seinen öffentlichen Charakter. 73 Das Anliegen des Briefes ist die Frage, wie Philemon auf die Rückkehr seines entlaufenen Sklaven Onesiums reagieren wird, der in der Zwischenzeit und durch das Wirken des Paulus Christ geworden ist.74 Die Hinweise 70

Vgl. zum Beispiel Wickert 1961; Winter 1987, 1–2; Dunn 1996, 313; Frilingos 2000, 99; Fitzmeyer 2000, 81. Witherington 2007, 54 betont die Tatsache, dass es sich nicht um einen Privatbrief handelt. Er ist auch nicht an die Mitglieder der Familie des Philemon geschrieben, auch dann nicht, wenn Apphia seine Frau und Archippus sein Sohn war, wie Witherington mit vielen anderen vermutet. Allerdings ist das Verhältnis von Apphia und Archippus zu Philemon völlig unklar, weil die Personen, die in der Briefadresse mit Namen genannt werden, alle durch ihr Verhältnis zu Paulus und zu den Gemeinden charakterisiert werden (sunergo,j, avdelfh, und sustratiw, thj), nicht in ihrer Beziehung zu Philemon. Anders sieht es Hartman 1997, 173, der den Philemonbrief als einen Privatbrief versteht. 71 „… dass ich durch eure Gebete euch geschenkt werde.“ 72 „Die Gnade des Herrn Jesus Christus sei mit eurem Geist.“ 73 Anders O’Brien 1982, 267–268, 273, der annimmt, dass die anderen Namen nur aus Höflichkeit erwähnt sind und dass der Brief nicht öffentlich verlesen wurde. 74 Eine andere Ansicht vertritt Winter 1987, 3: “Onesimus was with Paul in prison because the former had been sent by the congregation in Colossae” (kursiv im Original). Lampe 1985 schlägt vor, dass Onesimus deshalb zu Paulus kam, weil er einen amicus

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auf die Hausgemeinde zeigen, dass die Mitglieder der Gemeinde den Brief zusammen mit Philemon und den anderen namentlich Genannten hören sollten. 75 Das bedeutet, dass Philemon die Affäre mit Onesimus nicht als eine private Angelegenheit behandeln konnte. 76 Wie auch immer die Entscheidung des Philemon über seinen Sklaven ausfallen wird, sie wird in jedem Fall Auswirkungen auf seinen Ehre-Status in der Gemeindeöffentlichkeit haben. 77 Er muss die Angelegenheit im Sinne der christlichen Prinzipien behandeln, die Paulus lehrt, wenn er nicht bei seinen Mitgeschwistern in der Gemeinde seines Hauses das Gesicht verlieren will. Wir haben hier wieder die Situation einer absichtlich zerteilten Zuhörerschaft. Derjenige, der den Brief im Sinne des Paulus vorträgt, hebt Philemon aus dem Publikum heraus und weist ihn an, Onesimus, der auch anwesend ist, aufzunehmen. Der Sprecher handelt im Sinne eines Vermittlers zwischen Philemon und Onesimus (V. 17).78 Aber diese Drei-ParteienKonstellation ist nur der innere Kreis des Briefereignisses. Er ist umgeben von einer anderen Drei-Gruppen-Beziehung, die erstens durch den Vortragenden, der Paulus und seine Mitarbeiter repräsentiert,79 zweitens durch die Gemeinde und ihre prominenten Mitglieder wie Apphia und Archippus und drittens durch Philemon gebildet wird. Dieser äußere Kreis lässt sich wieder als Simmels Situation des divide et impera beschreiben. Paulus zieht Apphia, Archippus und die Gemeindeglieder auf seine Seite und übt damit Druck auf Philemon aus (Grafik 7). “The eyes of his church will be on him, watching how he responds to Paul’s appeal.” 80 domini suchte, jemanden, der für ihn verhandeln und sich für ihn einsetzen würde. Die traditionelle Sicht wird verteidigt von Derrett 1988 und Nordling 1991. 75 Vgl. Dunn 1996, 313; Fitzmeyer 2000, 81; Stirewalt 2003, 92; auch Frilingos 2000, 99: “The first reading of the epistle takes place within the public space of the domus.” Anders Arzt-Grabner 2003, 115. 76 Lohse 1977, 268; Stuhlmacher 1981, 31; Murphy-O’Connor 1995, 53; Bieberstein 2000, 111–112; Witherington 2007, 55. Nach Binder 1990, 45 stellt die Hausgemeinde eine camera caritatis dar, ein Ort des Vertrauens, wo die Beziehung zwischen Philemon und Onesimus zur Sprache kommen kann. Aber es scheint, dass die Hausgemeinde doch mehr ein öffentlicher Raum ist. 77 Dunn 1996, 306; Frilingos 2000, 99–100. 78 Vgl. Stirewalt 2003, 93. Für eine etwas andere Dreiecksbeziehung siehe Frilingos 2000, 103. 79 Timotheus als Mit-Absender (V. 1) und die grüßenden Personen (V. 23–24); vgl. Petersen 1985, 100. 80 Witherington 2007, 56; besonders Petersen 1985, 263. Es ist vor allem Petersen 1985, der die öffentliche Seite des Philemonbriefs herausgearbeitet hat, z. B. 99–101, 265, 268–269, 288–289, 298. Vgl. auch Lyons 2006, 127: “Philemon and the community of believers that gather at his house are given the opportunity to ratify this re-valuation within their social setting, thereby becoming ancillary agents in the process.” Dunn 1996, 313: “The assumption is that the letter would be read openly at a meeting of the house church … Of course, this was a not altogether subtle way of bringing pressure on

2.2 Herausheben einzelner Zuhörer

Paulus

Philemon

117

Apphia Archippus Gemeinde

Onesimus

Grafik 7: Briefe an Einzelpersonen (Philemon) In der äußeren Drei-Parteien-Konstellation verlangt Paulus mehr als in der inneren, nicht nur die Versöhnung zwischen Philemon und Onesimus, sondern dass – sehr wahrscheinlich 81 – Philemon seinen Sklaven freilässt, damit dieser Paulus dienen kann (V. 13–14, 21). Petersen schreibt: Because Paul has made a public issue of the case, he will also have to react publicly to any failure by Philemon to respond as he should. Although the apostle never specifies what administrative consequences might follow from Philemon’s disobedience, he does specify a time and a place for a public reckoning should that prove necessary …, his coming to visit Philemon at his house/church in the near future (v. 22). 82

Der angekündigte Besuch ist die Stelle im Brief, wo Paulus in den Plural zurückkehrt, nachdem der Hauptteil des Briefes im Singular formuliert ist. Natürlich muss Paulus die Möglichkeit berücksichtigen, dass sich die Zuhörer auf die Seite des Philemon stellen. Schließlich ist er ihr Bruder, ein Freund mit relativ hohem sozialem Status und der Gastgeber der Gemeinde.83 Wenn die Gemeinde den Eindruck hat, Paulus forderte von Philemon zu viel, könnte sie sich gegen den Apostel wenden. Das wird der

Philemon, but the very fact that it could be done indicates that Philemon was likely to recognize the church’s right to take an interest in and even advise on the internal affairs of his own household.” 81 Vgl. Lee und Scott 2009, 233-234. 82 Petersen 1985, 267; vgl. Lohse 1977, 287; Stuhlmacher 1981, 54; Bieberstein 2000, 114. Binder 1990, 66 versteht den angekündigten Besuch nicht in dem Sinn, dass Paulus überprüfen wolle, wie Philemon mit Onesimus umgegangen ist, sondern als ein Anteilgeben an der Freude über die Freilassung des Paulus. Vgl. auch Nordling 2004, 290–292. 83 Petersen 1985, 100; Witherington 2007, 56: “There may also be the effect of putting pressure on the community in regard to their Christian commitment so that they will not simply side with Philemon, who is their friend and high status host.”

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

Grund dafür sein, dass Paulus argumentiert und bittet, statt anzuordnen. 84 Philemon ist eingeladen, aus freien Stücken zu handeln (V. 8.9.14). Weil Philemon so sein Gesicht wahrt vor der beobachtenden Gemeinde, kann diese leichter auf die Seite des Paulus treten.85 Eine ähnliche Rücksicht auf die Stimmung im Publikum fanden wir bereits oben im ersten Clemensbrief 86 und werden das unten noch vertiefen. 87 2.2.6.2 Ignatius an Polykarp Der Brief des Ignatius an Polykarp88 beginnt mit dem üblichen Präskript, in dem Absender und Empfänger genannt werden. Der Brief ist adressiert an Polykarp, Bischof der Kirche der Smyrnäer. Die ersten fünf Kapitel, alle im Singular geschrieben, enthalten eine Sammlung von Ermahnungen, die Polykarp in seinem Dienst für die Kirche ermutigen sollen. Plötzlich ändert sich im sechsten Kapitel die Anrede vom Singular in den Plural: Tw|/ evpisko,pw| prose,cete( i[na kai. o` qeo.j u`mi/n.89 Nachdem der Bischof ermahnt wurde, wendet sich der Vortragende den Gemeindegliedern zu, die offenbar von Anfang an anwesend waren. 90 Zunächst geht es ihm um das Verhältnis zwischen Gemeinde und Bischof. Bald aber folgen Ermahnungen, die das gegenseitige Verhältnis der Gemeindeglieder betreffen: Sie sollen zusammenarbeiten (sugkopia/te av llh,loij), miteinander Geduld haben (makroqumh,sate ou;n metV avllh,lwn evn prao,thti w` j o` qeo.j meqV u`mw/ n) und treu und ausdauernd den Kampf für Gott führen. Nachdem Ignatius auf ein Gebet der Gemeinde in Smyrna hingewiesen hat, durch das Gott der Gemeinde in Antiochien in Syrien wieder Frieden geschenkt hat, kehrt er zum Singular zurück und spricht Polykarp wieder direkt an (7,2). Er soll eine Versammlung einberufen, die einen Boten nach Antiochien schickt (vgl. das gleiche Anliegen in IgnSm 11). Es folgt wieder ein Abschnitt im 84 Petersen 1985, 300–301 betont, dass Paulus Philemon und seine Gemeinde prüft, ob sie seine von außen in die Gemeinde hineinwirkende Autorität als Apostel anerkennen. Zugleich aber wird auch die Autorität des Paulus geprüft, denn wenn Philemon und seine Hausgemeinde seinen Ermahnungen nicht nachkommen, ist auch die apostolische Autorität des Paulus beschädigt, und zwar im Haus des Philemon und bei allen, die von dem Fall wissen. 85 Dunn 1996, 324; Frilingos 2000, 103–104. 86 Siehe oben auf S. 105. 87 Siehe unten zu Gal 4,29–30 auf S. 227–228. 88 Dieser Brief des früheren Bischofs von Antiochien in Syrien wurde in Troas geschrieben, in der Zeit Trajans, etwa 107 n. Chr., nachdem Ignatius auf seinem Weg nach Rom zum Martyrium in Smyrna Station gemacht hatte und Polykarp begegnet war. Vgl. Schoedel 1990, 26–28. 89 „Hört auf den Bischof, damit auch Gott auf euch höre.“ 90 Schoedel 1990, 425 deutet den Wechsel als Strategie des Ignatius, über den Bischof Einfluss auf die Gemeinde auszuüben.

2.2 Herausheben einzelner Zuhörer

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Plural, in dem die Reise nach Antiochien jetzt als Aufgabe der ganzen Gemeinde dargestellt ist (7,3): „Dieses ist Gottes und euer (u`mw/ n) Werk, wenn ihr es ausführt (avparti,shte). Ich vertraue nämlich auf die Gnade, dass ihr bereit seid (o[ti e[toimoi, evste) zu einer guten Tat, die Gott gilt. Da ich euren Eifer für die Wahrheit (u`mw/ n to. su,ntonon th/j avlhqei,aj) kenne, habe ich euch (u`ma/j) nur mit ein paar Zeilen zugeredet.“91 Dann spricht Ignatius erneut im Singular zu Polykarp und weist ihn an, auch andere Gemeinden zu veranlassen, Boten oder wenigstens einen Brief nach Antiochien in Syrien zu schicken (8,1). Nach verschiedenen Grüßen stehen die Schlusswünsche des Briefes (8,3) wieder im Plural und schließen die ganze Gemeinde ein. Trotz der Briefadresse im Singular (Poluka,rpw| ) , ist der Brief des Ignatius kein Privatbrief, sondern für die öffentliche Verlesung gedacht. 92 Nicht nur der Bischof, sondern auch die Gemeinde in Smyrna bildet die Zuhörerschaft. In den ersten fünf Kapiteln des Briefes hört die Gemeinde mit, was Ignatius dem Bischof schreibt: wie er ihn zunächst lobt für seine Festigkeit und ihn dann ermahnt und anweist, wie er sein Amt führen soll. Manches, was gesagt wird, wird die Gemeindeglieder erfreut haben: „Dulde alle in Liebe“ (1,2). „Witwen sollen nicht vernachlässigt werden“ (4,1). „Sklaven und Sklavinnen behandle nicht hochmütig“ (4,3). Aber insgesamt zielen die Ermahnungen darauf, dass Polykarp für ein richtiges Verhalten der Gemeindeglieder sorgt: Einigkeit, Korrektur für die Abweichenden, kein Raum für fremde Lehren, Unterordnung unter den Bischof, häufige Versammlungen, korrektes Verhalten in der Ehe. Obwohl das alles in Ermahnungen an den Bischof daherkommt, ist es doch in Wirklichkeit eine starke Unterstützung in seinem Amt und eine Bestätigung seiner Autorität vor den Ohren seiner Gemeinde. Indirekt wird die Gemeinde angewiesen, ein christliches Leben zu führen, so wie es Ignatius versteht. Wenn sich dann der Vortragende in Kapitel sechs den Gemeindegliedern zuwendet, werden sie direkt ermahnt, genau das zu tun, wofür ihr Bischof nach der Anweisung des Ignatius bei ihnen sorgen soll: Unterordnung unter den Bischof, Einigkeit und Treue im Kampf für Gott. Was ist die Strategie dieses Briefes? Wie im Brief an Philemon werden die Zuhörer gleich von Anfang an in zwei Teile geteilt. Ein Teil ist der Leiter der Gemeinde, der andere Teil ist die Menge. Der Vortragende 91

Übersetzung nach Fischer 1959. Paulsen 1985, 105 erklärt den Wechsel als Einfluss traditioneller Gemeindeermahnung. Dass Ignatius in 6,1 plötzlich die ganze Gemeinde anredet „berechtigt nicht zu literarkritischen Operationen, sondern erklärt sich aus der weitgehenden Traditionalität des von Ign herangezogenen Materials.“ Paulsen wertet den Wechsel der Anrede von Polykarp zur Gemeinde beinahe als ein Versehen: „… gerät Ign mit 6 in eine Paränese der Glaubenden hinein, um 7,2 die Richtung auf den eigentlichen Briefempfänger wiederzugewinnen.“ 92

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

wendet sich zuerst dem Leiter zu. Indem er ihn öffentlich ermahnt, hat er formal betrachtet die Gemeindeglieder als Zeugen auf seiner Seite. Es sieht aus, als geriete der Bischof unter den Druck der Öffentlichkeit, die Anweisungen des Briefautors zu befolgen. Aber anders als im Philemonbrief geht es nicht um eine persönliche Angelegenheit des Leiters, sondern um das Verhalten der Gemeinde. Das bedeutet, dass das, was Polykarp gesagt wird, in Wirklichkeit eine indirekte Ermahnung der Gemeinde ist, die dann verstärkt wird, wenn sich der Vortragende in Kapitel sechs den Gemeindegliedern direkt zuwendet. War die Ermahnung an Polykarp notwendig? Hatte er die öffentliche Unterstützung durch Ignatius nötig? Hat sie ihm geholfen oder hat sie seine Autorität untergraben, indem der Anschein erweckt wurde, Polykarp wäre allein der Aufgabe nicht gewachsen? Was ist der Sinn dieser Strategie? Es scheint, dass wir hier wieder die Situation haben, die Simmel tertius gaudens nennt. Indem Ignatius das Publikum seines Briefvortrags von Anfang an teilt, und zwar entlang der bereits existierenden Grenze zwischen dem Leitendem und den ihm Untergeordneten, gewinnt er den Vorteil, ihnen allen überlegen zu sein. 93 Wenn er Polykarp ermahnt, demonstriert er vor allen, dass er ihm überlegen ist. Und wenn er die Gemeindeglieder zur Unterordnung und zum christlichen Leben ermahnt, festigt er diesen Anspruch. Das ist ähnlich wie bei Paulus in 2 Kor 2 oder wie in Ciceros Rede pro lege Manilia 69: Indem der Aufführende einen der Zuhörer heraushebt und so das Publikum teilt, stärkt er die eigene Position (Grafik 8).

Ignatius

Polykarp

Gemeinde Smyrna

Grafik 8: Briefe an Einzelpersonen (Ignatius an Polykarp) 93 Schoedel 1990, 42–44 erörtert die Ausdrücke der Selbsterniedrigung bei Ignatius und deutet sie als ein Zeichen der Suche nach Identität. Mir scheinen sie eher ein rhetorisches Mittel zu sein, seinen hohen Autoritätsanspruch zu kompensieren.

2.2 Herausheben einzelner Zuhörer

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Die Trennung von Gemeinde und Bischof und die erst indirekte und dann direkte Ermahnung der Gemeinde ist ausbalanciert durch solche Aussagen, die Polykarp aufrufen, geduldig und verständnisvoll mit der Gemeinde umzugehen (1,2; 2,1; 4,1.3). Ignatius steht also nicht uneingeschränkt auf der Seite des Polykarp, sondern hat auch die Interessen der Gemeindeglieder im Auge. Insgesamt teilt er die Zuhörerschaft, um sie dann sofort wieder einander zuzuwenden: den Bischof zu seiner Gemeinde in Fürsorge, die Gemeinde zu ihrem Bischof in Gehorsam. Diese Strategie des Briefes erklärt sich aus dem Anliegen des Ignatius. Er nutzt die in den ersten sechs Kapiteln gewonnene Überlegenheit, um von den Christen in Smyrna einen besonderen Einsatz für seine Heimatgemeinde in Syrien zu verlangen. Ein Abgesandter sollte mit allen Vollmachten ausgestattet nach Antiochien reisen, um dort die Gemeinde zu unterstützen (vgl. IgnPhld 10; IgnSm 11). 94 Andere Gemeinden sollten sich diesem Dienst anschließen. Diese Forderung wird immer abwechselnd an den Bischof und an die Gemeinde gerichtet. Kapitel sieben und acht setzen also die Teilung des Publikums fort, vereinen aber gleichzeitig den Bischof und seine Gemeinde in einer besonderen Aufgabe. Die Teilung des Publikums gibt Ignatius Überlegenheit, um seine Forderung durchzusetzen. Die gegenseitige Wertschätzung und Zuwendung der Gemeinde Smyrna und ihres Bischofs aber ist die Voraussetzung, dass diese Forderung überhaupt von ihnen erfüllt werden kann. 2.2.7 Ergebnis Mit der Hilfe von Simmels sozialer Theorie des Wechsels von einer ZweiParteien-Konstellation zu einer Drei-Parteien-Konstellation haben wir verschiedene Briefereignisse untersucht, wo der Vortragende einzelne Personen aus seinem Publikum heraushebt und direkt oder indirekt anspricht. Diese Strategie, so hat sich gezeigt, kann in dreifacher Hinsicht wirksam sein. Erstens kann der Vortragende zwischen der Einzelperson und dem Publikum vermitteln, zum Beispiel bei der Empfehlung eines Boten und Briefübermittlers (Vermittler). Zweitens kann der Vortragende Druck auf eine Einzelperson oder eine Gruppe ausüben, indem er sich mit dem Rest des Publikums verbündet (divide et impera). Und drittens kann er von der Teilung des Publikums profitieren, indem er die Situation für eine verschleierte Selbstdarstellung nutzt oder in subtiler Weise seine Überlegenheit demonstriert (tertius gaudens). Diese Strategien des Umgangs mit dem Publikum zu beachten, ist eine Hilfe, die rhetorische Kraft der Brieftexte

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Schoedel 1990, 435 vermutet, dass Ignatius seine eigene Rehabilitation gegenüber einigen Kritikern in Antiochien festigen lassen wollte.

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zu verstehen. Voraussetzung dafür ist, die Briefe als „geschriebene Überreste“ (Foley) einer öffentlichen Performanz zu betrachten.

2.3 Aufmerksamkeit auf den Vortragenden als Medium der Kommunikation 2.3 Aufmerksamkeit auf den Vortragenden als Medium

Zum Wesen der Performanz gehört es, dass nicht nur ein referentieller Inhalt kommuniziert wird, sondern dass zugleich die mediale Seite der Kommunikation erlebt wird. 95 Was gesagt wird, verweist ja nicht nur auf eine außersprachliche Wirklichkeit, sondern zugleich auch auf den gerade geschehenden Akt der Sprachverwendung. Nach Richard Bauman übernimmt der Vortragende die Verantwortung für die Art und Weise der Kommunikation, dem Publikum fällt die Aufgabe zu, die Kompetenz und Effektivität der Aufführung zu bewerten. 96 Moderne Studien zur Performanz 97 haben deutlich gemacht, dass der menschliche Körper ein wesentliches Element jeder Performanz ist. Die körperliche Ko-Präsenz von Vortragendem und Zuhörenden konstituiert die Performanz und löst das Geschehen aus, das – über die autopoietische feedback-Schleife – jede Performanz zu einem einmaligen Ereignis macht.98 Es gibt keine gesprochene Sprache ohne jemanden, der die lautlichen Äußerungen und die anderen kommunikativen Signale mit dem Körper produziert. Dazu gehören die Merkmale und Eigenarten des individuellen Körpers, die Fähigkeiten und Grenzen des Vortragenden, die körperliche Präsenz, das Sein in der Zeit, die Bewegungen, Atem und Stimme, ganz besonders die persönliche Geschichte, die sichtbar und erlebbar in seinen Körper eingeschrieben ist. Auch gibt es keine Performanz ohne die Reaktionen des Publikums, die wiederum über die Körper in der „performance arena“ kommuniziert werden. Alles das, was zur medialen Seite des Performanz-Ereignisses gehört, ist zunächst unabhängig von der Bedeutung des vorgetragenen Textes oder Stückes. Das Erleben der medialen Seite der Kommunikation generiert dabei eigene Wirkungen, die nicht über das Verstehen, sondern über körperliches Erleben und Nachvollziehen zustande kommen. Diese Wirkungen können die referentielle Seite der Kommunikation unterstützen oder in Spannung zu ihr treten. In jedem Fall gewinnt das Dargebotene durch das Erleben der Materialität und Medialität der Performanz zusätzlichen Sinn.

95

Siehe dazu oben das auf S. 46–48 zur Definition der Performanz Gesagte. Bauman 1977, 7–11. 97 Fischer-Lichte und Roselt 2001; Fischer-Lichte 2003a; 2004; Carlson 2004. 98 Fischer-Lichte 2004, 46–57. 96

2.3 Aufmerksamkeit auf den Vortragenden als Medium

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Performanzkritik wird daher in besonderer Weise auf die im Text enthaltenen Elemente achten, die die Aufmerksamkeit auf den Medienaspekt der Performanz lenken. Durch sie wird das Publikum an seine ihm in jeder Performanz zukommende Rolle erinnert, nämlich das Können der Vortragenden, die Effektivität der Kommunikation, die ästhetische Qualität des Ereignisses zu bewerten. Für die Performanzkritik der Paulusbriefe bedeutet das, dass die Auslegung nach Hinweisen im Text sucht, die dazu geeignet sind, den Vortragenden als Medium der Performanz bewusst zu machen und dadurch eine Wirkung bei den Zuhörern auszulösen. 99 Das könnten vor allem Hinweise sein, die den Körper des Vortragenden ins Bewusstsein des Publikums rücken. Eine solche Untersuchung ist nach unserem Wissen bisher nicht unternommen worden. Hier sollen ausgewählte Abschnitte aus drei Paulusbriefen betrachtet werden. 2.3.1 Philemon 8–9 Der erste Text, dem wir uns – erneut – zuwenden, ist der Philemonbrief. Dieser Brief des Paulus ist an einen wohlhabenden Leiter einer Hausgemeinde in Kolossä geschrieben mit dem Ziel, ihn mit seinem entlaufenen Sklaven Onesimus zu versöhnen. 100 Wer wird diesen Brief vorgelesen haben? Es liegt nahe, an ein Mitglied des Hauses des Philemon zu denken, der genügend Bildung hatte und daher in der Lage war, den Brief vor der versammelten Hausgemeinde vorzutragen. Vielleicht hat Philemon, wie es üblich war, in die Ausbildung eines seiner Sklavenjungen investiert, damit der die verschiedenen Lese- und Schreibaufgaben seines Hauses und Geschäftes wahrnehmen kann. In diesem Fall war der Vortragende vielleicht noch sehr jung. Oder Philemon hatte einen Sekretär, einen bewährten und vertrauenswürdigen Mann reifen Alters. Oder es gab in der Hausgemeinde jemanden, der gut gebildet war und die Aufgabe eines Lektors übernahm. Natürlich verlangt das Vorlesen eines Briefes mehr als nur die Worte auszusprechen, die der Absender aufgeschrieben hat. Scriptio continua und andere Schreibkonventionen in hellenistischer Zeit auf der einen Seite und die Erwartungen der Zuhörer, wie ein Text vorzutragen sei, auf der anderen Seite erforderten eine sorgfältige Vorbereitung dessen, der den Text zu lesen hatte. Schrift war codierte und bewahrte Mündlichkeit. Der Leser 99

Vgl. Rhoads 2006, 128. Zur Diskussion vgl. Wolter 1993, 228–232; Hübner 1997, 33–35; Wengst 2005, 30–39; Witherington 2007, 68–73. Sollte Onesimus zu Paulus gegangen sein, um ihn um Hilfe zu bitten (so Lampe 1985, 137–137; Dunn 1996, 304–305; 1998, 206), oder war er ein Herumtreiber (Arzt-Grabner 2003, 101–108) oder – eher unwahrscheinlich – von der Gemeinde zu Paulus delegiert worden (Winter 1984; dagegen John G. Nordling 1991 und 2010a)? Die Antwort auf diese Fragen verändert nichts an der hier gezeigten Performanzstrategie. 100

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

musste den Text zunächst für sich selbst durcharbeiten, die richtige Wortund Satztrennung finden, den Text für sich selbst laut lesen und ihn dadurch verstehen. Dann musste er entscheiden, wo und wie er betonen will und wie die Aufführung gestaltet werden soll, damit die Zuhörer den Vortrag so erleben, als stünde Paulus selbst vor ihnen. In der Performanz kam der Vortragende dann zum Hauptteil des Briefes und sagte (V. 8–9): „Darum, obwohl ich in Christus volle Freiheit habe, dir zu gebieten, was sich gebührt, will ich um der Liebe willen doch nur bitten, so wie ich bin: Paulus, ein alter Mann, nun aber auch ein Gefangener Christi Jesu.“ Was geschieht mit den Zuhörern, wenn diese Worte ausgesprochen werden? Wenn der Vortragende ein Sklavenjunge war, sprach er mit einer jugendlichen Stimme: toiou/toj w' n w` j Pau/loj presbu,thj.101 Ergab sich nicht ein offenbarer Widerspruch zwischen dem Gesagten und dem Sprechenden? Wie anders dagegen berührte es die Hörer, wenn der, der die Worte nuni. de. kai. de,smioj Cristou/ VIhsou/ aussprach, ein älterer Sekretär war, ein Sklave oder ein Freigelassener, dessen lebenslange Abhängigkeit von einem reichen Landbesitzer – dessen „Gefangenschaft“ – gleichsam in seinen Körper eingeschrieben war. 102 Die Selbstbezeichnung des Paulus als 101

Stuhlmacher 1981, 37–38 und O’Brien 1982, 290 deuten das presbu,thj als „envoy“ („ambassador“) oder „Gesandter“. Sie verstehen das als Hinweis auf die apostolische Autorität des Paulus. Ebenso Petersen 1985, 126–128, der eine strukturelle Analogie zwischen V. 9 und V. 11 sieht (pote, soi a;crhston nuni. de. kai. soi. kai. evmoi. eu;crhston) und deshalb das Wortpaar presbu,thj und de,smioj als Gegensätze versteht und so für presbu,thj eine Bedeutung annimmt, die eine Autorität zum Ausdruck bringt. Das ist nicht überzeugend, weil in V. 11 der Gegensatz sowohl durch pote, und nuni. de. als auch durch a;crhstoj und eu;crhstoj angezeigt wird, in V. 9 dagegen kein Anzeichen eines Gegensatzes erscheint. Petersen verweist außerdem auf 2 Kor 5,20 (vgl. Eph 6,20), wo ebenso wie in Phlm 9 parakalw/ gebraucht wird, Paulus allerdings das Verb presbeu,w verwendet, nicht presbu,thj. Nordling 2004, 230; 2007, 77 deutet folgendermaßen: Paulus verweist mit presbu,thj zugleich auf sein Alter (49–56 Jahre) und auf seine Rolle als Botschafter (presbeuth,j). Ähnlich Binder 1990, 54: „… die Bedeutung ‚Beauftragter‘ und ‚Gesandter‘ scheint hier mitzuschwingen.“ Lohse 1977, 277 und Lampe 1998, 216 begründen ihre Deutung „alter Mann“ damit, dass Paulus seine Autorität in diesem Satz gerade nicht betonen will. Ähnlich Lee und Scott 2009, 230. Dieses Argument wird nicht dadurch widerlegt, dass Paulus im Philemonbrief insgesamt sehr wohl seine Autorität als Apostel erkennbar macht, wie Petersen 1985, 188 meint. Es wird aber wohl nicht allein um Mitleid gehen (so Witherington 2007, 67). Der Hinweis auf das Alter impliziert durchaus auch den Anspruch auf Respekt, genauso wie der Hinweis auf die Gefangenschaft um Christi willen. Siehe dazu Wolter 1993, 259–261; Dunn 1996, 322, 327; Lampe 1998, 216; Wengst 2005, 59. 102 Petersen 1985, 127 sieht in dem Hinweis auf die Gefangenschaft einen Ausdruck von Niedrigkeit; vgl. Lyons 2006, 127–128. Ignatius von Antiochien dagegen versteht seine Ketten als Ehrung und nennt sie „geistliche Perlen“ (IgnEph 11,2; vgl. Polyk 1,1). So scheint auch in dieser Selbstbezeichnung ein Anspruch auf Respekt mitzuschwingen,

2.3 Aufmerksamkeit auf den Vortragenden als Medium

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Gebundener konnte durch Körper und Stimme des Performers eine besondere Bedeutung gewinnen. Viel spannungsvoller war es jedoch, wenn ein reiches und gut gebildetes Mitglied der Hausgemeinde diese Worte sprach. In jedem Fall war es seine eigene Stimme, sein eigener Körper, in den seine eigene Lebensgeschichte eingeschrieben war, die der Vortragende für die Zeit der Performanz des Briefes dem Paulus zur Verfügung stellte. Sobald Paulus in seinem Brief auf seinen eigenen Körper hinweist, erleben die Hörer entweder, dass die Aussage des Textes durch den Körper und die Lebenserfahrungen des Vortragenden zusätzlich an Kraft gewinnt oder dass sie mit seinem Körper in Spannung gerät.103 In jedem Fall lenkt der Verfasser des Briefes die Aufmerksamkeit des Publikums auf den Körper dessen, der den Brief vorträgt. Damit kommt das Medium der Kommunikation in den Blick. 104 Die Illusion, dass Paulus gleichsam selbst anwesend ist, wird gestört. Die inhaltliche Interpretation der Worte durch die Zuhörer und ihre Aufmerksamkeit auf die mediale Seite der Kommunikation treten auseinander. Die Wirkung wird je nach sozialem Stand der Hörer unterschiedlich ausfallen. Ein Sklave im Haus des Philemon wird anders reagieren als ein Freigeborener, ein Reiferer anders als ein Jugendlicher. In jedem Fall aber nehmen die Zuhörer in diesem Moment bewusst wahr, dass sie Publikum sind und eine Performanz erleben. Dass die mediale Seite der Performanz in den Vordergrund tritt, hat eine distanzierende Wirkung, einen Verfremdungseffekt. Normalerweise hängt der sich allerdings nicht auf das Apostelamt gründet, sondern auf das persönliche Ethos. Um das persönliche Ethos geht es auch bei den Hinweisen auf Gefangenschaft in Phil 1,7.13.17 (vgl. Kol 4,3.18; Eph 3,1; 4,1; 6,20; 2 Tim 1,8.16). 103 Dieser Aspekt des Textes wurde von den Auslegern bisher nicht beachtet, weil sie den Brief, entsprechend dem modernen Umgang mit schriftlichen Texten, als eine persönliche Nachricht an Philemon auslegen. Binder 1990, 54: „Alles, was der Apostel hier ihn Betreffendes erwähnt, ist ‚nebenbei‘ gesagt. Weder mit dem, dass er der Alte ist, noch mit dem, dass er seiner Freiheit beraubt wurde, will er irgendwie Eindruck machen.“ 104 Dieser Effekt scheint dadurch unterstützt zu werden, dass Paulus in Phlm 8 seinen Namen nennt. (Zur Namensnennung mit w` j vgl. Arzt-Grabner 2003, 201.) Paulus nennt seinen Namen auch in 2 Kor 10,1 und 1 Thess 2,18. In beiden Fällen geht es im Zusammenhang auch um den Körper, und zwar um das körperliche Anwesend- oder Abwesendsein des Apostels. Auch Kol 1,23–24 spricht vom Körper, nämlich vom Leiden des Apostels. Das deutet darauf hin, dass auch die Namensnennung den Medienaspekt der Kommunikation ins Bewusstsein rückt. Das könnte auch für Gal 5,2 und Eph 3,1 gelten, wo der Name des Apostels im Zusammenhang mit seinem vollmächtigen Reden und Urteilen genannt wird. An diesen Stellen könnte der Name darauf aufmerksam machen, dass das vom Publikum in der Performanz vernommene Wort nicht von der Person des Apostels abgelöst werden kann. Etwas anders liegt die Sache in Phlm 19, wo Paulus eine rechtlich bindende Verpflichtung ausspricht, in der er sich von niemandem vertreten lassen kann und will. Vgl. Wolter 1993, 276; Dunn 1996, 339–340; Lampe 1998, 225; Arzt-Grabner 2003, 240–246.

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

die Wirkung eines Paulusbriefs auf die Zuhörer davon ab, wie gekonnt und mit welchem Engagement der Vortragende seine Aufgabe erfüllt. 105 Je besser der Vortragende Paulus verkörpert, desto stärker wird die Wirkung auf die Zuhörer sein. Die Zuhörer identifizieren sich so stark mit der Performanz, dass sie Paulus erleben, als wäre er anwesend. Der Hinweis des Paulus auf seinen Körper erinnert die Hörer jedoch daran, dass Paulus selbst nicht anwesend ist. Die Illusion wird zerstört, die Zuhörer werden in eine kritische Distanz geführt. Sie erleben die Performanz nicht länger einfach mit, sie folgen nicht mehr den Gefühlen, die die Performanz nahe legt. Der Verfremdungseffekt ruft sie auf, selbst verantwortlich zu handeln, und das auf mehreren Ebenen. Zunächst einmal wird das Publikum dazu angeregt, die Qualität der Performanz zu bewerten. Die Bewertung des Könnens des Vortragenden – also seiner Präsenz im Raum, der ästhetischen Qualität und der Effektivität der Kommunikation – ist wichtiges Element dessen, was es bedeutet, Publikum zu sein. Das schließt auch eine Bewertung der Stimmigkeit von inhaltlicher Aussage und medialem Aspekt der Performanz ein. Der Gemeinde im Hause des Philemon wird bewusst, inwieweit der Vortragende Paulus verkörpern kann und wo er wegen seiner eigenen Körperlichkeit an Grenzen kommt. Daraus folgt sofort ein Zweites: Jeder Vortrag ist zugleich Interpretation. Indem die Gemeinde die Art und Weise der Darbietung bewertet, weil sie daran erinnert wurde, dass nicht Paulus selbst spricht, wird ihre Abhängigkeit von der Interpretation des Briefes durch den Vortragenden verringert. Die Stimmigkeit der Darbietung zu beurteilen, dass setzt eine eigene Interpretation der Worte des Paulus voraus. Solange die Hörer von der Performanz gefangen sind, nehmen sie den Brief so auf, wie der Vortragende ihn versteht und präsentiert. Sobald sie sich bewusst werden, dass sie eine Performanz erleben, die zu bewerten sie gefordert sind, brauchen sie eine eigene Deutung. Die Aufmerksamkeit auf den Medienaspekt der Darbietung hat sozusagen einen „Demokratisierungseffekt“ in der Gemeinde. Die Verantwortung für die Interpretation des Paulusbriefs trägt nicht der Vortragende allein, sondern sie wird der ganzen zuhörenden Gemeinde übertragen. Beim Vortrag des Philemonbriefs könnte dieser Demokratisierungseffekt von besonderer Bedeutung gewesen sein. In der versammelten Hausgemeinde gab es eine erhebliche soziale Differenz zwischen Philemon und seinen nächsten Angehörigen auf der einen Seite und seinen Sklaven und Abhängigen auf der anderen Seite. Es mag noch andere (relativ) Reiche in 105 Ein Beispiel ist die starke Wirkung der meisterlichen Performanz des Tränenbriefs des Paulus in Korinth. Vgl. Johnson 2009, die aber annimmt, dass Titus den Brief vorgetragen hat.

2.3 Aufmerksamkeit auf den Vortragenden als Medium

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der Gemeinde gegeben haben, sicher auch noch andere Arme und weitere Sklaven. 106 In der Gemeindeversammlung handelte der Vortragende im Auftrag des Philemon und gehörte damit in diesem Augenblick auf die Seite der sozial Überlegenen, selbst wenn es sich um einen Sklaven handeln sollte. Er bietet die Interpretation der Herrschenden. Durch die Strategie des Paulus, seinen Körper zu erwähnen, wird nun diese Interpretation der Bewertung der ganzen Versammlung ausgesetzt. Die Gemeinde, die sehr wahrscheinlich in ihrer Mehrheit aus Mitgliedern sozial niedriger Schichten bestand, wird zu eigenem Urteil ermutigt. Durch den Hinweis auf seinen Körper wird auch die Abhängigkeit des Paulus von der Interpretation seines Briefes durch den Vortragenden verringert. Der Vortragende könnte von Philemon vor der Performanz in der Gemeindeversammlung beeinflusst worden sein. Schließlich erhielt Philemon den Brief zuerst und hätte darauf hinwirken können, dass der zum Lesen Beauftragte durch die Art des Vortrags seine Interessen wahrnimmt. Paulus aber sorgt dafür, dass die Performanz bewusst wird und zur Bewertung steht. Die Interpretation des Briefes wird der Beurteilung aller Zuhörenden ausgesetzt. Auf noch einer dritten Ebene wird das Publikum durch die hier vorgestellte Strategie des Paulus zu eigenem verantwortlichem Handeln geführt. Es geht um den zukünftigen Status des Onesimus. Soll er wie bisher ein Sklave im Haushalt des Philemon sein oder soll er nach seiner Bekehrung durch Paulus und seiner Rückkehr nach Kolossä als Bruder in Christus gelten?107 Das ist nicht nur eine Frage, in der Philemon seine Entscheidung treffen muss. Der Brief, der in seinem Hauptteil an Philemon gerichtet ist, wird vor der versammelten Hausgemeinde vorgetragen. Philemons Entscheidung, was mit Onesimus geschehen soll, ist damit zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht.108 Die ganze Gemeinde ist gefordert, in dieser Angelegenheit zu entscheiden. 109 Die Strategie des Paulus, auf den Mediumaspekt der Performanz aufmerksam zu machen, erinnert an das „epische Theater“ von Bertolt Brecht. Nach dem Ideal des traditionellen Theaters stellt der Schauspieler seine Stimme, seine Mimik und Gestik, seinen ganzen Körper der Rolle zur Ver106 O’Brien 1982, 270 schreibt zur Frage der Sklaverei in den paulinischen Gemeinden: “… the terms of ‘slave’ and ‘master’ are transcended. … finally it is of no ultimate significance … as to whether he is slave or free.” Zu den sozialen Hierarchien vgl. Petersen 1985, 89–199, der zwar den sozialen Druck auf Philemon berücksichtigt (S. 99– 100), das soziale Gefälle innerhalb der zuhörenden Gemeinde jedoch nicht beachtet. 107 Vgl. dazu Petersen 1985, 96–97. 108 Petersen 1985, 99; vgl. Nordling 2004, 176; 2010b, 300, 304. 109 Petersen 1985, 100: “The return of the house-master’s slave as a born-again brother requires that the rest of the community renegotiate its relation with each of them” (kursiv im Original). Vgl. Stuhlmacher 1981, 31.

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

fügung, die er spielt. Er „verkörpert“ sie. Die Zuschauer werden dadurch in eine dargestellte Welt verwickelt, sie identifizieren sich mit den Personen, die im Theaterskript vorgesehen sind und die die Performanz vor ihren Augen erschafft. Nach der klassischen Theatertheorie des Aristoteles (poet 6) löst das im Publikum „Mitleid und Furcht“ (e;leoj kai. fo,b oj) aus und hat eine kathartische Wirkung. Dagegen verwendet Brecht110 in seinem „epischen Theater“ verschiedene Techniken, die die Illusion des Theaterpublikums zerbrechen. 111 Vor allem spielen die Schauspieler ihre Rolle mit einer inneren Distanz, sie spielen bewusst vor dem Publikum, als wollten sie ihm die Rolle zeigen, ohne sie selbst zu vertreten.112 Die Schauspieler sind also immer als Medium der Rolle zu erkennen. 113 Brecht nannte die Wirkung den „Verfremdungseffekt“ („V-Effekt“).114 Die Zuschauer sollten sich nicht in die dargestellten Personen einfühlen oder sich mit ihnen identifizieren, sondern sich von ihnen distanzieren und die dargestellten Beziehungen zu den anderen Personen kritisch bewerten. Brecht wollte, dass dem Publikum bewusst bleibt, dass es eine Vorstellung anschaut. Das Ziel des „epischen Theaters“ ist eine Aktivierung des Publikums. Das Theater soll nicht darstellen, was „natürlich“ oder „ganz menschlich“ ist, was also zu allen Zeiten gilt, sondern soll zeigen, was zeit- und gesell110

Vgl. Brechts Abgrenzung gegenüber der aristotelischen Dramatik in Brecht 1997, 415–418. 111 Zum Beispiel: ein Ansager oder Erzähler tritt auf, Chöre kommentieren, die Schauspieler sprechen das Publikum direkt an, es gibt schriftliche Titel für die Szenen oder Projektionen, die das Spiel assoziativ erweitern, die szenische Gestaltung der Bühne ist ganz sparsam und eher kommentierend als illustrierend, auch die Musik kommentiert oder kontrastiert die Darstellung, statt sie emotional zu unterstützen. So wird immer wieder die Bühnen-Illusion unterbrochen. 112 Brecht 1983a, 63: „… auch die Schauspieler vollzogen die Verwandlung nicht vollständig, sondern hielten Abstand zu der von ihnen dargestellten Figur, ja forderten deutlich zur Kritik auf.“ Vgl. auch Brecht 1983b; 1983d. 113 Brecht 1983e, 153–154: „Dies, dass der Schauspieler in zweifacher Gestalt auf der Bühne steht, als Laughton und als Galilei, dass der zeigende Laughton nicht verschwindet in dem gezeigten Galilei, was dieser Spielweise auch den Namen ‚die epische‘ gegeben hat, bedeutet schließlich nicht mehr, als dass der wirkliche, der profane Vorgang nicht mehr verschleiert wird – steht doch auf der Bühne tatsächlich Laughton und zeigt, wie er sich den Galilei denkt.“ 114 Brecht 1997, 418: „Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.“ Brecht 1983c, 100: „Indem der Demonstrant nunmehr auf seine Bewegungen genau achtet, sie vorsichtig, wahrscheinlich verlangsamt, vollzieht, erzielt er den V-Effekt; das heißt, er verfremdet den kleinen Teilvorgang, hebt ihn in seiner Wichtigkeit hervor, macht ihn merkwürdig … [Der Darsteller] unterbricht, so oft es ihm möglich erscheint, seine Imitation mit Erklärungen. Die Chöre, die projizierten Dokumente des epischen Theaters, das Sichdirekt-an-die-Zuschauer-Wenden seiner Schauspieler sind grundsätzlich nichts anderes.“

2.3 Aufmerksamkeit auf den Vortragenden als Medium

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schaftsbedingt ist und deshalb der Veränderung unterliegt und auch geändert werden muss.115 Das Publikum soll nicht denken: „Das wird immer so sein.“116 Es soll eine kritische Distanz zu dem Dargestellten bewahren, um beurteilen zu können, was auf der Bühne präsentiert wird, und um über Alternativen zu der dargestellten Handlung nachdenken zu können. 117 Dadurch wollte Brecht die Zuschauer zu Handlungen drängen, die die soziale Realität verändern. 118 2.3.2 1. Korinther 5,3 Es ist wohl kein Zufall, dass Paulus den Verfremdungseffekt an solchen Stellen seiner Briefe einsetzt, wo von den Gemeinden, an die der Brief gerichtet ist, eine Entscheidung verlangt wird. Das ist auch der Fall im ersten Korintherbrief, unserem zweiten Beispiel. Paulus verweist in 1 Kor 5,3–5 auf seine körperliche Abwesenheit, wenn er auch im Geist anwesend ist: Ich aber, der ich nicht leiblich bei euch bin, doch mit dem Geist, habe schon, als wäre ich bei euch, beschlossen über den, der solches getan hat: wenn ihr in dem Namen unseres Herrn Jesus versammelt seid und mein Geist samt der Kraft unseres Herrn Jesus bei euch ist, soll dieser Mensch dem Satan übergeben werden zum Verderben des Fleisches, damit der Geist gerettet werde am Tage des Herrn.

Dass das Anwesenheits- und Abwesenheitsmotiv typisch ist für Briefe, ist schon oft festgestellt worden.119 Vor allem Heikki Koskenniemi (1956) und Klaus Thraede (1970) haben dieses Motiv in seinen unterschiedlichen Ausprägungen als typisch für den Freundschaftsbrief herausgestellt. Dabei wird der Brief als das Mittel beschrieben, das die Trennung zu überwinden hilft und eine geistige Anwesenheit schafft. Für 1 Kor 5,3 stellt Thraede 115

Vgl. Brecht 1983d, 113; 1983f, 284; 1997, 418–419. Brecht 1983a, 63–64: „Der Zuschauer des dramatischen Theaters sagt: Ja, das habe ich auch schon gefühlt. – So bin ich. – Das ist nur natürlich. – Das wird immer so sein. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es keinen Ausweg für ihn gibt. – Das ist große Kunst: das ist alles selbstverständlich. – Ich weine mit den Weinenden, ich lache mit den Lachenden. Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. – So darf man es nicht machen. – Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. – Das muss aufhören. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe. – Das ist große Kunst: da ist nichts selbstverständlich. – Ich lache über den Weinenden, ich weine über die Lachenden.“ 117 Brecht 1983e, 166: „Die Geschehnisse dürfen sich nicht unmerklich folgen, sondern man muss mit dem Urteil dazwischenkommen können.“ 118 Nach Brecht 1983e, 144 ist der Zweck des V-Effekts, „die Welt so zu zeigen, dass sie behandelbar wird.“ 119 Geistige Anwesenheit des Freundes bei Koskenniemi 1956, 35–47; vor allem Thraede 1970, 39–47 und öfter; White 1986; Klauck 1998, 129–130; Holland 2006. Zu diesem Motiv in der Briefliteratur siehe oben im Einleitungskapitel auf S. 8–9. 116

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

heraus: „Der Brief selbst ist es, der regelrecht die parousi,a des Apostels vermittelt und ihn im genauen Wortsinn des Wortes ‚repräsentiert‘ … Ihm liegt außerordentlich viel daran, dass in dem Augenblick, da die Empfängergemeinde das liest, er selbst zugegen ist, indem dieser sein Brief ihn vertritt.“ Mit anderen Worten: „… unterstrichen werden soll, dass die Alsob-Anwesenheit sich nun wirklich im Brief ereigne.“120 Das in Briefen übliche avpw.n-parw.n-Motiv unterbricht den sachbezogenen Gedankenaustausch und macht die Kommunikation selbst zum Thema. Mit der Formel avpw.n tw/| sw, mati parw.n de. tw/| pneu,mati wird die Wirkung des Briefes als Wirkung eines Mediums reflektiert. Ein Brief kann einerseits die räumliche Trennung erträglicher machen 121 und die freundschaftliche Verbundenheit (filofro, nhsij) zwischen Briefschreiber und Empfänger ausdrücken und stärken, 122 kann aber auch schmerzlich bewusst machen, wie eingeschränkt die schriftliche Kommunikation doch ist.123 Die Erfahrung der brieflichen Quasi-Gegenwart geschieht über das Wiedererkennen des Freundes im Brief. Cicero schreibt an Cassius (fam. 15.16.1), dass er den Freund gleichsam vor Augen sieht. 124 Diese Erfahrung setzt eine mediale Bewertung des Briefes voraus. Je besser es dem Verfasser gelingt, seine Persönlichkeit brieflich zum Ausdruck zu bringen, desto stärker erlebt der Empfänger die Quasi-Gegenwart seines Briefpartners. Deshalb fordert Demetrius, dass im Brief der Charakter des Absenders erkennbar sein soll. 125 Unter dem Gesichtspunkt der Performanz vor einem Publikum, wie sie typisch ist für einen Apostelbrief, erfüllt das avpw.n-parw.n-Motiv die gleiche Funktion wie der Verweis auf die Körperlichkeit des Absenders. 126 Es lenkt die Aufmerksamkeit auf die mediale Seite der Performanz. Der Vortragende, der Paulus mit allen seinen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verkörpert, muss beim Vortragen dieser Passage zugeben, dass er nicht Paulus ist: avpw.n tw/| sw, mati. Er verkörpert Paulus, leiht ihm seine Stimme und seine Bewegungen, präsentiert aber zugleich einen anderen Körper, 120

Thraede 1970, 99 (kursiv im Original). Vgl. Schnider und Stenger 1987, 92–107. Vgl. die Beispiele aus den Briefen Ciceros bei Thraede 1970, 39–47. 122 Vgl. den ersten Brieftyp, den tu,poj filiko,j, bei Ps.-Demetrius, formae epistolicae. 123 Siehe dazu unten zu Gal 4,20 auf S. 132–133. 124 „… ut quasi coram adesse videare“; vgl. Thraede 1970 43. Vgl. Seneca, epist. 40.1: „Nam quo uno modo potes, te mihi ostendis.“ („… denn auf diese Weise – die einzig dir möglich ist – zeigst du dich mir.“) 125 Demetrius, de eloc. 227. Vgl. dazu Koskenniemi 1956, 40; zum Brief als „Bild der Seele“ vgl. Thraede 1970, 23–24. 126 Holland 2006, 11 zu 1 Kor 5,3–5: “Performance of the letter … invokes and makes real his personal presence, allowing him to be active among the members of the congregation … How could Paul do this? Only through the performance of his letter by a reader/performer who speaks (and so here also acts) in Paul’s name and persona.” 121

2.3 Aufmerksamkeit auf den Vortragenden als Medium

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nämlich seinen eigenen, nicht den des Paulus. Ein Verfremdungseffekt tritt ein, der die Zuhörer auf ihre Rolle als Publikum verweist, auf ihre Verantwortlichkeit, die Qualität der Performanz zu bewerten. Dadurch werden die Hörer zugleich ermutigt, auch in der pornei,a -Angelegenheit Stellung zu beziehen. Sofort nach dem avpw.n-parw.n-Motiv fordert Paulus eine Entscheidung der Gemeinde, nämlich den Ausschluss des Gemeindegliedes, das mit der Frau seines Vaters lebt.127 Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Auszuschließenden um ein Mitglied der Gemeinde mit höherem sozialen Status, von dem die Gemeinde vielleicht sogar profitierte.128 Da war es umso wichtiger, dass Paulus die einfachen Gemeindeglieder ermutigte, selbst Stellung zu beziehen. Der Verfremdungseffekt aktiviert die Hörer zu eigenem Urteil. 2.3.3 Galater 4,13–20; 6,17 Ein drittes Textbeispiel und wohl die interessanteste Stelle in diesem Zusammenhang ist Gal 4,13–20. Wir finden hier nicht nur einen Satz, der auf den Körper des Paulus hinweist und so einen Verfremdungseffekt erzeugt, sondern mehrere Aussagen, die in der Performanz die Illusion der Gegenwart des Paulus zerbrechen. Zunächst erinnert Paulus die Galater an die Tage, als er zum ersten Mal in ihrem Gebiet arbeitete (V. 13–14). 129 Es scheint, als hätte Paulus nicht vorgehabt in Galatien zu bleiben, aber körperliche Schwäche (avsqe,neia th/j sarko,j) zwang ihn, dort zu verweilen. 130 Diese Zeit nutzte er, um das Evangelium zu verkündigen. Die Krankheit muss von einer solchen Art gewesen sein, dass ihre Zeichen sichtbar waren, also Kopf, Hände oder Füße betroffen haben. Der Anblick muss abstoßend gewesen sein, denn Paulus bezeugt, dass die Galater bereit waren – wenn es möglich gewesen wäre –, ihm ihre Augen zu geben (V. 15). Das eiv dunato,n deutet darauf hin, dass das Geben der Augen nicht metaphorisch gemeint ist. 131 James Dunn schlussfolgert, dass es sich um eine Krankheit gehandelt hat, die die Augen in Mitleidenschaft zog.132 Die Krankheit des Paulus und seine beleidigende körperliche Erscheinung beeinträchtigten das Ethos des Paulus und standen damit seiner rhetorischen Wirkung entgegen. 133 Die Galater hätten sich 127 Um aktives Handeln geht es auch im Zusammenhang mit dem avpw. n -parw. n-Motiv in Phil 1,27 und 2,12. 128 Chow 1992, 130–139. 129 Vgl. die Hinweise auf die Freundschaftsethik bei Becker 1998, 68; Betz 1988, 383–385, 388–390 und passim. 130 Anders Becker 1998, 68. 131 Becker 1998, 69. 132 Dunn 1993a, 236; vgl. Mußner 1974, 309. 133 Witherington 1998, 309.

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

abgestoßen fühlen und vor ihm ausspucken können. 134 Aber sie widerstanden dieser Versuchung und nahmen ihn auf als Boten Gottes. Wenn dieser Abschnitt in den verschiedenen Gemeinden Galatiens vorgetragen wurde, werden die Hörer in die Vergangenheit geführt und an die damalige körperliche Erscheinung des Apostels erinnert. Wahrscheinlich stand die gegenwärtige Erscheinung des jeweils Vortragenden dazu in deutlichem Gegensatz. Es ist kaum anzunehmen, dass er Zeichen von akuter Erkrankung an sich trug, etwa entzündete und tränende Augen. Indem Paulus th/n avs qe,neian th/j sarko,j erwähnt, beginnt er die Hörer von der Illusion zu distanzieren, den Apostel selbst zu hören. Sie werden daran erinnert, dass sie an einem Performanz-Ereignis teilnehmen. Das hat zur Folge, dass die Zuhörer über die Qualität der Performanz nachdenken. Während sie eingeladen sind, die körperliche Bedingung des Vortragenden mit der zu vergleichen, die sie von dem körperlichen Eindruck des Paulus während seines ersten Aufenthaltes bei ihnen in Erinnerung haben, sind sie gleichzeitig aufgefordert zu bewerten, ob der Vortragende dem Ethos des Paulus entspricht, ob bei ihm dieselbe Leidenschaft zum Ausdruck kommt, ob sein Tonfall dieselbe Dringlichkeit hat, als wenn Paulus selbst spräche. In Vers 18 findet sich wieder das Motiv der körperlichen Abwesenheit, das auch in 1 Kor 5,3 die Aufmerksamkeit auf den medialen Aspekt der Performanz gelenkt hat: … pa,ntote kai. mh. mo,non evn tw/| parei/nai, me pro.j u`ma/j. Auch diese Aussage macht den Hörern bewusst, dass es nicht Paulus selbst ist, dessen Stimme sie hören. Wieder tritt der Verfremdungseffekt ein, der die Hörer zu selbstständigem Urteil herausfordert, zunächst über die Qualität der Performanz, zugleich auch über die Stimmigkeit der Interpretation durch den Vortragenden und schließlich auch über die im Brief verhandelte Frage. Es folgt der Ausruf in Vers 19: te,kna mou( ou]j pa,lin wv di, nw me, crij oumorfwqh/| Cristo.j evn u`mi/n. Wieder wird über Körperlichkeit gesprochen. Paulus vergleicht sich mit einer Frau, die unter Wehen ein Kind zur Welt bringt.135 Weil Paulus diesmal jedoch nicht auf seinen realen Körper verweist, sondern metaphorisch spricht, wird der Vortragende diesen Satz in einer dramatischen Weise ausdrücken und dadurch die schmerzvollen Gefühle des Apostels angemessen darstellen. Allerdings bewirkt der Verfremdungseffekt im Satz zuvor, dass das Publikum kritisch hört. Vers 20 schließlich macht es dem Vortragenden vollends unmöglich, den Apostel zu verkörpern: h;qelon de. parei/nai pro.j u`ma/j a;rti. Der Vortragende, der mit seiner Stimme und seinem Körper den Apostel gegenwärtig macht, der die Gedanken und Gefühle des Paulus so authentisch wie 134 Es kann hier offen bleiben, ob das Ausspucken als Reaktion auf die Angst vor dem bösen Blick gemeint ist. Vgl. Witherington 1998, 201–203. 135 Vgl. Gaventa 1990.

2.3 Aufmerksamkeit auf den Vortragenden als Medium

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möglich ausdrückt, muss die Worte sprechen: Ich wünschte, ich wäre jetzt bei euch gegenwärtig. 136 Der Vortragende, der Paulus in der Performanz repräsentiert, gibt zu, dass er nicht Paulus ist. Die Illusion ist zerstört. Die Zuhörer hören nicht mehr die Stimme des Paulus, sondern werden auf das Medium des Briefereignisses aufmerksam gemacht. Wieder haben wir es mit dem avpw.n-parw.n-Motiv als Brieftopos zu tun, das einen Verfremdungseffekt auslöst.137 Das wird noch verstärkt im folgenden Satz: h;qelon de. … avlla,xai th.n fwnh,n mou.138 Paulus verweist auf seine reale Stimme, auf die Stimme, die er mit seinem eigenen Körper produziert.139 Was soll der Vortragende an dieser Stelle tun? Soll er seine Stimme verändern? Paulus sagt, dass er selbst es tun möchte, aber nicht kann. Soll der Vortragende seine Stimme nicht ändern? Wäre das nicht unangemessen, wenn man jemanden verkörpert, der erschrocken und ratlos ist? Und wenn er versucht, seine Stimme zu verändern, in welcher Weise sollte er es tun? 140 Paulus gibt ihm keine Hinweise. Was auch immer der Vortragende tut, es wird den Zuhörern bewusst sein, dass er nicht so spricht, wie Paulus jetzt sprechen würde. Damit ist die Illusion der Hörer, dass sie Paulus zuhören würden, völlig zerstört. Die Aufmerksamkeit ist auf das Medium, den Vorlesenden, gelenkt. Paulus beklagt die Begrenzung des brieflichen Mediums. Anders als in 1 Kor 5,3 und sonst in der Briefliteratur ist hier der Brief also nicht das Mittel, eine Quasi-Gegenwart zu erzeugen. Im Gegenteil: das Briefereignis ist für Paulus der Anlass, sich noch stärker nach persönlicher Gegenwart zu sehnen, 136 Wilhelmi 1974 hat die Schwierigkeiten mit diesem Vers gezeigt und verschiedenste Deutungsmöglichkeiten aufgelistet. Er geht für seine Interpretation von der richtigen Erkenntnis aus, dass V. 20 zwei Aussagen im Irrealis bietet. Allerdings ist seine Deutung, Paulus wünschte, er könnte so laut sprechen, dass man ihn in Galatien hören könnte, auch nicht plausibel. Auch Wilhelmi rechnet nicht mit der Performanzsituation, in der der Ausdruck einer solchen Irrealität erst sinnvoll wird. 137 Zum Sehnsuchtsmotiv in Briefen vgl. Mullins 1973; Betz 1988, 407. 138 „Ich wünschte aber, … meine Stimme zu verändern.“ 139 Zu diesem Satz gibt es sehr verschiedene Deutungen: Meist wird nicht an mündliche Performanz des Briefes gedacht, sondern die Ausleger gehen davon aus, dass Paulus den Brief als schriftliche Kommunikation der mündlichen gegenüberstellt. So deutet Betz 1988, 407: „… im Sinne von ‚meine Stimme eintauschen‘, nämlich für den Brief.“ Ganz ähnlich Mußner 1974, 314; Bruce 1982, 213; Becker 1998, 70. Ebenso wohl auch Rohde 1989, 190–191, der erklärt, dass es „nicht um den Klang der Stimme“ geht, sondern darum, dass Paulus „bei persönlicher Anwesenheit in Galatien imstande wäre, den rechten Ton zu treffen, also je nach den gegebenen Umständen freundlich oder hart mit ihnen zu reden.“ Anders Witherington 1998, 316, für den es in dieser Aussage nicht um die persönliche Anwesenheit geht, sondern tatsächlich um den Klang der Stimme. Er verweist dazu auf die antike Rhetorik. Schlier 1965, 215 meint, dass Paulus „in ‚Engelszungen‘ reden möchte, in himmlischer Sprache.“ Dieser Vorschlag fand keine Zustimmung. 140 Vgl. die Erwägungen dazu bei Becker 1998, 70.

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

und für die Zuhörer der Grund, das Ungenügen der Performanz zu empfinden. Wenn hier die Aufmerksamkeit auf das Medium gelenkt wird, geht es nicht um das schriftliche Medium, um den Brief als eine Sache.141 Es ist das performative Medium, nämlich das Briefereignis, was ins Bewusstsein rückt.142 Ein letzter Hinweis auf den Körper des Paulus findet sich in Gal 6,17: evgw. ga.r ta. sti,gmata tou/ VIhsou/ evn tw/| sw, mati, mou basta,zw. Was sind die Malzeichen Jesu? Die plausibelste Deutung ist die, dass es sich um die Narben handelt, die Paulus durch Misshandlungen wegen seiner Mission davongetragen hat.143 Von dieser Verfolgung hat Paulus in 5,11 gesprochen und sich gegen die abgegrenzt, die Verfolgung zu vermeiden suchen (6,12). Wieder bewirkt der Hinweis des Apostels auf seinen Körper einen Verfremdungseffekt. Durch das betonte evgw, grenzt sich Paulus von denen ab, die die Beschneidung fordern, um Verfolgung zu vermeiden (6,12). „Damit stellt Paulus bewusst seine Person heraus“144 und schafft einen Kontrast zu dem, der an seiner Stelle den Brief vorträgt. Die Erwähnung seiner körperlichen sti,gmata schließlich trennt ihn vollends von dem, der vorliest. Paulus hätte an dieser Stelle mit einer Geste auf seine Narben verwiesen. Der Vortragende kann das nicht tun. Er muss die Worte des Paulus sprechen, ohne sie mit seinem eigenen Körper leben zu können. Durch diesen Widerspruch wird die Unvollkommenheit seiner Verkörperung sichtbar. 141 Wie zum Beispiel bei Seneca, epist. 40.1: „… quanto iucundiores sunt litterae, quae vera amici absentis vestigia, veras notas adferunt? Nam quod in conspectu dulcissimum est, id amici manus epistulae inpressa praestat, agnoscere.“ („… um wieviel erfreulicher ist ein Brief, der echte Spuren, echte Zeichen des abwesenden Freundes überbringt? Denn was beim Anblick des Freundes am wohltuendsten ist, das leistet die dem Brief aufgedrückte Handschrift des Freundes, nämlich ihn wiederzuerkennen.“) 142 Weil er die Performanz nicht im Blick hat, bleibt Betz 1988, 69 beim schriftlichen Medium: „Der Brief ist ein notwendiger Ersatz für solch einen mündlichen Austausch. Notwendigerweise ist der Brief daher von reduzierter Wirkung. Der Brief vertritt seinen Verfasser, kann jedoch nicht so agieren und reagieren, wie es sein Verfasser in persona könnte. So drückt sich der Absender in absentia und ohne den vollen Umfang der kommunikativen Mittel aus, die mit einer mündlichen Unterhaltung verbunden sind … Betrachtet man die Funktion des Briefes, und zwar hinsichtlich der Rhetorik, ist ein solcher Ersatz in der Tat kläglich. Da es sich um nichts weiter als ein lebloses Stück Papier handelt, ist eine der wichtigsten Waffen des Rhetorikers, der mündliche Vortrag, ausgeschaltet. Dieser enthält nämlich ein ganzes Arsenal von Waffen im Zusammenhang mit der Modulation der Stimme und der Gestik, was in einem Brief alles wegfällt. Aus Paulus’ Bemerkungen geht hervor, dass er sich dieser Nachteile voll bewusst ist (vgl. 4, 18–20).“ 143 Zum Beispiel Schlier 1965, 285; Rohde 1989, 279–280; Witherington 1998, 454; Becker 1998, 103. Eine Liste verschiedener Deutungen hat Mußner 1974, 418–420. 144 Mußner 1974, 418.

2.3 Aufmerksamkeit auf den Vortragenden als Medium

135

Warum verweist Paulus im Galaterbrief immer wieder auf seinen Körper? Welchen Grund könnte er haben, den Mediumaspekt des Briefereignisses immer wieder ins Bewusstsein zu heben? Vielleicht war sich Paulus nicht sicher, dass die verschiedenen Vorleser seines Briefes in Galatien seinen Erwartungen eines angemessenen Vortrags entsprechen würden. Der Autor eines Stücks ist abhängig vom Schauspieler, der das Stück dem Publikum vorträgt. Paulus als Briefautor war abhängig von denen, die den Brief vortrugen. Es besteht kein Zweifel, dass die Performanz darauf aufbaut, welches Verständnis des Inhalts des Briefes der Vorlesende gewonnen hat, während er sich auf das Ereignis des öffentlichen Vortrags vorbereitete. Jede Performanz ist immer zugleich Interpretation. Paulus konnte nicht wissen, wer diese Aufgabe in den verschiedenen Gemeinden in Galatien übernehmen wird. Er musste damit rechnen, dass das auch Personen sein konnten, die auf der Seite der Gegner standen.145 Hätten sie nicht durch ihre Art des Vortrags die Botschaft des Paulus beeinträchtigen können? Hätte nicht Betonung an unpassender Stelle, kritische Gestik oder ein insgesamt reservierter Vortrag die Wirkung des Briefes schwächen können? So ist es plausibel, dass Paulus nicht ausschließlich von den Vortragenden abhängig sein wollte. Durch den Hinweis auf seinen Körper und die damit ausgelöste Verfremdung fordert er die Zuhörer auf, selbst zu beurteilen, ob die Performanz angemessen ist. Die Hörer sollen sich selbst vorstellen, wie die Stimme des Paulus klingen würde, welche Worte er betonen würde, was er vermitteln will. Die Interpretation des Briefes wird also nicht den Vortragenden überlassen, auch nicht denen, die sie beauftragen. Die ganze Gemeinde wird in eine kritische Distanz zur Performanz gerufen und erhält Verantwortung für die Interpretation des Paulusbriefs. Diese Verantwortung ist schließlich eine Ermutigung für die Zuhörenden, auch zum Inhalt des Briefes eine eigene Position zu finden. Das im Galaterbrief behandelte Problem der Beschneidungsforderung durch einige ungenannte Gegner des Paulus erforderte eine Entscheidung. Es scheint, dass es wohlhabende und damit prominente Gemeindeglieder waren, die die Geltung des Gesetzes durchsetzen wollten, solche, die sich der Gemeinde als Wohltäter empfehlen konnten (4,17), die Wert auf gesellschaftliche Ehre legten und etwas zu verlieren hatten (6,12–13). 146 Paulus musste jedenfalls damit rechnen, dass es in einigen Gemeinden gerade sie sein würden, die die Performanz des Briefes vorbereiten werden. Sie hatten durch ihren sozialen Stand höhere Bildung und damit Lesefähigkeiten, wahrscheinlich verfügten sie auch über Abhängige mit Schriftkenntnis. 145 Dass die Gegner des Paulus Teil der Gemeinden waren, dazu siehe unten zum Galaterbrief auf S. 208-212. 146 Zu diesen Textstellen siehe unten auf S. 226 und 231-232.

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Kapitel 2: Gestaltung der Interaktion des Publikums durch Briefe

Um ihren Einfluss in der Gemeinde zurückzudrängen, stärkt Paulus durch seine Strategie die Mündigkeit der Gemeindeglieder. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Paulus durch sehr unterschiedlich formulierte, direkte oder indirekte Hinweise auf seinen realen Körper (Alter, Krankheit, Stimme, Tränen, Narben) oder auf seine körperliche Abwesenheit die Illusion seiner Gegenwart in der Performanz durchbricht. Die Zuhörer kommen in eine kritische Distanz zur Performanz des Briefes. Dieser Verfremdungseffekt lenkt die Aufmerksamkeit auf den Medienaspekt der Performanz. Das hat eine dreifache Wirkung. Erstens werden die Hörer auf die Aufgabe verwiesen, die jedes Publikum hat, nämlich die Art der Kommunikation zu bewerten, sich an der Fähigkeit und Kompetenz des Vortragenden zu erfreuen oder sie zu kritisieren. Zweitens wird die Abhängigkeit des Publikums vom Vortragenden und seiner Interpretation des Briefes verringert, die Hörer werden an ihre eigene Verantwortlichkeit erinnert. Und drittens wird das Publikum dadurch, dass es aufgerufen ist, die Performanz des Briefes und seine Interpretation zu bewerten, darauf vorbereitet, auch zu dem Inhalt des Briefes Stellung zu nehmen. Die briefliche Performanzstrategie des Paulus bereitet die Hörer darauf vor, eine Entscheidung zu treffen.

Kapitel 3

Versöhnungsstrategien in Briefen Im vorigen Kapitel wurde gezeigt, dass durch die Performanz eines Briefes unterschiedliche Reaktionen im Publikum ausgelöst werden können. Wie das im Detail geschieht, soll nun an längeren Abschnitten aus den Paulusbriefen demonstriert werden. In diesem Kapitel geht es darum, dass das Briefereignis dazu dienen kann, gegensätzliche oder sogar verfeindete Gruppen in der Gemeinde miteinander zu versöhnen. Das geschieht nicht nur durch einen zu verstehenden Inhalt des Briefes, sondern auch durch die Interaktion innerhalb des Publikums während des Vortrags. Nicht nur Belehrung oder Ermahnung bewirkt, dass sich die Hörer einander im Guten zuwenden, sondern die Performanz des Briefes selbst löst diese Reaktion aus. Inhalt des Briefes und mediales Briefereignis ergänzen und bestätigen einander. Indem Performanzkritik darauf aufmerksam macht, trägt sie auch zu einem besseren Verständnis des Briefinhalts bei.

3.1 Streit um die Speise in Rom (Römer 14,1–15,13)1 3.1 Streit um die Speise in Rom (Römer 14,1–15,13)

3.1.1 Kontext und Abgrenzung Der Textabschnitt Röm 14,1–15,13 stellt die letzte und größte Einheit innerhalb des Teiles des Römerbriefs dar, in dem Paulus auf die praktischen Konsequenzen seines Evangeliums zu sprechen kommt. Nach allgemeinen Ermahnungen zu einem harmonischen Gemeindeleben 12,3–13,14 (gegen Überheblichkeit 12,3; das Motiv des Leibes als Topos der Einheit 12,4–5;2 brüderliche Liebe 12,9–10; Anteilnahme und Gastfreundschaft 12,13; Einigkeit 12,16; Frieden 12,18; gegen Richtgeist 12,19–21; gegen politischen Aufruhr 13,1–7; Liebe als Lebensgrundsatz 13,8–10) beginnen 14,1 konkrete Hinweise für die Christen in Rom, nämlich eine Ermahnung zur gegenseitigen Annahme bei unterschiedlichen Auffassungen. Wie weit reicht der Abschnitt? Das Wort avsqenou/nta aus 14,1 wird in 15,1 durch avsqenh,mata wieder aufgenommen, der Imperativ proslam1 Eine frühere, mehr rhetorisch orientierte Untersuchung dieses Abschnitts ist erschienen in Oestreich 1999. 2 Vgl. dazu Mitchell 1991, 157–163.

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

ba, nesqe in 15,7 wiederholt. Das deutet darauf hin, dass die Verse 15,1–7 noch das gleiche Thema behandeln und zum Abschnitt dazugehören. Heil hat das zweimalige Vorkommen von proslamba,nein als Rahmen gedeutet und 15,7 als Abschluss des Abschnitts gewertet.3 Aber 15,8 ist kein Neueinsatz, sondern bietet eine erneute Begründung für die gegenseitige Annahme – jetzt auf den Gegensatz Juden-Nichtjuden ausgeweitet 4 – die mit Schriftzitaten untermauert und mit einem Gebetswunsch abgeschlossen wird. Der Abschnitt endet also in 15,13.5 Wir gehen von der Einheitlichkeit des Abschnitts aus. Teilungshypothesen haben sich nicht durchgesetzt.6 In der Analyse des Abschnitts wird sich zeigen, dass er einen inneren Zusammenhalt hat und eine sinnvolle Gestaltung aufweist.7 3.1.2 Gliederung Der Abschnitt beginnt mit einer Reihe von parallelen Aussagen (14,2.5.6), Aufforderungen (V. 3) oder Fragen (V. 10). Paulus spricht mehrmals abwechselnd über zwei unterschiedliche Gruppen der römischen Christen oder wendet sich ihnen direkt zu.8 Mit den christologischen Aussagen in Vers 9, die für alle römischen Christen gemeinsam gelten, erreicht er einen ersten Abschluss. Danach nimmt Vers 10 die Aufforderungen von Vers 3 wieder auf: nicht richten, nicht verachten. Nacheinander wird dann jede der beiden Ermahnungen ausführlich begründet. Am Ende steht jeweils ein Schriftzitat (14,11 und 15,3), das für die Hörer aktualisiert wird (14,12–13a und 15,4). Wir haben also wieder einen Parallelismus, und zwar zuerst das Verbot zu richten in Vers 10c bis 13a, wo das Fazit gezogen wird: Lasst uns nicht mehr einander richten. Nach einer geschickten Überleitung (V. 13b) geht es dann ab 13c um die Aufforderung an die andere Gruppe, 9

3

Heil 1994, 243. Zu diesem Gegensatz als Hauptanliegen des ersten Teils des Römerbriefs vgl. Haacker 1990, 32. 5 Den Abschnitt 14,1–15,13 behandeln als eine Einheit Nygren 1951, 313; Michel 1955, 296; Schmidt 1962, 237; Käsemann 1974, 352; Wilckens 1978, 21; 1982, 80; Meeks 1987; Stuhlmacher 1989, 195–207 und viele andere. 6 Schmithals 1988, 25–29, 489, 512–513 trennt 14,1–15,7 heraus und weist diesen Abschnitt einem anderen Brief an die Römer zu. Dazu Wilckens 1978, 27–29; 1982, 104–105. 7 Die Textüberlieferung, die die Doxologie 16,25–27 nach 14,23 bringt, hat sicher liturgische Wurzeln und ist sekundär, vgl. Wilckens 1978, 22–23. 8 Wilckens 1982, 109, 115 denkt mehr an Einzelne, nicht an Gruppen; ebenso Moiser 1990, 578. 9 Anders Jewett 2007, 857, der große Teile dieses Abschnitts an alle gerichtet denkt. 4

3.1 Streit um die Speise in Rom (Römer 14,1–15,13)

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dem Bruder keinen Anstoß zu geben. Dieser Teil wird mit 15,1– 4 abgeschlossen.10 Es folgt ein dritter Teil, der durch zwei Gebetswünsche um Eintracht und Frieden gerahmt ist, die für alle gemeinsam gelten (15,5–6 und 13).11 In 15,7 wird dann das proslamba,nein aus 14,1 wieder aufgegriffen. Nun wird die Aufforderung, einander anzunehmen, christologisch und mit Hilfe von Schriftzitaten begründet (V. 8–12). Dieser Abschnitt ist an alle Hörer gemeinsam gerichtet. Die Zweiteilung ist überwunden. Nur die Begründung in Vers 8–9 hat noch einmal eine parallele Struktur. Die Gliederung des Abschnitts kann folgendermaßen dargestellt werden:12 Einleitung (14,1) 1. Teil (14,2–9) 14,2–6 14,7–9 2. Teil (14,10–15,4) 14,10ab 14,10c–13a 10c 11 12 14,13b 14,13c–15,4 13c–19 17–19 20–15,1 15,2 15,3 15,4 10

Ermahnung für beide Gruppen: proslamba,nesqe Parallele Strukturen – zwei Gruppen werden abwechselnd zum Miteinander aufgefordert Beiden Gruppen gemeinsam wird eine christologische Begründung gegeben, die ebenfalls im parallelismus membrorum gestaltet ist Parallelismus (Rückgriff auf V. 3) – nacheinander wird das Verhalten beider Gruppen kritisch hinterfragt Erklärung für die erste Gruppe Argument Schriftzitat Anwendung des Schriftzitats Überleitung (Spiel mit Bedeutungsmöglichkeiten des Wortes kri,nein) Erklärung für die zweite Gruppe (zweiteilig) Argumente, 1. Teil Fazit (allgemein) Argumente, 2. Teil Fazit (allgemein) Schriftzitat Anwendung des Schriftzitats

Vgl. Moo 1996, 865, 867. Dagegen trennen Wilckens 1982, 80; Gäckle 2005, 389 und viele andere zwischen 14,23 und 15,1. Aber es werden in 15,1 die Adressaten nicht gewechselt, sondern der Gedankengang geht nahtlos weiter: Die Stärke der angesprochenen Gruppe, die in 14,22 mit einer Seligpreisung anerkannt ist, soll dem Beispiel Christi folgend dazu dienen, die Schwachen zu tragen. Erst in 15,5 sind offenbar nicht mehr die Starken angeredet, sondern beide Gruppen zusammen. 11 Mit Gäckle 2005, 391 und vielen anderen könnte man vermuten, dass der Gebetswunsch 15,5–6 für beide Gruppen den Abschluss des langen Abschnitts bildet, der sich an die Starken richtet. Aber 15,7 schließt schlussfolgernd (dio.) an V. 6 an und nimmt mit do,x a das Stichwort doxa,zein von V. 6 auf. 12 Hier ist Gäckle 2005, 389 nicht zuzustimmen, der schreibt: „Es besteht zwar ein klarer Gedankenfortgang in den vier Abschnitten 14,1–12.13–23; 15,1–6 und 7–13, aber eine kunstvolle Gesamtanlage des Textes ist nicht zu erkennen.“

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

Schlussteil (15,5–13) 15,5–6 Gebetswunsch für beide Gruppen 15,7 Ermahnung für beide Gruppen: proslamba,nesqe (Rückgriff auf V. 1) 15,8–9 Begründung des Gotteslobes im Parallelismus, für jede Gruppe unterschiedlich 15,10–12 Schriftzitate für das gemeinsame Loben 15,13 Gebetswunsch für beide Gruppen

Der Parallelismus stellt ein wichtiges Strukturelement der Perikope dar.13 Die beiden Gruppen von Hörern, die in 14,2 vorgestellt werden, prägen den gesamten Abschnitt. Im ersten Teil finden sich immer wieder parallel gestaltete Aussagen, die sich zunächst abwechselnd den beiden Gruppen zuwenden, wenn sie auch nicht immer gleiche Länge haben. Den Abschluss dieses Teils bildet eine christologische Aussage, die beiden Gruppen gilt, aber trotzdem parallel gestaltet ist (14,7–9). Im zweiten Teil folgen auf eine parallel geformte Anfrage an die beiden Gruppen zwei ermahnende Abschnitte, für jede Gruppe einer. Im dritten Teil findet sich noch einmal eine parallele Struktur in 15,8–9. Ein Überblick über den vielfältigen Parallelismus dieses Abschnitts hat folgende Gestalt, wobei die beiden Gruppen mit A und B bezeichnet sind: 1. Teil (14,2–9) 14,2 14,3– 4 14,5 14,6a

AB Parallelismus AB+ Parallelismus mit einer an die zweite Aufforderung angefügten Erklärung AB Parallelismus A(B) Parallelismus (elliptisch, spätere Textüberlieferung ergänzt die zweite Zeile) AB Parallelismus Parallelismus (V. 7–9 gilt beiden Gruppen) Parallelismus Zusammenfassung

14,6b 14,7 14,8 14,8c–9 2. Teil (14,10–15,4) 14,10ab AB 14,10c–13a A 14,13b–15,4 B Schlussteil (15,5–13) 15,5–7 15,8–9 15,10–13

AB

Parallelismus (Rückgriff auf V. 3) Erklärung A Erklärung B (zweiteilig, deutlich länger) Gebetswunsch (to. auvto. fronei/n evn avllh,louj) und Aufforderung an alle (proslmaba,nesqe avllh,louj) Parallelismus (z. T. elliptisch) Schriftzitate und Gebetswunsch für alle (cara. kai. eivrh,nh)

Der häufige Parallelismus in diesem Abschnitt kann als „performative Textstrategie“14 verstanden werden, also als ein Anzeichen dafür, dass die13 14

Meeks 1987, 291 spricht von einem „pattern of reciprocity“; vgl. Weiss 1897, 245. Maassen 2001, 291.

3.1 Streit um die Speise in Rom (Römer 14,1–15,13)

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ser Text mündlich vor einem uneinheitlichen Publikum aufgeführt werden sollte. Ein solcher Parallelismus kann einerseits Differenzen zwischen den Gruppen im Publikum voraussetzen. Das scheint für Röm 14,1–15,13 zuzutreffen, wo von gegenseitiger Kritik bzw. Verachtung gesprochen wird und wo dieser Zustand überwunden werden soll. Andererseits kann die Aufführung eines Textes, der durch seinen Parallelismus Differenzen voraussetzt, ein zweigeteiltes Publikum auch erst konstruieren. Dann würden im Publikum eventuell nur latent vorhandene Spannungen ins Bewusstsein gehoben oder es würden viele vorhandene Gruppen- und Einzelinteressen eines Publikums in zwei gegensätzliche Lager gebündelt. Das Zweite könnte für Röm 14,1–15,13 insofern von Bedeutung sein, als es unter den römischen Gläubigen nicht nur diejenigen gegeben haben wird, die in dem angesprochenen Konflikt eine klare Position bezogen haben, sondern auch solche, die schwankend oder indifferent waren. 15 Die häufigen Wechsel zwischen den beiden Gruppen im ersten Teil, die intensive Zuwendung zu den beiden Gruppen im zweiten Teil und die gemeinsame Ansprache beider im dritten Teil, alles das bildet den Weg sprachlich ab, den die Hörer beim Vortrag dieses Abschnitts gehen: von einer Spaltung der Gläubigen in zwei Gruppen zur Gestaltung eines neuen Miteinanders. Dabei geht es nicht darum, dass die Verschiedenheit aufgegeben werden muss. Daran erinnert der letzte Parallelismus in 15,8–9: Obwohl die Ursache des Gotteslobes verschieden ist, kann das Lob gemeinsam gesungen werden. 16 Der Parallelismus gibt der Zusammenschau der auseinanderstrebenden Richtungen die sprachliche Form. 3.1.3 Einzelauslegung Römer 14,1 Paulus setzt ein mit der Aufforderung: To.n de. avsqenou/nta th/| pi,stei proslamba,nesqe( mh. eivj diakri,seij dialogismw/n) 17 Wer ist angeredet und soll den Schwachen im Glauben annehmen? Das ist nicht offensichtlich. Es gibt zwei Möglichkeiten. 1) Meist wird angenommen, 18 dass Paulus mit „schwach“ eine in Rom übliche Bezeichnung aufnimmt, und zwar eine diskriminierende Bezeichnung für die, die aus Glaubensgründen nur Gemüse essen, gebraucht von

15

Vgl. Minear 1971, 8–15. Jewett 2007, 885; vgl. Jewett 1995. 17 „Den Schwachen im Glauben nehmt an, damit es nicht zu Streitereien über Skrupel [kommt]!“ 18 Vgl. z. B. Michel 1955, 296, 298; Schmidt 1962, 227; Minear 1971, 8, 10; Wilckens 1982, 87, 111; Schmithals 1988, 495; Jewett 2007, 834. 16

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

denen, die keine Skrupel haben, Fleisch zu essen. 19 Die „Starken“ werden meist mit Heidenchristen gleichgesetzt, bei den „Schwachen“ denkt man an Judenchristen. Weil sich die letzteren nicht selbst abwertend bezeichnet haben werden, wäre die Aufforderung in Vers 1 an die Gruppe gerichtet, die diese diskriminierende Benennung verwendet. 20 Diese Deutung ist jedoch problematisch: In Vers 3 prangert Paulus die Verachtung an, mit der einige Christen in Rom den anderen begegnen. Wenn die Bezeichnung „schwach“ bei Paulus einen solchen geringschätzigen Sinn hätte, dann würde er die Verachtung fortsetzen, gegen die er doch Stellung bezieht. Welche Chance hätte er dann noch, von den „Starken“ gehört zu werden? Könnte sein Appell zur Annahme der „Schwachen“ ernst genommen werden, wenn Paulus selbst eine verächtliche Formulierung verwendet?21 Und würde er nicht die Ohren der „Schwachen“ verschließen, weil er sich auf die Seite der anderen gestellt hätte? 2) Es kann aber auch sein, dass die Bezeichnung „schwach im Glauben“ nicht aus einem diskriminierenden Sprachgebrauch der Leser des Römerbriefs stammt, sondern von Paulus selbst gebildet wurde.22 Dafür spricht Folgendes: a) Paulus hat zur Frage des Götzenopferfleisches, die in der Gemeinde Korinth aufgebrochen war, das Verhalten einiger Gemeindeglieder damit erklärt und den anderen verständlich gemacht, dass diese ein schwaches Gewissen haben (1 Kor 8,7). Daran anschließend hat er dann abkürzend von den „Schwachen“ gesprochen. Diese Redeweise hat also bei Paulus eine Vorgeschichte und könnte von ihm nun wieder eingesetzt worden sein. 23 19

Wilckens 1982, 81 denkt auch für „Gemüse essen“ an diskriminierenden Sprachgebrauch der „Starken“. 20 So z. B. Bartsch 1971, 85. 21 Schmithals 1988, 496–497 hat das Problem erkannt und umgeht es durch die Annahme, dass es zur Zeit des von ihm angenommenen Schreibens „Rom B“ in Rom nur „starke Pauliner“ gegeben habe. Er ignoriert, dass Paulus auch klare Ermahnungen an die Adresse der Abstinenten richtet (494). Auch bleibt unklar, wie der Streit eskalieren konnte, wenn es eine einheitliche Gemeinde gab, in die Judenchristen lediglich aufgenommen werden wollten. Byrne 1996, 405 sieht ebenfalls das Problem. Jewett 2007, 834–836 argumentiert, dass Paulus die Terminologie der „Starken“ benutzt, um gegen die dadurch ausgedrückte Abwertung Stellung zu nehmen und den beschämenden Status der „Schwachen“ zu beenden. 22 Diese Sicht wird jetzt mit guten Gründen unterstützt von Gäckle 2005, 444–449; vgl. auch Sampley 1995, 46–48, der jedoch das Vorhandensein von zwei stabilen Gruppen bestreitet. 23 Vgl. Schneider 1996, 130, 132–133. Wilckens 1982, 87 vermutet auch eine Abhängigkeit des Sprachgebrauchs in Rom von dem in Korinth, weil das zufällige Entstehen der gleichen Bezeichnungen schwer erklärlich wäre. Er hält allerdings die Bezeichnung „Schwacher“ für diskriminierend und von gesetzesfreien Gemeindegliedern aus Korinth nach Rom getragen.

3.1 Streit um die Speise in Rom (Römer 14,1–15,13)

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b) Bei der ersten Erwähnung des „Schwachen“ wird eine Erklärung hinzugefügt: schwach th/| pi,stei. Diese Erklärung ist nicht so ausführlich wie die in 1 Kor 8,7, wo Paulus den Terminus für die Korinther einführt.24 Dennoch wäre sie nicht nötig, wenn Paulus eine übliche Sprachregelung in Rom übernähme. c) In Vers 2 erklärt Paulus, welche Personen er als die „Schwachen“ ansieht: die, die Gemüse essen. Diese Erklärung wäre unnötig, wenn er eine bei den römischen Christen übliche Bezeichnung aufgriffe. d) Die korrespondierende Bezeichnung „stark“ findet sich nur einmal, und zwar erst in 15,1. (In 1 Kor 8 fehlt sie ganz.) Handelte es sich um üblichen Sprachgebrauch, dann wäre „die Starken“ oder eine ähnliche Selbstbezeichnung derer, die sich um Fleischspeise kein Gewissen machen, schon in 14,2 zu erwarten. e) Dazu kommt, dass in 15,1 der Gegensatz mit anderen Begriffen formuliert wird als in 14,2: oi` dunatoi, und oi` ƒ avdu,natoi anstelle von oi` avsqenou/ntej. Diese Veränderung spricht auch eher für eine von Paulus ausgewählte Begrifflichkeit und nicht für eine übliche Bezeichnung. f) Vor allem: Es ist nicht anzunehmen, dass das „schwach“ bei Paulus einen pejorativen Sinn hat. Obwohl die Begriffe avsqenou/ntej und avdu,natoi im üblichen Sprachgebrauch sozial Niedrige oder Unterlegene bezeichnen und oft abwertenden Sinn haben, 25 erscheinen sie bei Paulus dort, wo er Menschen aufwerten will. In 1 Kor 8,7 wirbt Paulus mit dem Hinweis auf ihre Vergangenheit und ihr schwaches Gewissen um Verständnis für die Brüder, möchte sie also von Vorwürfen und Geringschätzung entlasten. In 1 Kor 12,22–24 argumentiert Paulus mit dem Bild der schwächsten Glieder (me,lh tou/ sw, matoj avsqene,stera) und setzt dabei als selbstverständlich voraus, dass sie nicht gering geachtet werden, sondern ihnen besondere Aufmerksamkeit gilt. In Gal 6,2 fordert Paulus seine Leser auf, jeweils die Last des anderen zu tragen (ta. ba,rh basta,zete). In diesem Zusammenhang ist es gerade das Anliegen des Paulus, dass der Bruder, der sich etwa einer Verfehlung schuldig gemacht hat, nicht gering geachtet wird und dass sich niemand über ihn erhebt (vgl. V. 1 und 3). Daher hat hier das Tragen der Lasten des anderen keine abwertende Konnotation, eher soll es Sympathie und Mitempfinden wecken. 26 In Röm 15,1 formuliert Paulus ganz ähnlich: Wir, die wir das können, sollen die Schwachheiten der Unvermögenden 24

Dort ist in seinem Gewissen schwach, wer nicht die Erkenntnis hat, dass Götzenopfer irrelevant ist. Hier ist es nicht Schwachheit des Gewissens, sondern Schwachheit im Glauben. Es gibt jedoch viele Berührungspunkte. Siehe die Vergleiche bei Schneider 1996, 58–67 und vor allem bei Gäckle 2005, 438–444; vgl. auch Meeks 1987, 293. 25 Vgl. dazu Theißen 1989b; Reasoner 1999, 45–63 und die Hinweise bei Jewett 2007, 834–836, 876–878; keinen sozialen Hintergrund für die Bezeichnung des Paulus sieht dagegen Gäckle 2005, 376. 26 Darauf weist auch Keck 2005, 349 hin; vgl. Gäckle 2005, 415.

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

tragen (ta. avsqenh,mata basta,zein). Auch hier geht es um Mitempfinden und Hilfsbereitschaft. Ein abwertender Klang ist nicht darin. Maßstab für die Hilfsbereitschaft ist Jesus, der die Schwachen annahm (Röm 5,6; 15,7). Auch dadurch, dass Paulus die Vorschrift aus Levitikus 19,14, dass es nicht erlaubt sei, einem Fremden (evtl. einem Blinden?) ein Hindernis in den Weg zu legen, auf die Abstinenten anwendet, „setzt er eine gewisse Schutzbedürftigkeit der ‚Schwachen‘ … voraus.“ 27 Das bedeutet: Wenn Paulus in 15,1 nicht abwertend von den Schwachheiten (avsqenh,mata) spricht, dann ist anzunehmen, dass auch die „Schwachen im Glauben“ in 14,1 nicht geringschätzig gemeint ist. Es ist eher eine wohlwollende Bezeichnung. 28 Bei diesem Verständnis entfällt das Problem, dass Paulus mit seinen Formulierungen selbst praktiziert, was er bei einigen Christen in Rom anprangert: die Verachtung der „Schwachen“. Wenn nicht durch bereits bekannten Sprachgebrauch festgelegt ist, wer schwach (und wer stark) ist, dann wird der Appell, den „Schwachen“ anzunehmen, von den Briefempfängern so gehört, dass jeder sich selbst mit den „Starken“ identifizieren kann. Damit erreicht Paulus, dass sich zunächst jeder der Zuhörer angesprochen fühlt. 29 Durch diese Formulierung lädt Paulus am Anfang alle römischen Christen ein, ihre Mitchristen neu zu sehen und daraus ein neues Verhalten abzuleiten: Sie sind nicht dem Gericht Verfallene bzw. Rückständige, sondern hilfsbedürftige und liebenswerte Mitchristen. Worum geht es in der Ermahnung, den „Schwachen“ im Glauben anzunehmen? Das erklärt die nachfolgende Ergänzung. Die Gemeindeglieder sollen nicht über Meinungen streiten. 30 Paulus rechnet damit, dass die römischen Christen einander zu der jeweils von ihnen vertretenen Auffassung bekehren wollten. Offenbar war jeder davon überzeugt, das Richtige zu vertreten. Paulus sagt ihnen gleich am Anfang, bevor er in irgendeiner Weise zur umstrittenen Sache Stellung nimmt, dass es sich um Fragen handelt, die von untergeordneter Bedeutung sind. Aus dem Stichwort dialogismoi, werden sie eine Herabstufung ihrer umkämpften Überzeugung gehört haben: Sie selbst hätten sie wohl nicht „Überlegungen“ oder „Skrupel“ genannt.31 Abwertung liegt auch darin, dass Paulus den Plural 27

Michel 1955, 308. Vgl. Godet 1882, 266: „Dieser Ausdruck hat etwas Schonenderes …“ Evtl. kommt er aus dem Bildungswesen, wie Haacker 1990, 38, Anm. 35, vermutet, im Sinne von „Anfänger“ gegenüber den „Fortgeschrittenen“. Haacker ist jedoch wie viele andere der Meinung, dass der Ausdruck von den „Starken“ übernommen ist. Vgl. dazu auch Luther 1928, 464, der von der normalen Schwäche des Knaben spricht. 29 Sampley 1995, 47–48. 30 mh. eivj diakri,seij dialogismw/ n : ohne zu Streit über Gedanken bzw. Meinungen [zu kommen]. 31 Vgl. Schmidt 1962, 227. 28

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gebraucht, also deutlich macht, dass es nicht um die eine „Wahrheit“ geht, sondern um die Vielfalt von menschlichen Überlegungen. Der Meinungsstreit wird relativiert. Das Verhältnis der Gemeindeglieder zueinander wird als wichtiger erachtet als die Sachfragen; „Gesetz“ und „Wahrheit“ sind weniger wichtig als Liebe und Einheit. Damit eröffnet Paulus den römischen Christen einen neuen Blick auf ihre Situation und lädt sie ein, entsprechend dieser neuen Perspektive zu handeln. 32 Wie werden die römischen Christen diese Argumentation gehört haben? In einem Meinungsstreit sucht man recht zu behalten, und man sucht Verbündete. Was Paulus tut, ist eine Abwertung des Eifers jeder Seite, für die jeweilige „Wahrheit“ einzustehen. Die Vertreter beider Auffassungen werden diesen Worten des Paulus skeptisch gegenübergestanden haben. Andererseits bringt Paulus mit dem Stichwort proslamba,nein einen Gedanken in den Streit, der seine eigene Attraktivität hat. Jeder Streit belastet, Disharmonie macht die Gemeinde unattraktiv für Gläubige und Außenstehende, „Wortgefechte“ ermüden. Paulus eröffnet mit seiner Ermahnung einen Weg, den Streit zu überwinden, ohne dass eine Auffassung über die andere siegt. Sie sollen einander ohne Vorbedingung annehmen, ihr Miteinander, das heißt konkret: ihre Mahlgemeinschaft 33 nicht davon abhängig machen, dass der andere erst die „richtige“ Auffassung hat. Zu beachten ist hier auch der symbolische Charakter des performativen Raums. Der Vortrag des Briefes – wie auch spätere Verlesungen – fand während einer Versammlung von Gläubigen statt. Anwesend waren die Vertreter beider Gruppen, wie sich aus den Stellen mit direkter Anrede ergibt (14,4.10.15.20–22).34 Der wahrscheinlichste Ort dafür ist eine der größeren Hausgemeinden. Zu diesen Versammlungen gehörten immer auch gemeinsame Mahlzeiten. 35 Die Performanz findet also an einem Ort statt, der kaum wie ein anderer der familiären und freundschaftlichen Gemeinschaft, der Gastfreundschaft und der gemeinsamen Mahlzeit dient. Das Wort proslamba,nesqai, mit dem Paulus formuliert, was die römischen Gläubigen tun sollen, kann ganz konkrete Gastfreundschaft bezeichnen (2 Makk 10,15; Apg 18,26; 28,2; vgl. zu lamba,nein Joh 13,20; 2 Joh 10). Das bedeutet, dass die Zuhörer durch den Raum der Performanz ganz plastisch vor Augen haben, was von ihnen erwartet wird. Der Vortragende könnte 32

Crafton 1990, 337: “new [rhetorical] vision of life in the body of Christ.” Michel 1955, 298–299. 34 Die Trennung kann also nicht so absolut gewesen sein, wie Minear 1971, 7 annimmt – kein gemeinsamer Gottesdienst, keine gemeinsamen Mahlzeiten, keine gemeinsamen Feste –, denn sonst wären die Diskussionen (14,1) und die gegenseitige Beeinflussung (in 14,15.20.23 vorausgesetzt) nicht möglich. Das spricht auch gegen den Vorschlag von Jewett 2007, 835–836, 840, dass es um einen Streit um die Zulassung zur gemeinsamen Mahlzeit ging. 35 Klinghardt 1996, 271–295; Smit 2007; Taussig 2009, 21–54. 33

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sogar mit einer Geste auf den Raum verweisen, wo das gemeinsame Mahl stattgefunden hat. Mit jemandem in einem Haus, evtl. bei einer gemeinsamen Mahlzeit zu sitzen und ihn nicht „aufzunehmen“, wäre ein Widerspruch in sich selbst. So verstärkt der performative Raum mit seiner Symbolik das in der Performanz Gesagte. Römer 14,2 Vers 2 ist parallel gebaut und beschreibt die Situation: Es gab unter den römischen Christen gegensätzliche Auffassungen über Speisefragen. A o`j me. n pisteu,ei fagei/n pa,nta( B o` de. avsqenw/ n la,cana evsqi,ei)36 A Der eine zwar glaubt alles essen [zu dürfen], B der Schwache aber isst Gemüse.

Es wird sich dabei wahrscheinlich um Fragen gehandelt haben, die mit Vorschriften aus dem jüdischen Gesetz zusammenhängen, 37 denn in 14,14 bringt Paulus das Stichwort koino,j, das er sonst nicht gebraucht und das typisch ist für die jüdischen Essensvorschriften. 38 Außerdem führt Paulus in 15,8–12 den Gegensatz von Juden und Heiden in die Behandlung der Streitigkeiten in Rom ein, ein Gegensatz, der sich schon durch den ganzen Brief zog.39 Paulus verallgemeinert also die Speisefragen zu einem grundsätzlichen Problem, einem Glaubensproblem (V. 1: to.n de. avsqenou/nta th|/ pi,stei). Das deutet darauf hin, dass Paulus an den konkreten Differenzen 36 Jewett 2007, 837–838 hört in der lapidaren und übertreibenden Ausdrucksweise („alles“ und „Gemüse“) einen spöttischen Ton. “The rhetorical effect of placing these parameters so far beyond the likely, actual behavior of groups in Rome is to enable each group to smile and feel included in the subsequent argument” (S. 838). Wahrscheinlicher als die von Jewett vermutete Reaktion der Hörer wäre jedoch, dass sie sich in ihrer Überzeugung nicht ernst genommen fühlen. Sollte jedoch hinter der Ausdrucksweise ein spöttischer Sprachgebrauch beider Gruppen in Rom stehen, mit dem sie jeweils die gegnerische Gruppe diffamieren, dann wäre es ein für die Hörer deutlich erkennbarer Ausdruck von Sarkasmus des Paulus, wenn er diese Ausdrücke aufgreift. Er würde auf diese Weise zeigen, wie abwegig er den Streit findet, und zwar auf beiden Seiten. Die Reaktion der Hörer wäre Betroffenheit. 37 So die Mehrheit der Ausleger, vgl. Wilckens 1982, 79, 112–113; Meeks 1987, 292; Schneider 1996, 126; Moo 1996, 828–831; Gäckle 2005, 361. Shogren 2000, 248–251 zeigt, dass sich in jüdischer Abstinenz von bestimmten Speisen eine grundsätzliche Ablehnung heidnischer Herrschaft ausdrücken konnte („conscientious hero“). 38 Schneider 1996, 121; Byrne 1996, 404–405; Gäckle 2005, 369–370. 39 Warum hat Paulus nicht von Anfang an die Gegensätze als ethnische Spannungen gekennzeichnet? Warum vermeidet er zunächst alle Hinweise auf jüdische Vorschriften? Offenbar will er erreichen, dass die normalen ethnischen Differenzen die religiösen Differenzen nicht verstärken. Vgl. Oestreich 2000, 202–203; Keck 2005, 335; ganz ähnlich auch Gäckle 2005, 377–378, 398.

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in Rom das allgemeine Problem des Zusammenlebens zwischen Juden und Heiden in einer Gemeinde virulent sieht.40 Allerdings mögen durchaus auch Heidenchristen zu denen gehört haben, die sich nach dem jüdischen Gesetz richteten, wie es auch Judenchristen gab – etwa Aquila und Priska (16,3) –, die der freiheitlichen Richtung angehörten. 41 Sicher hat Paulus mit den zwei Gruppen die Vielfalt der Anschauungen und die Unterschiedlichkeit der Intensität, mit der sie vertreten wurden, zusammengefasst. Die Frage nach den genauen Vorschriften, die zur Debatte standen, kann hier offen bleiben, weil sie für das Ziel dieser Untersuchung nicht von unmittelbarer Bedeutung ist.42 Der Parallelismus, mit dem Paulus in Vers 2 beginnt und der für den gesamten Abschnitt charakteristisch ist, hat entscheidende Bedeutung für die Argumentation. Er bringt zum Ausdruck, dass sich Paulus beiden Seiten in gleicher Weise zuwenden will. 43 Er steht nicht auf einer der beiden miteinander streitenden Parteien, sondern nimmt seinen Platz ihnen allen gegenüber ein. 44 Für beide Seiten verwendet Paulus die gleiche Wortzahl und etwa die gleiche Satzlänge. Dass Paulus in Distanz zu beiden Auffassungen geht, dient seinem Ziel, Frieden unter den Gläubigen zu stiften. Er lädt dadurch die römischen Christen ein, ebenfalls eine distanziertere und objektivere Betrachtungsweise der verschiedenen Meinungen zu gewinnen. Damit will er die verhärteten Fronten aufbrechen. Zugleich ist der Parallelismus eine wichtige Strategie des Paulus zur Versöhnung der Streitenden: Er macht es ihm möglich, sich abwechselnd gleichsam zur einen und anderen Seite seiner Zuhörer zu wenden. 40

Crafton 1990, 331–332: Paulus theologisiert das Problem der Römer, um es in die Vision von dem gemeinsamen Gotteslob aller Völker einzuordnen; vgl. Wilckens 1982, 107. 41 Vgl. Stuhlmacher 1989, 195; Reid 1995, 137; auch Brown 1983. Crafton 1990, 336–337 schlägt vor, dass es sich bei den von Paulus beschriebenen Personen um Karikaturen oder um bestimmte Typen von Personen handelt. Es könnten auch Einzelpersonen besonders hervorgetreten sein. Ebenfalls von Einzelpersonen spricht Karris 1973, 170 im Anschluss an Rauer 1923, 88, 95. Er bestreitet, dass es in Rom zwei einander gegenüberstehende Parteien gab (Karris 1973, 158–159), und ist der Meinung, dass Paulus nicht eine konkrete Situation der Gemeinde in Rom vor Augen hat, sondern allgemein und angeregt durch die Erfahrung der Korinthergemeinde zur christlichen Einigkeit ruft (S. 164). 42 Vgl. die Diskussion der verschiedenen Möglichkeiten bei Schmithals 1988, 490– 493; Schneider 1996, 68–115; Reasoner 1999, 102–138; Gäckle 2005, 337–361. 43 Vgl. Gäckle 2005, 387. 44 Dass Paulus es als etwas problematisch empfand, diesen Platz in einer ihm noch unbekannten Gemeinde einzunehmen, zeigt sich in Röm 1,11–12, wo er sich wieder unter die römischen Christen stellt, nachdem er sich zuerst wie selbstverständlich als der Gebende vor sie gestellt hatte. Vgl. auch den Wechsel des Standorts in Röm 15,14–15 und 15,30.

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Die Objektivität und die beschreibende Distanz, mit der Paulus die beiden Positionen einführt, ebenso wie das abwechselnde Ansprechen der Gruppen bilden sich durch den Sprecher im performativen Raum ab. Wie es für eine Performanz üblich war, stand der Vortragende so, dass er vom Publikum gesehen werden konnte, wobei das Publikum oft einen Halbkreis bildete. Durch körperliche Bewegung und Blickrichtung kann er sich beiden Seiten zuwenden, durch Gesten mit der Hand kann er sie symbolisch andeuten, falls die Parteien nicht mehrheitlich zusammen sitzen. Die Anordnung der Körper der Anwesenden im Raum und die Gesten des Vortragenden machen sichtbar, was durch den vorgetragenen Text ausgedrückt wird. Ist es berechtigt, in Vers 2 von einem abwechselnden Hinwenden zu den beiden Seiten zu sprechen? Werden nicht die beiden Standpunkte einfach beschrieben? Dazu ist zu sagen: Erst in Vers 2, also nach dem Appell in Vers 1, den „Schwachen“ anzunehmen, zeigt Paulus, wen er als den „Schwachen“ bezeichnet. Das hatte er zunächst noch offen gelassen. Mit dieser nachträglichen Klärung erreicht Paulus zweierlei. Einerseits fällt der emotionale Appell zum Mittragen und Mitempfinden aus Vers 1 nachträglich an die, die sich vom jüdischen Gesetz gelöst hatten, stärker aus als an die „Schwachen“. Sie wissen jetzt, dass sie mit der Aufforderung in Vers 1 zuerst gemeint waren. Sie erfahren Korrektur ihres Verhaltens. Der Effekt eines solchen Nachtrags, der das, was vorher gesagt wurde, für die Hörer in ein neues Licht taucht und noch einmal unter neuem Aspekt sehen lässt, ist, dass das Gesagte im Gedächtnis noch einmal neu aktualisiert und in seiner Wirkung verstärkt wird. Andererseits zeigt Paulus, wenn auch nur implizit, welche Auffassung er selbst in der umstrittenen Frage hat (explizit dann in 14,14). Damit kritisiert er in der Sache (deren Bedeutung er jedoch schon herabgestuft hat) die Seite der „Schwachen“. Sie erfahren Korrektur ihrer Auffassung. Vers 2 enthält also im Zusammenhang mit Vers 1 neben dem sachlich beschreibenden auch einen korrigierenden Parallelismus, in dem sich Paulus tatsächlich abwechselnd den beiden Gruppen zuwendet. Römer 14,3–4 So geht es auch in den folgenden Versen weiter. Vers 3 bringt zunächst zwei parallele Ermahnungen, jeder der streitenden Parteien gilt eine von ihnen. A o` evsqi,wn to.n mh. evsqi,onta mh. evxouqenei,tw( B o` de. mh. evsqi,wn to.n evsqi,onta mh. krine,tw( A Wer isst, soll den, der nicht isst, nicht verachten, B wer aber nicht isst, soll den, der isst, nicht richten.

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Wieder wird in vollkommenem Parallelismus gesprochen. Am Satzanfang liegt der Unterschied zwischen beiden Sätzen nur in der Stellung der Verneinung mh.. Das nötigt den Sprecher dazu, die Sätze deutlich voneinander abzusetzen und das mh. zu betonen. Der Parallelismus wird dadurch noch deutlicher. Die beiden verschiedenen Verben am Satzende, also in betonter Position, stehen im Imperativ der dritten Person, also ohne jemanden direkt anzusprechen. Aber sie sind so gewählt, dass das typische Verhalten der jeweiligen Gruppe getroffen wird, also kein Zweifel daran bestehen kann, wer gemeint ist. Zuerst werden die Essenden ermahnt, die Abstinenten nicht zu verachten.45 Die emotional konnotierte Bezeichnung „schwach“ wird hier nicht wiederholt. Paulus ist zu einer objektiveren Bezeichnung zurückgekehrt: der nicht isst. Die Essenden fühlen sich offenbar überlegen. Sie begegnen den Abstinenten mit Spott und Verachtung. Sie hören, dass Paulus ihr Verhalten nicht billigt. Zugleich hören die Abstinenten, dass Paulus sie in Schutz nimmt. Er ermahnt die eine Gruppe und spricht gleichzeitig zugunsten der anderen. Dann folgt die Ermahnung an die Abstinenten, die Essenden nicht zu verurteilen. Diese Gruppe begegnet dem Spott der Essenden dadurch, dass sie das Essen von Fleisch verurteilt, wahrscheinlich, wie Vers 3c–4 nahelegen, mit Blick auf Gottes Endgericht. Wieder spricht Paulus positiv über die eine Gruppe, während er die andere kritisiert. Entsprechend dem üblichen Protokoll beim Empfang von offiziellen Briefen an eine Gruppe wird der Vortragende ein römischer Christ gewesen sein. Das bedeutet, dass er genau wusste, wer jeweils gemeint ist. Es hätte viel Selbstdisziplin erfordert, wenn er beim Sprechen der parallelen Sätze nicht einige der jeweils gemeinten Gruppe angeschaut hätte, schon um ihre Reaktion auf die Ermahnung zu beobachten. Und weil das Publikum in der Regel so platziert war, dass man einander sehen konnte, also an drei Seiten eines Raumes, im Halbkreis oder auf einem oder mehreren Triklinien, 46 so werden auch die Zuschauer mit den Blicken diejenigen suchen, an die Paulus bei jedem der parallelen Imperative gedacht hat. Auch sie kannten die prominentesten Vertreter der von Paulus im Parallelismus gegenübergestellten Gruppen. 45

Im Folgenden wird die Gruppe der römischen Christen, die überzeugt war, alles essen zu dürfen, als die „Essenden“ bezeichnet. Die Gruppe derer, die bestimmte Speisen vermied und von Paulus „schwach“ genannt wird, wird die „Abstinenten“ genannt. Diese Bezeichnungen greifen das jeweils charakteristische Verhalten auf, wie es von Paulus in V. 2 erwähnt wird. Die weithin üblichen Bezeichnungen „Starke“ und „Schwache“ sollen hier vermieden werden, weil für uns in ihnen Wertungen mitschwingen, die n. m. E. von Paulus nicht intendiert waren. 46 Zu Räumen und zur Sitzordnung vgl. Klinghardt 1996, 62–97.

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In den Text ist also die Performanz auch in der Hinsicht eingeschrieben, dass die Blicke des Vortragenden und des Publikums gesteuert werden. Nur eine Minderheit im Publikum wird dem Streit um die Essensfrage neutral gegenüberstehen und sozusagen aus der Distanz von einer Gruppe zur anderen schauen. Die Mehrheit im Publikum wird sich einer der beiden angesprochenen Gruppen zugehörig fühlen und zu der jeweils anderen sehen, wenn sie vom Vortragenden erwähnt wird. Das bedeutet, dass sich die Vertreter der streitenden Gruppen gegenseitig anschauen. Dabei werden sie von Paulus ermahnt, nicht in negativer Weise aufeinander zu blicken. Die Performanz löst eine Interaktion zwischen den Gruppen aus. Die beiden Ermahnungen haben nicht den gleichen Umfang. Die zweite ist durch einen Nachsatz (V. 3c)47 und dann durch das Bild vom fremden Knecht (V. 4) ergänzt. Gott hat den Essenden angenommen. Das Gericht, das von den Abstinenten über die Essenden ausgesprochen wurde, bezog sich offenbar auf das Stehen oder Fallen im Endgericht. Die Abstinenten werden die Annahme der Essenden bei Gott in Frage gestellt haben. Paulus aber ist gewiss, dass das Angenommensein bei Gott allein in Gottes Tun begründet ist, nicht in menschlicher Gesetzesbeobachtung – ein zentrales Thema im Römerbrief. Ähnlich wie schon in Vers 1 relativiert Paulus die Streitfrage. Ob man essen darf oder nicht, das sind Meinungen, das wird am Ende keine Rolle spielen. Damit wird in diesem Abschnitt zum ersten Mal eine eschatologische Perspektive gewonnen. Durch die Ergänzung in Vers 3c– 4 spricht Paulus wieder zugunsten der Gruppe, die er gerade nicht anredet. Er sagt den Abstinenten: Die Essenden sind bei Gott angenommen. 48 Die Performanz lenkt ihren Blick nicht nur auf die Essenden, sondern leitet sie dazu an, in positiver Weise auf sie zu schauen. Das entspricht der positiven Weise, wie die Essenden auf die Abstinenten schauen sollen, nämlich als auf solche, die in ihrer Schwachheit Rücksichtnahme brauchen. Die Interaktion, die die Performanz zwischen den beteiligten Gruppen auslöst, hilft zu einem positiven Blick aufeinander: mit Achtung und in der Gewissheit, dass Gott den anderen angenommen hat. In Vers 4 führt Paulus ein neues Argument ein. Er bringt es vor in dem Bild vom fremden Haussklaven, der allein seinem eigenen (Haus-)Herrn Rechenschaft schuldet. Es ist durchaus möglich, dass es in der Versammlung Haussklaven, vielleicht auch Besitzer von Haussklaven gab. Das macht diese Metapher besonders relevant. 47 Stuhlmacher 1989, 198 bezieht den Nachsatz fälschlicherweise auf „den im Glauben noch schwachen Bruder.“ 48 Nygren 1951, 316; Michel 1955, 300; Schmidt 1962, 228; gegen Meeks 1987, 295, der hier sowohl „Starke“ als auch „Schwache“ angeredet sieht, ebenso Schmithals 1988, 498.

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Welche Funktion hat diese im Stil der Diatribe vorgetragene Metapher? Durch sie trennt Paulus die beiden streitenden Gruppen voneinander. Die Verurteilung, die die Abstinenten über die Essenden aussprachen, vielleicht auch der Versuch, sie von der Richtigkeit ihrer Praxis zu überzeugen, setzt ja voraus, dass die Gemeinde zusammengehört, nur einen gemeinsamen Herrn hat und deshalb nur eine einheitliche Praxis richtig sein kann. Dem setzt Paulus entgegen: Jeder steht allein vor seinem Herrn. Wie wichtig Paulus dieses Argument ist, zeigt sich daran, dass er in Vers 12 und auch in Vers 22 darauf zurückkommt. Das Argument des Paulus vom fremden Knecht distanziert die Zuhörenden voneinander. Wie die Unterschiedlichkeit und Vielfalt zu einer Einheit zusammengeführt werden kann, ist nicht mehr Aufgabe der Gemeinde. Der Herr verbindet die Vielfalt dessen, was seine Haussklaven tun, zu einem Ganzen. So ist die Vielfalt, unter der die Gemeinde leidet, gleichsam „in den Herrn“ verlegt und kann deshalb auf Erden ertragen werden. 49 Warum führt Paulus dieses Argument mit einem sprachlichen Bild ein? Metaphern strukturieren die Erfahrung und das Wissen von dem Teil der Wirklichkeit, von dem die Rede ist, in einer neuen Weise, indem sie die Strukturen eines anderen Bereichs der Welt darüberlegen. Die Metapher des Paulus lehrt, das Zusammenleben in der Gemeinde neu zu sehen, nämlich als das Zusammentreffen von Haussklaven – etwa auf dem Markt –, die verschiedene Verantwortlichkeiten und Aufgaben haben. Diese neue Sicht der Gemeinde gewinnt also durch die Metapher ihre Plausibilität aus der sozialen Umwelt der Hörer. Denn da ist es selbstverständlich, dass es mehrere Hausherren gibt und dass der Haussklave des einen Herrn nichts mit dem des anderen zu tun hat. Hätte Paulus sein die römischen Christen distanzierendes Argument ohne Metapher eingeführt, hätte er wahrscheinlich Protest geerntet. Die Metapher hat eine Mittlerfunktion. Sie verhindert, dass die bisherige und die metaphorisch eingeführte neue Sicht der Wirklichkeit hart aufeinanderprallen. Sie distanziert die gegensätzlichen Sichtweisen eines Sachverhalts voneinander, indem sie über einen ganz anderen Sachverhalt redet, ihn gleichsam dazwischen schiebt. Indem Paulus eine Metapher gebraucht, vollzieht er formal sprachlich, was er inhaltlich sachlich tut: Er distanziert Gegensätze voneinander, um ein friedliches Miteinander zu ermöglichen. 50 Zugleich hat die Metapher auch eine Mittlerfunktion zwischen dem Sprecher und seinen Hörern. Direkte Sprache konfrontiert die 49

Vgl. Meeks 1993a, 216–217. Gestrich 1997, 504: „Die [metaphorische] Übertragung liegt in der hilfsweisen Inanspruchnahme derzeit noch unbeschädigter oder unbelasteter und darum gerade jetzt ‚tragfähiger‘ Konfigurationen auf dem großen Teppich der Sprache.“ Vgl. Gestrich auch zur versöhnenden und friedensstiftenden Funktion von Sprache überhaupt. 50

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

Hörer mit Kritik, metaphorische Sprache lädt die Hörer ein, die in der Metapher verborgene Kritik selbst auf sich anzuwenden. 51 Die Kraft einer Metapher hängt davon ab, wie überzeugend die Analogie ist, die sie postuliert. Werden die römischen Christen sich darauf eingelassen haben, die Gemeinschaft der Gläubigen analog der Begegnung fremder Sklaven zu sehen? Die Argumentation des Paulus wird auf Widerstand gestoßen sein bei denen, die mit ihrem Standpunkt und mit ihrem Tun nicht nur akzeptiert sein, sondern recht behalten und die anderen überzeugen wollten. Er wird bei denen mit seinem Argument Gehör gefunden haben, die des Streitens müde waren und unter der Diskriminierung des jeweiligen Gegners litten. Ebenso wie am Ende von Vers 3 konstatiert Paulus auch in Vers 4, dass Gott den Essenden mit seinem Handeln gelten lassen wird (staqh,setai). Das Urteil der Abstinenten über die Essenden wird durch das größere Urteil Gottes überwunden und unterbunden. Paulus argumentiert also nicht über die Frage, was richtig ist, sondern er bringt ein Argument der Autorität: Gott hat das letzte Wort. Dass Paulus selbst die Auffassung der Essenden teilt, davon spricht er hier nicht, wohl um seinen distanzierten Standort und seine Objektivität nicht aufzugeben. Römer 14,5 Vers 5 bringt eine neue Differenz im Verhalten von Christen ins Spiel: das Beachten von Tagen. Wieder ist nicht ganz deutlich, worum es ging: wöchentlicher Sabbat, jüdische Festzeiten, Fastenzeiten oder (heidnische) böse Tage?52 Im Zusammenhang mit dem Beachten von Speiseregeln liegt es nahe, an Fastentage zu denken. 53 Weil es in dieser Studie um die Performanz des Briefes geht, kann diese Frage offen bleiben. Der Vers ist in seiner Form dem Parallelismus in Vers 2 sehr ähnlich. A o]j me.n Îga.rÐ kri,nei h`me,ran parV h`me,ran( B o]j de. kri,nei pa/san h`me,ran\ C e[kastoj evn tw/| ivdi,w| noi> plhroforei,sqwÅ A Der eine hält einen Tag vor einem anderen Tag, B der andere hält alle Tage [gleich]. C Jeder soll in seinem eigenen Sinn überzeugt sein.

51

Vgl. Sampley 1995, 45. Diskussion bei Gäckle 2005, 351–359. 53 Vgl. Dederen 1971; Karris 1973, 77; unentschieden Reasoner 1999, 158. An Sabbatheiligung denken z. B. Stuhlmacher 1989, 198; Sampley 1995, 48; Weiss 1995; Gäckle 2005, 358–359, 361. Zur Diskussion vgl. Dederen 1971; Reasoner 1999, 146– 158; Gäckle 2005, 351–359. 52

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Doch gibt es drei Unterschiede. Erstens werden die Gruppen in umgekehrter Reihenfolge genannt. Vers 2 nannte die, die Speisevorschriften beachten, zuletzt, Vers 5 bringt die, die Regeln zur Beachtung von Tagen einhalten, zuerst. Zweitens fehlt in Vers 5 eine direkte oder implizite Wertung oder Ermahnung, wie wir sie in Vers 1–2 gefunden haben. Es wird kein emotionaler Appell an eine Seite gerichtet, es wird kein Standpunkt indirekt kritisiert. Drittens fügt Paulus einen Nachsatz an, der beide genannten Auffassungen zusammenfasst: Jeder soll in seinem Sinn ganz (mit Gewissheit) erfüllt sein. Vor allem die beiden zuletzt genannten Unterschiede haben zur Folge, dass – anders als bei der vorher verhandelten Frage des Essens von Fleischspeisen – in der Frage nach dem Beachten von Tagen keine Zuordnung zu bestimmten römischen Christen möglich ist. 54 Es geht Paulus mit diesen Aussagen also nicht darum, einen weiteren Streitpunkt der römischen Christen zu benennen, wie meist angenommen wird. Vielleicht war das Beachten von Tagen in Rom gar kein akutes Problem. Warum kommt Paulus dann darauf zu sprechen? Er will sagen: Es gibt noch mehr solche Fragen, über die man streiten könnte,55 aber eigentlich nicht streiten sollte. Damit erreicht Paulus, dass das akute Problem in Rom in einem größeren Zusammenhang gesehen wird, dass die Streitenden „Abstand gewinnen“. Wir haben es hier mit einer Verallgemeinerung, mit einer Abstraktion zu tun. Die Verallgemeinerung erörtert Sampley und wertet sie als ein rhetorisches Mittel, die streitenden Parteien von ihrer festgefahrenen Meinung zu lösen und zu einer distanzierteren Betrachtungsweise einzuladen. 56 Diese Deutung wird unterstrichen durch den Nachsatz in Vers 5c. Es ist das erste Mal im untersuchten Abschnitt, dass Paulus zwei parallele Aussagen, die jeweils einer Seite des Konflikts gesagt werden, durch eine dritte Aussage zusammenfasst, die für beide Seiten gilt. Hier zeigt sich in der sprachlichen Form die Strategie der Argumentation: Die Gegensätze werden genannt und in einer übergeordneten Aussage überwunden, die die Standpunkte als persönliche Überzeugungen relativiert. Dass das möglich ist, demonstriert Paulus zunächst an einer Frage, die in Rom nicht umstritten war. Er kann für einen nur möglichen Streit um das Beachten von 54 Viele Ausleger nehmen ganz selbstverständlich an, dass es die Abstinenten waren, die auch die Tage beachteten. Paulus erklärt das nicht, wie Sampley 1995, 41, 46 richtig beobachtet. 55 … und über die wohl anderswo gestritten wird; vgl. Kol 2,16; Gal 4,10, mit unterschiedlicher Reaktion des Paulus. 56 Sampley 1995, 42; vgl. Cicero, orat. 15.45–46, der den Redner anweist, „den Streitfall, wenn immer er es kann, von den gegebenen Personen und Zeitumständen [zu] lösen. Kann man doch ausführlicher über das Problem im allgemeinen als über einen Einzelteil diskutieren, so daß das, was vom Ganzen bewiesen ist, auch für den Teil als bewiesen gelten muß.“

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

Tagen auf Zustimmung rechnen und so eine Zustimmung für den akuten Streit um Essensfragen vorbereiten. Römer 14,6 Dieser Vers hat eine Überleitungsfunktion: Von dem von Paulus eingeführten Beachten von Tagen wird zu den in Rom umstrittenen Essensfragen zurückgelenkt. Der Vers hat drei Zeilen. Die erste ist zweiteilig, die beiden letzten dreiteilig. A B A B

o` fronw/ n th.n h`me,ran kuri,w|/ fronei/( – kai. o` evsqi,wn kuri,w|/ ev™sqi,…ei( kai. o` mh. evsqi,wn kuri,w|/ ouvk evsqi,ei

A B A B

Wer den Tag beachtet, beachtet [ihn] für den Herrn, – sowohl wer isst, isst für den Herrn, denn er dankt Gott; als auch wer nicht isst, isst für den Herrn nicht und dankt Gott.

euvcaristei/ ga.r tw|/ qew|/\ kai. euvcaristei/ tw|/ qew/)|

Der exakte Parallelismus der beiden letzten Zeilen lässt auch – allerdings erst, nachdem man den Vers zu Ende gehört hat – für die erste Zeile eine entsprechende Parallele erwarten. Tatsächlich findet sich in einigen späteren Textzeugen diese Ergänzung. Sie ist jedoch deutlich sekundär. Warum hat Paulus nicht so formuliert? Es scheint, als ob er es eilig hat, zu dem Problem des Essens zurückzukehren. Er verlässt das Thema des Beachtens von Tagen sozusagen vorzeitig, bevor er den Parallelismus zu Ende gebracht hat. Diese Beobachtung bestätigt noch einmal die Vermutung, dass das Beachten von Tagen in Rom nicht umstritten war und nur als Verallgemeinerung in die Argumentation eingebracht wurde. Nachdem er Zustimmung gefunden hat, dass man über das Beachten von Tagen nicht streiten muss, kehrt er zu der in Rom umstrittenen Frage nach Fleischspeisen zurück, um mit derselben Strategie ein besseres Miteinander zu erreichen. Bereits an der Form der beiden Zeilen Vers 6bc ist zu erkennen, dass Paulus auf die Argumentation von Vers 5 aufbaut. Wie in Vers 5ab werden ohne jede Wertung die beiden Standpunkte genannt: „wer isst …“, „wer nicht isst …“ Für jeden Standpunkt wird dann eine Aussage hinzugefügt, die für beide genau gleich ist: kuri,w|. Dieser Zusatz entspricht der Aussage Vers 5c, die ebenso für beide Standpunkte gilt. Anders als in Vers 5c wird die für beide geltende Aussage jedoch erweitert durch eine Begründung: „… denn er dankt Gott.“ Diese Begründung verweist auf das Dankgebet, das nach jüdischer und auch christlicher Sitte vor der Mahlzeit gesprochen wurde. Im Unterschied zu der sehr allgemeinen Formulierung in Vers 5c wird hier das, was für beide Gruppen gilt, sehr konkret an einem täglichen Lebensvollzug festgemacht. Wieder hilft hier der Blick auf den performativen Raum: Wenn der Brief im Sym-

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posion-Teil der Zusammenkunft der Gläubigen vorgetragen wurde, werden die Spuren des gemeinsamen Essens noch im Raum zu sehen gewesen sein. Dass alle für die Mahlzeit gedankt haben, ist noch lebendig im Gedächtnis. Alles Handeln wird auf den Herrn bezogen. Wie in Vers 3c–4 (und wie im Röm insgesamt) wird der Wert des Handelns des Christen nicht daran gemessen, ob es einer Gesetzesvorschrift entspricht, sondern ausschlaggebend ist, in welchem Verhältnis es zum Herrn steht. Paulus wertet jede Handlungsweise positiv. Jeder darf sich angenommen wissen, weil sein Beweggrund als positiv eingeschätzt wird. Niemandem wird der Glaube, seine Beziehung zum Herrn abgesprochen. Damit praktiziert Paulus, was er von den römischen Christen fordert: den anderen nicht zu richten und nicht zu verachten. Der konkrete Ausdruck der Beziehung zum Herrn – der Dank an Gott – zeigt, dass Paulus aus der Perspektive der Essenden denkt. Für die Abstinenten ist die Begründung des Dankes gegen Gott etwas formal, denn es liegt näher, an einen Dank für das zu denken, was man genießt, als an einen Dank für das, was man nicht genießt. Paulus bemüht sich, so objektiv wie möglich zu argumentieren, für keine der beiden Seiten Partei zu ergreifen. Daher der strenge Parallelismus der Formulierungen. Dennoch wird indirekt immer wieder sichtbar, welche Überzeugung er hat. Gerade die Abstinenten werden wahrgenommen haben, dass Paulus sich um eine objektive Darstellung bemüht, auch wenn er ihrer Meinung nicht zustimmt. Das wird seine Argumentation glaubwürdiger gemacht haben. Römer 14,7–9 Diese Verse stellen einen Abschnitt dar, der keiner der beiden streitenden Parteien zugeordnet ist, sondern für beide gilt (ouvdei,j ga.r h`mw/ n). Zugleich bilden diese Sätze das Ende des ersten Teils der Argumentation des Paulus. So führt Paulus, wie er es bereits in Vers 5 an einem unstrittigen Beispiel gezeigt hat, die beiden Parteien von den Differenzen zu Gemeinsamkeiten. Dennoch findet sich auch in diesen Versen durchgängig eine parallele Struktur. Dazu führt Vers 7 einen neuen Gegensatz ein: leben und sterben. 57 Ein schärferer Kontrast lässt sich kaum denken. Vers 8 formuliert dann sehr ähnlich wie Vers 6: Für jede Zeile wird das Verb mit der Qualifikation „dem Herrn“ wiederholt. Das tw|/ kuri,w| greift den Gedanken von Vers 6 und das Bild vom Knecht in Vers 4 wieder auf58 und fasst alles in Christus zusammen. 57 Schmithals 1988, 500 hält ihn für nur traditionell bedingt, im vorliegenden Zusammenhang jedoch für unmotiviert; vgl. auch S. 502. 58 Gäckle 2005, 413.

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

Damit wird die argumentative Strategie des Paulus deutlich. Der scharfe Gegensatz – leben und sterben – wird überbrückt durch Christus, er ist Herr über alle (vgl. 1 Thess 5,10).59 Aus dem Schwereren wird auf das Leichtere geschlossen: Wenn Christus sogar solche Gegensätze wie Tod und Leben überbrücken kann, wie viel mehr dann die Meinungsdifferenzen der römischen Christen. 60 „Die so wichtigen Verhaltungsweisen der beiden Gruppen (V. 5.6) wirken nunmehr klein und unbedeutend gegenüber der grundsätzlichen Herrschaft Jesu Christi über das Leben jedes Einzelnen.“ 61 Zugleich kann Paulus – ähnlich wie in Vers 5 – davon ausgehen, dass die Überwindung dieses scharfen Gegensatzes durch Christus bei seinen Briefempfängern nicht umstritten ist.62 Das wird noch zusätzlich abgesichert durch die christologische Aussage in Vers 9: Christus ist Herr über Lebende und Tote, weil er gestorben und auferstanden ist. Damit gründet Paulus seine Argumentation letztlich auf den Kern des christlichen Bekenntnisses überhaupt (vgl. 1 Kor 15,3–4). Dabei setzt Paulus voraus, dass jeder der Streitenden zu Christus gehört.63 Die Verse 7–9 stellen einen ersten Höhepunkt der Performanz dar. 7a b 8a b c d e 9a b

1. Parallele (9/10 Silben) 2. Parallele (12/17 Silben) 3. Parallele (6/8 Silben) Fazit Sentenz

ouvdei.j ga.r h`mw/n e`autw/| zh/| kai. ouvdei.j e`autw/| avpoqnh,|s kei\ evan, te ga.r zw/ men( tw/| kuri,w| zw/ men( evan, te avpoqnh,|skwmen( tw/| kuri,w| avpoqnh,s| komenÅ evan, te ou=n zw/ men evan, te avpoqnh,|skwmen( tou/ kuri,ou evsme,nÅ eivj tou/to ga.r Cristo.j avpe,qanen kai. e;zhsen( i[na kai. nekrw/ n kai. zw, ntwn kurieu,sh|Å

7a b 8a b c d e 9a b

1. Parallele

Denn keiner von uns lebt für sich selbst und keiner stirbt für sich selbst. Denn wenn wir leben, leben wir dem Herrn, wenn wir sterben, sterben wir dem Herrn, wenn wir also leben, wenn wir sterben, gehören wir dem Herrn. Denn dafür ist Christus gestorben und lebendig geworden, dass er sowohl über die Toten als auch über die Lebenden herrsche.

2. Parallele 3. Parallele Fazit Sentenz

59

Zum Denken des Paulus in Antithesen vgl. schon Weiss 1897, 175–181. Vgl. Luther 1928, 482. 61 Michel 1955, 303; vgl. Jewett 2007, 849. 62 Anders Schmidt 1962, 229, der im V. 7–8 einen versteckten Imperativ hört. 63 Das spricht gegen die Deutung von Nanos 1996, 154 –157, dass die „Schwachen“ Juden außerhalb der christlichen Gruppe sind. 60

3.1 Streit um die Speise in Rom (Römer 14,1–15,13)

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Die Sprache wird hymnisch. 64 Das viermal wiederholte eva,n te lässt die Rede nachdrücklich klingen. Die gleichen Endungen der Verben bilden einen Endreim. Die Sätze von Vers 7 und 8 sind parallel geformt und wechseln mehrfach zwischen zh|/ / zw/ men und avpoqnh|,skei / avpoqnh|,skomen. Die zweite Parallele ist in der Länge gesteigert durch den jeweiligen Zusatz mit tw|/ kuri,w|, die dritte Parallele ist dann verkürzt und läuft auf das kurze Fazit zu: tou/ kuri,ou evsme,n. Es folgt mit Vers 9 eine Sentenz, die Tod und Auferstehung Jesu bekenntnishaft zusammenfasst. Sie nimmt mit den Stichworten nekrw/ n kai. zw, ntwn den Gegensatz der Verse 7 und 8 noch einmal auf und schließt mit kurieu,sh|, also dem Wortstamm, der seit Vers 4 die Argumentation beherrschte. Das ist dichterische Sprache. Der Vortragende wird sich in Stimme und Ausdruckskraft gesteigert haben. Die parallelen Zeilen geben den Worten einen pulsierenden Rhythmus, der sich abwechselnd zwei Extremen zuwendet: Leben und Sterben. Wie von selbst ergibt es sich, dass der Vortragende diesen Rhythmus durch Hin- und Herbewegen der zeigenden Hand unterstützt. Werden die Zeilen in der dritten Parallele kürzer (V. 8c und d), beschleunigt sich die Handbewegung, bis sie am Schluss das Fazit unterstreicht (V. 8e). Solche Steigerungen in der Rede haben – wenn es gelang – das Publikum mitgerissen. Die Gestaltung der Form und die Schönheit der Sprache haben nicht selten die Hörer begeistert. Performanz ist ja immer auch eine Beurteilung der medialen Seite der Sprache, also des „Wie“ des Vortrags. Wenn es dem Vortragenden gelang, hier Zustimmung zur Form des Gesagten zu erreichen, dann bahnt das den Weg auch zu inhaltlicher Zustimmung. Der – vielleicht nach einer kleinen Pause – folgende Satz (V. 9) nutzt den poetischen Schwung der Sprache für eine inhaltliche Aussage. Es handelt sich um eine Sentenz, einen prägnanten, dicht formulierten Satz, der eine umfassende Wahrheit gültig zusammenfasst. Sentenzen gaben dem Publikum oft die Gelegenheit, mit Applaus zu reagieren. 65 Der Vortragende, beflügelt von der dichterischen Form der vorhergehenden Zeilen, spricht mit allem Nachdruck die Wahrheit der Sentenz aus und macht danach eine Pause. Das Publikum versteht diese indirekte Aufforderung zur Reaktion und klatscht Beifall. Einige rufen, Teile der Rede wiederholend: tou/ kuri,ou evsme,n. Andere rufen das in der Sentenz angedeutete urchristliche Bekenntnis: Cristo.j ku,rioj. Wer von den Anwesenden könnte sich der Schönheit der Sprache entziehen, wer wollte der Aussage der Sentenz widersprechen? – Natürlich wissen wir 64 An ein Taufbekenntnis denkt Michel 1955, 303; an vorher gestaltete Sprache Gäckle 2005, 412; an ein unwillkürlich von Paulus geformtes Christuslied Schlier 1977, 409. Es ist Paulus durchaus zuzutrauen, dass er beim Diktieren in dichterische Sprache verfällt. 65 Korenjak 2000, 131; Shiner 2003, 154–157.

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

nicht, ob die Performanz so verlaufen ist. Das festzustellen ist auch nicht das Ziel der Performanzkritik. Es geht darum, eine mögliche und wahrscheinliche Performanz zu rekonstruieren. Römer 14,10ab Es folgt, nachdem sich der Beifall gelegt hat, ein Kontrast, wie er schärfer nicht sein kann. Gerade hat das Publikum einmütig dem Redner zugestimmt, da wird es scharf angegriffen, und zwar wieder in zwei parallelen Sätzen (V. 10). A su. de. ti, kri,neij to.n avdelfo,n souÈ B h' kai. su. ti, evxouqenei/j to.n avdelfo,n souÈ A Du aber, was richtest du deinen Bruder? B Oder auch du, was verachtest du deinen Bruder?

Die zwei in Vers 2 charakterisierten Gruppen werden direkt angesprochen. Paulus wechselt von einem Satz zum anderen den Adressaten, ohne das in der Form der Anrede kenntlich zu machen. Beide Male steht betontes su,, auch wenn verschiedene Personen gemeint sind. 66 Ein solches Vorgehen passt in eine Situation der Mündlichkeit, wo man sich die beiden Fragen jeweils verbunden mit einer körperlichen Hinwendung und einer zeigenden Geste der Hand vorstellen kann. 67 Das wäre noch plausibler, wenn die Vertreter der jeweiligen Anschauung in Fraktionen beieinander säßen. Das ist durchaus vorstellbar, da die verschiedenen Auffassungen neben der religiösen auch eine soziale oder ethnische Komponente hatten. 68 Eine feste Sitzordnung nach sozialer Zugehörigkeit war üblich. 69 Aber auch dann, wenn die Kontrahenten gemischt im Publikum saßen, konnte der Sprecher jeweils einen Vertreter der angesprochenen Gruppen ins Auge fassen. Wie in Vers 3 werden die Blicke der Gruppen im Publikum zueinander gelenkt. Das in Vers 3 bereits genannte Fehlverhalten wird diesmal den Vertretern der beiden Gruppen direkt vorgeworfen: Wenn ihr dem zugestimmt habt, was gerade gesagt wurde, wie könnt ihr dann den Bruder richten oder 66 Die betonte Anrede mit „Du“ erinnert an Diatribestil, hat hier aber nicht wie in der Diatribe die Funktion, ein gedachtes Gegenüber für die lehrhafte Auseinandersetzung einzuführen (vgl. Bultmann 1984, 10–11; Stowers 1981, 79–118 passim; etwas anders Schmeller 1987, 22–24), sondern wendet sich an die wirklichen Teilnehmer der Gemeindeversammlung, in der der Brief des Paulus vorgelesen wird. 67 Gut beobachtet von Moo 1996, 846. 68 Vgl. Walters 1993; Oestreich 2000; vor allem Esler 2003, 40–76 zu ethnischer Identität, 339–356 zu Röm 14,1–15,13. 69 Zur Sitzordnung siehe oben auf S. 67–68; auch Meeks 1993b, 67. Stegemann und Stegemann 1995, 244 verweisen zum Vergleich auf die feste Sitzordnung bei Vereinsmahlzeiten: „Insofern bestätigten sie auch die gruppeninternen Rollen und Statuspositionen.“

3.1 Streit um die Speise in Rom (Römer 14,1–15,13)

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verachten? Wenn gilt, dass Christus der Herr ist über die größten denkbaren Gegensätze, dann dürfen die Gegensätze unter den römischen Christen nicht zur gegenseitigen Entfremdung führen. Wieder wird jeder Seite nahegelegt, die jeweils andere nicht gering zu schätzen. Neu ist, dass der Verurteilte bzw. der Verachtete als Bruder bezeichnet wird. Auch das ist eine Steigerung. Wie haben die Vertreter der unterschiedlichen Auffassungen diese Redeweise gehört? Was die einen als Kritik an ihrem Verhalten erleben, wird jeweils von den anderen als Bestätigung ihrer Position begrüßt. Der strenge Parallelismus zeigt wieder die Neutralität, die Distanz des Sprechers zu beiden Gruppen. Er ergreift nicht Partei für eine Seite, sondern will beiden Seiten etwas sagen. Römer 14,10c–13a Nach den zwei parallelen Fragen in Vers 10 folgt mit Vers 10c–13a eine Argumentation, die an die Abstinenten gerichtet ist und die erste kritische Frage aus Vers 10a aufgreift. Auch wenn Paulus von Vers 10c–13a im Wir-Stil vom Gericht über alle spricht, sind diese Verse doch an die Adresse derer gerichtet, die die anderen richten (vgl. V. 3b). Durch den Wir-Stil sehen sich die Abstinenten nicht allein öffentlicher Kritik ausgesetzt, der Anrede wird die Schärfe etwas genommen. Das hilft ihnen, die Ermahnung leichter anzunehmen. Danach folgt mit Röm 14,13b–15,4 ein zweiter Abschnitt – ebenfalls im Wir-Stil –, der an die Essenden gerichtet ist und mit der zweiten Frage in Vers 10b korrespondiert. Der jeweilige Adressatenwechsel wird nicht mit Worten gekennzeichnet. Die Performanz wird den Wechsel durch Blickrichtung und körperliche Zuwendung ausgedrückt haben. Der Inhalt des ersten Abschnitts ist ein Hinweis auf die Lehre vom Endgericht, wo jeder für sich selbst vor dem Richter geradestehen muss (diese eschatologische Perspektive fand sich schon in Vers 3c–4). Menschliches Richten hat keine Berechtigung (vgl. 1 Kor 4,5). Die Entscheidung, ob jemand zum Heil angenommen wird oder nicht, muss Gott überlassen bleiben. Offenbar haben einige Christen in Rom ihren Mitchristen wegen Essensfragen die Hoffnung auf die Annahme bei Gott bestritten. Indem Paulus dieses Richten kritisiert, ermahnt er die eine Gruppe und stellt sich zugleich auf die Seite der anderen. Verstärkt wird das Argument des Paulus durch ein verkürztes Schriftzitat aus Jes 45,23: „So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.“ Diese Schriftstelle gehört zum ältesten Bestand der urgemeindlichen Schriftauslegung und dient dazu, Jesus als Weltenrichter zu bekennen, wie es das urgemeind-

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

liche Christuslied in Phil 2,6–11 zeigt. Paulus greift also auf von allen anerkanntes Glaubensgut zurück. Zusätzlich ist die Jesajastelle interessant, weil im Zusammenhang von Jes 45 auch die Heiden zum Heil Israels eingeladen sind (V. 20 und 22). Das Zitat mit der knappen Formulierung evmoi. ka,myei pa/n go,nu kai. pa/sa glw/ ssa evxomologh,setai ist also ein formelhafter Rückgriff auf bekannte Tradition, die viel komplexer ist als die ausgesprochenen Worte erkennen lassen (pars pro toto) – nach Foley ein typisches Merkmal mündlicher Performanz. 70 Für die Hörer der Performanz darf man voraussetzen, dass sie in dieser Tradition zu Hause sind und ihnen der Zusammenhang der zitierten Stelle bekannt war. Damit klingt mit diesem Zitat das implizite Thema der Spannungen in Rom schon an: das Verhältnis von Juden und Heiden, das in 15,8–12 explizit wird und das Paulus bereits den ganzen Römerbrief hindurch beschäftigte. Vers 12 schließt mit einer Sentenz, die hier als allgemeine Wahrheit den Abstinenten entgegengehalten wird: „Jeder von uns gibt für sich selbst Rechenschaft.“ Römer 14,13 In einer kaum merkbaren Weise 71 und unter Verwendung eines geschickten Wortspiels 72 mit der Bedeutung des Wortes kri,nein schafft Paulus in Vers 13 eine Überleitung von einer zur anderen Gruppe. Die Ermahnung in Vers 13a, nicht zu richten, schließt das Thema von Vers 10c–12 ab, das den Abstinenten gesagt wurde. Aber der Wir-Stil (kri,nwmen) und vor allem das avllh,louj sorgen dafür, dass nun nicht mehr die Abstinenten allein angeredet sind, sondern die Essenden einbezogen werden. 73 Umgekehrt greift Paulus in Vers 13b noch einmal auf das Verb kri,nein zurück, das zum bisher dominierenden Wortfeld gehört, aber er verwendet es in veränderter Bedeutung und Funktion: Es wird zu einem einleitenden Imperativ (kri,nate) für den folgenden Abschnitt, der das typische Fehlverhalten der Essenden beschreibt: „dem Bruder Anstoß geben oder Ärgernis“ (tiqe,nai pro,skomma tw|/ avdelfw|/ h; ska,ndalon). Mit Vers 13c wendet sich Paulus also den Essenden zu.74 Es entspricht guter Rhetorik, Überleitungen möglichst fließend und ohne harte Brüche zu vollziehen. 75 Dieses geschickte und allmähliche Abwenden von der einen Gruppe und Hinwenden zur anderen wird besonders 70

Foley 1997, 63. Die Überleitungsfunktion von V. 13 zu einem neuen Abschnitt ist entsprechend oft übersehen worden. Vgl. aber Schmithals 1988, 494. 72 Vgl. Godet 1882, 273; Byrne 1996, 415; Moo 1996, 851. 73 Vgl. Stuhlmacher 1989, 201. 74 Vgl. Schmithals 1988, 503. 75 Classen 1991, 31. 71

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plastisch, wenn man sich vergegenwärtigt, dass unter den Hörern Vertreter beider Gruppen gleichzeitig anwesend sind und der Sprecher Vers 13b spricht, während er sich körperlich der Gruppe der Essenden zuwendet. Römer 14,14 Mit den folgenden Ausführungen, die an die Essenden gerichtet sind (Röm 14,14–15,4), greift Paulus die zweite Zeile von Vers 10 auf und begründet ausführlich, warum ihr Verhalten unangemessen ist. Er beginnt damit, dass er ihnen grundsätzlich recht gibt (V. 14a, ebenso V. 20.22). 76 Sie werden ihm lebhaft zugestimmt haben. Durch diese Aussagen signalisiert Paulus zuerst einmal Verständnis und Zustimmung für die, die er ermahnen will. Damit macht er sie bereit, ihm zuzuhören. Es fällt auf, dass er eine solche captatio benevolentiae bei der Ermahnung an die Abstinenten nicht bringt. Außerdem fällt auf, dass der Abschnitt für die Essenden viel umfangreicher ist als der für die Abstinenten. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Von den Essenden erwartet Paulus mehr. Sie sollen nicht nur ihre Einstellung zum Bruder ändern (nicht mehr richten, nicht mehr verurteilen), sondern sie sollen auch ihr Handeln ändern und auf die fragliche Speise verzichten. Wie mussten es die Abstinenten aufnehmen, dass Paulus nun auch expressis verbis und betont (oi=da kai. pe,špeismai) der Auffassung der Essenden zustimmt? Hat er nicht damit seine Objektivität aufgegeben, die ihm bisher die Aufmerksamkeit beider Parteien gesichert hat? Mit Blick auf die Abstinenten fügt Paulus hinzu: Dem, der etwas für unrein hält, ist es unrein (V. 14b). Diese Aussage gesteht den Abstinenten ein Recht zu, nach ihrer Auffassung zu leben. In Vers 20 wiederholt er: „Es ist zwar alles rein, aber böse ist es dem Menschen, der durch Anstoß [seiner Brüder] isst.“ Und in Vers 23 bezeichnet er es sogar als Sünde, wenn die Abstinenten gegen ihre Überzeugung Fleisch essen würden. In gewisser Weise gibt Paulus also beiden Gruppen recht, 77 zumindest sorgt er dafür, dass seine Zustimmung zu den Essenden nicht zu einer Abwertung der Abstinenten führt, sondern für die Essenden zum Vorbild wird, ihrerseits den Abstinenten Verständnis entgegenzubringen. Römer 14,15–19 Nachdem die Performanz den Blick der Zuhörer immer wieder in positiver Weise auf die jeweils andere Gruppe gelenkt hat, greift Paulus in Vers 15 76

Er deutet durch das Wort koino,j an, worum es in der Essensfrage ging: wohl um jüdische Vorschriften über Reinheit von Speisen oder um Götzenopferfleisch wie in 1 Kor 8–10. 77 Vgl. Minear 1971, 19.

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

in seiner Ermahnung an die Essenden das Stichwort „Bruder“ aus Vers 10 auf und erwartet ein peripatei/n kata. avga,phn. Die Liebe ist der größere Wert gegenüber dem Wissen um Reinheit oder Unreinheit von Speisen. 78 Anknüpfend an eine alte Bekenntnisformulierung (1 Kor 15,3: Cristo.j avpe,qanen u`pe.r ktl)), also an Traditionsgut, das so typisch ist für mündlichen Diskurs, fasst Paulus den Wert des Bruders in der Formel zusammen: u`pe.r ou- Cristo.j avpe,qanen. Diese Formel lässt für die christlichen Hörer die umfassende Heilstat des Christus vor Augen stehen, an der sich dann die weitere Argumentation orientieren wird (15,3–9). Ein weiteres Argument ist die in Vers 16 durch den Streit befürchtete Verlästerung „des Guten“. Die Streitenden kommen auch öffentlich in Verruf. 79 Vers 18 bringt denselben Gedanken positiv gewendet: Wenn ein gutes Miteinander gelingt, werden die römischen Christen Anerkennung bei Gott und Menschen – auch bei den Ungläubigen – finden. 80 Dass dieses Argument in dem Abschnitt vorgetragen wird, der sich an die Essenden wendet, deutet darauf hin, dass diese Gruppe sozial höher gestellt ist, mehr im Licht der Öffentlichkeit lebt und deshalb mehr auf öffentliche Anerkennung bedacht ist. Vers 17 bringt eine Sentenz, im antithetischen Parallelismus formuliert. A ouv ga,r evstin h` basilei,a tou/ qeou/ brw/ sij kai. po,sij B avlla. dikaiosu,nh kai. eivrh,nh kai. cara. evn pneu,mati a`gi,w)| A Denn die Herrschaft Gottes ist nicht Essen und Trinken, B sondern Gerechtigkeit und Frieden und Freude im Heiligen Geist.

Chiastisch bilden die auf Gott verweisenden Begriffe die Außenglieder der Formulierung (h` basilei,a tou/ qeou/ und evn pneu,mati a`gi,w)| , das menschliche Tun die Innenglieder (brw/ sij kai. po,sij und dikaiosu,nh kai. eivrh,nh kai. cara.). Die Aufzählungen signalisieren das Umfassende der Aussage. Solche sprichwortartigen Sätze spielen im mündlichen Diskurs eine große Rolle und haben bei den Zuhörern große Überzeugungskraft. Der Sprecher drückt ein Werturteil in einer Form aus, die für das Gesagte allgemeine Gültigkeit postuliert – sozusagen die seit langem anerkannte Weisheit der jeweiligen Gesellschaft oder Gruppe.81 Die Zuhörer fühlen sich einerseits einbezogen in die Urteile, weil die traditionelle Weisheit auch ihre Weisheit ist, sie sind andererseits eingeladen, sich die so verdichtet ausge78

Vgl. die Argumentation in 1 Kor 8,1, wo ebenfalls das Wissen der Liebe gegenübergestellt wird. 79 Schmithals 1988, 505; anders Moo 1996, 855: Die Freiheit der Essenden kommt bei den Abstinenten in Verruf. 80 Michel 1955, 308 und Wilckens 1982, 92 deuten das Verlästern im Sinne von 1 Kor 10,30 als negatives Reden der „schwachen“ Gemeindeglieder, nicht der Außenstehenden. 81 Foley 2002, 125: “True proverbs … are the instructional medium par excellence of oral tradition.” Vgl. Ong 1987, 40–41.

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drückte Weisheit anzueignen, indem sie die Sentenz wiederholen, die ja in einer für das Gedächtnis geeigneten Weise formuliert ist. Tatsächlich kam es nicht selten vor, dass das Publikum markante Sätze des Redners laut wiederholte.82 Die allgemeine Formulierung solcher Sentenzen in der Argumentation des Paulus darf nicht dazu verleiten, sie als an alle Hörer gerichtet zu denken, als ob Paulus hier die Anrede an die Essenden aufgäbe. Das würde die Funktion der Sentenzen verkennen: Sie wirken gerade dadurch, dass sie eine allgemeine Wahrheit auf einen konkreten Fall anwenden – der den Hörern natürlich bekannt ist und nicht genannt werden muss – und ihn so entscheiden. 83 Eine auf alle Anwesenden ausgedehnte Gültigkeit einer Sentenz würde ihre Wirkung im Diskurs abschwächen. Bei dikaiosu,nh kai. eivrh,nh kai. cara, handelt es sich um Beziehungsbegriffe.84 Wie Paulus bereits in Vers 3–9 die Beziehung zum Herrn als entscheidend herausgestellt hat, so kommt es nun auf die Beziehung zum Bruder an. Zugunsten eines größeren Gutes, nämlich der Beziehung zum Herrn und zum Bruder, wird die umstrittene Frage abgewertet.85 Vers 19 schließt vorläufig ab durch eine Aufforderung, die formal Vers 13a, dem Ende des vorigen Abschnitts, entspricht (Wir-Stil, adhortativer Konjunktiv) und das positive Gegenstück darstellt zu dem, was in Vers 13c abgelehnt wird: statt pro,skomma tw/| avdelfw/| h; ska,ndalon jetzt eivrh,nh kai. oivkodomh. eivj avllh,louj.86 Die Ermahnungen an die Essenden werden die Abstinenten gern gehört haben. Allerdings sind die Aussagen in den Versen 17 bis 19 so allgemein formuliert, dass sie auch auf sie angewendet werden könnten. Selbstsicherheit ist nicht angebracht (vgl. Gal 6,1). Römer 14,20–23 Paulus hat in Vers 15–19 sehr allgemeine Begriffe gebraucht (Liebe, Gerechtigkeit, Friede, Gott wohlgefällig und bei Menschen angesehen). In einem zweiten Teil seiner Ermahnung an die Essenden (Röm 14,20–15,4) wird er konkret. Während Paulus sonst zu Einstellungen auffordert (nicht richten, nicht verachten, gegenseitige Akzeptanz), verlangt er hier Taten (nicht essen). Nur hier gegenüber den Essenden wird Paulus so konkret. 82

Korenjak 2000, 132; vgl. auch Apg 19,34. Ong 1987, 41. 84 Smit 2007 hat gezeigt, dass sie das ideale Symposium beschreiben können. 85 V. 16: u`mw/ n to. avgaqo,n. Das Gute ist die basilei,…a tou/ qeou/, die in der Beziehung zum Herrn und damit auch zum Bruder besteht. Vgl. Michel 1955, 308: „Um des geringfügigen ‚Essens‘ willen …“ 86 Alte Textzeugen lesen den Indikativ diw, komen. Stuhlmacher 1989, 201 entscheidet sich für den Indikativ und nimmt V. 19 als Beginn des folgenden Teils V. 19–23. 83

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

Dazu setzt Paulus noch einmal neu ein. Viele Elemente der Argumentation werden wiederholt: der Imperativ (V. 15b; V. 20a), die Abwertung des Streitgegenstandes zugunsten größerer Werte, nämlich des Werkes Gottes (V. 17; V. 20), die sachliche Zustimmung zur Auffassung der Essenden (V. 14a; V. 20b), das Zugeständnis an das relative Recht der Abstinenten (V. 14b; V. 20c) und der Vorteil des empfohlenen Handelns (V. 18; V. 21: kalo,n). Neu ist die Aufforderung zum Verzicht. Es genügt Paulus nicht, dass die Essenden aufhören, die Abstinenten zu verachten. Er erwartet, dass sie um der Brüder willen auf das eigentlich Erlaubte verzichten. Er erhebt das zum allgemeinen Grundsatz, indem er ein neues Beispiel einführt, das Weintrinken, und andeutet, dass es noch anderes geben kann (V. 21: mhde. evn w]| o` avdelfo,j sou prosko,ptei). Wahrscheinlich war auch die Frage, ob Wein erlaubt sei, kein akutes Problem in Rom, 87 denn sie wird nur hier kurz erwähnt. Wie in Vers 5 verallgemeinert Paulus, um die Grundsätzlichkeit seiner Antwort zu verdeutlichen und die römischen Christen zu veranlassen, ihren Streit in einem größeren Rahmen zu sehen. 88 Die Performanz auch dieses Abschnitts bewirkt einen positiven Blick der Angesprochenen, der Essenden, auf die andere Gruppe, die Abstinenten. Es wäre Sünde, wenn sie gegen ihren Glauben essen, was sie für verboten halten. 89 Die Problematik der Abstinenten wird verständlich gemacht: Ihr Zweifel wird ihnen zum Verhängnis, wenn sie zum Essen der umstrittenen Fleischspeise genötigt werden. Damit wird die Auffassung der Abstinenten in der Sicht der Essenden aufgewertet. Die Seligpreisung für den, der zur Gewissheit gefunden hat, erweckt Mitgefühl des Essenden für den innerlich Zweifelnden. 90 Es handelt sich hier also um eine emotionale Beeinflussung, wie wir sie schon in der Bezeichnung „Schwacher“ gefunden haben. 91 87

Vgl. Schmithals 1988, 490; Gäckle 2005, 404, 419; vorsichtig Wilckens 1982, 110; anders Stuhlmacher 1989, 195. 88 Sampley 1995, 49. 89 V. 23. Dieser Vers schließt mit einer Sentenz: pa/n de. o] ouvk evk pi,stewj a`marti,a evsti,n. Diese umfassende Aussage hat Fragen nach ihrer Gültigkeit aufgeworfen. Das aber ist typisch für Sentenzen, dass sie eine gültige Wahrheit umfassend ausdrücken, ohne anzudeuten, dass es Sentenzen gibt, die eine gegenteilige Wahrheit formulieren, wie man an vielen mündlich tradierten Sprichwörtern sehen kann. Auch die hier gebrauchte Sentenz entfaltet ihre Kraft in der Wechselwirkung mit der konkreten Anwendung. Moo 1996, 864 betont mit Recht, dass diese Sentenz den Essenden entgegengehalten wird, durch die die Abstinenten veranlasst werden, nicht aus Glauben, sondern aus sozialem Druck zu handeln. 90 Schmidt 1962, 235. 91 Einen möglichen Einwand der Essenden – vgl. Nygren 1951, 319 – nimmt Paulus auf in V. 22a (zur Lesart ohne h[n siehe Schmidt 1962, 235): Welchen Sinn hat der Glaube, wenn er nicht gelebt werden darf? Die Antwort des Paulus könnte so gemeint sein, dass jeder in seinem eigenen Haus frei ist, nach seiner Überzeugung zu leben, in der

3.1 Streit um die Speise in Rom (Römer 14,1–15,13)

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Römer 15,1 Es folgt ein Appell an die Stärke der Essenden. Sie sind die dunatoi,. Das ist ein starker Anreiz, das Geforderte zu tun. Wie schon oben angedeutet, geht es mit dieser Bezeichnung nicht darum, die av¢du,natoi gering zu schätzen. Es ist die selbstlose Überlegenheit des Erwachsenen über das Kind, des Lehrers über den Schüler, des Gesunden über den Kranken mit seinen Schwachheiten (avsqenh,mata), die hier eingefordert ist (Anklang an Jes 53,4). Diese Überlegenheit verpflichtet und ist zugleich ehrenvoll. 92 Stärke wird missbraucht, wenn sie nur zum eigenen Vorteil gebraucht wird; sie verpflichtet, sich für den Nächsten einzusetzen (V. 1b–2). 93 Zugleich gibt Paulus durch den Wir-Stil wieder ein Signal der Zusammengehörigkeit mit den Angeredeten. „Pls tritt selbst in die Reihen der ‚Starken‘ und hilft ihnen, den schweren Weg des Verzichtes und der Liebe zu gehen.“94 Römer 15,2–4 Vers 2 wendet sich mit einer Grundregel zwar weiter an die Essenden, jedoch wie in 14,19 in so allgemeiner Form (e[kastoj), dass sich die Gegenpartei mit angesprochen fühlen kann. Es folgt der Hinweis auf das Vorbild Christi, der von allen anerkannten Autorität. Auch er hat nicht seinen Vorteil gesucht. Schließlich folgt – wie in der Ermahnung für die Abstinenten in 14,11 – ein Schriftzitat. Das aus Psalm 69,10 zitierte Wort gehört wie das Schriftzitat aus Jesaja 45,23 zum Repertoire der urchristlichen christologischen Schriftdeutung und zeigt Jesus als den Gerechten, der stellvertretend die Schmähungen trägt, die eigentlich Gott zugedacht waren. 95 Wieder müssen wir annehmen, dass dieses Zitat für die Hörer metonymisch einen ganzen Traditionshorizont mitbringt. So sollen die dunatoi, in Rom fremde Lasten tragen. Gemeindeversammlung jedoch Rücksicht nehmen muss, so Stuhlmacher 1989, 203. Die Formulierung des Paulus entspricht aber dem, was er in V. 4 und 12 den Abstinenten gesagt hat: Jeder steht für sich selbst vor seinem Herrn. Keiner darf die eigene Überzeugung bei anderen durchzusetzen versuchen. 92 Paulus weiß, dass diese Überlegenheit auch zu falschem Ruhm missbraucht werden kann. Vgl. Gal 6,1, wo Paulus ebenfalls an die Stärke der Gemeindeglieder appelliert, aber in einem Nachsatz vor selbstsicherer Überheblichkeit warnt und sich im ganzen Abschnitt gegen kenodoxi,a wendet. 93 Zum Verpflichtungsgedanken in Rom 15,1 vgl. Jewett 2007, 876; zur Verpflichtung in Rom 14–15 vgl. Reasoner 1999, 187–199. 94 Michel 1955, 316. 95 Ps 69 ist als Muster des leidenden Gerechten zur Deutung des Leidens Jesu herangezogen worden, vgl. Mt 27,34; Hebr 11,26. Dazu gehört auch das Tempelwort in Ps 69,10, auf das Joh 2,17 hinweist.

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

Vers 4 verstärkt das Schriftzitat mit einem Hinweis darauf, dass die Schrift die Hoffnung stärkt. Es ist wohl die Hoffnung auf die eschatologische Befreiung von allen Lasten gemeint. Damit zeigt Paulus, dass der Verzicht auf die eigene Freiheit nicht ein zeitweiliges Mittel ist, solange bis die Abstinenten ihre Auffassung geändert haben, sondern eine Lebenshaltung. Die eschatologische Hoffnung (wie schon in 14,4.10–12) wird also zum Argument.96 Damit greift Paulus voraus auf einen Gedanken, der in Vers 8–12 zum Tragen kommt: die eschatologische Erwartung des gemeinsamen Gotteslobes der Gläubigen aus Juden und Heiden. Römer 15,5–6 und 13 Der Schlussteil 15,5–13 beginnt und endet mit allgemeingültigen Aussagen, die für beide Gruppen gelten – ähnlich wie der Abschluss des ersten Teils in Röm 14,7–9. Paulus erbittet von Gott und fordert die römischen Christen zu dem auf, was sein Anliegen im gesamten Abschnitt ist: Eintracht und gegenseitige Annahme (V. 5.7), Freude und Frieden (V. 13, vgl. Röm 14,17). Die Formulierungen sind besonders wohlklingend: V. 6:

i[na o`moqumado.n evn e`ni. sto,mati doxa,zhte to.n qeo.n – Assonanz mit dem Vokal o. Schlussformel: to.n qeo.n kai. pate,ra tou/ kuri,ou h`mw/ n VIhsou/ Cristou/.97 V. 13: o` de. qeo.j th/j evlpi,doj – Rhythmus und Endreim. plhrw, sai u`ma/j pa,shj cara/j kai. eivrh,nhj – Assonanz des Vokals a im Wechsel mit langem e. evn tw/| pisteu,ein( eivj to. perisseu,ein – Rhythmus und Endreim. Schlussformel: evn duna,mei pneu,matoj a`gi,ou.

Die Gebetswünsche am Anfang und am Schluss dieses Abschnitts sind rhetorisches Mittel, die römischen Christen zum gewünschten Handeln zu bewegen. Sie zeigen, dass Frieden eigentlich nur durch Gott möglich ist. Wenn sich die Christen in Rom auf den Appell des Paulus einlassen, stellen sie sich in ein göttliches Werk hinein. Die Briefempfänger sollen wissen, dass sie nicht den Willen des Paulus erfüllen, wenn sie tun, was er schreibt, sondern Gottes Willen. Die beiden Gebete sind also wie die Schriftzitate auch ein Autoritätsargument: Sie erschweren es den Ermahnten, sich gegen das Vorgetragene aufzulehnen. Paulus nimmt sich – und den, der den Brief vorträgt – rhetorisch „aus der Angriffslinie“. Sich gegen Paulus zu entscheiden wäre viel einfacher, als sich gegen Gott selbst bzw. die Schrift zu wenden. Zugleich bilden die Gebetswünsche einen hymnisch-liturgischen Abschluss98 des ganzen Abschnitts 14,1–15,13. Damit beendet Paulus den 96

Schmidt 1962, 238; Käsemann 1974, 370. Vgl. Jewett 2007, 875. 98 Michel 1955, 320. 97

3.1 Streit um die Speise in Rom (Römer 14,1–15,13)

167

Abschnitt mit pa,qoj, wie er das öfter im Römerbrief tut (z. B. 8,32–39; 11,33–36; 15,33). Römer 15,7 Eingerahmt in die Gebetswünsche stehen drei Gedanken: erstens die zusammenfassende Aufforderung der gegenseitigen Annahme, diesmal an beide Gruppen gemeinsam gerichtet (V.7: avllh,louj)99 und mit dem Ziel der do,xa tou/ qeou/ begründet, zweitens einander parallele Aussagen über das, was Gott in Christus an Juden und Heiden getan hat (V. 8–9a) und drittens eine Reihe von Schriftzitaten (V. 9b–12). Dass Paulus mit diesen Aussagen zum Abschluss seiner Argumentation kommt, ist vielfältig erkennbar: Da ist der Rückgriff auf den Anfang des Abschnitts durch proslamba,nesqe, dann der Rückgriff auf das mehrfach angesprochene Vorbild Christi, außerdem der Rückgriff auf das doxa,zein in Vers 6 und die Tatsache, dass die beiden Gruppen zusammen angeredet werden. Römer 15,8–9a Paulus setzt ein mit le,gw ga.r. Bereits in 14,14 hat Paulus seine Überzeugung sehr nachdrücklich in der ersten Person Singular formuliert: oi=da kai. pe,peismai evn kuri,w| VIhsou/. Hier aber wird die Sprache selbstreferentiell, das heißt, das Verb drückt das aus, was der Sprecher tut (was Austin „performative Sprache“ nannte). Mit dieser Formulierung wird die mediale Seite der Performanz ins Bewusstsein des Publikums gehoben, denn der Vortragende wird als Handelnder sichtbar. Er ist es zunächst, der mit seiner nur ihm eigenen Stimme, mit der Kraft seines Atems und vor den leiblich anwesenden Zuschauern tut, was er sagt: le,g w. Damit haben die Zuschauer zwei Optionen. Sie können ihre Aufmerksamkeit weiter auf den referentiellen Inhalt des Gesagten richten und gleichsam Paulus reden hören. Oder sie nehmen wahr, dass vor ihnen ein anderer spricht, nicht der, der das le,gw ga.r ursprünglich – beim Diktieren des Briefes – ausgesprochen hat. Je größer die Unterschiede sind zwischen dem Vortragenden und dem Briefverfasser, wie ihn sich die römischen Zuhörer vorstellen oder wie ihn einige kennen (z. B. Präsenz und Kraft der Persönlichkeit, Autorität durch Aussehen, Stimme, Alter usw.), desto wahrscheinlicher ist, dass die Materialität der Performanz (Fischer-Lichte) erlebt wird. Das hat einerseits zur Folge, dass Paulus nicht mehr von dem Vortragenden restlos verkörpert wird, sondern als Absender des Briefes gleichsam hinter ihm 99

Heil 1994, 265; anders Byrne 1996, 428–429; auch Thorsteinsson 2003, 119 sieht in Röm 15,7 nur Heidenchristen angesprochen. Für ihn sind die von Paulus implizierten Empfänger des Römerbriefs Heidenchristen. Die Juden werden nur als Hintergrund erwähnt.

168

Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

hervortritt und als eigene Persönlichkeit ins Bewusstsein kommt. Auch wenn ihn viele in Rom nicht kennen, verschafft er sich doch durch diese performative Sprache eine eigene Wirklichkeit in der Vorstellung der Hörer. Andererseits erleben die Zuhörer ihre eigene Präsenz und Rolle in der Performanz und werden veranlasst, den Auftritt des Vortragenden nach seiner Qualität zu beurteilen. In Vers 8–9a findet sich wieder ein Parallelismus, wie er schon für den ganzen Abschnitt charakteristisch war. Die Parallelität ist jedoch nicht genau durchgeführt.100 In der ersten Zeile, in der es um die Juden geht (V. 8), lässt Paulus den Gedanken weg, dass Gottes Taten an den Juden zum Gotteslob führen sollen. Dieser Gedanke wird in den beiden Versen vorher ausgesprochen und zunächst nicht wiederholt. In der zweiten Zeile, wo es um die Heiden geht (V. 9), wird wieder das Lob Gottes erwähnt, dafür aber die Voraussetzung für das Lob weggelassen, nämlich dass Christus auch ein Diener der Heiden geworden ist. 101 Paulus setzt voraus, dass seine Hörer die ausgelassenen Gedanken aus dem Kontext erschließen. Diese beiden Verse sind in einer sehr distanzierten Weise formuliert. An wen wenden sie sich? Vers 8 spricht über Gottes Heilszuwendung an die Juden. Wie Paulus bisher jeweils, wenn er eine Gruppe ansprach, positiv über die andere sprach, so wird diese Aussage an die Heiden gerichtet sein, um ihnen zu helfen, die Juden hoch zu schätzen (vgl. Röm 11,13–24). Umgekehrt wird Vers 9 an die Juden gerichtet sein, um ihnen die Annahme der Heiden nahezulegen. Das Gotteslob soll gemeinsam geschehen, und zwar in der Weise, dass jede Gruppe „einen bestimmten Anlass und Anteil am liturgischen Dienst der Gemeinde“ hat.102 Die Fülle des Gotteslobes ist also nur gemeinsam möglich.

100

Zur Diskussion der syntaktischen Schwierigkeiten vgl. Wagner 1997; Lambrecht

2000. 101

Mit Wilckens 1982, 106 verstehe ich V. 9a abhängig von le,gw ga.r und parallel zu V. 8. So auch z. B. Saß 1993, 516; Byrne 1996, 431; Haacker 1999, 297; Lambrecht 2000, 259–260; Gäckle 2005, 428–429; anders Schmidt 1962, 240; Käsemann 1974, 372; Keck 1990; Moo 1996, 876–877. Lohse 2003, 387 schlägt vor, ta. de. e;qnh neben u`ma/j als zweiten Akkusativ an o` Cristo.j prosela,beto in V. 7b anzufügen. Dadurch würde aber über die Heiden gesprochen, als wären sie im Gegensatz zu „euch“ nicht anwesend. Eine andere Deutung der Satzkonstruktion bietet Wagner 1997, bei der aber Christus das Subjekt des Lobens in V. 9 ist, nicht die Heiden. Ein einmütiges Gotteslob, wie es V. 6 erbittet und im Zitat in V. 10 erscheint, auch ein Loben der Heiden, wie es in V. 11–12 ausgesprochen wird, wäre dann in V. 8–9 nicht im Blick. 102 Michel 1955, 322.

3.1 Streit um die Speise in Rom (Römer 14,1–15,13)

169

Römer 15,9b–12 Es folgt eine Reihe von Schriftzitaten. Die Texte sprechen alle von den Heiden und drücken alle in einem Verb das Lob Gottes aus (ya, llein( evxomologei/sqai( euvfrai,nesqai( a„ivnei/n( evpainei/n( evlpi,zein). Sie ergänzen damit die zweite Zeile des Parallelismus (V. 9a) und heben sie gegenüber der ersten deutlich hervor. Diese Zitate haben den Sinn, die Barmherzigkeit Gottes für die Heiden durch die anerkannte Autorität der Schrift (Tora, Propheten und Schriften) zu begründen. Wem von den Lesern gilt dieses Argument? Zwar haben auch die Heidenchristen die Schrift als Autorität anerkannt und waren durch gottesdienstliche Lesung mit ihr vertraut, zumal viele von ihnen aus den Gottesfürchtigen oder aus dem Umfeld der jüdischen Synagoge zur christlichen Gemeinde gekommen waren. 103 Für Heidenchristen konnten die Schriftzitate den Sinn haben, sie in ihrer Annahme durch Gott zu vergewissern. Jedoch geht es im Kontext von Röm 14,1–15,13 nicht darum, das eigene Angenommensein bei Gott zu begründen, sondern zur Annahme der jeweils anderen Gruppe aufzurufen. So unterstreichen die Schriftzitate zusammen mit Vers 9 die Aufforderung an die Juden: Wie Gott die Heiden angenommen hat und dies in der ganzen Schrift ausgesprochen ist, so sollen auch die Juden ihre Mitchristen aus den Heiden annehmen. 104 Allerdings wird im zweiten Zitat aus Gen 32,43 das Lob der Heiden inmitten Israels verheißen, so dass dieses Zitat in besonderer Weise die Zusammengehörigkeit von Juden und Heiden unterstreicht. Die Zitate haben eine eschatologische Pointe: Sie geben das heilsgeschichtliche Ziel an, das Gott verfolgt. 105 Alle Völker sollen gemeinsam Gott loben. Die do,xa Gottes ist das Ziel, wie schon durchweg im Römerbrief (Röm 1,23; 3,23; 5,2; 8,18.21; 9,23).106 Die römischen Christen können sich selbst im Licht dieses Ziels sehen, dadurch ihre Aufgabe – die gegenseitige Annahme – erkennen und das Ziel durch ihr Leben zu verwirklichen helfen. 107 Sowohl die Gebetswünsche als auch die Schriftzitate im letzten Abschnitt setzen eine gesteigerte, hymnische Sprache des Vortragenden voraus. Alle Zuhörer gemeinsam werden am Ende des Abschnitts in das Gotteslob und das Gebet hineingenommen. So wird im Vortrag des Briefes verwirklicht, was inhaltlich gesagt und gefordert wird. Die Sprache ist performativ, indem sie auf sich selbst verweist, also das tut, was sie sagt. 103 104

Stuhlmacher 1986, 188. Vgl. Moiser 1990, 579; als an die ganze Gemeinde gerichtet Wilckens 1982, 104–

105. 105

Wilckens 1982, 104. Vgl. Käsemann 1974, 88–89. 107 Crafton 1990, 337. 106

170

Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

3.1.4 Zusammenfassung Durch die gesamte Performanz des untersuchten Abschnitts zieht sich die Strategie, abwechselnd in der Gegenwart der einen Gruppe die andere anzusprechen und sie zu einem positiven Blick auf die jeweils andere Gruppe zu ermutigen, was sich im sprachlichen Parallelismus dokumentiert. Der Sprecher solidarisiert sich jeweils mit der Gruppe, die er gerade nicht anspricht. Die direkte Ansprache an die jeweilige Gruppe ist ein Tadel, eine Aufforderung, das indirekte Sprechen über die jeweils andere Gruppe ist eine Wertschätzung, ein Mit-ihnen-sein (14,14 und 14,20.23). Dass sich Paulus im Brief abwechselnd der einen und der anderen Gruppe zuwendet, ist eine zur mündlichen Mitteilung gehörende Form und setzt die mündliche Performanz voraus. Paulus schreibt so, wie er predigen würde, wenn er anwesend wäre.108 Zunächst ist es natürlich, dass sich eine Seite bestätigt und in Schutz genommen fühlt, wenn die andere kritisiert wird. Das geschieht zum Beispiel durch die mit negativen Konnotationen behafteten Stichworte kri,nein und evxouqenei/n (14,3 und 10). Dann aber wird jeder Partei gezeigt, dass die andere wertvoll ist. „Statt auf die Seite der einen Partei gegen die andere zu treten, verteidigt Paulus sie abwechselnd gegen die wechselseitigen Angriffe.“109 Er nimmt die jeweils andere Seite in Schutz (14,3.6), weckt Verständnis für die relative Berechtigung der jeweils anderen Position (14,20b.23), verweist auf die bereits erfolgte Annahme durch Christus (14,3c.4c) oder auf das eschatologische Ziel Gottes (15,9–12) und spricht davon, dass der andere durch Christus „Bruder“ ist (14,10.13.15). Die parallelen Abschnitte sind nicht immer ganz symmetrisch. 110 Röm 14,3c–4 ist Ergänzung von Vers 3b, so dass die Abstinenten schärfer kritisiert werden als die Essenden. Ebenfalls unsymmetrisch ist der Parallelismus in 15,8–12 dadurch, dass Paulus an die Adresse der Abstinenten eine Reihe von Schriftzitaten anfügt, die die Tat Gottes für die Heiden begründet, während ein Zitat für die Tat Gottes zugunsten der Juden fehlt (im Gegensatz zu Röm 3,3– 4 [Ps 51,6]; Röm 11,29 [Dtn 23,19]). Diese Asymmetrien zuungunsten der Abstinenten – Paulus ermahnt sie nachdrücklicher, distanziert sich deutlich von ihrer Auffassung – wird dadurch relativiert, dass die Ermahnung an die Essenden (14,13b–15,4) weitaus umfangreicher ausfällt als die an die Abstinenten (14,10c–13a). Zwar 108

Weiss 1897, 166; Bultmann 1984, 3, 72, 74; Jervell 1971, 71. Nygren 1951, 316; vgl. Gestrich 1997, 500: Versöhnung, „diese katallagh, eint und befriedet das sich feindlich Gegenüberstehende in der Art und Weise, daß keines durch das vermittelnde Versöhnungsgeschehen sich selbst verliert“ (Hervorhebung im Original). 110 Nur formal unsymmetrisch ist Röm 14,6, weil hier ein Glied ausgelassen ist. Ebenfalls elliptisch ist Röm 15,8–9. 109

3.2 Stiften von Freundschaft (Platon, 6. Brief)

171

erhalten die Essenden deutliche Signale des Einverständnisses und der Anerkennung ihrer Stärke – auch das ist eine Asymmetrie zuungunsten der Abstinenten. Aber den Essenden gegenüber wird Paulus so konkret, dass er verlangt, auf die eigentlich erlaubte Speise zu verzichten, um dem Bruder keinen Anstoß zu geben. Von denen, deren Auffassung er teilt, erwartet er weitaus mehr als von den anderen. Der der im Abschnitt häufig gebrauchte Parallelismus ist geeignet, die Gegensätze zu relativieren, weil zum Ausdruck kommt, dass die gegensätzlichen Überzeugungen zusammengeschaut werden können. Parallelismus ist ja eine sprachliche Strategie, die Gegensätze eng nebeneinander stellt und einen gemeinsamen Blick auf sie ermöglicht. Obwohl sich der Sprecher im Verlauf des Vortrags durch den Gebrauch der ersten Person Plural abwechselnd mit der jeweils angesprochenen Gruppe zusammenschließt, ja sogar seine inhaltliche Positionierung auf der Seite der Essenden erkennbar macht (14,14.20), bewahrt er doch durch die komplexe parallele Gestaltung des Textes eine gewisse Ausgewogenheit. Der Sprecher behält eine Position der Distanz und Überlegenheit, die es ihm ermöglicht, auf beide Seiten einzuwirken. 111 Die Zuhörer werden zur Identifikation mit dem Sprecher eingeladen, sie sollen seine Position, sein Ethos übernehmen. Sie sollen den Streit aus einer neutralen Position, gewissermaßen mit Abstand betrachten. Das ist ihnen bisher kaum möglich gewesen, weil es in ihren Augen nur ein Entweder-Oder gab. Die Performanz eröffnet einen neuen, distanzierteren Blick auf die Auseinandersetzung und kann dadurch helfen, das Miteinander zu verbessern. Die Wirkung des Briefvortrags ist also, dass eine Interaktion zwischen den Gruppen ausgelöst wird. Dadurch wird während der Performanz das Verhältnis beider Gruppen zueinander zum Positiven verändert. Immer wieder und zum Ende des Abschnitts in zunehmendem Maß werden die antithetischen Parallelen mit einer abschließenden Aussage, Begründung oder Aufforderung versehen, die für alle gemeinsam gilt (Röm 14,5.6.7–9; 15,5–7.13). Diese Redeweise unterstreicht noch einmal den Integrationswillen des Sprechers. Die Unterschiede werden in den Parallelen dargestellt, um sie dann in eine Gemeinsamkeit ausmünden zu lassen.

3.2 Stiften von Freundschaft (Platon, 6. Brief) 3.2 Stiften von Freundschaft (Platon, 6. Brief)

Bevor wir uns weiteren Textstudien aus den Paulusbriefen zuwenden, sollen zwei außerbiblische Briefe betrachtet werden. Aus ihnen wird deutlich, 111

Vgl. Wilckens 1982, 100.

172

Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

dass die in Röm 14,1–15,13 vorgestellte Strategie der brieflichen Performanz nichts Singuläres ist. Besonders aufschlussreich ist eine Parallele in den Briefen Platons.112 Der sechste Brief Platons,113 um 350 v. Chr.,114 ist adressiert an drei Personen: an Hermeias, den Herrscher in Assos, und an zwei Schüler Platons, Erastos und Koriskos, die aus Assos stammen, die Akademie verlassen haben und in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Das Ziel des Platon ist, den Herrscher und die Platonschüler miteinander in Freundschaft zu verbinden. Wir haben also auch hier einen Brief, dessen Adressaten man in zwei Gruppen einteilen kann, die zueinander geführt werden sollen: der Herrscher und die zwei Platonschüler. Platon beginnt, indem er die Absicht des Schreibens zu erkennen gibt: Das Miteinander der beiden angeredeten Parteien kann zum großen Gewinn für alle werden. Einer der Götter beschert ihnen ein schönes Glück (6.322c: qew/ n tij u` mi/n tu,chn avgaqh,n … paraskeu,azein), denn sie wohnen nahe zusammen als Nachbarn und können bei Bedarf einander von größtem Nutzen sein (w[ste avllh,louj eivj ta. me,gista wv felei/n). Dann beschreibt Platon, welchen Vorteil Hermeias haben wird, wenn er die Freundschaft mit den Platonschülern akzeptiert (6.322d): „Für Hermeias bedeuten weder viele Pferde noch Bundesgenossen für den Krieg noch Geldeinnahmen einen größeren Gewinn an Möglichkeiten für alle Vorhaben als zuverlässige Freunde mit vernünftiger Gesinnung“ (fi, lwn bebai, wn te kai. h=qoj evco,ntwn u`gie,j).115 Mit diesen Worten wendet sich Platon zunächst (me.n) an Hermeias, ohne ihn direkt anzureden. Er zeigt ihm den Vorteil der Freundschaft mit seinen Schülern, indem er positiv von ihnen spricht. Es folgt (de.) ein deutlich längerer Abschnitt (6.322d–e), in dem Platon zeigt, welche Vorteile Erastos und Koriskos von der Freundschaft haben werden: Sie haben die gute Theorie, aber ihnen fehlt noch die Lebenserfahrung, wie man mit schlechten Menschen fertig wird. In diesem Abschnitt wird Hermeias gelobt (6.322e): „Diese Fähigkeit wiederum scheint mir Hermeias … von Natur aus und als eine auf Erfahrung gegründete Kunst zu besitzen.“ (tau,thn d´V auvth.n du,namin ~Ermei,aj moi fai,netai fu,sei te … kai. te,cnh| diV evmpeiri,aj eivlhfe,nai)) Die beiden Platonschüler werden nicht direkt angesprochen, aber ihnen gilt dieser Abschnitt und vor ihnen wird 112 Hinweis bei Mitchell 1991, 236, Anm. 283. Sie verweist außerdem auf Platons 8. Brief (354a–e), wo Platon zunächst seine Strategie ankündigt, beide Seiten wie ein Schiedsrichter anzusprechen, sich dann nacheinander an jede Seite wendet und schließlich an alle appelliert. 113 Nach Probst 1991, 65 wohl echt. 114 Zur Datierung der Briefe Plantons: Hackforth 1985. 115 Text und Übersetzung nach Eigler 1990, 362–365.

3.2 Stiften von Freundschaft (Platon, 6. Brief)

173

Hermeias gerühmt. Dass dieser Abschnitt länger ausfällt, mag damit zusammenhängen, dass Platon sich genötigt fühlt, das Vorhandensein von Defiziten bei seinen Schülern zu begründen und so ein negatives Bild von der Akademie zu vermeiden. Sie kennen die Bosheit der Welt nicht, weil sie einen großen Teil ihres Lebens in Gemeinschaft Platons und seiner Freunde verbracht haben, die besonnen und frei von Lastern sind (6.322e). Die beiden Abschnitte sind so gestaltet, dass jeweils der einen Partei die Vorteile der anderen beschrieben werden. Das ist ähnlich wie im Römerbrief, wo Paulus zu einer Gruppe spricht und dabei die andere positiv darstellt. Allerdings gibt es im Brief Platons keine Gegnerschaft zwischen den Parteien, die zu überwinden wäre. Ganz wie in Römer 14 folgt auf den ersten Abschnitt, der die Adressaten noch nicht direkt anredet, ein zweiter Teil mit direkter Anrede. Zunächst wendet sich Platon wieder an Hermeias (6.323a: soi. me,n( `Ermei,a): „Ich rate Dir daher, Dich auf jede rechte Art an diese Männer zu halten (e;cesqai dh. … tou,t wn tw/ n avndrw/ n) und das nicht als beiläufig anzusehen.“ Wieder wird positiv von Erastos und Koriskos gesprochen: „dass Du nicht leicht Charaktere finden wirst, die Dein Vertrauen mehr verdienen (avxiopisto,tera) als diese Deine Nachbarn.“ Dieses positive Zeugnis betont Platon mit drei Verben (fhmi. kai. mhnu,w kai. marturw/), also mit allem Nachdruck. Dann erfolgt wieder ein Wechsel der Adressaten: Koriskos und Erastos werden angeredet (Kori,kw| de. kai. VEra,stw| pa,lin) und ihnen wird der Rat gegeben, sich an Hermeias zu halten und mit ihm einen Bund der Freundschaft (fili,aj sumplokh,n) zu bilden. Hier wird von Hermeias nur indirekt positiv gesprochen, indem er zur Freundschaft empfohlen wird. Wir haben also vier Abschnitte, immer abwechselnd an die eine und andere Seite gerichtet, jeweils mit positiven Aussagen über die gerade nicht angesprochene Seite. Das Schema entspricht dem, das sich in Röm 14 findet. Nachdem Platon die beiden Parteien nacheinander angesprochen hat, schließt er den Brief, indem er sie gemeinsam anspricht. Er übernimmt die Rolle dessen, der in Streitfällen den nötigen Abstand hat, um zu schlichten. Er fordert auf, wenn es Schwierigkeiten gibt (6.323b: a;n de, tij u`mw/ n a;ra tau,thn ph| lu,ein dokh/|), ihm zu schreiben (deu/ro parV evme. kai. tou.j evmou.j pe,mpete momfh/j kath,goron evpistolh,n), damit er dann in einem Antwortbrief die Gemeinsamkeit wieder heilen kann (sumfu/sai kai. sundh/sai pa,lin eivj th.n prou?pa,rcousan filo,thta, te kai. koinwni,an). Am Ende des Briefes nimmt Platon auf die Situation des Briefvortrags Bezug (6.323c): „Diesen Brief sollt Ihr alle drei lesen (tau,thn th.n evpistolh.n pa,ntaj u`ma/j trei/j o;ntaj avnagnw/ nai crh,), am besten vereint oder wenigstens zu zweit, sooft Ihr könnt und es möglich ist, und Ihr sollt ihn

174

Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

als gültige Übereinkunft und Vereinbarung auffassen“ (crh/s qai sunqh,kh| kai. no,mw| kuri,w)| . Gemeinsames Lesen setzt ein lautes Vorlesen voraus, so dass Platon gleichsam im Brief durch die Stimme des Vorlesenden anwesend ist.116 Er sitzt sozusagen beiden Parteien gegenüber und kann so die Freundschaft immer wieder neu stiften und bekräftigen. Wo Platon im Brief darüber spricht, was seine Schüler durch Hermeias gewinnen können, bezeichnet er sich selbst als Greis (6.322d: kai,per ge,rwn w; n). Wer von den drei Empfängern auch immer den anderen beiden den Brief laut vorliest, die wohl noch jungen Platonschüler oder der Herrscher, immer ergibt sich ein Widerspruch zwischen dem, was vorgetragen wird und dem, was der Körper des Vortragenden darstellt. Das Medium der Performanz kommt in seiner Verschiedenheit vom Absender in den Blick. Auf diese Weise rückt Platon seine Person als dritte Partei in diesem Diskurs ins Bewusstsein.

3.3 Befriedung nach Unruhen (Claudius an die Alexandriner) 3.3 Befriedung nach Unruhen (Claudius an die Alexandriner)

Das Ziel, streitende Parteien durch einen Brief zu friedlichem Zusammenleben zu führen, findet sich auch im Brief des Kaisers Claudius an die Alexandriner (41 n. Chr.). Nach schweren Unruhen in der Stadt zwischen der griechischen Bevölkerung und der jüdischen in der Zeit Caligulas wenden sich nach der Ermordung Caligulas Gesandtschaften der Griechen und der Juden an den Kaiser Claudius. 117 Der Kaiser schickt einen Brief nach Alexandria, der vor der Bevölkerung öffentlich verlesen wird – so berichtet der Präfekt von Ägypten, L. Aemilius Rectus (Zeile 1–11) – und danach schriftlich vom Präfekten publiziert wird. Es ist bezeichnend und entspricht dem Protokoll offizieller Briefe, dass die Verlesung und Publikation des Briefes von dem für die Empfängerseite verantwortlichen Beamten veranlasst wird, nicht von den Gesandten des Kaisers, die den Brief überbracht haben. Wahrscheinlich wurde der Brief auf einem öffentlichen Platz der Stadt, evtl. auf einer für solche Zwecke öfter genutzten Rednerbühne (bh/ma) vorgetragen. Vertreter beider Gruppen werden anwesend gewesen sein. Zunächst ermahnt der Kaiser beide Seiten nacheinander und etwa in gleichem Umfang (16 und 12 Zeilen), Frieden zu halten. Den Griechen sagt er (Zeile 73–88): Für die Unruhe und den Aufstand gegen die Juden – vielmehr, wenn die Wahrheit gesagt werden soll, für den Krieg –, welche nun (dafür) als Schuldige dastehen, so wurde zwar

116 117

Zur Leseanweisung vgl. Oestreich 2004, 239. Zum Hintergrund vgl. White 1986, 131–133; Klauck 1998, 85–86.

3.3 Befriedung nach Unruhen (Claudius an die Alexandriner)

175

bei der Gegenüberstellung vieles von Euren Gesandten eifrig ins Feld geführt, und am meisten von Dionysios, Theons (Sohn), indes war ich nicht gewillt, eine detaillierte Untersuchung anzustellen. Jedoch hege ich bei mir denen gegenüber, die wieder damit angefangen haben, unversöhnlichen Zorn. Ein für allemal sage ich: Wenn Ihr nicht aufhört mit diesem verderblichen Zorn [und] der Halsstarrigkeit gegeneinander, werde ich mich gezwungen sehen, zu zeigen, wie ein an sich menschenfreundlicher Princeps sein kann, wenn er zu gerechtem Zorn gezwungen wird. Deshalb beschwöre ich (Euch) jetzt noch einmal, daß die Alexandriner (dio,per e;ti kai. nu/n diamartu,rome ei[na VAlexandrei/j me. n …) sich sanftmütig und freundlich betragen gegenüber den Juden, die dieselbe Stadt seit langer Zeit bewohnen …118

Es folgt ein Wechsel der Angesprochenen, den der Vortragende durch Blickrichtung und Körperhaltung verdeutlicht haben wird. Den Juden sagt er (Zeile 88–100): Auch den Juden befehle ich ausdrücklich (VIoude,oij de. a;ntikruj keleu,wi), auf nichts mehr, als sie früher hatten, hinzuarbeiten, noch, als ob sie in zwei Städten wohnen würden, zwei Gesandtschaften auszusenden fürderhin, was früher niemals vorgekommen ist, noch gewaltsam einzudringen in die Spiele der Gymnasiarchen und der Kosmeten … Andernfalls (gilt): Auf jede Weise werde ich sie vertreiben, als wenn sie eine gemeinsame Plage für die Welt erregten.

Im letzten Abschnitt des Briefes werden dann beide zusammen aufgerufen, vom Streit abzulassen (100–104): „Wenn Ihr beiderseits von diesen Dingen ablasst und mit Sanftmut und Freundlichkeit miteinander leben wollt, werde auch ich größte Fürsorge für die Stadt an den Tag legen.“ Dass zwei Gruppen der Briefempfänger nacheinander angesprochen werden (wieder mit me.n … de.), und zwar jeweils in Gegenwart der anderen Gruppe, findet sich also auch in diesem Brief. Auch folgt nach einer getrennten Anrede an jede Gruppe ein Abschnitt, der beiden gemeinsam gilt, wie es auch im Römerbrief festzustellen war. Allerdings bemüht sich der Kaiser nicht, bei den Streitparteien Verständnis für die jeweils andere Gruppe zu wecken. Er spricht nicht zur einen Gruppe positiv über die andere, wie das bei Paulus und Platon zu finden ist. Allerdings verweigert er sich dem Ansinnen der Gesandtschaften beider Seiten, die Schuld an den Unruhen jeweils der anderen Seite anzulasten. 119 Die griechische Delegation hat den Kaiser gedrängt, die Ursachen der jüngsten Unruhen zu erforschen, weil die letzte Welle der Auseinandersetzung von den Juden ausgegangen war. Das lehnt der Kaiser ausdrücklich ab (Zeile 76). Die jüdische Delegation – wahrscheinlich waren es sogar zwei Delegationen (Zeile 90– 91)120 – hat wohl auf die Anfänge der Kämpfe hingewiesen, die von den Griechen in der Zeit Caligulas ausgegangen waren. Indem der Kaiser die 118

Text und englische Übersetzung bei White 1986, 133–137; deutsche Übersetzung bei Klauck 1998, 86–89. 119 Klauck 1998, 92. 120 Vgl. White 1986, 132–133 mit weiterer Literatur.

176

Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

gründliche Erforschung der Schuldfrage verweigert, vermeidet er es, der einen Gruppe gegenüber die Schlechtigkeiten der anderen zu bestätigen. Auch diese Strategie dient der Befriedung beider Seiten. Vor allem aber setzt Claudius auf seine Autorität, indem er jeder Seite mit seinem Zorn droht, falls die Unruhen weitergehen, aber auch beiden zusammen am Ende des Briefes sein Wohlwollen zusichert, wenn sie mit Sanftmut und Freundlichkeit miteinander leben wollen (eva.n … avmfo,teroi meta. prao,thtoj kai. filanqropei,aj th/j pro.j avllh,louj zh/n evqelh,shte). Ganz eindeutig nutzt der Kaiser seine distanzierte und überlegene Position, um in den Streit einzugreifen und ihn zu beenden. Der Vortragende wird das durch sein überlegenes Auftreten unterstrichen haben.

3.4 Spannungen durch Geistbegabungen in Korinth (1. Korinther 12,3) 3.4 Spannungen durch Geistbegabungen in Korinth (1. Korinther 12,3)

3.4.1 Das Problem von 1. Korinther 12,3 Auch der erste Korintherbrief hat das Ziel, Spannungen in der Gemeinde zu überwinden. In den Kapiteln 12 bis 14 geht es um Probleme, die durch den Umgang mit verschiedenen Geistbegabungen entstanden sind. Hier ist es besonders die Deutung von 1 Kor 12,3, die den Auslegern viele Rätsel aufgegeben hat. Es soll nun gezeigt werden, wie die Berücksichtigung der Performanzsituation zum Verständnis des Textes beitragen kann. Paulus beginnt in 1 Kor 12,3 mit einer nachdrücklichen Einleitung: Dio. gnwri,zw u`mi/n, die einerseits das nun Folgende als Schlussfolgerung aus dem vorher Gesagten (V. 2) darstellt, andererseits den folgenden Aussagen großes Gewicht verleiht. 121 Es schließen sich zwei negativ formulierte parallele Sätze an, die ein bestimmtes formelhaftes Reden in Beziehung zum Heiligen Geist setzen. A ouvdei.j evn pneu,mati qeou/ lalw/ n le,gei( VAna,qema VIhsou/j( B kai. ouvdei.j du,natai eivpei/n( Ku,rioj VIhsou/j( eiv mh. evn pneu,mati a`gi,w|Å A Niemand, der im Geist Gottes spricht, sagt: Verflucht [ist] Jesus. B Und niemand kann sagen: Herr [ist] Jesus, außer durch den Heiligen Geist.

Dass dieser Text zu den schwer verständlichen Aussagen des Paulus gehört, lässt sich an der Vielzahl der vorgeschlagenen Deutungen ablesen. Anthony Thiselton listet nicht weniger als zwölf verschiedene Auslegungen dieses Verses auf. 122 121 Holtz 1971/72, 370: eine „feierlich hervorgehobene Entscheidung von maßgeblichem Charakter in einer zweifelhaften Sache.“ Maly 1966, 86: „feierliche Einleitung“. 122 Thiselton 2000, 918–924. Vos 1993, 251 nennt den Vers ein Rätsel.

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Besonders die Verfluchung Jesu hat Fragen aufgeworfen. Ist es denkbar, dass jemand in der Gemeinde Korinth Jesus verflucht hat? Und wenn das vorgekommen sein sollte, ist es nicht selbstverständlich, dass eine solche Aussage nicht auf das Wirken des Heiligen Geistes zurückzuführen ist? Ist die nachdrückliche Aussage des Paulus, dass niemand Jesus flucht, der im Geist redet, nicht banal?123 Wenn es in Korinth eine Verfluchung Jesu gab, warum geht Paulus auf diesen ungeheuerlichen Vorgang nur so beiläufig ein, warum hat er dazu nur diesen einen Satz?124 Oder ist der über Jesus ausgesprochene Fluch nicht negativ gemeint, sondern die gläubige Anerkennung des Handelns Gottes in Jesus, der nach Gal 3,13 ein Fluch für uns wurde?125 Warum aber wird dann eine solche Aussage als nicht vom Geist stammend gekennzeichnet? Die vielfältigen Auslegungen dieses schwierigen Verses 126 lassen sich in zwei Hauptgruppen einteilen, je nachdem, ob man annimmt, dass eine Verfluchung Jesu wirklich ausgesprochen worden ist oder nicht. 127 Eine wirkliche Verfluchung könnte in der Synagoge, also außerhalb der Gemeindeversammlung ausgesprochen worden sein 128 oder dort jüdischen Christen nahegelegt worden sein. 129 Oder sie geschah in einer Verfolgungssituation. 130 Die Verfluchung ist auch mit Ekstase in Verbindung gebracht worden. 131 Einflussreich war die Hypothese von Walter Schmithals, dass es judenchristliche Gnostiker waren, die den irdischen Jesus verfluchten, weil sie es ablehnten, dass Christus ins Fleisch gekommen ist (1 Joh 4,2).132 Wenn es andererseits keine reale Verfluchung Jesu gab, dann könnte Paulus zwei kontrastierende Bekenntnisse als Kriterium zur Unterscheidung der Geister in der charismatischen Vielfalt in Korinth oder – tiefer – als Kriterium grundsätzlicher Lebensorientierung (Traugott Holtz) gegen123

Holtz 1971/72, 370. So fragen Maly 1966, 92; Holtz 1971/72, 371; Vos 1993, 255. 125 So van Unnik 1973; auch Witherington 1995, 256 erwägt einen positiven Sinn des avna,qema, nämlich „Votivopfer“. 126 Die Lösung der Fragen durch die Annahme einer Textverderbnis sollen hier nicht erörtert werden. Zum Beispiel Albright und Mann 1969–70: Paulus zitiert ein aramäisches liturgisches Responsorium: VAna. avqe. mara.n avqa, VIhsou/j. („Ich komme. Komm, unser Herr Jesus!“) Demnach hätte der ursprüngliche Text gelautet: „Niemand, der spricht, sagt: Ich komme. Komm, unser Herr! außer im Heiligen Geist.“ 127 Übersichten über bisherige Deutungsversuche bei Schrage 1999, 114–117; Thiselton 2000, 918–924; Wolff 2000, 285–287. 128 Zum Beispiel Schlatter 1969, 333. 129 Zum Beispiel Derrett 1975. 130 Cullmann 1975, 225–227. 131 Barrett 1968, 280; dagegen Mehat 1983 und Forbes 1986. 132 Schmithals 1965a, 117–122; Brox 1968; Dunn 1975, 234–235; dagegen schon Pearson 1967. Thiselton 2000, 923 denkt an Ausrufe einer Gruppe in Korinth, die ein einseitiges Verständnis von Jesus hatten (vgl. 1 Kor 15,12). 124

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

übergestellt haben. 133 Der Fluch wäre dann eine rein rhetorische Bildung des Paulus.134 3.4.2 1. Korinther 12,3 als propositio Performanzkritik geht davon aus, dass wir auch in diesem Abschnitt die schriftlichen Reste eines lebendigen Ereignisses vor uns haben. Dem Sinn des Textes können wir uns deshalb nur dadurch nähern, dass wir das durch ihn ausgelöste Ereignis als ein Ganzes betrachten, ja möglichst nachzuerleben versuchen. Dazu gehört der Kontext, also 1 Kor 12–14, 135 dazu gehören auch die Performanzsituation und ihre soziale Einbettung. Der Text 1 Kor 12,3 ist Teil der Einleitung des Abschnitts Kap. 12–14, in dem der Apostel wahrscheinlich auf eine Anfrage der Korinther eingeht. Im gesamten Abschnitt behandelt Paulus Probleme, die dadurch entstanden sind, dass sich die Korinther über den Gebrauch und die Bewertung bestimmter Geistwirkungen nicht einig waren. In Vers 1 führt er das neue Thema ein (peri. de. tw/n pneumatikw/ n), spricht seine Hörer an (avdelfoi,) und macht seine eigene Rolle als Lehrer deutlich (ouv qe,lw u`ma/j avgnoei/n). Im nächsten Vers erinnert er seine Hörer an die Zeit, als sie Heiden waren. Was Paulus auch immer mit diesem Satz genau gemeint hat, so ist doch deutlich, dass es ihm darauf ankommt, diese Zeit als vergangen zu kennzeichnen. 136 Er redet also die Gläubigen der Korinthergemeinde an, die diese Zeit hinter sich gelassen haben. Hier entsteht eine erste Frage: Wie reagieren die jüdischen Christen darauf, die es in Korinth auch gab und die eine solche Vergangenheit nicht hatten? War die Auseinandersetzung um die Geistwirkungen vor allem ein Streit unter den Heidenchristen? Oder gehörten die Judenchristen zu denen, die prophetische Rede praktizierten? Jedenfalls versetzt Paulus einen Teil der Anwesenden in eine Zuschauerposition. Aus dem in Vers 2 Gesagten zieht Paulus in Vers 3 eine mit Nachdruck (gnwri,zw u`mi/n) vorgetragene Schlussfolgerung (dio.). Die Plausibilität 133 Vgl. Maly 1966; Holtz 1971/72. Schmithals 1965a, 117 hält es umgekehrt für möglich, dass Paulus das Ku,rioj VIhsou/j als Kontrast dem real ausgesprochenen Fluch entgegengesetzt hat. 134 Zum Beispiel Schrage 1999, 116–117; Wolff 2000, 286. 135 Dass der Kontext zu beachten ist, hat vor allem Vos 1993 hervorgehoben. Auch Holtz 1971/72, 372 weist auf den Kontext hin, wenn er erwartet „daß in xii 2–3 eine ganz allgemeine Bestimmung dessen enthalten ist, was nach dem Urteil des Paulus das Wesen des Pneumatischen ist.“ Vgl. auch Bassler 1982. Auch Smit 1993, 212–214 beachtet den rhetorischen Kontext, wenn er 12,1–3 als exordium mit insinuatio bestimmt. 136 Meist wird vermutet, dass es um ekstatische Erscheinungen im Dienst für die Götter geht. Paige 1991 vermutet einen Götterumzug. Zur Diskussion Thiselton 2000, 911–916.

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einer Erklärung von Vers 3 wird also davon abhängen, ob der Zusammenhang zu Vers 2 und die Logik der Schlussfolgerung ausreichend erklärt wird.137 Dass Paulus nach den wenigen einleitenden Sätzen zu einer Schlussfolgerung kommt, die eigentliche Behandlung der Frage nach den Geistwirkungen aber erst in den folgenden Kapiteln geboten wird, lässt vermuten, dass die markanten Sätze in Vers 3 die Funktion haben, die These des Paulus vorzustellen. Entsprechend ist dieser Vers in rhetorischer Hinsicht als propositio gewertet worden.138 Daraus ergibt sich, dass in Vers 3 eine Kernaussage zu erwarten ist, die den ganzen Abschnitt über die Geistwirkungen (Kap. 12–14) zusammenfasst. Es scheiden also solche Deutungen aus, nach denen Paulus in Vers 3 ein Thema anspricht, das sich in den folgenden Abschnitten nicht fortsetzt. Für die ersten Hörer des Briefes wird die propositio das Anliegen des Apostels klar umrissen haben. Das ist ja die Funktion einer solchen einleitenden These, nämlich die Hörer darauf einzustimmen, was sie in der folgenden Rede zu erwarten haben und wie sie die folgenden Argumente verstehen sollen. Weil Vers 3 den heutigen Lesern des Paulus offenbar Schwierigkeiten bereitet, ist das umgekehrte Verfahren sinnvoll, also die Aussagen des Apostels im gesamten Abschnitt als Verstehenshilfe für die propositio zu nutzen. 3.4.3 Die Parallelität von 1. Korinther 12,3 und 12–27 Das Ziel des Paulus in 1 Kor 12–14 ist es, der durch Spaltungen und Spannungen belasteten Gemeinde zur Einigkeit zu verhelfen. 139 Nachdem dieses Ziel schon in Bezug auf verschiedene andere Faktoren behandelt worden ist, geht es Paulus nun um die Situation, dass in Korinth die Verschiedenartigkeit der Geistesgaben zu Rivalitäten, Unordnung und gegenseitiger Geringschätzung geführt hat. In 1 Kor 12,4–6 betont der Apostel in drei parallelen Sätzen, dass die Charismen bei aller Unterschiedlichkeit einen gemeinsamen Ursprung haben, den er durch eine Dreiheit von Geist, Kyrios und Gott umschreibt und dadurch geschickt auch in der Gottheit eine Einheit in der Vielheit konstatiert. Nicht nur im Ursprung, sondern auch im Ziel zeigt sich die Einheit der verschiedenen Gaben, nämlich zum allgemeinen Nutzen (V. 7: pro.j to. sumfe,ron). Es folgt eine Aufzählung verschiedenster Gaben, die alle auf denselben Geist zurückgehen (V. 8–11). 137

Zum Beispiel bleibt bei Vos 1993 unklar, inwiefern V. 3 eine Schlussfolgerung aus V. 2 ist. 138 Standaert 1983, 30–31; Vos 1993, 268. 139 Dazu besonders Mitchell 1991.

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

Das Thema der Zusammengehörigkeit der unterschiedlichen Geistwirkungen wird dann mit der konventionellen Metapher vom Leib verdeutlicht (V. 12–27).140 Was dabei meist nicht beachtet wird, ist die Tatsache, dass Paulus in diesem Abschnitt Gedanken und Strukturen aufnimmt, die im Einleitungsteil bereits vorgekommen sind. Sie lassen sich in fünf Punkten erfassen. 1) Wie Paulus in Vers 2 die Hörer an ihre vergangene Zeit des Heidentums erinnert, so enthält auch Vers 13 einen Rückblick und spricht davon, dass durch die Taufe frühere ethnische und soziale Unterschiede relativiert wurden. 2) Nicht nur der Rückblick auf den Wechsel vom Unglauben zum Glauben, sondern auch die Wirksamkeit des Geistes bei diesem Geschehen wird hier wieder angesprochen (V. 3: evn pneu,mati qeou/( evn pneu,mati a`gi,w|, V. 13: evn e`ni. pneu,mati). 3) In Vers 3 zitiert und kommentiert Paulus zwei kurze bekenntnishafte Nominalsätze, die eventuell von anderen gesagt werden könnten oder gesagt wurden: avna,qema VIhsou/j und Ku,rioj VIhsou/j. Ebenso finden sich solche Zitate der Aussagen bestimmter Hörer in den Versen 15–16 und 21. 4) Die Argumentation, in der die zitierten Aussprüche stehen, ist in Vers 3 zweimal negativ formuliert: „Niemand sagt …“ bzw. „niemand kann sagen …“ Auch die Argumentation im Abschnitt 15–22 ist negativ. Was Fuß und Ohr sagen, aber auch was Auge und Kopf sagen, wird als ungerechtfertigt zurückgewiesen. Wie Vers 3 so ist auch der Abschnitt 15– 22 eine energische Abwehr falschen Denkens und Urteilens (V. 22: avlla. pollw/| ma/ llon …). 5) Formal ist Vers 3 gekennzeichnet durch zwei parallel gestaltete kurze Sätze. Meist werden sie als antithetischer Parallelismus aufgefasst.141 Kennzeichen des antithetischen Parallelismus ist, dass zwei gegensätzliche oder kontrastierende Aussagen dazu dienen, einem Gedanken Nachdruck zu verleihen. Eine antithetische Struktur, wenn auch weitaus elaborierter, findet sich auch in den Versen 15–21. Zunächst werden in parallelen Formulierungen Fuß und Ohr zitiert: „Weil ich nicht Hand/Auge bin, gehöre ich nicht zum Leibe.“ (V. 15–16) Dann folgt ein genereller Teil ohne Zitate, der klärt, warum die zitierten Aussagen nicht angemessen sind, und betont, dass zum Leib die verschiedenen Glieder dazugehören (V. 17–20). Vers 21 setzt neu ein, wieder mit zwei parallelen Zitaten, diesmal von Auge und Kopf: „Ich brauche dich/euch nicht.“ Es folgt wieder ein grundsätzlicher Teil, der die vorgebrachten Zitate entkräftet und darauf eingeht, warum alle Glieder des Leibes notwendig sind, gerade diejenigen, die oft gering geachtet werden (22–24). Es ergeben sich zwei Abschnitte, die sich 140 141

Zu dieser Metapher vgl. Mitchell 1991, 157–163. Dagegen Vos 1993, 256–258.

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insofern antithetisch gegenüberstehen, dass die zitierten Sprecher gegensätzliche Positionen in der sozialen Rangskala der Gemeinde besetzen. Zuerst sprechen die verachteten Glieder, bekunden ihre Unterlegenheit und stellen sich selbst als Glieder des Leibes in Frage. Dann sprechen die angesehenen Glieder und drücken stolze Unabhängigkeit aus. Den Abschluss des Bildes vom Leib bildet die Aussage, dass kein Zwiespalt im Leib sein soll, sondern die Glieder einträchtig füreinander sorgen und aneinander Anteil nehmen (V. 25–26). Dann verlässt Paulus das Bild vom Leib und wendet die daraus gezogene Lehre auf die Gemeinde und ihre vielfältigen Gaben an (V. 27–30). Es ergibt sich folgende Struktur: Einleitung 1. Teil 1.1 1.1.1 1.1.2 1.2 2. Teil 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 Schluss

V. 14

Einführung des Bildes vom Leib

V. 15 V. 16 V. 17–20

Aussagen der Verachteten Fuß Ohr Paulus: alle Glieder gehören zum Leib

V. 21a V. 21b V. 22–24 V. 25–27

Aussagen der Angesehenen Auge Kopf Paulus: alle Glieder werden gebraucht Anwendung des Bildes vom Leib

3.4.4 Spannungen unter den Korinthern Die parallele Struktur dieses Abschnitts lässt auf die Adressaten in der Gemeinde Korinth schließen. Die Performanz mit den gegensätzlichen Zitaten verweist auf zwei Gruppen unter den Zuhörern, die in Spannung zueinander sind. Zugleich werden aber auch die verschiedensten Positionen unter den Zuhörern auf zwei reduziert, eine duale Situation unter den Zuhörern wird konstituiert. Die Zitate sind das Mittel, die Gruppen anzusprechen. Jeder Anwesende weiß, wer jeweils gemeint ist. Weil die Charakterisierung der beiden Gruppen Aspekte ihres Status einschließt (me,lh tou/ sw, matoj avsqene,stera … avtimo,tera) und Personen des gleichen Status oft zusammen saßen, ist es durchaus möglich, dass die Gruppen im Raum zusammen saßen und der Vortragende sich ihnen zuwandte oder mit Gesten auf sie verwies. Fuß und Ohr, also weniger angesehene Glieder des Leibes, werden mit einem Ausspruch zitiert, der ihren niedrigen Status zum Ausdruck bringt, ja sogar ihre Zugehörigkeit zum Leib der Gemeinde in Frage stellt.142 Paulus hat offenbar bestimmte Personen im Blick, die die in Korinth üb142

Martin 1995, 88–96 verweist auf esoterisches Reden als Statussymbol und die durch das Bild vom Leib ausgedrückte hierarchische Ordnung.

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

liche hohe Bewertung der Geistwirkungen, vor allem der Glossolalie, für sich übernommen haben, obwohl sie dabei schlecht abschneiden. 143 Zu beachten ist unbedingt die emotionale Seite dieser Aussagen, die der Vortragende mit seiner Stimme unterstrichen hat. Als Antwort auf ihre geringe Selbsteinschätzung erklärt Paulus ihnen, dass jedes Glied dazugehört und gebraucht wird, ganz gleich, wie bedeutend oder unscheinbar die sich in ihm manifestierende Geistwirkung ist. Wenn dieser Brief in der Gemeinde vorgelesen wird, hören diesen Abschnitt natürlich auch die Gemeindeglieder, die einen hohen Status haben, weil sie über besondere Gaben verfügen. Ihre Geringschätzung gegenüber denen, deren Gaben weniger bedeutend zu sein scheinen, wird indirekt korrigiert. Aber implizit ist auch gesagt, dass es keinen Grund gibt, die Glossolalie oder eine andere Geistwirkung aus der Gemeinde zu verbannen. Dann wendet sich der Vortragende denen in der Gemeinde zu, die für sich selbst beanspruchen, wichtig zu sein. Jetzt explizit erklärt er ihnen mit den Worten des Paulus, dass sie die scheinbar unbedeutenden Glieder nicht verachten dürfen, ja dass diese besonderer Fürsorge bedürfen. Das hören auch die Geringen in der Gemeinde mit und wissen sich vom Apostel angenommen und hochgeschätzt. Der Apostel spricht also in diesem Abschnitt die verschiedenen Gruppen der Gemeinde speziell an und zielt dabei auf gegenseitige Akzeptanz. Jede Seite der Zuhörenden soll im Guten auf die andere blicken, und das ist während der Performanz ganz wörtlich zu nehmen. Es folgt Kapitel 13, das die Liebe als eigentliches Band der Einheit zeigt. Nur durch sie werden die verschiedenen Gaben wertvoll für die Gemeinde (V. 1–3). Paulus greift hier das Verlangen nach Status in der Gemeinde auf (ouvqe,n eivmi), das sich in einer unterschiedlichen Bewertung der Gaben ausdrückt, wie es schon im Bild vom Leib anklang. Paulus relativiert alle genannten Geistwirkungen, voran das Reden in Engelssprache (Glossolalie) und die Prophetie. Die Liebe dagegen ist nicht gebunden an Geistwirkungen, mit denen einige der Korinther ihren Status in der Gemeinde zu behaupten suchten. Kapitel 13 führt also das Thema von Kapitel 12 insofern fort, als denen, die mit beeindruckenden Geistwirkungen aufwarten konnten – im Bild vom Leib sind das Auge, Hand und Kopf –, die Liebe als etwas Wertvolleres und Entscheidendes gegenübergestellt wird. 143

Shiner 2003, 171 und 178 macht darauf aufmerksam, dass das Geschehen in der fiktiven Welt der Erzählung – das wäre hier das imaginierte Sprechen von Gliedern des Leibes – während der Performanz zugleich ein Geschehen in der sozialen Welt des Publikums wird. Die Hörer finden sich in dem Erzählten wieder.

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Zugleich bringt Kapitel 13 aber auch einen neuen Gedanken, der dann in Kapitel 14 ausführlich erörtert wird. Sowohl in Vers 1–2 als auch in Vers 8–9 finden sich Glossolalie und Prophetie als zwei herausragende Geistwirkungen, wobei jedesmal auch die Erkenntnis mit genannt wird. Es hat den Anschein, als wären Glossolalie und Prophetie, letztere ausgewiesen durch Erkenntnisgewinn, zwei Geistwirkungen, die der Apostel Grund hat besonders herauszugreifen. Das geschieht dann in Kapitel 14, wo Paulus den Vorrang der Prophetie – wieder verbunden mit Erkenntnis (V. 6) – damit begründet, dass sie im Gegensatz zur Glossolalie verständlich ist und damit zur Erbauung der anderen dienen kann (14,2–14). Unter Performanz-Gesichtspunkten wird deutlich, dass Kapitel 13 eine bisher weithin übersehene Überleitungsfunktion hat. Während in Kapitel 12 der Gegensatz zwischen denen, die Geistesgaben vorweisen, und denen, die das nicht können, besteht, verschiebt sich der Gegensatz in Kapitel 14 zu anderen Gruppen, nämlich den Zungenrednern und den Propheten. Dieser Wechsel wird in Kapitel 13 vollzogen. In Kapitel 14 wendet sich der Apostel also nicht mehr gegen die Geringschätzung von Gläubigen mit geringer oder gar keiner Geistgabe, sondern schlichtet einen Rangstreit unter den Vertretern von Glossolalie und Prophetie. Jetzt sind die in einer (angenehmen) Zuhörerposition, die von beiden Streitgruppen ausgegrenzt werden, weil sie scheinbar gar keine Geistwirkungen aufweisen. 144 In dem Rangstreit stuft Paulus die spektakulärere Gabe zurück und wertet die Prophetie auf, indem er ihr Verständlichkeit und damit Erkenntnisgewinn bescheinigt. Paulus achtet jedoch darauf, dass die Glossolalie nicht ganz aus der Gemeinde ausgegrenzt wird (14,5.15.18–19). Jede Gabe behält ihr Recht und ist – unter entsprechenden Bedingungen – in der Gemeinde willkommen. Diese Bedingungen nennt der Apostel am Ende des Kapitels. Er regelt das Auftreten von Zungenrednern und Propheten durch spezifische Anweisungen (14,27–33). Wieder wendet er sich nacheinander den Vertretern zweier Gruppen zu, wobei jeweils die andere Gruppe mithört. Durch parallele Gestaltung der Anweisungen (Begrenzung der Anzahl in V. 27 und 29, siga,tw in V. 28 und 30) sorgt er dafür, dass beiden Gruppen gleiches Recht widerfährt. Der parallele Aufbau lässt sich wie folgt darstellen: Einleitung V. 26 1. Teil V. 27–28 1.1 V. 27a

Vielfalt im Gottesdienst, Ermahnung zur Ordnung Anweisung an die Zungenredner Anzahl: zwei oder drei

144 Wenn Paulus in 1 Kor 12,2 Heidenchristen anredet, weil unter ihnen die Zungenrede besonders gepflegt wurde, dann könnte er jetzt die Judenchristen einbeziehen. Vielleicht waren unter ihnen die Propheten besonders stark vertreten.

184 1.2 1.3 2. Teil 2.1. 2.2 2.3 Schluss

Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen V. 27b V. 27c–28 V. 29–33 V. 29 V. 30 V. 31–32 V. 33

Einer nach dem anderen Schweigegebot, falls kein Ausleger da ist Anweisung an die Propheten Anzahl: zwei oder drei Schweigegebot, falls ein anderer Prophet beginnt Einer nach dem anderen Begründung, anwendbar auf alle Anweisungen: Gott des Friedens

Aus den zwei parallel gestalteten Abschnitten in Kapitel 12 und Kapitel 14 kann man ableiten, dass Paulus die Briefempfänger in verschiedene Gruppen einteilt: Einerseits die pneumatikoi,, die zu ihrem Statusvorteil in der Gemeinde Wirkungen des Heiligen Geistes präsentieren. Sie wiederum teilen sich in zwei miteinander rivalisierende Gruppen, die Propheten und die Zungenredner auf. Andererseits gibt es die von den pneumatikoi, gering geschätzten Gläubigen, die solche Gaben nicht vorweisen können. 145 Schließlich kommt Paulus zu abschließenden Aussagen, in denen er zunächst die Propheten und die (anderen) geisterfüllten Redner (die Zungenredner?) anspricht und auf seine Autorität verweist (V. 37–38). Allen Rhea Hunt weist auf den Sarkasmus in diesen Versen hin. 146 Die Geistbegabten, besonders die Zungenredner und Propheten, die Paulus zuletzt ermahnt hat, können ihre geistliche Kompetenz dadurch unter Beweis stellen, dass sie die Ermahnung als geistgeleitet anerkennen. Der Sarkasmus wird sich in der Stimme und Sprechweise des Vortragenden ausgedrückt haben. Ein Lächeln derer, denen keine oder nur geringe Geistesgaben bescheinigt wurden, wird unvermeidbar gewesen sein. Dann folgen zwei parallele kurze Anweisungen, die sich nacheinander an jede Gruppe der rivalisierenden Geistträger richten und jeweils die andere Gabe in Geltung setzen (V. 39). Den Zungenrednern sagt er: Strebt danach zu weissagen. Den Propheten sagt er: Verhindert nicht das Reden in Zungen. Den Abschluss bildet eine zusammenfassende Ermahnung an alle: Alles soll anständig und ordentlich geschehen (V. 40). Was wir in Vers 39–40 finden, entspricht der schon mehrfach herausgearbeiteten Redeweise des Paulus, die die Versöhnung von Gegensätzen dadurch zu erreichen sucht, dass jeweils einer Gruppe eine Ermahnung gegeben wird,

145 Wire 1990, 140–143 deutet den Gegensatz zwischen Prophetie und Zungenrede in 1 Kor 14 als Ziel des Paulus, nicht als einen vorhandenen Gegensatz bei den Korinthern. Für die Prophetinnen in Korinth gehörten Prophetie und ekstatisches Gebet zusammen, aber Paulus will die Zungenrede zurückdrängen und überhaupt das Reden begrenzen, um der Reflektion Raum zu schaffen. Aber wenn die einzelnen Frauen in Korinth sowohl Prophetie als auch Zungenrede (und noch andere Gaben) jeweils in ihrer Person vereinten und dadurch in der Gemeinde eine lebendige Vielfalt des Sprechens verwirklichten, hätte Paulus auf seine Fragen in 12,29–30 nicht eine verneinende Antwort erwarten können. 146 Vgl. Hunt 1996, 136–139.

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die die andere Gruppe aufwertet. Auch die für beide Seiten geltende abschließende Ermahnung gehört in dieses Schema. 147 Wie sich in Kap. 12,4–27 Parallelen zu 12,1–3, der Einleitung des gesamten Abschnitts finden, so entspricht auch der Schluss von Kapitel 14 in zwei Punkten dem Anfang von Kapitel 12, indem die apostolische Autorität herausgestellt wird (12,1 und 14,37–38) und dann zwei parallele Aussagen geboten werden (12,3 und 14,39). 3.4.5 Versöhnung von Gegensätzen in 1. Korinther 12,3 Aus dem dargelegten Zusammenhang lassen sich nun Schlussfolgerungen für das Verständnis von 12,3 ziehen. Weil es im gesamten Abschnitt darum geht, die Einigkeit der verschiedenen Gruppen in der Gemeinde Korinth zu fördern, ist diese Absicht auch für die propositio in 12,3 vorauszusetzen.148 Damit scheiden solche Deutungen aus, die in diesem Vers ein Kriterium zur Unterscheidung der Geister sehen oder ein wahres Bekenntnis mit Wort und Tat von einem falschen unterscheiden wollen. Ein solches Kriterium hätte ja in jedem Fall das Ziel, eine Grenze zu markieren, wogegen der Apostel Grenzen überwinden will. Auch alle Interpretationen, die die Fluchformel außerhalb der Gemeinde gesprochen sehen, passen nicht in den Kontext, in dem es um innergemeindliche Statusfragen und Rivalitäten geht. Von Verfolgungssituationen ist ebenfalls keine Rede. Auch das Problem eines falschen (Walter Schmithals) oder unzureichenden (Willem van Unnik) Christusverständnisses taucht nirgends im Kontext auf. Nachdem sich gezeigt hat, dass Paulus sowohl in Kapitel 12 als auch in Kapitel 14 einander gegenüberstehende Gruppen der Gemeinde in seinem Brief durch parallele Abschnitte anredet, ist zu erwarten, dass die parallelen Sätze in 12,3 die gleiche Absicht haben. Einer Gruppe in Korinth sagt Paulus, dass niemand, der im Geist redet, Jesus verflucht. Einer anderen Gruppe sagt er, dass niemand Jesus als Herrn bekennt, der nicht den Heiligen Geist hat. Und wie der Apostel im gesamten Abschnitt darauf bedacht ist, zwischen den Gruppen einen Ausgleich zu schaffen, indem er einerseits beiden Seiten ihren Status innerhalb der Gemeinde zuerkennt (alle sind Glieder am Leib, Glossolalie und Prophetie gehören beide in die Gemeinde), andererseits auch beide Seiten korrigiert, so ist ein solches Vorgehen auch in 12,3 zu vermuten. Damit scheiden Deutungen von 12,3 aus, die das Fluchwort und das Bekenntnis zu Jesus nicht im Zusammen147

Siehe oben auf S. 149–150 und 154–156 das zu Röm 14,3 und 6–9 Ausgeführte. So richtig Vos 1993, 260. Vgl. Mitchell 1991, 267–268: “In 12:3 Paul relativizes all claims to greater or less spiritual attainment because of ecstatic gifts by saying that every Christian is indeed a spiritual person, because every Christian who makes the common acclamation Ku,rioj VIhsou/j (cf. 8:6) shows that he or she is possessed by the Holy Spirit.” 148

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hang und in ihrer gegenseitigen Ergänzung sehen (z. B. Jesusverfluchung in Verfolgung oder in der Synagoge usw.). Der Apostel sagt in der propositio einerseits, was die im Geist Redenden nicht sagen, und andererseits, was man ohne den Geist nicht sagen kann, das heißt, er formuliert negativ. Diese Redeweise kehrt in 12,15–21 wieder, wo der Apostel zwei falsche Denkweisen der Korinther korrigiert: die Minderwertigkeit derer, die keine beeindruckenden Geistwirkungen vorweisen können, und die stolze Selbstgenügsamkeit der anderen. 149 Welches falsche Denken ist es, das Paulus in 12,3 korrigiert? Für jeden der beiden parallelen Sätze ist zu erschließen, was die jeweiligen Adressaten dachten. Der erste Satz setzt das Reden im Geist voraus: „Niemand, der im Geist redet …“ Paulus problematisiert nicht, ob im Geist gesprochen wird oder nicht. Natürlich gibt es auch Aussagen, die nicht im Heiligen Geist gesagt werden, aber darum geht es dem Apostel nicht. Was er klären will, ist die Frage nach dem möglichen Inhalt des im Geist Gesprochenen. Paulus drückt es als Verneinung aus: Es wird kein Fluch sein. 150 Der Ton liegt auf der Fluchformel in betonter Endstellung. Es wird also von der Wirksamkeit des Geistes auf den Inhalt des Redens geschlossen (argumentatio e causa ad effectum).151 Wenn Paulus damit ein Denken einer bestimmten Gruppe von Korinthern zurückweist, dann muss dieses Denken von der gleichen Voraussetzung ausgehen, aber eine gegenteilige Schlussfolgerung ziehen. Es könnte folgendermaßen formuliert werden: „Bestimmte Leute, die im Geist reden, fluchen Jesus.“ Ob wirklich Jesus verflucht wird, das kann dabei nicht so eindeutig sein, dass man darüber nicht verschiedener Meinung sein könnte. Hätten einige der Korinther in der Gemeindeversammlung einen allen verstehbaren Fluch ausgesprochen, wie Schmithals oder van Unnik vermuten, hätte Paulus die Verfluchung nicht bestreiten können. 152 149

Auch 13,1–3 argumentiert negativ, indem die absolute Wertschätzung der Glossolalie und der Prophetie mit dem Hinweis auf die Liebe korrigiert wird. 150 Vos 1993, 257: „… in 3b formuliert Paulus nämlich keine Bedingung für die Verfluchung Jesu, sondern eine These über den Inhalt des Redens im Geiste.“ 151 Viele Deutungen, vor allem, wenn sie im Text ein Kriterium zur Unterscheidung der Geister finden, schließen dagegen von der Wirkung auf die Ursache und setzen folgenden Wortlaut voraus: „Niemand, der sagt: Jesus ist verflucht, redet im Heiligen Geist.“ 152 Schmithals 1965a, 117; van Unnik 1973, 119–121. Auch Cullmann 1975, 225 argumentiert, dass der Fluch, ebenso wie das Bekenntnis, verständlich gewesen sein muss. Ihm folgt Holtz 1971/72, 370. Dabei wird übersehen, dass die beiden Sätze mit den zitierten Äußerungen in einem wichtigen Punkt nicht parallel sind: Im ersten Satz wird nicht der ausgesprochene Fluch, sondern das Geistreden vorausgesetzt, auf den Inhalt des Gesagten wird geschlossen. Im zweiten Satz dagegen wird das Bekenntnis, also das Gesagte vorausgesetzt und auf den Geistbesitz geschlossen.

3.4 Spannungen durch Geistbegabungen in Korinth (1. Korinther 12,3)

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Wie aber soll man sich vorstellen, dass bei einigen Gemeindegliedern in Korinth umstritten ist, ob von anderen beim Reden im Geist ein Fluch ausgesprochen wurde oder nicht? Auch hier hilft der Kontext weiter. In Kapitel 12 und 14 wird vorausgesetzt, dass die in Korinth so hochgeschätzte Glossolalie für die Gemeinde nicht verständlich war – es sei denn, dass ein Ausleger aktiv wurde, was aber wohl selten der Fall war, sonst hätte Paulus die Übersetzung der Zungenrede nicht eingefordert. Es werden also die Zungenredner gewesen sein, deren Aussagen umstritten waren. Mit seiner feierlich eingeleiteten Aussage über den Inhalt der durch den Geist gewirkten Rede wendet sich Paulus also an solche Gemeindeglieder, die der Glossolalie skeptisch gegenüber standen. Bei ihnen wird der Vorwurf oder wenigstens die Befürchtung aufgekommen sein, dass die Zungenredner in ihren unverständlichen Äußerungen Jesus fluchen könnten. Das weist Paulus zurück und fordert damit zur Akzeptanz dieser Geistwirkung auf. Im zweiten Satz liegen die Verhältnisse anders. Dort wird nicht das Reden im Geist vorausgesetzt, sondern das Bekenntnis: „Niemand kann sagen: Herr ist Jesus …“ Es geht nicht darum, ob jemand Jesus als Herrn bekennt oder nicht, auch nicht darum, ob das Bekenntnis seine volle Gültigkeit besitzt – obwohl diese Fragen gestellt werden könnten. Paulus erklärt vielmehr, dass das Bekenntnis zu Jesus als dem Kyrios nicht möglich ist, außer durch die Wirksamkeit des Geistes. Der Ton liegt auf der am Ende des Satzes stehenden einzigen Ermöglichung des Bekenntnisses. Es wird von der Tatsache des ausgesprochenen Bekenntnisses auf die Wirksamkeit des Geistes geschlossen (argumentatio ex effectu ad causam).153 Das ergibt folgende Struktur: dio. gnwri,zw u`mi/n o[ti ouvdei.j evn pneu,mati qeou/ lalw/ n kai. ouvdei.j du,natai eivpei/n· Ku,rioj VIhsou/j(

le,gei· VAna,qema VIhsou/j( eiv mh. evn pneu,mati a`gi,w|Å

1. Satz: „Niemand“ 2. Satz: „Niemand“

Wirkung (gesprochene Formel) Ursache (Heiliger Geist)

Ursache (Heiliger Geist) Wirkung (gesprochene Formel)

Dass Paulus im ersten Satz von der Geistwirkung auf den Inhalt des Gesagten schließt, im zweiten Satz umgekehrt vom Gesagten auf die Geistwirkung, widerspricht der Deutung, dass Paulus die verneinte Fluchformel als Kontrast zum folgenden Bekenntnis gebildet hat. 154 Die Korinther, 153

Vos 1993, 255: Paulus macht „den Besitz des Heiligen Geistes zur Vorbedingung für das Bekenntnis zum Herrn.“ Sachlich ist das richtig. Der Schwerpunkt der Aussage des Paulus wird jedoch verschoben, wenn in Frage steht, ob das Bekenntnis zum Herrn zu Recht oder Unrecht gesprochen wurde. Darum geht es Paulus nicht, sondern darum, ob der Geist in diesen Gläubigen wirksam war – und weiterhin ist – oder nicht. 154 Auf den ersten Satz (Ursache  Aussage) „Niemand, der im Geist redet, sagt: Verflucht ist Jesus“ hätte folgen müssen: „…sondern wer im Geist redet, sagt: Jesus ist Herr.“ Oder zum zweiten Satz (Aussage  Ursache) „Niemand kann sagen, Jesus ist

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

deren Auffassung Paulus hier zurückweist, gehen wie er davon aus, dass bestimmte Gemeindeglieder das Bekenntnis gesprochen haben: „Herr ist Jesus.“ Nun ist das ja wohl von jedem Gläubigen bei der Taufe bekannt worden. Umstritten aber war, ob diese Gläubigen den Heiligen Geist haben oder nicht. Und hier stellt Paulus nach feierlicher Ankündigung klar, dass sie Jesus nicht hätten als Herrn bekennen können ohne den Heiligen Geist. Paulus wendet sich mit diesem Satz an die Gruppe derer, die Glossolalie oder andere beeindruckende Geistwirkungen vorweisen konnten. Durch sie wurden die Gemeindeglieder ohne solche Gaben gering geschätzt, ja es wurde sogar ihre Gemeindezugehörigkeit in Frage gestellt (12,15–16: „ich gehöre nicht zum Leib“). Dem entgegnet Paulus, dass auch diese Gemeindeglieder den Heiligen Geist haben, denn ohne den Geist hätten sie nicht das Taufbekenntnis sprechen können. Damit wird klar, warum Paulus in Vers 2 auf die heidnische Vergangenheit und in Vers 13 auf die Taufe verweist. Dass sie die Vergangenheit hinter sich gelassen haben durch die Taufe, das gilt für alle gemeinsam und kann daher als Grundlage für die gegenseitige Annahme dienen, zu der Vers 3 und der gesamte Abschnitt anleiten will. Welche Wirkung erzielt Paulus in der Performanz von 1 Kor 12,3? Seine Argumente sind logisch, er schafft gedankliche Klarheit in einem die Gemeinde belastenden Streit. Aber er erzielt auch eine emotionale Wirkung. Jede Gruppe wird in den Augen der anderen aufgewertet. Einerseits werden die Zungenredner von einem Vorwurf entlastet. Auch wenn man sie nicht versteht, darf man sicher sein: Sie fluchen Jesus nicht. Andererseits wird Glossolalie relativiert – sie ist nicht die alleinige oder gar entscheidende Wirkung des Geistes. Wer diese Gabe nicht hat, hat dennoch den Heiligen Geist. Paulus ist Vermittler. So wie sein Repräsentant, der den Brief Vortragende, steht er beiden Parteien gegenüber. Er hat für jede Seite Verständnis. Er bietet sich selbst als Vorbild an, denn er bekennt, selbst Glossolalie zu üben, und dennoch legt er Wert auf verständliches Reden, in dem Gott selbst gegenwärtig erlebt wird (so wirkt prophetisches Reden nach 14,25). Das Ziel dieser Strategie ist eine positive Interaktion zwischen den Gruppen, und zwar gleich am Beginn des Abschnitts. Die hier gebotene Auslegung von 1 Kor 12,3 ist durchaus nicht neu. Bereits Carl Friedrich Georg Heinrici (1880) interpretierte den Satz mit der Fluchformel als ein Zugeständnis an die Zungenredner: Sie sind zwar nicht verstehbar, aber was sie sagen, kann doch nur Bekenntnis zu Jesus sein. 155 Philipp Bachmann (1905) deutete: Paulus begegnet einem Argwohn gegen Herr, außer durch den Heiligen Geist“ hätte Paulus als Kontrast bilden müssen: „Wer Jesus verflucht, hat den Heiligen Geist nicht“ oder (Vos 257) „Keiner kann sagen ‚Verflucht ist Jesus‘, außer durch einen bösen Geist.“ 155 Heinrici 1880, 360.

3.5 Verhältnis der Leitenden zu den Geleiteten

189

Glossolalie. 156 Unter dem Gesichtspunkt der Performanz des Paulusbriefs in der Gemeindeversammlung in Korinth bekommt dieser alte Vorschlag neues Gewicht und scheint für die Deutung dieser schwierigen Textstelle am plausibelsten zu sein.

3.5 Verhältnis der Leitenden zu den Geleiteten 3.5 Verhältnis der Leitenden zu den Geleiteten

Auf den folgenden Seiten soll am Beispiel von 1 Thess 5,12–14 und Gal 6,1–10 dargestellt werden, wie Paulus, vermittelt durch den, der seinen Brief vorträgt, eine Interaktion unter den Zuhörenden auslöst, die dazu dient, ein freundliches Verhältnis zwischen den Mitgliedern verschiedener sozialer Gruppen innerhalb der Gemeinde zu fördern, zwischen denen, die Leitungsaufgaben wahrnahmen, und denen, die geleitet wurden. Es wird sich erneut zeigen, dass Paulus beim Abfassen des Briefes gedanklich die Performanz vor der Gemeindeversammlung vorwegnahm. Er schrieb – einem Theaterskript vergleichbar – die Performanz in den Text ein. Dabei verstand er es, bestimmte Interaktionen im Publikum auszulösen und für seine Ziele dienstbar zu machen. 3.5.1 1. Thessalonicher 5,12–15 1 Thess 5,12–15 ist unter Gesichtspunkten der Performanz des Briefes interessant, weil Paulus in Vers 12 nicht die ganze Versammlung anspricht, sondern eine bestimmte Gruppe. Zwar ist das nicht an der Anrede erkennbar, denn Paulus verwendet das auch sonst häufige avdelfoi,, was an anderen Stellen des Briefes die gesamte Gemeinde bezeichnet (2,1.17; 4,1.13; 5,1). Aber die nachfolgende Ermahnung ist eindeutig nicht für alle anwendbar: VErwtw/ men de. u`ma/j( avdelfoi,( eivde,nai tou.j kopiw/ ntaj evn u`mi/n kai. proistame,nouj u`mw/ n evn kuri,w| kai. nouqetou/ntaj u`ma/j) Wir bitten euch aber, liebe Brüder, erkennt an, die an euch arbeiten und euch vorstehen in dem Herrn und euch ermahnen.

Diejenigen, die durch einige Glieder der Gemeinde ermahnt und geführt werden, sollen diese als Leiter anerkennen und ehren. Mit diesem Satz werden die Zuhörenden in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine wird beschrieben durch oi` kopiw/ ntej kai. proista,menoi kai. nouqetou/ntej. Es handelt sich um Verben, die Leitungsaufgaben benennen. Dass für alle drei Partizipien nur ein Artikel gebraucht wird, zeigt, dass es sich nicht um drei verschiedene Leitergruppen handelt, sondern dass Paulus aus dem Publi156

Bachmann 1905, 386.

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

kum eine Gruppe von Gemeindegliedern herauslöst, die die drei verschiedenen Tätigkeiten ausführt.157 Die andere Gruppe wird durch die gebildet, an die der Satz des Paulus gerichtet ist. Das sind die, die von dem Einsatz und der Mühe der ersten Gruppe profitieren. Welche Wirkung hat dieser Satz, wenn er durch den, der den Brief vorträgt, ausgesprochen wird? Weil niemand mit Namen genannt wird, gibt es keine eindeutige Zuordnung zu bestimmten Personen. Es ist auch nicht wahrscheinlich, dass die genannten Aufgaben eine formale Ämterstruktur beschreiben. 158 Das heißt, die hier umschriebenen Gruppen haben keine eindeutigen Grenzen. Jeder Hörer muss für sich selbst entscheiden, wen er als jemanden ansieht, der die genannten Leitungsaufgaben wahrnimmt, und ob er sich in dieser Gruppe sieht oder nicht. Dennoch werden Zuordnungen aus der Erfahrung der Gemeinde möglich sein, weil bestimmte Persönlichkeiten wegen ihrer Fähigkeiten oder sozialen Stellung Leitungsaufgaben übernommen haben. Paulus setzt voraus, dass eine Zuordnung zu der beschriebenen Leitungsgruppe möglich ist. Allerdings könnte es sein, dass sich Einzelne der Hörer in beiden Gruppen finden, weil sie manchmal für die Gemeinde arbeiten, manchmal aber auch Fürsorge und Ermahnung erhalten. Zu beachten ist auch, dass Paulus seine Ermahnung in der Wir-Form vorträgt, sowohl in Vers 12 als auch in Vers 14. Damit steht den beiden Gruppen, in die er das Publikum aufteilt, eine dritte gegenüber, nämlich der Apostel und seine Mitarbeiter. Namentlich sind in der Briefadresse Silvanus und Timotheus genannt, die wohl stellvertretend für das gesamte Team des Paulus stehen. 159 In der Situation der Performanz vertritt allerdings eine einzelne Person diese dritte Gruppe. Immer wenn der Vortragende als Einzelperson Verbformen in der ersten Person Plural ausspricht, die Paulus und seine Mitarbeiter bezeichnen, hier evrwtw/ men und parakalou/men, dann erleben die Zuhörenden einen Bruch der Illusion, dass sie gleichsam die Stimme des Paulus hören. Sie werden sich bewusst, dass sie Publikum in einer Performanz des Paulusbriefs sind. Sie müssen sich die Mitarbeiter des Paulus vorstellen, wie sie Paulus gleichsam umgeben, während sie in der Realität doch nur eine Person vor sich sehen. Das bewirkt, dass sie – in der typischen Rolle des Publikums – die Performanz bewerten, also darüber entscheiden, ob der Vortragende so aufgetreten ist 157

Vgl. Ellis 1970/71, 441. Zur Ämtersituation in Thessaloniki vgl. Malherbe 2000, 66: “They would have had functional, if not institutionalized authority.” Ebenso auch S. 312–313. Vgl. Laub 1973, 70–71. Zur natürlichen Führungsautorität der Erstbekehrten von Gemeinden vgl. Schmitt 2002, 104–105. 159 Stirewalt 2003, 37–44. Siehe auch Ollrog 1979, 184; Loubser 2000. An einen „majestic plural“ denkt Malherbe 2000, 88. Ellis 1970/71 versteht unter den in den Paulusbriefen angeredeten „Brüdern“ örtliche Mitarbeiter des Apostels. 158

3.5 Verhältnis der Leitenden zu den Geleiteten

191

und so gesprochen hat, wie es nach ihrer Meinung dem Apostel entspricht. Das setzt natürlich auch den Vortragenden unter Druck, sein Bestes zu geben. Es folgt eine zweite Aufforderung in Vers 14. parakalou/men de. u`ma/j( avdelfoi,( nouqetei/te tou.j avta,ktouj( paramuqei/sqe tou.j ovligoyu,couj( avnte,cesqe tw/ n avsqenw/ n( makroqumei/te pro.j pa,ntajÅ Wir ermahnen euch aber, liebe Brüder: Weist die Unordentlichen zurecht, tröstet die Kleinmütigen, tragt die Schwachen, seid geduldig gegen jedermann.

Wieder finden wir die Anrede avdelfoi,. Diesmal gilt die Ermahnung denen, die andere Gemeindeglieder ermutigen und ermahnen. 160 Diese Aufgaben könnten prinzipiell von allen Gemeindegliedern wahrgenommen werden. So wird es zum Beispiel in 5,11 angedeutet: „ermahnt einander“ (parakalei/te avllh,louj). Und doch überzeugen Ernest Best und andere nicht, die die Ermahnung in Vers 14 an alle Gemeindeglieder gerichtet sehen. 161 Ernest Best nennt fünf Argumente: 1) Die Position der Leiter war keine klar definierte Gruppe. Es ist sicher richtig, dass die Leitungspositionen nicht als festes Leitungsamt etabliert waren. Dennoch wird es Personen gegeben haben, die besondere Verantwortung für die Gemeinde übernommen haben und die hier gemeint sein können. Die Hörer konnten zwar die genauen Grenzen der Leitungsgruppe nicht immer klar bestimmen, hatten aber einen Kern von Verantwortungsträgern vor Augen. 2) In Vers 16 und vielleicht auch in Vers 15 wird die ganze Gemeinde angesprochen. Best findet keine Signale, dass Paulus von Vers 14 zu Vers 15 die Adressaten wechselt. Dieses Argument aus dem Schweigen übersieht, dass in der Situation des mündlichen Vortrags keine Notwendigkeit besteht, den Adressatenwechsel explizit zu formulieren. Der Vortragende kann durch seine Blickrichtung und Körperhaltung eindeutig machen, wer angesprochen ist. 3) Best wertet die Parallele der Verben in Vers 12 und 14, evrwtw/ men und parakalou/men, als ein Zeichen dafür, dass es keinen Adressatenwechsel gibt. Aber der Inhalt der beiden Ermahnungen zeigt deutlich die jeweils verschiedene Situation der Angesprochenen. Es wird sich zeigen, dass die Parallelität eine andere Funktion hat. 4) Best nimmt den Vokativ avdelfoi, in Vers 12 und 14 als Zeichen dafür, dass die ganze Gemeinde angesprochen ist. Dass dieser Schluss nicht gerechtfertigt ist, zeigt nicht nur Vers 12, sondern zeigen auch andere Texte wie Röm 10,1 und 11,25, wo Paulus diese Anrede an die Gläubigen aus den Heiden richtet, nicht an alle Briefempfänger. Auch in 1 Kor 10,11 (vgl. auch 2 Kor 7,1) spricht Paulus nur einen Teil der Korinthergemeinde 160 161

Masson 1957, 73; Holmstrand 1997, 66–67. Best 1972, 229; vgl. Holtz 1986, 250; Malherbe 2000, 311, 316.

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

mit der Anrede avgaphtoi, an, nämlich die, die bereit sind, an öffentlichen Mahlzeiten in heidnischen Tempeln teilzunehmen, nicht die, die Fleisch vermeiden, weil es Götzen geweiht sein könnte. Dieselbe Anrede gebraucht er an anderen Stellen für die ganze Gemeinde (z. B. 1 Kor 15,58; 2 Kor 12,19). 5) Schließlich nennt Best andere Texte, in denen Paulus von gegenseitiger Ermahnung und Fürsorge spricht (z. B. Röm 15,14; Phil 2,4; Kol 3,16). Natürlich kann Paulus dazu auffordern, dass sich Gemeindeglieder gegenseitig ermahnen sollen. Sogar er als Apostel kann Ermutigung durch einfache Gemeindeglieder erhalten (1 Thess 3,7). Das aber schließt die Möglichkeit nicht aus, dass er in 1 Thess 5,14 einige leitende Persönlichkeiten der Gemeinde zu dieser Aufgabe besonders ermahnt. Dass sich Paulus in Vers 14 denen zuwendet, die Aufgaben der Leitung übernommen haben, wird deutlich, wenn man die zweiteilige Struktur des Abschnitts beachtet.162 Die beiden Teile bilden einen vollkommenen Parallelismus. 163 Jeder beginnt mit einem Ausdruck des Wunsches des Apostels (evrwtw/ men/parakalou/men), hat die Anrede avdelfoi, und beschreibt dann das angemessene Verhalten und die richtige Einstellung der Mitglieder der einen Gruppe zu denen der anderen. Auf diese Weise werden zwei soziale Gruppen angesprochen, die in einem reziproken Verhältnis zueinander stehen. Das reziproke Verhältnis zeigt auch das zweimal gebrauchte Verb nouqetei/n in Vers 12 und 14 an. Am Ende jedes Teils findet sich eine Verallgemeinerung, die nicht nur für die gerade angesprochene Gruppe anwendbar ist, sondern für alle gelten kann: „Haltet Frieden untereinander“ (V. 13). Und: „Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergelte, sondern jagt allezeit dem Guten nach untereinander und gegen jedermann“ (V. 15). Zu beachten ist auch die Parallele evn e`aáutoi/j (V. 13) und eivj avllh,louj (V. 15). Vers 15 ist durch eine zusätzliche Aussage erweitert: kai. eivj pa,ntaj. Durch sie wird das reziproke Verhältnis der beiden Gruppen zueinander verlassen und die Perspektive auf die anderen Menschen erweitert, um am Ende alle einzuschließen. A B

Anrede an die erste Gruppe Dreifache Ermahnung: Erkennt an!

C

Zusätzliche Ermahnung: Liebe!

D

Allgemeine Ermahnung als Überleitung

162

12 VErwtw/ men de. u`ma/j( avdelfoi,( eivde,nai tou.j kopiw/ ntaj evn u`mi/n kai. proistame,nouj u`mw/ n evn kuri,w| kai. nouqetou/ntaj u`ma/j 13 kai. h`gei/sqai auvtou.j u`perekperissou/ evn avga,ph| dia. to. e;rgon auvtw/ nÅ eivrhneu,ete evn e`autoi/jÅ

In den Worten von Malherbe 2000, 309: “This section is divided in two parts, the first giving directions on how to treat those individuals who provide ‘pastoral care’ (vv 12–13), the second directing the individuals who provide the care (vv 14–15).” 163 Vgl. Holmstrand 1997, 66–67; Malherbe 2000, 309–310.

3.5 Verhältnis der Leitenden zu den Geleiteten A’ B’

Anrede an die zweite Gruppe Drei Ermahnungen, Probleme konkret

C’ Zusätzliche Ermahnung, Problem allgem. D’1 Allgemeine Ermahnung D’2 Allgemeine Ermahnung als Überleitung mit Blick auf Außenstehende

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14 parakalou/men de. u`ma/j( avdelfoi,( nouqetei/te tou.j avta,ktouj( paramuqei/sqe tou.j ovligoyu,couj( av n te, cesqe tw/ n avs qenw/ n ( makroqumei/ te pro.j pa,ntajÅ 15 o`ra/te mh, tij kako.n avnti. kakou/ tini avpodw/(| avlla. pa,ntote to. avgaqo.n diw, kete kai. eivj avllh,louj kai. eivj pa,ntajÅ

Jeder Teil hat eine Struktur von drei Elementen mit einem Zusatz. Im ersten Teil sind es drei Partizipien, die drei Objekte für den Imperativ darstellen (V. 12). Ein zusätzlicher Satz (V. 13) unterstreicht und steigert die Ermahnung. Der zweite Teil hat drei Imperative mit je einem Objekt, das eine Schwäche oder eine Fehlerhaftigkeit beschreibt. Wieder folgt ein zusätzliches Element, ein vierter Imperativ, der ein ganz allgemeines Objekt hat und durch diese Verallgemeinerung ebenfalls eine Steigerung bringt. Dass Paulus nicht explizit macht, wen er in den beiden parallelen Ermahnungen anspricht, ist erklärbar aus der Performanzsituation. 164 Wenn im Publikum bestimmte Gruppen während des Briefvortrags zusammen sitzen, dann kann der Vortragende sich ihnen zuwenden oder sie anschauen. Damit ist ausreichend demonstriert, wer gemeint ist. Die Leitenden hatten wahrscheinlich prominente Plätze in der Gemeindeversammlung. In Jak 2,2–3 findet sich Polemik gegen eine soziale Diskriminierung, die sich in der Sitzordnung165 ausdrückte und die gesellschaftlicher Konvention entsprach. Solche Polemik wäre nicht nötig, wenn diese Praxis nicht weit verbreitet gewesen wäre.166 Im ersten der beiden parallelen Teile spricht der Vortragende zu denen auf den hinteren Bänken oder zu denen, die auf den Polstern zu Füßen der Angesehenen, also hinten sitzen. Sie werden die Mehrheit gewesen sein. Und während er sie ermahnt, die zu ehren und zu lieben, die sich um sie mühen und sie leiten, wirft er einen Blick auf die kleine Gruppe der Prominenten im Zentrum oder eine Geste der Hand verweist auf sie. Natürlich weiß sowieso jeder der Anwesenden, wer gemeint ist. Das Publikum folgt seinem Blick und schaut auf die Leiter, deren Werk nun beschrieben wird. 164

Anders ist es zum Beispiel in 1 Kor 7,10.12: „Den Verheirateten gebiete ich … den anderen aber sage ich …“ Es könnte sein, dass Verheiratete und Ledige in der Performanz nicht so zusammen saßen, dass sie räumlich lokalisierbar waren. Daher konnten sie nicht durch Blickrichtung und körperliche Zuwendung, sondern mussten sprachlich adressiert werden. 165 Zur Sitzordnung vgl. Klinghardt 1996, 75–83. 166 Vgl. Lk 14,7–11; auch 1 Kor 11,21 setzt voraus, dass die, die sich satt aßen, zusammen saßen. Zu den Problemen beim Abendmahl in Korinth vgl. Theißen 1989c.

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

Mit drei Partizipien umschreibt der Vortragende – wohl mit Anerkennung in der Stimme – das Werk der Leitenden. Die Dreizahl ist Zeichen für ein abgerundetes Ganzes. Es folgt ein weiterer Imperativ, der nicht nur in der Wortwahl (u`perekperissou/ evn avga,ph|), sondern auch in der Satzlänge und wohl auch im Klang der Stimme eine deutliche Steigerung ausdrückt. Sprachliche Form, körperliche Gesten und Inhalt des Gesagten bilden eine Einheit und machen den Vortrag zu einem Ereignis, durch das die Zuhörer sofort das erleben, was angemahnt wird: Anerkennung für die Leitenden. Die Ehrung wird gefordert mit dem Wort eivde,nai, das hier den Sinn von „anerkennen“ hat und das Beachten ihres Wortes einschließt. Paulus weist auf den großen Einsatz hin, den diese Personen leisten (kopiw/ ntej), erkennt an, dass ihre Arbeit unter dem Auftrag des Herrn steht (evn kuri,w)| , und erinnert daran, dass alles, was die Leitenden tun, für die Angesprochenen getan wird (u`ma/j).167 Vers 13 steigert die Anerkennung: „Schätzt sie über die Maßen in Liebe.“ Diese positive Einstellung gegenüber denen mit Leitungsaufgaben war nicht nur eine Hilfe für ein besseres Verhältnis der Gemeindeglieder zu ihren Leitern, es tat auch den mithörenden Leitern gut und ermutigte sie in ihren Aufgaben. Vers 13b spricht das gegenseitige Verhältnis der durch die Performanz geschaffenen Gruppen direkt an: Haltet Frieden untereinander! Dieser Satz zielt anders als das Vorhergehende inhaltlich nicht auf eine bestimmte Gruppe, sondern gilt allen. Mit diesem kurzen Satz löst sich der Vortragende gleichsam von der bis jetzt angesprochenen Gruppe, von denen auf den hinteren Plätzen: Er schaut in die Runde und wendet sich dann den Leitenden zu. Hier gehen wieder Sprache und Handeln des Vortragenden zusammen. Die Überleitung geschieht nicht abrupt, sondern in einem Tempo, das der körperlichen Hinwendung zur zweiten Gruppe entspricht. 168 Nun spricht der Vortragende die Gruppe der Persönlichkeiten auf den Ehrenplätzen an. Die Gemeinde auf den hinteren Plätzen hört zu und beobachtet dabei die Leitenden. 169 Es gibt vier Imperative. Jeder hat drei Wörter, so dass sich ein rhythmischer Vortrag ergibt. Die ersten beiden formen einen Endreim. In der Stimme des Sprechers schwingt Wohlwollen und Verständnis. Gleich die erste Ermahnung hat einen positiven Unterton: Die Unordentlichen (a;taktoi) sollen zurechtgewiesen werden. Es gibt Hoffnung für sie, man soll sich also nicht von ihnen zurückziehen (vgl. 2 Thess 3,6). 167

Malherbe 2000, 311 interpretiert oi` kopiw/ ntej evn u`mi/n als missionarische Arbeit, nicht einen Dienst für die Gemeindeglieder, was nach seiner Meinung durch eivj u`ma/j hätte ausgedrückt werden sollen. Aber die parallele Gestaltung des Abschnitts zeigt deutlich, dass die Gruppen aufeinander bezogen werden. 168 Vgl. oben auf S. 160–161 zu Röm 14,13. 169 Malherbe 2000, 316.

3.5 Verhältnis der Leitenden zu den Geleiteten

195

Zweitens bittet Paulus, dass die Kleinmütigen getröstet (paramuqei/sqai) werden sollen. 170 Ihnen wird nicht Unglaube oder Inkonsequenz vorgeworfen. Bei ihnen offenbart sich menschliche Schwäche, wie sie jeden überkommen kann. Die dritte Ermahnung setzt die positive Grundeinstellung gegenüber einigen problematischen Gemeindegliedern fort, die als Schwache und damit als Hilfsbedürftige beschrieben werden (oi` avsqenei/j). Ihrer sollen sich die Stärkeren annehmen. 171 Auch die letzte Ermahnung (makroqumei/te) setzt voraus, die anderen positiv zu sehen, nämlich für sie zu hoffen und ihnen das Gute zuzutrauen. Die Verallgemeinerung am Ende (pro.j pa,ntaj) signalisiert, dass ebenso wie in Vers 12–13 auch diese Reihe mit einem vierten, umfassenderen Element abgeschlossen wird. Auch hier finden wir wieder eine Steigerung, indem im ersten Imperativ von einem ernsten Versagen einiger Gemeindeglieder gesprochen wird (a;taktoj), im zweiten und dritten nur noch allgemein menschliche Schwächen erwähnt sind (ovligo,yucoj, avsqenh,j) und schließlich im vierten gar nichts mehr genannt wird, was zu tadeln oder zu korrigieren wäre. Die positive Grundeinstellung gegenüber den Gläubigen, mit der die Leitenden in der Gemeinde arbeiten sollen, wird also immer deutlicher. Wie werden die einfachen Gemeindeglieder reagiert haben, wenn sie diese Ermahnung des Paulus an die Leitenden gehört haben? Auch wenn sich die meisten von ihnen wohl nicht selbst als unordentlich, mutlos oder schwach eingeschätzt haben werden, wird es ihnen doch gut getan haben zu hören, dass Paulus zu einer positiven Haltung den Schwachen gegenüber ermutigt. Unter solchen Bedingungen werden sie auch den Dienst der Leitenden leichter akzeptieren. Mit seiner Strategie hilft Paulus also den Versammelten zum gegenseitigen Verstehen zwischen Leitenden und einfachen Gemeindegliedern. Nachdem der Vorlesende die Führenden in der Gemeinde angesprochen hat, weitet er am Ende (V. 15) seinen Blick auf die ganze Gemeinde und ermahnt sie, nicht Böses mit Bösem zu vergelten, sondern einander Gutes zu tun und – noch einmal eine Erweiterung der Perspektive – dies auch

170

Paulus selbst hat in Thessaloniki Gemeindeglieder getröstet, vgl. 1 Thess 2,12. Das Wort paramuqi,a wird von Paulus in 1 Kor 14,3 für das Wirken des Propheten gebraucht. Es könnte sein, dass die angesprochenen Leiter der Gemeinde in Thessaloniki sich selbst als charismatische Leiter verstanden oder dass Paulus ihren Dienst im Licht der prophetischen Aufgabe verstand. In jedem Fall erinnert Paulus sie, dass ihr Wirken der Erbauung der Gemeinde dient. 171 Nach Malherbe 2000, 318–319 (dort Literatur dazu) ist dies Teil der psychagogischen Tradition der Philosophen. Die Bezeichnung „Schwache“ benutzt Paulus wieder in 1 Kor 8–9 und Röm 14–15, und zwar nicht in pejorativer Weise, sondern um entsprechend dem Vorbild Christi Hilfe und Fürsorge anzuregen. Vgl. dazu das oben auf S. 141–144 zu den Schwachen in Röm 14–15 Gesagte.

196

Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

denen außerhalb der Gemeinde. 172 Wie in Vers 13b ist auch das ein sehr geeignetes Schlusssignal und eine Überleitung zum Folgenden. Die zwei parallelen Ermahnungen, die Paulus an die Gemeinde Thessaloniki richtet, zielen auf ein gesundes Verhältnis zwischen Gemeindegliedern und ihren Leitern, die sich für sie einsetzen. Die Worte des Paulus wirken gleichzeitig an zwei Fronten und haben so einen doppelten Effekt. Die Performanz teilt zunächst die Gemeinde in zwei Gruppen. Die Grenzlinie für diese Trennung mag noch nicht klar definiert sein, könnte aber leicht zu einer Kriegsfront werden. Dieses Problem, vielleicht ein nur latentes Problem, wird aufgegriffen und behandelt. 173 Das Publikum erlebt die Trennung ganz aktuell beim Zuhören, ihnen wird die soziale Differenzierung bewusst. Aber das geschieht auf eine solche Weise, dass ständig die gegenseitige Akzeptanz und das positive Denken über die jeweils andere Gruppe geübt und gefördert wird. Am Ende der Performanz ist die Trennung überwunden und eine Einheit über die sozialen Rollendifferenzen hinweg geschaffen. Die Gemeinde hört nicht nur etwas über eine positive Haltung zueinander, sie erlebt und vollzieht diese Haltung beim Zuhören. Dann wird die gewonnene positive Einstellung sofort angewandt in der Ermahnung, allen Gutes zu tun. Bei dieser Ermahnung wird die Gemeinde als ganze den Außenstehenden gegenübergestellt. 174 In der Performanz erleben die Zuhörenden, dass es möglich ist, mit ihren sozialen Differenzen in einer gesunden Weise zu leben und die Gefahr der Uneinigkeit zu überwinden. Diese Erfahrung wird ihnen in zukünftigen Situationen helfen, wenn die Einheit bedroht ist. Die Performanz ist Einübung für das reale Leben. In diesem Prozess spielt der Vortragende des Briefes eine wichtige Rolle. Er verkörpert Paulus, gibt ihm seine Stimme, besetzt seine Position im performativen Raum. 175 Er steht als Vertreter der apostolischen Autorität, 172 Barclay 1993, 520–525 nimmt an, dass Paulus die Christen zu einer positiven Haltung gegenüber den Außenstehenden ermahnt, weil sie in der Gefahr standen, Vergeltung zu üben für das Unrecht, das sie von ihrer heidnischen Umgebung erfahren haben. Die Spannung könnte sich auf christlicher Seite in harscher Verurteilung und provokativer Mission ausgedrückt haben. Barclay bezieht damit den Hinweis auf die Außenstehenden (kai. eivj pa,ntaj) auch schon auf 5,15a, was sprachlich nicht gegeben ist. 173 Die dringliche Weisung in 5,27 deutet auch darauf hin, dass es das Anliegen des Paulus ist, die Einigkeit in der Gemeinde zu stärken. Siehe dazu Oestreich 2004. 174 Vgl. von Lips 1994, 273. 175 Dazu schreibt Ward 1995, 95–96: “Oral performance is a means of transforming silent texts into sounds and movement through the mediums of speech and gesture. It is a way in which the author-in-the-work becomes an audible person by means of the speech and movement of the presenter.” Ebenso S. 101: “Through the skillful use of voice and gesture, the representation of felt emotional values, and the thorough knowledge of the style and content of a given text, the oral performer in Greco-Roman culture embodied potent voices present in both oral and written material.”

3.5 Verhältnis der Leitenden zu den Geleiteten

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des Gründers der Gemeinde allen angesprochenen Gruppen gegenüber. Weil er ein gutes Verhältnis zwischen den beiden unterschiedenen und angesprochenen Gruppen erreichen will, achtet er sorgfältig darauf, dass er sie in gleicher Weise anspricht. Deshalb verwendet er dieselbe Anrede (avdelfoi,) und kleidet die Ermahnungen in zwei parallel gestaltete Abschnitte. Unausgewogenheit würde den Eindruck erwecken, dass Paulus eine Seite bevorzugt. Der Parallelismus hat also die Funktion, beiden Gruppen in gleicher Weise zu begegnen. Zugleich bewirkt diese Strategie auch, dass sich Paulus von allen Zuhörern absetzt, ihnen allen als ermahnende Autorität gegenübertritt. In der Performanz seines Briefes wird also für alle Anwesenden seine Autorität erkennbar und bestätigt. 176 3.5.2 Galater 6,1–10 Wir wenden uns jetzt einem Abschnitt aus dem ermahnenden Teil des Galaterbriefs zu, Gal 6,1–10, und vergleichen ihn mit 1 Thess 5,12–15. 177 Dieser Abschnitt am Ende des Briefes178 ist oft als schwierig oder enigmatisch beschrieben worden. Paulus bietet eine ganze Reihe von scheinbar unverbundenen Ermahnungen, deren Verknüpfung mit dem gesamten Brief bestritten worden ist.179 Anders sieht es dagegen John Barclay, der den Zusammenhang zwischen den ethischen Ermahnungen und dem Hauptanliegen des Galaterbriefs – der Auseinandersetzung mit der Beschneidungsforderung durch einige Agitatoren – folgendermaßen erklärt: Die Verkündigung des Paulus, dass das Gesetz seine Bedeutung verloren hat, führte bei den Galatern zu einer ethischen Unsicherheit und in der Folge zu morali176

In 2 Kor 13,11, am Ende des Briefes, finden wir eine Ermahnung, die an 1 Thess 5,12–15 erinnert. Wieder beginnt Paulus mit der Anrede avdelfoi, und endet mit dem Aufruf zu Einigkeit (to. auvto. fronei/te) und Frieden (eivrhneu,ete). Die Gemeindeglieder werden dazu gedrängt, sich zurechtbringen (katarti, zesqe) und ermahnen (parakalei/sqe) zu lassen. Diese Aufforderung ist vergleichbar mit 1 Thess 5,12, wo die einfachen Gemeindeglieder angesprochen sind. Die passiven Imperative setzen voraus, dass jemand diese Aufgabe übernimmt. Aber eine entsprechende Ermahnung an die Autoritäten der Gemeinde wie in 1 Thess 5,14 fehlt. Der Kontext von 2 Kor 13 macht deutlich, dass Paulus hier an seine eigene Rolle denkt. Die Korinther werden aufgerufen, den Anweisungen des Paulus zu folgen. Das zeigt, dass die Ermahnung des Paulus zu Eintracht und Frieden in der Gemeinde eng verknüpft ist mit seiner apostolischen Autorität (vgl. Wolff 1989, 267). 177 Becker 1998, 94 sieht in 1 Thess 5,12 eine Gal 6,6 „sachlich verwandte Mahnung.“ 178 Anders als viele Ausleger sehe ich in 6,1 einen Neueinsatz, der durch den Vokativ avdelfoi, gekennzeichnet ist. 179 Es ist oft gesagt worden, dass der ermahnende Abschnitt am Ende des Galaterbriefs paränetische Tradition bringt und nichts zu tun hat mit dem eigentlichen Anliegen des Briefes, so z. B. Dibelius 1969, 239; Eckert 1971, 149–152. Dagegen Matera 1988. Für eine Darstellung und Diskussion solcher Deutungen vgl. Barclay 1988, 9–26; Schrage 1996, 160–166; Schewe 2005, 12–26.

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

schen Entgleisungen. Dadurch gewann die Forderung nach Gesetzesgehorsam Attraktivität in Galatien, versprach doch das Gesetz die Orientierung in praktischen Fragen der Lebensführung, die die Galater in der Freiheit des Evangeliums vermisst hatten.180 Um die Galater von dem Weg des Gesetzes abzubringen, musste Paulus deshalb zeigen, wie die Kraft des Evangeliums das Leben der Gläubigen ordnet. Für Barclay ist der ermahnende Teil des Galaterbriefs kein Anhang, sondern der eigentliche Höhepunkt. 181 Barclay hat sicher recht, wenn er in Gal 6,1–10 das Verhältnis der Gläubigen zueinander thematisiert sieht. Aber es scheint, dass der paränetische Abschnitt des Galaterbriefs – trotz der Listen von Lastern und Tugenden in 5,19–23 – nicht umfassend genug ist, um einer Gemeinde, die nach moralischer Orientierung sucht, eine Antwort zu geben. Der Schwerpunkt liegt zu deutlich auf dem Verhältnis der Gemeindeglieder zueinander. Auch für Susanne Schewe sind die ermahnenden Teile integraler Bestandteil des Galaterbriefs. Im Gegensatz zu Barclay resultiert für sie die (begonnene) Rückkehr zum jüdischen Gesetz nicht aus ethischer Unsicherheit und moralischem Fehlverhalten, sondern umgekehrt resultiert das moralische Defizit in Galatien, das sich vor allem am Zerbrechen der Gemeinschaft zeigt, aus der Hinwendung zum Gesetz. Paulus zeigt in seinen Ermahnungen in Gal 5 und 6, dass die innergemeindlichen Schwierigkeiten eine Folge der Aufrichtung des Gesetzes und damit der Hinwendung zur menschlichen sa,rx sind.182 Dagegen hat Dieter Mitternacht eine Auslegung des Galaterbriefs vorgelegt, die den Schwerpunkt mehr auf das Verhältnis der galatischen Christen zu ihrem Apostel legt.183 Mitternacht versteht das Anliegen des Galaterbriefs als eine indirekte Aufforderung des Paulus an die Galater, ihr Verhältnis zu ihrem Apostel, der sie bekehrt hat, in Ordnung zu bringen und das im Gehorsam seinem Evangelium gegenüber zu zeigen. Darin ist Mitternacht recht zu geben, dass das Verhältnis der Galater zu ihrem Apostel ein wichtiges Thema des Galaterbriefs ist. Allerdings ist das Verhältnis der Galater zueinander zu bedeutsam, als dass es beiseite gesetzt werden könnte. Performanzkritik scheint hier geeignet, beide Aspekte miteinander zu verknüpfen. Ebenso wie in 1 Thess 5,12–15 deutet auch die Struktur von Gal 6,1–10 darauf hin, dass Paulus zwei verschiedene Gruppen der Zuhörer an180 Barclay 1988, 70–72, 106–107. Ähnlich Betz 1988, 45–47, 466–468; Longenecker 1990, xcviii; skeptisch Schrage 1996, 159. 181 Barclay 1988, 108–145; ähnlich Matera 1988. 182 Schewe 2005, 185–186, vgl. auch, was auf S. 82–101 zu 5,13 und zu sa,rx gesagt wird. Für Schewe ist der Streit kein zweites, eigenständiges Thema des Galaterbriefs (S. 110, 113 zu 5,15). 183 Mitternacht 1999.

3.5 Verhältnis der Leitenden zu den Geleiteten

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spricht.184 Wir finden insgesamt acht Ermahnungen. 185 Wenn wir den Grad der Allgemeinheit der Ermahnungen beachten, dann sind zwei von ihnen ziemlich spezifisch: Vers 1 ermahnt dazu, einer Person, die einem Fehler verfallen ist (oder in einem Fehler entdeckt wurde), 186 mit Sanftmut zurechtzuhelfen. Vers 6 ruft dazu auf, den Lehrer durch (finanzielle) Güter zu unterstützen. 187 Es scheint, dass diese beiden Imperative ein entscheidendes Mittel sind, den Abschnitt zu strukturieren. 188 Nach jeder dieser beiden Ermahnungen folgt eine Warnung: „Sieh zu, dass du nicht selbst versucht werdest!“ (V. 1b) und „Lass dich nicht täuschen! Gott lässt sich nicht spotten!“ (V. 7a). Jede dieser Warnungen bezieht sich auf den vorhergehenden Imperativ 189 und wirkt als eine Verstärkung. Dann ändert sich der Ton. Es folgt jeweils eine sehr allgemeine Regel (V. 2 und 7b), die in einem Satz nach dem Schema „wenn jemand …“ (V. 3) oder „derjenige der …“ (V. 8) dargeboten wird. Der Gebrauch von Lebensregeln oder Sprichwörtern ist ein typisches Kennzeichen des Diskurses in mündlich geprägten Gesellschaften, die auf diese Weise auf das im kollektiven Gedächtnis gespeicherte Wissen zurückgreifen. 190 Am 184 Es gibt keinen Konsens über die Struktur von Gal 6,1–10. Oft ist gesagt worden, dass dem Abschnitt jede logische Ordnung fehlt (Eckert 1971, 149; Mußner 1974, 396, 408; Rohde 1989, 257). Zur Diskussion verschiedener Gliederungsvorschläge siehe Barclay 1988, 147–149. Besonders V. 6 scheint jedem Versuch einer sinnvollen Integration in den Abschnitt zu widerstehen. Dunn 1993a, 326 spricht von einem „sudden thought“; Schrage 1996, 167 von einem „erratischen Block“; Lambrecht 1997, 51 „afterthought“; Becker 1998, 93 findet keinen sachlichen Zusammenhang. Ein interessanter Vorschlag kommt von Barclay (1988, 149–150; gefolgt von Witherington 1998, 418), der einen beständigen Wechsel zwischen zwei allgemeinen Themen annimmt: gegenseitige Fürsorge in der Gemeinde („corporate responsibility“) und persönliche Verantwortung vor Gott („individual accountability“). Gal 5,25–26 wäre demnach die Überschrift, auf die sieben Abschnitte folgen (1a, 1b, 2, 3–5, 6, 7–8, 9–10). Aber diese Struktur hat den Nachteil, dass die ziemlich offensichtliche Unterteilung des Abschnitts in zwei Hälften entweder vor oder nach V. 6 (darin sind die Kommentatoren unsicher) keine Rolle mehr spielt. 185 Drei Imperative 2. Pers. Pl., zwei 3. Pers. Sg., zwei Adhortative und ein Partizip mit imperativischem Sinn. 186 Zur Übersetzung des prolhmfqh/ | vgl. Schewe 2005, 144–145, Anm. 403. 187 Finanziell verstehen Mußner 1974, 402–403; Strelan 1975; Bruce 1982, 263; Rohde 1989, 264 –265; Matera 1992, 222; Dunn 1993a, 326–328; Richardson 1994, 90, 92; Becker 1998, 94; Witherington 1998, 429–430 (die beiden letzten deuten auch forti,on in V. 5 finanziell); als gemeinschaftsgerechtes Verhalten, also im allgemeineren Sinn, Schlier 1965, 275–276; Schewe 2005, 169 Anm. 510. Eckert 1971, 146 meint, die finanzielle Deutung wäre „im Kontext völlig isoliert, ohne erkennbaren Zusammenhang und Anlass.“ 188 Anders Harnisch 1987, 292; Dunn 1993a, 316; Schewe 2005, 144, 168. 189 Vgl. Lambrecht 1997, 44. 190 Betz 1988, 495–528 findet in Gal 5,25–6,10 nicht weniger als 11 Sentenzen oder Sprichwörter. Zum Sprichwort zur Relation von Saat und Ernte vgl. North 1992.

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Kapitel 3: Versöhnungsstrategien in Briefen

Ende steht schließlich in jedem Fall eine neue Ermahnung, die aus der allgemeinen Regel abgeleitet wird.191 Diese Ermahnungen verweisen auf das eschatologische Gericht (V. 4 und V. 9). 192 Im zweiten Teil wird diese Ermahnung verdoppelt (V. 10). Wir haben also einen parallelen Aufbau der beiden Teile des Abschnitts, wobei sich am Ende ein Zusatz als Schlusssignal findet. Die Struktur von Gal 6,1–10, die eine auffällige Ähnlichkeit mit 1 Thess 5,12–15 hat, lässt sich folgendermaßen darstellen: A

Erste spezielle Ermahnung

1 VAdelfoi,( eva.n kai. prolhmfqh/| a;nqrwpoj e;n tini paraptw, mati( u`mei/j oi` pneumatikoi. katarti,zete to.n toiou/ton evn pneu,mati prau