Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht [1 ed.] 9783428457946, 9783428057948

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Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht [1 ed.]
 9783428457946, 9783428057948

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CHRISTOPH GUSY Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht

Schriften

zum öffentlichen Band 482

Recht

Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht

Von

Christoph Gusy

DUNCKER

&

HUMBLOT

/

BERLIN

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Fernuniversität Hagen gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Gusy, Christoph:

Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht / von Christoph Gusy. — Berlin: Duncker und Humblot, 1985. (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 482) ISBN 3-428-05794-5 NE: GT

Alle Redite vorbehalten © 1985 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1985 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., 1000 Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-05794-5

We are under a constitution; but the constitution is what the judges say it is. (Ch. E. Hughes) The court is the constitution. (F. Frankfurter) Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie es das Bundesverfassungsgericht auslegt. (R. Smend) Das Bundesverfassungsgericht bestimmt den Umfang der Kompetenzen aller obersten Bundesorgane. So kann es seine eigenen Kompetenzen niemals überschreiten. (W. Geiger)

Vorwort Dem Buch liegt eine Studie zugrunde, die i m Jahre 1983 dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Fernuniversität Hagen als Habilitationsschrift vorlag. Sie wurde für den Druck ergänzt, überarbeitet und aktualisiert. Herr Prof. Dr. U. Battis hat sie i n jeder Phase ihrer Entstehung gefördert und das Habilitationsverfahren überhaupt erst ermöglicht. Herr Prof. Dr. D. Tsatsos hat das Zweitgutachten erstellt. Privatdozent Dr. J. Schulz hat alle Teile i m Zeitpunkt ihrer Entstehung mit dem Verfasser diskutiert und dabei viele Anregungen gegeben, die Verlauf und Ergebnisse maßgeblich beeinflußt haben. Frau C. Melzer und Herr R. Voßwinkel haben die Literatur beschafft und die notwendigen technischen Hilfen geleistet. Ihnen allen sei an dieser Stelle besonders herzlich gedankt. Christoph Gusy

Inhaltsverzeichnis Einleitung Das Bundesverfassungsgericht in der Diskussion

15

1. Teil Das Grundgesetz im Spannungsfeld zwischen Legislative und Bundesverfassungsgericht

I. Von der konstitutionellen zur demokratischen Gesetzgebung

18

19

1. Legislativer Gewaltenpluralismus im Konstitutionalismus

20

2. Legislativer Gewaltenmonismus in der Demokratie

23

II. Vorrang der Verfassung

25

1. Demokratiekonzept und Vorrang der Verfassung

25

2. Der Streit um die WRV

28

3. Die Entscheidung des Grundgesetzes

30

III. Gewaltenteilung

31

1. Demokratie und Gewaltenteilung

32

2. Gewaltenteilung und Normenkontrolle

33

3. Das Problem

34 2. Teil

Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht in der Bundesrepublik Deutschland

I. Rechtsgrundlagen 1. Die Einführung der Normenkontrolle im Grundgesetz

36

36 37

2. Spannungslagen zwischen Legislative und Bundesverfassungsgericht 39 II. Verfassungsrecht und Politik

41

1. Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit als Verwirklichung von Politik und Recht? 41

10

Inhaltsverzeichnis

a) Die Entgegensetzung von Politik und Recht

41

b) Vermittelnde Ansichten

44

c) Rechtsprechung als politisches Staatshandeln

46

2. Die "political question doctrine" III. Die Kompetenzordnung nach der Wertordnungslehre 1. Die Wertordnungslehre in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

52 58 59

a) Die Einführung der Wertordnungslehre in die Rechtsprechung 60 b) Die Loslösung der Wertordnung vom Grundgesetz

62

2. Das Verhältnis zwischen Legislative und Bundesverfassungsgericht nach der Wertordnungslehre . . . . . ; , ;.·.·.. 65 a) Wertsetzung

65

b) Werterkenntnis

66

c) Wertverwirklichung

67

d) Gesetzgebung als Verfassungsvollzug

68

3. Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht im Prozeß des Verfassungsvollzuges 70 a) Verdichtung des Verfassungsrechts

70

b) Materialisierung von Kompetenznormen

71

c) Einbeziehung verwaltungsrechtlicher Grundsätze in das Verfassungsrecht 73 4. Die Problematik der wertorientierten Verfassungsauslegung a) Demokratische Gestaltung als Werterkenntnis?

76 76

b) Erkenntnisorientierter Wertvollzug als Gefahr für die Demokratie 79 c) Erkenntnisorientierter Wertvollzug als Gefahr für die Verfassungsgerichtsbarkeit

83

d) Zusammenfassung

86 3. Teil

Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

I. Grundfragen 1. Funktionelle Abgrenzung 2. Verfassungsrechtliche Voraussetzungen der Abgrenzung . . . . . . . .

88

88 88 93

a) Die Offenheit des Grundgesetzes

93

b) Das Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts ..

96

Inhaltsverzeichnis

II. Die Stellung der Legislative nach dem Grundgesetz

96

1. Das Verfahren der Gesetzgebung

97

a) Freies Zugriffsrecht

97

b) Potentielle Öffentlichkeit

99

c) Offenheit

102

2. Die demokratische Legitimation der Gesetzgebimg

104

a) Wahl

107

b) Kontrolle

108

c) Freie Revisibilität

111

3. Besonderheiten der Verfassungsbindung der Gesetzgebung

112

a) Abstrakt-genereller Charakter der Gesetze

113

b) Informationsdefizite des Parlaments

115

III. Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts nach dem Grundgesetz 119 1. Das Bundesverfassungsgericht als Gericht

119

2. Das Verfahren des Bundesverfassungsgerichts

122

a) b) c) d)

Antragserfordernis Nachträglichkeit Einzelfallbezug Limitierter Zugang

123 125 126 130

3. Die demokratische Legitimation verfassungsgerichtlicher scheidungen

Ent-

132

a) Wahl

132

b) Keine Kontrolle oder freie Revisibilität c) Verfassungsbindung

134 135

4. Teil Die Kompetenzabgrenzung zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht

138

I. Die normativen Grundlagen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 139 1. Anforderungen an die Regelungsdichte der Entscheidungsgrundlagen 139 2. Die Abwehrdimension der Grundrechte als Entscheidungsgrundlage 145 3. Gesetzgebungsaufträge als Entscheidungsgrundlage 148 a) Regelungslücken und Gesetzgebungsaufträge 149 b) „Nichterfüllung" und „Schlechterfüllung" von Gesetzgebungsaufträgen 150

Inhaltsverzeichnis

12

4. Staatszielbestimmungen als Entscheidungsgrundlage

153

a) Staatszielbestimmungen

153

b) Die „Nichterfüllung" von Staatszielbestimmungen

155

c) Die „Schlechterfüllung" von Staatszielbestimmungen

160

II. Die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen und Prognosen

164

1. Tatsachen und Prognosen im Normenkontrollverfahren

164

2. Die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen

166

a) Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts

166

b) Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Überprüfung von Tatsachen 169 3. Die Überprüfung von Prognosen

173

a) Prognoseprüfungen des Bundesverfassungsgerichts

174

b) Prognoserationalität und Prognosekontrolle

177

c) Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Überprüfung von Prognosen 179 III. Die Entscheidungsformen im Normenkontrollverfahren

182

1. Die Nichtigerklärung von Gesetzen

183

2. Die Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen

188

a) Die Verfassungswidrigerklärung in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts 189 b) Zulässigkeit und Grenzen der Verfassungswidrigerklärung

193

c) Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts zum Erlaß von Übergangsregelungen? 197 d) Die Kompetenzverteilung für den Erlaß von Übergangsregelungen 202 3. Appelle an den Gesetzgeber

205

a) Appellentscheidungen in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts 205 b) Zulässigkeit und Grenzen der Appellentscheidungen 4. Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen

210 213

a) Die verfassungskonforme Auslegung in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts 214 b) Zulässigkeit und Grenzen der verfassungskonformen Auslegung 218 5. Die Verfassungsmäßigerklärung von Gesetzen IV. Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 1. Die Rechtskraft a) Unwiderruflichkeit und formelle Rechtskraft

222 224 224 224

Inhaltsverzeichnis

b) Materielle Rechtskraft

225

c) Umfang und Grenzen der Rechtskraft

229

2. Die Bindungswirkung gemäß § 311 BVerfGG

234

a) Bindungswirkung

235

b) Bindungswirkung der „tragenden Gründe"

236

c) Grenzen der Bindungswirkung

245

3. Die Gesetzeskraft nach § 31 I I BVerfGG

246

a) Die objektive Wirkung der Gesetzeskraft

246

b) Die subjektive Wirkung der Gesetzeskraft

250

c) Grenzen der Gesetzeskraft

253

4. Obiter dicta

253

a) Obiter dicta in der Praxis

254

b) Zulässigkeit und Grenzen von obiter dicta

256

Schluß Die Umsetzung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in der politischen Praxis

261

Literaturverzeichnis

263

EINLEITUNG

Das Bundesverfassungsgericht in der Diskussion Die Kompetenzverteilung zwischen dem parlamentarischen Gesetzgeber und dem Bundesverfassungsgericht ist i n der Bundesrepublik stets unsicher gewesen. Insbesondere das Gericht steht spätestens seit der Schaffung des Grundgesetzes i m Zentrum von Diskussionen u m Bedingungen und Grenzen seiner Wirksamkeit i m demokratischen Staat. Von den einen w i r d Verfassungsgerichtsbarkeit als „krönender Abschluß des rechtsstaatlich-demokratischen Regimes" 1 oder gar als „die wunderbarste Tat, die zu irgendeiner Zeit menschlichen Hirnen entsprungen ist" 2 apostrophiert. Demgegenüber beriet die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer schon vor dem Erlaß des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes über die „Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit" 3 . I n den Streit schalteten sich auch Politiker und Richter am Bundesverfassungsgericht ein; ihre Auseinandersetzungen und ein zunehmendes Bedürfnis der Rechtswissenschaft mündeten i n den Ruf nach einer eindeutigen Kompetenzzuordnung zwischen jenen beiden Staatsorganen 4 . Die Meinungsverschiedenheiten betreffen ein Staatsorgan, welches i m internationalen Vergleich 5 mit einer ungewöhnlichen Kompetenzfülle ausgestattet ist. Schon deshalb verspricht eine Konkretisierung seiner Zuständigkeiten auf rechtsvergleichender Grundlage wenig Ertrag. Nach seiner eigenen Selbsteinschätzung soll das Bundesverfassungsgericht i n der Bundesrepublik als Ausgleichs-, Befriedungs- und Integrationsinstanz auf die politische Auseinandersetzung mäßigend einwir1

Laufer, Aus Politik und Zeitgeschichte 30/1965, S. 16. Marcic, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 212. 3 Kaufmann / Drath, W D S t R L 9, 1/19; die Auseinandersetzungen begannen tatsächlich schon vor Erlaß des Grundgesetzes, s. Apelt, DRiZ 1946, 176 f.; Radbruch, SJZ 1946, 105; kritisch nach Erlaß des Grundgesetzes zum Bundesverfassungsgericht auch schon H. Schneider, Der gerichtsfreie Hoheitsakt, 1951; später ApeZi, NJW 1953, 641 ff.; Thoma, JöR 6, 161 ff. 4 s. etwa Vogel, DöV 1978, 665; Benda, Grundrechtswidrige Gesetze; ders. DöV 1983, 305 ff.; Hirsch, DRiZ 1977, 225; Geiger, FS Maunz, 117; zu Reaktionen von Parlament und Regierung auf „unerwünschte Urteile" Schreiber, Reaktionen, S. 20 ff.; Kisker, NJW 1981, 889 ff. 5 Dazu Mosler, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart, 1963, mit vielfältigen Länderberichten. 2

16

Einleitung: Das Bundesverfassungsgericht i n der Diskussion

ken e . Diese Funktion kann ein Gericht nur erfüllen, wenn es selbst als Quelle von Befriedung und Integration anerkannt ist, also nicht als Partei i n eben jener Auseinandersetzung steht, zu deren Schlichtung es angetreten ist 7 . Die Wahrnehmung gerade dieser Aufgabe w i r d dem Bundesverfassungsgericht dadurch erschwert, daß Gegenstand seines Auftrages die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Handelns anderer Staatsorgane ist. Gegenüber der Legislative bedeutet diese konkret die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen. Da das Parlament mit Mehrheit entscheidet, diese jedoch kaum Maßnahmen der eigenen Seite vor dem Bundesverfassungsgericht angreifen wird, fällt die Rolle des Antragstellers zumeist der Minderheit — oder den Betroffenen, zumeist den Bürgern — zu. I n der politischen Auseinandersetzung ist daher die Einschaltung des Gerichtes ein „Instrument der Opposition Wird das Gericht so i n den jeweiligen Streit hineingezogen, so mindern die Auseinandersetzungen u m seine Kompetenzen seine Funktionsfähigkeit; Legitimation und Akzeptanz seiner Enscheidungen sind nicht mehr gewährleistet 8 . K r i t i k erfährt die Spruchtätigkeit des Bundesverfassungsgerichts insbesondere durch solche Staatsorgane, die i n einem Streitverfahren „unterliegen", weil etwa ein Gesetz für verfassungswidrig gehalten oder ein sonstiges Staatshandeln als rechtswidrig qualifiziert wurde. Die „Unterlegenen" behaupten, das Gericht habe seine Kompetenzen überschritten und i n Zuständigkeiten eingegriffen, welche vom Grundgesetz anderen Organen zugewiesen werden. Solche K r i t i k t r i f f t auf den Widerspruch derjenigen, die i n einem Verfahren „obsiegt" haben, indem das Gericht ihren Anträgen stattgab. Sie nehmen für sich i n A n spruch, das Bundesverfassungsgericht habe seine Kompetenzen i n sachgerechter Weise ausgeübt und verfassungswidriges Verhalten der „Gegenseite" zu Recht gerügt. Zur Legitimation parlamentarischen Handelns w i r d regelmäßig die demokratische Wahl, für das Verfassungsgericht sein rechtsstaatlicher, sozialstaatlicher, gelegentlich auch sein demokratischer Auftrag (Art. 20 I, I I 1 GG) herangezogen. Je nach der Betonung der einzelnen Prinzipien ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen für das Verhältnis der Kompetenzen von Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit zueinander. So kann jede Seite Entscheidungen zitieren, welche gerade die von ihr behauptete Legitimation verfassungsgerichtlicher Spruchtätigkeit bestätigen, indem i m jeweiligen Fall erst das Gericht die 8

Leibholz, JöR 6, 111. Zu den Bedingungen dafür: Massing, Probleme der Demokratie heute, 1971,180, 184 ff.; ders. in Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 411 ff. 8 Eckertz, DSt 1978, 183 ff. 7

Einleitung: Das Bundesverfassungsgericht i n der Diskussion

angestrebten demokratischen oder sozialstaatlichen oder rechtsstaatlichen Ziele verwirklichte. So entsteht die Gefahr einer Kompetenzbestimmung je nach der Erwünschtheit oder Unerwünschtheit des Ergebnisses. Eine solche opportunistische Auffassung kann jedoch keine Grundlage für eine Gerichtsinstanz sein, deren Aufgabe i n der Befriedung aller streitenden Parteien gesehen wird. Ziel einer dieser Funktion erfüllenden Kompetenzordnung muß vielmehr sein, einerseits die Wahrung der formell- und materiellrechtlichen Anforderungen und Vorgaben des Grundgesetzes zu garantieren und die Verfassungsbindung der kontrollierten Staatsorgane durchzusetzen. Andererseits muß die Kompetenzordnung den materiellen Vorgaben entsprechen. Der Ruf nach "judicial self restraint" hat sich dabei i n der Vergangenheit als zu wenig konkret erwiesen. Materielles Recht und verfassungsrechtliche Funktionszuordnung müssen einander bei der Bestimmung der Organkompetenzen zugeordnet werden. Nicht ausreichend ist, daß die Zielsetzungen des Grundgesetzes irgendwie v e r w i r k licht werden; sie müssen auch von den dazu durch das Grundgesetz berufenen Organen i n den für sie vorgesehenen Verfahren realisiert werden, wenn der Funktionentrennung i m Verfassungsrecht mehr als nur Zufallscharakter zukommen soll. Gerade Organisations- und Verfahrensnormen müssen, sollen sie funktionsfähig bleiben, ein hohes Maß an Rechtssicherheit garantieren. Um diesem Ziel gerecht zu werden, muß die Kompetenzordnung i n der Weise gestaltet werden, daß sie nicht nur den jeweiligen AufgabenzuWeisungen entspricht, sondern zugleich praktikabel und vorhersehbar ist 9 . Der 1. Teil enthält eine theoretische Problemskizze, welche die Fragestellung und den hier eingeschlagenen Lösungsweg präzisieren soll. I m 2. Teil werden diejenigen Lösungsansätze erörtert, welche bislang i n Rechtsprechung und Literatur maßgeblich sind. Auf der Grundlage jener K r i t i k w i r d die Basis eigenen Ansatzes i m 3. Teil umrissen. Die Operationalisierung und Klärung von vielfach diskutierten Einzelfragen findet sich auf jener Basis i m 4. Teil.

9 Friesenhahn, Bundesrat als Verfassungsorgan und als politische Kraft, S. 255.

2 Gusy

1. TEIL

Das Grundgesetz im Spannungsfeld zwischen Legislative und Bundesverfassungsgericht Verfassungsgerichtsbarkeit stellt i n der deutschen Geschichte kein Novum dar. Wohl aber gilt dies für Stellung und Aufgabenfülle, wie sie dem Bundesverfassungsgericht nach dem Grundgesetz zukommt. Eine zentrale Neuerung i m staatlichen Kompetenzgefüge stellt dabei das Normenkontrollrecht, welches sowohl als abstraktes (Art. 93 I Nr. 2 GG) als auch als konkretes (Art. 100 11 GG) Verwerfungsrecht beim Bundesverfassungsgericht zentralisiert ist, dar. Kein deutsches Gericht hatte je zuvor eine derartige Vielzahl von Prüfungs- und Kassationsbefugnissen gegenüber der Legislative; insbesondere bestanden solche Rechte nicht für den Staatsgerichtshof der Weimarer Republik (vgl. A r t . 19 WRV). Durch die Einführung der Normenkontrolle i m Grundgesetz wurde zugleich eine verfassungsrechtliche Streitfrage, die seit über 100 Jahren Praxis und Rechtswissenschaft beschäftigt hatte 1 , positivrechtlich entschieden. Der Verfassungsgerichtsbarkeit — und nur ihr — wurde das Recht eingeräumt, förmliche Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit dem Grundgesetz zu prüfen und sie i m Falle eines inhaltlichen Widerspruchs zu kassieren. Gerade i n Anbetracht jener Vorgeschichte stellt sich u m so eindringlicher die Frage nach der Zuordnung der verfassungsgerichtlichen Kompetenzfülle zu der Stellung des demokratischen Gesetzgebers sowie zu dessen verfassungsrechtlichen Bindungen. I m insoweit durchaus spannungsvollen Geflecht von Kompetenzzuweisungen und -bindungen stellt sich die Entscheidung für ein derart weitreichendes Prüfungsrecht als Ausprägung einer spezifischen verfassungsgeschichtlichen wie -rechtlichen Lage dar: Der demokratische Verfassungsstaat lebt i m Spannungsfeld zwischen verfassungsrechtlicher „Bindung der Lebenden durch die Toten" und volkslegitimierter Entscheidung des Gesetzgebers. I n diesem Spannungsfeld steht die Verfassungsgerichtsbarkeit keineswegs nur als „Hüter der Verfassung", sondern zugleich als Hüter der Demokratie. Sind dabei sowohl Legislative als auch das Bundesverfassungsgericht ausschließlich an das Grundgesetz gebunden, so t r i t t dieses i n den Spannungsrahmen von 1 s. in jüngerer Zeit Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit, 1984; Peine, DSt 1983, 521 ff.; beide m. w. N.

I. V o n der konstitutionellen zur demokratischen Gesetzgebung

19

parlamentarischer und justizieller Konkretisierung und Verwirklichung. Das Grundgesetz wollte jedoch gerade nicht Demokratie oder Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern beide neben- und miteinander. Die dadurch eröffneten Konkurrenz- und Konfliktlagen stellen sich der vorliegenden Studie als Aufgabe.

I. Von der konstitutionellen zur demokratischen Gesetzgebung Verfassungsrecht determiniert einzelne Grundfragen der staatlichen Organisation und Willensbildung, und zwar je konkreter Staaten. Sie sind darauf angelegt, die real anzutreffenden pluralen Belange und Interessen der Menschen zugrundezulegen und für sie die Basis einer einheitlichen Rechtsordnung zu normieren. Voraussetzung jeder W i r k samkeit von Verfassungsrecht ist, daß es nicht ein relevantes Interesse i m Gemeinwesen auf Dauer von der Einflußnahme auf die kollektive Willens- und Entscheidungsbildung ausschließt. Ein solches Interesse würde sich, um sich überhaupt artikulieren zu können, notwendig gegen die Verfassungsordnung richten. Jede Konstitution setzt somit ein Mindestmaß an Ausgleich und Vermittlung voraus, sie ist so Resultat eines Kompromisses. Zugleich besteht eine wesentliche Aufgabe darin, die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Willens- und Entscheidungsbildung normativ zu determinieren, indem diese rechtlich ermöglicht oder doch zumindest nicht verhindert wird. Dieser Prozeß erfordert seinerseits wiederum ein Mindestmaß an sozialem Ausgleich. Insofern stellt Verfassung zugleich eine rechtliche Basis der Kompromißbildung im Gemeinwesen dar. A u f welche Weise derartige Vermittlungsprozesse stattfinden, läßt sich nicht abstrakt, sondern lediglich für einzelne konkrete Verfassungen bestimmen. Bei der Verwirklichung, Anwendung und Auslegung des Verfassungsrechts stellt sich dabei die Frage: wer ist m i t welcher Bindungswirkung berechtigt, die Verfassung rechtlich zu konkretisieren? Der „Hüter der Verfassung" ist so stets zugleich der Hüter der sozialen Ausgleichsfähigkeit des Gemeinwesens. Von i h m sind nicht nur Geltung und Inhalt der Rechtsnormen maßgeblich beeinflußt, sondern zugleich auch der gesamte Prozeß der Interessendefinition, -artikulation und -Vermittlung i m politischen System. Damit stellt sich unmittelbar die Kompetenzfrage als Grundfrage der rechtlichen Ordnung des Politischen.

20

1. Teil: Das Grundgesetz im Spannimgsfeld 1. Legislativer Gewaltenpluralismus im Konstitutionalismus

Zentrales Anliegen des Konstitutionalismus war die Organisation des Zusammenwirkens unterschiedlicher sozialer Gewalten. Die Auseinandersetzungen zwischen Monarch, Adel und Bürgertum sollten nicht mehr als Kampf u m den Staat geführt, sondern i n den Prozeß der W i l lens- und Entscheidungsbildung i m Gemeinwesen eingebracht werden. Grundlage jener Auffassung war die Definition divergierender, untereinander je harmonischer Interessen der beteiligten sozialen Gruppen. Monarchische, adelige und bürgerliche Interessen wurden als je einheitliche definiert und als relevant für das Gemeinwesen anerkannt. Jedem so definierten Interesse entsprach genau eine organisierte soziale Macht zu seiner Durchsetzung: der monarchische Staat als V e r w i r k l i chung der monarchischen Interessen, der partikulare Adel als Vertretung ständischer Interessen und das gewerbetreibende Bürgertum als Repräsentant bürgerlich-wirtschaftlicher Interessen. Konstitutionselemente jeder Gewalt waren somit: Interessenhomogenität i n der jeweiligen Gruppe, Interessenkollisionen zwischen den verschiedenen Gruppen und je eine organisierte Macht zur Durchsetzung je eines Interesses. Die so definitorisch hergestellte Pluralität relevanter Belange sollten i m konstitutionellen Staat zur Geltung gebracht und vermittelt werden. Die Leistungsfähigkeit des politischen Systems bestand geradezu i n seiner Kompromißfähigkeit, und seine Leistung war die Herstellung von sozialem Ausgleich. Rechtliche Grundordnung dieses Ausgleichs war die jeweilige Verfassung, welche die relevanten politischen Kräfte anerkannte und das Verfahren ihrer Interessenvermittlung rechtlich determinierte. Insoweit war Konstitution ihrerseits Kompromiß: sie war Konsequenz gesellschaftlicher Augleichsleistungen und sollte umgekehrt solche hervorbringen 2 . Medium dieses Ausgleichs war die Gesetzgebung, die von allen drei sozialen Gewalten gemeinsam ausgeübt wurde. Mechanismus dazu war das Konsens- oder Einstimmigkeitsprinzip: jedes Interesse konnte auf die Rechtsetzung schon dadurch Einfluß erlangen, daß ohne Zustimmung seiner organisierten Träger keine legislative Maßnahme i n Kraft treten konnte. Das Gesetz hatte so weitgehend Vertragscharakter; es basierte auf der Übereinstimmung aller beteiligten Belange. Gesetzgebung war dadurch das organisierte Gegeneinander und Miteinander aller relevanten Belange, das Verfahren von K o n f l i k t und Lösung, von Dissens und Konsens. Jedes Interesse brachte sich deshalb zur Geltung, weil es verfassungsrechtlich anerkannt war und dadurch am notwendigen Konsens beteiligt werden mußte. Hier konnte es weder ignoriert * Eingehend dazu Schefold, ZNR 1981, 137 ff.

I. V o n der konstitutionellen zur demokratischen G e s e t z g e b u n g 2 1

noch übergangen werden. Damit war ein besonderer rechtlicher Schutz einzelner Belange weder erforderlich noch wünschenswert. Der allgemeine soziale Ausgleich durch umfassenden Kompromiß und Konsens wäre durch inhaltliche rechtliche Determinierung lediglich beeinträchtigt worden. Der so erzielte Ausgleich hatte Vertragscharakter. Niemand brauchte rechtlich von seinen Belangen mehr Abstriche hinzunehmen, als er selbst durch seine M i t w i r k u n g am legislativen Konsens zugebilligt hatte. Voraussetzung für die Funktion eines solchen Ausgleichs war allerdings das Vorhandensein eines geeigneten Einigungsverfahrens, welches keine Umgehungs- oder Ausschaltungsmöglichkeiten zu Lasten einzelner Beteiligter zulassen konnte. Eben diese Funktion nahmen die Verfassungen ein, die folglich primär den Charakter von Verfahrensregelungen aufweisen mußten. Ihre Bedeutung i m Konstitutionalismus war so eine überwiegend formelle; ihre Leistungsfähigkeit bestand in der Regelung des organisierten Gegen- und Miteinander durch die Notwendigkeit allseitiger Beteiligung und Verfahrensregelungen für den sozialen Ausgleich selbst. Rechtliche Mindestpositionen zugunsten einzelner Interessen brauchten hingegen nicht aufgenommen zu werden, da durch Beteiligung am sozialen Ausgleich jedes als relevant anerkannte Interesse die Chance erhielt, sich selbst zu verwirklichen und durchzusetzen. Dem entsprach auch der Inhalt der — insoweit weitgehend gleichen — Konstitutionen. Sie enthielten ausführliche formelle Festsetzungen über das legislative Verfahren, insbesondere die Sicherung der Herstellung des sozialen Konsenses zwischen den beteiligten Gewalten und ihren Vertretern i n den verschiedenen Kammern. Zudem verzichteten sie weitgehend auf inhaltliche Bindungen der Gesetze; weder Verfassungsprinzipien noch Grundrechte richteten sich an die Legislative. Sie garantierten Freiheit nach Maßgabe und i m Rahmen der Gesetze und sicherten so, daß einzelne Beteiligte, insbesondere die stets handlungsfähige Verwaltung, nicht das Gesetz als allseitigen Kompromiß unterlaufen, konterkarieren oder aushöhlen konnten. Sie vertrauten so auf die immanente Rationalität und Richtigkeit des konstitutionellen Gesetzes als Instrument des allseitigen Ausgleichs; mußten alle relevanten Interessen beteiligt werden, schützten und verwirklichten sie ihre Positionen selbst. I n diesem Sinne waren konstitutionelle Verfassungen nicht zufällig Organisations- und Verfahrensnormen; sie waren solche, weil sie das System gerechter Interessenvermittlung voraussetzten und prozessual sicher wollten, zugleich dieser Gerichtigkeit aber auch ihren Lauf lassen wollten — und dies nach der vorausgesetzten Logik auch konnten. Ein solches System bedingte ganz spezifische Mechanismen richterlichen Prüfungsrechts gegenüber Gesetz. Ist der Hüter der Verfassung

1. Teil: Das Grundgesetz im Spanngsfeld

22

stets notwendig Hüter des sozialen Ausgleichs, so kann dies nur vor dem Hintergrund der konkret normierten Vermittlungsmechanismen geschehen. Waren diese i m Konstitutionalismus Interessendifferenzierung zwischen den Gewalten und deren Vermittlung durch Konsens, so wurden Interessenbildung und -definition vorausgesetzt; sie waren als vor- oder extrakonstitutionelle Phänomene nicht rechtlicher A r t und somit auch nicht justitiabel. Anderes hingegen galt für die staatliche Ausgleichs- und Vermittlungsleistung bei der Findung des legislativen Konsenses. Hier bestanden Sicherungs- und Kontrollbedürfnisse bezüglich der Rechtmäßigkeit des Verfahrens, insbesondere bei der Frage, ob ein Gesetz unter einwandfreier Zustimmung aller Beteiligten zustandegekommen war. Dies implizierte das formelle Prüfungsrecht gegenüber Gesetzen. Ferner mußte das Gesetz gegen Aushöhlungs- und Unterminierungsversuche durch die Exekutive geschützt werden; insbesondere war hier prüfungsbedürftig, ob eine Maßnahme dem Gesetzesvorbehalt unterlag oder nicht. Dabei war insbesondere festzustellen, ob eine Verordnung verfassungs- und gesetzeskonform war oder nicht. Hingegen bestand für die materielle Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von förmlichen Gesetzen kein Raum. Weder war die Richtigkeit des konstitutionellen Ausgleichs durch die Verfassung inhaltlich determiniert, da materielle Bestimmungen weitgehend fehlten; noch war die Gesetzesprüfung erforderlich, da das Konsensprinzip die freiwillige Zustimmung aller relevanten Interessen zu jedem Rechtssetzungsakt fingierte: Wer — durch seine Vertreter — selbst zugestimmt hatte, brauchte — faires Verfahren vorausgesetzt — keinen Rechtsschutz mehr. Konsequent folgte daraus das Prüfungsbedürfnis — gegenüber Gesetzen auf formelle Verfassungsverstöße, insbesondere fehlende Zustimmung einzelner Beteiligter bzw. ihrer Kammern; hingegen nicht i n materieller Hinsicht; — gegenüber Verordnungen auf formelle und materielle Verfassungsund Gesetzmäßigkeit. Diese Haltung lag insbesondere der frühen Rechtsprechung des Reichsgerichts zugrunde 3 ; die Staatsrechtslehre Schloß sich i h r zum Teil an 4 . Blieb dennoch das richterliche Prüfungsrecht damals umstritten, so gründete dieses i n den theoretischen Voraussetzungen des dargestellten Modells, die ihrerseits unterschiedlich bewertet wurden: Die vorausgesetzte Differenzierung nach sozialen Gewalten; ihre vorab definierte innere Interessenharmonie und äußere Interessenkollision; das 3

Etwa RGZ 45, 267, 270; 46, 175, 176; 77, 229, 231; GA 55, 326; s. schon RGZ 43, 417, 420; 48, 84, 88. 4 So insbesondere das Reichsgericht; vgl. dazu — zustimmend — Bettermann, FS J. Broermann, 1982, S. 491 ff.

I. V o n der konstitutionellen zur demokratischen Gesetzgebung

Konsensmodell moment.

als vertragsähnliches Ausgleichs- und

Vermittlungs-

2. Legislativer Gewaltenmonismus in der Demokratie

Eben diese Voraussetzungen schwanden mit dem Übergang vom konstitutionellen zum demokratischen Verfassungsstaat. Nicht das Gewalten» und Interessentrias des überkommenen Sozialmodells, sondern das pluralistische Gemeinwesen ist die ideelle Basis zumindest jener Demokratie, wie sie i n Deutschland — und anderen westlichen Staaten — die alten Konstitutionen ablöste. Der Grund dieser Wandlung bestand letztlich darin, daß die Staaten die geänderte Realität nicht mehr ignorieren konnten. Die vorausgesetzte und vom Konstitutionalismus für relevant erklärte Interessentrinität von Monarch, Adel und Bürgertum war der Wirklichkeit i n jeder Hinsicht inadäquat. König und Adel waren als legitime Träger eigener Belange weitgehend nicht mehr anerkannt; ihre Sonderinteressen wurden als unverdiente und ungerechtfertigte Privilegien begriffen. Auch war das Bürgertum längst i n sich nicht mehr homogen: die inneren Gegensätze waren von den unterschiedlichen ökonomischen Positionen der Einzelnen geprägt. War das konstitutionelle Verfassungsmodell noch überwiegend ständisch orientiert, so wurde dieses nunmehr auch verfassungsrechtlich von dem Klassensystem überholt. Diese Entwicklung vollzog sich teils friedlich, teils auf gewaltsame Weise. Dem trägt die Demokratie dadurch Rechnung, daß sie nicht einzelne Interessen für relevant erklärt und andere nicht, sondern vielmehr jeden Belang als potentiell gleichberechtigt qualifiziert. Nicht vorab definierte soziale Gruppen, sondern der Mensch als Individuum wird als Interessenträger anerkannt. Das gilt grundsätzlich für jeden Menschen, und das gilt grundsätzlich für jedes seiner Interessen. Jedes Sonderinteresse kann sich so potentiell artikulieren und zur Geltung bringen. Damit wandelte sich zugleich das Ausgleichs- und Vermittlungsbedürfnis i m Gemeinwesen. Es war nicht mehr der Ausgleich dreier Gruppen, sondern vielmehr die Integration potentiell unendlich vieler Interessen und Anschauungen aller Bürger. Indem jeder seine Belange einbringen kann, kann auch jeder potentiell am sozialen Ausgleich m i t wirken. Die Demokratie verlegt so die bislang außerhalb des Staates angesiedelte Integration sozialer Teilgruppen partiell i n das staatliche Organisations-, Aufgaben- und Handlungsgefüge hinein. Damit änderten sich nicht nur die Anforderungen an das Vermittlungssystem, vielmehr mußte sich dieses selbst grundlegend wandeln. Dabei verloren die beiden tragenden Säulen des Konstitutionalismus ihre Funktion: der Gewaltenpluralismus und das Konsensprinzip. War jeder-

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1. Teil: Das Grundgesetz im Spanngsfeld

mann als potentieller Interessenträger anerkannt, so konnte nicht mehr jeder Interessent selbst an der Gesetzgebung mitwirken. Eine derartige Identität von Regierenden und Regierten hätte zumindest i n größeren Staaten wie Deutschland nicht real werden können. Zugleich war aber auch das überkommene Gewaltentrias funktionslos geworden. Dem entsprach die Ersetzung des legislativen Mehrkammersystems durch das in sich pluralistisch zusammengesetzte Parlament. Dieses war, legitimiert durch allgemeine, gleiche und freie Wahlen, die einzig berufene Ausgleichsinstanz i m Staat. Neben ihm konnte es keine vergleichbare, gleichberechtigte Institution geben. Der konstitutionelle Gewaltenpluralismus i n der Legislative wurde so durch den Monismus des Parlaments abgelöst. Nicht drei, sondern ein Organ übernahm fortan die Vermittlungsleistung i m Gemeinwesen. Zugleich fand damit der andere Ausgleichsmechanismus sein Ende: das Konsensprinzip. Seine Verwendungsfähigkeit i m Konsitutionalismus basierte praktisch darauf, daß die vom Staat vermittelten Belange auf drei definitionsgemäß vorselektiert waren. Sind drei Anschauungen zumeist noch kompromißfähig, so gilt dies für deren potentiell unendliche Zahl i n der Demokratie weder theoretisch noch praktisch. Reale Einstimmigkeit wäre kaum je vorhanden, geschweige denn feststellbar. An die Stelle des Konsenses trat so das Mehrheitsprinzip als Abstimmungsregel. Es gilt für Wahlen ebenso wie für Abstimmungen, i m Volk ebenso wie i m Parlament. M i t diesen Wandlungen sind die Grundlagen des konstitutionellen Systems eines sozialen Ausgleichs durch Gesetzgebung geschwunden. Der Gewaltenpluralismus der Legislative wandelte sich zum Monismus des Parlaments, das Konsensprinzip zum Mehrheitsprinzip. Damit ist implizit zugleich anerkannt, daß es i m Abstimmungsvorgang Interessen und Belange gibt, die sich i n der Entscheidung nicht durchgesetzt haben, sondern überstimmt wurden. Nicht jedes Anliegen fließt so notwendig i n das Entscheidungsergebnis ein; dieses basiert nicht einmal der Idee nach auf der Zustimmung aller, eben lediglich der Mehrheit. Die Minderheit ist weder zustimmungspflichtig, noch w i r d i h r Konsens fingiert; sie ist lediglich an das Abstimmungsergebnis bis zu dessen Revision gebunden. Damit besteht auch die Kompromißfunktion der Beschlüsse nicht mehr i n der Integration aller Interessen. Die Vermittlungsleistung verwirklicht sich nicht i n dem Einfließen aller Belange i n den Beschlußinhalt, sondern i n das Beschlußverfahren. Ob sich ein Interesse hier durchsetzt oder nicht, ist nicht nur ein Problem des Verfahrens und des Verfahrensrechts, sondern insbesondere der Abstimmungen und ihrer Ergebnisse. Damit verlagern sich die Anforderungen des demokratischen Staates an das Vermittlungsverfahren und seine rechtliche Regelung. Nicht die Kompromißfähigkeit zwischen unterschiedlich verfaßten Gewalten, son-

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I I . Vorrang der Verfassung

dern der Ausgleich zwischen — wechselnden — Mehrheiten und Minderheiten ist das zentrale Anliegen. Hier setzt die Aufgabe des demokratischen Verfassungsrechts an; und an jener Aufgabe entscheidet sich zugleich die Frage nach der Rechtfertigung und dem Bedürfnis nach richterlicher Normenkontrolle. Jedenfalls kann die Aufgabe eines „Hüters der Verfassung" i m demokratischen Staat nicht einfach dieselbe sein wie diejenige i m konstitutionellen Gemeinwesen. Sie bedarf vielmehr einer eigenen Begründung, die sich an den Gegebenheiten des demokratischen Verfassungsrechts orientiert. Dies verkannte insbesondere die Diskussion i n der Weimarer Zeit, welche die Argumente aus dem konstitutionellen Staatsrecht vielfach übernahm und so gleiche Lösungen für unterschiedliche Probleme postulierte 5 . Welche Erwägungen unter den gewandelten verfassungsrechtlichen Bedingungen für und gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit sprechen, hängt vom Demokratiekonzept der jeweiligen Rechtsordnung ab.

II. Vorrang der Verfassung Der Hüter der Verfassung ist i m demokratischen Staat der Hüter des Interessenausgleichs zwischen Mehrheiten und Minderheiten. Deren Zuordnung ist aber weder a priorisch noch begrifflich aus der „Demokratie" zu deduzieren, sondern i n den einzelnen Systemen nach verschiedenen Konzepten gestaltet. 1. Demokratiekonzept und Vorrang der Verfassung

Die beiden möglichen Basiskonzeptionen lassen sich am Verhältnis zwischen der Gesamtheit des Volkes, der Mehrheit und der Minderheit erläutern. W i r d der Volkswille durch Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip entschieden, so kann der Mehrheitswille theoretisch auf zwei unterschiedliche Weisen gedeutet werden: Als Volkswille oder als Mehrheitswille, also Teilwille. Die Ineinssetzung von Volkswillen und Mehrheitswillen Abstimmungsmechanismus als materialem Prinzip aus.

geht von dem

Danach ist, was die Mehrheit w i l l , der wahre, richtige oder einzige Volkswille. Dementsprechend w i r d „der" Wille des Gesamtvolkes theoretisch als einheitlicher gedacht; er w i r d durch die Abstimmung ermittelt, erkannt und hervorgebracht. Volkswille ist notwendig Mehrheitswille, und Mehrheitswille ist notwendig Volkswille. Demgegenüber hat die Minderheit am Volkswillen nicht teil; sie ist aus dem einheitlich 5

Hierzu Wahl, DSt 1981, 485 ff.

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1. Teil: Das Grundgesetz im Spanngsfeld

begriffenen Volk und seinem Willen per definitionen ausgeschlossen. Sind i m Abstimmungsvorgang Mehrheiten und Minderheiten ermittelt, so ist der Volkswille konstitutiert; die Minderheit ist so weder Teilwille noch sonst relevant; sie ist schlicht weg irrelevant: „Das Volk" — verstanden als Willenseinheit, definiert duch die Mehrheit — meint, w i l l und herrscht ohne sie. Ist so die Minderheit nicht als relevante Einheit definiert, so bedarf sie auch keines besonderen rechtlichen Schutzes. Ihre Sonderinteressen und -meinungen sind eben nicht die Ansichten des Volkes, welches „herrscht". Sind Mehrheit und Minderheit festgestellt, so ist der Volkswille konstituiert und verbindlich bestimmt. Gegen i h n kann es i m demokratischen Staat keine Instanz geben. Jeglicher Rechtsschutz hört hier auf. Relevanter Gegenstand des Verfassungsrechts kann demnach lediglich der Prozeß der Hervorbringung und Ermittlung von Mehrheits- und Minderheitswillen sein, also der Meinungsbildungs- und der Abstimmungsprozeß. Hier muß der Volkswille aus allen vorhandenen Anschauungen durch Abstimmung fair und gerecht ermittelt werden; Verzerrungen führen hier zu einer Verfehlung des Abstimmungsziels, eben der Ermittlung des „wahren" Volkswillens. Dementsprechend kommt dem Verfassungsrecht die Aufgabe zu, das demokratische Verfahren zu organisieren, für seine immanente Gerechtigkeit zu sorgen. M i t diesen formellen Vorkehrungen durch Geschäftsordnungs-, Meinungsbildungs- und Abstimmungsregeln erschöpft sich jedoch die Leistungsfähigkeit des Verfassungsrechts. Es kann sich nicht gegen das Volk als ganzes richten, sondern lediglich die Konstitution des Volkes als Willenseinheit i m Einzelfall normativ determinieren. A n dieser Aufgabe des Verfassungsrechts orientiert sich auch die Leistungsfähigkeit eines Normenkontrollrechts. Es kann lediglich so weit gehen, daß es die Richtigkeit des demokratischen Verfahrens der Gesetzgebung überprüft, also als formelles Prüfungsrecht gilt. Jede andere, weitergehende Ausdehnung der Kontrollbefugnis auf eine inhaltliche Nachprüfung würde sich gegen den demokratischen Souverän, das Volk, kehren. Die Gleichsetzung von Volkswillen und Mehrheitswillen implU ziert somit das formelle Prüfungsrecht, nicht hingegen die materielle Kontrollkompetenz gegenüber Gesetzen. Demgegenüber sind sonstige Maßnahmen, insbesondere der Exekutive, zur Sicherung der demokratischen Willensbildung stets auf ihre Übereinstimmung mit Verfassung und Gesetz zu prüfen. Basierte jenes Konzept auf der Voraussetzung eines inhaltlich einheitlichen Volkswillens, so steht i h m diametral das Verständnis des Volkswillens als pluralistischer entgegen. Der Mehrheitswille ist dann nicht Gesamtwille, sondern Teilwille; der Volkswille insgesamt w i r d durch Mehrheit und Minderheiten gemeinsam konstituiert. „Der" Volkswille i m Sinne eines inhaltlich definierbaren und konkretisierbaren Willens

I I . Vorrang der Verfassung

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existiert demnach nicht als Einheit, sondern lediglich als Summe i n sich durchaus pluraler, da antagonistischer Anschauungen und Interessen. I n einem derartigen Entwurf ist das Mehrheitsprinzip lediglich formelle Abstimmungsregel; es bringt nichts hervor oder zum Ausdruck, was hinter oder über der Mehrheit steht, insbesondere weder Wahrheit noch den wahren Volkswillen. Es ist nur eine Verfahrensregel, die eben deshalb eingeführt werden mußte, weil reale Einstimmigkeit weder erzielbar noch feststellbar ist. Der Minderheitswille ist so i n jedem Zeitpunkt auch Volkswille; er ist lediglich i n der Abstimmung unterlegen, so daß deshalb die Minderheit verpflichtet ist, die Mehrheitsentscheidungen zu befolgen, bis sie aufgehoben oder abgeändert werden. I n der Mehrheitsentscheidung verwirklich sich weder das Volk noch das wahre Volk, sondern ein Teil setzt sich quantitativ gegen einen anderen durch. Hat auch die Minderheit am Volk und seinem tatsächlichen wie zulässigen Willen teil, so darf sie weder völlig ignoriert noch ausgeschaltet noch vollständig unterdrückt werden. Dem entspricht eine Garantie ihrer Mindestpositionen durch normative Verbürgungen, insbesondere Grundrechte, welche die Verfahrensrechte des Willensbildungsprozesses materiell auffüllen und organisieren. Solche Verbürgungen kehren sich nicht gegen den demokratischen Souverän, „das" Volk, sondern nach diesem Konzept lediglich gegen einen Teil davon, eben die Mehrheit, und schützt einen anderen Teil, nämlich die Minderheit. So w i r d nicht das Volk vor sich selbst geschützt, sondern der trivialen Einsicht Rechnung getragen, daß das Volk aus einer Vielzahl von einzelnen Menschen besteht, die eben verschieden sind und verschiedene Anschauungen aufweisen. Diesem Konzept entspricht nicht nur das formelle, sondern zugleich das materielle Prüfungsrecht: Entsprechen die Gesetzesbeschlüsse der Mehrheit den notwendigen Garantien zugunsten der Minderheit? Zugleich ist zum Schutz des demokratischen Willensbildungsprozesses auf das Prüfungsrecht bezüglich der Verfassungs- und Gesetzmäßigkeit von Verordnungen geboten. Die Frage des Vorrangs der Verfassung stellt sich für beide Konzepte je unterschiedlich. Jener Vorrang bedeutet, daß i m Falle eines inhaltlichen Widerspruchs zwischen Verfassungsrecht und einfachem Gesetz die Kollision zugunsten der Verfassung zu lösen ist 5 . Ein solcher Vorrang setzt allerdings voraus, daß i n der Konstitution überhaupt inhaltliche Regelungen enthalten sind, welche zu einem Widerspruch mit dem einfachen Recht führen können. Dies ist nicht der Fall, wenn sich das Verfassungsrecht lediglich auf formelle Bestimmungen über das Gesetzgebungsverfahren beschränkt. Zwischen solchen Verfahrensnormen und dem nach ihr erlassenen Recht ist ein inhaltlicher Widerspruch nicht denkbar; die Annahme eines Vorrang der Verfassung ist dann auch nicht sinnvoll. Die Gleichsetzung von Volkswillen und Mehrheitswillen

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1. Teil: Das Grundgesetz im Spanngsfeld

impliziert so die Ablehnung eines Vorrangs, ebenso wie dies zur Zeit des Konstitutionalismus galt. Demgegenüber führt das pluralistische Demokratiekonzept, das inhaltliche Anforderungen an Gesetze zum Schutz der Minderheiten interniert, zum Postulat des Vorranges: Sollen die Garantien gerade gegen Maßnahmen der Mehrheit schützen, so können sie nicht dem Gesetzgeber zur Disposition anheimgestellt werden; vielmehr müssen sie ihm rechtlich vorausliegen und i h n rechtlich binden. Vorrang der Verfassung und pluralistisches Demokratiekonzept entsprechen einander so notwendig. Demnach bewirkt der Übergang von der konstitutionellen zur demokratischen Staatsform nicht notwendig den Vorrang der Verfassung vor dem Gesetz6; vielmehr gilt dies nur für ein einzelnes Demokratiekonzept der limitierten, pluralistischen Demokratie. Hier ist nicht der Ort zu diskutieren, ob beide Modelle tatsächlich demokratisch sind. Vielmehr sollen lediglich die Konsequenzen beider Modelle für die richterliche Normenkontrolle gezeigt werden. Keine Konstitution entscheidet sich explizit für das eine oder andere Konzept; vielmehr ist diese Entscheidung durch Auslegung der Einzelbestimmung zu ermitteln. Derartige Auslegungen geraten allerdings i n den Druck politischer und sonstiger Vorentscheidungen, welche die einzelnen Interpreten außerrechtlich gefällt haben. Diese wirken sodann unmittelbar über das unterlegte Demokratiekonzept auch auf die Normenkontrollproblematik ein. Der Beweis dafür sind die Beispiele der WRV wie des Grundgesetzes. 2. Der Streit um die W R V

Welches der beiden Demokratiekonzepte der WRV zugrunde lag, war und blieb während ihrer Geltung zu allen Zeiten umstritten. Daß sie eine demokratische Verfassung darstellte, konnte hingegen nicht ernsthaft i n Zweifel gezogen werden. Da die Normenkontrolle nicht erwähnt war, lebte fast unmittelbar nach dem Inkrafttreten des neuen Verfassungsrechts die Auseinandersetzung erneut auf. Dominierten anfangs noch die Argumente aus dem gegenstandsgleichen Streit vor 1914, die etwa der Kommentar von Anschütz weitgehend übernahm und bis 1933 beibehielt, so setzte sich seit der Mitte der 20er Jahre eine Betrachtungsweise durch, welche sich den Eigenarten des demokratischen Verfassungsstaates gegenüber aufgeschlossen zeigte, und zwar sowohl i n zustimmender als auch i n ablehnender Weise. Die Fragestellung verschärfte sich bei der Wahl des verfassungstheoretischen wie -rechtlichen Paradigmas: Entweder das Streben nach demokratischer Legitimation 6

In dieser Richtung aber Wahl, DSt 1981, 493 ff.

I I . Vorrang der Verfassung

oder aber nach Rationalität, gebung.

Richtigkeit

oder Konsens bei der Gesetz-

Die demokratische Legitimation wurde i n der WRV für die Gesetzgebung durch den Reichstag vermittelt, dem ein insoweit nahezu machtloser Reichsrat nebengeordnet war. Der Reichstag verkörperte so i n besonderer Weise den legislativen Gewaltenmonismus. Er allein war das berufene Forum von Auseinandersetzung und Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Interessen. Demgegenüber waren die normativen Bindungen der Legislative durch die Verfassung schwach ausgestaltet, die Kompetenzen des Staatsgerichtshofes gerade nicht auf die Normenkontrolle erstreckt und ein richterliches Prüfungsrecht der sonstigen Gerichte nicht erwähnt. Daraus zogen einige Staatsrechtslehrer den Schluß, daß der demokratisch-parlamentarische Vermittlungsmechanismus zwischen den divergierenden Interessen das zentrale Anliegen der WRV sei; nicht Richtigkeit oder Rationalität, sondern Legitimation durch das Volk sei so die Grundtendenz der Verfassung. Darin wurde der eigentliche „Fortschritt" vom Kaiserreich zur Republik gesehen. Ein solcher Fortschritt forderte eine Stärkung der demokratisch-parlamentarischen Mechanismen, ihrer Funktionsfähigkeit und ihres Funktionsbereichs. Was der Reichstag beschlossen hatte, war demnach der Volkswille. Von diesem, mehr dem ersten Demokratieprinzip zuneigenden Standpunkt aus konnte das richterliche Prüfungsrecht konsequent verneint werden. Demgegenüber stand die Auffassung, daß der Übergang vom konstitutionellen zum demokratischen Staat primär eine Rationalitätseinbuße der Legislative zur Folge habe. Sei die Vernünftigkeit der Gesetze i m Konstitutionalismus durch den umfassenden Konsens zuverlässig gesichert gewesen, so fehle dem Mehrheitsprinzip ein solches Regulativ. Seien die überkommenden Sicherungen des richterlichen Rechts nicht mehr vorhanden, so müsse an ihre Stelle der rechtliche Schutz solcher Positionen treten, deren Gerechtigkeits-, Richtigkeits- oder Staatlichkeitsgehalt von prägender Bedeutung sei. Medium hierzu sei die Rechtsbindung des Gesetzgebers, die sich formal als Verfassungsbindung, inhaltlich jedoch an dem im wesentlichen überpositiven Recht erweise. Zur Verwirklichung und Durchsetzung jener Positionen i m demokratischen Staat sei die Richterschaft berufen, die so ein inhaltliches Prüfungsrecht gegenüber jedem parlamentarischen Gesetz besitze. Dieses Prüfungsrecht wurde i m Einzelfall vom Reichsgericht auch ausgeübt, von seiner daraus hergeleiteten Verwerfungskompetenz machte es hingegen nur ausnahmsweise Gebrauch. I n dieser Diskussion spielte der Vorrang der Verfassung fast überhaupt keine Rolle. War er i n A r t . 76 WRV durchaus offengelassen worden, so hatten die genannten Gegner des Prüfungsrechts keine Veran-

1. Teil: Das Grundgesetz im Spanngsfeld lassung, ihn besonders zu thematisieren. Soweit sie darauf überhaupt eingingen, verneinten sie ihn. Demgegenüber betonten die Anhänger des richterlichen Prüfungsrechts inhaltlich die Rechtsbindung, nicht die Verfassungsbindung der Legislative. War das vorausgesetzte Recht überpositiver Natur, so kam es für sie auf den Vorrang der Verfassung überhaupt nicht an. Vor diesem Hintergrund erstaunt nicht, daß der einzige Staatsrechtslehrer, der eine explizite Zuordnung von Demokratie und Vorrang der Verfassung versuchte und das richterliche Prüfungsrecht ausdrücklich mit dem Vorrang begründete, nämlich H. Kelsen, i n der Diskussion eine isolierte Sonderstellung einnahm und sich i n differenzierter Weise nicht auf die eine oder andere Seite schlug, sondern sich zum ausschließlich formellen Prüfungsrecht bekannte, das nur insoweit materiell ergänzt werden sollte, als dies durch das positive Verfassungsrecht ausdrücklich angeordnet worden sei. Jedenfalls läßt sich für die deutsche Entwicklung die These, richterliche Gesetzesprüfung und Vorrang der Verfassung seien Parallelerscheinungen, nicht bestätigen. Zugespitzt läßt sich die Weimarer Diskussion zusammenfassen als Fragestellung nach den Vorzügen der konstitutionellen bzw. der demokratischen Staatsform. War der Übergang positiv oder negativ zu bewerten? Dabei waren die Auseinandersetzungen zudem durch zeitgebundene Problemstellungen belastet. Tatsächlich funktionierte der von der WRV angestrebte Willensbildungs- und Entscheidungsmechanismus i n der Praxis nur zeitweise, das Parlament war temporär handlungsunfähig, die Stabilität der Regierung nur selten gewährleistet. A n gesichts der äußeren Herausforderungen an das parlamentarische System stellte sich die Frage nach den Entscheidungs- und Vermittlungsmechanismen der WRV somit zugleich als Frage nach der Notwendigkeit einer Fortentwicklung oder Überwindung des zeitgenössischen status quo h i n zu einem anderen System, i n welchem Entscheidungsfähigkeit, Richtigkeit und Stabilität einen höheren Stellenwert annahmen als die Legitimation der Gesetzgebung durch das Volk, die sich i n der Praxis bisweilen als zweifelhafter Vorteil darzustellen schien. Auch insoweit war die Diskussion u m das richterliche Prüfungsrecht zur Weimarer Zeit eine Diskussion um die Verfassung selbst.

3. Die Entscheidung des Grundgesetzes

Das Grundgesetz entstand vor dem Hintergrund von Erfahrungen, welche die an seinem Erlaß Beteiligten teilweise persönlich als Beteiligte oder Opfer der deutschen Verfassungsentwicklung gemacht hatten: dem Zusammenbruch des demokratischen Systems nach 1930 einerseits

I I I . Gewaltenteilung

ai

und der NS-Herrschaft andererseits. Der so geprägte Horizont begründet zumindest die Problemnähe der Perspektive, stand andererseits zugleich aber auch derjenigen Distanz i m Wege, welche richtige Problemerkenntnis oftmals erst ermöglicht. Einigkeit bestand jedenfalls darin, daß sich die Ereignisse nach 1930 nicht wiederholen sollten und durften. Jede Verfassungsgebung sah sich somit der Aufgabe gegenüber, ein normatives Instrumentarium zu schaffen, um solche Entwicklungen zu verhindern. Die war die explizite Haltung des parlamentarischen Rates, und dies ist die explizite Haltung des Grundgesetzes. Resultat war eine fast idealtypische Verwirklichung des zweiten Demokratiekonzepts, der pluralistischen, rechtlich limitierten und determinierten Demokratie. Nicht mehr — wie i n A r t . 1 WRV — der demokratische Entscheidungsmechanismus, sondern die inhaltlichen Verpflichtungen und Bindungen der Staatsgewalt stehen am Beginn des Grundgesetzes. Der Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gesetz ist ausdrücklich i n A r t . 20 I I I niedergelegt; und die Bindungen der Legislative an die Grundrechte ist bereits i n A r t . 1 I I I GG angeordnet. Beide Mechanismen stehen i n einem Umfeld von Vorkehrungen zur Stärkung, Sicherung und Bewahrung der Funktionsfähigkeit des demokratischen Staates, das nachgerade perfektionistisch anmutet. Die Verfassungsordnung der Bundesrepublik stellt sich so bisweilen als rechtsförmliche Antwort auf theoretische wie dogmatische Streitfragen der staatsrechtlichen Diskussion vor 1933 dar. M i t der Klärung der Vorrangfrage ist allerdings nicht bereits festgestellt, welche Instanz die Verfassung gegenüber dem Gesetzgeber zur Geltung zu bringen berechtigt ist. Daß eine Verfassungsbindung besteht, sagt noch nicht darüber aus, wer diese Bindung effektiviert und überwacht. Beide Fragestellungen sind i n der staatsrechtlichen Diskussion, insbesondere der Weimarer Zeit, analytisch nur selten getrennt worden. Der Schluß vom Vorrang auf das richterliche Prüfungsrecht ist jedenfalls logisch nicht möglich. Hier stellt sich vielmehr die Frage, wer mit Bindungswirkung gegenüber wem über die Verfassungsauslegung entscheiden darf. I I I . Gewaltenteilung Jede Rechtsbindung ist ausschließlich sinnvoll, wenn nicht die gebundenen Organe über den Inhalt ihrer eigenen Bindung selbst entscheiden dürfen. Demnach muß ein vom Adressaten verschiedenes Organ vorhanden sein, welches den normativen Gehalt der rechtlichen Bindung konkretisiert. Konkret bedeutet dies für die Frage nach der Normenkontrolle: nicht der Gesetzgeber selbst, sondern nur ein von ihm ver-

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1. Teil: Das Grundgesetz im Spanngsfeld

schiedenes Organ kann über den Inhalt der Verfassungsbindung der Legislative entscheiden. Ein solches, vom Parlament verschiedenes Organ muß demnach vorhanden und gegenüber dem Gesetzgeber handlungsfähig sein. Zudem muß die Legislative an dessen Entscheidungen gebunden sein. 1. Demokratie und Gewaltenteilung

Die so vorausgesetzte Verschiedenheit von Legislative und Kontrollorgan setzt voraus, daß die staatlichen Aufgaben und Zuständigkeiten von unterschiedlichen Organen wahrgenommen werden. Normenkontrolle ist so zugleich Ausprägung der Gewaltenteilung. Sie erscheint geradezu als Resultante aus pluralistischem Demokratiekonzept, Vorrang der Verfassung und Gewaltenteilung. Demokratie und Gewaltenteilung sind nicht notwendig kongruent. Der demokratische Staat ist nicht notwendig gewaltenteilend, und der gewaltenteilende Staat ist nicht notwendig demokratisch. Deutlich zeigt dies bereits die Entstehungsgeschichte des Gewaltenteilungsgedankens als Antithese zum Absolutismus. Während die Anhänger der Gewaltenteilungsidee — wie Locke oder Montesquieu — keineswegs den Übergang zur Demokratie postulierten, kannte Rousseau als Anhänger der Volkssouveränität keine Gewaltenteilung i m Sinne einer organisatorischen Gliederung des staatlichen Handlungsgefüges. Während die WRV den Demokratiegedanken betonte und das Gewaltenteilungsprinzip weitgehend i n den Hintergrund stellte, ordnet das Grundgesetz i n A r t . 20 I I 1 GG die Volkssouveränität und i n A r t . 20 I I 2 GG die Gewaltenteilung unmittelbar nebeneinander und einander zu. Die Stärkung insbesondere von Regierung und Justiz ging dabei zu Lasten insbesondere des Parlaments, das zwar seine Entscheidungskompetenzen i m wesentlichen behielt, aber doch eingebunden und kontrolliert erscheint. Ein solches Konzept der Einbindung und Kontrolle auch des demokratisch gewählten Parlaments ist wiederum lediglich als Konsequenz des pluralistischen, limitierten Demokratiekonzepts zu begreifen. Die nicht gewählten Instanzen bringen die rechtliche Bindung des Parlaments als Repräsentant des Souveräns zur Geltung, ein Umstand, der seinerseits auf dem pluralistischen Volkswillenkonzept basiert. Die Ineinsetzung von Volkswillen und Mehrheitswillen und die daraus resultierende weitgehende Freistellung des Gesetzgebers von verfassungsrechtlichen Bindungen ist demgegenüber rechtlichen und organisatorischen Bindungen nicht zugänglich. Erscheinen i n einem solchen Demokratiekonzept jegliche Bindungen des Parlaments von vornherein als antidemokratisch, so kennt das pluralistische Demokratieverständnis sie

I I I . Gewaltenteilung

als Verwirklichung der Idee des Minderheitenschutzes. Eine apriorische oder begriffliche Zuordnung von Demokratie und Gewaltenteilung kann es jedoch nicht geben. Vielmehr muß diese i m Einzelfall auf der Grundlage des je konkreten Verfassungsrechts geleistet werden. Demokratie als Volkssouveränität, die durch Mehrheitsentscheidung ausgeübt wird, und ihre rechtliche Determinierung im Verfassungsrecht entsprechen der Funktionszuordnung von Parlament und anderen Gewalten. So gerät das Grundgesetz i n das Spannungsverhältnis der einzelnen Zweige der Staatsgewalt untereinander, ein Spannungsverhältnis, daß sich selbst errichten und normativ auflösen soll. Wie dies jeweils geschieht, ist den einzelnen Verfassungen, für die Bundesrepublik also dem Grundgesetz, zu entnehmen. 2. Gewaltenteilung und Normenkontrolle

Die Entscheidung für die Gewaltenteilung i m demokratischen Staat ist Voraussetzung der Entscheidung für die justizielle Normenkontrolle; die zweite ist allerdings aus der ersten noch keineswegs zwangsläufig zu deduzieren. Limitierte, kontrollierte Demokratie besagt noch nichts darüber, wer das Kontrollrecht ausüben darf. Nicht weiter führt aber insbesondere der Gedanke, richterliche Normenkontrolle sei die Reaktion auf den ansonsten möglichen Widerspruch zwischen Verfassung und Gesetz, welche dem entscheidenden aufgrund seiner Verfassungsbindung und seiner Gesetzesbindung unterschiedliche Entscheidungen abverlange, ohne daß er für eine eigenständige Kollisionslösung berufen sei. Denn diese Konfliktsituation ist keine spezifisch richterliche; sie kann i m Staat sowohl die Regierung als auch die Exekutive treffen. Schon jener Umstand zeigt, daß das Kontrollrecht prinzipiell bei unterschiedlichen Organen angesiedelt sein kann, sofern diese nur außerhalb der Legislative organisiert sind. Hier stellt sich als mögliche Alternative zu einem eigenständigen Verfassungsgericht insbesondere die Prüfung durch den Staatspräsidenten oder diejenige durch jeden einzelnen Richter i m Rahmen eines allgemeinen — historisch vielfach diskutierten — richterlichen Prüfungsrechts. Unter diesen möglichen Alternativen stellt die Verfassungsgerichtsbarkeit die Entscheidung für ein spezialisiertes, selbständiges Kontrollorgan dar, das nach den Maßstäben richterlicher Unabhängigkeit organisiert ist und operiert. Damit ist die Kontrollinstanz einerseits dem erhöhten politischen Druck entzogen, welchem insbesondere der gewählte und auf Wiederwahl bedachte Staatspräsident ausgesetzt wäre. Zugleich ist durch die Monopolisierung des Verwerfungsrechts gesichert, daß die Einheit der Verfassungsauslegung und der Rechtsprechung ge3 Gusy

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1. Teil: Das Grundgesetz im Spanngsfeld

währleistet ist. Dieser Beitrag zur Rechtseinheit stellte das maßgebliche Argument gegen das richterliche Prüfungsrecht i n der verfassungsrechtlichen Diskussion u m jedes Instrument überhaupt dar. Daraus kann nun weder der Schluß gezogen werden, die Verfassungsgerichtsbarkeit sei die Entscheidung für die unpolitische Verfassung — mit Stoßrichtung gegen den Präsidenten — noch der Schluß, Widersprüche, Wandel oder Unstimmigkeiten der Rechtsprechung könnten so stets und für alle Zeiten vermieden werden. Dies zeigt schon die Aufspaltung des Bundesverfassungsgerichts i n mehrere Senate und die Möglichkeit des overruling seine eigenen Entscheidungen. Aber auch insoweit gilt, daß die Entscheidung für das Bundesverfassungsgericht und die Konzentration der Verwerfungskompetenz bei i h m zugleich als Reaktion auf überkommene staatsrechtliche Diskussionen zu begreifen sind. Verfassungsgerichtliche Normenkontrolle erscheint so nicht als notwendig, wohl aber als eine mögliche und konsequente Zuordnung von Demokratie, Vorrang der Verfassung und Gewaltenteilung.

3. Das Problem

Ist so die Grundfrage m i t der Entscheidung für das Normenkontrollrecht des Bundesverfassungsgericht entschieden, so stellt sich doch auf der Ebene der Konkretisierung das Zuordnungsproblem neu. Dieses resultiert aus dem Ineinandergreifen dreier Problemzonen. Erste Problemzone ist das Spezifikum der Rechtsbindung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Während die Zuordnung von Gesetzgeber und Fachgerichten durch A r t . 97 I GG eindeutig dahin geklärt ist, daß die Gerichte an die Gesetze gebunden sind, kann eine solche Gesetzesbindung für das Bundesverfassungsgericht bei der Ausübung des Normenkontrollrechts gerade nicht bestehen. Vielmehr ist Prüfungsmaßstab ausschließlich das Grundgesetz. Damit ist die rechtliche Determinierung der Legislative und des Bundesverfassungsgerichts genau gleich, eine Sonderkonstellation, die für keinen anderen Zweig der Staatsgewalt i n vergleichbarer Weise auftritt. Sind demnach die rechtlichen Vorgaben des Gesetzgebers und der Gerichte verschieden, so unterscheidet sich insoweit das Bundesverfassungsgericht bei der Normenkontrolle von allen anderen Justizorganen und steht insoweit der Legislative gleich gegenüber. Zweite Problemzone ist die Einseitigkeit der Bindung. Ist Rechtskontrolle nur sinnvoll, wenn der Kontrollierte an die Entscheidungen des Kontrollierenden gebunden ist, so binden zwar verfassungsrechtliche Entscheidungen den Gesetzgeber, nicht aber Entscheidungen der Legis-

I I I . Gewaltenteilung

lative des Bundesverfassungsgerichts. Dementsprechend ist das Zuordnungsproblem ein einseitiges. Es entsteht lediglich zu Lasten des Gesetzgebers, nicht hingegen zu seinen Gunsten. Dritte Problemzone ist das Grundgesetz als verfassungsrechtliche Grundlage der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen. Determiniert es den Gesetzgeber inhaltlich und stellt es zugleich den rechtlichen Kontrollmaßstab dar, so reicht es so weit, wie das Bundesverfassungsgericht reicht; und das Bundesverfassungsgericht reicht so weit, wie das Grundgesetz reicht. Gerade deshalb ist das Bemühen u m die Zuordnung stets zugleich das Bemühen u m das Grundgesetz.

2. TEIL

Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht in der Bundesrepublik Deutschland I. Rechtsgrundlagen I m Gegensatz zu den früher geltenden deutschen Verfassungen hat das Grundgesetz die richterliche Prüfungs- und Verwerfungskompetenz positiv-rechtlich geregelt. Ausdrücklich w i r d jedem Gericht das Prüfungsrecht bezüglich der Vereinbarkeit von Gesetzen mit dem Grundgesetz zugesprochen (Art. 100 11 GG), für das Bundesverfassungsgericht sind darüber hinaus Sonderregelungen aufgenommen (Art. 93 I Nr. 2,4 b GG). Diese Prüfung von Bundesrecht am Maßstab des GG soll i m folgenden thematisiert werden; nicht aufgenommen w i r d hingegen die Prüfung von Landesrecht auf seine Vereinbarkeit mit dem Bundesrecht (s. A r t . 93 12, 10012 GG). Dieser letzte Fall betrifft nicht das „horizontale" Kompetenzverhältnis zwischen Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern die „vertikale" bundesstaatliche Kompetenzordnung. Das Bundesverfassungsgericht t r i t t hier als Schiedsrichter zwischen den Gesetzgebungsorganen von Bund und Ländern auf. Prüfungsmaßstab ist nicht ausschließlich das GG, sondern das gesamte Bundesrecht. Hier entscheidet das Gericht als Faktor der bundesstaatlichen Ordnung, nicht hingegen der Gewaltenteilung. Dabei gelten partiell eigene Aspekte — etwa die Auslegungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts gegenüber einfachem Bundesrecht —, welche hier nicht gesondert berücksichtigt werden können 1 . I m Gegensatz zum Prüfungsrecht ist die Verwerfungszuständigkeit beim Bundesverfassungsgericht zentralisiert. Charakteristika der grundgesetzlichen Regelungen sind: Einordnung der Vorschriften über das Bundesverfassungsgericht i n die allgemeinen Regelungen über die Rechtsprechung, Zuerkennung des Prüfungsrechts an alle Gerichte und die Monopolisierung des Verwerfungsrechts beim Bundesverfassungsgericht. 1 Andeutungen dazu etwa bei Bettermann, BVerfG und GG I, S. 347 f. m. w. N.

I. Rechtsgrundlagen

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1. Die Einführung der Normenkontrolle im Grundgesetz

Während der Beratungen zum Grundgesetz i m Herrenchiemseer Konvent und i m Parlamentarischen Rat 2 standen Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Kompetenzabgrenzung zwischen dem geplanten Bundesverfassungsgericht und dem projektierten Obersten Bundesgericht i m Vordergrund. Historische oder vergleichende Aussagen fehlen ebenso wie eine grundlegende Klärung des Verhältnisses zwischen Gesetzgebung und Justiz i n der Demokratie. Die konkrete Normenkontrolle war schon vom Herrenchiemseer Konvent als Ausdruck der allgemeinen Bejahung des richterlichen Prüfungsrechts konzipiert; mit der Zentralisierung der Verwerfungskompetenz beim Bundesverfassungsgericht wurden „praktische Gründe", insbesondere die gründliche Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und die Einheitlichkeit der Rechtsprechung, verfolgt 3 . Darüber hinaus wurden grundsätzliche Ausführungen nicht gemacht 4 , bis auf redaktionelle Änderungen ging der A r t i kel unverändert i n das Grundgesetz ein 5 . Eine abstrakte Normenkontrolle kannte der Herrenchiemseer Entwurf dagegen nur i n Ansätzen (Art. 98 Nr. 5). Bei Meinungsverschiedenheiten darüber, „ob ein Gesetz gemäß dem Grundgesetz zustande gekommen ist", sollte das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Nach der Kommentierung handelte es sich dabei u m einen „Unterfall der Verfassungsstreitigkeiten zwischen den am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Faktoren, der wegen seiner besonderen Bedeutung hervorgehoben wurde". Das Streitverfahren hätte dementsprechend größere Nähe zum Organstreit als zur Normenkontrolle aufgewiesen. A r t . 44 Nr. 1 HChE sah einen Fall der Normenkontrolle i n der Form des Bund-Länder-Streitverfahrens vor: über die Vereinbarkeit von Bundesgesetzen mit dem Grundgesetz sollte vom Bundesverfassungsgericht auf Antrag „des Bundes oder eines Landes" entschieden werden. Die Normenkontrolle als Organstreit wurde vom Rechtspflegeausschuß des Parlamentarischen Rates ersatzlos gestrichen, da sie bereits von anderen Kompetenzzuweisungen umfaßt werde 6 . Dagegen wurde sie als Bund-Länder-Streitverfahren „auf Antrag der Bundesregierung oder einer Landesregierung" vom Allgemeinen Redaktionsausschuß übernommen 7 , durch ihre Koppelung mit der konkreten Normenkontrolle i n einer Vorschrift jedoch aus dem engen systematischen Zusammenhang mit den föderalistischen Streitigkeiten gelöst. Der 2 3 4 5 6 7

Überblick bei Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 38 ff. Art. 137 HChE, Darstellender Teil, S. 57, 58, 94. Bis auf Menzel, 3. Sitzung des Plenums v. 9.9.1948, Stenober., S. 31. Darstellung in JöR 1, 734 ff. 5. Sitzung, Stenoprot. S. 69 f. Drs. 343 v. 5.12.1948, Art. 128 b Nr. 3 2. Alt.

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

Rechtspflegeausschuß fügte dem noch das Antragsrecht der Minderheit des Parlaments, nämlich eines Drittels der Mitglieder des Bundestages, hinzu 8 . Damit war der Zusammenhang zum Bund-Länder-Verfahren endgültig gelöst. Hingegen wurde ein geplantes Antragsrecht des Bundespräsidenten und der Mitglieder von Landtagen abgelehnt 9 . Der Bundespräsident solle als pouvoir neutre unparteiisch bleiben, i h m solle daher kein solches Recht zukommen; die Landtage bedürften dieses Rechtes nicht. Der stillschweigende Konsens über die früher so umstrittene Frage des richterlichen Prüfungsrechts deutet an, daß die Einigkeit über den Kompetenzzuwachs der Justiz den Ausschußberatungen bereits vorauslag. Darauf weist eine Denkschrift des Abg. W. Strauss h i n 1 0 , deren Intentionen von ihrem Verfasser auch i m Parlamentarischen Rat verfolgt wurden. Angeregt durch die „Unzufriedenheit" über die Mängel der obersten Gerichtsbarkeit i m Kaiserreich und i n der Weimarer Republik w i r d darin die Idee verfochten, „auch i n Deutschland durch die Gestaltung der obersten Gerichtsbarkeit dem Bau des Staatswesens ein Element einzufügen, das i n anderen Ländern i m Sinne der Stetigkeit, der Sicherheit und der Freiheit entscheidend gewirkt hat". Dazu schlägt er ein starkes oberstes Bundesgericht und ein Verfassungsgericht vor. Die Betonung der Elemente Stetigkeit und Sicherheit zeigt, daß hier eine Stabilisierung der Staatsorgane angestrebt wurde. Damit steht das Bundesverfassungsgericht i n jenem historisch-politischen Vorverständnis, das nach dem 2. Weltkrieg als die „Lehre aus der Vergangenheit" ausgegeben wurde. I h r Ausgangspunkt bestand darin, Krise und Zerfall der Weimarer Republik nicht primär als Ausdruck solcher Erschütterungen zu sehen, die von außen an den Staat und seine Verfassung herangetragen wurden. Vielmehr wurde überwiegend diese Verfassung selbst mit der i n i h r niedergelegten Staatsform als Krisenursache angegeben. Gegenstand der K r i t i k war insbesondere die politische „Indifferenz" der Verfassung, die dazu führte, daß sie der aggressivsten totalitären Partei erlegen ist 1 1 . Vehikel dieser Auflösungen waren danach Relativismus, Positivismus und Formalismus, die nicht nur die demokratische Staatsform geschwächt, sondern darüber hinaus noch die „Machtergreifung" legalisiert hätten 1 2 . Um möglichen vergleichbaren Herausforderungen i n der Zukunft besser begegnen zu können, wurde 8

7. Sitzung, Stenoprot. S. 45 ff. Hauptausschuß, Stenoprot. S. 462 f. 10 Strauss , Die oberste Bundesgerichtsbarkeit, 1948, insbes. S. 9. 11 BVerfGE 5, 85, 138. 12 Sontheimer, Politische Wissenschaft und Staatsrechtslehre, S. 7 ff.; Fromme, Von der WRV zum Bonner Grundgesetz, S. 75 ff., 92 ff., 106 ff.; Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, S. 130 ff. 9

I. Rechtsgrundlagen

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i n das Grundgesetz eine Vielzahl von Mechanismen aufgenommen, welche zur Stabilisierung der Demokratie beitragen sollten. Vordringlich erschien jedoch die Stärkung der demokratischen Staatsorgane. Dabei koppelte der Verfassunggeber Mechanismen der politischen Binnenstabilisierung m i t solchen der Außenstabilisierung. Zu den ersteren zählen insbesondere die Beschränkung des Rechts zur Parlamentsauflösung (Art. 63 I V 3, 68 GG) und des Rechts auf Regierungssturz auf das konstruktive Mißtrauensvotum (Art. 67 GG). Zur Außenstabilisierung zählen etwa die Stärkung des Bundesrates, insbesondere i m Gesetzgebungsnotstand (Art. 81 GG) und der Verfassungsgerichtsbarkeit. So kommen dem Bundesverfassungsgericht erheblich weitere Kompetenzen zu als dem Staatsgerichtshof nach A r t . 19 WRV. A l l e diese Maßnahmen sind Ausdruck des Bemühens der verfassunggebenden Organe, die vermuteten Fehler der WRV nicht zu wiederholen. Das Parlament sollte das führende demokratische Staatsorgan bleiben, zugleich jedoch die Funktionsfähigkeit der staatlichen Einrichtungen unabhängig von der Handlungsfähigkeit des Bundestages schon i m Normalfall gestärkt werden. Diese Haltung prägte das Verständnis des Parlamentarischen Rates vom Bundesverfassungsgericht i m allgemeinen und der Normenkontrolle i m besonderen. Da sie weitgehend Allgemeingut war, erübrigten sich Erörterungen über die Befugnisse der Verfassungsgerichtsbarkeit i m demokratischen Staat. Insoweit ist das Bundesverfassungsgericht tatsächlich Ausdruck des Mißtrauens gegen das Parlament und seine jeweilige Mehrheit 1 3 .

2. Spannungslagen zwischen Legislative und Bundesverfassungsgericht

Spannungslagen zwischen den Kompetenzen von Gesetzgebung und Bundesverfassungsgericht begründen Grundgesetz und BVerfGG stets, wenn Maßnahmen der Legislative einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterzogen werden. Diese kann entweder als primäres oder als inzidentes Verfahren ausgestaltet sein. Primäre Kontrolle w i r d stets ausgeübt, wenn Gegenstand des Verfahrens die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ist, wenn also der Antrag auf die Prüfung einer Norm gerichtet ist. Inzidente Kontrolle w i r d ausgeübt, wenn die Entscheidung über einen Antrag die Prüfung der Vereinbarkeit eines Gesetzes m i t dem Grundgesetz voraussetzt. Eine Spannungslage zwischen den gesetzgeberischen und den gerichtlichen Entscheidungen kann nur dann auftreten, wenn das Gericht die Verfassungsmäßigkeit nicht nur prüfen, sondern i m Falle der Feststellung eines Verstoßes gegen das Grundgesetz auch besondere Rechtsfolgen, vornehmlich die Erklärung der 18

Friesenhahn, HDSW 11, 82, 84.

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

Nichtigkeit einer Norm, aussprechen darf. Hierzu ist nach dem Grundgesetz nur das Bundesverfassungsgericht befugt, es nimmt allein die primäre wie inzidente Kontrollbefugnis mit Verwerfungsrecht wahr. Mit der Verwerfung übt es materiell Gesetzgebung aus 14 . Solche Kontrollrechte können i n den unterschiedlichsten Verfahrensarten durch das Bundesverfassungsgericht ausgeübt werden 1 5 . Die abstrakte Normenkontrolle gem. A r t . 93 I 2 GG, §§ 76 ff. BVerfGG setzt „Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel" an der Vereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz voraus. Die konkrete Normenkontrolle erfordert, daß ein Gericht eine Norm, auf die es i n einem bei i h m anhängigen Streitverfahren ankommt, für nichtig hält (Art. 100 11 GG, §§ 80 ff. BVerfGG). Auch dieses Verfahren ist für das Bundesverfassungsgericht primäre Normenkontrolle, da es ausschließlich über die Vereinbarkeit eines einfachen Gesetzes mit dem Grundgesetz entscheidet, nicht aber das gesamte Ausgangs ver fahren an sich zieht. Primäre oder inzidente Normenkontrolle übt das Gericht i m Verfahren der Verfassungsbeschwerde je nach dem Antrag aus, der unmittelbar gegen einen sonstigen A k t der öffentlichen Gewalt aufgrund eines Gesetzes gerichtet sein kann (Art. 93 I Nr. 4 a GG, §§ 91 ff. BVerfGG). Hingegen ist die Kommunalverfassungsbeschwerde ausschließlich als primäre Kontrolle ausgestaltet (Art. 931 Nr. 4 b GG, § 91 BVerfGG). Inzidente Normen·^ kontrolle w i r d i n einzelnen Bund-Länder-Streitverfahren (Art. 93 I Nr. 3 GG, §§ 68 ff. BVerfGG), Organstreitigkeiten (Art. 93 I Nr. 3 GG, §§ 63 ff. BVerfGG) und Wahlprüfungsverfahren (Art. 41 GG) 1 6 durchgeführt. Einen durch die historische Entstehung der Bundesrepublik bedingten Sonderfall stellt das Verfahren nach A r t . 126 GG dar. Neben der Prüfung bereits erlassener Normen erlangt die Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht Bedeutung auch bei der Nachprüfung legislativer Unterlassungen 17. Sie ist in keiner speziellen Verfahrensart monopolisiert, kann aber insbesondere i n Bund-Länder-Streitverfahren oder in Organstreitverfahren Bedeutung erlangen, wenn der Antragsteller geltend macht, daß die Unterlassung eine i h m gegenüber bestehende verfassungsrechtliche Pflicht verletzt. I m Verfahren der Verfassungsbeschwerde w i r d ein legislatives Unterlassen nur relevant, wenn die Verfassung dem Gesetzgeber zum Erlaß bestimmter Normen einen besonderen Auftrag erteilt, welcher grundrechtsgleichen Charakter aufweist. Das ist etwa bei A r t . 6 V, 33 V GG der Fall. Daneben kann ein solcher Auftrag ausnahmsweise bestehen, 14 BVerfGE 1, 409; Henke, DSt 1964, 449 ff.; Scheuner, DöV 1980, 474 ff.: BVerfGE als „negativer Gesetzgeber". 15 Darstellung bei Friesenhahn, Die Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 49 ff. 16 s. BVerfGE 1, 237 f.; 4, 316, 370; 7, 77; Gr awert, DöV 1968, 748 ff. 17 Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 175 ff.

I I . Verfassungsrecht und P o l i t i k

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wenn der Ausschluß bestimmter Personen aus dem Geltungsbereich eines Gesetzes das Grundrecht des Antragstellers aus A r t . 3 GG verletzt und der Verstoß nur durch seine Berücksichtigung i m Gesetz geheilt werden kann. I n diesen Fällen können sich Kompetenzüberschneidungen zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht sowohl bei den tatsächlichen wie rechtlichen Grundlagen als auch bei den Rechtsfolgen der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen ergeben. Die Frage, welche Tatsachen und Rechtsnormen in welchem Umfang bei der Entscheidungsfindung des Bundesverfassungsgerichts herangezogen werden dürfen und welche Wirkungen den Entscheidungen zukommen können, ist ausschlaggebend für die Beurteilung des Kompetenzverhältnisses beider Staatsorgane. II. Verfassungsrecht und Politik 1. Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit als Verwirklichung von Politik und Redit?

a) Die Entgegensetzung von Politik und Recht Die Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht w i r d unter der Geltung des Grundgesetzes vielfach danach bestimmt, daß bei i n verschiedenen Sphären auf die Gestaltung des Gemeinwesens einwirken. Diese Bereiche werden umschrieben mit den Begriffen „Politik" und „Recht". Besondere Bedeutung erlangte jenes K r i t e r i u m durch die Tatsache, daß es die Haltung einer Anzahl von Richtern des Bundesverfassungsgerichts bestimmt hat 1 . Auch in der Literatur fand es vielfältige Unterstützung 2 . Dabei sind Ansätze und Konsequenzen äußerst nuanciert; allgemeine Grundlinien übergehen Differenzierungen i n Einzelheiten, zeigen jedoch um so deutlicher die gemeinsamen Elemente dieser Lehre. Danach beruht die Verfassungsgerichtsbarkeit auf der Einsicht, daß der politische Bereich nicht dem Recht entgegengesetzt oder entzogen ist, daß er vielmehr rechtlich geordnet sein kann und damit der richterlichen Kontrolle zugänglich ist. Auch i n Verfassungsstaaten existieren politische Machtkämpfe, die aber i n den Rahmen einer verfassungsrechtlichen Ordnung gebannt sind. Ein Staatsorgan, das die durch die Ver1 G. Müller in: Das Bundesverfassungsgericht, S. 13 ff.; Friesenhahn in Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 355 ff.; Leibholz, JöR 6, 120 ff.; Strukturprobleme der Demokratie, S. 168 ff. 2 Krüger, FS R. Smend, S. 151 ff.; Bachof in Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 285 ff.; F. Klein, Bundesverfassungsgericht und richterliche Beurteilung politischer Fragen, S. 9 f.; Eckertz, DSt 1978, 183 ff.

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

fassung gezogenen Schranken überschreitet, verletzt das Recht und nimmt seinen Maßnahmen dadurch die Verbindlichkeit. Diese Konzeption basiert darauf, daß sich das politische Leben i n der Bundesrepublik nicht nach dem Willen der jeweiligen Parlamentsmehrheit und der von ihr abhängigen Regierung richten soll; oberster Maßstab sind vielmehr die Normen der Verfassung 3 . Nur ein solcher Staat steht i m Recht, er ist durch das Recht legitimiert. Eine derartige Kongruenz von Staat und Rechtsgemeinschaft setzt voraus, daß Eigenständigkeit und Eigenwertigkeit des Rechts von der politischen Gemeinschaft respektiert werden. Hierdurch unterscheidet sich der liberal-demokratische vom totalitären Staat 4 . Demnach ist die Verfassung Legitimationsquelle, oberster Maßstab und Richtlinie des politischen Prozesses. Wegen ihres Gegenstandes steht sie i n einem besonderen Verhältnis zur Politik. Ihre Aufgabe ist es — i m Gegensatz zum Zivil-, Straf- oder Verwaltungsrecht —, gerade diejenigen Bereiche des staatlichen Lebens zu ordnen oder zu regulieren, i n denen die politischen Machtkämpfe ausgetragen werden. Das Grundgesetz macht das Politische selbst zum Gegenstand rechtlicher Normierung, die Verfassung ist politisches Recht 5 . I h r Charakteristikum besteht danach darin, daß sie sich i m Gegensatz zu allem anderen Recht nicht entpolitisieren läßt. Während das Politische das Materiale des Verfassungsrechts darstellt, liegt dem einfachen Recht die politische Entscheidung voraus; durch den A k t der Gesetzgebung w i r d es aus der politischen Sphäre herausgehoben und i n diejenige des Rechts transponiert®. Auf diese Weise zeigen sich zugleich die Charakteristika beiden Sphären. Das Politische hat seinem Wesen nach „irgendwie entscheidend m i t dem Dynamisch-Irrationalen" zu tun. Es hat sich den sich wandelnden Lebensumständen anzupassen, nämlich den Fragen, die sich „irgendwie auf die Begründung oder Erhaltung der Existenz der Gemeinschaft" beziehen. Seine Eigenschaften sind Zeitgebundenheit und Zweckmäßigkeit, welche ihrerseits Bindungen möglichst ausschließen. Politiker, insbesondere Regierungen, treffen ihre Entscheidungen je nach dem Gebot der Stunde. Demgegenüber ist das Recht etwas Statisch-Rationales, das die politischen Kräfte kalkulierbar zu machen und damit zu binden sucht. Der Grund Widerspruch zwischen beiden Sphären besteht i n dem latenten Konflikt zwischen dem in ständiger Bewegung befindlichen Politischen und dem vorzugsweise in Ruhe verharrenden Recht. So entstehen Spannungslagen zwischen „Existentialität und Normativität", „Sein und Sollen", „Natur und sittlicher Vernunft". Sie geben dem Ver8

Friesenhahn in Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 358 f. Leibholz, Strukturprobleme, S. 168. 5 Seit Triepel, Staatsrecht und Politik, 1927. • Leibholz, Strukturprobleme, S. 176; zum folgenden ebd., S. 176 f. 4

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fassungsrecht wie der Verfassungsrechtsprechung letzten Endes ihr bestimmendes Gepräge 7 . Die Besonderheit der Verfassung als Normenordnung für das Politische begründet ihre Eigenschaft als politisches Recht. Sie birgt i n sich den Widerspruch, daß das, „was nicht gebunden sein w i l l und seinem Wesen nach frei ist, durch die rationalen Normen berechenbar ist". Da sich das Politische seiner normativen Erfassung weitgehend zu entziehen trachtet, ist das Verfassungsrecht lückenhaft und weitmaschig. Unbestimmte Begriffe und weitgespannte Formulierungen sind nicht leicht einer näheren inhaltlichen Umschreibung zugänglich. Diese Eigenarten des Grundgesetzes begründen die Fragestellung, ob es deshalb der Sphäre des Rechts oder derjenigen des Politischen zuzurechnen ist. Sie beantwortet sich danach, ob die politischen Eigenarten der Verfassung eine Sonderstellung gegenüber den übrigen Gesetzen begründen. Auch i m einfachen Recht sind dehnbare, weitmaschige Begriffe enthalten 8 . Ihre Auslegung gehört i n allen Bereichen zur richterlichen Tätigkeit. Dabei steht nicht die subjektive Anschauung des Entscheidens i m Vordergrund, vielmehr sind nur solche Wertungen zu berücksichtigen, die sich aus der Gesetzesauslegung und dem Sinngehalt der Norm ergeben. Dementsprechend bestehen zwischen der Auslegung von Begriffen des Verfassungsrechts und des einfachen Rechts keine grundlegenden Unterschiede, das Grundgesetz steht dem einfachen Recht näher als dem Politischen. Seine Eigenschaft als politisches Recht steht so seiner Qualifizierung als Recht nicht entgegen. Ist Verfassungsauslegung somit eine Rechtsentscheidung, so steht diese dem politischen Machtkampf gegenüber. Dieser ist keine Rechtsstreitigkeit und daher auch nicht gerichtlichen Instanzen zu übertragen 9 . Voraussetzung und Grenze der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts ist die Existenz einer justitiablen Norm, d. h. einer Regel, die inhaltlich einer näheren rechtlichen-vernünftigen Auslegung fähig ist. Das ist sie stets, wenn i h r Wortlaut „mehr oder weniger eindeutig" ist oder wenn sie mit Hilfe der i n der Verfassung oder dem Gesetz niedergelegten Wertungen aus ihrem „immanenten Sinngehalt" interpretierbar erscheint. Solche „rational standards" sind unentbehrliche Grundlage jeder richterlichen Tätigkeit. Nur i n dem Falle, wenn eine solche Norm fehlt, w i r d die Entscheidung zu einer politischen. Rechtsentscheidungen sind demnach solche nach dem Recht, 7

Damit knüpft diese Unterscheidung an die staatstheoretischen Lehren C. Schmitts an, der schon zur Weimarer Zeit das Politische in einem Gegensatz zum Normativen sah, da in jener nicht Vernunftüberzeugung, sondern der Wille zur Existenzerhaltung grundlegend sei; s. Verfassungslehre, S. 10, 22; ferner Begriff des Politischen, S. 26 ff. 8 Leibholz, Strukturprobleme, S. 177; das gilt etwa für „Treu und Glauben", „Verkehrssitte", „öffentliche Sicherheit" und „öffentliche Ordnung". 9 Friesenhahn in Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 355 f.

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2. Teil: Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht

politische solche u m das Recht 10 . Eine Entscheidung über eine politische Rechtsstreitigkeit bleibt eine Rechtsentscheidung auch dann, wenn sie Folgen i m politischen Raum hat 1 1 . Der Unterschied zwischen Recht und Politik w i r d demnach ausschließlich daraus hergeleitet, ob eine Materie durch eine Rechtsnorm geregelt ist oder nicht. Politische Entscheidungen sind solche, die i n normativ ungeprägten Bereichen — etwa auf einen A k t der Rechtsetzung gerichtet — ergehen; Rechtsentscheidungen werden dagegen i n geregelten Sphären getroffen. Damit fällt die Unterscheidung vielfach zusammen mit derjenigen zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung 12. Politische Rechtsetzung ist Aufgabe der Legislative; Rechtsanwendung ist die Domäne des Bundesverfassungsgerichts. b) Vermittelnde

Ansichten

Das Ergebnis einer streng unpolitischen Verfassungsgerichtsbarkeit w i r d jedoch von einigen Vertretern jener Trennung zwischen Recht und Politik dadurch vermieden, daß sie i n den „seltenen Fällen", i n denen eine strikte Anwendung von Verfassungsrecht „unterträgliche Konsequenzen" hätte, auf die „sofortige kompromißlose Durchsetzung des Verfassungsrechts" verzichten. Weder dürfe ein Steuergesetz mit der Folge für nichtig erklärt werden, daß ein Staatsbankrott drohe, noch könne ein Wahlgesetz wegen Verfassungswidrigkeit kassiert werden, ohne daß eine verfassungsmäßige Nachwahl gesichert sei 13 . Strittig ist jedoch, in welchem Umfang und auf welche Weise den Staatsnotwendigkeiten Geltung verschafft werden soll 1 4 . Erörtert w i r d eine Berücksichtigung des Politischen nach realen Voraussetzungen, Motiven und Konsequenzen einer Norm 1 5 . Ansatzpunkt dafür ist die These, Quelle des Rechts sei neben der „Idee der Gerechtigkeit" auch „der Wille zur Selbstbehauptung der Ordnung des Gemeinwesens". Eine Rechtsprechung, die zum Zusammenbruch oder Ruin des Staates führen würde, sei mit der Verfassungsordnung nicht vereinbar. Grundsätzlich ist eine Ausnahme von Verfassungsvorschriften rechtswidrig, auch wenn sie von der Staatsraison zwingend geboten erscheint. Dagegen sei „ i n bestimmten Fällen" das Einfließen politischer 10

Leibholz, Strukturprobleme, S. 177 ff.; s. auch JöR 6, 125. Friesenhahn in Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 359. 12 Nicht ausschlaggebend sind dagegen die Motive einer konkreten Entscheidung, insbes. mögliche politische Beweggründe eines Gerichts; s. Leibholz, JöR 6, 124. 13 Dazu BVerfGE 16, 130 ff. 14 Überblick über solche Konstellationen bei Starck, BVerfGE und politischer Prozeß, S. 7 f. 15 Wittig, DSt 1969, 136, 145 ff., insbes. 149. 11

I I . Verfassungsrecht u n d P o l i t i k

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Kriterien i n die Entscheidung erforderlich. Das sei für politische Umstände i n der Vergangenheit unproblematisch, indem hier „einfach die Grenze des politischen Dürfens weiter gezogen w i r d " . Für die Zukunft müsse sich das Bundesverfassungsgericht stets bewußt bleiben, daß es nicht seine Aufgabe sei, den Staat zu Grunde zu richten. Daher müßten politische Folgen berücksichtigt werden, die zur Gefährdung der Funktionsfähigkeit des Staates führen würden. Methodisch geschieht das dadurch, daß die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Staatsganzen als „ein der Verfassung selbst immanenter rechtlicher Gesichtspunkt, nicht nur ein politisches Postulat" qualifiziert wird. Innerhalb der Evidenzgrenze überschreite daher die Berücksichtigung der politischen Folgen nicht die Grenzen richterlichen Erkennens, sie sichert hingegen, daß das Bundesverfassungsgericht nicht i n den politischen Raum eingreift, „wenn dies nicht erforderlich ist". Dem entspricht das verfassungsrechtliche Denken als Problemdenken, welches topisch alle relevanten Erkenntnisgesichtspunkte berücksichtigt. W i r d der Verfassungsrichter in diesem Rahmen allgemein nach den politischen Folgen seiner Entscheidungen fragen, so haben „evidente politische Folgen" als Erkenntnisgesichtspunkte ihre legitime Bedeutung. Die Entscheidung erfolgt somit zweistufig: zunächst durch „unpolitisches" Subsumieren, sodann Berücksichtigung politischer Aspekte i m Rahmen der Folgenkontrolle des Subsumtionsergebnisses. Vehikel dafür ist eine Grenzverschiebung zwischen Recht und Politik: die Funktionsfähigkeit des Staates wandelt als über- oder extrakonstitutioneller Gesichtspunkt ihren Charakter vom politischen zum rechtlichen Kriterium. Zudem w i r d die Gesetzesauslegung durch die Topik keineswegs auf juristische Argumente beschränkt, sondern auf politische Aspekte erweitert. Dadurch w i r d jedoch der eigene Ansatzpunkt der Argumentation unterlaufen, die eine kategoriale Trennung von Recht und Politik voraussetzte, welche nicht durch konkrete Details, sondern abstrakte Grenzlinien gezogen worden ist. Die Folgenkontrolle hebt so ihre eigenen Voraussetzungen auf. Enthält so eine politische Korrektur der vorausgesetzten Trennung von Recht und Politik auf der Ebene der Entscheidungsfindung einen inneren Widerspruch, so entspricht insoweit der Bindung des Richters an das Gesetz allein die strikte Normanwendung ohne Rücksicht auf die Folgen 16 . Zweck der Verfassung ist jedoch, den Staat in Form zu bringen, nicht ihn umzubringen. Ist so die Staatsraison ein integrales Element allen Verfassungsrechts, so treten die richterliche Aufgabe des Schutzes der Verfassung durch verbindliche Norminterpretation und die Aufrechterhaltung der staatlichen Organisation und Wirksamkeit bisweilen i n einen unauflösbaren Widerspruch. W i l l das Bundesverfas18

H. Klein, Bundesverfassungsgericht und Staatsräson, S. 31 ff.

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

sungsgericht seine Aufgabe der Staatserhaltung nicht aufgeben, besteht aber dazu auf der Ebene der Verfassungsinterpretation kein Raum, so soll dies im Rahmen der Vollstreckung seiner Entscheidungen geschehen. Dabei läßt das Gesetz dem Gericht einen erheblichen Freiraum (§ 35 BVerfGG). Diese Auslegung sei vom Grundgesetz gefordert, weil es die Fülle der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts nicht gewollt haben könne, ohne i h m die Möglichkeit zu geben, seiner damit begründeten Verantwortung zu genügen. Das Gericht w i r d so zum Hüter der Staatsraison, die ihrerseits dem positiven Verfassungsrecht übergeordnet ist; damit w i r d zugleich die Überordnung des Bundesverfassungsgerichts über alle anderen Staatsorgane postuliert 1 7 . Die vorausgesetzte Trennung von Recht und Politik w i r d dabei zwar nicht auf der Ebene der Norminterpretation, wohl aber derjenigen der Vollstreckung überholt. Das Bundesverfassungsgericht ist dann kein ausschließlich Recht verwirklichendes Organ mehr, sondern eine politische Instanz. Auch auf diese Weise werden so die Voraussetzungen der eigenen Anschauung aufgehoben. Die Trennung zwischen Recht und Politik als Grundlage der Kompetenzdifferenzierung zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht w i r d somit auf zwei verschiedene Weisen durchgeführt. Die Grundform sieht eine ideale Abgrenzung beider Sphären danach vor, ob sie rechtlichen Regelungen unterliegen oder nicht. Je danach ist der Bereich dem des Rechts oder demjenigen der Politik zuzuordnen. Die Abgrenzung fällt zusammen mit der Unterscheidung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung. Die vermittelnden Ansichten erweitern dieses Vorgehen durch ein gestuftes Verfahren, das zunächst die Trennung und sodann—entweder bei der Entscheidungsfindung oder -Vollstreckung— politische Erwägungen einbezieht. Wie hier das Politische als Grenze der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts wirken soll, w i r d nicht erklärt. c) Rechtsprechung als politisches

Staatshandeln

Die Problematik der Entgegensetzung von Recht und Politik als Grundlage der Kompetenzabgrenzung zeigt sich auf beiden Stufen ihrer Durchführung. Ist das Verfassungsrecht als solches schon politisches Recht und dadurch verschieden von allen anderen Rechtsgebieten, so ist zudem — trotz der grundsätzlichen Scheidung beider Sphären — das politische Element aus den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen nicht völlig zu eliminieren. Grundlage jener kategoralen Entgegensetzung von Recht und Politik als elementares K r i t e r i u m der Entscheidungsfindung ist die Annahme, 17

Knöpfle, DVB1 1969, 442, 443.

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daß ausschließlich der Prozeß der Rechtsetzung politischer Natur ist Mit dem Normerlaß endet hingegen das Politische, die Rechtsentscheidung ist ihrer Natur nach unpolitisch. Der politische Prozeß bleibt demnach auf den Prozeß der Rechtsetzung begrenzt, über diesen hinaus hat er weder zeitlich noch funktionell Konsequenzen, insbesondere bleiben die rechtsanwenden Staatsorgane von ihm frei. Dabei ist schon das Gesetz selbst keineswegs unpolitisch, sondern aus jeweils spezifischen politischen Interessen- und Machtkonstellationen entstanden 18 . Unabhängig von den verschiedenen inhaltlichen Definitionen des Politischen ist dieses seinem Gegenstand nach auf die Beeinflussung der Findung oder Durchsetzung allgemein-verbindlicher Entscheidungen i m Gemeinwesen gerichtet 19 . Das gilt unabhängig davon, ob Politik als Streben nach einem Machtanteil oder der Beeinflussung der Machtverteilung oder als Herstellung und Bewahrung einer Ordnung menschlichen Zusammenlebens i n einem Herrschaftsbereich bezeichnet w i r d 2 0 . Zweck des Machtstrebens ist die Einflußnahme auf die Steuerung des Gemeinwesens durch Recht. Der politische Prozeß intendiert demnach die Hervorbringung von Recht. Umgekehrt ist das Recht Produkt jenes Prozesses. Es ist nicht mehr a priori vorgegeben wie früher das Naturrecht oder das Herkommen, sondern steht als Folge der Positivierung zu seiner Disposition. Es ist zum Produkt bewußter Normsetzung geworden 21 . Das gilt sowohl bezüglich der Frage, ob eine Materie überhaupt rechtlich geregelt werden soll, als auch bezüglich des konkreten Inhalts der jeweiligen Normen. Der Inhalt rechtlicher Regelungen w i r d so zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen, das Gesetz zum allgemein verbindlich gemachten politischen Programm. Recht ist eine verbindliche politische Entscheidung. Wie die Rechtsordnung i n einem Staate konkret ausgestaltet ist, hängt weitgehend von den politischen Zielen und Absichten der herrschenden Mächte oder Gruppierungen ab. Sobald eine Entscheidung als Recht Verbindlichkeit erlangt hat, löst sie sich von der politischen Zielsetzung ihrer Urheber, sie erlangt eine selbständige Geltung. Nach dem Übergang vom Programm zur Norm gilt sie für jedermann, Befürworter wie Gegner der ihr zugrunde liegenden Zielvorstellung. I n der Zukunft liegt sie dem politischen Prozeß voraus als Vorgabe und Faktum für spätere Entscheidungsprozesse, für die es neben anderen Faktoren aus dem politisch Wünschbaren das real Mögliche absteckt. Das gilt jedoch nur insoweit, als das Recht i m politischen Prozeß tatsächlich durchgesetzt werden kann. Mechanismen die18

Häberle, ZSR 1978,1 ff. für Verfassungen. Schuppert, Kontrolle, S. 121 ff. 20 M. Weber, Politik als Beruf, S. 12; Grimm, JuS 1969, 501. 21 Luhmann, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1,1970,175 ff.; Grawert, DSt 1972, 1 ff. 19

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ser Bindungswirkung können sein: freiwillige Selbstbindung der Betroffenen, effektive Mechanismen zur Normdurchsetzung oder Sanktionen bei Normverstößen. Recht als Rahmen der Politik w i r d so zugleich ihr Maßstab 22 . Recht und Politik sind so miteinander verwoben; Recht als Politik in verfestigtem Aggregatzustand w i r k t zugleich auf die Politik zurück. Diese Wechselbeziehung besteht insbesondere i n einer gestuften Rechtsordnung, i n der das höherrangige Recht für niederrangige Normen sowohl verfahrensmäßige wie inhaltliche Bindungen bereithält. Das gilt gerade für die Verfassung als das „Recht für das Politische". Inwieweit der politische Prozeß mit dem Normerlaß abbricht, ohne weitere Nachwirkungen zu zeitigen, ist für die Kompetenzabgrenzung zwischen Legislative und Bundesverfassungsgericht insbesondere unter dem Aspekt zu untersuchen, daß letzteres gerade zu jenen Mechanismen zählt, welche dem Grundsatz i m politischen Prozeß seine tatsächlichen Wirkungen sichern. Diese Funktionssicherung kann nur unter der Voraussetzung unpolitisch sein, daß das Gesetz mit seinem Erlaß den Charakter des Politischen einbüßt und eine davon losgelöste, völlig selbständige Existenz und Bedeutung erhält. Das hätte zur Voraussetzung, daß Gesetzesauslegung und -anwendung von Entstehungsbedingungen und Funktion der Norm losgelöst sind, jede Vorschrift also ausschließlich aus sich selbst heraus ohne Berücksichtigung ihrer tatsächlichen oder rechtlichen Bezüge in die Wirklichkeit umsetzbar wäre. Grundlage der Vollziehung wäre dann ausschließlich der Wortlaut der Vorschrift, aus ihm müßte „abstrakt" deduziert werden. Ohne Relevanz wären die Absichten des Gesetzgebers, die soziale Realität, welche das Recht gestalten soll, ebenso wie die Vereinbarkeit einer solchen Wortlautexegese mit dem Sinn der Vorschrift. Nur unter dieser Voraussetzung würde der zum Gesetzeserlaß führende politische Prozeß mit der Normsetzung abbrechen und durch eine unpolitische, rein rechtliche Anwendung abgelöst 23 . Würde die Auslegung lediglich am Normtext orientiert, so träfe sie zwar möglicherweise — vorbehaltlich methodischer Unschärfen — den Wortlaut des Gesetzes, sie liefe jedoch Gefahr, das Gesetz selbst zu verfehlen. Normen sind Willensäußerungen der Staatsorgane; Ziel ihrer Interpretation kann nur sein, das Gewollte zu erschließen, nicht hingegen das bloß Geäußerte. Die Äußerung kann dazu nur insoweit herangezogen werden, als sie den Schluß auf das Gewollte tatsächlich zuläßt. Der dem Gesetz zugrunde liegende Ordnungs- und Gestaltungs22

Grimm, JuS 1969, 501 ff. Zum folgenden Grimm, JuS 1969, 506 ff.; Schuppert, ZRP 1973, 257 ff.; Schuppert, Kontrolle, S. 117 ff. 23

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wille ist sein Zweck. Aus diesem Zweck erhält jede Vorschrift erst ihre Berechtigung und ihren Sinn, sie ist Instrument zur Verwirklichung hinter ihr selbst liegender Zweck. A u f dieses Ziel läßt der Normtext als solcher jedoch keinen verbindlichen Schluß zu, der „Text gleicht noch einem Fähnchen, das sich i m Winde verschiedener Zwecke drehen kann" 2 4 . Unter allen jeweils möglichen Zwecken muß die Auslegung den gerade zutreffenden ermitteln. Eben das vermag jedoch eine ausschließlich am Wortlaut orientierte „logische" Deduktion nicht. Bestimmen sich Erlaßbedingungen, Inhalt der Einzelbestimmungen und ihr systematischer Zusammenhang durch das zugrunde liegende Ordnungskonzept, so kann eine Auslegung, w i l l sie sich nicht vom gesetzlich Gewollten und Angeordneten entfernen, jene Bedingungen nicht außer acht lassen. Andernfalls würde sich Wortlauttreue gegen Gesetzestreue kehren. Dabei übernehmen Gesetze vielfach Begriffe aus der Realität oder den relevanten politischen Zielvorstellungen. Ohne Einbeziehung dieser Grundlagen sind die „Rechtsbegriffe" nicht zu klären. Jene Erwägungen, die zum Erlaß einer Vorschrift und der Wahl ihres Wortlautes geführt haben, brechen nicht mit dem Inkrafttreten des Gesetzes ab, sondern bestimmen darüber hinaus die Leitlinien der Vollziehung. Das bedeutet keineswegs, daß nicht der Normerlaß die politische Entscheidungssituation verändern würde und der Interpret die ursprünglichen politischen Auseinandersetzungen unverändert fortsetzen sollte oder könnte 2 5 . Das politische Programm w i r k t durch seine Überzeugungskraft, indem es das angestrebte Ziel zweckmäßig zu verwirklichen trachtet. Das Recht erhält seine Wirksamkeit durch seinen Charakter als verbindliche Entscheidung ohne Rücksicht auf seine Zweckmäßigkeit; bei der Entscheidung nach dem Recht ist somit die Diskussion um die Rationalität des Rechtssatzes selbst abgeschnitten. Dadurch w i r d eine „politische" Frage zu einer „Rechtsfrage", „Zweckmäßigkeitserwägungen" werden zu „Rechtserwägungen". Dieses Umschlagen schließt jedoch Zweckmäßigkeitserwägungen i n Rechtsentscheidungen keineswegs aus. Das wäre nur unter der Voraussetzung der Fall, daß das Gesetz für jeden Fall eine einzige, konkret erkennbare Lösung bereithält. Ist die Möglichkeit der Anwendung unterschiedlicher Rechtsfolgen auch nur denkbar, müssen die Leitideen der Legislative sogleich i n die Gesetzesinterpretation einfließen. Das gilt gerade i m Verfassungsrecht, wo die normativen Vorgaben besonders lückenhaft sind und zudem wenig scharfe Konturen aufweisen. So bleibt dem Richter ein Entscheidungsspielraum, da der Verfassunggeber nicht alle möglichen Konstellationen voraussehen konnte und auch nicht alle gesehenen Fragen regeln 24 25

Grimm, JuS 1969, 506. Sçhuppert, Kontrolle, S. 122 f.

4 Gusy

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

wollte. Da eine umfassende Normierung aller möglichen Streitfälle derart, daß für jede reale Konstellation eine und nur genau eine Rechtsfolgeanordnung anwendbar ist, i m Verfassungsrecht nicht einmal angestrebt ist, so besteht keine Möglichkeit, i h m stets ein einziges hypothetisches Urteil über den zu entscheidenden Konflikt zu entnehmen 26 . Unter dieser Voraussetzung ist die richterliche Entscheidung mehr als nur die Konkretisierung einer i m Gesetz geforderten Entscheidung des konkreten Falles, sie enthält eben nicht nur Erkenntnis-, sondern auch Entscheidungselemente. Rechtsanwendung und Rechtsetzung stehen so einander nicht entgegen, Rechtsanwendung enthält zugleich ein Element der Rechtsetzung. Der Gesetzgeber hat so kein Rechtsetzungsmonopol, sondern insoweit nur eine Prärogative 27 . Diese spätestens seit der Freirechtsschule — unabhängig von deren teilweise sehr umstrittenen Forderungen — weithin anerkannte Feststellung 28 verdeutlicht, daß mit dem Gegensatzpaar von Rechtsetzung und -anwendung die Gerichte nicht aus der Sphäre des Politischen verbannt werden können. Wie die Rechtsetzung ist auch die Rechtsanwendung politisch, wenn auch andere verfahrensmäßige und inhaltliche Vorgaben zu beachten sind. Bei der Auswahl zwischen den i h m vom Gesetz überantworteten Entscheidungs- und Gestaltungsalternativen steht der Richter i m Rahmen seiner Vorgaben vor denselben Fragen wie der Gesetzgeber. Er hat zu entscheiden, welche Rechtsfolge nach ihrer Wirkung die sachgerechteste ist. Insoweit sind die Denk- und Argumentationsweisen des Richters und des Rechtspolitikers nicht grundsätzlich verschieden. Je weiter die von einer Norm offengelassenen Freiräume sind, desto mehr nähern sich die Erwägungen einander an 2 9 . Die Frage, welche der verschiedenen Alternativen die „richtige" ist, enthält stets rechtspolitische Elemente. Unterschiedlich ist nur das Maß an Bindungen und Freiheit bei der Auswahl der Entscheidungsaspekte 30 . Der Gegensatz zwischen Politik und Recht, Rechtsetzung und Rechtsanwendung, reduziert sich so auf graduelle Differenzen. Ist das Unpolitische nicht das Charakteristikum richterlicher Spruchtätigkeit, so gilt das erst recht für das Bundesverfassungsgericht, dessen normative Vorgaben durch das Grundgesetz recht unvollständig sind. Damit ist diese Unterscheidung zur Kompetenzabgrenzung nicht geeignet 31 . 2e

Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, S. 6. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 60 ff. 28 Nachweise bei H. P. Schneider, Richterrecht, S. 27; s. auch Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, S. 8. 29 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 195 ff. 30 Ebd., S. 178, 188. 31 So auch: Drath, VVDStRL 5, 90 ff.; Dichgans, FS Geiger, S. 945 ff.; Ehmke, VVDStRL 20, 65; Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 2 ff.; Rupp υ. Brünneck, FS G. Müller, S. 362 f.; Ridder, FS A. Arndt, S. 429 ff.; Stern, 27

I I . Verfassungsrecht u n d P o l i t i k

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Die Beschränkung der Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts aus „unpolitische Rechtsanwendung" widerspricht auch den Vorstellungen des Parlamentarischen Rates über die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Zwar hatte dieser keine systematische Konzeption für ein solches Gericht entwickelt, doch war das Verhältnis zwischen politischem Prozeß und verfassungsgerichtlicher Entscheidung zumindest erörtert worden. Gerade die ursprünglich beabsichtigte Zweiteilung der obersten Gerichtsbarkeit in ein oberstes Bundesgericht und ein Verfassungsgericht basierte auf dem Bestreben, das erstere primär Rechtsentscheidungen ohne politische Bezüge entscheiden zu lassen, dem letzteren hingegen Streitigkeiten mit politischer Relevanz zu übertragen. Hierauf bezog sich auch die Ansicht: „ W i r haben keine Angst vor der Gefahr einer sog. justizförmigen Politik 3 2 ." Der Zusammenhang zwischen Politik und Recht war so nicht nur gesehen worden, vielmehr wurden die politischen Grundlagen und Rückwirkungen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen auch akzeptiert. Das geplante Verfassungsgericht sollte gerade keine unpolitische, sondern — i n vermeintlichem Gegensatz zu sonstigen Justizorganen — eine politische Instanz sein. Daß der Dualismus zweier oberster Bundesgerichte letztlich nicht verwirklicht wurde (vgl. aber A r t . 95 GG a. F.), begründet keine substantielle Änderung der ursprünglichen Konzeption des Bundesverfassungsgerichts, da der Katalog seiner Zuständigkeiten beibehalten wurde 3 3 . Dieses ist somit nicht nur kein unpolitisches Organ, sondern war vom Parlamentarischen Rat als politische Handlungs- und Gestaltungseinheit erkannt und geplant worden. Das zeigt sich deutlich bei der abstrakten Normenkontrolle und den Organstreitigkeiten. Politisch handelnde Instanzen sind i n ihnen die Antragsteller, politisch sind die einfachen Gesetze als Prüfungsgegenstand ebenso wie das Grundgesetz als Prüfungsmaßstab; politisch ist auch die Streitigkeit, die erst das Antragsrecht begründet 34 . Auch die modifizierte — vermittelnde — Ansicht vermag diesen Tatsachen nicht in gebotenem Umfang gerecht zu werden. Unabhängig von ihren immanenten Mängeln, die letztlich zu einer Aufhebung ihrer eigenen Voraussetzungen führen, bleiben grundlegende methodische Probleme ungelöst. Was zur Staatsraison zählt, welche verfassungsrechtlichen Gebote durch sie „korrigiert" werden können und auf welche Weise dieses zu geschehen hat, bleibt letztlich ungeklärt. Ob sie gesetzStaatsrecht II, S. 939 ff.; Massing in Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 411 ff.; Massing in Tohidipur, Verfassung, S. 138 ff. 82 Abg. Süsterhenn, 2. Sitzung des Parlamentarischen Rates vom 8.9.1948, Stenober., S. 25. 83 Lauf er, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 59 f.; Dolzer, Staatstheoretische Stellung, S. 27 ff. 84 s. auch Dolzer, Staatstheoretische Stellung, S. 114 ff. 4*

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

liehe Verstöße gegen das Grundgesetz legitimieren oder nur A r t und Weise von deren Rückgängigmachung prägen soll, bleibt ebenso offen die Frage, welches Staatsorgan zu ihrer Verwirklichung berufen ist. Sofern der Verfassungsstaat keine andere Staatsraison hat als seine Verfassung 85 , kann er jene nicht gegen diese kehren, beide Elemente fallen vielmehr zusammen. Das Grundgesetz hat nicht die Funktionsfähigkeit irgend eines Staates, sondern der politischen Ordnung, die seinen organisatorischen wie inhaltlichen Anforderungen entspricht, zum zentralen Anliegen. Eine solche Ordnung kann nur durch die vom Grundgesetz vorgesehenen Organe i n der von i h m angeordneten Weise verwirklicht werden. Ist die Politik ein integraler Bestandteil gerichtlicher Entscheidungen, so bedürfen diese keiner nachträglichen Korrektur. 2. Die "political question doctrine"

Die Entgegensetzung von Recht und Politik entspricht der Terminologie nach der "political question doctrine" des Supreme Court der USA. Danach sind "political questions" einer gerichtlichen Nachprüfung entzogen. Inwieweit diese traditionsreiche Praxis auf das deutsche Recht übertragbar ist, w i r d kaum erörtert. Eine solche Fragestellung setzt allerdings die Berücksichtigung der spezifischen Eigenarten der amerikanischen Rechtsprechung in Verfassungsfragen voraus 36 . Anders als die Bundesrepublik verfügen die USA nicht über ein eigenes Verfassungsgericht 37 . Der Supreme Court ist oberstes Bundesgericht und als solches primär für die Nachprüfung von Entscheidungen anderer Gerichte nach den Maßstäben einfachen Rechts zuständig. Die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ist niemals primärer Streitgegenstand, vielmehr kann sie nur die Vorfrage zur Entscheidung eines anhängigen Falles darstellen. Der Supreme Court kann demnach nur ein inzidentes Prüfungsrecht ausüben. Die Kompetenz dazu war weder i n der Verfassung noch i n einfachen Gesetzen ausdrücklich niedergelegt, sondern wurde vom Gericht i n der Entscheidung Marbury v. Madison beansprucht 38 . Es entschied i n diesem Fall, daß Gesetze, welche gegen die Verfassung verstießen, nichtig seien, und die Gerichte zur Prüfung dieser Tatsache i m Rahmen einer konkreten Anwendbarkeitsprüfung unter Nichtanwendung des niederrangigen Rechtes befugt seien 39 . Selbst 85

A. Arndt, NJW 1961, 897, 900. Friesenhahn, ZRP 1973, 191 f. 87 Zur Bundesgerichtsbarkeit allgemein Löwenstein, Verfassungsrecht, S. 396 ff.; zum Prüfungsrecht Fraenkel, JöR 1953, S. 35 ff. 88 Dazu Haller, Supreme Court und Politik, S. 121 ff. 39 Diese Begründimg wurde später von v. Mohl für das deutsche Recht herangezogen; s. ν . Mohl, Enzyklopädie, S. 142. 36

I I . Vefassungsrecht u n d P o l i t i k

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wenn das Verfassungsrecht dafür keine ausdrückliche Handhabe bot, so konnte doch der Supreme Court i m Rahmen der vom common law geprägten amerikanischen Rechtsordnung i n erheblich stärkerem Maße als die Gerichte i n den Rechtsordnungen des europäischen Kontinents die Aufgabe wahrnehmen, weitgehend ungebundene Rechtsgestaltung und -fortbildung zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund verliert die Entscheidung manches von ihrem spektakulären Charakter. Zwar wendet der Gerichtshof das für verfassungswidrig gehaltene Gesetz lediglich i m konkreten Fall nicht an, ohne es formell für nichtig zu erklären; die allgemein anerkannte Bindung der Gerichte unterer oder mittlerer Instanzen an Entscheidungen höherer Stellen (stare decisis) nimmt der Norm jedoch für alle weiteren Fälle die Verbindlichkeit. Dabei geht der Supreme Court seit der Frühzeit seiner Inanspruchnahme des Prüfungsrechts davon aus, daß er verpflichtet ist, die Verfassungsmäßigkeit anwendbarer Gesetze zu überprüfen, wenn ein Fall bei i h m zur Entscheidung anhängig ist 4 0 . Jede Umgehung oder Unterlassung dieser Prüfung sei ein Verfassungsverstoß. Ein solcher Entscheidungszwang begründet notwendig die Möglichkeit der Kollision mit den Zuständigkeiten anderer Staatsorgane, insbesondere den politischen Entscheidungskompetenzen von Regierung und Kongreß. Dabei entsteht die Gefahr, daß die anderen Staatsorgane bei Fällen hoher politischer Brisanz eines Richterspruches diesen nicht beachten und dadurch die Autorität des obersten Gerichtes erheblich mindern würden. Daher erscheint der Entscheidungszwang bisweilen nicht flexibel genug, u m staatspolitischen Intentionen i n ausreichendem Maße Rechnung zu tragen 41 . W i l l der Supreme Court i n diesem Fall den Zwang zur Entscheidung vermeiden, so kann das auf unterschiedliche Weise geschehen42. Die Anhängigkeit einer Rechtsfrage kann dadurch vermieden werden, daß die Zulässigkeit der Klage verneint wird. Die Vielzahl der Zulässigkeitsvoraussetzungen bietet dem Court dafür ein — durchaus flexibel gehandhabtes — Instrumentarium. Dient es primär dazu, das Gericht vor Überlastung zu schützen, so kann mit seiner Hilfe manche politisch brisante Entscheidung vermieden werden 4 3 . Praktikabelstes und vielfach angewendetes Mittel hierzu ist das Ermessen des Supreme Court bei der Annahme von Beschwerden 44. Nur 40

Scharpf, Grenzen, S. 9 m. w. N. Zu erwägen ist, daß die Spruchtätigkeit des Supreme Court auch in schweren Krisenzeiten der USA andauerte, etwa Krieg, Bürgerkrieg oder Massenarbeitslosigkeit. Derart schwere Krisen hat die Bundesrepublik bislang nicht erlebt. 42 Überblick bei Haller, Supreme Court, S. 186 ff. 48 Überblick bei Scharpf, Grenzen, S. 352 ff. 41

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

i n wenigen, genau umschriebenen Fällen unterliegt das Gericht einem Annahmezwang. Das gilt für die Anfechtung von Entscheidungen der Gerichte von Einzelstaaten, wenn die staatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft sind und dem Kläger ein sogenannter "appeal" zusteht (28 USC § 1257). Auch bestimmte Entscheidungen unterer Bundesgerichte sind auf diese Weise angreifbar (ebd. §§ 1252 -1254). Voraussetzung hierfür ist regelmäßig, daß die angefochtene Entscheidung inzident über Fragen der Bundesverfassung geurteilt hat. Die "appeal"-Entscheidungen sind zahlenmäßig die Ausnahme, nur ca. 10 °/o aller Streitigkeiten weisen einen derartigen Charakter auf. Gleichfalls nur geringe quantitative Bedeutung kommt dem Vorlageverfahren zu, i n dem ein unteres Gericht u m Instruktionen für einen bestimmten Fall nachsucht. I n allen übrigen Fällen steht dem Supreme Court ein freies Ermessen über die Annahme oder Nichtannahme der Beschwerde zu („certiorari- Verfahren"). Über die Annahme entscheiden sämtliche Richter, der Beschluß ergeht ohne Begründung, aber gelegentlich mit — begründeten — abweichenden Voten. Gründe für die Annahme der Beschwerde können sein: Neuartigkeit und allgemeine Bedeutung des Falles, Widersprüche zwischen der Praxis verschiedener Courts of Appeals bei der Behandlung des entscheidungserheblichen Sachverhaltes oder eine Abweichung der Vorinstanz von der Rechtsprechung des Supreme Court. Zentrale Entscheidungsgegenstände sind somit grundsätzliche Fragen von allgemeiner Bedeutung und politisch strittige Probleme. Nicht entscheidend ist etwa die Bedeutung der Entscheidung für den Antragsteller. Bei diesem fast unbegrenzten Ermessen kann i n die Entscheidung über das certiorari auch ein rechtspolitisches Element einfließen 45 . M i t dem Beschluß gibt der Supreme Court i n keiner Weise seiner Rechtsansicht über die Entscheidung der Vorinstanz Ausdruck; er kann sie mißbilligen und trotzdem die Annahme einer Berufung ablehnen. Zudem besteht keine A n nahmepflicht etwa i m Sinne einer Ermessenreduktion. Wenn 4 Richter die Streitigkeit für wichtig genug erachten, w i r d die Annahme ausgesprochen; das geschieht in etwa 10 °/o aller Fälle. Erst nachdem ein Fall diese prozessualen Hindernisse überwunden hat und eine Entscheidung i n der Sache herbeigeführt werden soll, kann die doctrine entscheidungserheblich werden. Sie ist weder das einzige noch notwendig das relevanteste Mittel zur Vermeidung politischer Streitigkeiten vor dem Supreme Court. Schon deshalb ist sie nicht zu bedeutsam einzuschätzen. 44 Statt dieses Ermessens sieht die Vorprüfung des Bundesverfassungsgerichts eine vorweggenommene Erfolgskontrolle vor; s. §§ 24, 93 a BVerfGG; dazu Zacher, BVerfG und GG I, S. 420 ff.; Benda, NJW 1980, 2097 f. 45 Nachweise über diesbezügliche Untersuchungen bei Scharpf, Grenzen, S. 353.

I I . Verfassungsrecht u n d P o l i t i k

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Schwerpunkt der Anwendung der doctrine ist der Bereich der auswärtigen Beziehungen. Dieser zeichnet sich nach Ansicht des Gerichts durch eine Vielzahl von Eigenheiten aus. Insbesondere ist der Prozeß der Normentstehung und -durchsetzung i n ein komplexes Geflecht von wechselseitigen Verhaltensweisen und Erwartungen eingebettet, an dem mehrere Staaten beteiligt sind. Von diesen kann der Supreme Court nur eine Seite, die der Vereinigten Staaten, kontrollieren. Damit kollidiert die vollständige Prüfung von Akten der auswärtigen Gewalt mit dem Grundsatz, der Standpunkt der USA solle gegenüber dem Ausland einheitlich durch das dazu berufene Organ zum Ausdruck gebracht und vertreten werden. Inwieweit völkerrechtliche Grundsätze die USA binden, sei primär eine Angelegenheit des internationalen Verkehrs; das Gericht versteht sich kaum als Wahrer völkerrechtlicher Prinzipien gegenüber der eigenen Regierung. Aus diesen Gründen unterliegt der Bereich der auswärtigen Politik nur einer eingeschränkten Nachprüfung. Von dort her ist die doctrine auch auf einige Bereiche des innerstaatlichen Rechts übertragen worden. Das gilt insbesondere für Fragen der militärischen Gewalt und Notstandsfragen, darüber hinaus i n Normalzeiten insbesondere i m Wahlrecht 4 6 . Ausgangspunkt der politic al-question-Rechtsprechung und ihrer „klassischen" dogmatischen Einordnung sind Fälle, i n denen die Verfassung die Ausübung bestimmter Kompetenzen anderen Staatsorganen als den Gerichten, nämlich politischen Instanzen, übertragen hat* 7. Danach ist die doctrine Ausdruck der Zuständigkeitsordnung i n der Gewaltenteilung. Rechtsentscheidungen sind die, die i n letzter Instanz einer gerichtlichen Nachprüfung unterliegen; politische Entscheidungen sind solche, die dieser Kontrolle entzogen sind. Diese Deutung ist i n einer Reihe von Entscheidungsgründen ausdrücklich enthalten. Sie ist durchaus zutreffend, soweit der Bereich der auswärtigen Beziehungen betroffen ist, aus welchem die doctrine stammt. Diese sind i n weitem Umfang der Regierung und nicht der Rechtsprechung zugewiesen. Dagegen entsprechen die Entscheidungen zur Innenpolitik nicht diesem Deutungsmuster. Der Grund dafür liegt darin, daß hier die ergangenen Entscheidungen eben nicht jene Sachgebiete betreffen, i n denen bestimmte Kompetenzen ausschließlich anderen Instanzen zugewiesen sind, wie das etwa bei der zum Beleg der klassischen Lehre herangezogenen Wahlprüfung der Fall ist 4 8 . 46 Dazu Kopp, Wahlkreiseinteilung, S. 68 ff.; zur Außenpolitik: Scharpf, Grenzen, S. 20 ff.; Haller, Supreme Court, S. 192 ff.; beide zugleich mit Überblick über sonstige Anwendungsfälle. 47 Dolzer, Staatstheoretische Stellung, S. 102 ff. mit Beispielen. 48 Nachweise bei Scharpf, Grenzen, S. 387 ff.

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

Vielmehr w i r d gegenwärtig eine funktionelle Auffassung bevorzugt. Sie soll erklären, warum ein Gericht, das Rechtsfindung, -fortbildung und -anwendung für sich selbst i n Anspruch nimmt, diese Aufgabe für bestimmte Rechtsfragen den politischen Institutionen überläßt. I n diesen Fällen w i r d entgegen der These vom Entscheidungszwang über einzelne Rechtsfragen vom Supreme Court nicht entschieden. Das geschieht danach deshalb, weil das Gericht für ihre Entscheidung die Verantwortung nicht übernehmen kann. "Political questions" sind danach solche, die jenseits der Grenze richterlicher Verantwortung stehen. Kriterien für solche Entscheidungen sind: — die Notwendigkeit einheitlicher Entscheidungen des amerikanischen government gegenüber dem Ausland; — das Problem ausreichender und zutreffender Information, u m zu einem sachgerechten Urteil zu gelangen; — die Respektierung spezifischer Verantwortungsbereiche der politischen Organe, wenn und weil das Gericht nicht in der Lage ist, die Konsequenzen und Rückwirkungen seiner Entscheidungen vorauszusehen und zu beherrschen 49. Das erste K r i t e r i u m trägt den Besonderheiten der Außenpolitik Rechnung, für die der Regierung die einheitliche Willensbildung und -durchsetzung gegenüber fremden Staaten überantwortet werden soll. Innenpolitisch erlangen demgegenüber die anderen Kriterien Bedeutung. Das zweite Merkmal stellt auf die überlegene Sachverhaltskenntnis oder -ermittlungsmöglichkeit der Exekutive ab. I n diesem Fall bleibt dem Gericht mangels eigener weiterer Aufklärungsmöglichkeiten nur die Alternative, entweder das Verhalten der anderen Staatsorgane zu b i l l i gen oder, wenn eine solche Entscheidung problematisch erscheint, von seiner Beurteilung unter verfassungsrechtlichen Kriterien abzusehen. Bedeutung kann es auch dann erlangen, wenn zwar nicht die Sachverhaltsaufklärung, wohl aber die Bewertung unter dem Aspekt weit gefaßter Normen politische Entscheidungsspielräume eröffnet. Auch i n diesem Falle bietet die doctrine die Möglichkeit, Handlungen anderer Staatsorgane zu respektieren, ohne sie rechtlich bewerten zu müssen. Praktisch relevant wurde dieses Merkmal i n den USA besonders i n Krisenzeiten. Dagegen weist das dritte K r i t e r i u m über sich selbst hinaus auf die allgemeine Fragestellung, welche Möglichkeiten dem Gericht und den anderen Staatsorganen zur Verfügung stehen, selbst die Folgen ihres Verhaltens vorauszusehen oder zu beherrschen. Nur auf diese Weise 49 Ebd., S. 404 ff.; Haller f Supreme Court, S. 361 ff.; Kopp, Wahlkreiseinteilung, S. 88 ff.; i. E. trotz Kritik ähnlich Dolzer, Staatstheoretische Stellung, S. 104 f.

I I . Verfassngsrecht und P o l i t i k

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können sich spezifische Verantwortungsbereiche der einzelnen Staatsorgane konkretisieren lassen 50 . Gerade in diesem Effekt sind die Besonderheiten der doctrine gegenüber der Nichtannahme einer Beschwerde begründet. Während i m certiorari-Beschluß nicht nur die Rechtmäßigkeit, sondern zugleich die Justitiabilität der strittigen Maßnahme offen bleibt, umreißt die doctrine Sphären, welche den Staatsorganen als primäre Gestaltungs- und Verantwortungsbereiche offen stehen. Der Charakter einer Maßnahme als political question begründet somit die Eigenschaft als nicht justitiabler A k t . Welche Akte nicht justitiabel sind, ergibt sich aus denjenigen Verfassungsnormen, welche den jeweils beurteilten Sachverhalt regeln. Hier bestimmen die Organisations- und Zuständigkeitsnormen, welche Aktions- und Reaktionsmöglichkeiten den einzelnen Staatsorganen zustehen und wieweit ihre Erkenntnis- und Verantwortungsmöglichkeiten reichen. Daneben regeln die Vorschriften des materiellen Rechts als Handlungsmaßstäbe, inwieweit ihre A k t e materiell determiniert sind. Das gilt unter den spezifischen Gegebenheiten der amerikanischen Verfassung ebenso wie nach den Normen des Grundgesetzes. Darin liegt zugleich die Stärke und die Grenze der doctrine: sie bestimmt nicht aus sich heraus die Justitiabilität oder Nichtjustitiabilität von Staatsakten. Nicht die Natur der zu beurteilenden Maßnahmen als „politische" oder „nichtpolitische" ist letztlich ausschlaggebend für die Nachprüfbarkeit, sondern die allgemeine verfassungsrechtliche Kompetenzordnung, welche den Staatsorganen die Handlungsmöglichkeiten zuweist und zugleich den Rahmen ihrer Verantwortungsbereiche umreißt. Eine Übertragung dieser doctrine auf die deutsche Rechtsordnung ermöglicht als solche daher noch keine Kompetenzabgrenzung, sie verweist vielmehr auf die Ausgangsfrage zurück: Der Umfang der verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten ist aus der grundgesetzlichen Kompetenz-, Funktions- und Verantwortungsverteilung zu bestimmen. Die doctrine begründet diese Bestimmung nicht, sondern erfordert sie lediglich. Sie stellt somit für die Bundesrepublik lediglich die Frage, deren Beantwortung aus dem deutschen Verfassungsrecht erfolgen muß. Nur so weit kann die Leistungsfähigkeit jener Lehre reichen 51 . Erweist sich die Gegenüberstellung von Recht und Politik demnach nicht als brauchbares K r i t e r i u m zur Kompetenzabgrenzung, so bedeutet das noch keineswegs die Unmöglichkeit einer solchen Zuordnung. Sicherlich ist zutreffend, daß Verfassungsreditsprechung politisch ist. Daraus den Schluß zu ziehen, daß dem Bundesverfassungsgericht, da 50

Beispiele bei Scharpf, Grenzen, S. 409 ff. So auch Friesenhahn, ZRP 1973, 191 ff.; plastisch wird dies bei Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. 48 ff. 51

2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

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es das Grundgesetz nun einmal vorsehe, nicht der Verwurf gemacht werden könne, es greife i n den politischen Bereich ein 5 2 , ist allerdings nur insofern richtig, als der Justiz ihr politischer Charakter nicht zum Vorwurf gemacht werden kann. Welche Bedeutung ihr i m politischen Prozeß zukommen darf, ist eben zu klären.

I I I . Die Kompetenzordnung nach der Wertordnungslehre Die Wertordnungslehre hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes weitgehend beherrscht, sie ist geradezu zur Verfassungstheorie des Gerichts geworden. Jene Urteile, welche zum Anlaß der öffentlichen K r i t i k an der Verfassungsgerichtsbarkeit wurden, sind zumeist von ihr geprägt. I n der Praxis ist ihre Bedeutung für die Kompetenzordnung daher kaum zu überschätzen. Ausgangspunkt der Wertetheorie ist die Integrationslehre R. Smends 1 . Danach ist der Staat zur Verwirklichung gemeinsamer Zwecke seiner Bürger, zur „sachlichen Integration", gegründet. Die Realisierung aller ideellen Sinnkonzepte setzt Gemeinschaft voraus, wobei diese durch jene Sinnentwürfe begründet, gefestigt, bereichert und gesteigert wird. Solche Ideen leben nur i n der und durch die Gemeinschaft, sie begründen ebenso die Gemeinschaft, wie sie ihrerseits durch diese hervorgebracht werden. Gemeinschaft ist Sinnverwirklichung durch die Gemeinsamkeit der Werte, sie ist „ i n ihrer Substanz als Wertverwirklichung zu verstehen". Das gilt wie für alle Zusammenschlüsse auch für den Staat. Das Staatsleben w i r d bestimmt durcli die Konkretisierung objektiver Wertgesetzlichkeiten i n ihren jeweiligen geschichtlichen Verhältnissen. Nur vermöge dieser Wertfülle herrscht der Staat, und vermöge dieses Erlebnisses der Wertfülle w i r d der Einzelne staatlich integriert. Jede politisch verbindliche Gestalt w i r d durch die Erfassung politischer Gehalte als „Glaubensgehalte" vermittelt. Die konkreten Werte begründen Legitimität, da sie die Gestaltung einer bestimmten staatlichen Rechtsordnung einerseits fordern und andererseits tragen. Infolge der Verschiedenheit der Werte gibt es dementsprechend verschiedene Legitimitäten und verschiedene Grade der Legitimität. Daher stellt sich dem Staatsrecht jedes konkreten Staates das Wertproblem unausweichlich 2 .

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Roth, JuS 1975, 617; dagegen Eckertz, DSt 1978, 201 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1927, S. 45 ff. 2 Die Bedeutung der wertbezogenen Integration des Einzelnen in den Staat liegt darin, daß die Möglichkeit erhöhter staatlicher Inanspruchnahme des Individuums, etwa im Kriege, zumeist an sie gebunden ist; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 50. 1

I I I . Die Kompetenzordnung nach der Wertordnungslehre

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Insbesondere nach dem 2. Weltkrieg erfuhr das Wertdenken i m Gegensatz zu der als wertelos empfundenen Ideologie des Nationalsozialismus für das Verfassungsrecht eine erhebliche Aufwertung. Dabei wurde das Wertproblem vielfach i n Abgrenzung von „Erkenntnisskeptizismus" und „Wertagnostizismus" diskutiert. Relativismus und Dezisionismus konvergieren danach i m ausschließlichen Machtpositivismus; die j u r i stisch reine „Grundnorm" i m Sinne Kelsens erscheint so als normlogische Umschreibung der reinen Dezision und mit i h r der „reinen Macht". Positivismus zeichnet sich demnach dadurch aus, daß i n ihm das Wertproblem keine wissenschaftliche Erkenntnisaufgabe, sondern eine überzeugungsmäßige Bekenntnisfrage darstellt. Dieser Konzeption w i r d ein Denken entgegengesetzt, welches die Erkenntnisgrenzen empirischer Wissenschaften durch die Ontologie zugunsten wissenschaftlicher Werterkenntnis überschreitet. Deren Ergebnisse sind danach zwar keineswegs zwingende, wohl aber mögliche Einsichten, die jedenfalls nicht „schlechterdings irrational" sind. Ontologisch w i r d ein Annäherungsund Wahrscheinlichkeitswissen gewonnen, das niemals abgeschlossen, vielmehr stets hypothetisch und stets falsifizierbar bleibt. Es hat viele Methoden und Doktrinen, die nur miteinander konkurrieren können, wenn sie gegenseitig tolerant sind. Für ein solches Denken vermögen empirische Erkenntnisse durchaus Leistungen bei der Hypothesenbildung oder der Falsifizierung von Werteinsichten zu leisten, da sich Wertfragen stets i n einer konkreten Realität stellen. A u f diese Weise sollen Indizien für eine Annäherung an ein „richtiges Recht" gewonnen werden, u m nicht durch Relativismus den Staat der realen Macht auszuliefern 3 . Ein so angestrebter „materialer Verfassungsbegriff" ist stets werthaft. Solche materialen Verfassungsbegriffe sind für jede konkrete Staatsordnung ableitbar. Eine Demokratie, welche dem Phänomen der Macht nicht blind gegenüberstehen w i l l , ist demnach gleichfalls notwendig werthaft. Das gilt erst recht für das Grundgesetz als Antwort auf die nationalsozialistische Vergangenheit. Alles nicht ausschließlich machtorientierte Denken vermag demnach der Logik des Wertdenkens nicht zu entrinnen 4 . 1. Die Wertordnungslehre in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Die Wertordnungslehre nimmt i n der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts keinen einheitlichen Stellenwert ein 5 . Eine Dar3 Steinberger, FS Geiger, S. 243 ff.; dort zum folgenden; ders., Konzeptionen und Grenzen, 1974, S. 243 ff. 4 Vertiefend: Hahn in Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltenteilung, S. 440 ff.; Hamel, Deutsches Staatsrecht 1, S. 11 ff.; Zippelius, Wertungsprobleme im System der Grundrechte.

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

Stellung kann nur allgemeine Entwicklungslinien und Tendenzen aufzeigen. a) Die Einführung

der Wertordnungslehre

in die Rechtsprechung

I n den frühen Parteiverbotsentscheidungen erfolgte die Einführung des Wertedenkens i n die Verfassungsauslegung und -rechtsprechung 6 . I m SRP-Urteil wurden Inhalt und Grenzen der Parteifreiheit i n einem „liberalen demokratischen Staat" thematisiert. Entspricht es danach dem Charakter einer solchen Staatsordnung, daß der Bildung und Betätigung politischer Parteien keine Schranken gezogen werden dürfen, so sei zu erwägen, „belehrt durch die Erfahrung der jûngàten Vergangenheit", ob diesem Recht „gewisse Grenzen" zu ziehen seien. Solche Grenzen seien i n A r t . 21 I I GG gezogen, indem „oberste Grundwerte des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates" der politischen Auseinandersetzung zwischen den Parteien entzogen bleiben sollten. Diese Grundwerte würden von A r t . 21 I I GG i n dem Begriff „freiheitliche demokratische Grundordnung" zusammengefaßt. Dessen Elemente werden partiell ihrerseits als „Grundwerte der staatlichen Einheit" bezeichnet. Die Werteformel nimmt hier keine eigenständige Bedeutung ein; sie dient lediglich zur Umschreibung einiger Normen des Grundgesetzes. Aus der Formulierung „Grundwerte" läßt sich jedoch entnehmen, daß den i n der Verfassung niedergelegten Werten entgegen ihrer formalen Ranggleichheit ein unterschiedlicher Rang zukommen könne. Dieser Ansatz w i r d jedoch i n der Entscheidung nicht weiterverfolgt, da hierzu der Sachverhalt keinen Anlaß bot. Ausführungen dazu finden sich i m KPD-Verbotsurteil 7 . Auch darin w i r d die Notwendigkeit der Anerkennung bestimmter Grundwerte durch alle Parteien betont. Grundlage dafür sei das Bestreben des Grundgesetzes, nicht „auf die Aufstellung und den Schutz eines eigenen Wertsystems überhaupt zu verzichten". Aus dem „Pluralismus von Zielen und Wertungen" seien gewisse Prinzipien anerkannt und daher zu verteidigen. Diese Darlegungen benutzen die Werteformel nicht mehr nur zur Umschreibung von Verfassungsnormen, sondern zugleich zu ihrer Legitimation. Zentrale Bedeutung nehmen dabei zwei Aussagen ein. Das Grundgesetz hat ein eigenes Wertsystem aufgestellt, welches „Grundwerte" und andere Werte einbezieht. Daraus läßt sich ein Rang5 Ihre Heranziehung wie ihre inhaltliche Konkretisierung erfolgt in ähnlich gelagerten Fällen nicht stets einheitlich, auch zeigen sich Unterschiede zwischen den beiden Senaten des Gerichts. So ist es gegenwärtig nicht möglich, eine einheitliche Bestimmung ihrer Stellung und Bedeutung in den Entscheidungsgründen vorzunehmen; exemplarisch auch Goerlich, Wertordnung, S. 30 ff.; zum folgenden daneben Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1533 f. 6 BVerfGE 2, 1, 11 ff. 7 BVerfGE 5, 85, 133 ff.

I I I . Die Kompetenzordnung nach der Wertordnungslehre

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unterschied zwischen den von der Verfassung anerkannten Werten postulieren: die „Grundwerte" sind politischen Diskussionen entzogen, die übrigen Werte sind dem politischen Prozeß überantwortet. Ein solcher Schluß w i r d vorausgesetzt, aber nicht ausdrücklich gezogen. Zudem existieren bestimmte Werte außerhalb der so anerkannten Wertordnung, die daher außerhalb der legalen politischen Diskussion stehen. Parteien, welche sie einbringen, erscheinen als „staatsfeindlich" 8 . Insbesondere diese Aussage, die i m Verfahren zum Verbot der KPD führte, läßt sich dem Grundgesetz auch ohne wertbezogene Formulierungen entnehmen. Auch hier kommt dieser Formel somit nur ornamentale Funktion zu. Der Gedanke einer Wertrangordnung erlangte erstmals i m ElfesUrteil praktische Bedeutung 9 . Angesichts der weiten Auslegung des Begriffs der „verfassungsmäßigen Ordnung" i n A r t . 2 I GG nahm das Gericht zu der Frage Stellung, ob dadurch dieses Grundrecht „leerlaufen" könnte, indem es durch jedes formell ordnungsgemäß ergangenen Gesetz wirksam eingeschränkt werden könnte. Grundsätzlich betont dabei der Senat den Charakter des Grundgesetzes als „wertgebundene Ordnung". Die „obersten Prinzipien dieser Wertordnung" seien gegen Verfassungsänderungen geschützt. Als normative Zulässigkeitsgrenze für freiheitseinschränkende einfache Gesetze werden die „obersten Grundsätze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als der verfassungsrechtlichen Wertordnung" herangezogen. I n dieser Ordnung sei die Würde des Menschen der „oberste Wert". Damit geht das Gericht von einer gestuften Wertordnung aus. Höchste Stufe sind die „obersten Rechtsprinzipien" der A r t . 1, 20 GG, welche gegen Verfassungsänderungen geschützt sind. Unterhalb dieser Ebene sind zwei Stufen zu unterscheiden: solche Werte, die einer gesetzlichen Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit entgegenstehen, und solche, welche derartige Freiheitseingriffe zulassen. Eine abstrakte Abgrenzung dieser beiden Stufen nimmt das Gericht nicht vor; vielmehr begnügt es sich mit Hinweisen auf einzelne geschriebene und ungeschriebene Grundsätze der Verfassung, zieht also nicht mehr den Normtext des einschlägigen Grundrechts, also des A r t . 2 1 GG, heran. Ermöglicht w i r d eine solche Ausfüllung seiner Tatbestandsmerkmale aus anderen Verfassungsbestimmungen mit dem Gedanken, die „verfassungsmäßige Ordnung" weise auf den gesamten Inhalt des Grundgesetzes als wertgebundene Ordnung zurück. Erstmals sind hier die herangezogenen Werte nicht mehr m i t den anwendbaren Verfassungsnormen identisch, Werte sind vielmehr alle Bestandteile des Grundgesetzes, sowohl ge8

BVerfGE 5, 85, 139 f. » BVerfGE 6, 32, 40 f.

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

schriebene als auch „ungeschriebene". Erstmals w i r d auch der Adressat der grundgesetzlichen Wertordnung ausdrücklich betont, sie bindet insbesondere den Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht bei der Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen. Welche Rechtsfolgen die Werte konkret begründen, brauchte nicht näher thematisiert zu werden: die Bindung der Staatsorgane an die Wertordnung der Verfassung war hier m i t der Bindung an Inhalt und Schranken des A r t . 2 I GG identisch. b) Die Loslösung der Wertordnung

vom Grundgesetz

Uber diese Entscheidungen ging das Lüth-Urteil hinaus 1 0 . Hier stellte sich dem Bundesverfassungsgericht die Frage der D r i t t w i r k u n g von Grundrechten. Ausgangspunkt seiner Ausführungen dazu ist die Feststellung, daß die Freiheitsrechte i n erster Linie dazu bestimmt seien, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern. Sie w i r d mit historischen und systematischen Argumenten gestützt. Aus dieser Abwehrdimension kann sich eine D r i t t wirkung nicht herleiten lassen. Darüber hinaus w i r d sodann zusätzlich der Wertgehalt dieser Verfassungsnormen herangezogen. Demnach ist es „ebenso richtig", daß die Grundrechte eine objektive Wertordnung enthalten und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung ihrer Geltungskraft zum Ausdruck kommt. Somit treten zwei Grundrechtsdimensionen auseinander: der historisch-systematisch ermittelte Gehalt ihres Textes und der darüber hinausgehende Wertgehalt 1 1 . Die W i r k u n gen dieser Wertdimension sind nicht mit denjenigen der Abwehrdimension identisch; sie enthält kein Verbot von Eingriffen, sondern vermittelt den Staatsorganen positive Gebote als „Richtlinien und Impulse". Dieser Gebotscharakter gilt für alle Zweige der Staatsgewalt, also für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, indem Werten eine „Ausstrahlungswirkung" auf alles Recht zukommt, welche alle auslegenden Instanzen zu beachten haben. Über ihre Beachtung wacht das Bundesverfassungsgericht. Damit fallen Verfassungsnorm und Wert nicht mehr zusammen. Zwar w i r d der Inhalt eines Grundrechtes, nämlich die Meinungsfreiheit, mit Wertgehalt ausgestattet, seine Rechtsfolgen ändern sich hingegen je danach, ob der Abwehr- oder der Wertcharakter anwendbar ist. Verfassungsordnung und Wertordnung treten hier erstmals explizit auseinander. Auch der Gedanke einer Rangordnung von Werten w i r d i n dieser Entscheidung implizit aufgenommen. Bei der Beantwortung der Frage, welches Grundrecht i m Falle einer Kollision den Vorrang genießt, ist darauf abzustellen, ob der Wertgehalt 10 11

BVerfGE 7, 198, 206 ff. Zu dieser Verdopplung Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 217.

I I I . Die Kompetenzordnung nach der Wertordnungslehre

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des jeweiligen Verfassungsrechtssatzes zutreffend zur Geltung gebracht worden ist. Je höher der Wertgehalt ist, desto eher begründet er einen Vorrang des jeweiligen Grundrechts. Solche Vor- bzw. Nachrangigkeit setzt eine Rangordnung der Werte voraus 12 . Besonders deutlich wurde jener Doppelcharakter der Grundrechte i m Hochschulurteil 13 . Danach ist A r t . 5 I I I 1 GG eine „objektive, das Verhältnis von Wissenschaft, Forschung und Lehre zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm" und „zugleich" ein individuelles Freiheitsrecht. Dem Staat kommt dementsprechend eine doppelte Pflicht zu. Einerseits hat er sich jedes Eingriffs i n die Freiheit der wissenschaftlichen Betätigung zu enthalten; zugleich muß er für die „Idee der freien Wissenschaft" positiv einstehen. Damit geht das Bundesverfassungsgericht über die bisherige Rechtsprechung i n zwei Punkten hinaus. I m Verhältnis zwischen Grundrechten und einfachem Gesetzgeber hatte das Gericht bislang die Wertformel nur als ornamentale Umschreibung herangezogen. I m Hochschulurteil wurde der Doppelcharakter der Freiheitsrechte erstmals gegen den Gesetzgeber gekehrt, die Wertordnung als eigenständiger, rechtsfolgenbegründender Faktor gegenüber dem Abwehrrecht herangezogen. Die andere Fortentwicklung des Wertgedankens liegt i n der Rechtsfolge, welche dem Grundrecht als Wert entnommen wird. Hatte bislang gegenüber der Legislative die Abwehrdimension und gegenüber den anderen Staatsorganen — wie i m LüthUrteil — zusätzlich die Ausstrahlungsfunktion der Verwirklichung der Wertordnung genügt, so kommt nunmehr eine weitere Verpflichtung hinzu. Alle Staatsgewalt hat danach die Pflicht, „schützend und fördernd einer Aushöhlung dieser Freiheitsgarantie vorzubeugen". Der Wertordnung ist somit neben der Ausstrahlung sfunktion zugleich eine Auftragsfunktion zu entnehmen, welche sich an alle Staatsorgane i n gleicher Weise richtet. Jeder Zweig der Staatsgewalt hat mit seinen spezifischen Mitteln die verfassungsrechtlich rezipierten Werte zu verwirklichen. Beschränkten sich bislang die Rechtsfolgen der Freiheitsrechte auf die Abwehr gesetzlicher Beschränkungen, so trugen sie nunmehr der Legislative zugleich Maßnahmen zur positiven Freiheitsrealisierung auf. Das Grundgesetz als wertgebundene Ordnung war ihr nun nicht mehr nur vorgegeben, sondern zur Verwirklichung aufgegeben. Unabhängig von verfassungsimmanenten grammatischen, historischen oder systematischen Interpretationen steht die Wertordnung entsprechend ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Hatte das Bundesverfassungsgericht i n seiner frühen Rechtsprechung überwiegend Grundrechte, welche ausdrücklich i m Grundgesetz positi12 18

Dazu Schneider, Die Güterabwägung des BVerfG, S. 25 ff. BVerfGE 35, 71, 112 ff.

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgricht

viert waren, als „Werte" bezeichnet, so wandelte sich diese Praxis später. I n der Frühzeit waren nur die jeweils unmittelbar anwendbaren Rechtssätze mit Wertgehalt versehen worden, oder sie wurden unter Heranziehung anderer, ausdrücklich positivierter Verfassungsnormen inhaltlich konkretisiert. Waren somit Wertordnung und Verfassung nicht ihren Rechtsfolgen, wohl aber ihrem Inhalt nach identisch, so lösten sich diese Zusammenhänge i n einzelnen späteren Fällen 1 4 . Hier wurden Werte herangezogen, die zumindest nicht mehr ausdrücklich i n einzelnen Verfassungsnormen positiviert waren. Dazu zählten etwa die „Funktionsfähigkeit der militärischen Landesverteidigung" und die „Wehrgerechtigkeit" 1 5 , die als politische Ziele Eingang i n die verfassungsrechtliche Güterabwägung gewannen. Auch ihnen wurden beide Wirkungen der Wertordnung zuerkannt; sie wurden zur Konkretisierung von Grundrechtsschranken herangezogen und somit konstitutionalisiert. So löste sich die Wertordnung partiell vom Verfassungstext überhaupt, nach Inhalt und Schranken emanzipierte sie sich vollständig vom positiven Recht. Derartige Entscheidungen sind allerdings Ausnahmen geblieben. War die Eigenschaft von wertverwirklichenden Normen bislang — mit Wirkung für den Gesetzgeber — nur Grundrechten zugesprochen worden, so wurde sie nunmehr auch auf den Organisationsteil der Verfassung ausgedehnt. Damit verkehrte sich zugleich die ursprüngliche Legitimation der Wertordnungslehre, ihre grundrechtsfördernde Wirkung, in ihr Gegenteil 16 . Die Rechtsfolgen der verfassungsrechtlich rezipierten Werte richteten sich nach der ursprünglichen Entscheidungspraxis an alle Staatsorgane, sie sind ihnen zur Verwirklichung aufgegeben. I m zweiten Radikalenbeschluß 17 erlangten sie berechtigende und verpflichtende Kraft auch unmittelbar für den Bürger. Einer gesetzlichen Transformation oder Ausfüllung bedurften sie dabei nicht. Wertordnung und Rechtsordnung traten somit sukzessive auseinander, indem sie bezüglich ihrer Rechtsfolgen und — partiell — bezüglich ihrer Tatbestände unterschiedlich interpretiert wurden. Der Grund dafür liegt i n einer charakteristischen Wandlung des Verhältnisses zwischen Wertordnung und Verfassung. Wurde i n der Frühzeit die Wertordnung aus dem Grundgesetz interpretiert, so orientiert sich später die Verfassungsauslegung an einem vorausgesetzten Wertsystem. 14 Im Abtreibungsurteil (BVerfGE 39, 1, 36 ff.) war der Wert „ungeborenes Leben" noch durch teleologische und systematische Auslegung des Art. 2 I I 1 GG herzuleiten. 15 BVerfGE 48, 127, 159. 10 Roellecke, BVerfG und GG I, S. 41 f. 17 BVerfGE 46, 43, 52 ff.

I I I . Die Kompetenzordnung nach der Wertordnungslehre

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2. Das Verhältnis zwischen Legislative und Bundesverfassungsgericht nach der Wertordnungslehre

Wacht das Bundesverfassungsgericht über die Einhaltung des Grundgesetzes durch die Legislative, so läßt sich auf der Grundlage der Wertordnungslehre die Kompetenzverteilung zwischen dem Gesetzgeber und dem Verfassungsgericht nach dem Inhalt und der Intensität der Bindung aller Staatsgewalt an das Grundgesetz bestimmen. a) Wertsetzung Voraussetzung der Kontrolle von Gesetzen durch das Bundesverfassungsgericht ist die Existenz anwendbarer Werte. Dazu muß eine Wertordnung aufgestellt sein, welche für die auftretenden sozialen Konflikte Entscheidungsmaßstäbe bereithält. Der Prozeß der Schaffung dieser Entscheidungskriterien ist die Wertsetzung. Nach der frühen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 18 hat das Grundgesetz aus dem Pluralismus von Zielen und Wertungen „gewisse Grundprinzipien" herausgenommen, die als „oberste Werte" anerkannt werden. Sie sind die „Werte der Verfassungsordnung" und als solche weitgehend mit den „elementaren Verfassungsgrundsätzen" identisch. Danach entsteht das Wertsystem mit der Verfassung, es ist i h r nicht a priori vorgegeben. Vielmehr werden die Werte durch ihre Aufnahme i n das Grundgesetz „anerkannt" und so mit ihrem Einbau i n die Verfassung als Ordnung „aufgerichtet" 1 9 . Die Entstehung dieses Wertsystems fällt so mit der Verfassunggebung zusammen, maßgebliche Instanz für seine Errichtung ist der Verfassunggeber. Seine Bedeutung für dessen Ausgestaltung w i r d dadurch hervorgehoben, daß die Werte i n dem Kontext seiner subjektiven Erfahrungen und Zielsetzungen gewichtet werden. Danach sind die grundgesetzlichen Werterscheinungen Ausdruck „der Erfahrungen eines Verfassunggebers", der „ i n einer bestimmten historischen Situation" stand. Diese historische Situation fließt i n die Ausgestaltung des Wertkanons ein. Eine solche Rückführbarkeit von Wertentscheidungen auf den Verfassunggeber ist jedoch nur möglich, solange und soweit Inhalt und Rechtsfolgen der Werte mit dem Resultat der Tätigkeit des Verfassunggebers, eben dem Grundgesetz, übereinstimmen. Je weiter sich die Wertordnung von der Rechtsordnung entfernt, desto mehr verselbständigt sie sich zugleich von dem Willen der rechtsetzenden Instanzen. I m Hinblick darauf hat das Bundesverfassungsgericht auch i n jüngeren Entscheidungen, insbesondere i m Abtreibungsurteil, grundgesetzliche Wertent18 19

BVerfGE 5, 85, 139 ff. BVerfGE 7, 198, 205.

5 Gusy

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

Scheidungen mit dem historischen Willen des Verfassunggebers begründet 2 0 . Nach dem vom Bundesverfassungsgericht vertretenen objektiven Auslegungsansatz bedarf es jedoch einer solchen ausdrücklichen Rückführung kaum. Ist danach erstes K r i t e r i u m für jede Gesetzesinterpretation der „objektivierte Wille des Gesetzgebers" 21 , so ist die gesamte Verfassung mit sämtlichen „objektiven" Auslegungsalternativen vom Willen des historischen Normsetzers erfaßt. Notwendig ist demnach eine Begründung der Werte aus der Verfassung selbst, nicht aus dem historischen Willen des Verfassunggebers. U m eine solche Rückführung bemüht sich das Gericht auch i n solchen Fällen, i n denen extrakonstitutionelle Phänomene als Werte i n die Güterabwägung auf Verfassungsebene eingezogen werden 2 2 . Gehen hier die Entscheidungsgründe von einer Herleitung der herangezogenen Werte aus dem Grundgesetz aus, so sind diese Werte zugleich vom „objektivierten Willen" des Verfassunggebers umfaßt. Die Wertsetzung ist demnach nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom Verfassung g eb er vorgenommen worden. b) Werterkenntnis Die Wertsetzung durch den Verfassunggeber bindet alle Staatsorgane. Diese sind verpflichtet, sie zur Grundlage ihres Handelns zu machen. Das setzt jedoch voraus, daß sie die Existenz eines Wertes und seine Stellung i m gesamten System zutreffend erkennen. Werterkenntnis ist somit eine Aufgabe aller Zweige der Staatsgewalt. Sie haben selbst die Pflicht, jene Anforderungen, welche die verfassungsrechtlich anerkannte Wertordnung an i h r Verhalten i m konkreten Fall stellt, zu ermitteln. Das geschieht, da die Werte vom Verfassunggeber vorgegeben sind, grundsätzlich durch Auslegung des Grundgesetzes. So hat jede staatliche Stelle bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen zu prüfen, ob i m Einzelfall verfassungsrechtliche Wertentscheidungen anwendbar sind und welche Gebote oder Verbote aus ihnen folgen 23 . Der Verfassungsbindung aller Staatsgewalt korrespondiert so die Pflicht, die Vorgaben des Grundgesetzes zur Kenntnis zu nehmen und zu beachten. Das gilt für Legislative, Exekutive und Justiz auch und gerade gegenüber der Wertordnung, die als Ausdruck grundgesetzlicher Entscheidungen und Zielsetzungen gilt. I h r Inhalt und ihre Rechtsfolgen sind auch insoweit zu beachten, als sie nicht i n einzelnen Verfassungsnormen explizit zum Ausdruck kommen, also Anforderungen begründen, welche i m Grundgesetz nicht eigens niedergelegt sind. 20 21 22 23

BVerfGE 39, 1, 38 ff. Nachweise bei Leibholz / Rinck, GG, Einführung Rn. 1. BVerfGE 48, 127, 159. Exemplarisch BVerfGE 49, 252, 258 f.

I I I . Die Kompetenzordnung nach der Wertordnungslehre

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Die Werterkenntnis erfolgt jedoch nicht gleichberechtigt durch alle Staatsorgane, vielmehr ist hier die allgemeine Kompetenzordnung maßgeblich. Das i m gewaltenteilenden Staat verwirklichte System partiell ausdifferenzierter Gestaltung und Kontrolle läßt eine unkontrollierte Rechtsauslegung grundsätzlich nicht zu, vielmehr w i r d i m Rahmen einer Rechtmäßigkeitsprüfung von Staatsakten regelmäßig auch nachgeprüft, ob die verfassungsrechtlichen Anforderungen i n hinreichender Weise zur Kenntnis genommen und gewürdigt worden sind. Die Aufgabe einer solchen Rechtmäßigkeitsprüfung kommt primär den Gerichten zu. Sie prüfen demnach, ob der Gesetzgeber bei seinen Maßnahmen die A n forderungen an die Erkenntnis verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen erfüllt hat. So haben zunächst die Legislativorgane bei ihren Gestaltungsmaßnahmen selbst die Aufgabe der Werterkenntnis wahrzunehmen; danach sind die Gerichte i m Rahmen der Rechtmäßigkeitskontrolle von Gesetzen und Exekutivakten zu einer solchen Erkenntnis verpflichtet. Letzte Kontrollinstanz bezüglich der Wahrung der Verfassung und ihrer Wertordnung ist dabei das Bundesverfassungsgericht. Ihm obliegt der Primat bei der Auslegung des Grundgesetzes. Ein von i h m erkannter Wert ist jeder anderen Instanz vorgegeben; i h m kommt mit der letztverbindlichen Verfassungsauslegung zugleich die Letztentscheidung bei der Werterkenntnis zu. Die Werterkenntnis erfolgt somit durch jedes verfassungsgebundene Staatsorgan; die letztverbindliche Entscheidung kommt dem Bundesverfassungsgericht zu. c) Wertverwirklichung Ein vom Verfassunggeber gesetzter und den Staatsorganen erkannter Wert verwirklicht sich i m Gemeinwesen zumeist nicht von selbst. Vielmehr bedarf es dazu konkretisierender, fördernder und schützender Maßnahmen, die i h m nicht nur i n der Rechtsordnung, sondern auch i n der Realität seinen intendierten Stellenwert verschaffen. Solche Maßnahmen der Wertverwirklichung sind von der verfassungsrechtlichen Wertsetzung aufgegeben. Adressat dieser Aufgabe sind Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, welche durch das Wertsystem „Richtlinien und Impulse" empfangen 24 . Für die Legislative ist dabei von herausragender Bedeutung die Auftragsfunktion, welche sie verpflichtet, die Werte zu verwirklichen, zu fördern und zu schützen. Sie ist demnach zu positiven Gestaltungsmaßnahmen verpflichtet. Für die übrigen staatlichen Stellen t r i t t noch die Ausstrahlungsfunktion hinzu, welche das Gesetzesrecht konkretisiert. Alle Staatsorgane, also auch die Legislative, sind gehalten, ihr Handeln nach den Anforderungen der jeweiligen Werte positiv auszurichten. Der Einzelne hat als Grundrechtsträger 24



BVerfGE 7, 198, 205.

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

einen Anspruch auf derartige Maßnahmen, er kann gegenüber der öffentlichen Gewalt die Beachtung der wertentscheidenden Grundsatznormen durchsetzen. Bei der Wertverwirklichung kommt dem Gesetzgeber eine besondere Bedeutung zu, da i h m i m Staat der Gestaltungsprimat überantwortet ist. Hat er alle „wesentlichen" Entscheidungen selbst zu treffen 2 5 , so ist er bei der Umsetzung von Werten i n Entscheidungen und Steuerungsmaßnahmen primär gefordert. Er hat — nach Maßgabe der Anforderungen der verfassungsrechtlichen Wertordnung — diejenigen Gestaltungsakte zu setzen, welche jene Ordnung konkretisieren und i m Gemeinwesen verwirklichen. Wertverwirklichung ist demnach zuerst eine Aufgabe der Legislative. Erst auf der Grundlage erlassener Gesetze setzen vielfach die Gestaltungsaufgaben von Exekutive und Justiz ein 2 6 . Bei der Wertverwirklichung ist der Gesetzgeber jedoch keineswegs völlig frei. Ob er die zutreffend erkannten Werte i n geeigneter, den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechender Weise umgesetzt hat, unterliegt der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, welches nicht nur die Werte, sondern auch die Erfordernisse ihrer Verwirklichung verbindlich konkretisiert. A n seine Entscheidungen ist der Gesetzgeber auch insoweit gebunden. Grundsätzlich kann das Gericht die Verwirklichungsaufgabe nicht selbst übernehmen; dies kann vielmehr nur i n jenen Einzelfällen geschehen, i n denen die verfassungsrechtlich rezipierten Werte „hinreichend bestimmt" sind, u m selbst unmittelbar durch gerichtsförmige Erkenntnis umgesetzt zu werden 2 7 . Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Wertordnungslehre erfolgt demnach die Wertsetzung durch den Verfassunggeber, die Werterkenntnis durch alle Staatsorgane, letztverbindlich durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, die Wertverwirklichung hingegen primär durch die Legislative unter verfassungsgerichtlicher Kontrolle. d) Gesetzgebung als Verfassungsvollzug Die frühe Rechtsprechung zur Wertordnungslehre zeigt den Unterschied zwischen der Verfassung als Rechtsordnung und als Wertordnung deutlich, wenn der Rekurs auf den Werttopos noch begründet wurde. Danach erhält das Grundgesetz seinen Charakter von Auftrags- und Ausstrahlungsnormen durch die Einbeziehung der Werte; mit den überkommenen Interpretationsmethoden, insbesondere der historischen und der systematischen, ließen sich diese Wirkungen nicht begründen 28 . Die 25

BVerfGE 49, 89, 126 f. m. w. N. Zur Wertverwirklichung im Gefüge der Gewaltenteilung auch Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, S. 366 ff. 27 BVerfGE 46, 42, 58 f. 28 BVerfGE 7, 198, 205. 26

I I I . Die Kompetenzordnung nach der Wertordnungslehre

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Wertordnungslehre ist demnach methodisches Vehikel zur Herbeiführung des Wandels von der limitierenden zur dirigierenden Verfassung 29. Damit wandelt sich die Bedeutung des Grundgesetzes für die Legislative. Ist die limitierende Verfassung Grenze der Gesetzgebung, die i n Freiräumen eigenständige Gestaltungsaufgaben wahrnehmen kann, so ist die dirigierende Verfassung für den Gesetzgeber nicht mehr Handlungsgrenze, sondern -auftrag. Das gilt für die werthaft gedeuteten Freiheitsrechte ebenso wie für Kompetenznormen, denen Wertgehalt beigelegt w i r d 3 0 . Gesetzgebung bedeutet demnach Konkretisierung, Umsetzung und Verwirklichung der Verfassung, sie führt aus, was im Grundgesetz schon niedergelegt und entschieden ist. Sie ist nicht mehr eigenständige Gestaltung, sondern Verfassungsvollzug. Soweit die Wertentscheidungen des Grundgesetzes reichen, ist das Verhältnis zwischen Verfassung und Legislative demnach ähnlich demjenigen zwischen Gesetzgebung und Verwaltung. Diese Einordnung der Legislative ist eine unmittelbare Konsequenz der wertorientierten Deutung des Grundgesetzes. Die dargestellte Entwicklung hat Konsequenzen auch i n der Kompetenzkonkurrenz zwischen Legislative und Bundesverfassungsgericht 31 . Erst eine Zusammenschau der grundgesetzlichen Wertordnung mit ihrer „starken Geltungskraft" einerseits und der Kompetenzen des Gerichts andererseits läßt dessen Zuständigkeiten i n ihrer vollen Bedeutung erkennen. Aus dem Maßstab, an dem gemessen wird, bezieht das Messen seine Wirkungskraft. Ist i n letzter Instanz dem Bundesverfassungsgericht die Verantwortung für die Achtung und Wahrung der verfassungsmäßigen Wertordnung übertragen, welche dem Zugriff des einfachen Gesetzgebers — und partiell des Verfassungsgesetzgebers — entzogen ist, so sind diese Instanzen i n weitem Umfang der gerichtlichen Kontrolle unterstellt. Tatsächlich ist so der „auffällige Wandel" i n der praktischen Ausübung des Prüfungs- und Verwerfungsrechts überwiegend aus dem starken Geltungsanspruch der materiellen Verfassungsnormen zu erklären. Der Verfassungsgerichtsbarkeit kommt i m Prozeß des Verfassungsvollzuges der Definitions- und Konkretisierungsprimat zu. Zwar w i r d sie nicht positiv gestaltend, sondern erst kontrollierend tätig. Ihre Entscheidungen binden jedoch die Legislative. Ist die Verfassungsverwirklichung eine „gemeinsame Aufgabenstellung von Parlament und Bundesverfassungsgericht" 32 , so kommt dem Gericht der eindeutige Vorrang zu. M i t der Anerkennung und Einbeziehung der Wert29

Terminologie nach Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 61 ff. Für die Grundrechte: Scheuner, DöV 1971, 509 ff. 31 Zum Folgenden: Bachof, FS H. Huber, S. 32 ff.; zur Praxis Klein, AöR 1983, 410 ff., 561 ff. 32 Benda, Grundrechtswidrige Gesetze, S. 35. 30

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

Ordnung i n das Verfassungsrecht schuf sich das Gericht die Grundlagen seiner weitgespannten Kompetenzen selbst. 3. Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht im Prozeß des Verfassungsvollzuges

Qualifiziert die Wertordnungslehre die Gesetzgebung zum Verfassungsvollzug, so hat diese spezifische Konsequenzen für die Kompetenzkonkurrenz zum Bundesverfassungsgericht. a) Verdichtung

des Verfassungsrechts

Jedem Wert kommt verpflichtende Kraft für die Legislative zu. Seine Aufnahme i n das Grundgesetz begründet die Pflicht des Gesetzgebers, durch positive Förderungsmaßnahmen auf seine Verwirklichung hinzuwirken. Demgegenüber erteilt das Grundgesetz häufig den Staatsorganen Ermächtigungen, bezüglich deren Ausübung Gestaltungsspielräume eröffnet sind. Solche Freiräume können dadurch entstehen, daß die Inanspruchnahme einer Ermächtigung überhaupt i n das Ermessen der Legislativorgane gestellt w i r d oder aber daß ihnen Handlungsspielräume bei der Wahl der Maßnahmen offengelassen werden. Die Werte hingegen haben stets verbindliche Kraft, sie verpflichten stets zu einem wertkonformen Handeln. Entscheidungs- und Handlungsspielräume können ausschließlich bei der A r t und Weise ihrer Förderung i n begrenztem Maße bestehen. Verfassungsrechtlich eingeräumte Gestaltungsfreiräume werden so durch die Wertordnungslehre eingeengt, indem der unterschiedlichen Regelungsdichte von Verfassungsnormen nicht Rechnung getragen wird. Werte wirken absolut, ihre Umsetzung kann nicht i m freien Ermessen der jeweiligen Staatsorgane stehen. Charakteristisches Beispiel für diese Verdichtung der grundgesetzlichen Handlungsaufträge ist A r t , 12 a I, I I GG. Danach „können" Männer zum Wehrdienst verpflichtet werden; Kriegsdienstverweigerer „können" zum zivilen Ersatzdienst herangezogen werden. Dem Gesetzgeber ist bezüglich der Frage, ob er einen Wehr- oder Ersatzdienst einführen w i l l , politisches Ermessen eingeräumt 33 . Dieses Ermessen w i r d vom Bundesverfassungsgericht erheblich reduziert 3 4 . Dabei geht es von der Erwägung aus, daß A r t . 73 Nr. 1, 87 a 11 GG die Funktionsfähigkeit der militärischen Landesverteidigung voraussetzen. Sind i m Sinne des wertorientierten Verfassungsdenkens Freiheit und Menschenwürde die 88 Dem steht nicht entgegen, daß der Wehrdienst für den Betroffenen eine „verfassungsrechtliche Pflicht" ist; so K. Ipsen / J. Ipsen in: BK, Art. 12 a Rn. 27 ff.; dazu wird er erst mit seiner gesetzlichen Einführung. 84 BVerfGE 48, 127, 158 f.; dagegen Gusy, JuS 1979, 255 f.

I I I . Die Kompetenzordnung nach der Wertordnungslehre

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„obersten Rechtsgüter" des Gemeinwesens, so kann der Staat seiner Schutzpflicht zugunsten dieser Werte nach außen nur mit Hilfe seiner Bürger und ihres Einsatzes für den Bestand der Bundesrepublik nachkommen. Für den Schutz ihrer Rechte müssen die Bürger i m Rechtsstaat demnach selbst eintreten, indem sie zur militärischen Verteidigung beitragen. Aus diesem, der europäischen Verfassungstradition entnommenen Grundgedanken leitet das Gericht her, daß ein Bundesgesetz, welches die verfassungsrechtlich anerkannte Wehrpflicht einführt, eine im Grundgesetz „enthaltene Grundentscheidung aktualisiert". Die Einführung der Wehrpflicht ist demnach nicht nur verfassungsrechtlich zulässig — was unbestritten war —, sondern geradezu geboten. Deutlich w i r d hier eine Wertordnung, die aus historisch interpretierten allgemeinen Verfassungsgrundsätzen hergeleitet wird, dazu herangezogen, die unmittelbar anwendbare Norm des Grundgesetzes zu umgehen. Das politische Ermessen des Gesetzgebers w i r d faktisch auf N u l l reduziert, die Regelungsdichte des A r t . 12 a I GG erheblich erhöht. Die Einführung der Wehrpflicht ist nicht mehr weitgehend ungebundene politische Entscheidung des Gesetzgebers, sondern seine verfassungsrechtliche Pflicht. Ähnlich argumentiert das Gericht für A r t . 12 a I I GG 3 5 . Die einheitliche Dichte der Wertordnung relativiert so die unterschiedliche Regelungsdichte des Grundgesetzes. Die Werte erhalten so den Primat gegenüber den konkret anwendbaren Verfassungsnormen. b) Materialisierung

von Kompetenznormen

Ist i m Grundgesetz ein Wert niedergelegt, so begründet er seine Auftrags· und Ausstrahlungskraft unabhängig von den Rechtsfolgen jener Norm, i n welcher er positiviert worden ist. Von besonderer Bedeutung ist diese Tatsache i n denjenigen Fällen, i n denen die rezipierende Regelung eine Kompetenzvorschrift ist. Solche dienen nach ihrer systematischen Stellung i n der Verfassung primär dazu, die Zuständigkeiten von Bund und Ländern gegeneinander abzugrenzen, indem sie ihnen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Justizkompetenzen zuweisen. Von den so verliehenen Zuständigkeiten darf ein Träger staatlicher Gewalt nur in einer Weise Gebrauch machen, welche ihrerseits mit den materiellen Anforderungen der Verfassung an alles Staatshandeln, insbesondere den Grundrechten, vereinbar ist. Ob er die Zuständigkeit wahrnimmt, wann er dies tut und i n welcher Weise er handelt, steht nach formalem Verständnis der Zuständigkeitsnorfnen dem jeweiligen Hoheitsträger frei. Diese Auslegung der Kompetenzvorschriften wandelt sich jedoch mit dem wertorientierten Verfassungsverständnis 36 . Die zuständigen 36 36

BVerfGE 48, 127, 164. s. Pestalozza, DSt 1963, 439.

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

Stellen sind nunmehr zur Wertverwirklichung verpflichtet. Die Kompetenznormen werden demnach als Verfassungsaufträge zu positivem Handeln gedeutet; ihnen kommt nicht nur formelle, sondern auch materielle Wirkung zu. Kollidieren die zur Wertverwirklichung erforderlichen Maßnahmen mit den Freiheitsrechten, so t r i t t der Fall eines Wertkonflikts ein. Diesen Konflikt hat der Gesetzgeber entsprechend der grundgesetzlichen Wertordnung nach den verfassungsrechtlichen Vorentscheidungen zu lösen, indem er beide Werte i n der ihnen zukommenden Weise verwirklicht. Die Kollisionsentscheidung hat allen relevanten Werten Rechnung zu tragen, sie kann daher die Grundrechte nicht stets i n vollem Umfang verwirklichen, sondern muß sie bisweilen — zumindest partiell — hinter konkurrierende Werte aus Kompetenznormen zurücktreten lassen. Soweit eine solche Einschränkung der Freiheitsrechte durch die jeweiligen Schrankenbestimmungen gerechtfertigt werden kann, bereitet die Wertabwägung keine spezifischen Probleme. Erscheint hingegen eine Beschränkung der Freiheitsrechte über die i n i h m angelegten Schranken hinaus geboten, so kann der i n den Zuständigkeitsnormen enthaltene Werte selbständige grundrechtseinschränkende Bedeutung erhalten. I n bestimmten Fällen t r i t t er neben die speziellen Schrankenbestimmungen und schränkt das jeweilige Freiheitsrecht noch darüber hinaus ein 3 7 . Praktisch relevant wurden diese Grundsätze erstmals i m Wehrpflichtrecht 38 . Nach der Änderung des Grundgesetzes vom 26. 3.1954 besaß der Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für „die Verteidigung einschließlich der Wehrpflicht der Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an". Eine spezielle Grundrechtsschranke fehlte insoweit; das Bundesverfassungsgericht konnte die Vereinbarkeit der Wehrpflicht mit den Grundrechten demnach nicht aus einer unmittelbar einschlägigen Norm begründen. Vielmehr griff es hierzu auf die wertorientierte Verfassungsauslegung zurück. Danach ist das Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung, die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als obersten Zweck allen Rechts anerkennt; sein Menschenbild ist das der in der Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeit. Daher kann es nicht verfassungswidrig sein, die Bürger zu Schutz und Verteidigung dieser obersten Rechtsgüter der Gemeinschaft, deren personale Träger sie sind, heranzuziehen. Das gilt insbesondere in Anbetracht der Tatsache, daß die Wehrpflicht i n den meisten Staaten seit langem als eine selbstverständliche Pflicht angesehen wird, die ideellen Grundprinzipien gerade eines demokratischen Gemeinwesens zu verteidigen. Vor diesem Hintergrund ist A r t . 73 Nr. 1 GG 37 38

Ehmke, W D S t R L 20, 90 f. BVerfGE 12, 45, 50.

I I I . Die Kompetenzordnung nach der Wertordnungslehre

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„mehr als eine bloße Kompetenzbestimmung". Die Verfassung stellt durch ihn vielmehr selbst klar, daß ein Bundesgesetz, welches die allgemeine Wehrpflicht einführt, dem Grundgesetz nicht widerspricht 3 9 . Diese Grundsätze wurden vom Bundesverfassungsgericht später konkretisiert. Danach ist eine Kompetenznorm zugleich als Grundrechtsschranke anzusehen, wenn einem Träger öffentlicher Gewalt eine Zuständigkeit zugewiesen wird, deren Erfüllung unabhängig von der A r t und dem Inhalt der jeweiligen Maßnahme wegen entgegenstehender Grundrechte unmöglich ist, so daß die Kompetenz i n keiner Weise wahrgenommen werden könnte. Würde i n diesem Fall das Grundrecht jeder Zuständigkeitswahrnehmung entgegenstehen, so wäre die entsprechende Kompetenznorm sinnlos. I n einem solchen Fall muß ihr daher auch grundrechtseinschränkende Wirkung zukommen 40 . Dadurch w i r d der wertentscheidende Charakter der Zuständigkeitsnormen zugleich konkretisiert und begrenzt. Das wertorientierte Verfassungsverständnis materialisiert demnach Zuständigkeitsvorschriften und deutet sie so i n Verfassungsaufträge um, welche ihrerseits als selbständige Grundrechtsschranken freiheitsbegrenzende Wirkungen begründen können. c) Einbeziehung verwaltungsrechtlicher in das Verfassungsrecht

Grundsätze

Die Bindung der Legislative an das Grundgesetz und die in ihm enthaltene Wertordnung vermittelt bei dem Erlaß konkreter Gesetze kaum Maßstäbe für die Zuordnung von Werten. Welche Anforderungen hier zu stellen sind, läßt sich der Verfassung nur unzureichend entnehmen. Vielmehr ist sie bis auf wenige ausdrückliche Anordnungen, die eine vergleichsweise dichte Bindung begründen — etwa die Wesensgehaltssperre des A r t . 19 I I GG —, weitgehend offen. Entsprechend der Konzeption des Grundgesetzes als Rahmenordnung ist die Legislative weitgehend frei, wenn jenseits des Rahmens verfassungsrechtliche Regelungen nicht bestehen und Bindungen daher nicht begründet werden. Das ändert sich in dem Moment, wenn durch die Einbeziehung der Wertordnung i n das Grundgesetz nicht mehr nur Grenzen, sondern zugleich positive Handlungsaufträge für den Gesetzgeber errichtet werden. Der Normbestand der Verfassung, an den die Legislative gebunden ist, verdichtet sich durch die wertorientierte Auslegung. Zugleich bedarf das Verfassungsrecht für den Fall der Wertkollision konkreter Entscheidungsmaßstäbe, damit die Bindungswirkung der Wertordnung für die Legislative nicht leerläuft. Da das Grundgesetz ausdrücklich keine sol89 40

Implizit bestätigt in BVerfGE 28, 243, 260 f.; 48, 127, 158 ff. BVerfGE 41, 205, 224 f.

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

chen Entscheidungsregeln enthält, müssen diese allgemeinen Rechtsgedanken entnommen werden. Qualifiziert die Wertordnungslehre die Gesetzgebung als Verfassungsvollzug, so liegt es nahe, die Entscheidungsmaßstäbe analog jenen Regeln zu gestalten, die für die Bindung der Verwaltung beim Gesetzesvollzug maßgeblich sind. Die Gesetzmäßigkeitsanforderungen für Verwaltungsmaßnahmen wären insoweit zugleich Rechtmäßigkeitsanforderungen für Gesetze. Exemplarisch für eine solche Übertragung i n der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts ist die Einbeziehung des Übermaßverbotes i n das Verfassungsrecht 41 . Entstammt es ursprünglich dem Polizeirecht, wo es eingreifende Maßnahmen der Polizeibehörden an die Anforderungen von Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit band, so bezog es sich dort ausschließlich auf die Gesetzmäßigkeit von Verwaltungshandeln. Diese Anforderungen wurden vom Bundesverfassungsgericht als Maßstab auch für die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen herangezogen. Damit w i r d die Übermaßkontrolle verdoppelt. Zunächst w i r d unter diesem Aspekt das Gesetz auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz geprüft, sodann die auf seiner Grundlage ergangenen Einzelmaßnahmen auf ihre Gesetzmäßigkeit nach den gleichen Maßstäben kontrolliert. Die Verpflichtung der Legislative durch das Übermaßverbot w i r d vom Gericht nicht eigens begründet. Während zuvor das Verbot unmenschlicher Behandlung 4 2 oder das „ W i l l k ü r v e r b o t " 4 8 als Mechanismen der Verfassungsbindung der Legislative angesehen und herangezogen worden waren, wobei das Übermaßverbot auf Maßnahmen von Exekutive und Justiz beschränkt blieb 4 4 , so wurde es später auch auf die Legislative angewandt 45 . Deutlich w i r d dabei der Konnex zwischen wertorientiertem Verfassungsverständnis und Einziehung des Übermaßverbots 48 . Schon frühzeitig war das „Verhältnis von Zweck und Mittel", also das Verhältnismäßigkeitsgebot, als Maßstab der Wertabwägung und -Verwirklichung i m Verfassungsrecht bezeichnet worden 4 7 , welcher von den Gerichten anzuwenden sei. Eine Bindung des Gesetzgebers war dabei nicht thematisiert worden. Sie wurde erstmals i m Rahmen der Rechtsprechung zur Berufsfreiheit erörtert 4 8 . Ausgangspunkt war die Zuordnung des Freiheits41

Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht; Wittig,

bitz, AöR 1973, 568 ff. 42

DÖV 1968, 817 ff.; Gra-

BVerfGE 1, 332, 348; 6, 389, 439. BVerfGE 2, 266, 280 f.; 10, 89, 102 ff. 44 BVerfGE 2, 1, 79. 45 Erstmals explizit BVerfGE 13, 97, 115. 4e Dazu grundlegend Hesse, Grundzüge, S. 127 f.; exemplarisch auch Schneider, Güterabwägung, S. 31 ff., 202 ff. 47 BVerfGE 7, 198, 212. 48 BVerfGE 7, 377, 404 ff.; zum Zusammenhang von Berufsfreiheit und Übermaßverbot Wendt, AöR 1979, 427 ff. 43

I I I . Die Kompetenzordnung nach der Wertordnungslehre

75

schutzes des Einzelnen und des Gemeinschaftsschutzes vor schädlichen Auswirkungen individueller Freiheitsbetätigung. Nach der Darstellung dieses Wertkonflikts entwickelt das Bundesverfassungsgericht als Abwägungskriterium die Stufenformel, deren Anforderungen es später als „Verhältnismäßigkeit" zusammengefaßt hat. Das Übermaßverbot gegenüber dem Gesetzgeber folgt hier unmittelbar aus dem wertorientierten Verfassungsverständnis. Methodisches Vehikel ist seine Qualifizierung als Ausprägung des grundgesetzlich verankerten Rechtsstaatsprinzips 49 . Diese Herleitung ist historisch haltbar, soweit sie sich auf die Bindung der Exekutive bezieht; die Einbeziehung der Legislative ist demgegenüber nicht auf diese Weise begründbar. Hier zeigt sich deutlich die Tendenz der verfassungsrechtlichen Wertordnung, ihre Auftrags- und Ausstrahlungswirkungen gegenüber allen Zweigen der Staatsgewalt ohne Unterschied zu begründen. Sie t r i f f t die Legislative ebenso wie Verwaltung und Rechtsprechung. Dem entspricht die Gleichsetzung der Verfassungsbindung der Gesetzgebung mit der Bindung der anderen Staatsgewalten an „Recht und Gesetz", ein Zustand, der nachträglich durch die Betonung der „politischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers" korrigiert werden soll 5 0 . Ob bereits zwischen den Mechanismen der Rechtsbindung für die verschiedenen Staatsorgane Unterschiede bestehen, w i r d demgegenüber nicht erörtert 5 1 . Die Konsequenzen der dargestellten Entwicklung für das Kompetenzverhältnis zwischen Legislative und Bundesverfassungsgericht werden deutlich aus dem Zusammenhang zwischen dem angewandten Maßstab und der Bedeutung des Messens an ihm. Die Wertordnungslehre führt zu einer Materialisierung des gesamten Verfassungsrechts: formale Kompetenzbestimmungen erhalten materielle Wirkung; die unterschiedliche Regelungsdichte der Verfassungsnormen w i r d eingeebnet; die Wertzuordnung w i r d nach konkreten, gerichtlich nachprüfbaren Maßstäben durchgeführt. M i t der Zunahme des materiellen Verfassungsrechts steigt demnach die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts. Je weiter die Verfassung reicht, desto weiter reichen seine Kompetenzen. Verschafft die Wertordnungslehre dem Grundgesetz Auftrags- und Ausstrahlungsfunktion i n allen Lebensbereichen, so w i r k t das Bundesverfassungsgericht kontrollierend an deren Gestaltung mit. Parallel 49 BVerfGE 43, 127, 133; historisch H. Schneider in BVerfG und GG II, S. 393 ff. 50 BVerfGE 7, 377, 400. 51 Kritisch gegen die Übertragung des Übermaß Verbotes auf die Legislative: Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 137 f.; Lehrbuch des Verwaltungsrecht, S. 70 f.; Schefold, JuS 1972, 5; deutlich i. S. der hier dargestellten Entwicklung Geiger, FS T. Maunz, S. 89 ff.

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

dazu nimmt die legislative Gestaltungsfreiheit ab. Die Verfassung als Rahmenordnung beschränkt die gerichtlichen Kompetenzen gegenüber dem Gesetzgeber auf den Rahmen; die Verfassung als wertorientierte Konstitutionsnorm aller Bereiche des Gemeinwesens bezieht die Verfassungsgerichtsbarkeit i n deren Gestaltung stets ein. 4. Die Problematik der wertorientierten Verfassungsauslegung

Das wertorientierte Grundgesetz ist dem Bundesverfassungsgericht zur letztverbindlichen Erkenntnis aufgegeben. Das Gericht konkretisiert damit i n höchster Instanz die aus der Verfassung herzuleitenden Handlungs- und Kontrollmaßstäbe. Dieser Erkenntnisprozeß ist jedoch kein rein nachvollziehender. Besteht die Dichotomie von Rechtsetzung und Rechtsanwendung i n der Realität nicht, so ist das Bundesverfassungsgericht nicht ausschließlich „la bouche qui prononce les paroles de la loi". Prozeß und Ergebnis der Werterkenntnis wirken zugleich auf die Wertsetzung zurück. Das gilt u m so mehr, j e weniger deutlich eine bestimmte Wertentscheidung und ihre Wirkungen i n der Verfassung niedergelegt sind. a) Demokratische Gestaltung als Werterkenntnis? Besitzt insoweit das Bundesverfassungsgericht die Kompetenz zur Letzterkenntnis, so ist die Legislative an seine Entscheidungen gebunden. Diese sind der gesetzgeberischen Disposition entzogen, indem sie seinen Entscheidungen vorausliegen und von i h m zu beachten und zu verwirklichen sind. Demnach wirkt die verfassungsgerichtliche Werterkenntnis i m Ergebnis ebenso wie die Wertsetzung durch den Verfassunggeber: den Gerichtsentscheidungen kommt gegenüber Gesetzen der Vorrang zu. Hat das Bundesverfassungsgericht einen i m Grundgesetz niedergelegten Wert erkannt und seine Existenz festgestellt, so hat die Legislative diesen Wert unabhängig vom jeweiligen Kontext zu verwirklichen. A n der umfassenden und allseitigen Geltung der Werte partizipieren jene Aussagen des Bundesverfassungsgerichts, mit denen es seine Werterkenntnis formuliert. Danach nimmt mit jeder seiner Entscheidungen, die auf die Wertordnung zurückgreift, der Bestand an rechtlichen Vorgaben für den Gesetzgeber zu. Die jeweiligen Gründe führen, unabhängig von ihrer Stellung und ihrem Zusammenhang, zu einer Zunahme und Verdichtung des Verfassungsrechts. Je weniger deutlich ein Wert i m Grundgesetz niedergelegt ist, desto größere Bedeutung erhält der rechtsschöpferische Anteil der Entscheidungsgründe 5 2 . Das gilt nicht nur für die Erkenntnis von der Existenz eines 52

Zum Entscheidungscharakter Staatsrecht, S. 46 ff.

der Werterkenntnis

Maunz / Zippelius,

I I I . Die Kompetenzordnung nach der Wertordnungslehre

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Wertes, sondern auch darüber hinaus für die Bestimmung der Rangordnung dieser Werte untereinander und für Mechanismen ihrer Umsetzung und Verwirklichung. Da die Werte oft partiell andere Rechtsfolgen begründen als die textorientiert ausgelegten Verfassungsnormen, denen sie entnommen sind, kommt hier den rechtsschöpferischen Elementen der Verfassungsrechtsprechung besondere Bedeutung zu 5 3 . Diese weitreichende Entscheidungsfreiheit des Bundesverfassungsgerichts m i t den durch sie begründeten Bindungen der Legislative bewirkt eine erhebliche Abnahme der Kompetenzen des Gesetzgebers. Besteht Entscheidungsfreiheit i n der rechtlich offengehaltenen Möglichkeit einer Alternativenwahl, so verengt sich diese angesichts der weitreichenden Zunahme und Verdichtung verfassungsrechtlicher Handlungsanweisungen für die gesetzgebenden Organe erheblich 54 . Umgekehrt erweitert sich der Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum des Bundesverfassungsgerichts. Je mehr es rechtsschöpfend tätig werden und so auf den Prozeß der Sozialgestaltung einwirken kann, desto stärkeren Einfluß erhält es auf die anderen Staatsorgane durch die Schaffung rechtlicher Vorgaben. Damit kehrt sich partiell zugleich das Verhältnis von Gestaltung und Kontrolle zwischen Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit i n sein Gegenteil um. Kontrolle w i r k t nicht mehr nur auf ihren Gegenstand, die kontrollierten Handlungen und Zustände, zurück, sondern zugleich i n die Zukunft voraus, indem die konkreten Maßstäbe verabsolutiert und als Elemente objektiv-rechtlicher Sozialgestaltung mit Verbindlichkeit verselbständigt werden. Dadurch entsteht die weitere Gefahr, daß das Gericht selbst seine Kontrollfunktion weniger i m Hinblick auf die kontrollierten Zustände als vielmehr unter Einbeziehung der Gestaltungsbedürfnisse des Gemeinwesens vornimmt. Die Gründe erhielten dann nur noch symbolische Bedeutung, da sie weniger die konkrete Entscheidung legitimieren als vielmehr normativ Gestaltungsdefizite korrigieren 5 5 . Die Materialisierung und Verdichtung des Verfassungsrechts bindet den Gesetzgeber an die inhaltlichen Vorgaben der geschriebenen Verfassung und darüber hinaus an die von ihr rezipierte Wertordnung. 53 Die Gestaltungsfreiheit des Gerichts bei der Werterkenntnis wird etwa deutlich, wenn im Abtreibungsurteil ein Wert als „Höchstwert", vitale Basis der Menschenwürde und Voraussetzung aller anderen Grundrechte dargestellt wird, um daraus Schutzpflichten und Handlungsgebote abzuleiten (BVerfGE 39, 1, 42). Derselbe fundamentale Wert wird von den Verfassungsgerichten anderer Staaten nicht nur überhaupt abweichend, sondern geradezu entgegengesetzt beurteilt (Nachweise im abweichenden Votum), ebd., S. 73 f. 64

65

Rupp υ. Brünneck

/ Simon i n BVerfGE 39, 69 ff.; Kriele,

JZ 1975, 222 ff.

Zu solchen Tendenzen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Benda, NJW 1980, 2099 f.; dadurch würde das kontrollierende Organ zugleich die Funktion der kontrollierten Instanz übernehmen; dagegen Rupp v. Brünneck / Simon i n BVerfGE 39, 70.

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

W i r d Gesetzgebung vielfach auf Verfassungsvollzug reduziert, indem vorgegebene Wertentscheidungen aktualisiert und technisch durchgeführt werden müssen, so nimmt die Zahl der potentiellen Gestaltungsalternativen für die Legislative ab. Gestaltungskompetenzen wandern vom Parlament hinüber zur Verfassungsgerichtsbarkeit. Dadurch verschiebt sich das Verhältnis zwischen den Staatsorganen. Der Anteil des Parlaments an der Sozialgestaltung verringert sich, die Teilhabe der Justiz daran nimmt zu. Diesem Phänomen kommt insofern besondere Bedeutung zu, als die Parlamente als einzige Staatsorgane vom Volk unmittelbar demokratisch gewählt werden; die übrigen Staatsorgane verfügen insoweit höchstens über ein mittelbare demokratische Personalrekrutierung. Wahlen sind als solche noch keine gestaltenden Maßnahmen mit allgemein-verbindlichem Charakter. Ihre Bedeutung für die Gestaltung des Gemeinwesens w i r d erst dadurch real, daß das gewählte Parlament seinerseits Entscheidungen trifft. Konkurriert das Parlament hier mit anderen Staatsorganen, so hängt der Einfluß der Wahlen auf die Staatstätigkeit davon ab, welche Bedeutung dem Parlament gegenüber den anderen Staatsorganen zukommt. Besitzt die Volksvertretung eine starke Stellung, so kann die Wahlentscheidung den Prozeß der Staatswillensbildung i n grundlegender Weise beeinflussen; nimmt die Vertretungskörperschaft dagegen eine schwache Stellung ein, so bleiben die Wahlen für die staatliche Gestaltungstätigkeit weitgehend bedeutungslos. Der Primat der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber der Legislative nach dem wertorientierten Verfassungsverständnis schwächt den Einfluß der Wahlen, die gem. A r t . 20 I I 2 GG zentraler Ausdruck der demokratischen Staatsform sind, für die staatliche Sozialgestaltung erheblich; ein wesentlicher Anteil der Willensund Entscheidungsbildung w i r d dem Einfluß der Wahlentscheidungen entzogen. M i t dieser Relativierung der Wahlen geht die verstärkte inhaltliche Bindung des demokratischen Prozesses einher. Dadurch entsteht eine weitere Gefahr für die demokratische Staatsform. Die Werterkenntnis ist kein Willens- oder Gestaltungsakt, sondern ein Erkenntnisproblem. Grundsätzlich ist eine solche Erkenntnis jedermann möglich; sie stellt spezifische Anforderungen etwa an die Erkenntnisfähigkeit des Subjekts, nicht aber an seine verfahrensmäßige Berufung. Nicht nur, wer demokratisch gewählt oder kontrolliert ist, ist zur verbindlichen Werterkenntnis berufen, sondern jedes Verfassungsorgan. Die Rechtsfolgen, welche ein Wert für seine Verwirklichung begründet, sind gleichfalls durch Erkenntnis zu gewinnen, qualitativ ist Wertverwirklichung nichts anderes als Nachvollzug des schon Entschiedenen. Auch die Wertverwirklichung erfordert demnach entsprechend der Logik des Wertdenkens kein verfahrensmäßig besonders kreiertes Staatsorgan. Eine spezi-

I I I . Die Kompetenzordnung nach der Wertordnungslehre

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fisch demokratische Variante der Werterkenntnis existiert nicht, die Erkenntnis durch das Parlament ist von anderen Organen überprüfbar und — notfalls — ersetzbar. Gleiches gilt für die Wertverwirklichung: auch sie unterliegt der gerichtlichen Nachprüfung und ist gleichfalls ersetzbar 56 . Existiert eine spezifisch demokratische Variante der Werterkenntnis und -Verwirklichung nicht, so ist das Wertedenken seinerseits nicht notwendig demokratisch. Werte können auch verwirklicht werden ohne eine demokratische Staatsform und ohne Parlament. Ist i n letzter Konsequenz jeder Rechtsstreit durch Wertabwägung auf Verfassungsebene bereits vorentschieden, so braucht diese Entscheidung auf den Einzelfall nur noch angewandt zu werden; gefällt zu werden braucht sie nicht mehr. Erkenntnis und Entscheidung fallen so tendenziell zusammen. Je mehr ein Verfahren als Erkenntnisverfahren ausgestaltet ist, desto höhere Gewähr bietet es für die Erfüllung der verfassungsrechtlich vorgegebenen Aufgabe. Je dichter die Wertentscheidungen der Verfassung sind, desto geringere Erkenntnisalternativen lassen sie den Staatsorganen. Damit würde der politische Prozeß reduziert auf die Frage nach der richtigen Erkenntnis. Ist der Erkenntnisgegenstand, der Wert, i m Grundgesetz niedergelegt, so ist seine Erkenntnis unabhängig von der politischen Einstellung des erkennenden Subjekts. Diese Tatsache ergibt sich aus der Austauschbarkeit der Verfassungsorgane bei der Werterkenntnis; nur auf der Grundlage politischer Neutralität der Werterkenntnis kann das Bundesverfassungsgericht Erkenntnisse anderer Staatsorgane ersetzen. Sind politische Erkenntniselemente demnach weitgehend ausgeschlossen, so wäre der politische Prozeß i n Bezug auf die Verwirklichung verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen weitgehend unabhängig vom Wahlvorgang und seinem politischen Ausgang; er würde überhaupt unabhängig von den Wahlentscheidungen. Letztlich würde, wenn nur noch erkannt und nachvollzogen und nicht mehr entschieden zu werden braucht, eine wertorientierte Verfassung das Parlament als Entscheidungsorgan überflüssig machen 57 . b) Erkenntnisorientierter Wertvollzug als Gefahr für die Demokratie Dieser Widerspruch zwischen demokratischer Sozialgestaltung und erkenntnisorientiertem Wertvollzug ist in jüngerer Zeit aufzulösen versucht worden 5 8 . Danach steht die parlamentarische Demokratie i n einem 56 Deutlich die Abtreibungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der das Gericht die ihm notwendig erscheinende Ubergangsregelung selbst erließ (BVerfGE 39, 1, 2 f.), obwohl Art. 103 I I GG für Strafnormen zwingend einen Gesetzesvorbehalt begründet. 57 Zurückhaltend daher auch Magiera, Politik und Staatsleitung, S. 24 ff. 58 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 181 ff.; i. E. ähnlich Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 284.

2. Teil: Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht

aus der „gemeineuropäischen Naturrechtstradition" herzuleitenden „inneren Zusammenhang" mit den Ideen der Menschenrechte, der Vernunft, der Gerechtigkeit und des Fortschritts. Sinn des Parlamentarismus ist es danach, den „Prozeß der geschichtlichen Auseinandersetzung" i n Verfahrensregeln einzubinden und dadurch zu befrieden und vor freiheitszerstörenden Radikalisierungen zu bewahren. So konstituiert das parlamentarische Verfahren eine „dialektische Diskussion". Der daraus dialektisch gewonnene Fortschritt entsteht aus der Entgegensetzung von Ideologie und Vernunft. Ideologien sind Überzeugungen, die nicht auf Gründen, sondern auf politischen, sozialen und ökonomischen Interessen beruhen. Sind Interessenträger zumeist Gruppen, so sind auch Ideologien Gruppenüberzeugungen. Dabei ist die Ideologie nicht die unmittelbare Interessenartikulation, sondern deren Verschleierung; sie dient zur Legitimierung des politischen Verhaltens der Trägergruppe ebenso wie zu deren innerer Integration. Gegenüber Dritten t r i t t sie regelmäßig mit dem „Mangel an Bereitschaft, mit sich reden zu lassen", auf. Sind somit Ideologien i m sozialen Bereich ihrer Natur nach kaum ausgleichs- oder kompromißfähig, so setzt gerade hier die Leistung der dialektischen Diskussion ein. Ihr liegt die Prämisse von der „Einheit der menschlichen Vernunft" zugrunde; an dieser Vernunft als etwas Objektivem, Allgemeinem, als "common sense", hat jeder Mensch — abgestuft nach dem Grad seiner Einsichtsfähigkeit und der Trübung seiner Perspektiven durch Leidenschaft, Tradition oder Interessen — teil. Begründet w i r d diese Teilhabe durch „tiefreichende Erfahrungen", die ihrerseits durch Erlebnisse, Argumente und Diskussion geprägt sind. Solche Teilhabe an der Vernunft prägt die Idee der parlamentarischen Repräsentation durch das Medium des „Amtsethos". Inhalt dieses Ethos ist es, der Verwurzelung der Repräsentanten i n Tradition, Leidenschaft, Vorurteil und Eigeninteressen soviel Vernunft wie möglich abzuringen. Es verpflichtet den Amtsinhaber zur Unparteilichkeit und Sachlichkeit; Quellen dieser verpflichtenden Kraft sind ihre Ehre, ihr Anstand und ihre Sittlichkeit. Ist das parlamentarische Verfahren die prozedurale Regel der vernunftbildenden Diskussion, so begründet es i m geschichtlichen Prozeß dialektischer Rechtfertigung die relativ größte Chance der Verwirklichung der Vernunft, konkret der Gerechtigkeit i m positiven Recht. Bedingungen für diesen Fortschritt sind ein institutionalisierter Verfassungsstaat, der erst die Bereitschaft schafft, auf Argumente zu hören, und die Bewahrung des schon Erreichten. Dieses Erreichte ist die gegenwärtige Stufe der menschlichen Teilhabe an der objektiven Vernunft und trägt als solches die widerlegliche Vermutung seiner Vernünftigkeit i n sich. Daraus leitet sich die „vermutete Vernünftigkeit unseres Rechts" her 5 9 , die ihrerseits die Chance des Fortschritts eröff59

Dazu Kriele, DSt 1967, 45 ff.

I I I . Die Kompetenzordnung nach der Wertordnungslehre

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net. Ein solcher Fortschritt w i r d durch Überzeugungsfähigkeit geschaffen: I n der freien geistigen Auseinandersetzung hat das bessere Argument eine etwas bessere Chance, und i m großen und ganzen behält die Wahrheit doch einen Überschuß an Überzeugungsfähigkeit. Ganz i n diesem Sinne ist die Chance der Mehrheit, die Wahrheit zu gewinnen, auf das große und ganze gesehen etwas größer als die Chance, die die Minderheit besitzt. Aus dieser Einsicht i n die Unvollkommenheit menschlicher Erkenntnis und der Chance eines potentiellen Vorsprungs der Mehrheit bei ihrer Gewinnung resultiert das demokratische Mehrheitsprinzip als Antwort auf zeitbedingte Entscheidungsnotwendigkeiten angesichts der Unendlichkeit der Wahrheitsfindung. Die diesem dialektischen Fortschritt zugrunde liegende Prämisse von der Einheit der menschlichen Vernunft, welche danach „von allen großen politischen Denkern" von Aristoteles bis Hegel geteilt wird, w i r d ihrerseits als nicht beweisbar qualifiziert. Desungeachtet soll sie „Bedingung der politischen Diskussion überhaupt" sein. Das durch sie begründete Ethos w i r d ebenso wie die Möglichkeit seiner Erhaltung zerstört, „wenn die ideologiekritische Skepsis i n einem Land erst einmal total und allgemein geworden ist". Die Theorie, es gebe keinen "common sense", ist eine „spielerische Behauptung, eigens erfunden für den Zweck akademischer Theoriediskussionen. Die Theorie gilt für das Seminar, nicht für das Leben". Ganz i m Sinne Rousseaus ist danach Rechtsetzung erkenntnisgebundene Findung; sie bezeichnet die Umsetzung des Anteils eines Volkes an der objektiven Vernunft in verbindliche Normen, die ihrerseits durch verbesserte Erkenntnis überholt wird. Dabei sind temporäre Rückschläge i m Sinne dialektischer Fortschrittsgewinnung nicht ausgeschlossen. Diese Anschauung beruht auf zwei Grundpostulaten: der Existenz einer „objektiven Vernunft" als common sense und deren Vorwirkung i m Sinne einer gestuften Teilhabe der jeweiligen Zeit an ihr, verbunden mit der Notwendigkeit eines dialektischen Fortschritts auf sie zu. Die These von der Existenz der „objektiven Vernunft" behauptet das Vorhandensein und die Auffindbarkeit einer für alle Menschen gleichen Vernunft. Die Vernunft der Individuen resultiert notwendig aus ihrer Teilhabe an dieser objektiven Vernunft. Das schließt die Möglichkeit aus, daß jedermann seine individuelle Vernunft, aus eigenen Quellen gebildet, nur ihm als Einzelnen zukommt. Eine mögliche Pluralität je individueller Vernunft w i r d zugunsten von deren Einheit und Allgemeinheit bestritten. Ein Beweis für die Existenz einer solchen „objektiven Vernunft" w i r d jedoch nicht erbracht. Die Falsifizierung jener Aussage 60 ist allerdings theoretisch unmöglich. Sind wissenschaftstheo60

Zu diesem Verfahren Popper, Logik der Forschung, S. 46 ff.

6 Gusy

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

retisch „negative Beweise" a priori ausgeschlossen, so kann, wer das Fehlen eines Phänomens darlegt, dieses nicht beweisen; er kann dazu auch nicht verpflichtet sein. Vielmehr ist dazu gehalten, wer dessen Existenz behauptet. Hierfür ist allerdings — außer der These von der Notwendigkeit und Existenz des common sense — nichts erkennbar. Daß ein solcher common sense als Emanation der objektiven Vernunft anzusehen sei, erscheint gleichfalls nicht zwingend. Vielmehr kann sein Inhalt ebenso wie der Mechanismus seiner Bildung durchaus aus anderen Quellen gespeist sein und dabei pragmatische Grundlagen aufweisen 61 . Praktische Bedeutung kommt der objektiven Vernunft gegenwärtig erst durch das zweite Postulat, die behauptete Geschichtsteleologie als eine dialektisch fortschreitende Verwirklichung dieser Vernunft zu. Voraussetzung dieser These ist, daß die objektive Vernunft nicht nur existiert, sondern für den handelnden Menschen verpflichtende Kraft aufweist, also bereits i n der Gegenwart w i r k t . Liegt das Zentralproblem dieser Ansicht schon darin, daß jenes Ziel derzeit nicht voll erkennbar und definierbar ist, so daß die Vernünftigkeit gegenwärtiger Phänomene noch nicht bewiesen, sondern nur „vermutet" werden kann, so bleibt letztlich auch der Weg zur Vernunft offen. Auch jeder „Fortschritt" erweist sich als Annäherung an die Vernunft nur kraft einer Vermutung, nie hingegen real bereits ex ante, sondern stets erst ex post. Die Unklarheit über das Ziel impliziert so die Problematik der Definition des Weges zu i h m 6 2 . Für die Gegenwart stellt sich bei der V e r w i r k lichung des postulierten teleologischen Fortschritts mit jedem Handeln die Frage nach seiner „Richtigkeit" oder „Fortschrittlichkeit". Damit tut sich jedoch eine fatale Konsequenz auf. Politisches Handeln des Staates ist stets auf verbindliche Entscheidung zur Gestaltung des Gemeinwesens ausgerichtet. Herrschaftsakten kommt somit Verbindlichkeit gegenüber jedermann i m Staat zu. Das gilt unabhängig davon, ob er einer Maßnahme zugestimmt hat oder nicht. Hat das Bestehende ebenso wie die Mehrheit die Vermutung der Vernünftigkeit für sich, so erscheint die Ablehnung staatlicher Maßnahmen ebenso wie das Streben nach ihrer Veränderung als Angriff auf das Bestehende, dessen „Bewahrung" als Bedingung des rechtlichen Fortschritts angesehen wird. W i r d das Bestehende als vernünftig vermutet, so sind Änderungsbestrebungen der Vermutung nach tendenziell unvernünftig. Sie erscheinen als 61 Etwa: „Die Menschen müssen miteinander leben können." Inhaltliche Anforderungen für politisches Handeln lassen sich daraus nur sehr begrenzt ableiten. ®2 Zur Problematik des teleologischen Geschichtsverständnisses: Topitsch f Ursprung und Ende der Metaphysik, S. 335 ff.; Stegmüller f Ratio 1969, 4 ff.; Popper, Die offene Gesellschaft, S. 213 ff.; Bärsch, Die Gleichheit der Ungleichen, S. 120 ff. m. w. N.

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Hindernis auf dem vorgezeichneten Weg zur objektiven Vernunft und tendenziell als Rückschritt hinter das bereits Erreichte. Damit erscheinen i n der Demokratie alternative Minderheiten nicht nur als Dissentierende, als Opposition, sondern als gefährlich für die Allgemeinheit oder gar wahnsinnig 6 3 . Erst eine Änderung der Mehrheitsverhältnisse wäre ein dialektischer Sprung, wobei nunmehr die Maßnahmen der neuen Mehrheit ihrerseits die Vermutung ihrer Vernünftigkeit für sich hätten. Gerade eine solche Änderung zugunsten einer Ansicht, die bisher i n der Minderheit stand, muß jedoch zuvor i m Gemeinwesen als Bedrohung des erreichten Fortschritts erscheinen, welche mit allen M i t teln zu verhindern ist. Das kann letztlich die Ausschaltung Dissentierender aus dem politischen Prozeß, selbst ihre physische Eliminierung, rechtfertigen. Eine solche Haltung ist mit den Grundsätzen des demokratischen Pluralismus, der die Opposition als Konstitutionselement anerkennt, unvereinbar 6 4 . Die Mehrheitsentscheidung ist hier Herrschaft, deren Änderbarkeit vorausgesetzt wird; eine inhaltliche Bewertung nach „richtig" oder „falsch" ist ex ante ausgeschlossen. Die objektive Vernunft als Basis vermuteter Richtigkeit von Herrschaft schließt den demokratischen Wechsel letztlich ebenso aus wie den Schutz der Dissentierenden durch Grundrechte, sie ist mit der demokratischen Herrschaftsform schlechthin unvereinbar. Auch jenes Konzept vermag somit den Widerspruch zwischen demokratischer Herrschaft und erkenntnisorientierter Wertverwirklichung nicht aufzulösen 65 . c) Erkenntnisorientierter Wertvollzug als Gefahr für die Verfassungsgerichtsbarkeit Nicht nur der Demokratie, sondern auch der Verfassungsgerichtsbarkeit drohen bei der Anwendung des wertorientierten Verfassungsverständnisses Gefahren. Sie resultieren daraus, daß Wertungen auf Wertgefühl basieren, welches seinerseits ausschließlich subjektive Erkenntnisquellen aufweist. Der Wert konstituiert sich erst durch seine Anerkennung als solcher 66 . Notwendige Bedingung für den Wirklichkeitsgehalt einer subjektiven Erfahrung ist deren Verknüpfung mit anderen Erfahrungen nach logisch nachprüfbaren Regeln. Minimalbedingung für die Aufnahme einer These i n einen solchen Begründungszusammenhang ist die Reproduzierbarkeit der durch die These behaupteten Tatsache. Werte sind jedoch unter objektiven Bedingungen 63

64

Eckertz, DSt 1968, 183, 200 ff.

Zur Opposition als Konstitutionselement der Demokratie Schneider, Opposition, S. 299 ff. m. w. N. 65 s. auch Denninger, Staatsrecht 2, S. 21 f.; i. E. ebenso Scheuner, Mehrheitsprinzip, S. 57 f.; Heim, Mehrheitsprinzip, S. 79 ff. •· Denninger, 6*

JZ 1977, 545 f.

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

nicht reproduzierbar, da sie mit anderen Erfahrungen nie nach Regeln verknüpft sind: selbst Erfahrungen eines einzelnen Menschen oder sogar einmalige Erfahrungen eines einzigen Menschen können Werterfahrungen sein. So kann es prinzipiell keine intersubjektiv vermittelbaren K r i terien für die Objektivität eines Werterlebnisses geben. Ist somit jede Werterkenntnis subjektiv, so bedürfen unterschiedliche und sich widersprechende Werterfahrungen einer Erklärung. Ethische Kriterien für die Richtigkeit von Wertungen sind dazu jedoch nicht auffindbar; vielmehr werden philosophisch nur Erfahrungen falsifiziert, nie verifiziert. Sie i n Rechtsstreitigkeiten Wertungen durch den Entscheidenden stets als Gründe für die Parteien und Dritte anzugeben, so können Wertungen als Begründung nur überzeugen, wenn dem von einer negativen Entscheidung betroffenen die Falschheit seiner Wertung nachgewiesen werden kann. Da Werte jedoch ausschließlich subjektiv begründet sind, existiert für den, der von der Wertung des Gerichts abweicht, kein nachvollziehbares Kriterium, nach dem er die Falschheit gerade seiner Wertung einsehen könnte. Selbst wenn demnach von mehreren Werterfahrungen nur eine richtig sein könnte, so wäre doch jeder davon überzeugt, gerade seine Wertung sei die zutreffende. Die Berufung auf eine andere Wertung i n einer Entscheidungsbegründung würde aus der Perspektive des Betroffenen als undiskutierbare Behauptung erscheinen, die Entscheidung enthielte für ihn keine nachvollziehbaren Kriterien ihrer Richtigkeit. Nicht die Wertungen begründen für ihn die Entscheidung, vielmehr wäre die Heranziehung bestimmter Wertungen ihrerseits begründungsbedürftig 67. Sind Werterfahrungen stets subjektiv begründet, so ist doch ihre Hervorbringung i m Subjekt keineswegs von äußeren Einflüssen völlig unabhängig. Solche Einflüsse konstituieren die Umwelt, i n der die Erlebnisse entstehen, welche ihrerseits Erfahrungen begründen. Die Verhältnisse i n dieser je individuellen Umwelt bleiben jedoch nicht konstant, sondern sind vielfältigen Wandlungen unterworfen, die nur zu einem geringen Teil vom handelnden Subjekt selbst hervorgebracht werden, vielmehr häufig von außen an es herangetragen sind. Ist die Umwelt so Erlebnisgrundlage für Werter fahrungen, so bedingen ihre Wandlungen zugleich Änderungen i n der Erlebnisstruktur des Individuums. Neuere Erkenntnisse überlagern ältere und relativieren die daraus gezogenen Konsequenzen. So bleiben auch die Wertungen, die aus den jeweiligen Erfahrungen abgeleitet werden, nicht stets gleich; 67 Bedingungen für die interpersonale Diskutierbarkeit von Werten untersuchen Zippelius, FS T. Maunz, S. 507 ff.; Schreiner, Die Intersubjektivität von Wertungen, S. 124 ff. Dabei wird jedoch die juristische Verwertbarkeit von Wertungen als Entscheidungsbegründung nicht berücksichtigt; Wertungen sind im Recht nur insoweit zulässig, als sie den Begründungszweck erfüllen können. Gerade dafür reichen Schreiners Kriterien jedoch nicht aus.

I I I . Die Kompetenzordnung nach der Wertordnungslehre

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vielmehr wandeln sich Erlebnisse, Motive und Interessen des Einzelnen in ihr und somit zugleich die individuelle Wertvorstellung. Werte sind so ständiger Auf-, Ab- und Umwertung unterworfen, was ihren Inhalt, ihren Rang und ihre Gebote betrifft 6 8 . Die Umweltabhängigkeit von Wertungen entzieht diese der unverbrüchlichen Setzung durch strenge normative, a priori bestimmbare Grundlagen. Das Auseinandertreten von verfassungsrechtlich positivierter Rechtsordnung und gerichtlich konkretisierter Wertordnung ist die notwendige Folge dieser Tatsache i n der Zeit. Löst so die relative Autonomie des Wertsystems dieses aus der strengen Abhängigkeit vom Rechtssystem, so gerät es i m Prozeß der Veränderungen von Umweltbedingungen notwendig i n den Sog außerrechtlicher Vorgaben. Hierzu zählen politische Lagen, Anforderungen und Programme, welche die Umwelt ebenso wie ihre Bewertungen durch den handelnden Menschen prägen. Der Einfluß der Politik ist als solcher kein Spezifikum der wertorientierten Entscheidung, auch Recht und Politik stehen ineinander. Die Zuordnung von Recht und Politik ist jedoch eine andere als die von Werten und Politik. Das Recht w i r d als stabilisierte politische Entscheidung von tagespolitischen Einflüssen seinem Wortlaut nach nicht beeinflußt; jede Entscheidung muß nicht nur auf die jeweiligen politischen Bedürfnisse, sondern auf das — politisch ausgelegte — Gesetz rückführbar sein. Tagespolitische Notwendigkeiten schaffen somit die Entscheidungsgrundlagen nicht selbst, sondern vermögen diese nur insoweit zu beeinflussen, als dies nach ihrem Wortlaut, ihrer Entstehung und ihrem objektiven Sinn zulässig ist. Der Prozeß der Vermittlung von aktueller politischer Lage und rechtlicher Entscheidungsgrundlage ist hier ein wechselseitiger, ein dialektischer. Das gilt nicht für das Verhältnis zwischen Politik und Wertordnung. Die Werte sind als solche nicht vorgegeben, sondern als Emanation von Umwelteinflüssen ihrerseits erst konkretisierungsbedürftig. Entsteht die Wertordnung und Wertzuordnung erst i m Stadium der Entscheidung gegebenenfalls je neu, so steht sie damit i n vollständiger, einseitiger Dependenz zu den tagespolitischen Herausforderungen und Bedürfnissen. Der konkrete Rechtsstreit i n seiner Umwelt schafft sich seine Entscheidungsgrundlage auf dem Weg über die subjektive Wertung des Richters jeweils selbst, der Entscheidungsmaßstab des Gerichts gerät damit vollständig i n A b hängigkeit von den jeweiligen Anforderungen der Zeit. Eine Rückführung auf prästabilisierte Normen als antizipierte Interessenwertung ist nicht mehr möglich und erforderlich. Damit geräte die entscheidende Instanz, i n Verfassungsstreitigkeiten also das Bundesverfassungsgericht, i n den Erwartungsdruck tagespoliti68

C. Schmitt in Ebracher Studien, S. 57 ff.

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2. Teil: Gesetzgeber u n d Bundesverfassungsgericht

scher Zielsetzungen e9. Diese Verlagerung der Entscheidungsperspektive kann nur unter der Voraussetzung problemlos bleiben, daß das Gericht nach seinem Verfahren solchen Erwartungen gerecht werden kann. Artikulieren sich politische Interessen und Erwartungen als Ziele und Wünsche, so kann das Recht diese allein niemals vollständig befriedigen. Es läßt nicht nur die Sinnfrage offen, sondern kann darüber hinaus politische Ideale nur unvollkommen herstellen. Politische Ideale und politisches Handeln sind niemals kongruent; politische Begriffe sind Sinn- und Zielartikulationen, die als solche leistungsfähig sein mögen. A u f der Ebene konkreter Handlungen sind sie oft nicht umsetzbar. I n dem Moment, i n dem eine streitentscheidende Instanz mit einer allgemein-verbindlichen Entscheidung i n den Druck der jeweils involvierten Interessen gerät, kann die Entscheidung mit ihrer Begründung die an sie gerichteten Erwartungen niemals vollständig befriedigen. A u f praktische Gestaltung gerichtet, kann einem Überschuß politischer Interessen niemals genügt werden. Das gilt für alle Parteien. Dadurch leidet die Akzeptanz der Entscheidungen politischer Handlungseinheiten. Zugleich rückt das Bundesverfassungsgericht an die tagespolitische Auseinandersetzung heran. Seine Entscheidungen sind nicht mehr rational kontrollierbar, sondern der Wandelbarkeit variabler Interessen unterworfen und somit nicht einmal dem Anspruch nach mehr auf allseitige Akzeptanz gerichtet. Entscheidung und Gericht erhalten so den Charakter zeitbedingter Beliebigkeit Damit leidet mit der Rationalität der Entscheidungsgründe zugleich die Befriedungsfunktion des Gerichts. Nicht mehr die Aufrechterhaltung von Entscheidungen als Ausdruck rechtlich gebotenen Verhaltens, sondern ihre Revision i m Prozeß veränderter Interessen ist die adäquate politische Reaktion. Für solche Konsequenzen seiner Entscheidungen kann das Gericht nach seinen Entscheidungs- und Verfahrensmaximen keine Verantwortung übernehmen. Vielmehr reiht es sich so als beliebige Instanz i n die politische Auseinandersetzung ein und behindert neben der Friedensfunktion des Rechts zugleich seine eigenen Handlungsgrundlagen. Der Kompetenzzuwachs der Verfassungsgerichtsbarkeit durch das wertorientierte Verfassungsverständnis fordert so als Preis die Funktionsfähigkeit des Gerichts. d) Zusammenfassung Das wertorientierte Verfassungsverständnis mit der Qualifikation der Gesetzgebung als Verfassungsvollzug unter dem Primat des Bundesverfassungsgerichts steht somit i m demokratischen Staat der Funktion von Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit entgegen. Es kann daher die Kompetenzkonkurrenz nur unter der Voraussetzung regulie69

Eckertz, DSt 1978, 200 ff.

III. Die Kompetenzordnung nach der Wertordnungslehre

87

ren, daß das Gefüge der Gestaltung und Kontrolle nach dem Grundgesetz funktionsunfähig wird; insbesondere die demokratische Staatsform w i r d durch eine partielle Übernahme von Parlamentsfunktionen durch das Bundesverfassungsgericht beeinträchtigt. Dieses Verständnis vermag somit die Probleme weder für die Legislative noch für das Gericht theoretisch oder praktisch zu lösen 70 .

70 Zu allgemeinen Problemen der Wertordnungslehre darüber hinaus: Forsthoff, FS C. Schmitt, 1959, S. 35 ff.; C. Schmitt, a.a.O. (Fn. 69); Podlech, AöR 1970, 185 ff.; Denninger, JZ 1977, 545 ff.; Böckenförde, NJW 1974, 1533 f.; Schefold, JuS 1972, 4 ff.; Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976, S. 217 m. w. N.

3. TEIL

Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung Die Kompetenzabgrenzung zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht hat an die grundgesetzlichen Vorgaben m i t ihren Eigenarten und Besonderheiten anzuknüpfen, wobei die Entstehungsgeschichte nur geringe Anknüpfungspunkte zu vermitteln vermag 1 .

I. Grundfragen 1. Funktionelle Abgrenzung

I m „demokratischen . . . Bundesstaat" (Art. 20 I GG) soll die Staatsgewalt durch „besondere Organe" ausgeübt werden, denen die „Gesetzgebung", die „vollziehende Gewalt" und die „Rechtsprechung" zukommt (Art. 20 I I 2 GG). Diese Zuweisungen sind nicht nur formell-organisatorisch, sondern gerade i n A r t . 20 GG auch materiell zu verstehen 2 . I n diesem Gefüge ist die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur Normenkontrolle ausdrücklich niedergelegt, sie braucht nicht mehr aus allgemeinen Strukturprinzipien deduziert zu werden. Wie weit die Befugnisse beider Staatsorgane i m Verhältnis zueinander je konkret reichen, w i r d allerdings nur durch äußerst knappe Normtexte angedeutet, die nur einen äußeren Rahmen aufzeigen, welcher durch Interpretation zu konkretisieren ist. A r t . 20 I I 2 GG differenziert funktional nach „Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung", ohne jedoch zu definieren, was materiell unter diesen Funktionen zu verstehen ist. Die verwendeten Begriffe werden vorausgesetzt und sind aus sich selbst heraus zu klären. Dabei stellt die Idee der Gewaltenteilung nur einen theoretischen Entwurf dar. Weder kommt ihr normative Verbindlichkeit zu, noch enthält sie Maßstäbe für eine konkrete Funktionenordnung. Gewaltentrennung ist kein dem Staat vorausliegendes Prinzip, sie existiert stets nur i n dem Umfang, i n welchem sie von der 1 2

s. o. 2. Teil, 11. Eingehend hierzu Jarass, Politik und Bürokratie, S. 13 ff.

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jeweiligen Rechtsordnung verwirklicht wird. Folglich kann sich eine Funktionsordnung für einen konkreten Staat nur aus seinen Gesetzen herleiten lassen. Für die Bundesrepublik ist das Verhältnis der Gewalten zueinander in A r t . 20 I I I GG partiell normiert. Danach ist die Gesetzgebung an die „verfassungsmäßige Ordnung" gebunden, Exekutive und Justiz sind hingegen auf „Gesetz und Recht" verpflichtet 3 . Das Gesetz als verbindliche Äußerung der Legislative geht allen anderen Handlungsformen vor. So geht das Grundgesetz nicht von einer Gleichordnung aller Staatsgewalten aus, vielmehr sind Exekutive und Justiz der Legislative untergeordnet. Daher ist das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung grundsätzlich durch Über- und Unterordnung bestimmt; die Rechtsprechung hat die gesetzgeberischen Anordnungen zu beachten und zu befolgen. Damit geht A r t . 20 I I I GG davon aus, daß die rechtliche Determinierung von Entscheidungen der Legislative und der Rechtsprechung verschieden ist. Dem Gesetzgeber ist ausschließlich die Verfassung übergeordnet, die Rechtsprechung w i r d außerdem durch die Gesetze determiniert. Dieses allgemeine Kompetenzschema ist jedoch auf das Verhältnis zwischen Legislative und Bundesverfassungsgericht i m Verfahren der Normenkontrolle nicht anwendbar. Hier ist das Gesetz nicht Maßstab, sondern Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle. Das Bundesverfassungsgericht befindet ausschließlich über die Vereinbarkeit von Gesetzen mit dem Grundgesetz (Art. 93 I Nr. 2 GG), also darüber, ob sie „verfassungswidrig" sind (Art. 100 11 GG). Entscheidungsmaßstab ist somit i n diesem Verfahren, soweit sein Gegenstand Bundesrecht ist, ausschließlich das Grundgesetz. Bezüglich der rechtlichen Vorgaben für die Entscheidung liegt somit zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht die von A r t . 20 I I I GG vorausgesetzte Verschiedenheit nicht vor, vielmehr sind sie gleich. Dadurch ergibt sich zwischen ihnen — anders als zwischen Legislative und Justiz allgemein — eine Gestaltungskonkurrenz 4. Eine Herleitung des Vorranges des Parlaments gegenüber dem Bundesverfassungsgericht aus dem Grundsatz der Volkssouveränität, der auch A r t . 20 I I I GG zugrunde liegt, ist nicht möglich. A r t . 20 I I 1 GG geht vielmehr davon aus, daß alle Staatsgewalt demokratisch legitimiert sei, und zwar unabhängig davon, welchem Zweig sie funktional zuzurechnen ist oder durch welches Staatsorgan sie ausgeübt w i r d 5 . So ist 3 Zum Begriff des Rechts Maunz / Dürig in MDHS, Art. 20 Rn. 72, Erstbearbeitung. 4 Dazu Schuppert, Kontrolle, S. 208 f. 5

Böckenförde

/ Grawert,

AöR 1970, 1, 25 ff.

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3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

keineswegs alle Ausübung von Staatsgewalt außerhalb solcher Organe, die durch unmittelbare Wahlen besetzt werden, undemokratisch. Dementsprechend vermag die demokratische Staatsform allein keinen allgemeinen Vorrang des Parlaments zu begründen. Das gilt u m so mehr, als dieser Staatsformbestimmung das Prinzip der Gewaltenteilung nebengeordnet ist. Das Grundgesetz kennt keinen Widerspruch zwischen Demokratie und Gewaltengliederung, vielmehr sind beide einander zuzuordnen. Dabei ist die demokratische Staatsform das prägende Element der Ausgestaltung der Gewaltenteilung; ebenso gibt umgekehrt die Gewaltengliederung der durch die Verfassung konstituierten Demokratie ihr besonderes Gepräge. Die Frage nach der richterlichen Normenkontrollbefugnis, früher ein Problem der Zuordnung ven beiden Staatsstrukturprinzipien, ist i m Grundgesetz positiv-rechtlich entschieden, ohne daß hierdurch dem einen oder anderen Grundsatz der Vorrang eingeräumt werden sollte. I n die dadurch entstehende Spannungszone ist die Verfassungsgerichtsbarkeit einzuordnen. Die bisher diskutierten Zuordnungsansätze 8 haben gezeigt, daß eine Kompetenzabgrenzung weder nach dem Gegenstand der jeweiligen Sachbereiche — Recht und Politik — noch nach dem Ergebnis für die staatliche Sozialgestaltung — Rechtsetzung oder Rechtsanwendung — möglich ist. Maßgeblich sind vielmehr die positiven Funktions- und Verfahrennormen des Grundgesetzes für beide Organe 7 . Die Abgrenzung der Kompetenzen von Gesetzgebung und Bundesverfassungsgericht unter den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen der Bundesrepublik setzt demnach die Bestimmung ihrer jeweiligen Funktionen und Kompetenzen nach dem Grundgesetz voraus. Maßgeblich dafür sind die spezifischen Rahmenbedingungen der gewaltenteilenden Demokratie, i n welcher der gemeinsame historische „Gegner" beider staatstheoretischen Ansätze, die monarchische Exekutive, nicht mehr existiert. Ausgangspunkt einer solchen Untersuchung müssen diejenigen Verfassungsnormen sein, welche die Befugnisse der einzelnen Zweige der Staatsgewalt bestimmen. Dafür enthält das Grundgesetz sowohl formelle als auch materielle Bedingungen und Bindungen i n der Form von Aufgaben- und Kontrollnormen. Für die Abgrenzung sind dabei weniger die den einzelnen Gewalten eingeräumten „Wirkvorbehalte" als Mindestgrenze ihrer Funktionsbereiche als vielmehr die Voraussetzungen und Grenzen der schon quantitativ bedeutsameren Handlungen jenseits dieser Mindestgarantien von Bedeutung. Maßgeblich sind die Spezifika der Verfassungsbindung der Legislative ebenso wie die Handlungsbefugnisse und -maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts 6

s. o. 2. Teil. Dazu und zum folgenden Ipsen, Richterrecht, S. 117 ff.; Grimm, JZ 1976, 700; Göldner, Richterrecht, S. 101; allgemein Zimmer, Funktion, S. 103 ff. 7

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nach dem Grundgesetz. Erst auf dieser Grundlage ist die Zuordnung der wechselseitigen Kompetenzen bei der Sozialgestaltung wie der Konkretisierung des Verfassungsrechts zu ermitteln. Das Abstellen auf Funktions- und Verfahrensnormen bei der Zuordnung von Kompetenzen verschiedener Zweige der Staatsgewalt entspricht der gegenwärtigen Auslegung des Gewaltenteilungsprinzips. Geht A r t . 20 I I 2 GG davon aus, daß nicht nur materiell die Bereiche von Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung unterschieden werden sollen, sondern diese je besonderen Organen zugewiesen sind, so ist damit jedoch noch nicht festgelegt, welches Organ welche Materie wahrnehmen soll. Für diese Zuweisung ist darauf abzustellen, daß Besetzung, Zusammensetzung und Struktur je funktionsgerecht sein müssen, u m so eine den Eigenarten der Aufgaben entsprechende gute und sachgemäße Erfüllung sicherzustellen 8 . Maßgeblich dafür ist die Verantwortungsklarheit für die Organwalter. Sie müssen nicht nur ihrer persönlichen Eignung und Fähigkeit nach i n der Lage sein, die Aufgaben der jeweiligen Gewalt zu erfüllen, sondern auch organisatorisch und verfahrensmäßig zu ihrer Bewältigung imstande sein 9 . Ist die Zuständigkeit eines Zweiges der Staatsgewalt i m Einzelfall strittig, so können dementsprechend aus seiner Organisation und seinen spezifischen Handlungsformen Rückschlüsse auf seine verfassungsmäßige Funktion und damit auf die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Betätigung gezogen werden. Da i n A r t . 20 I I 2 GG selbst die Funktionsweisen der einzelnen Staatsorgane nicht festgelegt sind, kann die Zuständigkeitsordnung letztlich nur aus dem Zusammenhang zwischen dieser Vorschrift und den verfaissungsrechtlichen Organisationsnormen ermittelt werden. So erhält das Gewaltenteilungsprinzip neben seinem negativen, durch wechselseitige Balance und Hemmung herbeigeführten freiheitssichernden Zweck zugleich einen positiven Sinn: die rationalisierende Wirkung für die Bewältigung der Staatsaufgaben 10 . Die Kompetenzordnung ist demnach nicht primär durch eine Klärung der i n A r t . 20 I I 2 GG verwendeten materiellen Begriffe zu ermitteln, sie erfordert vielmehr eine Zuordnung der rechtlich vorgesehenen Verfahrensmöglichkeiten jedes Zweiges der Staatsgewalt zu den tatsächlichen Anforderungen, die die Umwelt an die staatliche Steuerungsleistung stellt. So erhält die Gewaltenteilung ihren besonderen Realitätsbezug. Diese Auslegung der Gewaltengliederung hat auch i n der Rechtsprechung ihren Niederschlag gefunden. So wurde die Verfassungsmäßigkeit einer Vorschrift, welche Verwaltung und Gerichten die Konkretisierung 8

Hesse, S. 187; Jarass, Politik und Bürokratie, S. 96 f. Küster in Häberle, Gewaltenteilung, S. 7; Schneider, DöV 1975, 443, 446 ff. 10 Jarass, Politik und Demokratie, S. 99 f.; Schlüter, Obiter Dictum, S. 14 ff.

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3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

wenig bestimmter Tatbestände zur Aufgabe machte, m i t der Begründung bejaht, daß die schöpferische Füllung weiter Lücken auf der Grundlage richtungweisender Generalklauseln eine herkömmliche und stets bewältigte richterliche Aufgabe ist, zu deren Erfüllung i m konkreten Fall Steuerverwaltung und Finanzgerichte auch „tatsächlich durchaus in der Lage" seien. Ungewöhnliche Schwierigkeiten bei der Anwendung der Norm hätten sich bislang jedenfalls nicht ergeben 11 . Hier wurde von der Möglichkeit der Erfüllung einer Aufgabe auf die Zulässigkeit ihrer Statuierung geschlossen. Umgekehrt sollen K r i m i n a l strafen nicht durch die Verwaltung, sondern nur durch Gerichte verhängt werden dürfen. Hier wurde der „Kernbereich" der herkömmlicherweise den Gerichten übertragenen Aufgaben dadurch konkretisiert, daß das besondere Bedürfnis nach rechtsstaatlicher Strafverhängung die spezifischen verfahrensrechtlichen Sicherungen des Grundgesetzes, wie sie für das gerichtliche Verfahren vorgesehen sind, unerläßlich mache. Da diese für die Exekutive nicht i n gleicher Weise angeordnet seien, sei die Verhängung von Kriminalstrafen durch sie unzulässig 12 . Hier wurde von der Unmöglichkeit verfahrensgerechter Aufgabenerfüllung auf deren Unzulässigkeit geschlossen13. Aus der Zusammenschau materieller und organisatorischer Grundsätze für die Gewaltengliederung ergeben sich so nicht nur positive Anforderungen an die Kompetenzordnung, sondern zugleich negative Verbote. Insbesondere ist es prinzipiell unzulässig, daß einem Staatsorgan Funktionen zugewiesen werden oder daß es solche wahrnimmt, welche nicht der Struktur des Organs und der von i h m wahrzunehmenden „Grundfunktion" entsprechen 14 . Erst recht darf kein Staatsorgan seine so konkretisierten Kompetenzen aus eigener Initiative überschreiten. Auf diese Weise lassen sich für eine Abgrenzung der Kompetenzen von Legislative und Bundesverfassungsgericht zusätzliche Kriterien gewinnen. Nicht ausschließlich die materiellen Begriffe des A r t . 20 I I 2 GG, die gerade i n Randbereichen eine oft geringe Regelungsdichte und Trennschärfe aufweisen, sondern zusätzlich die wesentlich konkreteren Organisations- und Verfahrensnormen geben Aufschluß über die Zuständigkeit des jeweiligen Zweigs der Staatsgewalt. So werden nicht vagen Verfassungsgrundsätzen beliebige Inhalte substituiert, sondern zusätzliche positivierte Kriterien für die Organisation der Erfüllung von Aufgaben der Staatsgewalt gewonnen. Maßstäbe für die Bestim11 12 13 14

BVerfGE 13, 153, 164 f. BVerfGE 22, 49, 74. Weitere Nachweise bei ipsen, Richterrecht, S. 135 f. Hesse, S. 187.

I. Grundfragen

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mung u n d Abgrenzung von Zuständigkeiten können dabei insbesondere die Bestellung der Organwalter, die Organisation der Aufgabenerfüllung und das jeweils dafür vorgeschriebene Verfahren sein. Nicht alle diese Fragen sind ausdrücklich i m Grundgesetz geregelt, vielmehr ist hierbei auf das einfache Recht — u n d notfalls die Verfassungspraxis — zurückzugreifen. Dieses Vorgehen bedeutet kein Postulat der Gesetzmäßigkeit der Verfassung, solange deutlich bleibt, daß die Funktionsgliederung der Verfassung voraussetzt, daß für jedes Staatsorgan adäquate Organisationsnormen bestehen, welche i h m die E r f ü l l u n g seiner Aufgaben zumindest nicht unmöglich machen. Ist ein Zweig der Staatsgewalt zur Wahrnehmung bestimmter Funktionen nicht i n der Lage, so dürfen i h m solche auch nicht übertragen werden. Soweit nicht zwingende verfassungsrechtliche Vorgaben existieren, k o m m t hier dem Grundsatz der Gewaltenteilung eine gewisse, vom einfachen Gesetzgeber auszufüllende Schwankungsbreite zu, der n u r die jeweiligen „Kernbereiche" unantastbar vorausliegen 1 5 . Innerhalb dieses Rahmens müssen sich jedoch auch i m einfachen Recht Aufgabenzuweisungen und die Möglichkeit zu deren E r f ü l l u n g entsprechen. Aufgabe u n d M i t t e l zu ihrer Wahrnehmung bedingen einander. Eine Zuordnung der Kompetenzen von Legislative u n d Bundesverfassungsgericht setzt somit voraus, daß die i m Grundgesetz für ihre jeweilige Aufgabenerfüllung vorgesehenen Organisations- u n d Verfahrensnormen i n die Untersuchung einbezogen werden. Dieses Vorgehen stößt insofern auf günstige Voraussetzungen, da vielfältige Einzelheiten verfassungsrechtlich positiviert oder doch zumindest angedeutet sind 1 6 . 2. Verfassungsrechtliche Voraussetzungen der Abgrenzung

a) Die Offenheit

des Grundgesetzes

Bei der Konkretisierung der Kompetenzordnung sind neben den formellen auch die materiellen Vorgaben des Grundgesetzes nach ihren Eigenarten zu berücksichtigen. Ausgangspunkt ist dabei die inhaltliche Sonderstellung des Grundgesetzes als Verfassung 1 7 . I m Unterschied zu der überwiegenden Zahl von einfachen Gesetzen zeichnet sich eine Verfassung durch ihren fragmentarischen, bruchstückhaften Charakter aus. Der Grund hierfür liegt i n ihrer intendierten Eigenschaft als Langzeitnorm ebenso wie i n der Tatsache, daß insbesondere demokratische Ver15

BVerfGE 9, 268, 280 f.; Nachweise bei Leibholz / Rinck, GG Art. 20 Rn. 16. Zum ganzen vertiefend Zimmer, Funktion, S. 237 ff. 17 Böckenförde, NJW 1976, 2089, 2090 f. m. w. N.; Badura t FS Scheuner, S. 19 ff.; Β adura, EvStL, Sp. 2717 ff.; Schmid in Eichenberger, Grundfragen der Rechtsetzung, S. 315 ff. 16

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3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

fassungen politische Kompromisse i n sich integrieren müssen, u m die notwendige breite Zustimmung zu erhalten. So werden durch Ausklammern von Problemen und offene, relativ weite Formulierungen Gestaltungsfreiräume geschaffen, deren Ausfüllung die unterschiedlichsten, bei der Verfassunggebung relevanten politischen Zielsetzungen und Konzeptionen berücksichtigen kann. So bleiben detaillierte Regelungen selten, sie sind insbesondere i n Organisations- und Kompetenznormen anzutreffen. Daneben stehen Prinzipien und allgemeine Leitlinien, die ein — mehr oder weniger eindeutig definiertes — Ziel festlegen, aber die Wege, Mittel und den Grad der Verwirklichung offenhalten. Lapidar· und Kompromißformeln, deren Wortlaut vielfach aus der Rechtstradition überliefert ist, deuten häufig kaum an, welche Intentionen der Verfassunggeber wirklich mit ihrer Wahl verbunden hat. Sie sind oft gerade Ausdruck der fehlenden Übereinstimmung, welche Detailentscheidungen und damit praktische Sozialgestaltung nicht selbst leisten w i l l , sondern auf einen späteren Zeitpunkt vertagt. So sind Verfassungen typischerweise Rahmenordnungen, die allgemein gefaßte Handlungs- und Entscheidungsziele determinieren sowie Verfahrensregeln aufstellen, ohne jedoch die Geschlossenheit von Gesetzen aufzuweisen. Dazu fehlt es schon an ihrer systematischen Einordnung i n eine bestehende, vielfach geprägte Rechtsordnung. Die Verfassung ist nicht Teil der einfachen Gesetze, sondern ihnen übergeordnet. Ihrem Rang nach steht sie allein. Daher können ihre offenen Normen nicht einfach unter Rückgriff auf bestehende Gesetze ausgelegt werden. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß Verfassungen regelmäßig vor dem Hintergrund schon entschiedener Machtfragen und schon erlassener, teilweise sehr detaillierter Rechtsordnungen ergehen 18 . Vielmehr sind sie gerade wegen ihres Charakters als Grundnormen des Staates primär aus sich selbst heraus auszulegen. Dieser fragmentarische Charakter ist für das Grundgesetz schon vom Verfassunggeber angelegt. I n Anbetracht der Tatsache, daß i m Parlamentarischen Rat zwei gleich starke politische Richtungen miteinander konkurrierten, war in vielen Einzelfragen Konsens nur dadurch zu erzielen, daß konkrete Vorgaben ausgeklammert und durch allgemeine Richtlinien oder Prinzipien ersetzt wurden 1 9 . Der Grund hierfür lag wesentlich darin, daß die großen Parteien auf einen Wahlsieg i m später zu wählenden Parlament hofften. Dann hätten sie ihre Politik wesentlich konsequenter verfolgen können, als es i m Parlamentarischen Rat bei der notwendigen Rücksichtnahme auf die jeweils andere Seite möglich schien. Bei einer solchen Strategie konnten konkrete verfassungs18

Dazu Häberle, ZSR 1978, 1 ff. Exemplarisch Altendorf, ZParl 1979, 405 ff., insbes. 410; Mayer / Stuby, Die Entstehung des GG, S. 128 ff. 19

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rechtliche Vorgaben, die die spätere Parlamentsarbeit binden würden, nur hinderlich sein. Schon diese Tatsache stand einer Aufnahme wesentlicher Frage etwa der Arbeits- und Sozialordnung entgegen. Die Offenheit des Grundgesetzes entsprach demnach dem erklärten Willen zumindest eines erheblichen Teils der an seinem Erlaß Beteiligten. Möglichst viele praktische Entscheidungen sollten nicht präjudiziert, sondern auf einen späteren Zeitpunkt nach dem erwarteten jeweils eigenen Wahlsieg vertagt werden. Das erforderte Zurückhaltung bei der materiellen Ausgestaltung der Verfassung, stärkte jedoch zugleich die Aufgaben und Befugnisse der Staatsorgane i n Bund und Ländern. Bei der Ausübung der verfassungsgerichtlichen Normenkontrollbefugnisse können so die allgemeinen Grundsätze der Nachprüfung der Rechtmäßigkeit von Staatsakten nur i n beschränktem Umfang angewandt werden. Ist es allgemein die Aufgabe des Richters, unter Heranziehung der juristischen Methoden eine anwendbare Norm i n der Weise zu konkretisieren, daß sie für den zu beurteilenden Sachverhalt eine bestimmte Rechtsfolge bereitstellt, so gilt diese Regel für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes nur entsprechend den Eigenarten des Grundgesetzes. Dieses wollte eben nicht für alle Sachverhalte, die seinen Einzelbestimmungen möglicherweise unterfallen können, selbst eine einzige und konkrete Rechtsfolge anordnen 20 . Der Konkretisierung von Verfassungsbestimmungen sind somit durch deren Eigenarten — jeweils unterschiedliche — Grenzen gezogen. Die Verschiedenheit des Maßstabes begründet somit für das Verfassungsgericht zugleich die Notwendigkeit spezieller Methoden und Subsumtionsmaximen: die Konkretisierung der Norm hat sich nicht nur an den Bedürfnissen des zugrunde liegenden Fachverhaltes zu orientieren, sondern auch die Besonderheiten der Verfassung zu berücksichtigen. Wegen dieser Besonderheiten ist die Auslegung des materiellen Verfassungsrechts allein nicht ausreichend zur Bestimmung der Kontrollkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts. Die Diskussion u m die political-questions-doctrine hat gezeigt, daß die Verantwortungsverteilung komplexere Grundlagen aufweist. Gerade angesichts des fragmentarischen und lückenhaften Charakters des Grundgesetzes sind Auslegungs- und Methodenfragen stets zugleich Kompetenzfragen 21. Nicht die Methode bestimmt die Kompetenz, sondern die Kompetenz die Methode der Verfassungsauslegung.

20 Dazu eingehend Drath, VVDStRL 9, 91 f.; Rauschning, Sicherung von Verfassungsrecht, S. 41 ff. 21 Eingehend Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 47 ff.; Wahl / Rottmann in Conze / Lepsius, Sozialgeschichte, S. 360 ff.

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3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

b) Das Letztentscheidungsrecht

des Bundesverfassungsgerichts

Für die Bestimmung des Kompetenzverhältnisses ist daneben die Bindung der Legislative an verfassungsgerichtliche Entscheidungen von besonderer Bedeutung. Diese i m Grundgesetz nicht ausdrücklich angeordnete, sondern vorausgesetzte W i r k u n g (vgl. auch § 311 BVerfGG) läßt keine „ K o r r e k t u r " der Urteile oder Beschlüsse des Gerichts durch ein anderes Staatsorgan zu. Die Entscheidungen binden die Legislative ähnlich wie das Grundgesetz selbst, die verfassungsgerichtliche Auslegung des Grundgesetzes erhält verfassungsgleiche Wirkung. M i t der Wahrnehmung seines Letztentscheidungsrechts i n Verfassungsfragen übt das Bundesverfassungsgericht seine Kompetenzen aus u n d bestimmt zugleich — ausdrücklich oder i m p l i z i t — deren Umfang. Je weiter dieser — etwa durch eine extensive Konkretisierung des Grundgesetzes über Rahmenfunktion hinaus — ausgedehnt w i r d , desto umfangreicher w e r den die materiellen Vorgaben für die anderen Staatsorgane. Parallel dazu reduzieren sich ihre Entscheidungsfreiräume und damit die selbständigen Kompetenzen der anderen Staatsorgane. Die Kompetenzkonkurrenz zwischen Legislative und Verfassungsgerichtsbarkeit w i r d som i t von letzterer für beide verbindlich entschieden, es grenzt beider Zuständigkeiten ab u n d bestimmt damit zugleich deren Umfang. Bei extensiver Inanspruchnahme von Befugnissen führt dies zu einer Kompetenzkompetenz des Bundesverfassungsgerichts, soweit es nicht gelingt, verbindliche Abgrenzungskriterien aus dem Grundgesetz selbst zu entwickeln. I I . Die Stellung der Legislative nach dem Grundgesetz Eine solche funktionelle Abgrenzung der Kompetenzen von Legislative und Bundesverfassungsgericht setzt voraus, daß die Funktion beider Staatsorgane j e nach ihren durch das Grundgesetz normierten Besonderheiten u n d Eigenarten zugrunde gelegt w i r d . Hierzu sollen die Handlungsmöglichkeiten der Legislative und ihre Grenzen auf der Grundlage der verfahrensrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes konkretisiert werden, u m auf dieser Basis die Legitimation ihrer Entscheidungen u n d Maßnahmen i n der gewaltenteilenden Demokratie zu erörtern. I m Anschluß daran werden diejenigen tatsächlichen u n d rechtlichen Besonderheiten, welche die Verfassungsbindung des Gesetzgebers prägen, dargestellt 1 . Gesetzgebung ist darauf gerichtet, verbindliche Entscheidungen für das Gemeinwesen zu fällen. Typisches, aber nicht notwendiges M e r k 1 Zu diesem Vorgehen grundsätzlich: Grimm.in Hoffmann-Riem, Sozialwissenschaft im Studium des Rechts II, S. 92 ff.

I I . Die Stellung der Legislative nach dem Grundgesetz

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mal dieser Entscheidung ist, daß sie regelmäßig einen unbestimmten Kreis von Adressaten berechtigt oder verpflichtet, indem sie i n je spezifischen Sachbereichen verbindliche Verhaltensregeln vorschreibt 2 . Innerhalb der vom Grundgesetz konstituierten Rahmenordnung ist die Legislative zum Normerlaß für alle Sachbereiche berechtigt. Das ist unabhängig davon, ob die Materie bereits zuvor rechtlich geregelt war oder nicht. Gesetzgebung ist primär Sozialgestaltung. Organe der Legislative sind i m Bund der Bundestag und der Bundesrat; neben die parlamentarische Dimension t r i t t so partiell die bundesstaatliche. Bei der Ausgestaltung der Organisations- und Verfahrensnormen bestehen zwischen beiden Organen jedoch deshalb nicht notwendig stets Unterschiede oder gar Gegensätze. I m Zentrum der Darstellung steht hier der Bundestag. Er ist das zentrale Gesetzgebungsorgan 3 ; der Bundesrat ist nicht eine zweite Kammer der einheitlichen Legislative, welche gleichwertig m i t der ersten Kammer entscheidend am Gesetzgebungsverfahren beteiligt wäre. Vielmehr w i r k t er bei der Gesetzgebung gemäß A r t . 50 GG lediglich mit, indem er bestimmte Rechte ausübt. Unter diesen ist das Zustimmungsrecht zu Gesetzen die Ausnahme. Ein allgemeines Mitwirkungs- oder Kontrollrecht des Bundesrates läßt sich daraus nicht herleiten. Liegt der Schwerpunkt der Gesetzgebungszuständigkeiten somit beim Bundestag, so ist er der primäre Gegenstand der Untersuchung. 1. Das Verfahren der Gesetzgebung

Die Regelungen der Verfassung für das Gesetzgebungsverfahren beschränken sich weitgehend auf das Entscheidungsverfahren, welches regelmäßig am Ende eines Prozesses steht, der mit der Entstehung eines sozialen Poblems beginnt und mit dem Inkrafttreten einer gesetzlichen Regelung für die Organe der Legislative endet. a) Freies Zugriffsrecht Die Eröffnung eines Gesetzgebungsverfahrens erfolgt i n dem Moment, in welchem die zuständigen Staatsorgane ein Problem wahrgenommen haben und seine Lösbarkeit durch Rechtsnormen zumindest für möglich erachten 4 . Dieser „Problemimpuls" ist jeder Grund, welcher die gesetzgebenden Gremien dazu veranlaßt, normsetzend tätig zu werden. Nicht 2

Starck, Gesetzesbegriff, S. 195 ff.; s. dazu auch Zimmer, Funktion, S. 329 ff.; Schopp, Das subjektive Recht, S. 152 ff.; Henke, DSt 1980, 200. 3 BVerfGE 37, 363, 380 f. 4 Zum folgenden Noll, Gesetzgebungslehre, S. 72 ff.; Ipsen, Richterrecht, S. 138 ff.; Müller, 7 Gusy

DÖV 1964, 226 ff.

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3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

ausreichend dazu ist, daß ein Problem existiert; es muß von der jeweiligen Stelle wahrgenommen und für lösungsbedürftig angesehen werden. Der als Problem empfundene Zustand besteht zumeist nicht innerhalb der mit Normvorbereitung oder -setzung betrauten Stellen, sondern i n deren Umwelt. Erforderlich ist i n diesen Fällen, daß die jeweilige Fragestellung an die Gesetzgebungsorgane herangetragen wird. Das setzt A k t i v i t ä t der unmittelbar Betroffenen oder sonstiger Interessenten voraus, welche stark genug ist, sich nicht nur zu äußern, sondern sich darüber hinaus Gehör zu verschaffen. Nur i n den seltensten Fällen werden die zuständigen Instanzen durch eigene Ermittlungen oder Nachforschungen auf ein Problem aufmerksam; hierzu fehlt es vielfach auch institutionalisierten Mechanismen. Findet so unter den Problemlagen bereits eine Selektion statt, so geschieht das schon i m Vorfeld staatlicher Aktivitäten, sei es, weil das Problem zu gering ist oder weil die Betroffenen nicht hinreichend artikulationsfähig sind 5 . Erst wenn das Problem so an den Staat herangetragen ist, kann es dort Impulse i m Hinblick auf seine Bewältigung auslösen. Das geschieht nur i n dem Fall, wenn von der zuständigen Instanz ein Wertgefälle zwischen dem erwünschten und dem vorhandenen Zustand empfunden wird®. Dabei kann über die Frage, welches i m Einzelfall der konkrete Mißstand ist und welche Ursachen er aufweist, ebenso Dissens bestehen wie bezüglich der Frage, welcher Zustand an seiner Stelle als erwünscht anzusehen ist. Die Würdigung, die hier vorzunehmen ist, ist nur selten rechtlich gesteuert — etwa i n dem Fall, wenn ein Zustand als verfassungswidrig anzusehen ist —, vielmehr unterliegt sie i n den meisten Fällen ausschließlich politischen Wertungen und ist von Rechtsnormen unbeeinflußt. Erst wenn ein solches Wertgefälle wahrgenommen wird, verlagert sich das Problem aus der Ebene der Betroffenen i n den Bereich der staatlichen Organisation. Um hier Impulswirkungen auszulösen, muß es jedoch erhebliche Hemmschwellen überwinden. Das gilt nicht nur für den Entscheidungsvorgang selbst, sondern i n hohem Maße auch für die Entscheidungsvorbereitung 7 , die vielfach durch die Exekutive vorgenommen wird. Der Grund dafür liegt darin, daß ein Problem unter der Vielzahl all der jeweils vorhandenen Aufgaben und Impulse, welche auf die Exekutive zukommen, erst eine Priorität erlangen muß. Dem steht neben der erheblichen Problemkonkurrenz zugleich die limitierte Kapazität an Aufmerksamkeit entgegen, die gerade hierarchisierte Organisationen prägt. 5 Solche Selektionsmechanismen sind vom geltenden Recht zumeist nicht geschaffen, sondern liegen ihm voraus, werden jedoch durch die Rechtsordnung nur in seltenen Fällen kompensiert, sondern vielfach hingenommen. 6 Noll, Gesetzgebungslehre, S. 81 f. 7 Ebd., S. 73; ebenso trotz anderer Ansätze auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 295 ff.

I I . Die Stellung der Legislative nach dem Grundgesetz

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Demnach ist nicht jedes rechtspolitische Anliegen präsumptiv eine gesetzgeberische Aufgabe, hinzukommen muß vielmehr ein erheblicher Problemdruck, u m die tatsächlichen Aufmerksamkeits- und Überlastungsbarrieren des staatlichen Steuerungssystems zu überwinden 8 . I m Gegensatz zu diesen tatsächlichen Hindernissen stellt die Rechtsordnung für den Zugang zum Gesetzgebungsverfahren keine normativen Barrieren auf. Weder ist ein besonderes, rechtlich gefordertes Bedürfnis nachzuweisen, noch stehen sonstige rechtliche Hindernisse der Verfolgung eines Problemimpulses durch die Legislative entgegen. Auch der Zeitpunkt der Einleitung eines Gesetzgebungsverfahrens ist rechtlich nicht vorgeprägt, es kann jederzeit eröffnet werden. So haben die gesetzeserlassenden Staatsorgane die freie Zugriffskompetenz auf alle Probleme, die ihrer Zuständigkeit unterfallen können. Dabei sind sie auf keine formellen Mitwirkungshandlungen Dritter, anderer Staatsorgane oder Privater, angewiesen. Vielmehr können Problemimpulse auch aus den am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organen heraus i n Gesetzesvorlagen umgesetzt werden, da diese auch „aus der Mitte des Bundestages" oder „durch den Bundesrat" eingebracht werden dürfen (Art. 76 I GG). Daneben kann die Bundesregierung Vorlagen einbringen. Dem Parlament ist es somit rechtlich möglich, sich jedes von i h m wahrgenommenen Problems anzunehmen und es gesetzlich zu regeln, soweit es dafür zuständig ist. Dabei ist es nicht an Vorlagen oder Anträge gebunden; es kann nach eigener Entscheidung Änderungen vornehmen oder weitergehende Maßnahmen für andere als die ursprünglich erfaßten Probleme beschließen. Der Erfüllung besonderer normativer Voraussetzungen bedarf es dafür nicht. Das freie Zugriffsrecht ist das prägende Element der Eröffnung des Gesetzgebungsverfahrens. Das gilt nicht nur für den Erlaß neuer Normen, sondern auch für die Änderung bereits erlassener Gesetze. Die Legislative kann sich einem bereits geregelten Sachbereich jederzeit neu zuwenden, sofern sie dort Probleme erkennt. b) Potentielle

Öffentlichkeit

Hat der Problemimpuls eine konkrete Gesetzesvorlage bewirkt, so ist prägendes Element des Entscheidungsverfahrens seine potentielle Öffentlichkeit 9 . Sie hat i n A r t . 42 I, 52 12 GG ihren zentralen Ausdruck gefunden. Ihre Bedeutung w i r d i n der Demokratie derart hoch eingeschätzt, daß sie aus dem Wesen der Repräsentation, der Freiheit i m demokratischen Staat und anderen grundlegenden demokratischen 8

Ipsen, Richterrecht, S. 140; Dolzer, Verfassungskonkretisierung, pass. BVerfGE 40, 237, 249; zum Zweck der Öffentlichkeit Kempen, Amtliche Öffentlichkeitsarbeit, S. 117 ff.; Kißler, Öffentlichkeitsfunktion, S. 76 ff.; Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 57 ff. 9

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100 3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

Prinzipien 1 0 hergeleitet wird. Öffentlich kann bereits die Gesetzesvorbereitung vor der parlamentarischen Verhandlung sein, indem Gesetzentwürfe von der Exekutive zur Diskussion gestellt werden (§§ 23, 25 GGO II). Nicht öffentlich verhandeln dagegen die Parlamentsausschüsse, wenn nicht bestimmte, näher konkretisierte Voraussetzungen auch für sie die Öffentlichkeit vorschreiben (s. § 73 GeschOBT). Nicht öffentliche Ausschußberatungen sind dem öffentlich tagenden Plenum als Bericht zugänglich zu machen. Dieser darf sich nicht auf die ausschließliche Mitteilung von Ergebnissen beschränken, sondern muß auch einzelne Aspekte der internen Beratung und Diskussion einbeziehen (§ 74 GeschOBT). So w i r d die Beratung „rückwirkend öffentlich" 1 1 . Die Herstellung der Öffentlichkeit durch das Parlament erfolgt i n zwei Stufen. Zunächst muß für einen Gegenstand die Parlamentsöffentlichkeit hergestellt werden, er muß also vor das Forum der Abgeordneten gelangen. Sodann muß die allgemeine Öffentlichkeit aller Staatsbürger über den Bereich des Parlaments hinaus Kenntnis von den Entscheidungsprozessen erlangen 12 . Wesentliche Instrumente zur Herstellung der Parlamentsöffentlichkeit sind die Unmittelbarkeit und die Mündlichkeit. Unmittelbarkeit bedeutet, daß das Verfahren prinzipiell i m Plenum vor den versammelten Abgeordneten stattzufinden hat 1 3 . Damit w i r d erst die Grundlage der Verhandlungsöffentlichkeit gesichert. Diese setzt voraus, daß diejenigen tatsächlichen Aspekte, welche die jeweilige Sachentscheidung positiv oder negativ beeinflussen können, auch i n das Forum des Parlaments gelangen. Erst so w i r d der Zweck der öffentlichen Verhandlung herbeigeführt: die Transparenz dessen, was i m Parlament geschieht bzw. beschlossen werden soll, nicht nur der parlamentarischen Verhandlung als Ritual. Parlamentsöffentlichkeit w i r d auf diese Weise zur Öffentlichkeit der i n i h m verhandelten Materien. Diese müssen i n der Aussprache thematisiert werden und dürfen i h r nicht nur vorausliegen. Die Unmittelbarkeit garantiert den Zugang der Abgeordneten i m Plenum zu den von ihnen zu beratenden und zu beschließenden Materien und zugleich deren Transparenz für den politischen Prozeß. Der Sicherung der Unmittelbarkeit dienen einige besondere rechtliche Vorkehrungen. Hierzu zählt vornehmlich das Zitierrecht (Art. 42 I, 53 S. GG), welches die unmittelbare Anwesenheit der Regierungsmitglieder i n den Verhandlungen sichern kann (zum Zitierrecht der Ausschüsse: § 73 I GOBT), und das Fragerecht als seine Konkretisierung 1 4 . Ergänzt w i r d sie 10

Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, 2. Α., 1960, S. 176 f. Starck, Gesetzesbegriff, S. 162; Kißler, Öffentlichkeitsfunktion, S. 328 ff.; zur Praxis: Löwenberg, Parlamentarismus, S. 397. 12 Grundlegend Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, S. 16 ff. 13 Ebd., S. 31 ff. 11

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durch den Grundsatz der Mündlichkeit. Er macht es überhaupt erst erforderlich, daß das Parlament sich zu den Beratungen versammelt 1 5 . Nur die Tatsachen- und Meinungsäußerungen, welche mündlich i n die Diskussion eingebracht werden, machen die parlamentarische Verhandlung aus. I n ihr sollen durch Rede und Gegenrede die jeweiligen Standpunkte deutlich gemacht und einander gegenübergestellt werden. Die Bedeutung dieser Tatsache nimmt mit der Frontstellung zwischen „Regierungs-" und Oppositionsparteien zu, da hier zur Herstellung von Transparenz deren Ansichten ausgetauscht und nicht notwendig ein einheitlicher Wille des Parlaments hergestellt werden soll. M i t der unmittelbaren und mündlichen Verhandlung w i r d jedoch der politische Prozeß noch nicht notwendig i n der Weise öffentlich, daß er dem Bürger Transparenz und Kenntnis von Prozeß und Gegenständen der Entscheidung vermittelt. Vielmehr vollzieht sich die Herstellung dieser Öffentlichkeit erst i n der zweiten Stufe. Erst durch sie w i r d das Parlament zum öffentlich handelnden Staatsorgan. Das Parlament als Gremium ist nur ein kleiner Ausschnitt der Öffentlichkeit; diese w i r d i n ihrer Gesamtheit erst einbezogen, indem die Vermittlung von Wissen und Wertungen u m die Entscheidungsvorhaben des Parlaments auch in das Staatsvolk hineingetragen wird. Hierzu ist die Sitzungsöffentlichkeit zwar die Grundlage, aber noch nicht das Medium selbst. Sitzungsöffentlichkeit ist stets nur eine potentielle, die Vermittlung über dieses Forum hinaus kann das Parlament zumeist nicht selbst leisten 1 6 . Hierzu ist es auf die M i t w i r k u n g Dritter angewiesen, wobei insbesondere den Medien bei der Verwirklichung der Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments entscheidende Bedeutung zukommt. Ihre Stellung dabei ist jedoch i n der Verfassung nur ansatzweise geregelt, A r t . 42 I I I GG stellt ihre wahrheitsgetreue Berichterstattung von „jeder Verantwortlichkeit" frei. Nichtsdestoweniger ist die Tätigkeit des Parlaments gerade auch bei der Gesetzgebung wie die keines anderen Staatsorgans auf Öffentlichkeit angelegt. Die Verhandlungsöffentlichkeit stellt Publizität vor dem Forum der Abgeordneten her und vermittelt Dritten und damit zugleich den Medien ein Zugangsrecht zu den Beratungen, so daß sie bereits an der ersten Stufe der Herstellung von Öffentlichkeit teilhaben können. Darüber hinaus sichert die Unverantwortlichkeit die freie Berichterstattung, die nicht den Schranken der Meinungs- und Pressefreiheit unterworfen ist. Das Grundgesetz schafft damit die Voraussetzungen für die Herstellung von Öffentlichkeit der Parlamentsarbeit für den Bürger, stellt allerdings selbst keine Mittel zur Verfügung, u m diese 14 Dazu Witte-Wegmann, Parlamentarische Anfragen, S. 80 ff.; grundsätzlich Morscher, Interpellationen, S. 177 ff. 15 Zum ganzen: Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, S. 34 ff. 10 Dazu Kißler, Öffentlichkeitsfunktion, S. 314 ff.

102 3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

Öffentlichkeit durch das Parlament selbst herzustellen. Dazu ist dieses auf die freiwillige M i t w i r k u n g Dritter angewiesen. Prägend ist so für die parlamentarische Verhandlung ihre potentielle Öffentlichkeit. c) Offenheit Neben der Öffentlichkeit ist die Offenheit ein charakteristisches K r i terium des Gesetzgebungsverfahrens. Dieses ist Einflußnahmen von außen i n vielfältiger, formeller wie informeller Weise ausgesetzt 17 . Die Einführung solcher Belange i n den Normsetzungsprozeß kann i n unterschiedlichen Formen erfolgen. Eine frühe A r t ist die Information. Ist Normerlaß die Antwort des Gesetzgebers auf einen Problemimpuls, so muß dieser Impuls erst an die zuständigen Organe herangetragen werden. Bereits i n diesem Stadium kann durch die Selektion von Aufmerksamkeit auf einzelne Mißstände eine Beeinflussung der jeweiligen Staatsorgane erfolgen, indem sie nur auf bestimmte Probleme oder einzelne Aspekte von ihnen aufmerksam gemacht werden. Da die gesetzgebenden Organe auf solche Informationsbeschaffung durch Dritte angewiesen sind, ist die Chance der Einflußnahme hier besonders groß. Neben dieser Vermittlung des Problemimpulses kann Einwirkung durch Information auch i n der Weise geschehen, daß mögliche Reaktionsweisen auf das erkannte Problem vorgeschlagen werden. Vermag interessierter Sachverstand das Problem oftmals erst i n den politischen Prozeß einzubringen, so verfügen die staatlichen Stellen i n Legislative und Exekutive gleichfalls häufig nicht über ausreichende Informationen, welche Reaktionsweise gerade diesem Mißstand adäquat ist, da die spezifische Detailkenntnis ebenso fehlt wie eine Übersicht über mögliche Folgewirkungen einzelner Maßnahmen. Informationsgewinnung von Dritten ist somit für die Problemdifinition und die Entwicklung von Lösungsalternativen vielfach unentbehrlich 1 8 . Die institutionelle Organisation der Informationsgewinnung ist durch das Grundgesetz nicht vorgeprägt. Gesetze gelten zumeist für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen. Die Gewinnung der erforderlichen allgemeinen Informationen bereitet Schwierigkeiten nicht nur wegen der begrenzten Möglichkeiten empirischer Tatsachenerhebung, sondern insbesondere wegen des Bedürfnisses nach prognostischen Hinweisen auf mögliche Zielsetzungen und die Tauglichkeit potentieller Mittel für deren Erreichung. Hierzu ist bereits i m Stadium der Gesetzesvorbereitung die Möglichkeit vorgesehen, die „beteiligten Fachkreise" heranzuziehen (§ 23 I I 17 Noll, Gesetzgebungslehre, S. 45; empirisch von Beyme, Interessengruppen, S. 87 ff. 18 Zum Problem der Informationsgewinnung durch interessierten Sachverstand Herzog, Staatslehre, S. 340 ff.; v. Arnim, Gemeinwohl, S. 138 f. m. w. N.

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GGO II). Schon während der exekutiven Aufbereitung von Problemen und Lösungsalternativen kommen so vor dem Parlament die potentiell Betroffenen zu Wort. Sie können durch interessierten Sachverstand auf die weiteren Beratungen i n u m so höherem Maße Einfluß nehmen, je spezialisierter die Materie und je monopolartiger ihre eigene Stellung bezüglich dieser Materie ist. Ähnliches gilt auch für die Information des Parlaments. I n Hearings und Enquetekommissionen sind die Betroffenen und sonstigen Beteiligten gleichfalls vertreten und können so ihren Sachverstand auch gegenüber den unmittelbar dem unmittelbar entscheidungsbefugten Organ zur Geltung bringen. Umgekehrt ermöglicht eine breite Auswahl an Beteiligten eine Vielzahl von Informationen und Einzelerkenntnissen, welche die Abgeordneten erst i n die Lage versetzen, sich zumindest ansatzweise eine eigene Auffassung bilden zu können. Das Prinzip der „Offenheit nach allen Seiten" gilt so für die Informationsgewinnung i n hohem Maße; die Vielzahl der Informierenden begründet so die Vielzahl der Informationen. Das Parlament w i r d so i n die Lage versetzt, eine möglichst hohe Zahl von Tatsachen und Prognosen i n seinen Entscheidungsprozeß einzubeziehen. Neben der Beratung zur Informationsgewinnung können auch andere Formen von Einflußnahme auf das Gesetzgebungsverfahren praktiziert werden. Hierzu zählt insbesondere die Darstellung von Wertungen und Ansichten, die sich noch wesentlich deutlicher als die Information als Interessenartikulation darstellt. Dies kann gegenüber der Exekutive durch „Beschaffung von Unterlagen" (§ 23 I I GGO II), den Empfang von Deputationen (§ 10 I I GOBReg) und gegenüber dem Bundestag i n Hearings geschehen (§ 73 I I GOBT). Darüber kommt i n bestimmten Einzelfällen den Verbandsvertretern ein eigenes Anhörungsrecht zu 1 9 . Neben diesen formalisierten Mitwirkungsrechten finden sich auch vielfältige Mechanismen informeller Einflußnahme auf einzelne Abgeordnete, größere Gruppen oder gar ganze Parteien, welche sich als Lobbyismus teils öffentlich, teils geheim vollziehen. Diese Einflüsse sind i m demokratischen Staat grundsätzlich Ausdruck der pluralistischen Verfassung des Gemeinwesens 20 und als solche keineswegs illegal. Die Offenheit des Gesetzgebungsverfahrens bezieht sich somit auf die Vermittlung von Informationen und Wertungen an alle mit der Vorbereitung und dem Erlaß von Normen befaßten Staatsorgane. Sie ermöglicht der Legislative, die Vielzahl der Tatsachen und Stellungnahmen kennenzulernen und i n den Entscheidungsprozeß einzubeziehen. Der ursprüngliche Problemimpuls kann so durchaus verändert werden, indem er i n einem neuen Zusammenhang erscheint und dadurch an Be19 Tarifvertragsparteien nach dem TVG; Beam tenverbände nach dem BBG; dazu grundlegend Schröder, Die Verbände in der Gesetzgebung, S. 54 ff. 20 Stern, Staatsrecht II, S. 616 f.

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deutung gewinnen oder verlieren kann. Das Parlament ist an den ursprünglichen Problemimpuls nicht gebunden; weder ist es gezwungen, überhaupt irgendwelche Entscheidungen zu treffen, noch ist es gehalten, jeweils konkrete Maßnahmen gerade ausschließlich als Reaktion auf ihn zu erlassen. Häufig w i r d die Norm, die am Schluß des Gesetzgebungsverfahrens stehen kann, Probleme, welche den Anlaß zur Einleitung des Verfahrens gegeben haben, nur peripher oder überhaupt nicht lösen. I m Verfahren disponiert das Parlament über den Gegenstand seiner Normsetzung weitgehend selbst. Offenheit des Verfahrens ermöglicht somit die möglichst umfassende Würdigung aller für das jeweilige Problem relevanten Tatsachen und Wertungen. Auch komplexe Sachverhalte mit einer Vielzahl Betroffener können so zumindest potentiell bewältigt werden. Neben dem freien Zugriffsrecht und der potentiellen Öffentlichkeit prägt diese Offenheit das Gesetzgebungsverfahren. 2. Die demokratische Legitimation der Gesetzgebung

Neben dem Verfahrensrecht als K r i t e r i u m der Herausarbeitung einer funktionellen Abgrenzung der Kompetenzbereiche von Legislative und Bundesverfassungsgericht kann auch die demokratische Legitimation beider Zweige der Staatsgewalt herangezogen werden. Dabei kann der Maßstab nicht lauten, ob das eine oder andere Staatsorgan demokratisch legitimiert ist oder nicht; vielmehr geht A r t . 20 I I 1 GG von einer solchen Legitimation aller Staatsgewalt unabhängig von dem Organ, welches sie ausübt, aus. Soll diese Vorschrift nicht bloßes Postulat bleiben, dem als rechtsfolgenlose Deklamation nur rhetorische Bedeutung zukommt, so sind diejenigen Mechanismen zu ergründen, welche jene Legitimation für die einzelnen Staatsorgane m i t rechtlicher Wirkung real werden lassen. Nicht entscheidend ist demnach, daß jeder Zweig der Staatsgewalt über eine demokratische Legitimation verfügt, sondern vielmehr, auf welche Weise diese tatsächlich vermittelt wird. Das Bedürfnis nach einer Kompetenzzuordnung von Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht nötigt dazu, speziell für diese beiden Staatsorgane jene Mechanismen darzustellen. Ein solches Unterfangen droht vielfach i m Ansatz bereits daran zu scheitern, daß die Demokratie als staatstheoretischer wie juristischer Begriff ungeklärt ist und jeder Versuch einer Aufhellung letztlich i m Dickicht politischer Frontstellungen steckenbleibt. Angesichts derart ungesicherter Grundlagen beschränkt sich der Blickwinkel zumeist auf die Legitimation, verstanden als generalisierte Bereitschaft, eine Entscheidung aus bestimmten Gründen zu akzeptieren 21 . Diese Légitima-

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tion w i r d von der demokratischer Legitimation des Art. 20 I I 1 GG ausdrücklich abgegrenzt. Jene Akzeptanz w i r d danach für die Gesetzgebung dadurch vermittelt, daß legislative Entscheidungen i m wesentlichen Ergebnis von Zweckmäßigkeitsüberlegungen sind, so daß die Norm ihre Legitimation letztlich aus ihrem politischen Zweck erfährt. Dagegen stellt sich die Gerichtsentscheidung als Produkt kunstgerechter Normbearbeitung, also als hermeneutische Tätigkeit, dar; sie erfährt demnach ihre Akzeptanz aus dem Gesetz 22 . Lassen sich schon auf diese Weise aus außerrechtlichen Erwägungen Unterschiede zwischen den Zweigen der Staatsgewalt feststellen, so bleibt die Aufgabe, ihre Besonderheiten auch insoweit auf der Grundlage des geltenden Rechts zu konkretisieren. Um sich hier nicht i n staatstheoretische oder politischen Aporien zu verfangen, ist das Kriterium aus denjenigen Rechtsnormen zu gewinnen, welche das Demokratieprinzip des Grundgesetzes konstituieren und konkretisieren. Unabhängig von vorrechtlichen Demokratiebegriffen soll so aus den Normen der positiven Verfassung ein Abgrenzungsversuch unternommen werden, indem die für Legislative und Bundesverfassungsgericht geltenden Besonderheiten i n ihrer jeweiligen rechtlichen Ausgestaltung verdeutlicht werden. Grundlage ist dabei für die Legislative A r t . 20 I I 1 i. V. m. Art. 20 I I 2 GG 2 3 . Geht gemäß A r t . 20 I I 1 GG alle Staatsgewalt vom Volke aus, so soll sie doch nicht durch alle Aktivbürger selbst, sondern durch „besondere Organe" ausgeübt werden. Demokratische Legitimation w i r d hier weder i n der Herrschaft „durch das Volk" noch „für das Volk" begründet. Das Grundgesetz geht — abgesehen von dem praktisch nicht auftretenden Fall der Volksabstimmung — davon aus, daß keine reale Identität zwischen Regierenden und Regierten besteht. Ein solches Postulat bliebe unter den Bedingungen des modernen Flächenstaates mehr denn je Fiktion und würde den Einzelnen zur Vermittlung vielfältiger Enttäuschungen führen. Vielmehr hat sich das Grundgesetz für die repräsentative Demokratie entschieden. Herrschaft „für das Volk" setzt die Existenz eines Gesamtinteresses voraus, dessen Bestimmung und Verwirklichung seinerseits Herrschaft darstellen würde, die selbst legitimationsbedürftig wäre. Stattdessen ist zentrales Anliegen der Verwirklichung des grundgesetzlichen Demokratiegebotes die verfahrensmäßige Rückführung staatlicher Herrschaft auf das Volk 24. Be21

Lühmann, Legitimation, S. 28; Ipsen, Richterrecht, S. 196 ff. m. w. N. Billing, Richterwahl, S. 42 ff.; Schuppert, Verfassungsgerichtliche Kontrolle, S. 117. 28 Zum folgenden Barsch, Die Gleichheit der Ungleichen, S. 133 ff. 24 BVerfGE 47, 253, 272. 22

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züglich der Mittel zu einer solchen Rückführung bestimmt A r t . 20 I I 2 GG, daß sie „ i n Wahlen und Abstimmungen" stattfinden soll. Diese Instrumente sollen zumindest die zentralen Mechanismen zur V e r w i r k lichung des verfassungsrechtlichen Demokratieprinzips sein. Deutlich w i r d somit, daß das Grundgesetz von einer Verschiedenheit von Regierenden und Regierten ausgeht; die Tatsache, daß i m Gemeinwesen nur wenige effektiv herrschen können, w i r d von i h m rezipiert und zur Grundlage einer Konzeption demokratischer Staatsgewalt gemacht 25 . Die Bestellung der Organwalter genügt zur Ausübung demokratischer Herrschaft noch nicht allein, vielmehr müssen diese auch i n der Lage sein, die ihnen anvertraute Herrschaft durch verbindliche Entscheidung auszuüben. Zentrales Mittel zur Herbeiführung politischer Entscheidungen ist nach dem Grundgesetz das Mehrheitsprinzip (Art. 42 II, 52 I I I , 54 VI, 63 I I - IV, 67 I GG) 2 6 . Als Antwort auf die tatsächliche Unmöglichkeit, alle Entscheidungen einstimmig treffen zu können, geht es realistisch von der Annahme aus, daß nicht nur i m gesamten Volk, sondern auch i n den entscheidenden Gremien unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Gestaltungsbedürfnisse und der jeweiligen A r t und Weise ihrer Befriedigung bestehen können. Da trotz solcher Meinungsverschiedenheiten vielfach Entscheidungen gefällt werden müssen, ist der Mechanismus ihrer Findung diesen praktischen Bedürfnissen angepaßt. Voraussetzung einer Mehrheitsentscheidung ist, daß aus der Vielfalt der Ansichten i m entscheidenden Gremium ein Konsens über den jeweiligen Entscheidungsgegenstand zumindest insoweit erzielt werden kann, daß eine Mehrheit sich für eine Alternative ausspricht. Akzeptiert das Mehrheitsprinzip somit die Anschauungspluralität als Verhandlungs- und Entscheidungsinput, so entsteht doch das Bedürfnis nach Abstimmung und Koordination zur Herstellung konkreter Mehrheiten. Jedes noch so atomistische Meinungsspektrum muß für den Abstimmungsbedarf wenigstens i n Einzelfragen zu einer übereinstimmenden Mehrheit organisiert werden, sofern ein Gesetz beschlossen werden soll. Dieser Prozeß ist elementare Voraussetzung legislativer Entscheidungstätigkeit. Das Mehrheitsprinzip setzt Mehrheitsbildung voraus. Diese w i r d i m Parteienstaat weitgehend durch die Parteien und Fraktionen sichergestellt 27 . 25

Zur Repräsentation allgemein: Überblick bei Manti, Repräsentation und Identität, S. 121 ff.; Rausch, Repräsentation, pass. 28 Dazu Scheuner, Das Mehrheitsprinzip, insbes. S. 45 ff.; Häberle, JZ 1977,

241 ff.; Varain,

ZfP 1964, 239 ff.; Scheuner,

FS W. Kägi, S. 301 ff.;

Kelsen,

Wesen und Wert, S. 53 ff. 27 BVerfGE 44, 125, 138 ff.; Häberle, JZ 1977, 361 ff.; zu Legitimität und Notwendigkeit der Opposition im demokratischen Staat H. P. Schneider, Opposition, S. 32 ff.

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Zur Ausübung demokratischer Herrschaft sind demnach zwei Prozesse notwendig: zunächst erfolgt die Bestellung der Organwalter, also der Abgeordneten i m Bundestag. Sodann erfolgt i m Parlament die Ausübung der Gesetzgebung nach den Regeln des Mehrheitsprinzips. Dieser Vorgang setzt umfangreiche Informations-, Kommunikations- und Vermittlungsprozesse voraus, die ihrerseits nicht ohne jede demokratische Legitimation bleiben dürfen 2 8 . Jeder dieser Prozesse bedarf somit seinerseits der demokratischen Legitimation. a) Wahl Zentraler Mechanismus zur Vermittlung demokratischer Legitimation für die Organwalter der Legislative ist die Wahl. Die Abgeordneten des Bundestages werden unmittelbar vom Volk gewählt (Art. 38 11 GG), die Bestellung der Abgeordneten ist somit auf das Volk rückführbar. Das Parlament darf nur gesetzgebend tätig werden, wenn und solange seine Mitglieder über eine vorher bestimmte, durch Wahl begründete Legitimation verfügen 2 0 . Die Wahl setzt tatsächlich eine — zumindest partielle — Verschiedenheit von Wählern und Gewählten voraus. I m Falle ihrer Identität wäre der Wahlgang nicht notwendig: wo Wähler und Gewählte sämtlich notwendig übereinstimmen, braucht keine Wahl stattzufinden. Geht die repräsentative Demokratie von einer Unterscheidung zwischen Regierenden und Regierten aus, so überbrückt die Wahl bezüglich der Rekrutierung der regierenden Personen verfahrensmäßig diesen Unterschied, indem sie zwischen der personellen Zusammensetzung der Wähler und der Gewählten einen Konnex herstellt. Die spezifisch demokratische Legitimation des Parlaments resultiert aus der Einseitigkeit des Wahlaktes. Das Volk als Gesamtheit der Wähler bestimmt die Personalauswahl der gesetzgebenden Gremien, diese hingegen nicht die — verfassungsrechtlich weitgehend vorgegebene — Summe der Aktivbürger. Die einseitige Kreation begründet die Rückführbarkeit der Abgeordneten auf das Gesamtvolk. Weitere Voraussetzung der Wahl als demokratischem Zurechnungsfaktor ist das tatsächliche wie rechtliche Vorhandensein von Entscheidungsalternativen für die Wähler 3 0 . Eine solche Alternative besteht grundsätzlich stets dann, wenn der Entscheidende zumindest ein zustimmendes oder ein ablehnendes Votum abgeben kann. Daran fehlt es i m Prozeß der Parlamentswahl weitgehend insofern, als die Wahl für jedermann die Möglichkeit bieten soll, bei der Bestellung 28

Stuby, DSt 1969, 316 ff.; Jarass, P o l i t i k u n d Bürokratie, S. 148 f.; Zimmer,

Funktion, S. 257. 29 BVerfGE 1, 14, 33; 44, 125, 138 f.; zu den Wahlen: Leibholz, Strukturprobleme, S. 19 ff.; Badura, AöR 1972, 1 ff. 30 Dazu Hesse, S. 61 f.

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der Organwalter mitzuwirken. Ein nur einen Kandidaten ablehnendes Votum ermöglicht dem Abstimmenden jedoch noch nicht, selbst auf die Zusammensetzung des Parlaments einzuwirken, da der lediglich Verneinende keinen Vertreter für das zu wählende Gremium benennen würde. Entscheidend ist bei der Parlamentswahl vielmehr, daß eine Auswahl unter verschiedenen Kandidaten stattfinden kann. Das bedingt die Kandidatur mehrerer Bewerber oder — bei Listenwahl — mehrerer Gruppierungen. Schließlich vermögen solche Wahlentscheidungen demokratische Legitimation nur zu verleihen, wenn sie frei sind 3 1 . Dies erfordert, daß auf die Abstimmenden kein Druck ausgeübt wird. I n dem Moment, i n dem der Kandidat oder sonstige Dritte wegen der Wahlentscheidung Sanktionen verhängen können, so daß ein — zumindest faktischer — Zwang zu einer bestimmten Stimmabgabe entsteht, ist die einseitige Kreation des Parlaments durch die Wähler aufgehoben. Die Freiheit der Wahl w i r d durch A r t . 38 11 GG garantiert und durch das Wahlgeheimnis geschützt. Die Wahl ist — neben der Abstimmung — gemäß A r t . 20 I I 2 GG der zentrale Mechanismus zur Herstellung demokratischer Legitimation. Da Abstimmungen faktisch nicht durchgeführt werden, sind ausschließlich die unmittelbar vom Volk gewählten Staatsorgane — Parlamente und Vertretungskörperschaften auf Kreis- und Kommunalebene — auf diese Weise legitimiert. Uber einen unmittelbaren, vom Volk herrührenden Auftrag zu gestaltendem Handeln verfügen nur sie 32 . b) Kontrolle Zwar sind i n A r t . 20 I I 2 GG als Mechanismen zur Vermittlung demokratischer Legitimation ausschließlich „Wahlen und Abstimmungen" genannt; das bedeutet jedoch noch nicht, daß durch den Wahlakt als Kreation der Organwalter der Legislative die Herstellung demokratischer Legitimation bereits erschöpft sei. Vielmehr w i r d der Kreationsvorgang insoweit durch die Kontrolle ergänzt 33 . Darunter ist hier nicht die Rechtskontrolle zu verstehen, sondern deren politisches Gegenstück. Die erstere findet statt, wenn eine Maßnahme am Maßstab einer Rechtsnorm auf ihre Vereinbarkeit m i t dieser überprüft w i r d ; die letztere umfaßt die Nachprüfung an jedem möglichen, auch außerrechtlichen Maßstab. Politische Kontrolle ist somit der weitere Begriff; er umfaßt die Überwachung auf der Grundlage aller denkbaren Wertungen und Kriterien, nicht nur derjenigen des Rechts 34 . 31

BVerfGE 44, 125, 139. Über einen unmittelbaren, vom Volk herrührenden Auftrag zu gestaltendem Handeln verfügen nur die gewählten Staatsorgane; BVerfGE 40, 237, 249. 33 Vgl. Kriele t VVDStRL 29, 52: Demokratie als „Rechtfertigung". 32

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Kontrolle setzt eine verantwortliche und eine kontrollierende Instanz, das Vorhandensein von Kontrollmitteln und von Sanktionsmöglichkeiten voraus. Politische Kontrolle, die durch das Parlament ausgeübt wird, w i r d zumeist als Interorgankontrolle gegenüber Exekutive oder Regierung verstanden 35 . Sie richtet sich demnach auf das Verhalten anderer Zweige der Staatsgewalt: diese treten ausschließlich als kontrollierte, das Parlament hingegen ausschließlich als kontrollierte Instanz auf. Damit erschöpft sich jedoch die parlamentarisch ausübbare Kontrolle nicht. Ist neben die funktionelle, verfahrensmäßige und organisatorische Gegenüberstellung von Parlament und Regierung verstärkt der Gegensatz zwischen Mehrheits- und Minderheitsparteien innerhalb des Parlaments selbst getreten, so erhalten Kontrollbedürfnis und Kontrollmechanismen eine zusätzliche Dimension. Das Kontrollrecht ist nicht nur zu einem primär von der Opposition ausgeübten Recht geworden, gewandelt hat sich auch der Adressat der Kontrolle 3 6 . Nicht mehr ausschließlich Regierung und Exekutive, sondern daneben auch die jeweilige parlamentarische Mehrheit ist zum Kontrollierten geworden. Dieser A r t von Intraorgankontrolle kommt gerade i m Gesetzgebungsverfahren besondere Bedeutung zu, da die Gesetze vom Parlament mehrheitlich beschlossen werden und somit Beschlußverfahren und beschlossene Norm i m Ergebnis den gesetzgebenden Gremium zugerechnet werden. Unabhängig von aller möglichen Vorbereitung der Gesetze durch die Exekutive sind es die Abgeordneten, die sie letztlich verbindlich machen. Politische Kontrolle der Gesetzgebung findet somit i m Verhältnis zwischen „Regierungs-" und Oppositionsparteien statt. Neben der kontrollierenden und der verantwortlichen Instanz setzt die Kontrolle das Vorhandensein von Kontrollmitteln voraus. Hier garantiert die parlamentarische Befassungs- und Beschlußpflicht gegenüber Gesetzen (Art. 77 11 GG), daß alle als förmliches Gesetz zu beschließenden Normen dem Bundestag zur Beratung vorgelegt werden. Ist ein Entwurf eingebracht, so ist das primäre Kontrollmittel die parlamentarische Verhandlung, also die unmittelbare und mündliche Beratung des Vorschlags. Zur Effektivierung des Beratungsrechts stehen dem Bundestag das Informations-, Zitier- und Fragerecht zur Verfügung, die es i h m ermöglichen, relevante Informationen vor das Forum der Abgeordneten zu bringen und dadurch eigene Sachkunde zu erwerben, u m so den Entwurf nicht nur unter allgemein-politischen, sondern auch unter seinen spezifischen Voraussetzungen und Konsequenzen würdigen zu können 3 7 . 34

Dazu grundlegend Leibholz, Strukturprobleme, S. 195 ff.; zum folgenden Scheuner, FS G. Müller, S. 379 ff. 35 Dazu Eichenberger, FS H. Huber, S. 109 ff.; Begriffsbestimmungen bei Gerlich, Parlamentarische Kontrolle, S. 4 ff. 36 Scheuner, FS G. Müller, S. 397 f.

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Eine solche Kontrolle vermag der Maßnahme, auf die sie sich bezieht, demokratische Legitimation zu vermitteln. Der Grund dafür liegt darin, daß die parlamentarische Kontrolle nicht ausschließlich das Zugangsrecht der Abgeordneten insgesamt oder der Opposition zu den Zielen und Hintergründen der jeweiligen Vorschläge oder Anträge darstellt, sondern darüber hinaus durch die Einbringung des Problems i n das Parlament dessen potentielle Öffentlichkeit für die Allgemeinheit hergestellt wird. Damit erhält das Volk als Gesamtheit der Aktivbürger gleichfalls die Möglichkeit der Information, der Meinungsbildung und -äußerung und damit der Überwachung der Beschlußvorlagen und Gesetzesanträge. Der Kreis der Kontrollierenden vermag sich somit zu erweitern: nicht nur die parlamentarische Opposition, sondern auch die Bürger sind i n die Nachprüfung einbezogen. Vielfach dient die Einbringung oder Diskussion einzelner Materien i m Parlament durch die Opposition gerade dazu, die Gesamtöffentlichkeit in den Prozeß der Meinungsbildung einzubeziehen und so auch außerparlamentarische Meinungsbildungs- und Reaktionsmechanismen i n Gang zu setzen. W i r d so der Prozeß der Entscheidung öffentlich, vom Volk diskutierbar und kontrollierbar, so erhält der Beschluß eine demokratische Legitimation. Diese bezieht sich nicht lediglich auf die Bestellung der Organwalter allgemein, sondern speziell auf einzelne Gesetzgebungsvorhaben. Das bedeutet nicht, daß über jedes Detail eine öffentliche Diskussion und Meinungsbildung i n der gesamten Bevölkerung stattfinden muß, vielmehr genügt die öffentliche Kontrollierbarkeit. Gerade zu deren Herstellung ist das Parlament wie kein anderes Staatsorgan geeignet. Wegen seines freien Zugriffsrechts auf alle Materien i m Gesetzgebungsverfahren ist es dasjenige Organ, welches ohne spezifische rechtliche Voraussetzungen, ein besonderes Bedürfnis oder Veranlassung durch Dritte, Vorgänge i m staatlichen Bereich öffentlich und damit für den Bürger kontrollierbar machen kann. Freie Herstellung von Öffentlichkeit ist das Spezifikum des parlamentarischen Verfahrens gegenüber anderen staatlichen Stellen, das Parlament w i r d so zum latenten Forum des Öffentlichen im Staat. Aus dieser Bedeutung politischer Kontrolle beantwortet sich die Frage nach den jeweiligen Sanktionsmechanismen. Sie ist für die jeweils Kontrollierenden unterschiedlich zu erörtern. Das Parlament hat die Möglichkeit, Mißbilligung auszusprechen, ein Mißtrauensvotum einzubringen (Art. 67 GG) oder auf Antrag der Bundesregierung das Vertrauen zu verweigern (Art. 68 I GG). Diese Instrumente sind für die 37 Zu den Instrumenten Gerlich, Parlamentarische Kontrolle, S. 55 ff.; zu der dadurch begründeten demokratischen Verantwortung: Scheuner, FS G. Müller, S. 382; s. auch BVerfGE 18, 151, 154; 44, 125, 139; Herzog in MDHS, Art. 20, Rn. 70.

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Opposition als Minderheit wenig effektiv. Anders hingegen sind die Sanktionsmöglichkeiten der Bürger. Sie können nicht nur über den Prozeß außerparlamentarischer Meinungsäußerung und Willensbildung durch die öffentliche Meinung versuchen, auf die Abgeordneten einzuwirken, sondern insbesondere als wirksamstes Kontrollinstrument die — jeweils nächste — Wahlentscheidung fällen. Rechtlich ist die Wahl die Bestellung der Organwalter für eine begrenzte Zukunft, politisch jedoch zugleich eine Urteilsbildung über die bisherigen Amtsinhaber. So w i r k t die nächste Wahl als Sanktionsmechanismus vor. Erst dadurch begründet sich die Periodizität der Wahl. So stehen Kreation und Kontrolle i n einem unlösbaren Zusammenhang. Kontrolle durch das Parlament bedeutet somit Herstellung von Transparenz staatlicher Entscheidungen und damit zugleich Kontrollierbarkeit durch das Staatsvolk. Hierdurch können Gesetzesvorhaben i n den Prozeß der Willensbildung der Bürger eingebracht werden; sie werden dadurch demokratisch legitimiert. c) Freie

Revisibilität

Durch die periodische Wahl w i r d zwar Kontrolle durch eine mögliche Auswechslung von Abgeordneten ermöglicht; die von deren Vorgängern erlassenen Gesetze werden dadurch jedoch noch nicht tangiert. Sie haben m i t ihrem Inkrafttreten eigenständige Geltung erlangt, welche von der konkreten Zusammensetzung des Bundestages unabhängig ist. Ist demokratische Legitimation nicht nur Legitimation der Herrschenden, sondern der Herrschaft selbst, so muß zu jener Kontrolle noch eine weitere Dimension hinzutreten: die freie Möglichkeit der Aufhebung oder Abänderung von Maßnahmen des Parlaments der vergangenen Legislaturperiode. Erst diese Revisibilität führt die Gesetzgebung an die demokratische Mehrheitsherrschaft m i t der Möglichkeit alternativer Mehrheitsbildung heran. Besteht die Kontrolle der Legislative durch den Bürger neben der Artikulation der öffentlichen Meinung primär i n der Möglichkeit der Auswechslung des Herrschaftspersonals durch Wahl, so kann sich dieser Wechsel auf konkrete Gesetzgebungsakte nur dadurch auswirken, daß die bisherigen Gesetze dem Zugriff des neuen Parlaments offenstehen. Erst dadurch w i r d die Möglichkeit demokratischer Konkurrenz von einer Personalalternative zur Programm» und Gestaltungsalternative 88 . Voraussetzung dafür ist, daß das Parlament jederzeit auf das bestehende Recht zugreifen und seinerseits neue Normen setzen kann 3 9 . 88 Häberle in Friedrich, Verfassung, S. 451, zur Alternativität in der Demokratie. 89 Ipsen> Richterrecht, S. 146.

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Grundsätzlich kann ein erlassenes Gesetz zu jedem Zeitpunkt aufgehoben oder geändert werden. Eine Selbstbindung des parlamentarischen Gesetzgebers existiert nach dem Grundgesetz insoweit nicht; vielmehr ist ein erheblicher Teil der Rechtsetzung i n der Realität Rechtsänderung 40 . Problemimpuls ist das Empfinden der Mangelhaftigkeit des alten Rechts am Maßstab der Wertungen der neuen Mehrheit. Wesentlich ist für die Einleitung des Aufhebungs- oder Änderungsverfahrens das freie Zugriffsrecht des Parlaments. Es ermöglicht, daß das überkommene Recht jederzeit durch neue Normen, welche den Bedingungen der gewandelten Mehrheitsverhältnisse entsprechen, ersetzt werden kann. Zwar ist der Gesetzgebungsprozeß nicht auf kurzfristigen Wandel, sondern auf ein Mindestmaß an Kontinuität angelegt; dem entspricht jedoch bereits die Tatsache, daß die bisherigen Gesetze mit der Wahl nicht eo ipso außer Kraft treten, sondern das Parlament nach einer Neuwahl ein Zugriffsrecht, aber keine Zugriffspflicht auf die Materie hat. Wandel der Normsetzung ist eine Möglichkeit, nicht jedoch zwingende Notwendigkeit der Kontrolle durch Kreation und Revisibilität. Revisibilität früherer Gesetze ergänzt demnach die Elemente von Wahl und Kontrolle als weiteren vom Grundgesetz rezipierten Mechanismus der demokratischen Legitimation. Nicht eines dieser Elemente allein, erst alle gemeinsam legitimieren nicht nur das Herrschaftspersonal, sondern auch die von i h m ausgeübte Herrschaft i m Einzelfall. Legitimation ergibt sich so aus dem zeitbedingten und zeitgebundenen Auftrag an das Parlament i m demokratischen Wandel durch Mehrheitsentscheidung der Aktivbürger, ergänzt durch öffentliche Meinungsbildung und Diskussion. Wesentlich ist dabei, daß die demokratische Alternative einer Personal- und Programmkonkurrenz als Möglichkeit besteht, die vom Bürger wahrgenommen werden kann. Demokratische Legitimation der parlamentarischen Legislative ist die Möglichkeit zur freien Wahl, freien Kontrolle und freien Änderung bestehenden Rechts. 3. Besonderheiteil der Verfassungsbindung der Gesetzgebung

Gemäß A r t . 1 I I I , 20 I I I GG ist die Gesetzgebung an das Grundgesetz als „verfassungsmäßige Ordnung" gebunden. Bei der Konkretisierung dieser Bindung sind die Besonderheiten der Verfassung ebenso wie diejenigen der Gesetzgebung zu berücksichtigen. Das Grundgesetz ist geprägt durch seine Eigenschaft als lückenhafte Rahmenordnung, die nicht jedes Detail selbst entscheidet und auch nicht entscheiden w i l l . Die Gesetzgebung hat vielfältige, differenzierte Sachverhalte normativ zu bewältigen. Das gilt u m so mehr, je genereller der Adressatenkreis und 40

Noll, Gesetzgebungslehre, S. 77.

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je abstrakter die jeweiligen Tatbestandsmerkmale sind. Eine funktionelle Zuordnung der Kompetenzen von Legislative und Bundesverfassungsgericht hat diese, durch die Aufgabenstellung des Gesetzgebers bedingten Eigenarten zu berücksichtigen: Die Abgrenzung muß sich daran orientieren, daß das Verfassungsrecht dem jeweiligen Staatsorgan die Erfüllung seiner Aufgaben ermöglichen und sie nicht verhindern w i l l . a) Abstrakt-genereller

Charakter der Gesetze

Charakteristikum der Gesetze ist — gerade i n Abgrenzung zu Gerichtsentscheidungen — ihre abstrakt-generelle Wirkung. Sie gelten regelmäßig, wenn auch nicht notwendig, für eine a priori unbestimmte Zahl von Sachverhalten und Personen. Die tatsächliche Effektivität solcher Normen ist an zwei Voraussetzungen geknüpft 4 1 . Die erste Prämisse besteht darin, daß der Staat i m Hinblick auf die Erfüllung seiner Aufgaben einer verhältnismäßig einfach strukturierten Umwelt gegenübersteht. I n ihr muß die Komplexität auf ein geringes Maß reduziert sein, so daß sie auf eine überschaubare Zahl allgemein gültiger Tatbestände begrenzt bleibt. Erst unter dieser Bedingung ist das abstraktgenerelle Gesetz überhaupt denkbar. Daneben müssen in dieser Umwelt weitgehend konstante Verhältnisse herrschen. Der für den Einsatz einseitig-hoheitlicher Machtmittel erforderliche Verfahrens- und Vollzugsaufwand kann rentabel und ohne Autoritätsverlust nur dann erbracht werden, wenn er zu dauerhaften und tendenziell unverbrüchlichen Regelungen führt. Andernfalls ist das Gesetzgebungsverfahren für problemadäquate Regelungen zu schwerfällig. Diese Voraussetzungen existieren i n der Realität jedoch nicht i n allen Sachbereichen, i n denen gesetzliche Normierungen als „wesentliche" Regelungen existieren oder geboten sind. Die Dynamik des technisch-ökonomischen Wandels bew i r k t ein höheres Innovationstempo, das — soll es der staatlichen Regelungs- und Gestaltungsaufgabe nicht davoneilen — adäquate Steuerungs- und Reaktionsinstrumente bedingt. Dabei übersteigt die Komplexität vielfältiger Materien, welche des staatlichen Zugriffs bedürfen und i h m auch tatsächlich unterliegen, die Normierbarkeit i n einfachen Tatbeständen vielfach. Der Grund dafür ist einerseits eine Steigerung der Komplexität vieler Bereiche i n Gemeinwesen, andererseits der Zugriff des Gesetzgebers auf immer weitere, komplexere Probleme. Hierzu zählen etwa die Steuerung des Wirtschaftsgeschehens ebenso wie die Übernahme der sozialstaatlichen Verteilungskompetenz durch den Staat. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Erfüllung der Staatsaufgaben: Der Staat muß m i t der Komplexität der Umwelt rechnen, er 41 Ε. H. Ritter, AöR 1979, 389, 390 f.; zum folgenden Jermann in Eichenberger, Rechtsetzung, S. 189 ff.

8 Gusy

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muß ihr differenzierte Reaktionsmechanismen entgegensetzen. Eine Verfassung, die einen Staat nicht nur organisieren, sondern zugleich m i t tauglichen Vorkehrungen zur Erlangung tatsächlicher Handlungsfähigkeit ausstatten w i l l , kann diese Phänomene nicht ignorieren. Bezüglich der inhaltlichen Ausgestaltung von Gesetzen hat das Bundesverfassungsgericht anerkannt, daß sich die grundgesetzlichen Anforderungen an die Ausgestaltung von Tatbestand und Rechtsfolgeanordnungen zumindest auch an den jeweils zu regelnden „Lebensverhältnissen" orientieren. Das gilt insbesondere, wenn das „Wirtschafts- und Sozialgefüge der Bundesrepublik" i m Einzelfall „schwer zu bewältigende Aufgaben stellt" oder „Veränderungen der Wirtschaftslage, Ziele und Maßnahmen der Entwicklungshilfe und die auswärtigen Beziehungen" ein flexibles Handeln der Behörden verlangen 4 2 . Deutlich zeigen sich hier beide Aspekte der gewandelten Aufgaben staatlicher Sozialgestaltung: die zunehmende Komplexität ihrer Aufgaben und die i m Zeitablauf erforderliche Flexibilität der Regelungsinstrumente. Das bedeutet nicht, daß das Verfassungsrecht der Realität pauschal untergeordnet werden soll 4 3 , es zeigt vielmehr das Bestreben des Grundgesetzes, den Staat auch angesichts seiner sich wandelnden Herausforderungen mit einem praktikablen Gestaltungs- und Ordnungsinstrumentar i u m auszurüsten. Ein i n der dynamischen Realität weitgehend handlungsunfähiger Staat nützt den verfassungsrechtlichen Anforderungen und Zielsetzungen für Staatsorganisation und Staatshandeln nicht. Das Grundgesetz kann daher nicht höhere Voraussetzungen an die Rechtmäßigkeit von Gesetzen knüpfen, als die Realität, i n der sie wirken sollen, zuläßt. Um den tatsächlichen Bedürfnissen zu entsprechen, kann die Legislative entweder Kataloge von je speziellen Einzeltatbeständen zur Regelung komplexer Sachverhalte erlassen oder aber allgemeine auslegungs- und ausfüllungsbedürftige Tatbestände schaffen, welche den anderen Staatsorganen zur Konkretisierung übertragen werden. Die Vorteile der Schaffung möglichst eindeutiger Spezialtatbestände liegen i n ihrer größeren Bestimmtheit und Berechenbarkeit. Die gesetzesausführenden Instanzen können ebenso wie die Betroffenen selbst weitgehend erkennen, unter welchen Voraussetzungen sie welchen Rechtsfolgen konfrontiert werden. Vorhersehbarkeit, Überschaubarkeit und Vertrauensbildung werden so begünstigt. Ihre Nachteile liegen i n der geringeren Flexibilität solcher Tatbestände. Die Organe der Legislative vermögen i n der Realität kaum alle Fallgruppen, welche das Gesetz erfas42 BVerfGE 49, 168, 181 f.; Überblick über die frühe Rechtsprechung bei Geitmann, Bundesverfassungsgericht und offene Normen, S. 136 ff. 43 Bedenklich aber BVerfGE 49, 168, 181 f.

I I . Die Stellung der Legislative nach dem Grundgesetz

115

sen soll und erfaßt, zuverlässig vorauszusehen. Selbst wenn sie dazu i n der Lage wären, sind doch Wandlungen der Realität nicht zuverlässig vorherzubestimmen, so daß viele Fallgruppen i n der Zeit nicht mehr diejenigen Fälle erfassen, bezüglich derer das Regelungsbedürfnis bestand. I n diesem Fall treten Gesetzeswortlaut und Gesetzeszweck auseinander. W i l l man hier nicht die realitätsbedingten Anpassungen anderen Instanzen i m Wege der „Auslegung" überlassen 44 , so entsteht das Bedürfnis nach fortlaufender Gesetzesänderung zur Heranführung der Tatbestandsmerkmale an den Regelungszweck. Dieses stößt an die Grenzen sowohl der Schwerfälligkeit des legislativen Verfahrens als auch der Überlastung des Parlaments. Daraus entsteht das Bedürfnis nach größerer Weite der verwandten Begriffe, etwa durch Typisierung 4 5 . Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe sind weitaus geeigneter, ihren Regelungszweck angesichts wandelbarer Verhältnisse flexibel zu erfüllen. Die Offenheit solcher Tatbestände vermag die Realität wesentlich zeitnäher einzufassen, als es der überlastete Gesetzgeber i n ständiger Änderung von Einzelnormen vermöchte. Allerdings mindert diese Regelungstechnik Bestimmtheit, Vorhersehbarkeit und Normvertrauen. Sie verweist vielmehr für den Einzelfall auf die Arbeitsteilung zwischen Legislative und Exekutive: der Erlaß wesentlicher Regeln obliegt dem Gesetzgeber, die Konkretisierungskompetenz i m Detail fällt der Verwaltung zu. Ein solches Vorgehen entspricht auch den verfahrensrechtlichen Vorgaben der Legislative, welche eine gewisse Normkontinuität voraussetzen 46 . Es w i r d somit den realen Anforderungen wie den rechtlichen Regelungen des Gesetzgebungsverfahrens gerecht, ohne daß Verwaltung, Rechtsprechung und Bürger von der Bindung an das Gesetz und den Willen des Gesetzgebers freigestellt werden. Verfassungsrechtlich zulässig sind beide Möglichkeiten der Regelungstechnik. Das Grundgesetz eröffnet dadurch dem einfachen Gesetzgeber die Möglichkeit, sein Instrumentarium sachbezogen zu wählen und zu gestalten. Der Realitätsbezogenheit der Verfassung korrespondiert hier ihre Offenheit; beide prägen die Verfassungsbindung speziell der Legislative. b) Informationsdefizite

des Parlaments

Das Bedürfnis nach weit gefaßten Gesetzesbegriffen unterwirft a priori kaum überschaubare Sachverhalte potentiell dem jeweiligen Tatbestand. Dabei birgt die Weite der unbestimmten Rechtsbegriffe die Gefahr, daß i m Prozeß der Norminterpretation und -anwendung die text44

Dagegen Ipsen, Richterrecht, S. 90 ff., 235 ff. « Dazu Zippelius, FS Engisch, 224 ff. 46 Ipsen, Richterrecht, S. 146. *

116 3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

orientierte Auslegung sich vom Regelungszweck entfernt. Daraus entsteht für die Legislative das Bedürfnis, die Terminologie von Gesetzentwürfen problem- und zweckorientiert zu gestalten. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn der Normzweck dem jeweiligen Problemimpuls und der Text diesem Ziel möglichst angenähert sind. Voraussetzung einer solchen Problemnähe von Sinn und Text ist die exakte Information der gesetzgebenden Organe über die konkreten Regelungsbedürfnisse und die je adäquaten Reaktionen. Wesentliche Bedingung für den Erfolg einer gesetzlichen Gestaltung ist somit die Informationslage des Parlaments 47 . Einer umfassenden Information des Parlaments stehen erhebliche praktische Schwierigkeiten entgegen. Sie resultieren aus der Tatsache, daß Gesetzgebung stets auf die Gestaltung des Gemeinwesens für die Zukunft gerichtet ist. Die Legislative soll zentral nicht vergangene Sachverhalte nachträglich korrigieren, sondern zukünftigen Gestaltungsdefiziten entgegenwirken. Als Problem stellt sich dabei, welche Anforderungen i n der Zukunft entstehen können und welche Reaktionen ihnen jeweils adäquat sind. Dazu ist die dynamische Wandelbarkeit der Verhältnisse zugrunde zu legen, ein statisches Fortschreiben von Daten aus der Vergangenheit verbietet sich ebenso wie eine pauschale Extrapolation von Lösungsmechanismen aus der Vergangenheit i n die Zukunft. Der Erhebung der notwendigen Daten steht dabei die Tatsache entgegen, daß sich die zukünftigen Verhältnisse nur i n sehr eingeschränktem Maße vorherbestimmen lassen 48 : die Zukunft ist prinzipiell unbeobachtbar. Je nach der Anzahl der jeweils involvierten Variablen nimmt die Wahrscheinlichkeit des Zutreffens einer Voraussage ab; sind umgekehrt vielfältige „allgemein gültige Gesetze" einschlägig, steigt die Wahrscheinlichkeit des Prognoseerfolges. Prognosen sind i m Zeitpunkt ihrer Erstellung niemals verbindlich sicherbar; der E i n t r i t t des prognostizierten Ereignisses ist nur „wahrscheinlich" oder „unwahrscheinlich". T r i t t das vorhergesagte Ereignis nicht ein, so ist dadurch die Prognose keineswegs widerlegt. Diese reale Schwierigkeit stellt sich allen am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten. Dabei ist zu berücksichtigen, daß jeder Beteiligte desto weniger exakt prognostizieren kann, je früher er auf den Prozeß der Normvorbereitung und -Verabschiedung Einfluß nimmt. Neben diesen tatsächlichen Problemen stößt die Information des Parlaments auch auf rechtliche Hindernisse 49. Das Grundgesetz hat die 47 Dazu Egloff, Die Informationslage des Parlaments, 1974; Lutterbeck, Parlament und Information, 1977, S. 60 ff.; zum folgenden Würtenberger, Planung, S. 304 ff. 48 Philippi, Tatsachenfeststellungen, S. 124 ff.; optimistischer Noll, Gesetzgebungslehre, S. 121 ff. 49 Dazu Schneider, AöR 1980, 24 ff.

I I . Die Stellung der Legislative nach dem Grundgesetz

117

gesetzgebenden Organe nicht mit eigenen Mitteln zur Erhebung von Daten versehen, vielmehr ressortieren die dafür geeigneten und zuständigen Stellen bei der Exekutive, insbesondere i n den Ministerien. Hier w i r d systematisch Spezialwissen angesammelt und verarbeitet, welches der Regierung und ihren Stäben bei der Gesetzesvorbereitung zur Verfügung steht. Hingegen besitzen die Abgeordneten nur geringe eigene Nachforschungskapazitäten, sie sind weitgehend auf Zufallserkenntnisse angewiesen. Gleiches gilt für die parlamentarischen Gremien. Weder Ausschüsse noch Fraktionen noch das Parlament als Ganzes kann auch nur annähernd auf solche Speicherungs- und Verarbeitungskapazitäten zurückgreifen, wie sie der Regierung ständig zur Verfügung stehen. Vielmehr verweist das Grundgesetz die Abgeordneten bei der Beschaffung von Daten weitgehend auf die Regierung als Informationsquelle. Zitier- und Fragerechte sind primär Mittel zur Informationsbeschaffung. Inwieweit dem Fragerecht ein Antwortanspruch korrespondiert, ist umstritten 5 0 . Als Mittel zur Datenerhebung ist das Fragerecht allerdings nur bedingt geeignet. Tatsächliche Voraussetzung seiner Ausübung ist die Kenntnis der Abgeordneten, wonach sie fragen können und sollen. Die Ausübung des Fragerechts setzt so bereits ein Mindestmaß an Sachkenntnis i m Parlament voraus. Zudem fehlt dem Bundestag jede Möglichkeit, die Richtigkeit von Antworten der Regierung zu prüfen. Als eigene Mittel zur Informationsgewinnung bleiben dem Parlament so nur die Möglichkeiten, Untersuchungsausschüsse zu bilden oder Enquetekommissionen einzusetzen oder aber eigene Hearings zu veranstalten. Diese können Daten aus dem Regierungsbereich wie aus sonstigen Quellen erlangen und sind zudem zu eigenständiger Nachforschung und eigener Ergebniskontrolle befugt und i n der Lage. Zumindest das Mittel des Untersuchungsausschusses ist jedoch schwerfällig, da es nur punktuell zur Untersuchung bestimmter Gegenstände vorgesehen ist. Es bedarf daher der Kenntnis von Mißständen, welche eine Untersuchung erfordern; ferner eines Einsetzungsbeschlusses und sodann eines zeit- und arbeitsintensiven Verfahrens, welches die Abgeordneten nur i n begrenztem Maße leisten können 5 1 . Als flexibles Informationsinstrument sind sie so wenig geeignet. Für die Vorbereitung von Gesetzen kommt daher den Untersuchungsausschüssen weder rechtliche noch praktische Bedeutung zu; hier ist ein Hearing oder eine Enquetekommission sachgerechter. Auch sie sind jedoch vergleichsweise zeitaufwendig. Kurzfristig kann das Parlament Informationen somit fast ausschließlich von der Regierung erlangen, sofern es nicht auf Zufallskenntnisse angewie50 51

BVerfG, NJW 1984, 2272 f.; Linck, DöV 1983, 957 ff. Anders Art. 45 a I I GG; zu den Mängeln der Untersuchungsausschüsse:

Partsch, 45. DJT I, S. 189 ff.; Ehmke ebd. I I , E 7 ff.; Heinemann

ebd., E 53 ff.

118 3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

sen bleiben w i l l . Die eigenen Mittel zur Datenbeschaffung sind demgegenüber wesentlich schwerfälliger. Das Parlament weist somit bei der Wahrnehmung seiner Gestaltungsaufgaben aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen erhebliche Informationsdefizite auf. Dieser Mangel w i r d durch die unterschiedliche Organisation von Legislative und Exekutive noch verstärkt. Die Ministerien sind selbst spezialisiert und intern wiederum organisatorisch wie personell differenziert. Dadurch werden auch einzelne Teilbereiche der jeweiligen Materien von je zuständigen Beamten beobachtet und ausgewertet; Detailkenntnis, Sonderwissen und Spezialistentum sind so die Konsequenz dieser Organisationsform. Demgegenüber entscheidet das Parlament als Ganzes über Gesetze unabhängig davon, ob i n ihnen allgemein-politische Wertungen zum Ausdruck kommen oder aber kaum überschaubare Einzelfragen geregelt werden. Je komplexer die Materie und j e differenzierter das Regelungsinstrumentarium der jeweiligen Gesetze ist, desto geringer ist die Kenntnis der entscheidenden Parlamentarier von den zugrunde liegenden Problemen und den jeweiligen Steuerungsbedürfnissen. Während die Exekutive spezialisiert w i r k t , arbeitet der Abgeordnete generalisiert auf vielen Gebieten. Dadurch fehlt i h m notwendig die Detailkenntnis; er ist auf Informationen von Dritten, Alltagshypothesen und laienhafte Wertungen angewiesen 52 . Die Informationsmöglichkeiten und der Informationsstand der entscheidenden Abgeordneten ist damit regelmäßig gering. Das gilt u m so mehr, je spezialisierter die Materie ist und je größer der Anteil der Variablen für die Prognose anzusetzen bleibt. Das Grundgesetz weist auf diese geringe Sachkenntnis des Parlaments hin; es enthält seinerseits kaum Vorkehrungen für die Beseitigung dieses Zustandes. Grundsätzlich geht es damit davon aus, daß der Gesetzgeber i m Verhältnis zu den von i h m wahrgenommenen Aufgaben das am wenigsten informierte Staatsorgan darstellt 5 3 . Diese Tatsache kann nicht ohne Auswirkungen auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Wissen und die Prognosemöglichkeiten des Gesetzgebers bleiben. Wenn nur geringe Kenntnisse vorhanden sind und zu ihrer Verbesserung nichts geschieht, kann keine optimale Problemlösung erwartet werden. Vielmehr müssen die Anforderungen an den spezifischen Aufklärungsmitteln des Parlaments orientiert sein. 52 Das gilt nur unter der Voraussetzung nicht, daß er zufällig über Sonderwissen verfügt. Dieses steht jedoch nur ihm und nicht der Mehrheit oder allen Mitgliedern des Parlaments zur Verfügung; es kann ihnen wegen der begrenzten Aufmerksamkeit und Aufnahmemöglichkeit des Einzelnen auch nicht unbeschränkt vermittelt werden. 53 Vergleichend zum Bundesverfassungsgericht: Philippi, Tatsachenfeststellungen, S. 162 ff.

I I I . Das Bundesverfassungsgericht nach dem Grundgesetz

119

Die Besonderheiten der Verfassungsbindung des Gesetzgebers werden insgesamt geprägt durch den typischerweise abstrakt-generellen Charakter von Gesetzen und dem daraus resultierenden Bedürfnis nach Schematisierung und Typisierung sowie die limitierten Informationsund Entscheidungsmöglichkeiten des Parlaments und seine daraus resultierende beschränkte Sachkenntnis.

I I I . Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts nach dem Grundgesetz Über Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichtes enthält das Grundgesetz gleichfalls eine Vielzahl von Vorschriften. Grundlage ist dabei die systematische Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit i n den Komplex der Regelungen über die Organisation der Ausübung von Staatsgewalt. Ausgehend von deren Erörterung sollen die Handlungskompetenzen des Gerichts auf ihre Eigenarten befragt werden, u m sodann die Legitimation seiner Entscheidungen i m demokratischen Staat zu erörtern. Verfassungsgerichtliche Normenkontrolle überprüft die Vereinbarkeit von Gesetzen m i t dem Grundgesetz. Sie setzt das Bestehen einer Norm voraus. I m Verfahren ist die entscheidende Instanz ausschließlich an die Verfassung gebunden; Normenkontrolle ist Entscheidung über die Geltung der Verfassung gegenüber konkreten einfachen Gesetzen. Sind Entscheidungsmaßstab und Entscheidungsobjekt vorgegeben, so ist die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle als Kontrollkompetenz ausgestaltet 1 . Das Grundgesetz trennt so die gesetzgeberische Gestaltungsvon der gerichtlichen Kontrollzuständigkeit. Setzt Kontrolle stets die Existenz eines verantwortlichen Organs voraus 2 , so ist die Übernahme der Funktion des kontrollierten Organs durch das Kontrollorgan unzulässig 3. 1. Das Bundesverfassungsgericht als Gericht

Verfassungsgerichtsbarkeit ist „jedes gerichtliche Verfahren, das die Einhaltung der Verfassung unmittelbar gewährleisten soll" 4 . Diese aus Gründen und mit dem Ziel der internationalen Vergleichbarkeit formulierte Definition setzt voraus, daß durch Verfassungsgerichte allge1 Eichenberger, S. 163. 2 s. ο. I I 2 b). 3

4

Wittig,

Richterliche Unabhängigkeit, S. 96; Schuppert, Kontrolle,

DSt 1969, 146; Schuppert, Kontrolle, S. 165.

Mosler, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart, S. X I I .

120 3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

mein wie besonders nach dem Grundgesetz „Rechtsprechung" ausgeübt w i r d 5 . Indiz hierfür ist die Einordnung der Vorschriften über das Bundesverfassungsgericht i n den I X . Abschnitt des Grundgesetzes über „Die Rechtsprechung". Nach A r t . 92 GG w i r d „durch das Bundesverfassungsgericht" und durch andere, näher bezeichnete Instanzen „die rechtsprechende Gewalt" ausgeübt. Erscheint diese Zuordnung eindeutig, so enthält sie doch n u r einen geringen Aussagewert über Funktionen u n d Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts. Vielmehr sind die K r i t e rien zu bestimmen, aus denen sich die Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit des Grundgesetzes als Rechtsprechung ergibt. Rechtsprechung ist „ i n ihrer G r u n d t y p i k charakterisiert durch die Aufgabe autoritativer u n d damit verbindlicher, verselbständigter Entscheidung i n Fällen bestrittenen oder verletzten Rechts i n einem besonderen Verfahren" 6 . Diese Definition kombiniert materielle m i t formellen Elementen. Das formelle M e r k m a l des verselbständigten Verfahrens ist Grundlage verfassungsgerichtlicher Entscheidungstätigkeit i n der Bundesrepublik. Diese Entscheidung betrifft auch Fälle bestrittenen oder verletzten Rechts. Z w a r bedarf es vor der Entscheidung keiner Verletzung subjektiver Individualrechte; vielmehr ergeht die häufig aus Gründen bestrittenen oder verletzten objektiven Verfassungsrechts. Primäre Normenkontrolle ist n u r zulässig bei „Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln" über die Vereinbarkeit eines einfachen Gesetzes m i t dem Verfassungsrecht (Art. 93 I 2 GG) oder wenn ein Gericht ein Gesetz „ f ü r verfassungswidrig h ä l t " (Art. 100 1 1 GG). Ebenso ist inzidente Normenkontrolle n u r i m Falle von Rechtsstreitigkeiten über verfassungsrechtliche Rechte oder Pflichten oder aber dann zulässig, w e n n eine N o r m m i t dem Grundgesetz unvereinbar erscheint. Bestritten oder verletzt ist somit die Gültigkeit der Verfassung, konkret i h r Vorrang gegenüber dem einfachen Recht. So erfüllt die Entscheidungstätigkeit des Bundesverfassungsgerichts die Merkmale der Rechtsprechung. Diese Zuordnung entspricht auch der Konzeption des Parlamentarischen Rates. Hatte der Herrenchiemseer E n t w u r f noch einen eigenen Abschnitt über das Bundesverfassungsgericht enthalten, so wurde dieser vom Rechtspflegeausschuß des Parlamentarischen Rates i n den einheitlichen Abschnitt „Gerichtsbarkeit u n d Rechtspflege" übernommen. Das geschah ausdrücklich, u m die Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit i n die D r i t t e Gewalt zu verdeutlichen u n d sie auch systematisch den übrigen Gerichten anzunähern. So wurde dann auch ein Sonderstatus des Bundesverfassungsgerichts bezüglich Organisation oder F u n k 5 6

Zum folgenden Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 7 ff. Hesse, S. 208 f.; grundlegend Thoma, HBDStR II, S. 129; s. auch Better-

mann, DVB1 1982, 91 ff.

I I I . Das Bundesverfassungsgericht nach dem G r u n d g e s e t z 1 2 1

tion nicht normiert 7 . Auch dem Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts liegt die Erwägung zugrunde, daß es ein „selbständiger u n d unabhängiger Gerichtshof des Bundes" sei 8 . Prägend für das Bundesverfassungsgericht i m Gefüge der Staatsgewalten ist damit nach der Konzeption des Verfassunggebers wie nach den Vorschriften des Grundgesetzes u n d des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes sein Charakter als Gericht 9 . Die Qualifizierung des Bundesverfassungsgerichts als rechtsprechende Instanz, als Gericht, bedeutet als solche noch nicht, daß es gegenüber anderen Gerichten keine Besonderheiten aufzuweisen hätte 1 0 . Vielmehr sind die verschiedenen A r t e n der Rechtsprechung jeweils einer bestimmten Gattung von Rechtsnormen zugeordnet, welche ihrerseits auf einen je spezifischen Ausschnitt der W i r k l i c h k e i t konzipiert sind. Jede dieser Kategorien von Rechtssätzen enthält ebenso wie der je zuständige Zweig der Justiz ihre Besonderheit durch den jeweiligen Regelungsgegenstand. Das gilt für das Bundesverfassungsgericht ebenso wie für jeden anderen Zweig der Rechtsprechung: sie erfahren ihre Eigenarten aus dem typischen Gegenstand i h r e r Entscheidungen ebenso wie aus den diesen zugrunde liegenden Normen. Hier weist das Bundesverfassungsgericht i m Normenkontrollverfahren bezüglich der Sachverhaltsermittlung wie bezüglich des anzuwendenden Rechts charakteristische Differenzen auf. Gegenstand seiner Entscheidungen ist dabei die Vereinbarkeit eines Gesetzes m i t dem Grundgesetz als höherrangigem Recht. Während Gerichte typischerweise Normen auf tatsächliche Sachverhalte anzuwenden haben oder die Auslegung von Normen zu diesem Zweck überwachen, gilt dies für das Bundesverfassungsgericht n u r i n eingeschränktem Maße. Der tatsächliche Sachverhalt ist lediglich Anlaß der Prüfung, welche sich ihrerseits auf ein Gesetz bezieht. Dieses Gesetz steht als solches fest und ist für die entscheidenden Instanzen zuverlässig zu ermitteln. Die für sonstige Gerichte vielfach auftretende Schwierigkeit, den tatsächlichen Sachverhalt zutreffend herauszuarbeiten, besteht für die Verfassungsgerichtsbarkeit somit nicht. Stattdessen entsteht jedoch ein anderes Problem. Eine N o r m w i r k t niemals „als solche", sondern stets m i t einem bestimmten Inhalt. N u r m i t einem konkreten I n h a l t kann sie auch verfassungsmäßig oder verfassungswidrig sein. Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Vorschrift, deren Vereinbarkeit m i t dem 7

Lauf er, Bundesverfassungsgericht, S. 57, 62. Statusbericht, S. 120; s. auch § 1 BVerfGG. 9 Zum Ganzen: Lauf er, Bundesverfassungsgericht, S. 283 ff.; Jaehn, Richterliches Prüfungsrecht, S. 152 ff. 10 Friesenhahn, HBDStR II, S. 524 ff.; Friesenhahn, FS Thoma, S. 37 ff.; Billing, Richterwahl, S. 40 ff. 8

122 3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

Grundgesetz jeweils zu prüfen ist, sind einfach zugänglich. Diese lassen den Inhalt der Vorschrift jedoch noch nicht notwendig eindeutig bestimmen. Je weiter ein Tatbestand gefaßt und je breiter ein Spektrum möglichen Ermessens eröffnet ist, je konkretisierungs- und ausführungsbedürftiger eine Norm also bleibt, desto schwieriger ist es i m Prozeß der Normenkontrolle, ihren Inhalt unzweideutig zu klären. Erschwert w i r d diese Interpretation noch, wenn die Auslegung zwischen den verschiedenen Gerichten und Behörden umstritten ist. Das Sachverhaltsproblem , welches sich dem Bundesverfassungsgericht auf tatsächlicher Ebene kaum stellt, erscheint so auf normativer Ebene in anderer Form. Das bedingt eine spezifische S achVerhaltsermittlung i m Verfahren der Normenkontrolle. Entscheidungsgrundlage ist i n diesem Verfahren das Grundgesetz 11 . Dieses weist gegenüber einfachen Gesetzen charakteristische Unterschiede auf, wobei für die verfassungsgerichtliche Entscheidung insbesondere seine Offenheit Bedeutung erlangt. Auch das Verfassungsrecht ist i m Normenkontrollverfahren interpretationsbedürftig, u m seine inhaltlichen Anforderungen an die Gesetze zu ermitteln. Erst wenn sich i h m eine konkrete Regelungsanordnung entnehmen läßt, welcher ein Gesetz widerspricht, ist dieses verfassungswidrig. Die Prüfung hat demnach in drei Stufen zu verlaufen: Enthält das Grundgesetz eine Norm, die nach ihrem Tatbestand auf die zu prüfende Vorschrift anwendbar ist? Enthält diese Vorschrift für die von dem zu prüfenden Gesetz normierte Regelungsanordnung eine eigene, hinreichend konkretisierungsfähige Rechtsfolgenbestimmung? Widerspricht das einfache Gesetz dieser Rechtsfolgenbestimmung? Die zweite Stufe unterscheidet die Normenkontrolle von jeder anderen Gerichtsbarkeit, da hier die materiellen Besonderheiten des Grundgesetzes einfließen 12 . 2. Das Verfahren des Bundesverfassungsgerichts

Das Grundgesetz enthält nur wenige Bestimmungen über das verfassungsgerichtliche Verfahren. Zwar sind einige Grundsätze angedeutet, i m übrigen ist dessen Regelung jedoch dem einfachen Recht überantwortet worden. Dieses ist insoweit ergänzend heranzuziehen.

11 Zur Verfassung als Grundlage der Normenkontrolle: C. Schmitt in Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 112; bedenklich Krüger, FS R. Smend, S. 166 f.: Rechtsprechung bestimmt Verfassung, nicht Verfassung die Rechtsprechung. 12 Zu weiteren Besonderheiten des BVerfG: Lauf er, Bundesverfassungsgericht, S. 283 ff.

I I I . Das Bundesverfassungsgericht nach dem Grundgesetz

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a) Antragserfordernis V o n prägender Bedeutung für die Einleitung eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht ist das Antragserfordernis 1 8 . Der A n t r a g ist unabdingbare Voraussetzung für jeden Verfahrensbeginn. Er kann niemals v o m Gericht, sondern nur von Dritten gestellt werden. Welcher D r i t t e zur Antragsstellung berechtigt ist, ist für die einzelnen Verfahrensarten i m Grundgesetz u n d i m Bundesverfassungsgerichtsgesetz je speziell geregelt 1 4 . Diese sind zur Antragstellung bisweilen verpflichtet (Art. 100 1 1 GG), zumeist jedoch berechtigt; ob sie v o n dem Antragsrecht Gebrauch machen, unterliegt ihrer freien Entscheidung, die vom Gesetz nicht gebunden ist. E i n Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht k a n n so n u r auf A n t r a g durch D r i t t e eröffnet werden, das Gericht selbst ist dazu auch i n Fällen, i n denen ein Staatshandeln als evident verfassungswidrig erscheint, nicht i n der Lage. Problemimpuls k a n n für das Gericht somit n u r eine formalisierte Handlung eines D r i t ten sein; die bloße Wahrnehmung eines tatsächlichen Problems reicht dazu nicht aus 15 . Dem A n t r a g k o m m t für das Verfahren eine doppelte Bedeutung zu. Zunächst bestimmt er den Streitgegenstand. Eine verfassungsgerichtliche Entscheidung ist n u r i n solchen Fällen zulässig, bezüglich derer ein A n t r a g eines Berechtigten vorliegt. Erst durch den A n t r a g w i r d eine Materie zum Gegenstand eines Prozesses gemacht. Zweck dieses Erfordernisses ist es, für die Beteiligten die Vorhersehbarkeit des Streitstoffes herzustellen u n d ihnen so zu ermöglichen, diesbezüglich rechtliches Gehör zu erlangen. I m verfassungsgerichtlichen Verfahren w i r d das Antragserfordernis jedoch an einigen Stellen aufgelockert 1 6 . Grundsätzlich ist das Gericht befugt, einen A n t r a g auszulegen oder gar umzudeuten. Dadurch k a n n sich der Streitgegenstand partiell verschieben, das Gericht bestimmt so über i h n mit. Grenzen dieser Befugnis sind jedoch der „unmißverständliche W o r t l a u t des Antrags oder seiner Beg r ü n d u n g " 1 7 , der „eindeutige Sachvortrag i n der mündlichen Verhandl u n g " 1 8 oder der „ k l a r zu erkennende W i l l e des Antragstellers" 1 9 . Grundsätzlich ist damit der Konnex zwischen A n t r a g u n d Streitgegenstand gewahrt; das Gericht k a n n nicht selbst über i h n disponieren, sondern ist auf Antragstellung bzw. -änderung verwiesen. Dieser Grundsatz w i r d jedoch durch Ausnahmen unterbrochen (§§ 39 I 3, I I , 46 I I I 2, 18 14 15 16 17 18 19

Söhn, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 296. Für die Normenkontrolle: §§ 76, 80 I BVerfGG. Marcic, Gesetzesstaat, S. 356 ff.; Eisenblätter, Überparteilichkeit, S. 67 f. Zum folgenden Maunz u. a., BVerfGG, vor § 17 Rn. 10 f. BVerfGE 2, 341, 346. BVerfGE 2, 347, 367. BVerfGE 9, 160, 162.

124 3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

67 S. 3, 78 S. 2, 95 I 2 BVerfGG). I n diesen Fällen kann das Gericht über Anträge insoweit hinausgehen, als es weitere, selbständige Maßnahmen treffen kann, welche jeweils gesetzlich genau vorherbestimmt sind. Hier ist der Antrag Anlaß für eine Zahl eigenständiger Prüfungen und Entscheidungen. Darüber hinaus erweitert das Bundesverfassungsgericht seine Zuständigkeit analog jenen Normen noch weiter, indem es auch andere Prüfungsmaßstäbe einbezieht. So prüft das Gericht die Gültigkeit des gesamten Gesetzes und jeder einzelnen seiner Bestimmungen unter allen rechtlichen Gesichtspunkten, auch wenn sie von den Beteiligten nicht geltend gemacht worden sind 2 0 . Das ist insofern unbedenklich, als das Gericht an die Antragsbegründung nicht strikt gebunden ist, die Rüge der Verfassungswidrigkeit somit auf alle Anforderungen des Grundgesetzes an das jeweilige Gesetz erstreckt werden kann 2 1 . Die weitere Bedeutung des Antragserfordernisses liegt darin, daß es den Zeitpunkt bestimmt, zu dem sich das Gericht mit der Verfassungsmäßigkeit einer Norm befassen kann. Vor der Antragstellung ist es stets unzulässig, ein Prüfungsverfahren durchzuführen. Danach ist das Gericht verpflichtet, eine Entscheidung zu fällen; dieser Entscheidungszwang ist Konsequenz des Rechtsverweigerungsverbotes. Bezüglich der Wahl des Zeitpunktes seiner Kontrolle ist das Bundesverfassungsgericht somit nicht frei; es muß vielmehr die Mitwirkungshandlung der Antragsberechtigten abwarten, welche es seinerseits nicht herbeiführen, ersetzen oder erzwingen kann. Diese Bedeutung des Antrages kontrastiert deutlich dem freien Zugriffsrecht des Parlaments. Während jenes frei darüber disponieren kann, zu welchem Zeitpunkt es welche Materie zum Gegenstand gesetzlicher Gestaltung machen w i l l , ist die Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichtes insoweit eingeschränkt. Nur unter der Voraussetzung, daß es von einem Dritten angerufen worden ist, kann es sich m i t einer Materie befassen, niemals m i t einer anderen Materie, und niemals zu einem früheren Zeitpunkt. Während i n der Legislative Problemimpulse relativ frei aufgenommen, umgestaltet, verstärkt, erzeugt, in Handlungsmechanismen umgesetzt oder aber abgewiesen werden können, unterliegt somit das Bundesverfassungsgericht einem strikten Initiativverbot. Das gilt auch für spätere Änderungen einer Rechtsprechung, so daß für Gerichte keine eigeninitiierte Korrekturmöglichkeit früherer Entscheidungen besteht 22 . 20

BVerfGE 1, 14, 41. Wesentlich gravierender ist die Abweichung in dem Fall, daß nicht nur die Maßstäbe, sondern auch die angegriffenen Bestimmungen erweitert werden. So prüft im Radikalen-Beschluß das Gericht nicht nur die Verfassungsmäßigkeit des § 9 I 2 SHLBG, sondern daneben weitere Gesetze am Maßstab der Verfassung (BVerfGE 39, 334, 352), hält diese im Ergebnis allerdings sämtlich für verfassungsgemäß. Hier hat sich das Antragserfordernis real völlig gelockert. 22 Zimmer, Legitimation, S. 306 ff. 21

III. Das Bundesverfassungsgericht nach dem Grundgesetz b) Nachträglichkeit Die Antragsgebundenheit begründet ein weiteres Charakteristikum des verfassungsgerichtlichen Normenkontrollverfahrens, die Nachträglichkeit. Sie thematisiert das gestufte zeitliche Verhältnis zwischen legislativem Gesetzesbeschluß und verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Gegenstand des Verfahrens ist die Prüfung der Vereinbarkeit eines Gesetzes mit der Verfassung. Widersprüche zwischen diesen können nur unter der Voraussetzung bestehen, daß die kontrollierte wie die Kontrollnorm inkraftgetreten ist. Insofern setzt Normenkontrolle das Vorhandensein formell geltendes Rechts voraus, d. h. solchen Rechts, welches m i t dem formellen Anspruch auf Geltung auftritt 2 3 . Das gilt für die primäre ebenso wie für die inzidente Prüfung. Die Nachträglichkeit der Normenkontrolle resultiert daraus, daß diese einen konkreten Normzweifel bedingt oder aber der Antragsteller aufgrund einer Norm selbst, unmittelbar und gegenwärtig i n seinen Rechten beeinträchtigt sein muß. Erst unter dieser Voraussetzung ist ein Antrag und damit die Einleitung eines Verfahrens zulässig. So setzt A r t . 93 12 GG Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel über die Vereinbarkeit von „Bundesrecht" oder „Landesrecht" mit höherrangigen Normen voraus; ebenso erfordert A r t . 100 11 GG, daß ein Gericht ein „Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt", für verfassungswidrig hält. Ein solches Gesetz besteht stets dann, wenn es verkündet und inkraftgetreten ist. Ferner können i m Verfahren der abstrakten Normenkontrolle auch verkündete Gesetze, die noch nicht inkraftgetreten sind, überprüft werden 2 4 . Ausschlaggebend dafür ist die Tatsache, daß die Verkündung das Gesetzgebungsverfahren formell abschließt und zugleich den Zeitpunkt des Inkrafttretens bestimmt. Eine tatsächliche Normenkollision kann allerdings während eines solchen Zeitraums noch nicht stattfinden. Demgegenüber ist eine präventive Kontrolle während des Gesetzgebungsverfahrens unzulässig 25 . Daneben kann i m Einzelfall auch außerkraftgetretenes Recht überprüft werden, wenn es i m Zeitpunkt der Antragstellung noch Nachwirkungen zeitigt 2 6 . 23

BVerfGE 1, 396, 400. BVerfGE 1, 396, 400. 25 Dagegen Holzer, Präventive Normenkontrolle; Sonderregeln gelten insoweit für völkerrechtliche Verträge, s. BVerfGE 1, 396, 413; 2, 143, 165; 12, 281, 288. Diese werden jedoch nicht aus den verfassungsrechtlichen oder einfachgesetzlichen Bestimmungen über das Normenkontrollverfahren, sondern aus dem Konnex zwischen innerstaatlicher Rechtsordnung und völkerrechtlichem Vertragsrecht begründet; kritisch Söhn, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 314 m. w. N. 26 BVerfGE 15, 25, 28; 20, 56, 94; Entsprechendes gilt für die inzidente Normenkontrolle; zur Verfassungsbeschwerde etwa BVerfGE 48, 327 ff. 24

126 3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

Die Nachträglichkeit hat zur Folge, daß der Legislative bei ihren Gestaltungsmaßnahmen stets der zeitliche Vorsprung zukommt. Z w i schen ihren Handlungen und der verfassungsgerichtlichen Kontrolle liegt notwendig eine zeitliche Differenz. Dadurch verschiebt sich die Perspektive beider Instanzen. Das Bundesverfassungsgericht hat gegenüber dem Gesetzgeber einen Kenntnis- und Entscheidungsvorsprung, der aus dem zeitbedingten Realitätswandel resultiert. Das der Legislative vorgegebene Problem kann sich i m Zeitpunkt des gerichtlichen Verfahrens bereits gewandelt haben; was sich dem Parlament als Zukunft darstellte, ist für das Verfassungsgericht bereits partiell Vergangenheit. Dieser zeitbedingte Perspektivwandel ist durch die Nachträglichkeit des Gerichtsverfahrens bedingt 2 7 . c) Einzelfallbezug Bestimmt der verfahrenseinleitende Antrag den Streitgegenstand, so begrenzt er ihn zugleich. Kann ein Verfahren nur bei konkreten Normzweifeln oder Rechtsverletzungen eingeleitet werden, so resultiert aus dieser Tatsache die Einzelfallbezogenheit der Normenkontrolle 28. Dieses K r i t e r i u m bezieht sich nicht auf die tatsächlichen Folgen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Vielmehr werden vom Bundesverfassungsgericht grundsätzliche Fragen von weitreichender Bedeutung für das Verfassungsrecht wie das gesamte politische Leben entschieden. Die praktische Bedeutung solcher Entscheidungen läßt sich vielfach nicht auf den Einzelfall reduzieren. Ausgangspunkt für die Einzelballbezogenheit der Rechtsprechung ist der jeweils zugrunde liegende Sachverhalt. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über Anträge, denen jeweils Normzweifel oder potentielle Rechtsverletzungen vorausgegangen sein müssen, soll es zu einer Entscheidung kommen. Seine tatsächlichen Grundlagen bezieht das Prozeßgeschehen aus diesen Ereignissen. Ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz stellt den Gegenstand der gerichtlichen Beurteilung dar. Der Problemimpuls für richterliche Entscheidungen geht somit regelmäßig vom Einzelfall aus. Was diesen Einzelfall als Gegenstand verfassungsgerichtlicher Beurteilung ausmacht, ist für das Normenkontrollverfahren nicht so unmittelbar einsichtig wie für die meisten Verfahren vor den Fachgerichten. Der Grund dafür liegt darin, daß jenem kein konkretisiertes Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten zugrunde liegt, innerhalb dessen der Antragsteller einen Anspruch gegen den Antragsgegner geltend machen könnte. Auszugehen ist hier von dem jeweiligen Antrag. Dieser eröff27 28

Schuppert, Kontrolle, S. 168 ff. Grundlegend Scholz, VVDStRL 34, 154 ff.; Fiedler, JZ 1979, 420.

III. Das Bundesverfassungsgericht nach dem Grundgesetz

127

net das Kontrollverfahren und bestimmt den Streitstoff 2 9 . I m Normenkontrollverfahren richtet er sich zumindest konkludent, nicht allgemein auf die Überprüfung von „Bundesrecht" oder „Landesrecht", sondern einer oder mehrerer bestimmter Vorschriften. Ihnen gegenüber muß der konkretisierte Normzweifel bestehen, oder aber die jeweils geltend gemachte Rechtsverletzung muß von ihnen ausgegangen sein. Lediglich über die Verfassungsmäßigkeit dieser Normen w i r d vom Bundesverfassungsgericht entschieden. Diese Gesetze erfahren ihren jeweils konkreten Inhalt auch aus ihrer systematischen Stellung i n der Realität wie i n der Rechtsordnung, welche ihre Auslegung beeinflußt. W i r d der Inhalt der überprüften Vorschrift von diesen Umständen mitbestimmt, so können sie bei der Bestimmung des vom Bundesverfassungsgericht zu entscheidenden Einzelfalls nicht unberücksichtigt bleiben. Der Einzelfall wird somit konstituiert durch den Antrag, die angegriffene Norm und den Verfahrenszeitpunkt. Der Einzelfallbezug der Normenkontrolle ist jedoch nicht unbestritten. So w i r d dem Bundesverfassungsgericht die Aufgabe zugewiesen, nicht primär die konkrete Streitigkeit zu entscheiden, sondern für die Zukunft befriedend zu wirken, rechtliche Klarheit zu schaffen, Wiederholungen gleichartiger Streitigkeiten zu verhindern, Streitstoff zu beseitigen 80 . Zur Begründung dafür w i r d A r t . 93 11 GG herangezogen. Danach entscheidet das Bundesverfassungsgericht „über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten". Zweck dieser Formulierung sei, zu verhindern, daß das Gericht einen konkreten Verfassungsstreit durch Verurteilung des „Beklagten" i m Organstreitverfahren entscheidet. Sinn der Entscheidung sei vielmehr die Auslegung der Sätze des Grundgesetzes; der konkrete Streit sei nur Anlaß, eine solche Auslegungsfrage zu entscheiden. Der Streit diene somit der authentischen Interpretation der Verfassungsnormen 81 . Verfassungsgerichtsbarkeit als authentische Verfassungsinterpretation entspricht einer historischen Wurzel der Staatsgerichtsbarkeit 82 . Die sächsische Verfassung von 1831 normierte i m Rahmen der Vorschriften über die Verfassungsänderung die Kompetenz des Staatsgerichtshofes zur authentischen Verfassungsinterpretation, wenn sich Regierung und Stände über die Auslegung nicht einigten (§ 153). § 126 lit. b des Verfassungsentwurfs der Paulskirche sah vor, daß die „streitenden Teile" die Entscheidung des Reichsgerichts einzuholen hätten i n Angelegenheiten, „welche die Auslegung der Reichsverfassung betreffen". Authentische 29 89

81 82

s. o. a). Geiger, NJW 1954, 1058.

Ähnlich Friesenhahn, FS Ambrosini, S. 700. Zum folgenden Schiaich, VVDStRL 39, 130.

128 3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

Verfassungsinterpretation geschah hier auf der Ebene des Prüfungsmaßstabes, des Verfassungsrechts; sie war Ergänzung und Vervollständigung der Verfassung mit Verfassungsrang. I m konstitutionellen System hatte die Entscheidung i m Organstreit so lediglich die Rechtsfrage, nicht hingegen die politische Streitigkeit zum Gegenstand. Ein solches Verständnis liegt auch dem Wortlaut des A r t . 93 11 GG zugrunde, der nicht zufällig den Organstreit und nicht die Normenkontrolle regelt. Diese historische Herleitung der Kompetenz zur authentischen Verfassungsinterpretation basiert auf zwei Grundlagen. Sie ist einmal auf die besondere Konstellation i m Organstreit h i n konzipiert, i n welcher sich i m Konstitutionalismus verschiedene soziale Mächte i m Staat gegenüberstanden und über den Inhalt gerade des Kompromisses stritten, welcher die Grundlage des Ausgleichs zwischen ihnen sein sollte: der Verfassung. Die Justiz als unabhängige und unparteiische Instanz sollte so der institutionalisierte Ausgleichsmechanismus zwischen rivalisierenden sozialen Mächten sein, welcher die Funktionsfähigkeit des Verfassungskompromisses und damit die Grundlage des konstitutionellen Systems i m Staat sicherte. Diese Konstellation lag für die Gesetzgebung nicht i n gleicher Weise vor. Hier war i m Konstitutionalismus der Ausgleich zwischen den sozialen Mächten bereits durch das Gesetzgebungsverfahren gesichert, an dem Vertreter aller Gruppen teilnahmen. Eines zusätzlichen justitiellen Ausgleichs bedurfte es daher nicht 3 3 . Somit war diese Grundlage authentischer Verfassungsinterpretation schon früher nicht auf die Normenkontrolle übertragbar. Die andere historische Basis ist die Herstellung der unmittelbaren Anwendungsfähigkeit der Verfassung. Ist authentische Interpretation „autoritäre Beseitigung des Zweifels" über den Inhalt der Verfassung, so kann sie nicht auf der Grundlage richterlichen Argumentierens, sondern nur durch Dezision wirken. Solches Handeln ist auf Verfassungsebene jedoch nicht Rechtsprechung, sondern Verfassunggebung. Es setzt eine Verfassung voraus, die als solche nicht selbst unmittelbar anwendungsfähig und der richterlichen Entscheidungstätigkeit nicht zugänglich ist. Inwieweit frühere Verfassungen diese Konzeption verfolgt haben, braucht hier nicht untersucht zu werden. Das Grundgesetz folgt ihr jedenfalls nicht. Es geht vielmehr davon aus, daß es selbst alle Staatsgewalt bindet und als solche Norm auch einen anwendungsfähigen, durch Auslegung zu ermittelnden Inhalt aufweist. A r t . 1 I I I , 20 I I I GG bringen dies zum Ausdruck; das Bundesverfassungsgericht entscheidet auf dieser Grundlage. Verfassungsrechtsprechung ist jedenfalls i n der Gegenwart nicht Verfassunggebung. Beide Voraussetzungen jener historischen Herleitung einer 83

Dazu Teil 1.

III. Das Bundesverfassungsgericht nach dem Grundgesetz

129

authentischen Verfassungsinterpretation bestehen somit jedenfalls gegenwärtig nicht mehr 3 4 . Entsprechend der gewandelten Konzeptionen des Grundgesetzes sind verfassungsgerichtliche Normenkontrollverfahren einzelfallbezogen 35 . Gegenüber diesem Einzelfallbezug ist das Gesetzgebungsverfahren konzipiert für abstrakte, auf relative Dauer berechnete Regelungen wichtiger Fragen; die gestaltende Tätigkeit der Legislative kann auf Einzelfälle kaum hinreichend Rücksicht nehmen. Der Grund dafür liegt i n der geringen Vorhersehbarkeit der Zukunft und der begrenzten Kapazität des Parlaments zur Problemverarbeitung und -lösung 3 6 . Diese Perspektive unterscheidet die Problemsicht des Gerichts von derjenigen des Gesetzgebers. Weist diese eine erhebliche Abstraktionshöhe mit vielfältigen Prognoseelementen und wenig konkreter Tatsachenanalyse der zu regelnden Materie auf 3 7 , so liegt der richterlichen Entscheidung eher praktisches Anschauungsmaterial aus der Realität vor, welches die Kenntnis der konkreten Auswirkungen von Rechtsnormen für Adressaten und Betroffene ermöglicht. A n diesen Tatsachen hat sich die Entscheidung primär auszurichten, nicht hingegen an potentiellen zukünftigen Steuerungs- und Gestaltungsbedürfnissen. Erst auf diese Weise w i r d eine realitätsbezogene Konkretisierung von abstrakten und weit gefaßten Verfassungsbegriffen möglich. Inwieweit sich der Entscheidung eines Einzelfalles über diesen hinausweisende Regeln entnehmen lassen, ist abhängig von je spezifischen Gegebenheiten, insbesondere der Frage, inwieweit der Einzelfall typisch oder repräsentativ und die gefällte Entscheidung daher auf andere Fälle übertragbar ist. So vermag die Rechtsprechung fallbezogene Grundsätze zu bilden und Lösungsmodelle i m Verfahren von t r i a l and error zu erproben. Eine rechtliche Bindung an Präjudizien besteht dementsprechend nicht 3 8 . Die gegenüber dem Gesetzgeber konkretere, genauere Problemperspektive der Justiz ist Grundlage, aber auch Grenze ihrer Möglichkeiten zur Präjudizienbildung und damit zur Sozialgestaltung. Nur soweit vom Einzelfall — auch zeitlich — abstrahiert werden kann, können Entscheidungen präjudiziell sein. Dabei bedeutet Abstraktion zugleich Vereinfachung. Neben der Orientierung an einem konkreten Sachverhalt kommt der Einzelfallbezug der Rechtsprechung auch dadurch zum Ausdruck, daß 34 Dem entspricht auch die Tatsache, daß das Organstreitverfahren als kontradiktorisches und nicht als Interpretations verfahren ausgestaltet ist; s. §§ 63 ff. BVerfGG, aber auch §§ 67 Satz 3 BVerfGG; BVerfGE 1, 231 f., 260 f.; 359; 2, 157; 3, 17; 10, 4; 13, 54 ff. 35 So auch Wischermann, Rechtskraft, S. 74 ff. m. w. N. 36 Starch, VVDStRL 34, 67 ff. 37 s. ο. I I 3. 38 Schlüter, Obiter dictum, S. 23.

9 Gusy

130 3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

die Gerichte von den Folgen ihrer Entscheidungen als Organ weitgehend entlastet sind. Die Konsequenzen von Urteilen und Beschlüssen fallen regelmäßig bei anderen Staatsorganen an. Zwar kann das Bundesverfassungsgericht bestimmen, wer seine Entscheidungen vollstreckt und wie dies i m Einzelfall zu geschehen hat (§ 35 BVerfGG); i h m selbst obliegt die Vollstreckung jedoch ebensowenig wie die Verantwortung für ein gestaltendes Konzept auf der Grundlage seiner Verfassungsauslegung. Hierzu sind i m gewaltenteilenden Staat vielmehr Legislative oder Exekutive zuständig. Das Bundesverfassungsgericht selbst ist so weitgehend von der Notwendigkeit entlastet, die Folgen seiner Maßnahmen zukunftsorientiert zu verarbeiten 3 9 . Orientierung am konkreten Sachverhalt und Entlastung von der Folgenverantwortung sind somit die Spezifika der Einzelfallbezogenheit verfassungsgerichtlicher Normenkontrolle. Als Ausnahme davon sieht § 78 S. 2 BVerfGG vor, daß i n diesem Verfahren auch über die Gültigkeit anderer Vorschriften als derjenigen, welche der Antrag bezeichnet, entschieden werden kann. Hier w i r d der Einzelfallbezug der Entscheidung partiell gelockert. Das ist jedoch nur insoweit zulässig, als „dieselben Gründe" die Gesamtentscheidung tragen müssen. d) Limitierter

Zugang

Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht selbst zeichnet sich durch Zugangsrestriktionen aus. Grundlage der Entscheidungsfindung dürfen nur solche Tatsachen sein, die entsprechend den Vorschriften des Verfahrensrechts i n den Prozeß eingeführt worden sind und zu denen der anderen Seite rechtliches Gehör gewährt wurde. Dementsprechend sind die Einwirkungsmöglichkeiten auf die Entscheidungsfindung gegenüber dem Gesetzgebungsverfahren erheblich beschränkt. Das gilt allerdings nicht für die Informationsgewinnung. Hier zeichnen sich Parlament und Gericht dadurch aus, daß sie über keinen eigenen institutionalisierten Sachverstand verfügen. Beide können jedoch auf Informationen und Kenntnisse Dritter, insbesondere der Exekutive, zurückgreifen 40 . Das Bundesverfassungsgericht erhebt dazu von Amts wegen die zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Beweise (§ 26 11 BVerfGG); hierzu kann es alle üblicherweise zulässigen M i t t e l einsetzen, insbesondere Sachverständige und Zeugen hören (§ 28 BVerfGG). Dabei erhält die verfassungsgerichtliche Beweisaufnahme ihren potentiell umfassenden Charakter durch die Weite der „erforderlichen Tatsachen". Hierzu zählen i m Normenkontrollverfahren alle Fakten, wel39 40

Gusy, AWR-Bulletin, 1979, 103, 109. Zu Einzelheiten Philippi, S. 184 ff.

I I I . Das Bundesverfassungsgericht nach dem Grundgesetz

131

che die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Norm unter allen denkbaren verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten begründen können. Wegen der Vielfalt der geschützten Belange und Interessen i m Grundgesetz ist die Prüfung daher weitgespannt. So können die Interessen aller Beteiligten und Betroffenen i n das Verfahren eingeführt werden, indem sie zum Gegenstand von Zeugen- oder Sachverständigenbefragungen gemacht werden. Auf diese Weise kann das Bundesverfassungsgericht zu allen relevanten Problemen des angegriffenen Gesetzes Beweismittel einsetzen, die den parlamentarischen Untersuchungen und Hearings vergleichbar sind. Anders als bei der Informationsermittlung stellen sich jedoch die Einwirkungsmöglichkeiten bei der Abgabe von sonstigen Stellungnahmen und Wertungen dar. Ist hier das parlamentarische Verfahren offen, so können i n den verfassungsgerichtlichen Prozeß nur solche A n gaben eingeführt werden, die vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich angefordert sind. Dazu zählen i m Normenkontrollverfahren insbesondere die Äußerung der Bundes- bzw. Landesorgane (§ 77 BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht ist verpflichtet, ihre Rechtsansicht beizuziehen; die jeweiligen Organe haben darauf einen Anspruch. Sonstige formalisierte Zugangsmöglichkeiten bestehen nicht. Diese Sperre dient dazu, das Unbeteiligtsein und die Unparteilichkeit des Gerichts zu sichern; befangene Richter genügen den Anforderungen des Grundgesetzes an ein Gericht nicht. So sind auch informelle Einflußmöglichkeiten gering. Da ein konkreter Entscheidungsplan i m Prozeß zumeist vorab noch nicht besteht, kann eine K r i t i k an Entwürfen oder Absichten — anders als i m Gesetzgebungsverfahren — nicht stattfinden. So verbleibt an informellen Einflußmöglichkeiten fast ausschließlich die Einwirkung auf die Rechtsansicht des Gerichts durch Beeinflussung der Fachöffentlichkeit oder aber die politische Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Ist die erstere Methode i m Rahmen rechtswissenschaftlicher Diskussion zwar nicht stets erwünscht, aber doch nicht illegitim, so trägt die letztere ihren extrakonstitutionellen Charakter bereits i n sich. Korrespondiert demnach i m Gesetzgebungsverfahren das — potentiell — eigenständige legislative Gestaltungskonzept der Offenheit des Verfahrens für alternative Entwürfe, so entspricht i m gerichtlichen Prozeß der Neutralität und Unbefangenheit der Richter der genau definierte und limitierte Zugang. Bezüglich der Einwirkungsmöglichkeiten auf die Entscheidungsfindung zeichnet sich das gerichtsförmige Normenkontrollverfahren somit durch seine relative Geschlossenheit aus. Einwirkungsmöglichkeiten sind nicht frei, sondern nur aufgrund einer Auswahl durch das Gericht erreichbar. Die Offenheit ist wegen der Besonderheiten des verfassungs9*

132 3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

gerichtlichen Verfahrens nicht so limitiert wie angesichts der binären Struktur des Zivilprozesses, aber wesentlich verschieden von der uneingeschränkten Offenheit des legislativen Verfahrens. Antragserfordernis, Nachträglichkeit, Einzelfallbezogenheit und l i m i tierter Zugang prägen somit das Normenkontrollverfahren des Bundesverfassungsgerichts. 3. Die demokratische Legitimation verfassungsgerichtlicher Entscheidungen

Die demokratische Legitimation ist gem. A r t . 20 I I 1 GG nicht nur Grundlage der parlamentarischen Gesetzgebung, sondern auch der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Hier ist — wie zuvor für die Legislative — zu untersuchen, wodurch eine solche Legitimation verfassungsgerichtlicher Entscheidungen real vermittelt wird. Grundlegend ist auch dabei zu unterscheiden zwischen der Legitimation der Organwalter der Rechtsprechung, also der Richter, denen die Rechtsprechung „anvertraut" ist, und der einzelnen Handlungen, die sie bei ihrer rechtsprechenden Tätigkeit vornehmen, also der Entscheidungen, welche sie i m gerichtsförmigen Verfahren treffen 4 1 . a) Wahl Das Verfahren der Bestellung der Organwalter regelt das Grundgesetz für die Richter am Bundesverfassungsgericht abweichend von dem Bestellungsverfahren für die übrigen Bundesrichter. Diese werden vom jeweiligen zuständigen Bundesminister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuß, bestehend aus den für das jeweilige Sachgebiet zuständigen Landesministern und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, welche der Bundestag wählt (Art. 95 I I GG), bestimmt. Dagegen werden die Richter am Bundesverfassungsgericht von den Gesetzgebungskörperschaften gewählt, und zwar je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat (Art. 9412 GG). Eine obligate M i t w i r k u n g von Organen der Exekutive, insbesondere Regierungsmitgliedern, ist nicht vorgesehen. Dem Wahlgremium werden durch das Grundgesetz kaum inhaltliche Bindungen auferlegt; lediglich A r t . 94 11 GG ordnet an, daß sich die Verfassungsrichter aus „Bundesrichtern" und „anderen Mitgliedern" rekrutieren. Ein zahlenmäßiges Quorum w i r d durch § 3 I I I BVerfGG festgelegt. Über das Wahlverfahren i n Bundestag und Bundesrat enthält das Grundgesetz selbst keine Regelungen; es ist erst gem. A r t . 94 I I 1 GG durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt worden 4 2 . Der Bun41

Dazu grundsätzlich oben I I 2.

III. Das Bundesverfassungsgericht nach dem G r u n d g e s e t z 1 3 3 desrat wählt für die von i h m zu bestimmenden Mitglieder unmittelbar (§ 7 BVerfGG). Für die Entscheidung ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit zwingend vorgesehen. I m Gegensatz dazu wählt der Bundestag die Verfassungsrichter i n indirekter Wahl. Zuständig ist der Wahlmännerausschuß, der aus 12 Abgeordneten besteht (§ 6 I I 1 BVerfGG). Dessen M i t glieder sind gegenüber jedermann zur Verschwiegenheit verpflichtet, und zwar bezüglich der ihnen bekannt gewordenen persönlichen Verhältnisse der Bewerber wie bezüglich des eigenen Verfahrens, insbesondere ihrer Erörterungen und ihrer Abstimmungen (§ 6 I V BVerfGG). Das Verfahren der indirekten Wahl durch den Bundestag ist zwar gelegentlich als verfassungswidrig kritisiert worden 4 3 , w i r d jedoch durch A r t . 9412 GG, welcher die insoweit einschlägige Spezialnorm darstellt, nicht ausgeschlossen. Ein Grundsatz, daß alle Wahlen durch das Plenum des Bundestages vorzunehmen sind und davon keine Ausnahmen zulässig wären, ist i m Grundgesetz nicht enthalten 4 4 . Durch die Richterwahl soll die Bestellung der Organwalter der Verfassungsgerichtsbarkeit demokratisch legitimiert werden. Die demokratische Herleitung erfolgt jedoch nicht vom Volk selbst, sondern vielmehr vermittelt über die Parlamente. Für die Vermittlung solcher „mittelbarer" demokratischer Legitimation erweisen sich die Parlamente als die zentralen Instanzen; es gibt keine Form demokratischer Legitimation außerhalb der Volkswahl, die am Parlament als Legitimationsvermittler vorbeiläuft 4 5 . Hier weisen die Richter am Bundesverfassungsgericht zwei unterschiedliche Legitimationsstränge auf. Die vom Bundesrat gewählten Richter erfahren ihren demokratischen Auftrag durch die Landtage und die Landesregierungen; für die vom Bundestag über den Wahlmännerausschuß bestimmten Mitglieder ist dieser selbst die ligitimierende Instanz. I m Wahlverfahren selbst ist das Mehrheitsprinzip als demokratischer Entscheidungsmechanismus durch das Erfordernis der Zwei-Drittel-Mehrheit eingeschränkt. Praktisch nähert sich das Wahlverfahren dadurch dem Einstimmigkeitsprinzip. Hingegen kann aus der Unabhängigkeit der Richter (Art. 971 GG) kein Unterschied der demokratischen Legitimation gegenüber dem Parlament her42 Zu den Grundsätzen Billing , Richterwahl, S. 88 f.; Kröger, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 90 ff. zum Wahl verfahren. 43

Thoma, JöR 1957, 161, 188; Kreutzer,

DSt 1968, 183, 190 ff.; v o n Eichborn,

Die Bestimmungen über die Wahl der Bundesverfassungsrichter, S. 16, 21 f., 38. 44 Insbesondere vermag auch Art. 42 I I 2 GG ein solches Prinzip nicht zu begründen. Er regelt lediglich die Mehrheitserfordernisse, sofern das Plenum Wahlen vornimmt; wann dies zu geschehen hat, bestimmt er hingegen nicht. Art. 42 I I 2 GG setzt somit die Antwort auf die entscheidende Frage, ob der Bundestag stets in seiner Gesamtheit Wahlen vornehmen muß, voraus; s. Kröger, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 92. 45 Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, S. 74.

3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

geleitet werden 4 6 . Ebenso wie die Richter sind auch die Abgeordneten von Weisungen ihrer Wähler oder Dritter frei (Art. 38 12 GG). b) Keine Kontrolle

oder freie Revisibilität

Neben der demokratischen Legitimation durch Bestellung der Organwalter steht die Legitimation der einzelnen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Eine Kontrolle des Gerichts ist i m Grundgesetz wie i m einfachen Recht nur sehr schwach ausgeprägt. Der Ruf nach einer „Kontrolle der Kontrolleure" hat die Diskussion u m die Verfassungsgerichtsbarkeit i m demokratischen Staat erst ausgelöst. Eine Rechtskontrolle des Bundesverfassungsgerichts ist nicht vorgesehen. Auch die politische Kontrolle, also die Nachprüfung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen an außerrechtlichen Maßstäben, ist nur sehr schwach ausgeprägt. Zwar sieht sich das Bundesverfassungsgericht mancher K r i t i k durch staatliche Stellen wie Bürger ausgesetzt. Kontrollmittel als Mechanismen zur Herbeiführung von Verantwortlichkeit bestehen jedoch nicht Auch politische Sanktionsmöglichkeiten sind nicht vorhanden. I m Gegensatz zur Wahl des Bundestages, die stets zugleich eine politische Entscheidung über die Arbeit der bisherigen Abgeordneten darstellt, ist das Wahlverfahren für die Verfassungsrichter gerade nicht mit Kontrollelementen ausgestattet. Deutlicher w i r d dies insbesondere i n der starren Festlegung der zeitlichen Dauer der Amtszeit ( § 4 1 BVerfGG), der fehlenden Möglichkeit einer Abwahl, dem Ausschluß der Möglichkeit einer Wiederwahl (§ 4 I I BVerfGG) und dem Stimmquorum der Zwei-Drittel-Mehrheit (§§ 6 V, 7 BVerfGG). Diese Vorkehrungen verhindern geradezu, daß die Wahlentscheidung zugleich zu einem Urteil über die Amtsführung der bisherigen Inhaber wird. So kann weder eine rechtliche noch eine politische Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts wirksam werden. Kontrolle vermag somit keine demokratische Legitimation von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts herzustellen. Freie Revisibilität ist Konsequenz eines freien Zugriffsrechts, welches jede Materie potentiell zum Gegenstand von Regelungen machen kann. Ein solches kommt dem Bundesverfassungsgericht nicht zu. Die A n tragsgebundenheit läßt ein Verfahren nur auf Veranlassung durch Dritte zu. Das Gericht kann daher auch bei veränderter personeller Zusammensetzung aufgrund von Wahlen erst dann seinen Handlungsauftrag erfüllen, wenn Dritte ein Verfahren einleiten. Deren Antrag ist an die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen geknüpft. I m Normenkontrollverfahren muß demnach ein Normzweifel öder eine Rechts4 ® Zur Legitimation richterlicher Unabhängigkeit Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit, S. 95 ff.

III. Das Bundesverfassungsgericht nach dem Grundgesetz

135

Verletzung gegenüber dem Antragsteller bestehen. Korrektur- oder Änderungsmöglichkeiten von Entscheidungen sind daher für das Bundesverfassungsgericht sehr begrenzt; die freie Revisibilität fehlt ihm. Es vermag so die Personalalternativen durch Wahl nur i n begrenztem Umfang i n Handlungsalternativen umzusetzen. Anders als für die Legislative können Kontrolle und Revisibilität die demokratische Legitimation der Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht nicht begründen. Hier sind demnach andere, von der Legislative verschiedene Legitimationsmechanismen heranzuziehen. c) Verfassungsbindung Das Verfahren der Entscheidungsfindung i n der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle ist somit zur Begründung demokratischer Legitimation nicht geeignet. Daher sind andere Mechanismen zu ermitteln, welche die jeweilige Entscheidung an den Willen des Volkes i n unmittelbarer oder mittelbarer Weise binden. Das Grundgesetz hält hierzu bezüglich des Entscheidungsverfahrens wie des Entscheidungsergebnisses i n A r t . 20 I I I GG einen eigenen Mechanismus bereit: die Bindung der Rechtsprechung an „Gesetz und Recht" 47. Das demokratisch gesetzte Recht findet i m repräsentativen System seine zentrale Ausprägung i m parlamentarisch beschlossenen Gesetz bzw. i n der vom Volk sich selbst gegebenen Verfassung. Das Gesetz w i r d vom Parlament als unmittelbar demokratisch legitimiertem Staatsorgan 48 i n einem demokratische Legitimation begründenden Verfahren beschlossen. Es weist somit aus seiner Entstehung heraus bereits einen demokratischen Charakter auf. Dieser w i r d durch die grundgesetzlichen Verfahrensnormen begründet und durch die Vorkehrungen zur Sicherung der Verfassung garantiert. Das Gesetz ist die primäre Quelle des Rechts i m demokratischen Staat. Stellt A r t . 20 I I I GG „Gesetz und Recht" nebeneinander, so bezieht er sich m i t der Bindung an das Recht auf das Grundgesetz als die höchste Quelle und Sicherung des Rechts i m demokratischen Staat. Das „Recht" des A r t . 20 I I I GG hat den demokratischen Charakter der Verfassungsordnung des Grundgesetzes zu teilen und steht zu ihm i n keinem irgendwie gearteten Widerspruch. Als oberste Rechtsquelle bezieht das Grundgesetz seine eigene demokratische Legitimation aus der „verfassungsgebenden Gewalt" des „Deutschen Volkes". Ein von diesem Grundgesetz verschiedenes, i h m vor- oder nebengeordnetes Recht kann es i m demokratischen System nicht geben. Deutlich w i r d dies insbesondere i n A r t . 1 I I I GG, der insoweit eine speziellere Geltungsanordnung der Verfassung ent47 48

Zum folgenden Roellecke, W D S t R L 34, 31 ff. s. ο. II.

136 3. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Kompetenzabgrenzung

hält, ohne ein irgendwie geartetes Recht gegen das Grundgesetz zu mobilisieren. Zieht das „Recht" lediglich „äußerste Gerechtigkeitsgrenzen", so w i r d dies für die Verfassungsordnung der Bundesrepublik i m Grundgesetz konkretisiert. Normativ gilt die „Idee der Gerechtigkeit" i n dem Umfang und i n der Weise, wie sie das Grundgesetz rezipiert und verwirklicht 4 0 . Keine Instanz hat die Möglichkeit, ein Gesetz unter dem Gesichtspunkt „allgemeiner Gerechtigkeit" nachzuprüfen und damit ihre Auffassung von Gerechtigkeit derjenigen des Gesetzgebers zu substituieren 5 0 . Insofern enthält A r t . 20 I I I GG tatsächlich eine Tautologie 51 . „Gesetz und Recht" gem. A r t . 20 I I I GG sind somit die demokratisch erlassenen Gesetze und das Grundgesetz. Sie binden die einzelnen Gerichtsentscheidungen an die Willensbildung und -äußerung des Volkes. Ist das Bundesverfassungsgericht i m Normenkontrollverfahren nicht an die einfachen Gesetze, sondern ausschließlich an das Grundgesetz als Prüfungsmaßstab gebunden, so vermittelt dieses seinen Urteilen und Beschlüssen die demokratische Legitimation. Das Grundgesetz ist demnach Handlungsgrundlage, aber auch -grenze verfassungsgerichtlicher Entscheidungstätigkeit. Nur wenn und soweit es eine Entscheidungsgrundlage bereithält, sind die auf ihrer Grundlage ergehenden Maßnahmen demokratisch legitimiert. Die rechtsprechende Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichtes ist somit i m Normenkontrollverfahren auf das Grundgesetz als einzige materielle Entscheidungsgrundlage verwiesen; sie kann nur verfassungskonkretisierend, nicht aber konkurrierend oder gar korrigierend tätig werden 5 2 . Zur Sicherung der Rechtsbindung des Verfahrensablaufs sehen §§ 17, 25 BVerfGG die Öffentlichkeit der Verhandlung vor 5 3 . Die inhaltliche Bindung der Entscheidungen an die Verfassung ist gewahrt, wenn sie aus dem Grundgesetz herleitbar sind; das Grundgesetz muß das Ergebnis „tragen". Dies ist stets der Fall, wenn die Entscheidung aus der Verfassung hergeleitet ist und begründungsmäßig auf sie zurückgeführt werden kann 5 4 . Zentraler Mechanismus zur Verwirklichung der Gesetzesbindung ist damit die Begründung von Urteilen und Beschlüssen, die konsequent dem Bundesverfassungsgericht zur Pflicht gemacht ist (§ 30 I 2 BVerfGG). Sie hat den Nachweis 49

BVerfGE 3, 225, 233 f. BVerfGE 3, 162, 182. 51 Maunz / Dürig in MDHS Art. 20 Rn. 72 (Erstbearbeitung); Ipsen, Richterrecht, S. 121 ff.; Picker, JZ 1984, 153 ff.; alle m. w. N. 50

52

s. auch Roellecke,

V V D S t R L 34, 33; Ipsen ebd., S. 231; Wahl, DSt 1981,

502 ff.; zu den Folgen richterlicher „Lückenfüllung" eingehend Schulze-Fielitz, DVB1 1982, 328 ff. 53 Zur Funktion der Verfahrensöffentlichkeit Scherer, Gerichtsöffentlichkeit, S. 57 ff. 64 Starck, VVDStRL 34, 71 ff.; Eckhold-Schmidt, Legitimation durch Begründung, S. 17 f.

III. Das Bundesverfassungsgericht nach dem Grundgesetz

137

zu erbringen, daß das Gericht nicht nach Gutdünken, sondern nach dem Gesetz entschieden hat 6 5 . Die Richter haben darzulegen, warum sie eine Vorschrift so und nicht anders ausgelegt haben. Die Begründung macht somit die Entscheidung auf die jeweils zugrunde liegende Norm rückführbar, nachprüfbar und kontrollierbar. Dazu hat sie inhaltlich nicht die einzelnen tatsächlichen Entscheidungsschritte des Gerichts darzulegen, sondern die Herleitung des konkreten Ergebnisses aus der Verfassung zu vermitteln. Dabei sind die Besonderheiten des Einzelfalles zugrunde zu legen. Das Verfassungsrecht ist i m Hinblick auf diesen Einzelfall dahin zu konkretisieren, daß dessen Entscheidung auf das Grundgesetz zurückgeführt werden kann. Die Berufung auf Präjudizien ist dabei nur insoweit zulässig, als sie ihrerseits aus den Eigenarten der zugrunde liegenden Sachverhalte begründbar ist 5 6 . Die demokratische Legitimation verfassungsgerichtlicher Normenkontrollentscheidungen durch Bindung an das Grundgesetz setzt somit voraus, daß das Verfahren verfassungsorientiert ist und dies durch die Verfahrensöffentlichkeit nach außen dokumentiert w i r d sowie daß die Entscheidung inhaltlich auf das Grundgesetz rückführbar ist und diese Rückführbarkeit aus den Entscheidungsgründen deutlich wird. Die Öffentlichkeit wie die Begründungspflicht sichern so gegenüber dem Gericht die Herleitbarkeit seines Verfahrens wie seiner Entscheidungen aus dem geltenden Recht und machen dies zugleich für die Allgemeinheit deutlich. Mittelbare demokratische Wahl der Organwalterbestellung und die Bindung an das Grundgesetz begründen somit die demokratische Legitimation verfassungsgerichtlicher Normenkontrollentscheidungen 57 .

65

Brüggemann, Begründungspflicht, S. 127 ff. Dazu Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 271 (ff.). 57 Zur Bedeutung der Methoden der Verfassungsinterpretation in diesem Kontext Zimmer, Funktion, S. 124 ff. 56

4. TEIL

Die Kompetenzabgrenzung zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht Die so aus dem Grundgesetz entwickelten Charakteristika legislativer und verfassungsgerichtlicher Tätigkeit lassen als positiv-rechtliche Ausprägung der funktionellen Gewaltenteilung konkrete Kriterien zur Kompetenzabgrenzung zwischen dem Gesetzgeber und der Verfassungsgerichtsbarkeit erkennen. Diese sollen i m folgenden aufgezeigt und angewandt werden. Dabei hat die Darstellung der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Kompetenzverteilung gezeigt, daß der Legislative angesichts der Offenheit und Lückenhaftigkeit der Verfassung eine weitgehende, freie Gestaltungskompetenz zukommt. Kraft ihres freien Zugriffsrechts kann sie grundsätzlich jede Materie zum Gegenstand gesetzlicher Normierung machen. Dieses Recht w i r d durch das Grundgesetz keineswegs stets inhaltlich determiniert; vielmehr legt dieses nur gewisse äußere Leitlinien und Grenzen fest. Die Tätigkeit des Gesetzgebers w i r d demnach durch das Verfassungsrecht primär negativ determiniert, nämlich begrenzt. Demgegenüber ist das Bundesverfassungsgericht auf das Grundgesetz als Handlungsgrundlage und -titel verwiesen; es darf nur und nur so weit handeln, wie es die Verfassung vorsieht. Die Tätigkeit des Gerichts w i r d somit durch das Grundgesetz nicht negativ limitiert, sondern vielmehr positiv legitimiert. Insoweit besteht bezüglich der Bedeutung der Verfassung für beide Staatsorgane ein Gesetz. Die Kompetenzkonkurrenz zwischen ihnen, die aus der Gleichheit ihrer Handlungs- und Entscheidungsmaßstäbe i m Grundgesetz und ihrer fehlenden Gesetzesbindung resultiert, ist aus dieser unterschiedlichen Bedeutung der Verfassung für ihre jeweilige Aufgabenerfüllung zu lösen. Wesentlich ist dabei das relative Übergewicht der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts: Das Gericht ist zwar nicht an Gesetze als Willensäußerungen der Legislative, wohl aber der Gesetzgeber an Urteile und Beschlüsse des Gerichts gebunden. Ein Ubergreifen der Legislative i n die verfassungsgerichtlichen Kompetenzen ist daher wegen der letztverbindlichen Korrekturzuständigkeit des Gerichts weitgehend ausgeschlossen. Hingegen ist die Zuständig-

I. Die Entscheidungsgrundlagen des Bundesverfassungsgerichts

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keitsüberschreitung des Gerichts zu Lasten des Gesetzgebers wegen fehlender legislativer Ausgleichsmechanismen durchaus möglich. Die Kompetenzabgrenzung muß demnach i n der Weise geschehen, daß die Sphäre der Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts umgrenzt und somit gegenüber derjenigen der Legislative umrissen und abgesetzt werden kann. Hierzu sollen zunächst die rechtlichen Grundlagen der verfassungsgerichtlichen Entscheidungstätigkeit i m Grundgesetz thematisiert werden. Sodann werden seine Zuständigkeiten i n Tatsachenfragen als Entscheidungsgrundlage und i n Rechtsfragen als Entscheidungsinhalt und -folgen erörtert. I. Die normativen Grundlagen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts I m Normenkontrollverfahren ist die Entscheidungsgrundlage kein einfaches Gesetz, sondern die Verfassung. Weist diese gegenüber den Gesetzen inhaltliche Eigenarten auf, so stellt sich das Problem, inwieweit diese Verschiedenheit für die Kompetenzabgrenzung zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht Bedeutung erlangt. 1. Anforderungen an die Regelungsdichte der Entscheidungsgrundlagen

Die inhaltliche Überprüfung eines Gesetzes auf seine Übereinstimmung m i t der Verfassung setzt voraus, daß die Verfassung inhaltliche Bindungen für die Materie des Gesetzes enthältIst das Bundesverfassungsgericht als Entscheidungsgrundlage und -legitmation auf das Grundgesetz verwiesen, so bedingt diese Voraussetzung, daß die Verfassung überhaupt eine Norm enthält, welche für den jeweiligen Einzelfall einen Entscheidungsmaßstab bietet. Das kann nur der Fall sein, wenn der Regelungsbereich der angegriffenen und überprüften Norm vom Tatbestand einer Vorschrift des Grundgesetzes umfaßt wird. Angesichts der inhaltlichen Lückenhaftigkeit der Verfassung kann dabei nicht ein Vorverständnis zugrundegelegt werden, nach welchem dieser sämtliche Regelungsbedürfnisse des Gemeinwesens oder sämtliche potentiellen Bereiche staatlichen Handelns selbst steuern oder inhaltlich determinieren w i l l . Vielmehr ist stets eine bestimmte Norm aufzufinden, welche ihrem Tatbestand nach auf das jeweils zu überprüfende Gesetz anwendbar ist. Nur soweit i m Einzelfall tatsächlich Verfassungsnormen tatbestandlich einschlägig sind, kann sich die weitere Frage 1

Forsthoff,

GS Jellinek, S. 230.

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nach deren konkreten Rechtsfolgen als Handlungs- und Entscheidungsmaßstab stellen. Früher entstand dabei bisweilen das Problem, ob und inwieweit sich das Bundesverfassungsgericht auf Normen der Religion oder der Moral berufen kann 2 . Von praktisch weitaus größerer Bedeutung ist die Frage des „ungeschriebenen Verfassungsrechts" 3. Hier stellt sich das Kompetenzproblem m i t zentraler Deutlichkeit. Hat das Grundgesetz dadurch, daß es eine Materie nicht durch einzelne Normen regelte, diesen Bereich offengelassen und insoweit der Legislative zur eigenverantwortlichen Gestaltung überantwortet? Oder ist die Materie durch „ungeschriebenes Verfassungsrecht" implizit doch vorgeprägt und so dem Bundesverfassungsgericht zur gestaltenden Konkretisierung aufgegeben? Das Bundesverfassungsgericht hat bereits frühzeitig für sich die Kompetenz i n Anspruch genommen, auch ungeschriebene Normen seinen Entscheidungen zugrundezulegen. Danach besteht das Verfassungsrecht nicht nur aus den einzelnen Sätzen der geschriebenen Verfassung, sondern auch aus gewissen sie verbindenden, inhaltlich zusammenhaltenden allgemeinen Grundsätzen und Leitideen, die der Verfassungsgesetzgeber, weil sie das vorverfassungsmäßige Gesamtbild geprägt haben, von dem er ausgegangen ist, nicht zu einem besonderen Rechtssatz konkretisiert hat 4 . Als solchen Grundsatz sah das Gericht etwa das Rechtsstaatsprinzip. W i r d die Existenz ungeschriebenen Verfassungsrechts damit begründet, daß andernfalls das Grundgesetz kein „lückenloses System" darstellen würde, so ist dem entgegenzuhalten, daß die Verfassung keinen Anspruch auf Lückenlosigkeit erhebt. Daher besteht auch weder ein Bedürfnis, solche Lücken gerade auf Verfassungsebene zu schließen noch ihre Schließung dem Bundesverfassungsgericht zu überantworten. Die Offenheit der geschriebenen Verfassung ist nicht einfach durch die Annahme ungeschriebenen Verfassungsrechts rückgängig zu machen 5 . Darüber hinaus w i r d zur Begründung für den Rekurs auf solche ungeschriebenen Normen angeführt, daß sich bei dem fragmentarischen Charakter der Verfassungsurkunde weitere Rechtsfragen ergeben, für deren Beantwortung ein geschriebener Rechtssatz nicht zur Verfügung stehe, „so daß auf ungeschriebenes Recht zurückgegriffen werden müsse" 6 . Diese Ansicht schließt von dem Vorhandensein eines Regelungsbedürfnisses auf die Existenz einer anwendbaren Norm i n der Verfassung. Damit werden jedoch zwei wesentliche Schritte übersprungen. Zunächst 2

Ablehnend Kaufmann, VVDStRL 9, 15 f. Dazu H. Huber, Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, S. 329 ff., insbes. S. 335 ff.; Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, 1972. 4 BVerfGE 2, 403. 5 So auch Hesse, S. 14; eingehend Wahl, DSt 1981, 508 ff. β Kaufmann, VVDStRL 9, 13 f. 3

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ist schon der Schluß vom Regelungsbedürfnis auf die Geltung einer Norm fragwürdig. Normen entstehen erst als Ergebnis eines Prozesses von Rechtsetzung. Dafür können Regelungsbedürfnisse zwar Problemimpulse darstellen, andererseits ist dieser Impuls noch nicht der Gesetzeserlaß selbst. Daneben fehlt auch die Begründung dafür, warum die einschlägige Norm gerade eine solche des Verfassungsrechts sein sollte. Die Lückenhaftigkeit des Grundgesetzes ist vielfach keine ungewollte oder zufällige, sondern bewußt; viele Fragen sind nicht nur i m Grundgesetzt ungeregelt, sie sollten dort auch offen bleiben und dem einfachen Gesetzgeber zur Gestaltung überantwortet werden. Daher entspricht auch nicht jedem Regelungsbedürfnis eine Norm auf Verfassungsebene. Vielmehr ist stets zunächst zu ermitteln, ob die Verfassung die jeweilige Materie überhaupt selbst gestalten wollte. Von der Existenz eines Regelungsbedürfnisses kann somit weder auf die Geltung eines einschlägigen Rechtssatzes noch gerade auf die Geltung von Verfassungsrecht geschlossen werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Existenz von ungeschriebenem Verfassungsrecht daher völlig ausgeschlossen wäre. Es kann aber wegen der Lückenhaftigkeit des Grundgesetzes noch nicht aus dem Fehlen einer positivierten Regelung hergeleitet werden. Das gilt zumindest stets dann, wenn die Lücke bewußt gelassen wurde. Wollte der Verfassungsgeber eine Materie nicht regeln, so ist insoweit jede Ergänzung durch ungeschriebenes Recht ausgeschlossen. Anders ist es hingegen, wenn eine Materie durch geschriebenes Recht nicht geregelt wird, nach der Intention des Verfassungsgebers jedoch gerade durch das Grundgesetz normiert werden sollte. Ist ein solcher Wille feststellbar, kann sich die Frage nach dem ungeschriebenen Verfassungsrecht und seinem jeweils möglichen Inhalt überhaupt erst stellen. Nicht maßgeblich ist demnach der tatsächliche Regelungsbedarf, sondern vielmehr der Inhalt des positiven Verfassungsrecht und der Wille des Verfassunggebers. Nur wenn diese einen ungewollt nicht geäußerten Gestaltungswillen erkennen lassen, kann die lückenhafte constitutio scripta durch ungeschriebene Grundsätze aufgefüllt werden. Insofern ist es zutreffend, wenn das ungeschriebene Verfassungsrecht nur als Entfaltung, Vervollständigung und Fortbildung der Prinzipien der geschriebenen Verfassung qualifiziert w i r d und immer i n Übereinstimmung m i t diesen geschriebenen Normen stehen muß 7 . Ein Beispiel geglückter Bildung ungeschriebener Grundsätze ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen kraft „Natur der Sache" oder kraft „Sachzusammenhangs" 8 . 7 8

Hesse, S. 14 f. Nachweise bei Leibholz / Rinck, v o r A r t . 70 - 82, Rn. 8 ff.

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Ist eine auf den Einzelfall tatbestandsmäßig anwendbare Verfassungsn o r m aufgefunden, so sind deren inhaltliche Anforderungen an das Staatshandeln zu ermitteln. Diese ergeben sich aus den Rechtsfolgen der jeweils anwendbaren Vorschriften. Das Gericht hat diese Rechtsfolgen bei der Normenkontrolle i m Wege der Auslegung zu ermitteln. Bei diesem Vorgang erlangt die Offenheit der Verfassung Bedeutung. Bezieht sich die Lückenhaftigkeit des Grundgesetzes darauf, daß es nicht für jede Materie eine tatbestandsmäßig anwendbare Vorschrift enthält, so charakterisiert die Offenheit der Verfassung die i n i h r normierten Rechtsfolgen. Diese weisen eine sehr unterschiedliche Regelungsdichte auf. Bisweilen enthält das Grundgesetz Normen, deren Rechtsfolgen weitgehend aus sich selbst heraus ohne besondere Rücksichtnahme auf j e spezifische äußere Umstände oder extrakonstitutionelle Regelungen konkretisierbar sind. Hierzu zählen manche Vorschriften i m Organisationsrecht, etwa A r t . 45 a I, 48 I I I 2, 56, 73 Nr. 3, 102 GG. Daneben finden sich jedoch auch Vorschriften, die lediglich allgemeine Leitsätze oder Prinzipien enthalten, welche zwar abstrakte Zielsetzungen vorgeben, aber die jeweilige Materie n u r sehr allgemein u n d wenig erschöpfend regeln. Hierzu zählen etwa das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I GG), die Grundsätze der Haushalts- u n d Finanzpolitik (Art. 109 GG) oder die Gemeinschaftsaufgaben auf dem Bildungssektor (Art. 91 b GG). Eine allgemeine Kategorisierung von Normen nach ihrer Regelungsdichte etwa entsprechend dem Grundsatz, daß Organisationsnormen konkret u n d wirtschaftspolitische Vorgaben abstrakt seien, läßt sich nicht durchführen. Vielmehr finden sich auch i m Organisationsrecht offene Normen (etwa A r t . 74 Nr. 7, 72 I I GG) oder f ü r die Wirtschaftsp o l i t i k sehr konkrete Regelungen (etwa A r t . 114 I GG). Wie offen eine Vorschrift ist, läßt sich n u r ihrer jeweiligen Rechtsfolgenbestimmung selbst entnehmen 9 . Aus diesen besonderen Eigenschaften des Grundgesetzes ergibt sich eine Besonderheit verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Nach der Prüfung der tatbestandsmäßigen Anwendbarkeit einer Vorschrift ist zunächst festzustellen, ob die N o r m für den vorliegenden Sachverhalt eine hinreichende Regelungsdichte aufweist. Maßgeblich hierfür sind zwei Faktoren: Der Normtext als objektivierte Äußerung des Willens der Verfassung u n d der m i t der Vorschrift v o m Verfassunggeber verfolgte Zweck. Weist der Wortlaut die erforderliche Dichte auf, so ist die Vorschrift durch das Bundesverfassungsgericht u n m i t t e l b a r anwendungsfähig. Ist hingegen der Wortlaut w e i t gefaßt u n d entspricht diese Weite der Intention des historischen Verfassungsgebers, so k a n n das Bundesverfassungsgericht seine Konkretisierung n u r insoweit selbst • Grundlegend Haller f DöV 1980, 470; s. auch schon Wolff , GS Jellinek, S. 46 f.; zum folgenden Drath, VVDStRL 9, 90 ff.; Kriele, NJW 1976, 780 ff.

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übernehmen, als die Regelung unmittelbar anwendungsfähig ist und sein w i l l . Das ergibt sich aus der Verfassungsbindung des Gerichts auch i m Normenkontrollverfahren. Diese Bindung ist nur gewahrt, sofern dem Grundgesetz ausschließlich solche Rechtsfolgen entnommen werden, welche sich i m Wege zulässiger Interpretation aus i h m herleiten lassen. Das Grundgesetz ist nur insoweit gerichtlich konkretisierungsfähig, als es selbst auslegungsfähig sein w i l l . Offenheit bedeutet hier für das Bundesverfassungsgericht gerade nicht einen Konkretisierungsauftrag, sondern ein Konkretisierungsverbot. Insoweit steht die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle der rechtsprechenden Tätigkeit der Fachgerichte diametral entgegen. Haben diese die Aufgabe, unter Anwendung der juristischen Methoden die Gesetze so weit zu konkretisieren, daß sie i m Anwendungsfall stets eine eindeutige Rechtsfolge ergeben, so ist gerade dies dem Bundesverfassungsgericht aus funktionellen Gründen und dem Bedürfnis nach seiner demokratischen Legitimation untersagt. Hier treffen sich juristische Methoden und gerichtliche Kompetenzen. Die Dichte der gerichtlichen Kontrolle korrespondiert demnach der Dichte der als Kontrollmaßstab dienenden Verfassungsnorm 10 . Die Grenze der Verfassungsauslegung ist daher erreicht, wenn die Verfassungsnorm das Handeln des Gesetzgebers nicht mehr hinreichend programmiert, wenn vielmehr für die Entscheidung weitere, nicht mehr i m Normprogramm zum Ausdruck kommende Gesichtspunkte, vor allem politische Wertungen, benötigt werden 1 1 . Soweit das Grundgesetz selbst keine ausreichende Bestimmtheit des Maßstabes zur Verfügung stellt, ist die gestaltende Rechtsbildung erforderlich. Steht diese dem Bundesverfassungsgericht nur nach Maßgabe grundgesetzlicher Vorgaben zu, so ist, hält die Verfassung solche nicht bereit, der Gesetzgeber gefordert. Läßt die Auslegung des Grundgesetzes nach Inhalt und Zweck einer Vorschrift ein gewisses Spektrum an möglichen Rechtsfolgeanordnungen zu, so sind diese untereinander gleichwertig. Hier gelangt die gerichtliche Interpretationskompetenz an ihre Grenze. Das gilt analog auch für das ungeschriebene Verfassungsrecht. Hier sind wegen des fehlenden textlichen Ausdrucks des Gestaltungswillens an dessen Inhalt und Eindeutigkeit hohe Anforderungen zu stellen. Erst wenn auf diese Weise eindeutige Rechtsfolgen konkretisierbar sind, ist i m dritten Schritt der Normenkontrolle zu untersuchen, ob das zu prüfende Gesetz dagegen verstößt. Diese Einschränkung der Nachprüfungskompetenzen des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich nicht aus einer Selbstbeschneidung seiner 10 Badura, FS Fröhler, S. 329; diesen Aspekt übergeht Murswiek, DÖV 1983, 529 ff. 11 Steinberg, JZ 1980, 387.

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eigenen Zuständigkeiten, sondern aus den Vorgaben und Anforderungen des Grundgesetzes. Daher ist es nicht möglich, einen Gegensatz zwischen dem Entscheidungszwang bzw. dem Rechtsverweigerungsverbot für Gerichte und dem so verstandenen Gebot des "judicial self restraint" herzuleiten 1 2 . Ist das Bundesverfassungsgericht als Entscheidungsmaßstab auf das Grundgesetz verwiesen, so kann seine funktionelle Interpretationskompetenz nicht weiter reichen, als das Grundgesetz reicht. M i t der fehlenden Eindeutigkeit grundgesetzlicher Rechtsfolgeanordnungen enden zugleich die Konkretisierungsmöglichkeiten und -befugnisse des Gerichts. Die so verstandene Zurückhaltung steht nicht i m Gegensatz zur Verfassungsbindung des Gerichts, sondern ist gerade ihr Ausdruck. Dem kann auch nicht m i t dem Argument entgegengetreten werden, die Auslegung weitgefaßter, unbestimmter Rechtsbegriffe gehöre zur ständigen Praxis aller Gerichte. Hier bedingen die Besonderheiten von Grundgesetz und verfassungsgerichtlicher Normenkontrolle, daß eine Konkretisierungskompetenz nur insoweit bestehen kann, als sie mit der funktionellen Kompetenzordnung zwischen den Staatsorganen und den Anforderungen des Grundgesetzes an gesetzgeberisches Handeln vereinbar ist. Diese Grundsätze eingeschränkter Nachprüfungskompetenz werden i n jüngerer Zeit Systematisierungsversuchen unterzogen. So w i r d insbesondere erörtert, bezüglich der Kontrolldichte nach „Verhaltenskontrolle", „Verfahrenskontrolle" und „Ergebniskontrolle" zu differenzieren; als Maßstäbe sollten die strikte „Inhaltskontrolle", die „Vertretbarkeitskontrolle" und die „Evidenzkontrolle" dienen 13 . So zutreffend die Ergebnisse i m Einzelfall sein mögen, so zeigen sie zugleich die Schwierigkeiten der Systembildung. So kann zwischen „Verhalten" und „Verfahren" kaum anders als danach entschieden werden, ob das Grundgesetz für ein Verhalten Verfahrensnormen bereithält oder nicht. Damit wäre aber nicht mehr „Verhalten" oder „Verfahren", sondern die jeweilige Verfassungsnorm der Maßstab der Kontrolldichte. Das Grundgesetz hält insbesondere für „Ergebnisse" staatlichen Handelns wesentlich konkretere und differenzierte Anforderungen bereit als für manches informelle „Verhalten". Ausgangspunkte der Kontrolldichte sind somit nicht systematische Einteilungskriterien staatlichen Handelns, sondern die materiellen verfassungsrechtlichen Anforderungen an dieses i m Einzelfall 1 4 . Ein Beispiel gelungener Entscheidungspraxis zur verfassungsgerichtlichen Zurückhaltung bei geringer Dichte der Verfassung ist die Recht12 Anders: v. d. Heydte, FS Geiger, S. 909 ff., insbes. 924; Achterberg, VVDStRL 38, 76 ff. 13

14

Schneider, N J W 1980, 2103, 2105 ff.

Schiaich, VVDStRL 39, 112.

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sprechung zur „Bedürfniskompetenz" des Bundes i n Gesetzgebungsangelegenheiten nach A r t . 72 I I GG. Ob und inwieweit ein solches Bedürfnis besteht, kann mit juristischen Mitteln nicht konkretisiert werden. Vielmehr sind hier Besonderheiten der jeweiligen Materie, des Verständnisses des Bundes und der Länder von ihrem jeweiligen Staatszweck und reale Vorgaben zu berücksichtigen. I m Erforderlichkeitsbegriff werden diese zwar thematisiert, aber nicht abschließend geregelt. Andernfalls müßte das Bundesverfassungsgericht seinerseits entscheiden, ob für ein Gesetz überhaupt ein politisches Bedürfnis besteht und dieses ggf. eine Normierung durch den Bund bedingt. Besteht schon kein Bedürfnis nach einer Regelung überhaupt, so kann auch keines nach einer Gestaltung gerade durch den Bund existieren. Schon für die Beantwortung der ersten Frage enthält das Grundgesetz jedoch keinerlei Maßstab. Da hier extrakonstitutionelle Wertungen Entscheidungsgrundlage wären, obliegt die Gestaltungskompetenz eben nicht dem Gericht, sondern dem Gesetzgeber. Insofern ist hier der Verweis auf das legislative Ermessen und die eingeschränkte Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts notwendig und zutreffend 15 .

2. Die Abwehrdimension der Grundrechte als Entscheidungsgrundlage

I m Gegensatz zu den Organisationsnormen enthalten die Grundrechte nicht lediglich formell-verfahrensmäßige, sondern schwerpunktmäßig inhaltliche Vorgaben für das Staatshandeln 16 . Sie normieren eine Sphäre individueller Lebensgestaltung, i n welcher der Einzelne — allein oder mit anderen — seine Persönlichkeit frei von staatlichen Eingriffen entfalten kann. Diese Freiheitsrechte sind demnach primär Verbotsnormen; sie untersagen staatliche Eingriffe, sofern sie nicht spezifische Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen erfüllen. Als Abwehrrechte determinieren sie das Staatshandeln somit negativ; sie enthalten lediglich Aussagen darüber, was die Staatsorgane nicht tun dürfen, positive Gebote sind aus ihnen hingegen nicht herleitbar. Den dadurch Geschützten werden Abwehr-, Beseitigungs- und Reaktionsansprüche eingeräumt, die klageweise gerichtlich durchsetzbar sind. Von einem solchen, überkommenen Verständnis geht das Bundesverfassungsgericht zumindest partiell aus; daß den Freiheitsrechten darüber hinaus weitere W i r k u n gen zugesprochen werden, ändert an diesem Ausgangspunkt nichts 17 . 15 BVerfGE 2, 213, 224 f.; zur Praxis Nachweise bei Leibholz / Rinck, Art. 72 Rn. 4 ff. 16 Zum folgenden Schmitt Glaeser, Mißbrauch, S. 85 ff.; Rupp, Grundfragen, S. 171. 17 BVerfGE 7, 198, 204 f.

10 Gusy

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Grundlage verfassungsgerichtlicher Entscheidungen über die Vereinbarkeit von Gesetzen mit dem Grundgesetz kann diese Grundrechtsdimension nur i n solchen Fällen sein, i n denen der Gesetzgeber eine sich als Eingriff darstellende Verkürzung der individuellen Freiheitssphäre anordnet. Andere Normen werden von der Abwehrdimension nicht tangiert. Die grundgesetzlichen Eingriffsverbote weisen eine vergleichsweise hohe Regelungsdichte auf. Das gilt zunächst insofern, als die einzelnen Freiheitsbereiche tatbestandlich deutlich umrissen sind. Mögen bei der Bestimmung und Abgrenzung einzelner Schutzbereiche nach wie vor Probleme bestehen, so ändert dies nichts daran, daß das Grundgesetz vergleichsweise ausführlich und exakt einzelne Sphären thematisiert, welche einen hohen Grad an Bestimmbarkeit aufweisen. Aber nicht nur diese Tatbestandsmerkmale, sondern auch die Rechtsfolgen sind vergleichsweise dicht. Das grundrechtliche Eingriffsverbot ist als solches seif-executing; es bedarf über die bloße Interpretation hinaus keiner weiteren Ausführungs-, Verwirklichungs- oder Konkretisierungsmaßnahmen durch Gesetzgebung oder Verwaltung. Die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle ist also i n diesem Sinne keine Vollziehung grundgesetzlicher Regelungsanordnungen, sondern lediglich die Überwachung ihrer Beachtung 18 . M i t dieser Kontrolle stellt sich der von den Abwehrrechten angestrebte Zustand von selbst ein. Zudem entspricht die dem Bundesverfassungsgericht zustehende Interpretations- und Überwachungskompetenz funktionell weitgehend den Eigenarten des gerichtlichen Verfahrens 19 . Die Entscheidung über Normverstöße ist kein Spezifikum der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern stellt allgemein einen zentralen Gegenstand richterlicher Tätigkeit dar. Zudem ist der i m Verfahren vorzunehmende Abwägungsvorgang relativ einfach strukturiert. Regelmäßig w i r d dem Einzelnen etwas ge- oder verboten i m Interesse einer jeweils konkretisierten Emanation des Gemeinwohls, also eines Belanges der Allgemeinheit. Für einen solchen eindimensionalen Abwägungsvorgang hält das Grundgesetz einige Maßstäbe bereit, insbesondere die einzelnen Gesetzesvorbehalte und die Garantien des A r t . 19 I, I I GG 2 0 . Diese Abwägungsmaßstäbe können i n jeder konkreten Entscheidungssituation nur zwei alternative Urteile gebieten: Die Bestätigung eines Gesetzes als verfassungsgemäß oder seine Aufhebung als verfassungswidrig. Dabei ist der Sachverhalt zugrundezulegen, wie er i m Zeitpunkt des Verfahrens besteht. Diese möglichen Entscheidungen sind ihrerseits self-executing; sie bedürfen über ihren bloßen Ausspruch hin18

Dazu Dürig in MDHS, Art. 2 Rn. 5 Fn. 1. Dazu Schuppert, Grenzen, S. 39 f. 20 Darüber hinaus wird regelmäßig das durch die Rechtsprechung konkretisierte Übermaßverbot herangezogen. 19

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aus keiner weiteren Vollziehung. Sofern das Gericht Folgeprobleme regelt, w i r d dies nicht durch die Grundrechte als Abwehrrechte geboten. Die Abwehrdimension der Grundrechte ist somit wegen ihrer Dichte einer strikten verfassungsgerichtlichen Anwendung zugänglich und entspricht insoweit auch den verfahrensrechtlichen Eigenarten des Bundesverfassungsgerichts. Das gilt nach den dargestellten Eigenschaften allerdings noch nicht für die Grundrechte allgemein, sondern nur für diese eine Wirkungsweise. Weist ein Verfassungsrechtssatz bezüglich einer einzelnen Rechtsfolge eine solche Dichte auf, so ist bezüglich anderer möglicher Wirkungen stets eigens zu untersuchen, ob er auch insoweit entsprechend dicht ist und daher i n gleicher Weise als Entscheidungsgrundlage herangezogen werden kann. Die Dichte der grundrechtlichen Abwehrdimension und die daraus resultierende weitreichende Interpretations- und Verwirklichungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts entspricht zudem dem Sinn dieser Abwehrrechte i m demokratischen Staat 21 . Hier sind die Grundrechte die zentrale Komponente des Minderheitenschutzes. Zur Sicherung ihrer Rechte ist das Mehrheitsprinzip durch die Verfassung vielfach eingebunden und begrenzt. Dadurch werden bestimmte Sphären dem Zugriff der Mehrheit i m Volk, wie dem Parlament, entzogen. Diese Tatsache ist Ausdruck der Legitimität und Legalität der Minderheit i n der Demokratie. Sie ist zwar an der Herrschaftsausübung selbst nicht unmittelbar beteiligt, soll jedoch durch die Majorität nicht i n ihren elementaren Rechtspositionen tangiert werden. Erst dadurch w i r d der Minorität verfassungsrechtlich die Möglichkeit garantiert, sich selbst abweichend vom politischen Kurs von Parlament und Regierung politisch zu betätigen und ihre Ansichten i n den Prozeß der Staatswillenbildung einzubringen. So w i r d die Möglichkeit demokratischer Kontrolle und alternativen Verhaltens der Opposition verbürgt. Dadurch sind nicht nur menschenrechtliche Standards positiviert, sondern zugleich wesentliche Grundlagen für den demokratischen Prozeß gelegt. Wahl, Kontrolle und Revisibilität als Mechanismen demokratischer Legitimation der Legislative setzen die Möglichkeit abweichender Meinungsäußerung und politischer Betätigung voraus. Erst so können zumindest die Voraussetzungen alternativer Mehrheitsbildung geschaffen werden. Der Minderheit bleibt so die Möglichkeit garantiert, selbst einmal die Mehrheit für sich zu gewinnen. Erst aus dieser verbürgten Chance einer späteren Durchsetzung des eigenen Standpunktes kann sich für die dissentierende Minderheit das Mehrheitsprinzip legitimieren. 21 Scheuner, DöV 1980, 479 f.; K. Grimmer, Demokratie und Grundrechte, S. 246 ff.; Müller, VVDStRL 39, 92 ff.

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Die Chance dazu hängt allerdings von der Effektivität des grundrechtlichen Schutzes der Minderheit ab. Nur wenn wirksame Vorkehrungen bestehen, die Einhaltung solcher Garantien zu überwachen, kann dieses Spannungs- und Komplementärverhältnis zwischen demokratischer Mehrheitsherrschaft und verfassungsrechtlichem Minderheitenschutz funktionsfähig bleiben. Hier liegt die zentrale politische Dimension der grundrechtlichen Abwehrdimension. Bei deren Verwirklichung findet das Bundesverfassungsgericht eine wesentliche Aufgabe. Diese bringt es zugleich i n ein notwendiges Spannungsverhältnis zur jeweiligen politischen Mehrheit. Grundrechte vermögen so nicht den Staat, wohl aber die politischen Majoritäten zu erschüttern. Darin liegt ihre gewandelte demokratische Funktion: Nicht Begrenzung der Macht monarchischer Exekutive, sondern parlamentarischer Majorität 2 2 . 3. Gesetzgebungsaufträge als Entscheidungsgrundlage

Neben den Grundrechten als Abwehrrechten enthält das Grundgesetz eine Vielzahl weiterer materieller Bindungen der Staatsgewalt. Diese als „Verfassungsaufträge", „Verfassungsdirektiven" oder „Staatszielbestimmungen" bezeichneten Rechtssätze23 unterscheiden sich von den Abwehrrechten insofern, als sie nicht negative Verbote, sondern positive Gebote für das Staatshandeln aufstellen. Sie limitieren demnach nicht die Entscheidungszuständigkeit der Mehrheit i n der Demokratie, indem sie die Minderheit schützen. Vielmehr binden sie die demokratischen Entscheidungen formell oder materiell; sie legen also der Mehrheit nicht Bindungen um der Minderheit willen auf, sondern zur Herstellung des Gemeinwohls über das Ziel der Sicherung grundrechtlicher und demokratischer Standards hinaus. Mit diesem Gebotscharakter t r i t t zugleich ein zentraler Unterschied ihrer Wirkungsweise gegenüber den Abwehrrechten hervor: Sie sind ihrerseits nicht self-executing. Die von solchen Auftragsnormen intendierten Rechtsfolgen treten nicht von selbst ein, sondern sind ausfüllungs- und ausführungsbedürftig. Die Verfassung verwirklicht sich hier nicht von selbst, sondern ist auf gestaltendes, planendes und lenkendes Handeln der Staatsorgane angewiesen. Erst sie können den Zustand herstellen, erhalten und sichern, welchen schon das Grundgesetz angestrebt hat. Angesichts der verwirrenden Begriffsvielfalt soll hier zwischen Gesetzgebungsaufträgen und Staatszielbestimmungen unterschieden werden. Beide gemeinsam stellen die Verfassungsaufträge dar. Die Differenzierung erfolgt nach ihrer Wirkungsweise, also ihren Rechtsfolgen 24 . 22 23

Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 1,1 6, I I 8. Zurückhaltend Denninger, JZ 1966, 767 ff., insbes. 770.

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a) Regelungslücken und Gesetzgebungsaufträge Vorab kann eine Sonderkonstellation behandelt werden. Sie liegt vor, wenn das bisher geltende Recht außer Kraft tritt. Das kann geschehen, wenn es für nichtig erklärt wird, verfassungswidrig w i r d oder sonst seine Gültigkeit endet. Solche seltenen Konstellationen traten bislang überwiegend bei einem Auslaufen von Übergangsvorschriften auf. A m 31. 3.1953 traten die mit A r t . 3 I I GG unvereinbaren Normen als verfassungswidrig außer Kraft, ohne daß bis dahin der Gesetzgeber eine Anpassung oder Neuregelung vorgenommen hätte 2 5 . M i t der Ablehnung der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis wurden die Regelungen über den Strafvollzug rechtswidrig und — nach einer Übergangszeit — ungültig, während das Strafvollzugsgesetz noch i m Stadium parlamentarischer Beratung w a r 2 6 . Zu einer regelungslosen Zeit kam es nur deshalb nicht, weil das Gesetz rechtzeitig i n K r a f t trat. Damit traten Situationen ein, i n welchen früher geltendes, als unentbehrlich angesehenes Recht außer Geltung geriet, ohne daß neue Regelungen an seine Stelle traten. Verfassungsrechtlich war diese Lage dadurch gekennzeichnet, daß hier kein ausdrückliches rechtliches Gebot bestand, welches die Staatsorgane oder gar ein bestimmtes von ihnen zu positivem Handeln verwirklicht hätte. Sofern sich der Gesetzgeber zum Handeln verpflichtet fühlte, war dies zumindest nicht ausdrücklich verfassungsrechtlich begründet 2 7 . Derartige Handlungsmotive konnten daher nicht rechtlicher, sondern höchstens politischer Natur sein. Sofern es der Gesetzgeber politisch nicht für erforderlich hielt, die Rechtsstellung der Frauen oder der Strafgefangenen besonders zu regeln, so konnte dies einen Problemimpuls für die Einleitung eines Gesetzgebungsverfahrens darstellen, nicht hingegen zur Begründung von Rechtspflichten führen. Die fehlende Regelung jener Materien wäre dann ein sozial unerwünschter Zustand, der wie jeder andere Problemimpuls wirken würde 2 8 . Das 24 Mag dieses Raster nicht die letzten Feinheiten von Freiheit und Bindung der Legislative erfassen, so sei dies damit legitimiert, daß hier ausschließlich die Kompetenzordnung zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht thematisiert werden soll, nicht hingegen eine Lehre von den Verfassungsaufträgen; dazu Lerche, AöR 1965, 341 ff.; Scheuner, FS Forsthoff, S. 325 ff. 25 BVerfGE 3, 225 ff. 2e BVerfGE 33, 1 ff.; weitere Beispiele bei Pieroth, VerwA 1977, 217 ff., insbes. S. 222 ff. 27 Das gilt zumindest dann, wenn man den Handlungsauftrag aus Art. 117 I GG mit dem 31.3.1953 insoweit als erledigt ansah, als nunmehr alles entgegenstehende Recht eo ipso unwirksam wurde und sich so die geforderte „Anpassung" von selbst einstellte. Inwieweit in diesem oder im anderen Fall die Wertordnungslehre Verpflichtungen hätte begründen können, bleibt unklar; s. aber BVerfGE 48, 127 ff. 28 s. o. 3. Teil, I I 1 a).

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freie Zugriffsrecht des Parlaments wäre damit verfassungsrechtlich nicht eingeschränkt. Dieses Zugriffsrecht steht damit allen Staatsorganen entsprechend den allgemeinen Regeln, insbesondere den Vorschriften über die Gewaltenteilung, zu. Sie regeln, welches Organ für die Gestaltung der jeweiligen Materie zuständig ist. Von besonderer Bedeutung sind dabei der Gesetzesvorbehalt und die Zulässigkeit und Grenzen des Richterrechts. Hier ist die Legislative zum Zugriff zwar berechtigt, vom Grundgesetz hingegen nicht verpflichtet, tätig zu werden. I h r freies Zugriffsrecht bleibt uneingeschränkt erhalten. Entsteht für sie keine Rechtspflicht zum Handeln, so kann sie auch von keinem Kontrollorgan dazu gezwungen werden. Eine Verurteilung zum Handeln durch das Bundesverfassungsgericht wäre insofern unzulässig, da für eine solche Verpflichtung keine Rechtsgrundlage i m Grundgesetz existiert. Neben der fehlenden Rechtspflicht zum Handeln existieren bei dieser Konstellation auch keine spezifischen inhaltlichen Bindungen der Legislative. Vielmehr ist der Gesetzgeber bei seinem Handeln an die allgemeinen formellen und materiellen Vorschriften des Grundgesetzes gebunden. Nur diese können daher auch Beurteilungsmaßstab für das Bundesverfassungsgericht sein. T r i t t demnach bisher geltendes Recht außer Kraft, so begründet diese Tatsache als solche für die Legislative keine Rechtspflicht zu positivem Handeln. Das Bundesverfassungsgericht ist mangels Rechtsgrundlage weder befugt, die gesetzgebenden Organe zum Handeln zu verpflichten, noch kann es ihnen spezielle inhaltliche Vorgaben auferlegen. b) „Nichterfüllung" und „Schlechterfüllung" von Gesetzgebungsaufträgen Unter Gesetzgebungsaufträgen sollen hier solche Verfassungsnormen verstanden werden, welche der Legislative einen Regelungsauftrag erteilen, ohne diesen nach dem Regelungsinhalt oder -ziel selbst positiv zu umreißen. Hierzu zählen etwa A r t . 4 I I I 2, 29 V I I 2, 38 I I I , 41 I I I , 54 V I I , 95 I I I 2 GG 2 9 . Diese Vorschriften bilden die Grundlage verfassungsergänzender einfacher Gesetze. Zumeist überantworten sie der Legislative die Regelung des „Näheren", also die Konkretisierung verfassungsrechtlicher Rahmenvorgaben durch Organisations- und Verfahrensvorschriften oder materielle Normen. Sie weisen gegenüber sonstigen Verfassungsaufträgen zwei Besonderheiten auf: Notwendig richten sie sich stets an den Gesetzgeber, dem die Regelungskompetenz ausdrücklich zugewiesen wird; daneben sind sie nicht zieldeterminiert, ent29 Dazu Scheuner, FS Forsthoff, S. 333 ff. mit allerdings abweichender Terminologie.

I. Die Entscheidungsgrundlagen des Bundesverfassungsgerichts

halten also über die Thematisierung des Rahmens, zu welchem Details zu regeln sind, hinaus keine eigenen Handlungsmaßstäbe. Kompetenzkollisionen zwischen Legislative und Bundesverfassungsgericht können entstehen, wenn der Gesetzgeber seiner Regelungspflicht nicht nachkommt, den verfassungsrechtlichen Gesetzgebungsauftrag also nicht erfüllt. I n diesem Fall stellt sich das Problem, inwieweit das Bundesverfassungsgericht die Gesetzgebungsorgane zur Erfüllung des Auftrages verpflichten oder eine fehlende Regelung seinerseits ersetzen oder durch Richterrecht einfacher Gerichte ersetzen kann. Prozessual ist i n solchen Fällen eine primäre Normenkontrolle nicht möglich. Hat der Gesetzgeber einen Handlungsauftrag nicht erfüllt, so liegt insoweit gerade kein prüfungsfähiges „Bundesrecht" (Art. 93 I Nr. 2 GG) oder „entscheidungserhebliches Gesetz" (Art. 100 11 GG) vor. Daher kann hier nur eine inzidente Normenkontrolle stattfinden, soweit dafür die prozessualen Voraussetzungen vorliegen. Nur i n seltenen Fällen w i r d ein Staatsorgan oder Bürger durch die Unterlassung der Rechtsetzung i n eigenen Rechten verletzt, so daß Anträge zumeist bereits unzulässig sein werden. I n der Sache hat das Grundgesetz die i n einem Gesetzgebungsauftrag thematisierte Materie ausdrücklich der Legislative zugewiesen. Damit geht die Verfassung davon aus, daß die Erfüllung dieser Aufgabe unter den spezifischen verfahrensmäßigen und inhaltlichen Bedingungen geschehen soll, welche sie für die gesetzgebenden Organe geschaffen hat 3 0 . Diese liegen für kein anderes Staatsorgan, insbesondere nicht das Bundesverfassungsgericht, i n gleicher Weise vor. Es kann daher grundsätzlich den Gesetzgeber i n der Wahrnehmung solcher Verfassungsaufträge weder vertreten noch ersetzen. Die Zuständigkeitsdifferenzierungen nach Gestaltungs- und Kontrollkompetenzen ist i m Inter-OrganVerhältnis nur sinnvoll aufrechtzuerhalten, wenn das kontrollierende Organ nicht zugleich die Aufgabe des Kontrollierten übernehmen kann und darf. Setzt Kontrolle eine verantwortliche und eine kontrollierende Instanz voraus 31 , so dürfen diese nicht zusammenfallen. Nur so erlangt die Gewaltenteilung mit wechselseitiger Kontrolle und je eigenen Zuständigkeits-, Verantwortungs- und Legitimationsgrundlagen ihren Sinn 3 2 . Vielmehr kann das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber nur zum Erlaß der geforderten Normen verurteilen. Eine solche Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Unterlassens begründet jedoch keine neuen Pflichten der Legislative. Vielmehr ist diese zur Normsetzung schon unmittelbar aus dem Grundgesetz verpflichtet. 80 31 32

s. o. 3. Teil II. s. o. 3. Teil II, 2 b). s. o. 3. Teil III, von 1; Schuppert, Kontrolle, S. 163 f.

152

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

Gerichtlich kann hier nur nochmals bekräftigt werden, was schon nach dem Grundgesetz feststeht. Insbesondere können die jeweiligen Urteile oder Beschlüsse keine Sanktionen aussprechen. Dem Gericht steht kein rechtliches Mittel zur Verfügung, den Bundestag oder Bundesrat zu positiven Handlungen zu verpflichten. Insbesondere kann es deren Aufgaben nicht i m Wege einer „Ersatzvornahme" selbst übernehmen. Kommt dem Gesetzgeber gerade wegen seiner demokratischen Legitimation und seines besonderen Verfahrens die Rechtsetzungsprärogative zu 3 3 , so können diese Garantien nicht gerichtlich verkürzt werden. Das Bundesverfassungsgericht kann somit zwar eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Normsetzung aussprechen, nicht hingegen diese Verpflichtung mit Sanktionen durchsetzen. Die Kompetenzkonkurrenz zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht kann sich jedoch nicht nur auswirken, wenn die Legislative ihren Pflichten nicht nachkommt, sondern auch, wenn sie sie i n verfassungswidriger Weise erfüllt. Ein solcher Fall liegt vor, wenn eine Norm erlassen worden ist, die mit den Anforderungen des Grundgesetzes nicht übereinstimmt 3 4 . Nach der hier verwendeten Terminologie zeichnet sich der Gesetzgebungsauftrag gerade dadurch aus, daß er selbst nicht inhaltlich bestimmt ist. Er weist der Legislative zwar Aufgaben zu, definiert jedoch nicht selbst inhaltlich, i n welcher Weise diese zu erfüllen sind. Hat der Gesetzgeber die Organisations- und Verfahrensnormen erlassen, so ist der Gesetzgebungsauftrag erschöpft. Materielle Verfassungsverstöße können nur insoweit eintreten, als die erlassenen Normen gegen andere Verfassungsbestimmungen i n formeller oder materieller Hinsicht verstoßen. Sind damit nur diese als Entscheidungsmaßstab heranzuziehen, so ist die Entscheidungsgrundlage materiell niemals der Gesetzgebungsauftrag. Damit kann unter Berufung auf ihn keine inhaltliche Gesetzesüberprüfung stattfinden. Eine „Schlechterfüllung" von Gesetzgebungsaufträgen nach der hier verwendeten Terminologie kann es nur wegen Verstoßes gegen sonstiges Verfassungsrecht geben. Existiert eine inhaltliche Prüfung am Maßstab von Gesetzgebungsaufträgen nach den dargestellten Grundsätzen nicht, so ergeben sich hier auch keine Besonderheiten für die Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht. Gesetzgebungsaufträge können somit nur insoweit Grundlage gerichtlicher Entscheidungen sein, als die Verfassungswidrigkeit eines Unterlassens festgestellt und so die Legislative inzident zur Normset33

BVerfGE 40, 237, 249. In diesen Fällen ist eine primäre wie inzidente Normenkontrolle grundsätzlich möglich, da hier ein Gesetz vorliegt, welches zum Gegenstand einer Überprüfung gemacht werden kann. 34

I. Die Entscheidungsgrundlagen des Bundesverfassungsgerichts

zung verurteilt wird. Eine inhaltliche Prüfung erlassener Gesetze kann dagegen hier nicht stattfinden. 4. Staatszielbestimmungen als Entscheidungsgrundlage

a)

Staatszielbestimmungen

Staatszielbestimmungen sind grundgesetzliche Gestaltungsaufträge, welche durch die Auftragsnormen nach Ziel und Inhalt positiv determiniert sind. Hierzu zählen i m Grundgesetz etwa das Wiedervereinigungsgebot (Präambel i. V. m. A r t . 146 GG), das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I GG), der Auftrag zur Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 I I GG), das Gleichstellungsgebot zugunsten unehelicher Kinder (Art. 6 V GG). Ferner unter fallen dieser Kategorie die Auftragsdimensionen der Freiheitsrechte, wie sie vielfach ihrem „Wertcharakter" oder ihren institutionellen Elementen entnommen werden. Staatszielbestimmungen sind ihrem Inhalt nach Finalprogramme, die durch ihren Zweck determiniert werden 3 5 . Während das Ziel vorgegeben ist, bleiben die einzuschlagenden Wege zu i h m h i n und die dabei anzuwendenden Mittel offen. Weder vermögen die zugelassenen W i r kungen als solche bestimmte Mittel notwendig zu legitimieren, noch können sie andere Mittel notwendig ausschließen. Vielmehr erscheint stets eine Vielzahl von Mitteln als geeignet und zulässig. Der Umfang des Spektrums zulässiger Instrumente hängt weitgehend von der Formulierung des Ziels ab. Ist der Zweck schwierig oder gar nicht zu erreichen, muß man die Zweckformel von erwünschten Nebenwirkungen entlasten, also ihren Abstraktionsgrad erhöhen, bis mögliche Mittel sichtbar werden oder aber eine Grenze erreicht ist, jenseits derer der Zweck dann Handeln nicht mehr zu rechtfertigen vermag. Letztlich verselbständigen sich so die Haupt- und Nebenzwecke i m Sinne konkretisierender oder abstrahierender Ausdifferenzierung. Von prägender Bedeutung für den Charakter solcher Finalprogramme und die möglichen Instrumente zu ihrer Verwirklichung sind somit drei Elemente: die Zieldefinition, die Zeitdimension und die Mittelauswahl. Bezüglich der Zieldefinition weisen die Staatszielbestimmungen gegenüber manchem sonstigen Finalprogramm eine Besonderheit auf: der Zweck ist ausgesprochen weit und unbestimmt formuliert. Aus den verwendeten Begriffen ist zumeist als solches nicht zu entnehmen, wie der angestrebte Endzustand gestaltet sein soll. Viel85

Zum folgenden Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, S. 257 ff., insbes. S. 284 ff.; Wienholtz, Normative Verfassung, S. 94 ff.; Ritter, Gesetzgebungspflichten, S. 47 ff.

154

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

mehr werden allgemeine Formeln verwendet, die ihrerseits wertausfüllungsbedürftig sind. Als weiteres Dilemma t r i t t hinzu, daß die Zielerreichung i n eine — zumindest entfernte — Zukunft verlagert ist. Die angestrebte Gestaltung des Gemeinwesens soll unter ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen erfolgen, welche zum Zeitpunkt der Zieldefinition noch nicht bestanden und partiell auch noch gar nicht absehbar waren. Was unter „Sozialstaat" oder „gesamtwirtschaftlichem Gleichgewicht" zu verstehen ist, kann i n ökonomisch prosporierenden Zeiten durchaus anders zu definieren sein als i n Notzeiten, i n der industriellen Produktionsökonomie anders als i n der postindustriellen Distributionsökonomie. Das Ziel ist somit selbst unbestimmt. Zudem ist es dem zeitlichen Wandel unterworfen. Ändern sich die sozialen Rahmenbedingungen, so kann der Zweck seinen Inhalt völlig wandeln und damit zugleich neue Anforderungen an die Mechanismen zu seiner Verwirklichung stellen. Deutlich zeigt sich dies etwa bei A r t . 6 V GG: „Gleiche Bedingungen" für eheliche und uneheliche Kinder sind nicht starr fixierbar, sondern stets von der Variablen der Bedingungen für eheliche Kinder abhängig. Aus diesen Eigenschaften der Staatszielbestimmungen ergeben sich verfassungsrechtliche Konsequenzen 36 . Das Ziel steht regelmäßig a priori nur als Abstraktum fest, dessen konkrete Inhalte zeitlichem Wandel unterworfen sind. Diese relative Unbestimmtheit seiner Elemente gilt nicht nur für den Zeitpunkt seiner Aufstellung, sondern darüber hinaus auch für den Zeitpunkt konkreter Maßnahmen zu seiner V e r w i r k lichung. Diese hängen jeweils wesentlich davon ab, wie das Ziel i m Zeitpunkt ihrer Auswahl konkretisiert sein wird. Zudem bewirkt die Wandelbarkeit des Ziels, daß die Mittel zu seiner Erreichung nicht notwendig i n einer logischen Reihe aufeinanderaufbauen können. Ä n dert sich die Zieldefinition wegen gewandelter Rahmenbedingungen, so ist der Weg zur Verwirklichung bisweilen ein völlig anderer, als er bislang eingeschlagen worden war. Maßnahmen, die i n der Vergangenheit zur Zielverwirklichung „richtig" waren, können i n der Gegenwart „falsch" und i n der Zukunft erneut „richtig" sein. Deutlich zeigt sich dies etwa bei dem Wiedervereinigungsgebot. Je danach, ob die deutschen Staaten oder einer von ihnen eine Politik verstärkter Blockintegration betreibt oder aber einen eher neutralistischen Kurs einschlägt, kann eine Maßnahme zur Wiedervereinigung richtig oder falsch sein. Zugleich zeigt dieses Beispiel, daß die Rahmenbedingungen durchaus nicht notwendig staatlicher Einflußnahme unterliegen. Das gilt für außenpolitische ebenso wie für ökonomische Faktoren. Auch zeigt die zeitbedingte Wandelbarkeit der Zielinhalte, daß ein solches Ziel nie36

Grundlegend Denninger, JZ 1966, 771 f.; dazu auch Gerstenmaier, staatsklausel, S. 73 ff.

Sozial-

I. Die Entscheidungsgrundlagen des Bundesverfassungsgerichts

mais auf Dauer verwirklicht werden kann. Vielmehr ist ein Prozeß ständiger aktiver Steuerung und reaktiven Handelns notwendig, u m das partiell Erreichte i m Zuge sich ändernder Rahmenbedingungen nicht wieder zu verlieren. Regelmäßig können Staatszielbestimmungen nicht erfüllt oder verwirklicht, sondern nur annäherungsweise erreicht werden. Sie wandeln sich ständig, und sie erfordern ständigen Wandel. Über ihre Ausführung enthalten die Staatszielbestimmungen keine eigene Regelung. Deutlich ist, daß sie ihrerseits nicht self-executing sind, sondern den Staatsorganen zu konkretisierender und v e r w i r k lichender Gestaltung aufgegeben sind. Welches Staatsorgan Adressat eines solchen Gestaltungsgebotes ist, ist allerdings nur selten thematisiert. A r t . 6 V GG verpflichtet „die Gesetzgebung", A r t . 109 I I GG spricht von der „Haushaltswirtschaft", A r t . 33 V GG von einer „Regelung" des „Rechts". Sofern solche Bestimmungen fehlen, sind die allgemeinen Kompetenznormen des Grundgesetzes einschlägig. Sie bestimmen i n diesem Fall, welches Staatsorgan die Zielbestimmung auszuführen hat. Damit erschöpft sich die Bedeutung der Staatszielbestimmung jedoch nicht; sie können auch zur Gesetzesauslegung herangezogen werden und so ohne eigene Aktivitäten rechtsetzender Organe Wirkungen entfalten 8 7 . Kollisionen zwischen den Kompetenzen von Legislative und Bundesverfassungsgericht können entstehen, wenn der Gesetzgeber Staatszielbestimmungen nicht erfüllt oder wenn er sie schlecht erfüllt. b) Die „Nichterfüllung"

von Staatszielbestimmungen

Die Nichterfüllung derartiger Staatszielbestimmungen liegt vor, wenn der Gesetzgeber pflichtwidrig keine Normen zu ihrer V e r w i r k lichung erläßt. I n derartigen Fällen ist ebenso wie bei der Nichterfüllung von Gesetzgebungsaufträgen keine primäre Normenkontrolle möglich; zulässig ist nur die inzidente Überprüfung des Unterlassens, sofern dafür die prozessualen Voraussetzungen vorliegen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der Nichterfüllung insbesondere i n seiner Rechtsprechung zu A r t . 6 V GG befaßt. Zunächst entschied es, daß dieser Verfassungsauftrag sich nicht ausschließlich an den Gesetzgeber wende, sondern schon vor konkretisierenden Maßnahmen als Auslegungsmaxime von Behörden und Gerichten heranzuziehen sei 88 . Ein Funktionswechsel vom Verfassungsauftrag zur aktuellen Rechtsnorm mit derogierender Kraft gegenüber entgegenstehenden Recht blieb ausdrücklich offen. Später wurden allgemeine Richtlinien 87 88

BVerfGE 1, 97, 105. BVerfGE 8, 210, 216 f.

156

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

für die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und deren Grenzen aufgestellt, u m die Verfassungsmäßigkeit bereits ergangener Normen zu begründen 3 9 . Schließlich stellte das Gericht fest, daß A r t . 6 V GG einen bindenden Auftrag enthält 4 0 . Der Gesetzgeber verletze die Verfassung, wenn er es unterlasse, den Verfassungsauftrag i n angemessener Frist zu erfüllen. A r t . 6 V GG sei eine Ausnahme von den allgemeinen Grundsätzen der A r t . 20 I I I , 1 I I I GG. Erfülle der Gesetzgeber seine Pflichten nicht, so gewinne die unmittelbare Geltung der Verfassung insofern Bedeutung, als die „anderweitige Realisierung des Verfassungswillens" erforderlich sei, „soweit sie ohne den Gesetzgeber möglich ist". Zwanzig Jahre nach Entstehung des Grundgesetzes setzte es dazu der Legislative eine Frist, nach der alles Gesetzesrecht, welches A r t . 6 V GG widerspricht, außer Kraft treten sollte und die Gerichte zur eigenständigen Rechtsfortbildung aufgerufen seien. Damit geht das Gericht davon aus, daß die Staatszielbestimmung als Verfassungsnorm unmittelbar anwendungsfähig sei. Sofern der Gesetzgeber untätig bleibe, sei zu ihrer Verwirklichung hilfsweise die Rechtsprechung aufgerufen 41 . A r t . 6 V GG zählt zu denjenigen Staatszielbestimmungen, welche ausdrücklich den Gesetzgeber m i t einer Regelung beauftragen. Insofern erscheint es überraschend, wenn das Bundesverfassungsgericht 4 2 zwischen eigener Untätigkeit und der Notwendigkeit der gerichtlichen Ersetzung des fehlenden Gesetzesrechts schwankt, ohne die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Unterlassens und damit inzident der Verurteilung zur Gesetzgebung zu erwägen. Das gilt um so mehr, wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht den grundrechtlichen Charakter des A r t . 6 V GG bejaht 4 3 . Bei der Verwirklichung von Staatszielbestimmungen sind die erforderlichen Wertungs- und Abwägungsvorgänge wesentlich vielschichtiger als bei dem Schutz der Freiheit durch Ab wehr rechte 44 . Während hier eindimensional konkurrierende öffentliche und private Belange abzuwägen sind, erfordern jene die Einbeziehung einer wesentlich höheren Zahl von Faktoren. Dabei stellt sich zunächst das Problem der Präferenzbildung unter konkurrierenden Staatszielen. So müssen etwa das Gebot des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 I I GG) und das Sozialstaatsprinzip einander zugeordnet werden. Das Grundgesetz w i l l nicht das eine oder das andere, sondern beide verwirklicht 39

BVerfGE 17, 280, 284. BVerfGE 25, 167, 173 ff. 41 Ebenso Seufert, Die nicht erfüllten Gesetzgebungsgebote, S. 273 ff. m. w. N. 42 BVerfGE 25, 273 ff. 43 BVerfGE 26, 63. 44 Schuppert, Grenzen, S. 40 ff. 40

I. Die Entscheidungsgrundlagen des Bundesverfassungsgerichts

sehen. Wie diese Zweckauswahl jedoch konkret zu geschehen hat, ist nicht geregelt. Sodann stellt sich die Frage nach der inhaltlichen Konkretisierung der jeweiligen Ziele. Sind sie dem zeitlichen Wandel unterworfen, so stellt sich diese Aufgabe stets neu, ohne daß i n der Verfassung konkrete Maßstäbe für den Konkretisierungsvorgang zur Verfügung stehen. Erst danach ist die Zweck-Mittel-Relation herzustellen, wobei die Mittel nicht nur zieladäquat sein müssen, sondern zudem der jeweiligen Realität untergeordnet sind. Das gilt etwa für außenpolitische Lagen, die nicht beliebig beeinflußbar sind, oder die ökonomische Leistungsfähigkeit des Gemeinwesens, die nicht beliebig vermehrbar ist. Die auf allen Stufen zu berücksichtigenden Faktoren sind nicht statisch, sondern zeitlichem Wandel unterworfen. Die damit verbundenen Wertungen sind i n der Verfassung materiell kaum vorgeprägt. Für die Kompetenzabgrenzung zwischen Legislative und Bundesverfassungsgericht sind somit die Besonderheiten ihrer jeweiligen demokratischen Legitimation und organisatorischen Eignung zur Erfüllung solcher Aufträge ausschlaggebend 45 . Ist die V e r w i r k l i chung von Staatszielbestimmungen i n hohem Maße von der Flexibilität der Wertungen und der vorzunehmenden Handlungen geprägt, so ist die Legislative wegen ihrer freien Zugriffskompetenz zur Wahrnehmung solcher Funktionen besonders geeignet. Sie kann jederzeit ein Problem zum Gegenstand ihrer Gestaltungsmaßnahmen machen, sofern Regelungsbedürfnisse entstehen. Das versetzt sie i n die Lage, rechtliche Regelungen problem- und zeitnah zu fassen und veränderten Bedürfnissen bei der Verwirklichung von Verfassungsaufträgen Rechnung zu tragen. Hingegen ist das Bundesverfassungsgericht auf drittinitiierte Impulse angewiesen. Das Gericht kann somit seine Entscheidungen nur ganz punktuell an den jeweiligen Bedürfnissen ausrichten. W i r d das Bundesverfassungsgericht mit einer Materie längere Zeit hindurch aufgrund fehlender oder unzulässiger Anträge nicht befaßt, so erweist es sich als außerstande, Gestaltungsmaßnahmen einzuleiten oder eingeleitete Steuerungsprozesse adäquat fortzusetzen oder umzugestalten. Dem verfassungsgerichtlichen Verfahren fehlt es somit an der erforderlichen Flexibilität. Das gilt auch wegen seiner Einzelfallbezogenheit. Das jeder Zielverwirklichung immanente planerische Moment kann nur durch kontinuierliche Zieldefinition, -konkretisierung und -realisierung erreicht werden. Das Verfahren des Bundesverfassungsgerichts ist dazu zu punktuell angelegt; seine Einzelfallbezogenheit bewirkt wegen der Antragsgebundenheit nicht Kontinuität, sondern unterliegt aus der Perspektive planender Gestaltung einer Zufallsauswahl. Eine stetige 45

Dazu o. 3. Teil I I 1, 2.

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

158

Zielerreichung und -Sicherung ist auf diese Weise nicht zu v e r w i r k lichen. Zudem bedingt die größere Offenheit der legislativen Aufgabenerfüllung ein breiteres Spektrum an Informationen und Wertungen als Entscheidungsgrundlage. Dadurch werden die komplexen Wertungsvorgänge i n verstärktem Maße an die Bedürfnisse des Gemeinwesens rückgekoppelt und damit kontrolliert. Insoweit erhält die V e r w i r k lichung von Verfassungsaufträgen durch den Gesetzgeber ihre demokratische Legitimation durch das Verfahren. Demgegenüber ist das Bundesverfassungsgericht auch hier auf das Grundgesetz als Entscheidungs- und Legitimationsbasis verwiesen. Dieses weist jedoch gerade bei den Staatszielbestimmungen wegen ihres „Plancharakters" 4 6 nur sehr weitmaschige, wenig konkrete Aussagen auf, die ihrerseits zudem keine zeitliche Unverbrüchlichkeit garantieren. Ist das Grundgesetz insoweit lückenhaft und offen, so ist das Bundesverfassungsgericht auch daran gebunden; eine ergänzende Lückenfüllung kommt nicht i n Betracht. Zur Verwirklichung von Staatszielbestimmungen ist der Gesetzgeber somit nach seiner Legitimation und seinem Verfahren i n höherem Maße i n der Lage als das Bundesverfassungsgericht. Begründet dies den Vorrang der Legislative bei der Verwirklichung solcher Verfassungsaufträge, so bedeutet das jedoch noch nicht, daß derartige Bestimmungen damit ausschließlich der freien Disposition parlamentarischer Tätigkeit oder Untätigkeit unterstellt werden müßten. Jener Vorrang bezieht sich auf die Zielbestimmung, Zielkonkretisierung und die M i t telauswahl. Ob ein Unterlassen jeglicher Normierung noch i m Rahmen dieser Freiheit liegt, richtet sich danach, inwieweit das freie Zugriffsrecht der Legislative durch die Staatszielbestimmung gebunden ist. Richtet sich eine Staatszielbestimmung ihrem Wortlaut nach ausschließlich an den Gesetzgeber, so begründet sie eine Pflicht der Legislative zum positiven Handeln. I n diesem Fall können Bundestag und Bundesrat selbst nicht mehr frei entscheiden, ob sie überhaupt tätig werden sollen oder nicht. Über die Einhaltung dieser Verpflichtung kann das Bundesverfassungsgericht wachen. Als Mittel dazu kommt insbesondere die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Unterlassens i n Betracht 47 . So hätte etwa bezüglich der Pflicht aus A r t . 6 V GG eine solche Feststellung nahe gelegen. Die Feststellung der Pflicht zur Gesetzgebung steht i n einem solchen Fall ebenso wie bei den Gesetzgebungsaufträgen dem Bundesverfassungsgericht zu. Bezüglich der inhaltlichen Ausgestaltung von Maßnahmen zur Verwirklichung der 4e

47

Denninger,

JZ 1966, 772.

Ebd.; Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 175 ff.; Wienholtz, Normative Verfassung und Gesetzgebungspflichten, S. 110 ff.

I. Die Entscheidungsgrundlagen des Bundesverfassungsgerichts

Staatsziele hat demgegenüber der Gesetzgeber zu entscheiden. Diese Tatsache hat Auswirkungen bezüglich der Sanktionsbewährung der Feststellung verfassungswidrigen Unterlassens. Zur unmittelbaren Substitution fehlender Gesetze ist die Rechtsprechung daher ebenso wie bei den Gesetzgebungsaufträgen nicht befugt 4 8 . Gerade die Erkenntnis, daß die Materie nicht durch unmittelbar anwendungsfähiges Verfassungsrecht regelbar sei, begründet erst die Schaffung eines Verfassungsauftrages i m Grundrechtsteil, welcher i m übrigen von Zielbestimmungen weitgehend frei ist 4 9 . Ein Funktionswandel von einer ausführungsbedürftigen Staatszielbestimmung zu unmittelbar anwendbarem Verfassungsrecht ist so aus dem Grundgesetz nicht zu begründen. A n einer solchen Transformationsnorm, wie sie etwa A r t . 1271 GG für A r t . 3 I I GG darstellt, fehlt es für A r t . 6 V GG gerade. Vielmehr indiziert schon A r t . 117 I I GG, daß der Rechtsgedanke eines selbständigen Wandels einer Norm nicht stets analogiefähig ist. Eine Surrogation erforderlichen Gesetzesrechts durch Richterrecht kann dementsprechend bei der Erfüllung von Staatszielbestimmungen nicht stattfinden. Dazu fehlt den Gerichten die erforderliche Legitimation. Die Feststellung einer verfassungswidrigen Verletzung von Staatszielbestimmungen durch legislatives Unterlassen bleibt somit sanktionslos. Sofern sich dagegen eine Staatszielbestimmung an alle Staatsorgane und nicht nur an den Gesetzgeber wendet, ist sie bereits ihrem Wortlaut nach partiell auch durch Exekutive und Justiz zu verwirklichen. Zu ihrer Realisierung bedarf es daher nicht notwendig eines Handelns des Gesetzgebers; sie läuft bei legislativer Untätigkeit noch nicht leer. Inwieweit sich aus einer solchen Bestimmung eine konkrete Handlungspflicht des Gesetzgebers herleiten läßt, unterliegt schon deshalb eigenen Voraussetzungen. Grundlage ihrer Konkretisierung ist die Tatsache, daß Ziele und Handlungen bei der Verwirklichung von Verfassungsaufträgen stets zeitgebunden sind. Nicht jede Zeit ist zur Zielverwirklichung durch aktives Tun i n gleicher Weise geeignet. Vielmehr ist oft schon die Bewahrung des Erreichten das optimal mögliche, wenn sich die Rahmenbedingungen verschlechtern. Ob i m konkreten Fall ein Handeln oder Unterlassen geboten ist, hängt von den konkreten Zielvorgaben, den realen Umständen i n der Umwelt und der vorgegebenen Zeit ab. Handlungen zur Zielverwirklichung sind nur unter der Voraussetzung richtig oder falsch, daß sie zum geeigneten Zeitpunkt vorgenommen werden. Die Wahl der Handlung schließt zugleich die Wahl 48 Die Berufung von BVerfGE 25, 273 ff. darauf, daß Art. 6 V lediglich eine Ausnahme vom Grundsatz der unmittelbaren Geltung der Verfassung (Art. 20 III, 1 I I I GG) darstelle, berücksichtigt nicht, daß die „Ausnahme" hier zugleich die Spezialnorm ist; dazu Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 178 ff. 49 Kritisch bezüglich des Art. 6 V GG Denninger, AöR 1970, 664 f.

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

des Zeitpunktes, zu dem sie durchzuführen ist, ein. Ein Abwarten günstigerer Umstände kann somit die Chancen zur Zielerreichung verbessern, oftmals ist Untätigkeit der Zweckverwirklichung zuträglicher als Tätigkeit. Daher können hier Handlungen a priori keinen verfassungsrechtlich angeordneten Vorrang vor Unterlassungen haben 5 0 . So vermögen Staatszielbestimmungen dieser A r t das freie Zugriffsrecht der Legislative insoweit nicht einzuschränken. Anderes kann nur gelten, wenn ein Unterlassen i m konkreten Fall dazu führen würde, daß die spätere Realisierung des Verfassungsauftrages unter allen Umständen ausgeschlossen wäre. Erst i n diesem Fall könnte sich der allgemeine Handlungsauftrag zu einer konkreten Pflicht verdichten. Eine solche Bindung kann jedoch nur i n Ausnahmefällen bestehen. I m übrigen sind derartige Verfassungsaufträge, die sich an alle Staatsorgane wenden, bei der Auslegung geltender Gesetze heranzuziehen. Insoweit sind sie auch gerichtlich unmittelbar anwendbar. Staatszielbestimmungen können somit nur dann ein pflichtwidriges Unterlassen des Gesetzgebers begründen, wenn sie i h n zu positivem Tun verpflichten. Das ist regelmäßig nur bei solchen Verfassungsaufträgen der Fall, die sich ausschließlich an den Gesetzgeber wenden. Unter dieser Voraussetzung ist die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Unterlassens zulässig. Eine Surrogation des Gesetzesrechts durch Richterrecht kommt dagegen nicht i n Betracht. c) Die „Schlechterfüllung"

von Staatszielbestimmungen

Eine „Schlechterfüllung" von Staatszielbestimmungen i m genannten Sinne liegt vor, wenn der Gesetzgeber einen derartigen Verfassungsauftrag nur teilweise e r f ü l l t 5 1 oder bei der Wahrnehmung anderer Aufgaben einem Auftrag zuwiderhandelt. Dafür ist nicht entscheidend, ob die Legislative aus solchen Bestimmungen überhaupt zu einem positiven Handeln verpflichtet ist, sondern vielmehr, welche inhaltlichen Anforderungen sie dabei zu beachten hat. Eine Kompetenzkollision zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht kann nur eintreten, soweit derartige Staatszielbestimmungen materielle Anforderungen enthalten, welche durch Gesetze verletzt werden können 5 2 . Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit Fällen dieser A r t etwa bezüglich des Wiedervereinigungsgebots als Staatszielbestimmung befaßt. Vorab beschränkte es sich auf die Feststellung, daß die Beitritts50

Ebenso Ritter, Gesetzgebungspflichten, S. 108 f. Dazu Scheuner, FS Forsthoff, S. 335 ff.; Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 335 ff. 82 Verfahrensrechtlich ist hier eine primäre wie eine inzidente Normenkontrolle möglich, da jeweils überprüfungsfähige Normen vorliegen. 51

I. Die Entscheidungsgrundlagen des Bundesverfassungsgerichts

möglichkeiten der in A r t . 23 S. 2 GG genannten „anderen Teile Deutschlands" nicht über den jeweils tatsächlich bestehenden Zustand hinaus rechtlich erschwert oder beschränkt werden dürfen 5 3 . Grundlegend beten die Einheit Deutschlands mit allen Kräften anstreben, ihre Maßnahmen auf dieses Ziel ausrichten und die Tauglichkeit für dieses Ziel tonte es den Charakter des Wiedervereinigungsgebotes als Rechtspflichten begründende Norm 5 4 . Alle Staatsorgane der Bundesrepublik müßals einen Maßstab ihrer politischen Handlungen gelten lassen. Die Forderung nach Vornahme bestimmter Handlungen ließe sich daraus jedoch nicht herleiten. Den zu politischem Handeln berufenen Organen müsse es überlassen bleiben, welche Wege sie zur Herbeiführung der Wiedervereinigung als politisch richtig ansehen. Später wurde die Weite des Ermessens insbesondere für den Gesetzgeber betont 5 5 , dem das Bundesverfassungsgericht nur entgegentreten könne, wenn eine Maßnahme der Wiedervereinigung rechtlich oder tatsächlich „offensichtlich entgegenstände". Zuletzt wurde diese Auffassung bestätigt und dahin konkretisiert, daß die Bundesrepublik keinen Rechtstitel preisgeben dürfe, der gegenwärtig oder später ein Argument zur Förderung des Strebens nach Wiedervereinigung bieten könne 5 6 . Daraus und aus angeblichem „Völkerrecht" wurde sodann eine Fülle positiver Gebote und negativer Verbote hergeleitet, die bei dem Abschluß, der Auslegung und der Ausführung des Grundvertrages m i t der DDR zu beachten seien 57 . Die Entscheidung zum Grundvertrag ist auf lebhaften W i derspruch gestoßen 58 . Die Eigenschaft der Staatszielbestimmungen als Finalprogramm m i t jeweils wandelbaren inhaltlichen Vorgaben bringt m i t sich, daß ein solches Programm niemals vollständig erfüllt werden kann. Selbst wenn dieses einmal gelingen sollte, so kann doch durch Änderungen der Realität der Auftrag seinen Inhalt zu wandeln, daß das bereits Erreichte i h m nicht mehr genügt 59 . Staatszielbestimmungen können deshalb stets bestenfalls annäherungsweise verwirklicht werden. Diese Annäherung ist ein Prozeß ständiger Wechselwirkung zwischen reali tätsbezogener Zieldefinition und zielorientierter Realitätsgestaltung. Beide sind der Zeit und den wandelbaren realen Rahmenbedingungen unterworfen. Dabei sind auf jeder Ebene komplexe Abwägungs- und 58

BVerfGE 4, 157, 174. BVerfGE 5, 85, 127 f. 55 BVerfGE 12, 45, 51. 56 BVerfGE 36, 1, 17 f. 57 BVerfGE 36, 1, 24 ff.; offener BVerfGE 43, 211. 58 Zusammenfassung und Nachweise bei Wilke / Koch, JZ 1975, 233 ff.; Delbrück, FS Menzel, S. 83 ff. 59 s. o. b). 54

11 Gusy

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

Wertungsvorgänge durchzuführen, die verfassungsrechtlich kaum determiniert sind 6 0 . Gilt insoweit der aus Gründen demokratischer Legitimation und verfahrensmäßiger Überlegenheit begründete Vorrang der Legislative 5 9 bei der Verwirklichung der Staatszielbestimmungen, so vermag das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber inhaltlich nur insoweit zu kontrollieren, als hierzu die Staatszielbestimmungen eine hinreichend dichte Grundlage bieten. Zur Begründung materieller Prüfungskompetenzen des Bundesverfassungsgerichts w i r d dazu eine inhaltliche Konkretisierung der Verfassungsaufträge herangezogen 61 . Danach ist dem Bundesverfassungsgericht die Konkretisierung des Grundgesetzes aufgegeben. Dies bedeutet i m Kontext mit der Einzelfallbezogenheit richterlicher Entscheidungen, daß eine Summe von einzelnen Grundsätzen i n ihrer Zusammenschau eine Systembildung ermöglichen soll. Je mehr Einzelfälle entschieden werden, desto deutlicher w i r d zugleich die jeweilige Staatszielbestimmung konkretisiert und i n ihren einzelnen Anforderungen bestimmt. Kontinuierlich führt damit die Einzelfallentscheidung über die Ermittlung ihrer allgemeinen Aussagen zu einer fortschreitenden Verdichtung des Verfassungsrechts, welche so konkrete Anforderungen an die Legislative begründet. I m Ergebnis unterscheidet sich damit die verfassungsgerichtliche Konkretisierung derartiger Verfassungsaufträge nicht von der üblichen Konkretisierung einfachen Gesetzesrechts durch die Rechtsprechungspraxis. Dabei bleibt allerdings der finale Programmcharakter der Staatszielbestimmungen unbeachtet. Diese geben nicht ein festumrissenes, durch Interpretation konkretisierbares Ziel an, sondern setzen Programme, die ihrerseits als Abstrakte konkreter Ausfüllung i n der Realität bedürfen. M i t der Realität wandelt sich der Programmgehalt des Ziels und damit zugleich die Anforderungen an seiner V e r w i r k lichung. Eine richterliche Konkretisierung solcher Anforderungen kann nur unter der Voraussetzung geschehen, daß das Ziel statisch definiert wird. Eine solche statische Definition entspricht zwar dem punktuellen Charakter gerichtlicher Kontrolle, nicht jedoch der Eigenart solcher Verfassungsaufträge. Ob die jeweils zugrundegelegte Zielkonkretisierung i n der Zukunft weiterhin vorliegen wird, entzieht sich regelmäßig exakten Prognosemöglichkeiten und der verfahrensmäßig auf den Einzelfall begrenzten Verantwortung des Bundesverfassungsgerichts. Staatszielbestimmungen können somit gerichtlich nur punktuell und nicht entsprechend ihrer Eigenart problemnah konkretisiert werden. Wandeln sich m i t ihrem Inhalt auch ihre Anforderungen an eine derartige Interpretation, so kann diese den Grad allgemeingültiger Grund60 61

Schuppert, Grenzen, S. 40 ff. Angedeutet bei Schreiber, Sozialstaatsprinzip, S. 52 ff. m. w. N.

I. Die Entscheidungsgrundlagen des Bundesverfassungsgerichts

163

sätze nicht überschreiten. Solche Grundsätze mittlerer Konkretisierung sind ihrerseits weitgehend unabhängig von zeitbedingten Wandlungen. Deutlich zeigt dies die Rechtsprechung zum Sozialstaatsprinzip. Zwar betont das Bundesverfassungsgericht ständig die Bindung der Legislative an diesen Grundsatz; „Beispiele, i n denen das Gericht aus dieser Erkenntnis konkrete Rechtsfolgen entnahm, finden sich nicht" 6 2 . Konkrete Anforderungen können gerade wegen des zweckorientierten Programmcharakters der Staatszielbestimmungen aus ihnen nicht hergeleitet werden. Damit kann i m Einzelfall auch kein Gesetz wegen inhaltlichen Verstoßes gegen solche Normen für verfassungswidrig erklärt werden. Davon ist ausschließlich die praktisch seltene Ausnahme zu machen, daß ein Gesetz die Erfüllung einer Staatszielbestimmung zu jeder Zeit und unter allen Bedingungen unmöglich machen würde. Sofern eine Verfassungsnorm Regelungen unterschiedlicher Dichte enthält, ist stets die Dichte der jeweils einschlägigen Regelung zugrundezulegen. So artikuliert sich die K r i t i k an dem Hochschulurteil des Bundesverfassungsgerichts 63 überwiegend daran, daß hier verbal und nach der Prüfungsdichte die Freiheit der Wissenschaft als Abwehrrecht zugrundegelegt wurde. Der Sache nach war hingegen das Grundrecht als Verfassungsauftrag zur Herstellung von Freiheit i n Organisationen einschlägig 64 . Hier ist die Prüfungsdichte eine wesentlich andere. A n diesem Zusammenhang zeigt sich deutlich die Interdependenz von „Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle" 6 5 . Inhaltlich können Staatszielbestimmungen demnach nur vom Gesetzgeber konkretisiert und verwirklicht werden; dem Bundesverfassungsgericht bieten sie keine hinreichende Entscheidungsgrundlage gegen Gesetze. Die abstrakt dargestellten Anforderungen an die Dichte normativer Entscheidungsgrundlagen des Bundesverfassungsgerichts lassen sich nunmehr zusammenfassend darstellen. Organisationsnormen sind i n vollem Umfang Prüfungsgrundlage, sofern sie nicht außerverfassungsrechtliche Wertungen voraussetzen 66 . Grundrechte als Abwehrrechte sind i n vollem Umfang justiziabel 6 7 . Gesetzgebungsaufträge sind nur bezüglich verfassungswidriger Unterlassungen der Legislative Entschei82 Ebd., S. 52 ff. m. w. N.; ähnlich Noack, Sozialstaatsklausel, S. 124 ff., 190 ff. mit Übersichten. 88 BVerfGE 35, 71 ff., insbes. S. 124. 64

Rupp von Brünneck

/ Simon, BVerfGE 35, 150 ff.

es Vogel, Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle, 1979; insbes. Ler-

che ebd., S. 40 ff.; s. auch Schubert / Thedieck, ZRP 1979, 254 ff. 88 87

11·

s. o. 2. s. o. 3.

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

dungsgrundlage; eine Surrogation unterbliebener Gesetze durch Richterrecht ist unzulässig. Staatszielbestimmungen sind nur insoweit j u stiziabel, als sie den Gesetzgeber zu einem konkreten Tun verpflichten; inhaltlich können sie nicht vom Bundesverfassungsgericht gegen die Legislative gekehrt werden. II. Die Uberprüfung von Tatsachenfeststellungen und Prognosen 1. Tatsachen und Prognosen im Normenkontrollverfahren

I m Normenkontrollverfahren sind Verfassungsnormen die Entscheidungsgrundlagen des Bundesverfassungsgerichts. Kontrollobjekte sind hingegen „Bundesrecht" (Art. 93 I Nr. 2 GG) oder ein entscheidungserhebliches „Gesetz" (Art. 100 11 GG) i n den primären Prüfungsverfahren; i m incidenten Verfahren gleichfalls einfache Gesetze. Objekte und Maßstab der Nachprüfung sind somit rechtliche Regelungen und keine realen Fakten. Vorab stellt sich damit die Frage nach der Relevanz von Tatsachen und Prognosen i m Prozeß der Normenkontrolle. Diese können i m Verfahren in zweifacher Hinsicht Bedeutung erlangen. A u f der ersten Stufe ist die Identität des Regelungsgegenstandes der Kontrollnorm und der kontrollierten Vorschrift festzustellen. Hier ist zu prüfen, welche tatsächlichen Bereiche normiert worden sind. Nur unter der Voraussetzung, daß eine Materie sowohl von einer Bestimmung des Grundgesetzes als auch von einem einfachen Gesetz geregelt wird, kann dieses überhaupt mit jenem vereinbar oder unvereinbar sein. Zu prüfen ist daher, ob die angegriffene Vorschrift denselben Ausschnitt der Realität regelt wie eine Verfassungsnorm. Diese erste Stufe der Einbeziehung der Realität ist i m Entscheidungsprozeß die Feststellung des Problems, nicht hingegen bereits die Entscheidung über einen möglichen Verfassungsverstoß. Sie ist Vorfrage der Normenkontrolle, nicht hingegen die Normenkontrolle selbst. Erst wenn eine derartige Übereinstimmung des Regelungsgegenstandes festgestellt werden kann, ist zu prüfen, ob beide Regelungen einander möglicherweise widersprechen. Diese Vereinbarkeitsprüfung ist die eigentliche Normenkontrolle. I n ihr werden die Rechtsfolgen des Verfassungsrechtssatzes als Kontrollnorm und der angegriffenen Vorschrift des einfachen Rechts als Kontrollobjekt konkretisiert und verglichen. Ist Entscheidungsgegenstand damit die Nachprüfung der Rechtsfolgen zweier Normen auf ihre Widerspruchsfreiheit, so ist hier ausschließlich eine normative Ebene thematisiert. Tatsachen und Prognosen sind jedoch keine Normen. Sie können i n diese Prüfung daher nur insoweit Eingang finden, als sie ihrerseits die Verfassungsmäßig-

I I . Die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen und Prognosen

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keit oder Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes begründen oder indizieren können. Da eine Norm nicht deshalb verfassungswidrig ist, weil sie Realitäten „widerspricht", können Tatsachen und Prognosen nur insoweit entscheidungserheblich sein, als Normen des Verfassungsrechts sie als Maßstab einbeziehen. Auch i n diesem Umfang können sie nur zum Gegenstand verfassungsgerichtlicher Kontrolle gemacht werden. Untersuchungen der bisherigen Entscheidungspraxis haben gezeigt, daß das Gericht auch zur Erhebung komplexer Sachverhalte i n der Lage ist. Insbesondere sind seine Erkenntnis- und Prognosemethoden denjenigen der Legislative durchweg überlegen 1 . Selbst wenn die Ermittlungen des Bundesverfassungsgerichts nicht immer die Genauigkeit „aufwendiger wirtschaftswissenschaftlicher Prognosemodelle" aufweisen 2 , so sind sie doch derart zuverlässig, daß sich das Gericht seiner „Kontrollaufgabe voll gewachsen" sei 3 . Das bedeutet jedoch noch keineswegs, daß sich mit der Zuerkennung von Sachkunde das Kompetenzproblem lösen ließe. Eine Verselbständigung von Maßstäben gerichtlicher Kontrolldichte ist weder vom Grundgesetz noch vom Bundesverfassungsgerichtsgesetz vorgesehen 4 . So stellt sich die Tatsachenfeststellung als Kompetenzproblem, nämlich als Problem, welche Tatsachen das Bundesverfassungsgericht aufgrund seiner Kompetenzen überprüfen darf. Diese Diskussion ist i n der Vergangenheit vielfach unter dem Aspekt geführt worden, ob das Gericht an die Tatsachenfeststellungen des Gesetzgebers gebunden ist oder gebunden werden darf 5 . Dabei gerieten die verfassungsrechtlichen Grundlagen bisweilen aus dem Blickfeld. Nach § 26 BVerfGG erhebt das Bundesverfassungsgericht die „zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Beweise". Diese Vorschrift ermächtigt das Gericht weder „die Wahrheit" als philosophisches Problem zu erforschen noch alle irgendwie gearteten tatsächlichen oder rechtlichen Umstände, die mit der angegriffenen Norm zusammenhängen, zu ermitteln. Vielmehr ist es ausschließlich berechtigt und verpflichtet, entscheidungserhebliche Tatsachen zu erheben. Das sind solche Fakten und Prognosen, welche vom Grundgesetz als K r i t e r i u m der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit einer Norm einbezogen werden®. Dabei sind Tatsachen gegenwärtige Sachverhalte, Prognosen hingegen Aussagen über zukünftige Sachverhalte 7 . 1 Philippi, Tatsachenfeststellungen, S. 162 ff.; zweifelnd Dichgans, Vom Grundgesetz zur Verfassung, S. 179. 2 So für Einzelfälle Philippi, Tatsachenfeststellungen, S. 174. 3 Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 472 m. w. N. 4 Schiaich, VVDStRL 39, 111 f. 5 Dazu Geck in Philippi, Tatsachenfeststellungen, S. V ff. • Ähnlich Klein in Maunz u. a., BVerfGG, § 26 Rn. 9.

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung 2. Die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen

a) Tatsachenfeststellungen

des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht hat seit der Frühzeit seiner Rechtsprechung eine selbständige Überprüfung von Tatsachen i n Anspruch genommen und durchgeführt 8 . Zunächst wurde ohne Begründung eine umfangreiche eigene Sachprüfung angestellt, welche i m Ergebnis die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes begründete 9 . Kurz darauf wurde die Vereinbarkeit einer Norm mit dem Vorgänger des Übermaßverbotes, der Drei-Stufen-Formel für Berufsfreiheit, einer eingehenden tatsächlichen Prüfung unterzogen. Danach hat das Bundesverfassungsgericht zu prüfen, ob der Gesetzgeber die Beschränkungen seiner Regelungsbefugnis beachtet hat; insbesondere kann es auch prüfen, ob der konkrete Eingriff zum Schutze eines überragenden Gemeinschaftsgutes zwingend geboten ist 1 0 . Zur Begründung solcher tatsächlichen Prüfungen wandte sich das Gericht ausdrücklich gegen mögliche Einwände 1 1 . Danach ist dem Bundesverfassungsgericht der Schutz der Grundrechte gegenüber dem Gesetzgeber übertragen. Dabei kann es sich nicht damit begnügen, daß Ziel und Zweck einer Regelung nur allgemein und schlagwortartig bezeichnet werden und der freiheitsbeschränkende Eingriff als Mittel zur Erreichung dieses Zwecks nicht völlig ungeeignet ist. Vielmehr müssen Gesetzesinhalt und historischer Gesetzeszweck eingehend analysiert werden. I n diese Analyse müssen auch „größere Lebenszusammenhänge" und „hypothetische Kausalverläufe einbezogen werden. Später wurden dann derartige Prüfungen ohne nähere Begründung detailliert durchgeführt. Ging ein Gesetz von falschen Tatsachen aus, so wurde es für nichtig erklärt 1 2 . Die Begründung des Bundesverfassungsgerichts für die Tatsachenfeststellung zeigt bereits deutlich die Rechtsgrundlage ihrer Beanspruchung 18 . Neben einigen Entscheidungen zu den allgemeinen oder den besonderen Gleichheitssätzen 14 kommt dabei dem Übermaßverbot besondere Bedeutung zu. Hier prüft das Gericht i n tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht, ob ein Gesetz einen legitimen öffentlichen Zweck 7

Philippi, Tatsachenfeststellungen, S. 5 f.; Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 466. 8 Rechtstatsächlich Philippi, Tatsachenfeststellungen, pass.; Thierfeider, JurA 1970, 879 ff. 9 BVerfGE 6, 389, 398 ff. 10 BVerfGE 7, 377, 379, Ls 9. 11 BVerfG 7, 377, 409 ff. 12 Etwa BVerfGE 36, 47, 59 ff. 19 s. auch Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 337 ff. 14 Nachweise bei Philippi, Tatsachenfeststellungen, S. 20 ff.

I I . Die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen u n d Prognosen

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verfolgt, geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist 1 6 . Diese Kriterien setzen eine Tatsachenprüfung i n unterschiedlicher Hinsicht voraus. Die Verfolgung eines legitimen öffentlichen Zwecks kann nur geschehen, wenn das Gesetz tatsächlich einen Zweck aufweist und dieser seinerseits verfassungsgemäß ist. Ist diese zweite Frage ausschließlich rechtlicher Natur, so kann das erste K r i t e r i u m anhand der Intentionen des Gesetzgebers, wie der tatsächlichen Wirkungen der Norm, überprüft werden. I n diesem Fall sind Tatsachenermittlungen anzustellen. Die Eignungsprüfung ist wesentlich faktenorientiert. Sie setzt voraus, daß das Gesetz den Zweck seiner Intention wie seiner Wirkung nach auch tatsächlich fördert. Hier ist demnach zu prüfen, ob die Vorschrift Tatsachen zu schaffen oder i n einer Weise zu beeinflussen i n der Lage ist, welche dem Zweck zuträglich sind. Dazu sind umfangreiche und bisweilen detaillierte Nachforschungen notwendig, ob eine Regelung tatsächlich bestimmte Zwecke begünstigt oder nicht. Anders verhält sich die Prüfung der Erforderlichkeit. Hier ist festzustellen, ob die gewählte Maßnahme das „mildeste Mittel" darstellt. Das ist nicht der Fall, wenn ein anderes, milderes Mittel existieren würde. Um dies festzustellen, ist ein Vergleich zwischen den tatsächlichen Wirkungen der erlassenen Vorschrift und den hypothetischen Konsequenzen gedachter Regelungen erforderlich. Hier sind demnach nicht nur die real eintretenden Folgen geltendes Rechts, sondern zudem die gedachten Wirkungen nicht erlassener Normen i n die Prüfung einzubeziehen. Demgegenüber ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung grundsätzlich eine reine Rechtsprüfung. Bisweilen ist allerdings tatsächlich festzustellen, ob der angestrebte Gesetzeszweck real jenen hohen Stellenwert aufweist, welcher das beeinträchtigte Rechtsgut überwiegt. Deutlich zeigt sich, daß die Kontrolle von Tatsachen schwerpunktmäßig bei einer Rechtsfigur Bedeutung erlangt, welche dem Verwaltungsrecht entlehnt ist 1 6 . So ist den Verfassungsgerichten die Überprüfung von Fakten durchaus vertraut. Angesichts einer derartigen Herleitung liegt es nahe, nicht nur die rechtlichen Grundlagen der Prüfung, sondern auch die Anforderungen an ihre Intensität dem Verwaltungsrecht zu entnehmen 17 . Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Überprüfung von Tatsachen w i r d zumeist funktionell begründet 18. Dabei werden insbesondere drei Aspekte betont. Allgemein begründet danach der Gerichtscharakter des Bundesverfassungsgerichts die Aufgabe der selbständigen 15

Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 484. s. dazu o. 2. Teil, I I I 3 c). 17 So Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 487 f. 18 Zum folgenden ebd., S. 467 ff. m.w. N.; Lorenz in Starck/Stern 3, S. 205 ff. 16

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

und verbindlichen Feststellungen des entscheidungserheblichen Sachverhaltes. Dagegen spricht auch nicht die Tatsache, daß i m Revisionsverfahren Gerichte keine derartige Feststellungskompetenz besitzen. I n diesen Fällen liegt vielmehr bereits ein durch selbständige, unabhängige Gerichte geklärter und aufbereiteter Sachverhalt vor. Das t r i f f t für die Situation der primären oder incidenten Normenkontrolle nicht zu. Daneben w i r d die Tatsachenfeststellungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts auf der sachgerechten Methodik richterlicher Urteilsfindung begründet. Da sich Normen und Wirklichkeit i m Prozeß der Gesetzesauslegung nicht trennscharf abgrenzen lassen, wäre eine Normenkontrolle „ i m eigentlichen Sinne" als reine Rechtsentscheidung unvollziehbar 1 9 . Schließlich w i r d für die verfassungsgerichtliche Zuständigkeit für Tatsachenfeststellungen angeführt, daß die Bindung an derartige Feststellungen des Gesetzgebers die Verfassungsgerichtsbarkeit i n wesentlichen Bestandteilen substantiell kompetenzlos stellen und so ihrer verfassungsrechtlich vorgesehenen Funktion berauben würde. Eine solche Verkürzung seiner Zuständigkeiten würde den grundgesetzlichen Status des Bundesverfassungsgerichts und dessen Rolle als Hüter der Verfassung gefährden. Dabei soll das Gericht eine doppelte Prüfung vornehmen. Es soll die Richtigkeit der vom Gesetzgeber zugrundegelegten Tatsachen überprüfen, also feststellen, ob sie der empirisch erkennbaren Realität entsprechen. Zudem soll es die Vollständigkeit die Informationserhebung prüfen, also kontrollieren, ob tatsächlich alle Kriterien herangezogen worden sind, die für eine sachgerechte Ausgestaltung des Gesetzes notwendig erscheinen 20 . Erweist sich die Tatsachenfeststellung des Gesetzgebers als unrichtig oder unvollständig oder ist sie unterblieben, so ist das Gesetz wegen seiner daraus resultierenden Verfassungswidrigkeit für nichtig zu erklären 2 1 . So zutreffend derartige grundsätzliche Erwägungen sein mögen, so fehlt ihnen die spezifische Begründung aus dem Grundgesetz. Entscheidend ist ausschließlich, inwieweit der Gesetzgeber durch die Verfassung zur Tatsachenfeststellung verpflichtet ist und welche Konsequenzen aus unterbliebenen oder fehlerhaften Feststellungen vom Bundesverfassungsgericht gezogen werden dürfen 2 2 .

19 Vielmehr prüft das Bundesverfassungsgericht im Einzelfall immer nur das Verhältnis des Gesetzes zu dem ihm vorgegebenen Problem am Maßstab der Verfassung; s. Ehmke, VVDStRL 20, 95 f.; Henke, DSt 1964, 443. 20 Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 483 f. 21 Ebd., S. 487 f. 22 Dazu eingehend Krüger, DöV 1971, 295 ff.

I I . Die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen und Prognosen

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b) Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Überprüfung von Tatsachen Keine Vorschrift des Grundgesetzes verpflichtet den Gesetzgeber ausdrücklich, überhaupt Informationen zu erheben oder gar bestimmte Daten zu ermitteln 23. Dazu ist die Legislative schon institutionell auch gar nicht i n der Lage 24 . Die Nachforschungs- und Speicherungskapazitäten ressortieren bei der Exekutive. Welche Erkenntnisse i n das Parlament gelangen, ist weitgehend von Zufällen abhängig. Die Abgeordneten sind damit auf ein punktuelles Zufallswissen angewiesen; ein Zustand, den das Grundgesetz i n der Geschichte des Parlamentarismus zwar nicht erst schuf, zu dessen Behebung es jedoch seinerseits nichts beiträgt. Die fehlende rechtliche Pflicht zur Informationsermittlung korrespondiert somit der fehlenden Möglichkeit dazu 25 . Zudem stellt sich bei der Informationsgewinnung das Problem der Zusammensetzung der parlamentarischen Körperschaft 26 . „Das Parlament" verfügt über keinen überindividuellen Sachverstand; „seine" Information ist die Information der Abgeordneten. Dementsprechend existiert „der Gesetzgeber", der sich sachkundig gemacht, Daten erhoben oder Abwägungen vorgenommen hätte, i n der parlamentarischen Demokratie nicht. Weder ist rechtlich gesichert, daß alle Abgeordneten sich mit der jeweiligen Materie vertraut machen, noch w i r d durch das Grundgesetz die Teilnahme an Beratungen und Abstimmungen davon abhängig gemacht, daß die Mitwirkenden auch tatsächlich über Sachkunde verfügen. Das ist angesichts der fehlenden Funktionsdifferenzierung und Spezialisierung des Bundestages auch nicht möglich. Jeder Abgeordnete verfügt über detaillierte Sachkenntnis nur bei einigen Materien. Hier ist er potentiell i n der Lage, Informationen sachkundig zu erheben und vorhandene Daten auf ihre Richtigkeit, Repräsentativität oder gar Vollständigkeit zu prüfen. Bezüglich aller übrigen behandelten Materien muß er sich auf sehr beschränkte Auskünfte und Wertungen Dritter verlassen. Sachkunde zählt somit zu den Charakteristika einer differenzierten und spezialisierten Exekutive. Hingegen sind Beratungen und Abstimmungen i m Parlament regelmäßig öffentliche Diskussionen und Beschlüsse über Sachverhalte, bezüglich derer zumindest die Mehrheit der Beteiligten über keine detaillierte Sachkenntnis verfügt und auch gar nicht verfügen kann. 23

Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 472; Schiaich, VVDStRL 39, 109. 24 Dazu o. 3. Teil, I I 3 b). 25 Zu den fehlenden Möglichkeiten Brohm, FS Forsthoff, S. 73 ff.; Quaritsch ebd., S. 303 ff. 26

Schiaich, VVDStRL 39, 109.

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

Allerdings fehlt die Sachkunde nicht nur dem Gesetzgeber, sondern regelmäßig auch den Gerichten. Nichtsdestoweniger müssen sie detaillierte und oft sehr spezielle Sachverhaltsermittlungen anstellen. Der Unterschied zwischen beiden Instanzen liegt jedoch darin, daß das Parlament dem Problemdruck der vorhandenen Steuerungsbedürfnisse wesentlich unmittelbarer ausgesetzt ist, als das nachträglich entscheidende Gericht. Kann sich dieses vergleichsweise ausführlich der Tatsachenermittlung zuwenden und so selbst vergleichsweise hohe Sachkunde erwerben, so fehlt diese Möglichkeit dem regelmäßig unter Zeitdruck arbeitenden Abgeordneten, wie dem unter ähnlichen Umständen entscheidenden Parlament. Zudem ist die gerichtliche Sachverhaltsermittlung dadurch begünstigt, daß durch die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale bereits ein relativ deutliches Ermittlungsziel vorgegeben ist. Dieses fehlt der Legislative. Für das Parlament kennt das Grundgesetz auch keine Verpflichtung, den Nachweis zu erbringen, in welchem Umfang und in welcher Weise es Sachkunde herangezogen hat. Der zentrale Anteil sach- und detailbezogener Gesetzgebungsarbeit findet nicht i m Parlament, sondern i n den Ausschüssen statt. Deren Sitzungen sind regelmäßig nicht öffentlich; es besteht keine Verhandlungs-, sondern lediglich Berichtsöffentlichkeit. Für diesen Bericht sind allerdings keine Vorkehrungen dafür getroffen, inwieweit er darzustellen hat, ob eigener Sachverstand des Ausschusses bezüglich der verhandelten Materie vorhanden war oder ob überhaupt und i n welcher Weise fremder Sachverstand herangezogen worden ist. Aus den Anwesenheitslisten allein läßt sich dies gleichfalls nicht feststellen. Besteht so schon keine Pflicht, die Beiziehung von Sachverstand nachzuweisen, so besteht auch keine Möglichkeit einer verläßlichen Nachprüfung, inwieweit das Parlament sich sachkundig gemacht hat. Das gilt i n besonderem Maße für die Arbeit des Vermittlungsausschusses. Dieser ist auf Schnelligkeit und Kompromißfähigkeit bei der Bewältigung seiner Aufgaben angewiesen. Die nicht öffentlichen Verhandlungen finden regelmäßig ohne Heranziehung Dritter oder detaillierte Berichte über die Erhebung und Berücksichtigung von Informationen statt. Die Pflicht des Parlaments zur Informationserhebung w i r d somit durch drei Determinanten bestimmt. Dies sind die fehlende Pflicht und die fehlende Möglichkeit zur Datenerhebung, das Fehlen institutionalisierten Sachverstandes und damit eines als „sachkundig" zu bezeichnenden Gesetzgebers und die fehlende Pflicht, die Bezugnahme auf Informationen und Daten darzulegen. Angesichts dieses Befundes zeigt sich, daß das Parlament zur vollständigen und richtigen Informationsermittlung nicht verpflichtet sein kann; eine Prüfung, ob es dieser Pflicht genügt hat, kann gleichfalls nicht stattfinden. Dies w i r d schon dadurch

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deutlich, daß ein Gesetz nicht allein deshalb für nichtig erklärt werden kann, weil der Gesetzgeber einer irgendwie gearteten verfassungsrechtlichen Pflicht zur Informationserhebung nicht nachgekommen ist. Gleichfalls ist ein Gesetz nicht schon deshalb verfassungswidrig, weil bei seinem Erlaß die der Allgemeinheit drohenden Gefahren, welche durch dieses Gesetz bekämpft werden sollten, „weder i m Einzelnen dargelegt noch wahrscheinlich gemacht worden" waren 2 7 . Eine solche Pflicht trifft den Gesetzgeber ebensowenig. Das Normenkontrollverfahren soll nicht der Legislative rechtliches Gehör bieten, sondern das erlassene Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit prüfen. Zugleich zeigt die fehlende Pflicht der Legislative zur Informationserhebung, daß das Bundesverfassungsgericht nicht an die vom Parlament ermittelten Daten gebunden sein kann. Wo keine Daten sind, kann auch kein Verweis auf sie stattfinden. I m Normenkontrollverfahren kommt es demnach auf die formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes an, nicht hingegen auf die argumentative Konsistenz oder sonstige Verfahrens- oder Verhaltensweisen der Legislative. Eine Prüfung von Tatsachen kann demnach nur insoweit in Betracht kommen, als das Grundgesetz überhaupt Fakten zu Kriterien für die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes erklärt 28. Eine pauschale Orientierung an den Grundsätzen der Überprüfung von Maßnahmen der Exekutive durch die Verwaltungsgerichte ist jedenfalls wegen der Verschiedenheit der Rechtsbindung von Legislative und Verwaltung nicht zulässig. Der abstrakt-generelle Charakter von Gesetzen bewirkt gerade in komplexen Regelungsbereichen, daß sehr vielfältige Informationen mit oft sehr allgemeinem Charakter erhoben werden müssen 29 . Nur so kann die Zwecktauglichkeit eines Gesetzes zutreffend geprüft werden. Das gilt um so mehr, je allgemeinere Tatbestandsmerkmale ein Gesetz auf weist. Sind Weite und Offenheit von Gesetzesbegriffen vielfach unausweichlich, so w i r d die Feststellung empirischer Grundlagen und Wirkungszusammenhänge problematisch. Ist die Materie zunehmend unüberschaubar, so fehlt es insbesondere an verbindlichen Kriterien für die 27 Anders Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 487; Folz, JuS 1966, 477, 479; s. auch Philippi, Tatsachenfeststellungen, S. 190. 28 In diesem Rahmen finden etwa die durch das Übermaßverbot indizierten Tatsachenüberprüfungen statt. Ob und inwieweit dieser Grundsatz überhaupt einen zulässigen Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen darstellt, kann hier nicht diskutiert werden; in der jüngeren Zeit wird die pauschale Abwägung als ungeeignetes Instrument zur Konkretisierung der Anforderungen des Grundgesetzes an Gesetze angesehen; zur Kritik am Übermaßverbot s. o. 2. Teil; zu neueren Ansätzen Schlink, Abwägung, S. 127 ff.; Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, S. 80 ff.; Suhr, JZ 1980, 166 ff.; s. auch Grimmer, Demokratie u. Grundrechte, S. 225 f. 29 s. o. 3. Teil, I I 3.

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

Richtigkeit und Vollständigkeit der Informationserhebung 30 . Zu diesem Problem t r i t t eine weitere Schwierigkeit hinzu. Detaillierte Faktenerhebung konstituiert noch nicht das Gesetz. Hierzu ist vielmehr die Abstrahierung der Daten i n allgemeine Kategorien, welche von abstrakt-generellen Gesetzesbegriffen erfaßbar sind, erforderlich. Die Erhebung tatsächlicher Grundlagen für Gesetze erfolgt somit i n zwei Stufen. Zunächst sind detaillierte Einzelinformationen erforderlich, bezüglich derer kaum rationale Kriterien für ihre Richtigkeit und Vollständigkeit bestehen. Sodann sind diese i n hohem Maße zu abstrahieren. Hier sind aus Einzeldaten und Erfahrungen allgemeine Schlüsse zu ziehen, welche dem empirisch-rationalem Zugriff partiell entzogen sind. Ob ein sozialer Zustand als „Gefahr" für ein „überragendes Gut der Allgemeinheit" anzusehen ist, läßt sich ausschließlich durch empirische Erhebung von Einzeldaten nicht begründen. Aus dem Bedürfnis nach solchen Wertungen resultiert die „Tendenz zu Pauschalfeststellungen" 3 1 , die i m Gesetzgebungsverfahren zu beobachten ist. Eine Kontrolle solcher Wertungen nach den Kriterien „richtig" oder „falsch" ist am Maßstab des Grundgesetzes nicht möglich. Für Werte existiert keine nachweisbare Wahrheit 3 2 , sie können nicht begründungsmäßig verifiziert oder falsifiziert werden. Vielmehr sind sie nur i m Verfahren öffentlicher Diskussion zu bilden, zu überprüfen und zu korrigieren. Diese Aufgabe kommt i n der parlamentarischen Demokratie dem Parlament zu 3 3 . Einer Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht sind derartige Wertungen entzogen, da hierzu die verfassungsrechtlichen Maßstäbe fehlen. Eine verfassungsgerichtliche Prüfung ist somit nur bei den seltenen Tatsachenfeststellungen möglich, welche empirisch eindeutig verifizierbar oder falsifizierbar sind. Zudem steht dem Gesetzgeber die Auswahlkompetenz zu, wenn Tatsachenfeststellungen kein eindeutiges Ergebnis zulassen. Sind nach der faktischen Lage mehrere Maßnahmen verfassungsrechtlich gleichgeeignet oder gleichwertig, so daß keine Differenzierung bezüglich ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit möglich ist, so fehlt dem Gericht der rechtliche Maßstab für eigene Kontrollen. Unterliegt hier der Gesetzgeber keinen verfassungsrechtlichen Bindungen, so ist er aufgrund seiner Gestaltungsfreiheit zur eigenständigen Auswahl zwischen mehreren gleichzulässigen Maßnahmen berechtigt. Eine verfassungsgerichtliche Kontrolle kann insoweit nicht stattfinden 3 4 . 30

Noll, Gesetzgebungslehre, S. 95 ff. Philippi, Tatsachenfeststellungen, S. 190. 32 Podlech, AöR 1970, 185 ff. 33 Dazu o. 3. Teil I I 2; Grimm in Hoffmann-Riem, Sozialwissenschaft im Studium des Rechts II, S. 106. 34 s. schon BVerfGE 7, 377, 410. 31

I I . Die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen und Prognosen

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Insgesamt ist somit eine Nachprüfung von Tatsachen durch das Bundesverfassungsgericht i m Normenkontrollverfahren nur zulässig, soweit das Grundgesetz Fakten zum Prüfungsmaßstab macht. Eine Tatsachenfeststellung kann nur insoweit zur Grundlage verfassungsgerichtlicher Entscheidungen gemacht werden, als sie empirisch eindeutig verifizierbar oder falsifizierbar ist; wertende Elemente stehen ausschließlich dem Parlament zu. I h m kommt auch die Auswahlkompetenz bei mehreren gleich zulässigen Reaktionen auf faktische Lagen zu. 3. Die Überprüfung von Prognosen

Prognosen als Einschätzungen zukünftiger Sachverhalte kommt bei dem Gesetzeserlaß große Bedeutung zu. Vorhersagen dieser A r t beziehen sich einerseits auf den Problemimpuls: Wie w i r d sich das zu lösende Problem i n der Zukunft darstellen, i n welcher das Gesetz gelten soll? Darüber hinaus beziehen sie sich auch auf die intendierten Lösungsmechanismen: Wie werden die beabsichtigten Regelungen i n der zukünftigen Realität wirken? Jedem Gesetz liegt unausgesprochen eine derartige Prognose zugrunde. Das ist unabhängig davon, ob die gesetzgebenden Organe ausdrücklich eine bewußte Einschätzung der Zukunft vorgenommen haben oder nicht. Das Bedürfnis nach derartigen Vorhersagen begründet sich aus der Tatsache, daß soziale Gestaltung durch Recht nicht unbegrenzt experimentierfähig ist. Die sozialen Folgekosten an irreparablen oder kaum noch behebbaren Folgen würden zu hoch, wenn zukunftsblind die Tauglichkeit und die Wirkungen von Recht einfach erprobt würden. Prognosen können sich auf unterschiedliche Weisen bilden. Entweder liegen ihnen Tatsachen und Erfahrungswerte aus Vergangenheit oder Gegenwart zugrunde oder aber solche Fakten fehlen oder sind unbekannt. I m ersten Fall ist eine Vorhersage mehr oder weniger empirisch fundiert, i m zweiten ausschließlich intuitiv. Niemals ist jedoch die Faktenanalyse zugleich die Prognose; hinzu t r i t t das weitere Element ihrer Überschätzung für die Zukunft. Diese kann m i t unterschiedlichen Methoden durchgeführt werden, wobei je nach der Repräsentativität und Sicherheit der zugrundegelegten Fakten und der angewandten Methoden der durchschnittliche Wahrscheinlichkeitsgrad von Vorhersagen steigt 35 . Über die Wahrscheinlichkeit der einzelnen Prognosen sagt dieser Vergleich, welcher nur die durchschnittliche Treffsicherheit einbeziehen kann, noch nichts aus. 35 Zu unterschiedlichen Prognosemethoden Philippi, gen, S. 124 ff.

Tatsachenfeststellun-

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

Die Nachprüfbarkeit einer Prognose w i r d durch deren Eigenarten limitiert. Eine vollständige Überprüfung kann erst stattfinden, nachdem der Vorhersagezeitraum abgeschlossen ist. Das ist jedoch i m Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht nur in seltenen Fällen, insbesondere bei Maßnahmegesetzen, möglich. A u f Dauer angelegte legislative Prognosen sind somit nicht vollständig kontrollierbar. Zuvor ist nur eine begrenzte Nachprüfung möglich, welche sich auf die Rationalität der Vorhersage bezieht. Dabei kann geprüft werden, ob das gewählte Verfahren optimal ist und seine Durchführung nach den anerkannten Regeln fehlerfrei war. A l l e i n die Tatsache, daß der Vorhersage wenige oder keine Fakten zugrunde lagen, begründet — ungeachtet der Ursachen dieser Tatsache — noch nicht deren Fehlerhaftigkeit. Der Gesetzgeber ist durch keine Verfassungsnorm ausdrücklich zur Erforschung der Zukunft i m allgemeinen oder der Erstellung bestimmter Prognosen i m besonderen verpflichtet. Das ändert jedoch nichts daran, daß die Gesetze selbst auf einer jeweils eigenen Sicht der Zukunft und damit bestimmten Erwartungen und Vorhersagen basieren. Deren verfassungsgerichtliche Überprüfung darf nur insoweit erfolgen, als das Grundgesetz bestimmte Anforderungen an legislative Prognosen stellt. a) Prognoseprüfungen

des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht überprüft Prognosen des Gesetzgebers seit der Frühzeit seiner Rechtsprechung. Ausgangspunkt dafür ist — ähnlich der Kontrolle von Tatsachenfeststellungen — das Apothekenurteil 8 6 . I n der Begründung ist gleichfalls das Übermaßverbot i n der Variante der Drei-Stufen-Formel als Grundlage der Kontrolltätigkeit genannt. Damit w i r d auch insoweit durch die Heranziehung einer dem Verwaltungsrecht entlehnten Rechtsfigur die Parallele zur verwaltungsgerichtlichen Überprüfung exekutiver Maßnahmen hergestellt. Umfang und Kriterien der Prognoseprüfung entsprechen daher den Dimensionen der Kontrolle von Tatsachenfeststellungen 37 . I n jüngerer Zeit hat das Bundesverfassungsgericht versucht, die Maßstäbe seiner Prognosekontrolle zu systematisieren 88 . Die intensivste Nachprüfung findet statt bei der Inhaltskontrolle 3Ö. Bei ihr ist das Gericht nicht an die Rechtsauffassung des Gesetzgebers gebunden, vielmehr hat es eigene Prognosen anzustellen und die legislativen Vorher3

· BVerfGE 7, 377, 409 ff. Dementsprechend wird eine weitreichende Kontrolle solcher Vorhersagen gefordert; s. Kloepfer, NJW 1971, 1585 ff. 38 BVerfGE 50, 290, 333. 39 Zum folgenden Schneider, NJW 1980, 2105 m. w. N. 37

I I . Die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen u n d Prognosen

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sagen an ihnen zu messen. Soweit dabei jedoch Wertungen und tatsächliche Beurteilungen des Gesetzgebers von Bedeutung sind, kann sich das Gericht grundsätzlich nur über sie hinwegsetzen, wenn diese widerlegbar sind 4 0 . I n diesem Rahmen ist es Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit, darüber zu wachen, daß der Gesetzgeber das Erforderliche getan hat, u m Gefahren von dem zu schützenden Rechtsgut abzuwehren 4 1 . Dieser Maßstab w i r d angewandt, wenn „Rechtsgüter wie das Leben oder die Freiheit der Person" auf dem Spiele stehen 42 . Praktisch wurde er bei dem Schutz des ungeborenen Lebens 43 , der elementaren Freiheit der Person 44 und der grundsätzlichen Möglichkeit, einen Beruf zu wählen 4 5 . Experimente sind bei dem hohen Wert solcher Rechtsgüter nicht zulässig 46 . Kriterien sind hier die Widerlegbarkeit der Prognose des Gesetzgebers aufgrund des von i h m herangezogenen oder nicht herangezogenen Materials. Weitmaschiger ist der Maßstab der „Vertretbarkeitskontrolle". Dieser verlangt, daß der Gesetzgeber sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials orientiert hat. Er muß die i h m zugänglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft haben, u m die voraussichtlichen Auswirkungen seiner Regelungen so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können und einen Verstoß gegen Verfassungsrecht vermeiden. Demnach handelt es sich „eher u m Anforderungen des Verfahrens" 4 7 . I m Falle eines sich später herausstellenden Irrtums ist die Legislative zur Korrektur verpflichtet 4 8 . Anwendung findet dieser Maßstab, wenn eine Norm „komplexe, schwer überschaubare Zusammenhänge" regelt. Das gilt insbesondere für wirtschaftspolitische Vorschriften 49 und solche Normen, welche die Berufsausübung regeln 50 . K r i t e r i u m ist hier, ob das Gesetz „objektiv untauglich", „objektiv ungeeignet" oder „schlechthin ungeeignet" ist 5 1 . Die größte Freiheit kommt der Legislative bei der Evidenzkontrolle zu. Dabei w i r d geprüft, ob die Erwägungen des Gesetzgebers so offensichtlich fehlsam sind, daß sie vernünftigerweise keine Grundlage für legislative Maßnahmen abgeben können 5 2 . Nur wenn ein Gesetz „für jeder40 41 42 43 44 45 48 47 48 49 50 51 52

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45, 187, 238. 39, 1, 51. 50, 333. 39, 1, 51 ff. 45, 187, 238. 7, 377, 415; 11, 30, 45; 17, 269, 276 ff. 39, 1, 60. 50, 333 f. 49, 89, 130; 50, 335. 30, 250, 263; 50, 333 ff. 25, 1, 17; 39, 210, 225 f. 30, 263. 37, 1, 20.

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mann erkennbar", „offenkundig", „eindeutig", „zweifelsfrei" oder „offensichtlich" gegen das Grundgesetz verstößt 63 , ist es verfassungswidrig. Dieser Maßstab w i r d bei der Beurteilung der Deutschland-Politik angewendet 54 und findet auch i m Berufsausübungsrecht gelegentlich A n wendung 5 5 . Bei der Handhabung dieser Kriterien zeigt sich bisweilen ein Vorrang des wissenschaftlichen Sachverstandes vor der politischen Einschätzung 56 . Ist der Gesetzgeber „ i n wesentlichen Zügen" der Empfehlung einer Sachverständigenkommission gefolgt und hat er „umfangreiche Anhörungen" durchgeführt, so indiziert dieses am Maßstab der Vertretbarkeitskontrolle die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Vorschriften 57 . Die Kontrolldichte orientiert sich nach den dargestellten Maßstäben grundsätzlich nicht an Eigengesetzlichkeiten der jeweils geregelten Sachbereiche, wirtschaftspolitische Vorschriften finden sich etwa auf allen drei Stufen. Vielmehr ist der Ausgangspunkt des Gerichts die verfassungsrechtliche Regelung des gesetzlich normierten Sachbereichs. Wo diese besonders dicht ist, w i r d die Inhaltskontrolle praktiziert. Das gilt insbesondere für Grundrechtseingriffe. Als Abwehrrechte weisen die Freiheitsrechte eine besonders hohe Regelungsdichte auf. Darüber hinaus ist die Intensität des Eingriffs maßgeblich. Je zentraler die beeinträchtigte Rechtsposition für die individuelle Selbstverwirklichung ist und je größer die Gefahren sind, denen durch eine Norm vorgebeugt werden soll, desto eingehender ist die Kontrolle. Gegenstück dazu ist die verfassungsrechtlich nur sehr spärlich normierte Außen- und Deutschland-Politik. Hier soll die Intensität der Nachprüfung sehr eingeschränkt sein, die bloße Evidenzkontrolle w i r d dabei praktiziert. Wirtschaftspolitische Regelungen werden dementsprechend je nach ihrer „Grundrechtsnähe einer differenzierten Überwachung unterzogen. Die elementare Berufswahlfreiheit indiziert eine strikte Prüfung, die weitreichende Berufsausübungsfreiheit begründet eine geringere Kontrollintensität. Je stärker der Bereich des „forum internum" von Leben, elementarer Freiheit und beruflicher Selbstverwirklichung betroffen ist, desto intensiver ist die Nachprüfung; je weiter dagegen der Bereich des forum externum die Regelung sozialen Verhaltens erfordert, desto weitmaschiger sind die Anforderungen 5 8 . Dabei suggeriert die verwendete Terminologie ein System, welches i n der Praxis als solches nicht existiert. So zitiert das Bundesverfas53 54 55 58 57 58

Nachweise bei Schneider, NJW 1980, 2105. BVerfGE 36, 1, 17. BVerfGE 37, 1, 24 f.; s. auch E 40, 196, 223 f. Schiaich, VVDStRL 39, 110 f. BVerfGE 50, 335. Grabitz, AöR 1973, 568, 602 ff.; Seetzen, N J W 1975, 429 ff.

I I . Die Uberprüfung von Tatsachenfeststellungen u n d Prognosen

177

sungsgericht die Güterkraftverkehrsentscheidung 50 als Anwendungsfall der Evidenzkontrolle, während diese i n ihren Gründen selbst auf Entscheidungen zur Vertretbarkeitskontrolle Bezug nimmt. Zudem ist bisweilen — trotz verbaler Zurückhaltung — die Kontrolldichte sehr hoch. Ein praktikables Konzept ist mit Formeln wie „offensichtlich" oder „zweifelsfrei", die mehr an subjektive Eindrücke appellieren als Tatsachen bezeichnen, nicht zu begründen. b) Prognoserationalität

und Prognosekontrolle

Demgegenüber w i r d gelegentlich als Maßstab der Kontrollintensität gegenüber legislativen Prognosen der mögliche Rationalitätsgrad der Nachprüfung herangezogen 60 . Diese insbesondere für den Bereich der Außenpolitik entwickelte Ansicht geht davon aus, daß Prognosen ausschließlich ex post zu überprüfen sind, also während des Vorhersagezeitraums nicht als „richtig" oder „falsch", sondern nur als „wahrscheinlich" oder „unwahrscheinlich" qualifiziert werden können. Ist eine Richtigkeitskontrolle somit ausgeschlossen, so gilt für die Prognoseprüfung: Je mehr rationale Kriterien für die Überprüfung zur Verfügung stehen, desto eher kann von einer durch Dritte nachvollziehbaren Kontrolle gesprochen werden. Stehen quantifizierbare Daten und „Gesetzmäßigkeiten" zur Verfügung, so ist die Vorhersage rational nachprüfbar. Ob und inwieweit dies der Fall ist, hängt von den Eigenarten derjenigen Materie ab, auf welche sich die Prognose bezieht. I n Bereichen hingegen, wo zukünftige Entwicklungen von Kausalfaktoren abhängen, die sich nicht als Gesetzmäßigkeiten erfassen lassen oder für die fundierte Tests und Trends nicht vorliegen, liegen die Bedingungen für einen rationalen Prognoseansatz nicht vor. Sind viele unbekannte oder nicht beeinflußbare Variablen i n die tatsächliche Grundlage der Zukunftseinschätzung aufzunehmen, so ist zwar eine intuitive Prognose möglich; diese entzieht sich aber der interpersonalen Diskutierbarkeit und damit zugleich der rationalen Nachprüfbarkeit. Jede Überprüfung fremder Vorhersagen, die sich nicht auf empirisch verifizierbare Daten stützen kann, ersetzt jene durch eine eigene Prognose, ohne die Gründe für die Überlegenheit der eigenen Zukunftsbetrachtung gegenüber der fremden nachvollziehbar darlegen zu können. Das Grundgesetz kennt keine allgemeine Vermutung „institutioneller Richtigkeit" für den Gesetzgeber oder das Bundesverfassungsgericht 61 . Die bloße Substitution legislativer Prognosen durch die Verfassungsgerichtsbarkeit würde i n derartigen Fällen vielmehr zur Übernahme der gesetzgeberischen 59

BVerfGE 40, 196, 222 f. Dazu und zum folgenden Schuppert, Kontrolle, S. 175 ff.; im Ansatz auch Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 502. 61

Schneider, N J W 1980, 2105.

12 Gusy

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

Funktionen durch das Gericht führen. Der Dualismus von Gestaltung und Kontrolle schließt einen solchen Übergang jedoch gerade aus. Dieser Ansatz unterscheidet sich von demjenigen des Bundesverfassungsgerichts durch seinen Ausgangspunkt. Nicht der Prüfungsmaßstab, also die jeweils anwendbare Verfassungsnorm, bestimmt den Umfang der Prognosekontrolle. Vielmehr sind die Eigengesetzlichkeiten des jeweiligen Sachbereichs, also der Realität, i n welcher die Prognose fundiert ist und auf die sie sich bezieht, ausschlaggebend. Das Ausmaß, inwieweit ein Sachbereich einer rationalen Prognosebildung zugänglich ist, entscheidet zugleich darüber, welchen Umfang die Kontrollintensität annehmen darf. Erst dadurch — und nicht durch den jeweiligen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab — entsteht die Möglichkeit, die Eigenarten der Materie und die Schwierigkeiten ihrer gesetzlichen Regelung zu berücksichtigen. Daß etwa ein Gesetz „einen Ausschnitt komplexer, schwer überschaubarer Zusammenhänge" regelt, daß es „auf Tatbestände, die raschen Wandlungen unterliegen", bezogen ist, welche „sich zuverlässiger Einschätzung entziehen" 62 , kann nur i n diesem methodischen Bezugsrahmen berücksichtigt werden. Verbal erkennt das Bundesverfassungsgericht trotz seines anderen Ausgangspunktes diese Tatsache auch an 6 3 . Exemplarisch wurde das Rationalitätskriterium an dem Bereich der Außenpolitik untersucht 64 . Dieser zeichnet sich dadurch aus, daß hier nicht lediglich das Verhalten der deutschen Staatsorgane, sondern auch dasjenige der anderen Staaten prägend w i r k t . Dieses zeichnet sich durch eine Vielzahl von Variablen aus, welche sich, bis auf Einzelfälle 6 5 , einer verläßlichen Vorhersage entziehen. Damit ist eine rationale Prognosebildung und -kontrolle ausgeschlossen. Vielmehr eignet hier Vorhersagen und politischem Verhalten ein hohes Maß an Wertbezogenheit, welches mangels eigener Rationalität 6 6 einer zuverlässigen gerichtlichen Kontrolle unzugänglich ist. Sind Wertbildung und -durchsetzung interpersonal nicht gründungsmäßig leitbar, so können sie i m Gemeinwesen nur i m demokratischen Prozeß der politisch handelnden Staatsorgane geleistet werden. Dabei sind sie gerichtlich unvertretbar; eine Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht ist damit weitgehend ausgeschlossen. 62

BVerfGE 50, 333. Derartigen Besonderheiten einzelner Materien kann durch eine besondere Prognosezurückhaltung Rechnung getragen werden, die als "political question doctrine", "economical question doctrine" (Spanner , DöV 1972, 217 ff.) oder "pedagogical question doctrine" (Hufen, JA 1978, 39, 42) zu bezeichnen wären. 94 Schuppert, Kontrolle, S. 178 ff. m. w. N. w Ebd., S. 181. M s. o. 2. Teil, III, 4 c). 63

I I . Die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen u n d Prognosen

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c) Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Überprüfung von Prognosen Beide Ansätze zur Bestimmung der Kontrollintensität gegenüber legislativen Prognosen lassen zentrale Aspekte des Problems deutlich hervortreten. Das Bundesverfassungsgericht darf gesetzgeberische Vorhersagen nur i n dem Umfang überprüfen, i n welchem das Grundgesetz Anforderungen an derartige Einschätzungen der Zukunft zum Kriterium der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit von Gesetzen macht. Ausgangspunkt ist damit stets die jeweils einschlägige Verfassungsnorm als Kontrollmaßstab. Nicht das Bundesverfassungsgericht ist deutlich greifend oder zurückhaltend, sondern die Verfassung 67 . Zwar ist der Gesetzgeber i m Grundgesetz nicht ausdrücklich zur wissenschaftlichen Erforschung der Zukunft verpflichtet, da jedoch Gesetzen als zukunftsorientierten Gestaltungsprogrammen stets Prognosen zugrundeliegen, können diese zum Gegenstand einer Prüfung gemacht werden. Nicht die Vorhersage i m Gesetzgebungsverfahren, wohl aber diejenige des Gesetzes kann grundgesetzlichen Anforderungen unterliegen 6 8 . Primär stellt sich damit die Frage, welche Anforderungen das Grundgesetz an legislative Prognosen enthalten kann. Sind Vorhersagen stets nur wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, so kann ihre „Richtigkeit" weder verlangt noch überprüft werden. Vielmehr ist lediglich feststellbar, ob eine Prognose rational begründbar ist oder nicht. Dementsprechend kann sie auch nicht „widerlegt" werden, sofern nicht gegen „allgemeingültige Gesetze" verstoßen worden ist 6 9 . Nun sind die Organe der Legislative nicht zu einem bestimmten Verfahren der Vorausschau verpflichtet; wie sie ihre Prognosen gewinnen, ist vom Grundgesetz nicht vorgeschrieben. Die einem Gesetz zugrundeliegende Voraussage kann rational oder i n t u i t i v begründet sein. Mangel an Rationalität allein begründet i n keinem Fall einen Verfassungsverstoß. Das gilt jedenfalls stets dann, wenn die i n t u i t i v gewonnene Prognose des Gesetzes und eine rationale Zukunftsschau i m Ergebnis zusammenfallen. Genau dieses ist jedoch überprüfbar: Ob nämlich die ein Gesetz tragende Zukunft sich der rationalen Kriterien genügt. Ist die Zukunft generell unbeobachtbar, so kann das Grundgesetz keine richtigen, sondern nur rationale Voraussagen fordern. Auch insoweit können legislative Prognosen nur kontrolliert werden. Voraussetzung dafür ist i n jedem Fall, daß der Verfassung ein solches Rationalitätserfordernis zu •7 Schiaich, VVDStRL 39, 112. 68 Anders Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 513 f. zur „Verfahrenskontrolle". 69 Dazu Philippi, Tatsachenfeststellungen, S. 126 ff. 12*

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

entnehmen ist und daß i n dem jeweiligen Sachbereich Rationalitätskriterien auch tatsächlich auffindbar sind. Das Grundgesetz kann für eine Prognose nur unter der Voraussetzung Rationalitätsanforderungen erhalten, wenn es für die Norm, die auf ihr basiert, inhaltliche Maßstäbe bereithält. Als solche Maßstabsnormen kommen wegen ihrer hohen Regelungsdichte insbesondere die Grundrechte als Abwehrrechte i n Betracht 7 0 . Ein Rationalitätsgebot besteht stets dann, wenn der Gesetzgeber auf die Verfolgung bestimmter Zwecke beschränkt ist 7 1 . Darf etwa die Meinungsfreiheit gem. A r t . 5 I I GG u. a. nur „zum Schutz der Jugend" eingeschränkt werden, so erfordert diese Schrankenbestimmung, daß das einschränkende Gesetz nach seinem Inkrafttreten tatsächlich zum Schutz der Jugend geeignet sein kann. Dies kann prognostisch nicht „richtig" oder „falsch" vorausgesagt werden. Soll die Zweckbeschränkung nicht vollständig funktionslos bleiben, so darf sich das Gesetz nicht ausschließlich auf Vermutungen über seine Eignung für diesen Zweck stützen. Vielmehr ist es insoweit zur Rationalität verpflichtet. Mit der Verpflichtung des Gesetzgebers auf bestimmte Zwecke ist somit zugleich das Rationalitätserfordernis für legislative Vorhersagen begründet. Das gilt i n gleicher Weise für alle Freiheitsrechte mit limitiertem Schrankenvorbehalt und die besonderen Gleichheitssätze. Ähnlich w i r k t auch das Übermaßverbot als Kontrollmaßstab für Gesetze, wie es das Bundesverfassungsgericht heranzieht 72 . Damit ein Eingriff i n die Freiheit des Bürgers nicht an den Grundrechten scheitert, muß die Argumentation gelingen, daß der Eingriff geeignet und erforderlich ist, einen legitimen öffentlichen Zweck zu erreichen. Auch hier kann nicht jede bloße Vermutung ein Gesetz rechtfertigen; ex ante begründet erst die rationale Prognose die tatsächliche Eignung einer Norm zu diesem Zweck. Soweit das Übermaßverbot als K r i t e r i u m für die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen herangezogen wird, w i r k t es als Rationalitätsgebot ähnlich den übrigen Limitierungen legislativer Zwecksetzung. Dabei ist es jedoch insofern weitmaschiger, als es selbst der Legislative keine konkreten Handlungszwecke vorschreibt; der Gesetzgeber allein ist zur Auswahl unter allen ihrerseits verfassungsgemäßen Zielen berechtigt 73 . So bestimmen die Normen des Grundgesetzes den Umfang der Prognosekontrolle 74 . Rationalitätsgebote sind jedoch nur erfüllbar, wenn die vom jeweiligen Gesetz geregelte Realität auch tatsächlich Rationalitätskriterien bereithält. Das ist nur unter der Voraussetzung der Fall, daß der jewei70 71 72 73 74

s. ο. 12. Schlink, Abwägung, S. 200 f. Dazu ebd., S. 195 ff. Zu Einzelheiten ebd., S. 207 ff. s. auch Suhr, JZ 1980, S. 166 u. 169 ff.

I I . Die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen und Prognosen

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lige Sachbereich hinreichend sichere Daten und Gesetzesmäßigkeiten aufweist, um als zuverlässige Daten- und Prognosebasis dienen zu können. Probleme ergeben sich i n solchen Fällen, i n denen das Gesetz auf einer Vorausschau basiert, die vom Bundesverfassungsgericht nicht auf ihre Rationalität überprüft werden kann, da hierzu die Kriterien fehlen. Hier sind zwei unterschiedliche Fallkonstellationen zu unterscheiden. Enthält das Grundgesetz für das jeweilige Gesetz kein Erfordernis der Prognoserationalität, so kann hier eine verfassungsgerichtliche Überprüfung nicht i n Betracht kommen. Ist hingegen der Verfassung eine Forderung nach rationaler Vorhersage zu entnehmen, so ist das Gesetz nur verfassungsgemäß, wenn seine Prognosen rational fundierbar sind. Ist eine solche Fundierung nicht auffindbar, so ist das Gesetz verfassungswidrig. Das Ausmaß der Rationalitätskontrolle orientiert sich i n diesem Rahmen an den Erfordernissen des jeweiligen Sachbereichs. Vielfach zeigt sich nach Ausschöpfung der vorhandenen Erkenntnismittel, daß unterschiedliche Prognoseergebnisse möglich sind, weil verschiedene rationale Verfahren nebeneinander denkbar sind. Deutlich zeigt sich dies etwa i m Bereich der Wirtschaftspolitik: So sind etwa konjunkturelle Daten aufgrund unterschiedlicher Βerechnungsweisen zu erlangen, denen jeweils ihre Sachangemessenheit und immanente Rationalität nicht abgesprochen werden kann. Da hier nicht der Legislative das jeweilige Ziel ihres Handelns vorgeschrieben ist, sondern jedes seinerseits nicht verfassungswidrige Ziel verfolgt werden darf, gerät das Rationalitätsproblem so i n unlösbarem Zusammenhang mit der wertenden Zielbestimmung politischen Handelns 75 . Da diese Wertungen jedoch ihrerseits nicht gerichtlich verifizierbar oder falsifizierbar sind, sondern dem politischen Prozeß überlassen bleiben 7 6 , ist i n derartigen Fällen nur eine begrenzte Rationalitätskontrolle möglich. Die Auswahl zwischen mehreren rationalen Prognosen steht dem Gesetzgeber zu, da das Gesetz dafür keine eigenen Maßstäbe bereithält. Insofern prägen die Eigenarten des jeweiligen Sachbereichs die Prognoseprüfung. Von erheblicher Bedeutung für die Kontrolle legislativer Vorhersagen ist das Problem des zugrundezulegenden Zeitpunktes. Normenkontrolle findet regelmäßig erst nach dem Gesetzeserlaß statt 7 7 . So verbessert sich durch Zeitablauf die Erfahrungs- und Prognosesituation des Bundesverfassungsgerichts gegenüber derjenigen des Gesetzgebers: I m Kontrollzeitpunkt hat sich die Kenntnis, und Anschauungsbasis partiell gewandelt; was für die Legislativorgane noch Zukunft war, ist für 75

Schuppert, Kontrolle, S. 196 ff. Dazu Grimm in Hoffmann-Riem, Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, S. 106; Gerontas, BayVBl 1981, 618 ff. 77 Dazu o. 3. Teil, I I I 2 b). 78

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

das Gericht partiell Vergangenheit oder Gegenwart. I n diesem Fall stellt sich die Frage, ob die Verfassungsmäßigkeit der Prognose ex ante aus der Sicht des Gesetzgebers oder ex post aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts zu beurteilen ist. Entscheidend hierfür ist, daß nicht die Richtigkeit, sondern lediglich die Rationalität der Prognose geprüft werden kann. Verlangt das Grundgesetz nicht „richtige Vorausschau", so ist das Eintreten des vorhergesagten Ereignisses nicht Element der Prognoserationalität. Diese beurteilt sich stets nach den Gegebenheiten des Prognosezeitpunktes, i n dem sie erstellt worden ist. Für diesen Zeitpunkt kann das Grundgesetz auch ausschließlich Anforderungen an den Gesetzeserlaß stellen. Dementsprechend müssen etwa Irrtümer des Gesetzgebers über den wirtschaftlichen Verlauf i n Kauf genommen werden, da die Legislative auch zur Abwehr künftiger Gefahren i m Rahmen des Möglichen verpflichtet ist, der zumindest zu erwartende Geschehensablauf aus den verschiedensten Gründen aber auch unvorhergesehene Wendungen nehmen kann 7 8 . Der erhebliche Zeitpunkt für die Prognoseprüfung ist somit stets derjenige der Perspektive des Gesetzgebers ex ante. Insgesamt zeigt sich, daß der Gesetzgeber nicht zu wissenschaftlichen Prognosen verpflichtet ist. Da jedoch den Gesetzen Vorhersagen über die Zukunft zugrundeliegen, können diese überprüft werden. Maßstäbe sind dabei nicht „richtig" oder „falsch" sondern die Rationalität. Eine solche Prüfung findet stets statt, wenn das Grundgesetz für eine Norm Rationalitätsanforderungen aufstellt, wobei die Besonderheiten des jeweiligen Sachbereiches zu berücksichtigen sind. Auswahlkompetenz und „Recht auf I r r t u m " kommen dem Gesetzgeber zu. Die Prognose ist stets für den Zeitpunkt ex ante zu kontrollieren.

I I I . Die Entscheidungsformen im Normenkontrollverfahren Die Abwicklung verfassungswidriger Rechtslagen durch das Bundesverfassungsgericht ist i m Grundgesetz nur andeutungsweise determiniert; auch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz beschränkt sich auf eine einzige Norm. Die flexible Praxis des Gerichts 1 orientiert sich vielfach an pragmatischen Gesichtspunkten. Hier soll lediglich die Tenorierung verfassungsgerichtlicher Normenkontrollentscheidungen dargestellt werden, also das Problem, welche Folgerungen das Gericht aus der Feststellung der Verfassungswidrigkeit oder Verfassungsmäßigkeit 78

BVerfGE 16, 147, 181 ff.; 18, 315, 332; 25, 1, 12 f.; Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 517 f. m. w. N. 1 Darstellung bei Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 31 ff.; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 95 ff.

I I I . Die Entscheidungsformen i m Normenkontrollverfahren

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eines Gesetzes ziehen muß und darf. Nicht behandelt w i r d hingegen die Frage, ob materiell verfassungswidrige Vorschriften „nichtig" oder „vernichtbar" sind. Mag dieses Problem für die Kompetenzen des Gerichts nicht völlig ohne Bedeutung sein, so erlangt es zentrale Relevanz i n anderen Zusammenhängen, insbesondere der Frage nach der materiellen Rechtslage vor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder der Problematik der Abwicklung verfassungswidriger Lagen durch den Gesetzgeber 2. 1. Die Nichtigerklärung von Gesetzen

Kommt das Bundesverfassungsgericht zu der Überzeugung, daß Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, so erklärt es das Gesetz für nichtig (§ 78 S. 1 BVerfGG; s. auch § 82 I, 95 I I I BVerfGG). Die Nichtigerklärung ist der einzige vom Gesetz ausdrücklich vorgesehene Tenor. Dementsprechend lautet die Verwerfungsformel oft, ein Gesetz sei „verfassungswidrig und daher nichtig"*. Hier w i r d mit dem Vorliegen des Tatbestandes je nach Vorschrift, nämlich der Feststellung der Verfassungswidrigkeit, unmittelbar deren Rechtsfolge verknüpft. Die Nichtigerklärung bedeutet die Kassation einer Norm unmittelbar durch das Bundesverfassungsgericht 4 . Ihre Rechtsfolgen sind für die Vergangenheit i n § 79 BVerfGG die Regel 5 . M i t der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts t r i t t das Gesetz automatisch außer Kraft; ein Handeln des Gesetzgebers ist dazu nicht mehr erforderlich. Für die Zukunft darf die nichtige Vorschrift von keiner staatlichen Stelle mehr angewandt oder einer Entscheidung oder sonstigen Maßnahme zugrunde gelegt werden. A u f diese negative Wirkung beschränkt sich die Entscheidung. Für eine legislative „Mängelbeseitigung" besteht keine irgendwie geartete verfassungsrechtliche Pflicht. Ob der Gesetzgeber erneut eine Norm m i t gleichem oder ähnlichem Ziel erläßt, untätig bleibt oder sinnlos gewordene Normfragmente aufhebt, ist i n seine politische Entscheidung gestellt. Zur Reaktion ist er berechtigt, aber nicht verpflichtet. Das Bundesverfassungsgericht darf nur solche Vorschriften für nichtig erklären, die nach seiner Überzeugung verfassungswidrig 2 Dazu Maurer, Die Rechtsfolgen der Nichtigerklärung von Gesetzen, S. 14 ff.; Böckenförde, Die sogenannte Nichtigkeit; Majer, Die Folgen verfassungswidriger Gesetze; Söhn, Aussetzungspflicht; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 31 ff.; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 145 ff.; Maunz, BayVBl 1980,

513 ff.; Sommerlad, 3

N J W 1984, 1489 ff.

Seit BVerfGE 3, 19; s. etwa auch E 40, 37, 40. 4 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 213. 5 Dazu Steiner, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 628 ff.; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 266.

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

sind. Eine solche Überzeugungsbildung ist nur i n einem ordnungsgemäßen Verfahren möglich. Grundsätzlich können damit nur solche Normen für nichtig erklärt werden, die Gegenstand eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens waren. Dieser Gegenstand w i r d vom Antrag bestimmt, der somit zugleich den Umfang der verfassungsgerichtlichen Normprüfung festlegt 6 . Dabei werden mehrere Varianten der Nichtigerklärung unterschieden 7 . Die Nichtigerklärung des Gesetzes als gesetzgebungstechnische Einheit setzt voraus, daß alle Vorschriften des Gesetzes mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Derartige Konstellationen kommen jedoch nur äußerst selten vor, überwiegend sind i n diesem Fall formelle Fehler für die Verfassungswidrigkeit des gesamten Gesetzes verantwortlich. Das ist etwa der Fall, wenn der erlassenden Körperschaft die Gesetzgebungskompetenz fehlte 8 oder aber das erlassende Organ nicht (allein) zuständig war. Diese Konstellation liegt etwa vor, wenn der Bundesrat einem zustimmungsbedürftigen Gesetz nicht zugestimmt hat 9 . Wesentlich häufiger ist die Τ eilnichtig erklärung. I n diesem Fall hält das Bundesverfassungsgericht nur einzelne Bestandteile eines Gesetzes, etwa einzelne Vorschriften, für verfassungswidrig. Verstößt eine Strafvorschrift gegen ein Grundrecht, so w i r d nicht das gesamte Strafgesetzbuch, sondern nur diese eine Bestimmung für nichtig erklärt 1 0 . Sofern eine verfassungswidrige Norm i n einem Gesetz einen textlichen Ausdruck gefunden hat, bereitet dieses Verfahren keine Probleme. Anders ist es dann, wenn einer Regelung ein solcher normtextlicher Ausdruck fehlt. Das gilt etwa, wenn eine weitgefaßte Vorschrift unterschiedliche Anordnungen enthält, wie es nicht nur i n Generalklauseln vielfach der Fall ist. Eine solche Norm kann verfassungsmäßige und verfassungswidrige Ge- oder Verbote enthalten. M i t der Nichtigerklärung der gesamten Vorschrift würden zugleich die verfassungsmäßigen Elemente beseitigt. Um dies zu vermeiden, w i r d hier die Teilnichtigerklärung i n der Weise angewandt, daß der Gesetzestext seinerseits geteilt w i r d und nur soweit für nichtig erklärt wird, als er verfassungswidrige Regelungen enthält 1 1 . I m ersten Fall der Teilnichtigerklärung w i r d der Wortlaut des Gesamtgesetzes geändert, i m zweiten bleibt er hingegen erhalten. Die Teilnichtigerklärung bedeutet stets einen Eingriff i n die Einheit des gesetzlichen Sinnzusammenhangs. Gerade aus dieser Konse6

Zum Antrag o. 3. Teil, I I I 2 a). Überblick bei Maunz u. a., BVerfGG, § 78 Rn. 23 ff.; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 89 ff. 8 Etwa BVerfGE 1, 14 ff. 9 Etwa BVerfGE 48, 127, 130. 10 Etwa BVerfGE 12, 296 ff. zu § 90 a I I I StGB. » Etwa BVerfGE 8, 51 ff. 7

I I I . Die Entscheidungsformen i m N o r m e n k o n t r o l l v e r f a h r e n 1 8 5

quenz der Teilnichtigerklärung resultiert die Variante der Gesamtnichtigerklärung. Für die bisher behandelten Fälle war kennzeichnend, daß die Feststellung der Verfassungswidrigkeit und die Nichtigerklärung einander entsprachen: Für nichtig erklärt werden ausschließlich solche Normen, deren Verfassungswidrigkeit festgestellt war. Sind hingegen verfassungsmäßige und verfassungswidrige Normen derart ineinander verschränkt, daß bei Nichtigkeit einer zentralen Vorschrift die übrigen keine selbständige Bedeutung mehr haben, so w i r d das Gesetz insgesamt für nichtig erklärt 1 2 . I n diesem Fall bezieht sich somit die Nichtigerklärung auch auf Vorschriften, die nicht verfassungswidrig sind. Begründet w i r d dies damit, daß ohnehin die verfassungsgemäßen Bestandteile ihren Regelungsgehalt verlieren würden und durch die Teilnichtigkeit „geradezu von einer Verfälschung der gesetzgeberischen Idee gesprochen werden müßte" 1 3 . Eine derartige Gesamtnichtigerklärung ist jedoch weder durch das Grundgesetz noch durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz indiziert. Aufgabe des Gerichts i m Prozeß der Normenkontrolle ist es, einfaches Recht auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu prüfen. Die Nichtigerklärung ist die gerichtliche Reaktion auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit, sie ist durch den Widerspruch zwischen Kontrollnorm und kontrollierter Norm legitimiert 1 4 . Ist zur Aufhebung von Gesetzen grundsätzlich nur der Gesetzgeber befugt, so ist das Bundesverfassungsgericht zur Kassation nur berechtigt, sofern ihm das Grundgesetz als Handlungs- und Legitimationsgrundlage dafür einen Handlungstitel zuweist. Das ist jedoch nur insoweit der Fall, als ein Verstoß gegen die Verfassung festgestellt werden kann. Nur soweit eine Norm verfassungswidrig ist, kann sie Objekt verfassungsgerichtlicher Reaktion sein. Eine Entscheidung darüber, ob das „teilnichtige" oder das „gesamtnichtige" Gesetz dem Willen des Gesetzgebers näher steht, kann aus dem Grundgesetz nicht gefällt werden. Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, legitimiert somit nicht die Prüfung der Zweckmäßigkeit teilnichtiger Normen. Das Gericht ist ausschließlich auf die Rechtmäßigkeitsprüfung beschränkt; eine Zweckmäßigkeitsprüfung darüber hinaus ist unzulässig. Hält der Gesetzgeber die nach einer Teilnichtigerklärung verbliebenen Normbestandteile für un12 Das soll analog § 139 BGB in zwei Fällen gelten: in Fällen einseitiger Abhängigkeit, wenn wegen der Nichtigkeit einer zentralen Norm den übrigen Bestandteilen des Gesetzes keine selbständige Bedeutung mehr zukommt, oder in Fällen wechselseitiger Abhängigkeit, wenn verfassungswidrige und sonstige Normen eine untrennbare Einheit bilden; dazu Skouris, Teilnichtigkeit, S. 30 ff. mit Beispielen; s. etwa BVerfGE 15, 1 ff.; 26, 246 ff.; 9, 305 ff.; 20, 150 ff.; BVerfG, NJW 1981, 1778. 13 BVerfGE 8, 274, 300 f. 14 s. o. 3. Teil I I I 3.

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

zweckmäßig, so kann er sie aufheben oder sinnvoll ergänzen 16 . Die Nichtigerklärung verfassungsgemäßer Normen ist somit unzulässig. Betrafen diese Fälle die Nichtigkeit von Gesetzen, welche den jeweiligen Streitgegenstand darstellten, so läßt § 78 S. 2 BVerfGG die ErStreckung der Nichtigerklärung auch auf solche Normen zu, die nicht angegriffen waren 1 6 . Diese Vorschrift stellt eine Ausnahme vom A n tragserfordernis dar. Sie dient der Vermeidung von Doppelentscheidungen 17 . So wurde ein vom Ausgangs ver fahr en beschränkter Personenkreis erweitert, weil die Nichtigkeitsgründe auch andere Personen betrafen 1 8 ; ferner wurden verschiedene Fassungen eines Gesetzes für nichtig erklärt, obwohl Streitgegenstand nur die zum Zeitpunkt der Entscheidung geltende Fassung war 1 9 . Grund für diese Erstreckung ist die Prozeßökonomie. Das Bundesverfassungsgericht soll nicht gezwungen sein, von vornherein die Gefahr der Doppelentscheidung i n Kauf nehmen zu müssen. Dieser Aspekt führte auch zur Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Vorschrift. Gilt sie selbst nur für das Verfahren der abstrakten (§ 78 S. 2 BVerfGG) und der konkreten (§ 82 11 BVerfGG) Normenkontrolle, so ist ihre Anwendbarkeit auf die Verfassungsbeschwerde ausgedehnt worden 2 0 . Tatbestandsvoraussetzung dieser Vorschrift ist, daß „dieselben Gründe" die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen und der weiteren Vorschrift „des gleichen Gesetzes" begründen. § 78 S. 2 BVerfGG ist somit nur i n Fällen der Teilnichtigkeit anwendbar. Ist ohnehin das gesamte Gesetz nichtig, so besteht für eine Erstreckung des Entscheidungsgegenstandes kein Raum. „Dieselben Gründe" liegen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts i n dem Fall der Identität des Prüfungsmaßstabes vor. Verstößt die angegriffene Vorschrift gegen eine bestimmte Verfassungsnorm, so können danach auch alle anieren Regelungen des gleichen Gesetzes für nichtig erklärt werden, welche gegen diese Norm verstoßen 21 . Setzt die Nichtigerklärung eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit voraus, so kann dementsprechend das gesamte Gesetz, aus welchem nur eine einzige Vorschrift angegriffen worden ist, auf seine Vereinbarkeit mit den Verfassungsnormen geprüft werden, gegen welche die angegriffene Vorschrift verstößt. Bei weiter Auslegung des § 78 S. 2 BVerfGG be15 Eine analoge Anwendung des § 139 BGB scheidet schon wegen dessen fehlendem Verfassungsrang und den Unterschieden zwischen Gesetz und Vertrag als rechtliche Regelung aus; dagegen Skouris, Teilnichtigkeit, S. 66 ff. m. w. N. 18 Zum folgenden Ipsen, Rechtsfolgen, S. 102 ff. 17 Beispiele: BVerfGE 11, 30 ff. und E 12, 144 ff.; E 19, 101 ff. und E 21, 160 ff. 18 BVerfGE 17, 38, 62. 19 BVerfGE 17, 174 f.; 254 f.; vgl. auch E 19, 206, 225 f. 20 BVerfGE 18, 300; s. dazu Menger, VerwA 1976, 305 ff. 21 BVerfGE 40, 296, 328 f.

I I I . Die Entscheidungsformen i m Normenkontrollverfahren

steht die Gefahr, daß das Gericht Rechtsfragen zur Entscheidung an sich zieht, die unter den Beteiligten oder den i m Normenkontrollverfahren Antragsberechtigten unstrittig sind. Zudem riskiert das Bundesverfassungsgericht, über Sachverhalte zu urteilen, die nicht den i m Verfahren angewandten Erkenntnismöglichkeiten zugänglich waren 2 2 . Eine solche Praxis würde die Grenze des verfassungsgerichtlichen Verfahrens überschreiten. Nur das, was Gegenstand des Verfahrens geworden ist, kann zur Grundlage der Entscheidung gemacht werden 2 3 . Zunächst ist stets die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Norm zu prüfen. Wenn die Gründe für ihre Verfassungswidrigkeit vollständig auch die Verfassungswidrigkeit der weiteren Vorschrift begründen, so kann diese gleichfalls für nichtig erklärt werden. „Gründe" sind dabei der Prüfungsmaßstab und die Deduktion, lediglich der Subsumtionsschluß ist ausgenommen 24 . Die Nichtigkeit der weiteren Norm darf über die Gründe res Ausgangsverfahrens hinaus nurmehr festgestellt, nicht aber mehr begründet werden 2 5 . § 78 S. 2 BVerfGG ist somit eine Ausnahme vom Einzelfallbezug verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Bestimmt regelmäßig der Prüfungsgegenstand die Gründe der Entscheidung, so determinieren hier die Gründe den Gegenstand. Daraus kann kein allgemeiner Rechtsgrundsatz hergeleitet werden; eine Erstreckung des Prüfungsgegenstandes ist nur i m Rahmen und nach Maßgabe des § 78 BVerfGG zulässig. I m Diätenurteil prüfte das Bundesverfassungsgericht eine Fülle von Vorschriften 26 , und zwar nicht nur den angegriffenen § 13 I 4 SaLTG, sondern auch andere Normen, „die mit der angegriffenen Vorschrift i n Zusammenhang stehen und deshalb zu prüfen sind" 2 7 . Dieser Zusammenhang w i r d jedoch i n keiner Hinsicht spezifiziert. Die Gründe entwickeln vielmehr allgemeine Grundsätze des Diätenrechts i n Bund und Ländern, unabhängig von dem entscheidungserheblichen Sachverhalt des Verfassungsbeschwerdeverfahrens 28 . A n diesen ausgreifenden Gründen werden dann die Diätenregelungen des SaLTG geprüft und vielfach für verfassungswidrig befunden. Dabei bleibt jedoch weitgehend außer Betracht, daß die allgemeinen Rechtsausführungen vielfach zur Begründung der Verfassungswidrigkeit des § 13 14 SaLTG nicht unmittelbar erforderlich waren 2 9 . „Dieselben Gründe" können i m Sinne 22 23 24 25 26 27 28 29

Ipsen, Rechtsfolgen, S. 104. Zur Sachverhaltsermittlung s. o. 3. Teil, I I I 2 d). I. E. auch Maunz u. a., BVerfGG § 78 Rn. 25. Zu den Grenzen der Nichtigerklärung Ipsen, Rechtsfolgen, S. 104 ff. BVerfGE 40, 296, 298. Ebd., S. 310. Ebd., S. 311 ff., 315 ff. Dazu Ipsen, Rechtsfolgen, S. 130 f.

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von § 78 S. 2 BVerfGG jedoch nur die Gründe sein, die tatsächlich die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Vorschrift tragen. Andernfalls führt die Erstreckung des Entscheidungsgegenstandes i m Zusammenhang mit weitausgreifenden Begründungen zu einem umfassenden eigenen Zugriffsrecht des Gesetzes. Die Möglichkeiten und Bedingungen seines Verfahrens wären dann jedoch überschätzt. 2. Die Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen

Neben die Nichtigerklärung als Reaktion auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes ist i n der Praxis die Verfassungswidrig erklärung getreten. Sie vermeidet den Ausspruch der Nichtigkeit auch i n solchen Fällen, welche vom Tatbestand des § 78 BVerfGG erfaßt werden. I m positiven Recht lassen sich nur spärliche Hinweise auf die Möglichkeit eines derartigen „kooperativen Verfassungsschutzes" 80 auffinden. Hierzu zählt zunächst die aus der systematischen Stellung des § 78 BVerfGG resultierende Begrenzung seiner Anwendbarkeit. Ausdrücklich ist dieser nur auf die abstrakte Normenkontrolle, die konkrete Normenkontrolle (§ 82 11 BVerfGG) und entsprechend auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren (§ 95 I I I BVerfGG) anwendbar. I n allen übrigen Fällen fehlt eine Bezugnahme auf die Möglichkeit der Nichtigerklärung. So kann Gegenstand eines Organstreites gem. A r t . 93 I Nr. 1 GG die Frage sein, ob der Antragsgegner durch den Erlaß einer Norm Rechte oder Pflichten verletzt habe. Hier stellt das Gericht die Verletzung ggf. fest; eine Nichtigerklärung der Norm ist jedoch nicht ausdrücklich vorgesehen 81 . Als Reaktion auf vereinzelte frühe Entscheidungen, in denen ein Gesetz lediglich für verfassungswidrig erklärt wurde, wurde das Bundesverfassungsgerichtsgesetz an zwei Stellen geändert. § 31 I I 2, 3 BVerfGG setzt voraus, daß ein Gesetz „als mit dem Grundgesetz vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt" wurde. Ebenso regelt § 79 I BVerfGG für Strafurteile die Folgen der Tatsache, daß diese „auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm" beruhen. Die erste Vorschrift regelt die Bindungswirkung der Verfassungswidrigkeitserklärung 8 2 , die zweite einzelne Folgen eines solchen Ausspruchs. Der Gesetzgeber hat damit billigend hingenommen, daß das Gericht i n bestimmten Fällen von der Nichtigerklärung absieht. Seit dieser Zeit ist die Zahl der Verfassungswidrigerklärungen erheblich angestiegen. 30

Pestalozza, Verfassungsprozeß, S. 13 ff. BVerfGE 20, 119, 129; 134, 140; 24, 300, 351 f.; weitere Nachweise bei. Pestalozza, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 521 f. 32 Zu ihrer Anwendbarkeit Hoffmann-Riem, DVB1 1971, 842; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 211. 31

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Gegenwärtig hält sie sich mit der Nichtigerklärung etwa die Waage 33 . Sind einige Folgen der Feststellung der Verfassungswidrigkeit geregelt, so bleibt doch die Zentralfrage unbeantwortet: I n welchen Fällen ist ein derartiger Ausspruch unbeantwortet: I n welchen Fällen ist ein derartiger Ausspruch zulässig? Die Tenorierungsvorschriften des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes enthalten hierzu keine eigene Aussage. a) Die Verfassungswidrigerklärung in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat i n einer Vielzahl von Fällen von der Verfassungswidrigerklärung Gebrauch gemacht. Gegenwärtig läßt sich eine größere Zahl von Fallgruppen ausmachen 34 . Hierzu w i r d zunächst der Fall der fehlenden Verwerfungskompetenz gezählt. Außerdeutsche Normen können vom Gericht nicht für nichtig erklärt werden, dennoch werden sie auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft. Das gilt für Besatzungsrecht 35 und das Europäische Gemeinschaftsrecht 36 . Problematisch ist i n diesen Fällen die Differenzierung zwischen Prüfungs- und Verwerfungskompetenz: Ist die deutsche Gerichtsbarkeit an Besatzungs- und europäisches Recht gebunden, so ist für dessen Prüfung auf seine Verfassungsmäßigkeit kein Raum; sie wäre auch sinnlos 37 . Mangels Rechtsschutzbedürfnisses wären dahingehende Anträge unzulässig 38 . Als weiterer Fall der Verfassungswidrigerklärung gilt das verfassungswidrige Unterlassen des Gesetzgebers. Hier liegt ein legislatives Handeln, das für nichtig erklärt werden könnte, nicht vor; diese Möglichkeit scheidet daher a priori aus 39 . Das kann allerdings nur unter der Voraussetzung gelten, daß der Gesetzgeber überhaupt noch nicht gehandelt hat 4 0 . I n diesen Fällen kann das Gericht die Verfassungswidrig33

Nachweise bei Ipsen, Rechtsfolgen, S. 107 f. Zum folgenden Pestalozza, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 523 ff.; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 39 ff.; Pohle, Die Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen; Sachs, DöV 1982, 23 ff. 35 BVerfGE 15, 337 ff.; 36, 146 ff. 36 BVerfGE 37, 271 ff. 37 Anders Bundesverfassungsgericht ebd.; modifiziert in BVerfGE 52, 187 ff. 38 Um so erstaunlicher ist es, daß bei fehlender Prüfungskompetenz das Gericht einen Verfassungsauftrag an den Gesetzgeber zur Aufhebung des Besatzungsrechts formulierte, s. E 36, 146 ff. War schon die Prüfung unzulässig, so kann das Gericht auf der Grundlage der Verfassung weder eine Nichtigerklärung noch sonstige Rechtsfolgen herbeiführen. 39 Anders Pestalozza, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 526, der die Nichtigerklärung als Anordnung der Rückwirkung später zu erlassender Gesetze deutet. 40 s. etwa BVerfGE 36, 146 ff. 34

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

keit eines Unterlassens feststellen; § 78 BVerfGG ist hier schon seinem Tatbestand nach nicht einschlägig. Anders gestaltet sich der Fall, daß der Gesetzgeber bereits gehandelt hat, dabei die verfassungsrechtlichen Vorgaben jedoch nicht erfüllt hat. I n diesen Fällen kann ein Gesetz für nichtig erklärt werden 4 1 . Davon sieht das Gericht jedoch ab, wenn der Antragsteller durch die Nichtigkeitsfeststellung nicht günstiger gestellt würde, weil das Gesetz auf i h n nicht anwendbar w a r 4 2 . I n diesen Fällen erklärt das Bundesverfassungsgericht das (Teil)Unterlassen eher für verfassungswidrig als das Gesetz für nichtig. Diese Rechtsprechung ist überwiegend auf die Besonderheiten des Verfassungsbeschwerdeverfahrens zugeschnitten. Hier soll der Verfassungsverstoß gegenüber dem Beschwerdeführer „durch das Gesetz" oder „aufgrund eines Gesetzes" festgestellt werden. Gerade diese Konstellation läßt es wenig sinnvoll erscheinen, Gesetze zu überprüfen, von denen der Antragsteller nicht betroffen ist. Insofern ist auch dieser Fall nicht der typische Anwendungsfall des § 78 BVerfGG. Daneben greift das Gericht zur Verfassungswidrigerklärung auch bei „nicht evidenten VerfassungsverstößenNur wenn ein „grober Mangel" i m Gesetzgebungsverfahren vorliege, könne die Nichtigkeit der Norm angenommen werden. Sonstige Fehler führten entweder zur Verfassungsmäßigkeit 43 oder aber zur Verfassungswidrigerklärung 44 . Hier ist die Feststellung der Verfassungswidrigkeit die prozessuale Konsequenz der materiell-rechtlichen Evidenzformel. Daher ist hier eher die Berechtigung der Evidenzgrenze als die Zulässigkeit der Verfassungswidrigerklärung zu untersuchen. Jene stellt das eigentliche Problem dar. Ähnlich der Konstellation verfassungswidrigen Unterlassens ist der „willkürliche Begünstigungsausschluß". Nimmt ein Gesetz die begünstigte Gruppe und beschränkt die Begünstigung auf sie, so liegt für Dritte ein ausdrücklicher oder konkludenter Begünstigungsausschluß vor 4 5 . Verstößt dieser Ausschluß gegen den Gleichheitssatz, so bestehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten, den Verfassungsverstoß zu beseitigen. Entweder w i r d die Begünstigung insgesamt für nichtig erklärt oder aber der Ausschluß durch eine Teilnichtigerklärung kassiert. Die erste Möglichkeit trägt den Bedürfnissen des Antragstellers nicht Rechnung, da er — unabhängig von der Gültigkeit oder Ungültigkeit des Gesetzes — nicht i n den Genuß der Begünstigung kommen kann, sondern lediglich die ohnehin Begünstigten schlechter gestellt werden kön41 42 43 44 45

Etwa BVerfGE 4, 219 ff. Etwa BVerfGE 8, 1 ff.; 13, 248 ff.; 18, 288 ff.; 21, 349 ff. BVerfGE 16, 130 ff.; 32, 145 ff. BVerfGE 34, 9 ff. Etwa BVerfGE 25, 101 ff.; 45, 376 ff.

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nen. Die zweite Alternative der unmittelbaren Anspruchsbegründung durch Gerichtsentscheidung greift wesentlich i n die Haushaltskompetenz des Parlaments ein. Das Bundesverfassungsgericht greift hier ausschließlich i n solchen Fällen zur Nichtigerklärung, i n denen der Gesetzgeber erkennbar eine bestimmte Lösung gewollt hätte 4 6 oder aber die Ungleichbehandlung nur i n einer Weise hätte beseitigen können 4 7 . I m übrigen wurde unter Verweis auf die „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers" von einer Nichtigerklärung abgesehen und die Verfassungswidrigkeit festgestellt. Als letzte Kategorie dieser A r t findet sich diejenige der „bedrohlichen RechtslückeSie entsteht etwa, wenn eine gesetzliche Regelung durch das Grundgesetz geboten ist, diese inhaltlich jedoch verfassungsw i d r i g ist 4 8 . I n einem solchen Fall sei die Unterschreitung des verfassungsrechtlich Gebotenen noch erträglicher als das vollständige Fehlen einer Norm. Das gälte etwa auch dann, wenn inhaltlich verfassungsgemäß Regelungen nicht i n der erforderlichen Gesetzesform ergangen sind, also ein Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes vorliegt 4 9 . Ferner können die Rechtssicherheit 50 und die Notwendigkeit legislativer Entscheidung eine Nichtigerklärung ausschließen 51 . Zu denjenigen Fällen, i n denen entgegen § 78 BVerfGG von einer Nichtigerklärung abgesehen wurde, ohne daß materiellrechtliche Sonderfragen entstehen, zählen nur die beiden letzten Gruppen. I n ihnen lassen sich zwei Begründungen unterscheiden, welche die Verfassungswidrigerklärung legitimieren sollen: Der Hinweis auf die „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers" und die „größere Nähe zum Grundgesetz" der verfassungswidrigen gegenüber einer nicht existierenden Regelung. Die Wirkungen der Verfassungswidrigerklärung unterscheiden sich von denjenigen der Nichtigkeitsfeststellung i n mehrfacher Hinsicht. Während diese eine kassatorische Entscheidung darstellt, hat jene verpflichtenden Charakter. Durch die Nichtigerklärung stellt das Bundesverfassungsgericht den Verstoß gegen das Grundgesetz fest und beseitigt ihn selbst. Die Verfassungswidrigerklärung enthält nur eine solche Feststellung, verpflichtet jedoch den Gesetzgeber zu seiner Beseitigung 5 2 . Parallelen zur Wirkung verwaltungsgerichtlicher Anfechtungsbzw. Verpflichtungsentscheidungen liegen nahe. Offen bleibt dabei, wie 48 47 48 49 50 51 52

BVerfGE 22, 163 ff.; 29, 1 ff.; anders E 28, 324 ff.; 29, 57 ff., 71 ff. BVerfGE 21, 329 ff.; 39, 196 ff. BVerfGE 8, 1 ff., 13, 248 ff.; 18, 288 ff.; 38, 1 ff. BVerfGE 33, 303 ff. BVerfGE 37, 217 ff.; s. auch E 32, 199 ff.; 34, 9 ff. BVerfGE 35, 79 ff. Ipsen, Rechtsfolgen, S. 212 f.

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die Rechtsanwendungsinstanzen bis zum Erlaß eines neuen Gesetzes zu verfahren haben. Für den Zeitpunkt vor der verfassungsgerichtlichen Entscheidung regelt § 79 BVerfGG die Folgen der Nichtigerklärung. I m Falle der Verfassungswidrigerklärung bleiben alle früheren Rechtsakte von der Entscheidung unberührt. Ein Unterschied besteht nur insoweit, als § 79 BVerfGG sich auf bestimmte Hoheitsakte beschränkt und alle anderen Rechtsverhältnisse, Erklärungen und Maßnahmen unerwähnt läßt 5 3 . Nach der Entscheidung stellt sich das Problem der Übergangsregelung. Die Nichtigerklärung hebt das Gesetz selbst auf; an seine Stelle t r i t t ein regelungsloser Zustand oder Altrecht. Bei der Verfassungswidrigerklärung besteht diesbezüglich keine Einigkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat gelegentlich die Fortgeltung solchen Rechts, das i m Tenor als verfassungswidrig bezeichnet wurde, bis zur gesetzlichen Neuregelung angeordnet 54 oder seine Fortgeltung konkludent angenommen 55 . Andererseits erklärt es, daß eine Norm, deren Verfassungswidrigkeit vom Bundesverfassungsgericht festgestellt sei, vom Zeitpunkt der Entscheidung an i n dem sich aus dem Tenor ergebenden Ausmaß nicht mehr angewandt werden dürfe 5 6 . I n anderen Fällen fehlt eine diesbezügliche Aussage 57 . Eine eindeutige Linie ist dabei kaum auszumachen. I n der Lehre sehen diejenigen, welche eine automatische Nichtigkeit verfassungswidrigen Rechts unabhängig von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts annehmen, i n der Verfassungswidrigerklärung die verbindliche Entscheidung über den Verfassungsverstoß. Dadurch verliere das verfassungswidrige Gesetz jede Gültigkeit 5 8 . Diejenigen Autoren, die von der Vernichtbarkeit verfassungswidrigen Rechts ausgehen, sehen zwar die Anwendungssperre des verfassungswidrigen Gesetzes als „Grundsatz" 5 9 , dagegen bleibe jedoch das beanstandete Gesetz bis zum Erlaß neuer Vorschriften i n Kraft, wenn dies aus „verfassungsrechtlichen Gründen" erforderlich sei 60 . Das sei stets der Fall, wenn die Nichtigerklärung zu „rechtsstaatswidrigen Folgen" führe 6 1 , die verfassungswidrige Regelung also näher am Grundgesetz stehe als der rege53

Dazu Maurer, Rechtsfolgen, S. 114 ff.; Böckenförde, Nichtigkeit, S. 91 ff.; beide m. w. N. 54 BVerfGE 33, 303, 305, 346 ff. 55 BVerfGE 40, 296, 329. 58 BVerfGE 37, 217, Ls 3. 57 BVerfGE 35, 29 ff.; die Entscheidung geht wohl von der Fortgeltung des verfassungswidrigen Rechts aus; näher Heußner, NJW 1982, 257 ff. 58 I-psen, Rechtsfolgen, S. 218 m. w. N. 59 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 170 ff. 60 Böckenförde, Nichtigkeit, S. 132 ff.; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 172 ff. 81 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 170 ff.

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lungsleere Raum. Vermittelnde Auffassungen gehen davon aus, daß i n allen oder einzelnen Fällen die Folgen auf die Rechtsanwendungsorgane begrenzt seien; sie seien zur Aussetzung anhängiger Verfahren bis zur Neuregelung verpflichtet 6 2 . b) Zulässigkeit und Grenzen der Verfassungswidrigerklärung Geht das Bundesverfassungsgericht zumeist pragmatisch vor, so ist diese Praxis dogmatisch zu überprüfen und zu fundieren. Dabei stellt sich die Frage, i n welchen Fällen das Gericht zu einer kassatorischen Nichtigerklärung verpflichtet ist und wann es berechtigt und verpflichtet sein kann, eine verpflichtende Verfassungswidrigerklärung zu erlassen. Ein Wahlrecht steht i h m nicht zu 6 3 . A u f der Grundlage der Auffassung, eine Norm sei allein wegen eines Verstoßes gegen das Grundgesetz nichtig, ohne daß es dazu einer eigenen Feststellung durch das Gericht bedürfe, stellt die Normenkontrolle lediglich die verfahrensmäßige Herstellung von Rechtssicherheit für den Nichtigkeitsfall dar. Für diese Ansicht stellt jedes Absehen von der Nichtigerklärung ein — verfassungswidriges — Zurückbleiben hinter dem vom Grundgesetz Gebotenen dar. Anderes als die Nichtigkeit kann und darf das Bundesverfassungsgericht danach nicht feststellen oder anordnen. Das w i r d bestätigt durch §§ 78 S. 1, 82 11 BVerfGG, welche den Nichtigkeitsausspruch als einzig zulässigen Tenor vorsehen. Hingegen ist die Verfassungswidrigerklärung regelmäßig unzulässig 64 . Nach der Ansicht von der Wirksamkeit verfassungswidriger Gesetze kann davon ausgegangen werden, „daß regelmäßig jedes verkündete Gesetz vor der Entscheidung über seine Verfassungsmäßigkeit viele verschiedenartige Wirkungen geäußert hat 6 5 . Gründe hierfür sind die „Vermutung der Verfassungsmäßigkeit" als Ursache der W i r k k r a f t verfassungswidriger Gesetze wie die durch solche Gesetze hervorgerufene „Rechtswirklichkeit". Diese Realität ist durch spätere Normenkontrollentscheidungen nicht mehr rückgängig zu machen. Vielmehr gibt gerade diese Zeitspanne zwischen dem „Inkrafttreten" verfassungswidrigen Rechts und der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung die Probleme der „Geltung" oder Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze auf 6 6 . Sie resultieren aus der noch nicht festgestellten, daher bezweifelbaren und noch nicht unbestrittenen, zumeist auch nicht evidenten Rechtslage. Klärung schafft hier jedoch die Normenkontrollentscheidung des Bundesverfassungs62

Hoffmann-Riem,

DVB1 1971, 842 ff.; Maurer,

FS Weber, S. 366; Skouris,

Teilnichtigkeit, S. 53; s. auch BVerfGE 25, 101, 111 f. 63 Maunz u. a., BVerfGG, § 78 Rn. 12. 64 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 211 ff. 65 Böckenförde, Nichtigkeit, 111; zum folgenden ebd., S. 111 ff. ββ s. auch Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 122 ff. 1 Gusy

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gerichts. M i t ihrem Ausspruch ist kein Vertrauen auf verfassungswidriges Recht mehr möglich. Damit fallen jedoch jene Erwägungen für die Gültigkeit grundgesetzwidriger Normen fort; ihre über den Entscheidungszeitpunkt hinausreichende Gültigkeit läßt sich mit derartigen Erwägungen nicht legitimieren. Daher erscheint auch nach dieser Ansicht die Nichtigkeit solcher Vorschriften pro futuro als einzig zulässige Konsequenz gerichtlicher Normenkontrolle, sofern sich nicht aus dem Grundgesetz ausdrücklich das Gegenteil herleiten läßt. Hier stellt sich die Notwendigkeit einer Übergangsregelung als Kernproblem der Nichtigkeit 6 7 . Ist durch die Nichtigerklärung das verfassungswidrige Gesetz aufgehoben, so entsteht wegen der Schwerfälligkeit des legislativen Verfahrens die Möglichkeit eines länger andauernden regelungslosen Zustandes. Schwierigkeiten könnten dabei durch die fehlende Regelung der Folgeprobleme entstehen; Regelungsdefizite oder gar ein „Chaos" seien zu befürchten. Immerhin bestand schon die Möglichkeit, daß die Nichtigerklärung eines Steuergesetzes die Staatsfinanzen ruinieren könnte 6 8 . Der Grundsatz des „fiat justitia, pereat mundus" sei allerdings kein Anliegen des Grundgesetzes. Vielmehr entständen dadurch neue Verfassungsverstöße, etwa die Funktionslosstellung verfassungsrechtlicher Institutionen, eine Gefährdung der Rechtssicherheit und eine mögliche Intensivierung schon bestehender Verfassungsverstöße sowie ein Eingriff i n die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers 69. Die Aufrechterhaltung verfassungswidriger Gesetze bis zur legislativen Neuregelung ist danach nicht nur praktisch notwendig, sondern auch verfassungsrechtlich geboten: Sie ist „näher am Grundgesetz" 70. M i t dieser aus dem Bereich der auswärtigen Beziehungen stammenden Formel w i r d an die Übergangsrechtsprechung der 50er Jahre angeknüpft. Damals wurden Verträge und Gesetze, welche die Wirklichkeit an die Verfassung heranführten, als „näher am Grundgesetz" vorübergehend hinzunehmen und somit verfassungsgemäß bezeichnet. Die Übertragbarkeit dieser Formel auf die Rechtsfolgen von Normenkontrollentscheidungen i n der Gegenwart ist jedoch besonders zu begründen. Enthält das Grundgesetz selbst inhaltliche Anforderungen an Gesetze, so kann es die Geltung ausschließlich solcher Normen voraussetzen, welcher ihrerseits verfassungsgemäß sind. Eine auch für die Legislative verbindliche Verfassung setzt niemals ein Gesetz schlechthin, sondern nur ein verfassungsmäßiges Gesetz voraus 7 1 . An67

Böckenförde, Nichtigkeit, S. 123 ff.; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S.6130 ff. 8 BVerfGE 21, 12 ff. 69 Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 163 ff. 70 Ebenso Maunz u. a., BVerfGG, § 78 Rn. 12. 71 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 216; s. auch BVerfGE 48, 127 ff.; Lerche, DöV 1971, 721.

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dernfalls blieben gerade besonders schwerwiegende Verstöße gegen das Grundgesetz folgenlos, während weniger gravierende Rechtswidrigkeiten zur Nichtigkeit des Gesetzes führten. Je ferner eine verfassungswidrige Norm dem Grundgesetz steht, desto vitaler wäre danach das Interesse der Verfassung an ihrer Aufrechterhaltung. Diese Vorstellung steht der Verfassungsbindung der Legislative m i t der eigens geschaffenen Möglichkeit gerichtlicher Normenkontrolle diametral entgegen. Fordert so das Grundgesetz nicht den Bestand irgendwelcher, sondern verfassungsgemäßer Gesetze, so kann es auch die Fortgeltung verfassungswidrigen Rechts nicht begründen. Vielmehr ist die Nichtigkeit die adäquate und vom Grundgesetz geforderte Reaktion auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes. Angesichts der geringen Unterschiede zwischen den Rechtsfolgen von Nichtigkeits- und Verfassungswidrigkeitsfeststellung entstehen auch dadurch kaum Sonderprobleme 7 2 . Unabhängig vom theoretischen Ausgangspunkt ist somit die Nichtigerklärung der vom Grundgesetz und vom Bundesverfassungsgerichtsgesetz gebotene Entscheidungstenor; für eine Verfassungswidrigerklärung bleibt daneben prinzipiell kein Raum. Die Grenzen der Nichtigerklärung ergeben sich jedoch aus den Grenzen der Feststellung der Verfassungswidrigkeit. Nur was verfassungswidrig ist, kann auch für nichtig erklärt werden. Probleme bereiten dabei insbesondere Verstöße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz 73 . Dieser setzt unterschiedliche rechtliche Regelungen einzelner Fälle i n Relation zu den ihnen zugrundeliegenden Sachverhalten voraus. Dabei ist unerheblich, wie der Sachverhalt als einzelner geregelt ist; entscheidend ist vielmehr, ob mehrere geregelte Sachverhalte „gleich" oder „ungleich" behandelt werden müssen. Verfassungswidrig ist somit weder die eine noch die andere Regelung, sondern nur die Relation zwischen ihnen. I m Fall der gleichheitswidrigen Begünstigung ist sowohl die Begünstigung als auch die Nichtbegünstigung „als solche" verfassungsgemäß, nicht jedoch der Ausschluß gerade des betroffenen Personenkreises. I m Falle dieser „relativen Verfassungswidrigkeit" oder „verfassungswidrigen Normrelation" 74 greift die Nichtigerklärung entweder daneben, oder sie schießt über den eigentlichen Verfassungsverstoß hinaus. Der Grund dafür liegt darin, daß hier die für die Tenorierung nach § 78 BVerfGG unabdingbare Voraussetzung, nämlich eine isolierbare verfassungswidrige Norm, nicht vorliegt. Eine Korrektur 72 Ebenso Ipsen, Rechtsfolgen, S. 217 ff.; Maurer, FS Weber, S. 364 ff.; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 51 ff.; ähnlich Pieroth, VerwA 1977, 236, 238 f.; je m. w. N. 78 Zinn folgenden Maurer, FS Weber, S. 354 f. 74 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 213.

1*

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kann so nur durch den Gesetzgeber erfolgen, der sich für die Alternative einer Ausdehnung der Begünstigung oder diejenige der Ausdehnung des Ausschlusses unter Orientierung am allgemeinen Gleichheitssatz entscheiden muß. Ob die eine oder andere Alternative zu wählen ist, w i r d vom Grundgesetz nicht determiniert. Für eine Entscheidung fehlen dem Bundesverfassungsgericht insoweit die rechtlichen Grundlagen, so daß der Verfassungsverstoß nur vom Gesetzgeber selbst beseitigt werden kann 7 5 . Liegen hier die notwendigen Voraussetzungen der Nichtigerklärung nicht vor, so kann das Bundesverfassungsgericht sie auch nicht durchführen. Vielmehr muß i n diesem Fall die verpflichtende Verfassungswidrigerklärung an die Stelle der kassatorischen Nichtigerklärung treten. Eine Nichtigerklärung hat somit stets zu erfolgen, wenn eine verfassungswidrige Norm isolierbar ist. Hingegen erfolgt eine Verfassungswidrigerklärung, wenn diese Voraussetzung nicht vorliegt. Ist somit i n Einzelfällen die Verfassungswidrigerklärung zulässig, so stellt sich die weitere Frage, welche Vorschriften i m Einzelfall für verfassungswidrig erklärt werden dürfen. Die Kategorien, welche für die Nichtigerklärung aufgestellt wurden, passen hier nicht: Teil- oder Gesamtverfassungswidrigerklärung bzw. Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes als gesetzgebungstechnische Einheit sind wenig sinnvoll, da solche Differenzierungen auf die kassatorische Wirkung der Nichtigkeit abstellen. Ist der Gesetzgeber nach einer Feststellung der Verfassungswidrigkeit ohnehin gehalten, neue Regelungen zu erlassen, so kann er auf die gesamte Materie zugreifen und ist dabei nicht an den Umfang der Verfassungswidrigerklärung gebunden. Da zugleich dem Tenor keine kassatorische Wirkung zukommen soll, kann sein Umfang nur geringe unmittelbare Rechtswirkungen begründen. Grundsätzlich darf das Bundesverfassungsgericht lediglich die angegriffenen Vorschriften überprüfen und ggf. ihre Verfassungswidrigkeit feststellen. Dies entspricht der Antragsbindung des Verfahrens. Eine Überschreitung dieser Grenzen ist nur zulässig, wenn es gesetzlich ausdrücklich vorgesehen ist. Für die Verfassungswidrigerklärung findet sich eine solche Regelung nicht, da sie ohnehin i m geltenden Recht kaum geregelt worden ist. Eine Analogie zu § 78 S. 2 BVerfGG ist i n diesem Zusammenhang allerdings möglich und zulässig 76 . Dessen Anwendung ist an dieselben Voraussetzungen und Grenzen gebunden wie für den Fall der Nichtigerklärung 7 7 . 75

78 77

Hoffmann-Riem,

DVB1 1971, 842.

So auch BVerfGE 40, 296, 329. s. o. 1.

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c) Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts zum Erlaß von Übergangsregelungen? Diese Begrenzung der Anwendbarkeit der Verfassungswidrigerklärung und die Limitierung ihrer Rechtsfolgen stellt die Problematik der interimistischen Rechtslage erneut. Die Rigidität der negativen Gestaltungswirkung kassatorischer Nichtigerklärungen t r i f f t auf eine Realität, in welcher kein Stillstand eintritt, sondern wandelbare Prozesse vielfach ordnender Regelungen bedürfen. W i r d diese praktische Notwendigkeit nicht befriedigt, so besteht die Gefahr, daß das Bundesverfassungsgericht in zunehmendem Maße die Nichtigerklärung zugunsten von Evidenz- und Vorhersehbarkeitsformeln vermeidet 7 8 . Die Auffassung, das Bundesverfassungsgericht sei für den Erlaß von Übergangsregelungen zuständig, w i r d partiell auf § 32 BVerfGG gestützt 7 9 . Danach ist die einstweilige Anordnung auch bei oder nach Erlaß der Entscheidung möglich, um die Folgen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für das gesamte Staatsleben zu mildern. Die einstweilige Anordnung kann danach auch über die Hauptsacheentscheidung hinaus wirken. Inhaltlich kann sie entweder die Fortgeltung der für nichtig erklärten Norm bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber festlegen oder aber für diesen Zeitraum andere, verfassungskonforme Regelungen treffen. Der Wortlaut des § 32 BVerfGG schließt diese Möglichkeit nicht ausdrücklich aus 80 . Hingegen stehen Sinn und Zweck der einstweiligen Anordnung einer solchen Praxis entgegen. Sie besteht für den Fall, daß die Hauptsacheentscheidung wegen der langen Dauer des Erkenntnis- und Entscheidungsverfahrens auf sich warten läßt und auch nicht vorweggenommen werden darf, i n der Zwischenzeit jedoch irreparable Nachteile oder vollendete Tatsachen eintreten können. Dabei w i r d das i n der Entscheidung eines solchen Gerichts sonst bestehende Verhältnis von kognitiven und dezisionistischen Elementen i n sein Gegenteil verkehrt 8 1 . Unabdingbare Voraussetzung für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist deren Dringlichkeit. Diese liegt nicht vor, wenn das Gericht die Hauptsache so rechtzeitig zu entscheiden vermag, daß durch die Entscheidung voraussehbaren schwerwiegenden Gefahren vorgebeugt werden kann 8 2 . Die einstweilige A n 78 Zum folgenden Bachof, FS Juristische Fakultät Tübingen, S. 18 ff.; s. auch Pestalozza, AöR 1971, 39 ff. 79

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Maunz u. a., BVerfGG, § 78 Rn. 39; Klein, JZ 1966, 463.

Er erhält als einzige Schranke die Befristung auf drei Monate nach § 32 V 1 BVerfGG, wobei die Anordnung wiederholt werden kann (§ 32 V 2 BVerfGG); zur Frage der Zulässigkeit mehrfacher Wiederholung s. die Nachweise bei Ipsen, Rechtsfolgen, S. 225. 81 Erichsen, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 171. 82 BVerfGE 7, 367, 371; 12, 36, 40; 35, 193, 201 f.; Erichsen, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 189.

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Ordnung ist demnach nur zur Sicherung der Hauptsacheentscheidung zulässig. Sie ist unzulässig, wenn i n der Hauptsache entschieden werden kann. Dementsprechend darf sie nicht über die Hauptsacheentscheidung hinauswirken und erst recht nicht mit oder nach i h r ergehen 83 . § 32 BVerfGG bietet somit keine Möglichkeit für den Erlaß von Übergangsregelungen über die Hauptsacheentscheidung hinaus. Die Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts hat sich auch stets an diesen Grundsätzen orientiert. Sie kennt allerdings andere Übergangsregelungen durch einstweilige Anordnung, nämlich solche während des Hauptsacheverfahrens 84. Das Recht zur Aussetzung des Vollzuges eines Gesetzes w i r d vom Bundesverfassungsgericht häufig beansprucht 85 . Diese einstweilige Entscheidung bindet nicht nur die unmittelbaren Verfahrensbeteiligten, sondern gem. § 311 BVerfGG auch alle dort genannten Adressaten 86 . Erscheint eine Anordnung „zum gemeinen Wohl dringend geboten", weil schwere Nachteile oder Gewalt drohen, so kann sich die Bindungswirkung nicht auf die Beteiligten beschränken, während die übrigen Staatsorgane die einstweilige Verfügung nicht zur Kenntnis zu nehmen brauchen. Gerade Normenkontrollverfahren zeichnen sich dadurch aus, daß ihnen zumeist kein Rechtsverhältnis zwischen den unmittelbar Verfahrensbeteiligten zugrunde liegt; die Wirkungen der angegriffenen Norm treffen fast niemals ausschließlich den Antragsteller. Maßnahmen zur Sicherung des gemeinen Wohls gegenüber verfassungswidrigen Gesetzen müssen demnach auch für diejenigen gelten, welche aufgrund der angegriffenen Vorschriften dieses Wohl gefährden können. Das sind weniger die Verfahrensbeteiligten als die i n § 311 BVerfGG genannten Adressaten 87 . Die einstweilige Anordnung, „ein Gesetz trete einstweilen nicht i n K r a f t " , ist ihrer Wirkung nach hiermit identisch. Ein solches Anwendungsverbot ist während des Hauptsacheverfahrens zulässig. Anders als die Anwendungsverbote begründen Gebote für Behörden und Gerichte die Pflicht, Normen anzuwenden, welche als Altrecht bereits außer Kraft getreten sind oder aber vom Bundesverfassungsgericht erst inhaltlich formuliert worden sind. Rechtsgrund der Geltung solcher Vorschriften ist somit nicht eine Entscheidung der Legislative, 83

Geiger,

BVerfGG, § 32 A n m . 12; Leibholz / Rupprecht,

§ 32 A n m . 5;

Ipsen, Rechtsfolgen, S. 226 m. w. N. 84 BVerfGE 37, 324 f.; 46, 337 f. 85 Seit BVerfGE 1, 1 f.; s. auch E 43, 47, 51 f. 86 Gegen dessen Anwendbarkeit im einstweiligen Verfahren Geiger, § 32 A n m . 7; Lechner, § 32 A n m . 5.

87 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 229. Das Bundesverfassungsgericht hat jene als „Sachverhaltsbeteiligte" zumeist ohnehin in das Verfahren einbezogen; s. BVerfGE 8, 42, 46; 122, 130; 12, 36, 45; dazu Maunz u. a., BVerfGG, § 32 Rn. 56.

I I I . Die Entscheidungsformen i m Normenkontrollverfahren

199

sondern eine Anordnung des Gerichts. Dieser k o m m t so gesetzesvertretener Charakter zu. Damit gerät sie jedoch i n Kollision m i t den v o m Grundgesetz vorgesehenen Gesetzesvorbehalten. Sie sind wegen der besonderen Eigenschaften des legislativen Verfahrens u n d ihrer dadurch vermittelten demokratischen Legitimation angeordnet 8 8 . Diese Eigenschaften kommen den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht zu. I h r gesetzesvertretener Charakter k a n n sich daher lediglich aus § 31 I I BVerfGG ergeben, nach welchem bestimmte Entscheidungen des Gerichts „Gesetzeskraft" haben. „Gesetzeskraft" bedeutet jedoch nicht „Gesetzeseigenschaft" 89 . Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bleibt richterliches U r t e i l u n d w i r d auch durch § 31 I I BVerfGG nicht zum Gesetz. Vielmehr begründet die „Gesetzesk r a f t " der Entscheidung lediglich ihre Eigenschaft als actus contrarius zu dem Gesetz, das i n i h r f ü r nichtig erklärt worden ist. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts können daher den Gesetzesvorbehalt des Grundgesetzes grundsätzlich nicht genügen. Das gilt erst recht i n solchen Fällen, die nicht i n § 31 I I BVerfGG erwähnt worden sind. Die Aufzählung der Verfahrensarten, i n welchen der „Entscheidung" Gesetzeskraft zukommt, ist abschließend 90 ; allen übrigen Entscheidungen kommt keine derartige W i r k u n g zu. Hierzu zählen etwa die Entscheidungen i m Verfahren der einstweiligen Anordnungen. Sie vermögen daher ein Bundesgesetz nicht zu ersetzen. Die dargestellten positiven Gebote i n solchen Anordnungen verstießen daher gegen das Grundgesetz w i e gegen § 31 BVerfGG. § 32 BVerfGG ist somit zum Erlaß von Übergangsregelungen keine geeignete Rechtsgrundlage. M i t oder nach der Hauptsacheentscheidung dürfen keine einstweiligen Anordnungen mehr ergehen oder wirken. Während des Verfahrens darf das Bundesverfassungsgericht zwar für potentiell verfassungswidriges Recht ein Anwendungsverbot aussprechen, das sich an alle Adressaten nach § 311 BVerfGG richtet. Entstehende Regelungslücken dürfen jedoch nicht unter Verstoß gegen den Gesetzesvorbehalt durch das Gericht einstweilig geschlossen werden. Statt dessen w i r d als Rechtsgrundlage für Übergangsrecht gelegentlich die Vollstreckungsnorm des § 35 BVerfGG als Ermächtigung herangezogen 91 . Solche Vollstreckungshandlungen können über den Entscheidungszeitpunkt der Hauptsache hinauswirken. Regelmäßig werden durch sie einstweilige Anordnungen nach einer Hauptsacheentscheidung aufrechterhalten oder deren Folgen geregelt. So w u r d e eine gesetzliche 88

BVerfGE 40, 237, 249; s. dazu o. 3. Teil I I I . Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 33; Lange, JuS 1978, 6; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 242. 89

90

91

Leibholz / Rupprecht

t

§ 31 Rn. 2.

BVerfGE 1, 14, 65; 39, 1, 2; 48, 127, 185; Maunz u. a., BVerfGG, § 78 Rn. 39.

200

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

Fristbestimmung, die durch eine einstweilige Anordnung außer Vollzug gesetzt war, unter Berufung auf § 35 BVerfGG verlängert 9 2 . Ferner wurden für nichtig erklärte Regelungen durch die Anordnung der Fortgeltung von Altrecht oder eigene, vom Gericht geschaffene Übergangsregelungen ersetzt 98 . Grundsätzlich stellt sich hier das allgemeine Problem der Vollstreckbarkeit von Normenkontrollentscheidungen 94. Solche Entscheidungen regeln ihre Rechtsfolgen weitgehend selbst; sie gestalten die Rechtslage unmittelbar. Die ihnen zuerkannte Gesetzeskraft und die Bindung aller Staatsorgane an sie (§ 31 BVerfGG) lassen die Möglichkeit einer Vollstreckung als praktisch entbehrlich und rechtlich ausgeschlossen erscheinen 95 . Das gilt auch dann, wenn eine für nichtig erklärte Rechtsnorm von einer illoyalen Behörde trotzdem vollzogen oder eine aufgehobene Gerichtsentscheidung noch vollstreckt w i r d 9 6 . Hiergegen ist nach den allgemeinen Gesetzen der Rechtsweg oder die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zulässig. Diese eröffnet allerdings ein eigenes Verfahren und keine „Vollstreckung" der Normenkontrollentscheidung. Das gilt analog, wenn der Gesetzgeber eine mit der aufgehobenen Vorschrift inhaltsgleiche Regelung erlassen sollte. Hier entscheidet nicht das Bundesverfassungsgericht von Amts wegen, sondern die jeweils zuständige Instanz auf Antrag. Eine Vollstreckung von Normenkontrollentscheidungen ist daher grundsätzlich nicht möglich und nicht zulässig 97 . Gegen eine derart an Wortlaut und systematischen Erwägungen orientierte Auslegung sind allerdings Einwände erhoben worden 9 8 . Grundlage dafür ist der Vollstreckungsbegriff des Bundesverfassungsgerichts. Vollstreckung ist danach der „Inbegriff aller Maßnahmen, die erforderlich sind, u m solche Tatsachen zu schaffen, wie sie zur V e r w i r k lichung des vom Bundesverfassungsgericht gefundenen Rechts erforderlich sind" 9 9 . Sinnvoll und richtig sei danach eine Auslegung, welche § 35 BVerfGG als Ermächtigung versteht, den i n einer Entscheidung aufgedeckten verfassungswidrigen Zustand auf die schnellstmögliche und umfassendste Weise i n einen verfassungsmäßigen zu überführen. Die Verfassung könne die Fülle der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts nicht gewollt haben, ohne i h m die Möglichkeit zu geben, 92 93 94 95 98

97

BVerfGE 1, 14, 65. BVerfGE 39, 1, 2; 48, 127, 184. Dazu Herzog, DSt 1965, 37 ff.; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 232 ff. Maunz u. a., BVerfGG, § 35 Rn. 16. Herzog, DSt 1965, 39.

So auch Böckenförde, Nichtigkeit, S. 132 f. H. Klein, Bundesverfassungsgericht und Staatsraison, S. 35 f. ?9 PVerfGE 6, 300, 304, 98

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seiner damit begründeten Verantwortung zu genügen. So enthalte die Vollstreckungskompetenz die Befugnis, die Bindungswirkung des § 31 BVerfGG zu suspendieren u n d „gewisse Modifikationen des gerichtlichen Erkenntnisses" vorzunehmen. § 35 BVerfGG würde so zu einer „Generalermächtigung" des Bundesverfassungsgerichts für den Erlaß von Übergangsregelungen 1 0 0 . Diese Auslegung ist erkennbar an „Grenzsituationen" orientiert, i n denen die ratio status gegen die ratio legis gesichert werden muß. Dem Gericht w i r d so das Recht zugestanden, einerseits durch seine Entscheidungen den Staat an den Rand seiner Existenz zu treiben, u m i h n andererseits über die Vollstreckungsregelungen aus der bedrohlichen Situation zu befreien. Sie übersieht, daß jede verfassungsgerichtliche Entscheidung als politische folgenbewußt u n d folgenbestimmt i s t 1 0 1 . Die Entscheidungslage i n solchen Grenzsituationen läßt sich nicht verallgemeinern und n u r sehr bedingt auf Normallagen übertragen. So waren es denn auch keine Grenzsituationen staatlicher Existenz, i n denen das Gericht eigene Übergangsregelungen erließ. Sicherlich begründet die Regidität der Nichtigerklärung bisweilen praktische Schwierigkeiten, welche jedoch i m Normalfall nicht zu v ö l l i g unerträglichen Situationen führen 1 0 2 . Das gilt u m so mehr, w e n n eine verfassungsgerichtliche V o l l streckungsmaßnahme ihrerseits gegen das Grundgesetz verstoßen würde. E i n solcher Fall liegt etwa vor, wenn das Gericht Anordnungen t r i f f t , die ihrerseits ausschließlich durch den Gesetzgeber getroffen werden dürfen. K o m m t der Normenkontrollentscheidung gem. A r t . 31 I I BVerfGG Gesetzeskraft zu, so fehlt diese den Vollstreckungsmaßnahmen ebenso wie den einstweiligen Anordnungen. Ist Gesetzeskraft zudem keine Gesetzeseigenschaft, so kann das Bundesverfassungsgericht n u r solche Vollstreckungsmaßnahmen erlassen, die nicht „wesentlich" sind und daher keinem Gesetzesvorbehalt unterliegen 1 0 3 . Dagegen wurde i m Abtreibungsurteil durch einen Vollstreckungsausspruch als Übergangsregelung eine Strafnorm erlassen, die nach A r t . 103 I I GG ausschließlich v o m Gesetzgeber hätte getroffen werden dürfen 1 0 4 . Ebenso hätte das Übergangsrecht i n der Kriegsdienstverweigerungsentscheidung von der Legislative erlassen werden müssen, die zur Re100

Ipsen, Rechtsfolgen, S. 238. s.o. 2. Teil, I U I ; grundlegend Schuppert, Kontrolle, S. 115 ff.; Rupp v. Brünneck, FS G. Müller, S. 365 m. w. N. 102 Die weitreichende Vollstreckungskompetenz mag auf Fälle eines bevorstehenden „Chaos" beschränkt bleiben, s. Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 130 ff.; in der täglichen Praxis verfassungsgerichtlicher Normenkontrolle hat sie keinen Platz; so Ipsen, Rechtsfolgen, S. 240 f.; zum folgenden ebd., S. 241 ff. 103 Dazu nur Kisker, NJW 1977, 1313 ff. 104 s. BVerfGE 39, 1, 2. 101

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gelung des Anerkennungsverfahrens gem. A r t . 4 I I I 2 GG ausschließlich berechtigt w a r 1 0 5 . Demokratische Legitimation ist verfahrensmäßig nur vom Parlament herzustellen 1 0 6 und vom Bundesverfassungsgericht nicht vertretbar, da das Grundgesetz regelmäßig keine derart spezifischen Anforderungen an die jeweiligen Vorschriften stellt, daß i h m selbst durch Interpretation das Ubergangsrecht zu entnehmen wäre. Ist somit bereits fraglich, ob verfassungsgerichtliche Vollstreckungsmaßnahmen tatsächlich „näher am Grundgesetz" stehen, so wurden sie zudem regelmäßig nicht durch eine Grenzsituation staatlicher Existenz legitimiert. Auch stellen die Übergangsregelungen keine Vollstrekkungsmaßnahmen der Normenkontrollentscheidung dar. Der Erlaß von Ubergangsrecht durch das Bundesverfassungsgericht nach einer Nichtigerklärung ist durch § 35 BVerfGG grundsätzlich nicht legitimiert. Das Gericht ist zur Schaffung derartiger Normen grundsätzlich nicht befugt. d) Die Kompetenzverteilung für den Erlaß von Übergangsregelungen Ist das Bundesverfassungsgericht somit zum eigenständigen Erlaß von Übergangsregelungen nach einer Nichtigerklärung nicht befugt, so kommt dieses Recht den übrigen Staatsorganen i m Rahmen ihrer allgemeinen Zuständigkeiten zu. Das Bedürfnis nach Übergangsrecht w i r d zunächst dadurch begrenzt, daß das Bundesverfassungsgericht seinen Entscheidungstenor entsprechend den Grundsätzen des Prozeßrechts beschränkt. So war etwa i n der Strafgefangenenentscheidung 107 nicht das gesamte Strafvollzugsrecht, sondern lediglich die Regelung der Postüberwachung gegenüber Strafgefangenen Streitgegenstand. Nur über ihre Verfassungsmäßigkeit brauchte daher i m Tenor befunden zu werden. Schon diese Begrenzung auf den Gegenstand des jeweiligen Verfahrens kann dazu führen, durch den Nichtigkeitsausspruch keine schwerwiegenden Krisen des Staates zu begründen. Bei dem Erlaß von Übergangsvorschriften stößt die Legislative wegen der Schwerfälligkeit ihres Verfahrens auf praktische Schwierigkeiten, da Übergangsrecht besonders eilbedürftig ist. Ist ein Gesetz nicht für nichtig, sondern für verfassungswidrig erklärt worden, so t r i f f t den Gesetzgeber die Pflicht zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes. Diese Pflicht bezieht sich auch auf die Regelung der i n der Vergangenheit liegenden Sachverhalte, da andernfalls die verfassungs105 BVerfGE 48, 127, 184. 106 s. o. 3. Teil, I I 2. io? BVerfGE 33, 1 ff.

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widrige Rechtslage über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinaus fortdauern würde. Vom Zeitpunkt der Verfassungswidrigerklärung an besteht kein schutzwürdiges Vertrauen auf die Fortgeltung des verfassungswidrigen Rechts. Das Bundesverfassungsgericht geht dabei partiell von einer grundrechtlichen Verpflichtung zur rückwirkenden Rechtsänderung bis h i n zum Zeitpunkt des Eingriffs der Verfassungswidrigkeit aus 1 0 8 . Dies kann aus Gründen des Vertrauensschutzes allerdings nur für begünstigende, keinesfalls hingegen für belastende Maßnahmen gelten. Bis zum Erlaß verfassungsgemäßer Normen haben Exekutive und Rechtsprechung i n diesem Fall die Pflicht, anhängige Verfahren auszusetzen 109 . Möglich ist die Aussetzung allerdings nur bei aufschiebbaren, also nachholbaren Maßnahmen. Handlungen, die an Termine gebunden sind und daher nicht nachgeholt werden können — etwa die Mineralölbevorratung —, bleiben damit von einer praktischen Durchführung während dieses Zeitraumes ausgeschlossen. Von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bis zum Zeitpunkt der gesetzlichen Neuregelung dürfen die für verfassungswidrig erklärten Vorschriften nicht vollzogen, vollstreckt oder sonst ausgeführt werden. Insofern bewirkt die Verfassungswidrigerklärung einen „Rechtsstillstand" 110 . Demgegenüber entsteht i n Fällen der Nichtigerklärung ein regelungsloser Zustand, sofern kein Altrecht fortgilt. Dieser ist als solcher nicht verfassungswidrig, der Gesetzgeber ist daher rechtlich nicht zu seiner Beseitigung verpflichtet. Sofern Übergangsregelungen politisch geboten oder opertun sind, können verschiedene Staatsorgane handeln. Der Gesetzgeber kann selbst eine Neuregelung der Materie mit rückwirkender Kraft erlassen. Dazu ist er allerdings lediglich nach Maßgabe des aus dem Vertrauensschutzgebot hergeleiteten Rückwirkungsverbotes berechtigt 1 1 1 . So w i r d der ungeregelte Zustand rückwirkend beseitigt. Als Sofortreaktion kann der Gesetzgeber daneben bestehende Exekutivnormen, etwa Rechtsverordnungen oder Verwaltungsvorschriften, vorübergehend oder auf Dauer i n Gesetzesform beschließen. Eine solche Reaktionsmöglichkeit kommt insbesondere i n Betracht, wenn das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen den Gesetzesvorbehalt rügt. Voraussetzung dafür ist, daß die Exekutivnormen den inhaltlichen A n forderungen des Grundgesetzes an Gesetze genügen. I n einem solchen Fall kann die Regelungslücke vergleichsweise zügig geschlossen werden.

los BVerfGE 37, 217, 263 f.; 48, 327, 340 f. 109 Hoffmann-Riem, DVB1 1971, 845 ff.; ähnlich Maurer, FS Weber, S. 366 f. 110 111

Schmidt-Bleibtreu, B B 1970, 1172. Dazu die Nachweise bei Leibholz / Rinck,

DVB1 1973, 675 ff.

A r t . 20 Rn. 41 ff.;

Grabitz,

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

Die Exekutive kann bei dem Erlaß von Übergangsrecht nur i m Rahmen ihrer allgemeinen Kompetenzen handeln; sie darf also auch nicht vorübergehend Materien regeln, welche dem Gesetzesvorbehalt unterfallen. I n einzelnen Verwaltungsverfahren, die nach der Nichtigerklärung anhängig werden, ist fortgeltendes Altrecht anzuwenden. Ist solches nicht vorhanden und daher ein regelungsloser Zustand eingetreten, so fehlt den Behörden eine gesetzliche Grundlage für ihr Handeln. Das ist unproblematisch, soweit eine Maßnahme keiner gesetzlichen Grundlage bedarf. I n diesem Fall kann die Exekutive aus eigenem Recht entscheiden. Anders ist es hingegen, wenn für eine Maßnahme eine gesetzliche Grundlage zwingend erforderlich ist, insbesondere bei Eingriffen i n Freiheitsrechte. Hier ist grundsätzlich davon auszugehen, daß der Eingriff bis zum Erlaß einer neuen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage nicht ergehen darf 1 1 2 . Für Gerichte stellt sich die Problematik in ähnlicher Weise. Hier kann — sofern die Regelungslücke nicht durch Richterrecht zu beheben ist 1 1 3 — i m Extremfall allerdings die Aussetzung von Verfahren bis zur gesetzlichen Neuregelung für die Übergangszeit ausreichen. Diese Kompetenz findet ihre Grenze allerdings i n den Besonderheiten grundgesetzlicher Regelungsvorbehalte. So darf eine Strafe gem. Art. 103 I I GG nur aufgrund eines vor der Tat erlassenen für den Begehungszeitpunkt gültigen Gesetzes ausgesprochen werden. Insgesamt ist somit die Verfassungswidrigerklärung nur zulässig, sofern eine isolierbare verfassungswidrige Norm nicht besteht. Ihrer W i r kung nach unterscheidet sie sich nicht wesentlich von der Nichtigerklärung, insbesondere gilt das verfassungswidrige Recht nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht fort. Zur Regelung des Übergangsrechts ist nicht das Gericht befugt; vielmehr sind hierzu Gesetzgeber, Exekutive und Rechtsprechung i m Rahmen ihrer allgemeinen Zuständigkeiten berechtigt.

112 Anderes kann ausschließlich in dem Fall gelten, daß dadurch die elementare Funktionsfähigkeit des Staates oder verfassungsrechtlich zwingend vorgesehenen Einrichtung in ihren Grundlagen beeinträchtigt würde. Ist in diesem Fall mit einer rückwirkenden Regelung zu rechnen, so kann die Behörde ausnahmweise für eine Übergangszeit selbst die erforderlichen Maßnahmen vornehmen; zur Übergangsfrist ansatzweise BVerfGE 33, 1, 12 f. Das kann jedoch nur in dem Maße gelten, welches zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit zwingend geboten ist, soweit eine gesetzliche Regelung der Materie in absehbarer Zukunft zu erwarten ist. Die Exekutive darf hier nicht das Gesetz vorwegnehmen, sondern nur Übergangsmaßnahmen ergreifen, die bis zum Zeitpunkt des Gesetzeserlasses zu befristen sind. Von dieser Notkompetenz kann jedoch nur in extremsten Fällen und für kurze Zeit Gebrauch gemacht werden. 113 Dazu Ipsen, Rechtsfolgen, S. 311 ff.

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3. Appelle an den Gesetzgeber

Ebenso wie die Verfassungswidrigerklärung ist der Appell an den Gesetzgeber als möglicher Entscheidungstenor i m Bundesverfassungsgerichtsgesetz nicht geregelt. A u f seine Zulässigkeit finden sich keinerlei positiv-rechtliche Hinweise. Eine solche Entscheidung setzt i m Gegensatz zur Feststellung der Nichtigkeit oder Verfassungswidrigkeit einen Zustand voraus, der verfassungsgemäß ist, aber verfassungswidrig zu werden droht. Herkömmliches, dogmatisches Denken ist i m Verfassungsrecht darauf ausgerichtet, die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz zu einem bestimmten Entscheidungszeitpunkt festzustellen. Soll eine ständige Konformität des einfachen Rechts m i t der Verfassung sichergestellt werden, so wäre demnach i n jedem Moment eine derartige Prüfung unerläßlich. I m Gegensatz zu dieser zustandsorientierten Perspektive sollen die Appellentscheidungen der Dynamik der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse Rechnung tragen 1 1 4 . Sie sind an Prozessen ausgerichtet, deren Ergebnisse die überkommene Rechtsanwendung lediglich punktuell rezipiert. Das Verfassungswidrigwerden von Gesetzen löst so die dogmatische Alternative von „Verfassungsmäßigkeit" und „Verfassungswidrigkeit" auf i n Richtung auf zeitbedingte, fließende Übergänge. „Bevorstehende Verfassungswidrigkeit" ist ein Zustand von Verfassungsmäßigkeit, der nach den zur Verfügung stehenden Prognosemöglichkeiten später als verfassungswidrig beurteilt werden könnte. Steht so für die Zukunft eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung zu erwarten als für die Gegenwart, so greift das Bundesverfassungsgericht zum Appell an den Gesetzgeber 115 . a) Appellentscheidungen in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts I n der Praxis finden sich Appellentscheidungen i n unterschiedlichen Fallgruppen 1 1 6 . Hierzu zählen zunächst die unerfüllten Gesetzgebungsaufträge. In solchen Fällen hält das Gericht den gesetzlosen Zustand noch für ver114 Dazu Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 182 ff.; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 132 f. 115 Daneben finden sich Appellentscheidungen auch in Fällen, in welchen die vom Gericht vorgefundene Regelung bereits verfassungswidrig ist, dies jedoch bezüglich der Gültigkeit des Gesetzes keine Konsequenzen zeitigen soll. Hier gehen der Appell und die VerfassungsWidrigerklärung ineinander über. 115 Dazu Pestalozza, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 540 ff.; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 133 ff.

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fassungsmäßig, nimmt jedoch das anhängige Verfahren zum Anlaß, i n seiner Entscheidung die Legislative an ihre Pflichten zu erinnern. Praktisch wurde ein solcher Appell insbesondere zu A r t . 6 V G G 1 1 7 erteilt. Hier überbrücken die Appelle die zeitliche Distanz, die notwendig zwischen der Schaffung der Gesetzgebungsaufträge und der Möglichkeit ihrer Erfüllung besteht. Die Verpflichtung des Gesetzgebers zum Normenerlaß ergibt sich bereits unmittelbar aus der Verfassung, sie braucht durch das Gericht weder begründet noch konkretisiert zu werden. Die praktische Problematik solcher Gesetzgebungsaufträge liegt jedoch darin, daß sie nicht sanktionsbewährt sind. Aus der Unterlassung ihrer Erfüllung können somit keine gerichtlichen Konsequenzen gezogen werden; eine Vollstreckung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen ist hier ebenso unmöglich wie eine Ersetzung fehlender Gesetze durch das Gericht 1 1 8 . Auch ein „Umschlagen" der Verfassungsaufträge i n unmittelbar geltendes Recht ist weder möglich noch zulässig 119 . I n allen übrigen Fällen wiederholt der Appell lediglich, was ohnehin i m Grundgesetz angeordnet ist: daß nämlich der Gesetzgeber verpflichtet ist, eine Materie zu regeln. Hat der Gesetzgeber diese Pflicht i n verfassungswidriger Weise nicht erfüllt, so ist die Verfassungswidrigkeit des Unterlassens festzustellen 118 . Die Legislative ist i n diesem Fall verpflichtet, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen 120 . Weitere Rechtsfolgen oder Sanktionen können derartigen Feststellungen oder Appellen nicht zukommen. Ein Verstoß einer derartigen Tenorierung gegen § 78 S. 1 BVerfGG liegt nicht vor, da dieser mangels einer für nichtig erklärbaren Vorschrift schon tatbestandsmäßig nicht anwendbar ist. Ähnlich jener Kategorie sind solche Appellentscheidungen, denen Wandlungen der Verfassungsinterpretation zugrundeliegen. Eine solche Konstellation besteht insbesondere i n Fällen, i n denen sich der Inhalt der verfassungsrechtlichen Anforderungen an Gesetze aus tatsächlichen oder rechtsdogmatischen Gründen geändert hat. Diese Situation lag zunächst bei der Beseitigung der Kriegsfolgen vor, namentlich dem Abbau der Zwangswirtschaft. Das Grundgesetz selbst enthält keine besondere Übergangsregelung für die Abwicklung der tatsächlichen Folgen des Krieges, sondern setzt bereits ein weitgehend konsolidiertes Gemeinwesen voraus (außer: A r t . 117 I I , 119-120 a GG). U m hier einen Ubergang zu schaffen, nahm das Grundgesetz Regelungen der Zwangswirtschaft hin, wenn sie zur Versorgung der Bevölkerung mit 117

BVerfGE 8, 210, 216; 25, 167, 173; s. auch E 26, 44, 62; 206, 209 f. s. ο. 13,4. 119 Das gilt selbstverständlich dann nicht, wenn das Grundgesetz selbst Sanktionen anordnet, wie es in Art. 117 I GG geschehen ist; s. BVerfGE 3,225. 120 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 266 ff. 118

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lebenswichtigen Gütern noch unentbehrlich waren. Der Rechtsstaat konnte eben auf diesem Gebiet nicht an einem Tag verwirklicht werden 1 2 1 . I m Ergebnis war somit das Gesetz verfassungsgemäß, solange die tatsächlichen Zustände bestanden, welche seine Geltung erforderten. Mit der Normalisierung der Verhältnisse wandelten sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Regelung der jeweiligen Materie. I m Ergebnis ähnlich gestaltete sich die Entscheidungspraxis zum „besonderen GewaltverhältnisErst nachdem die traditionelle Lehre vom Sonderstatus überholt war, änderten sich die Anforderungen des Grundgesetzes an diese Materie 1 2 2 . Anders als bei den unerfüllten Gesetzgebungsaufträgen liegen hier Maßnahmen vor, die auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden können. Appellentscheidungen können daher nicht m i t der Unanwendbarkeit des § 78 BVerfGG begründet werden. Vielmehr sind sie hier Ausdruck eines Bedürfnisses nach Übergangsregelungen, welches das Gericht von der Kassation verfassungswidrigen Rechts absehen läßt. Übergangsrecht läßt sich jedoch auch nach einer Nichtigerklärung oder Verfassungswidrigerklärung schaffen 123 . Dieses Bedürfnis allein kann somit Appellentscheidungen nicht legitimieren. Liegt noch kein Gesetz vor, über dessen Verfassungsmäßigkeit zu befinden wäre — wie bei den Entscheidungen zum besonderen Gewaltverhältnis —, so kann das Gericht nur die bisherige administrative Praxis für verfassungswidrig erklären. Ein darüberhinausgehender Appell ist nicht erforderlich. Ein Wandel der Realität kann sich auch i n anderen Zusammenhängen auf die Verfassungsmäßigkeit von Normen auswirken. Grundfall hierfür war die Notwendigkeit einer realistischen Wahlkreiseinteilung 1 2 4 . Durch die Mobilität der Bevölkerung hatte sich die Einwohnerzahl vieler Wahlkreise erheblich verändert, so daß die Gleichheit des Erfolgswertes aller Stimmen nicht mehr gewährleistet war. Ebenso war die Ungleichbehandlung der Witwerrente gegenüber der Witwenrente wegen der tatsächlichen Verhältnisse zunächst für verfassungsgemäß erklärt worden 1 2 5 ; später wurde sie i m Hinblick auf die gewandelte Realität als diskriminierend empfunden. Ein Verfassungsverstoß war zwar zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht eingetreten, wurde aber vorausgesehen 126 . Hierher zählt auch die vom Bundesverfassungsgericht gelegentlich hervorgehobene Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers i n 121 122 128 124 12δ 128

BVerfGE BVerfGE s. o. 2 d). BVerfGE BVerfGE BVerfGE

9, 63, 71 f. 33, 1, 12 f. 16, 130 ff. 17, 1 ff. 39, 169, 187 ff.

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Fällen eines Wandels der Verhältnisse oder Erkenntnisse 127 . Liegt eine dieser Konstellationen vor, so kann i m Zeitpunkt der Entscheidung die Norm aufgrund des Tatsachenwandels noch verfassungsgemäß oder bereits verfassungswidrig sein. I m letzten Fall ist sie für nichtig (§ 78 S. 1 BVerfGG) oder für verfassungswidrig 128 zu erklären; Übergangsund Neuregelungen richten sich dann nach den allgemeinen Grundsätzen. Ist die Vorschrift „noch verfassungsgemäß", so geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, daß der Gesetzgeber verpflichtet sei, sich u m eine sachgerechte Lösung zu bemühen, die einen Verfassungsverstoß für die weitere Zukunft ausschließt 129 . I n diesem Fall kann die Verfassungswidrigkeit erst nach dem Entscheidungszeitpunkt eintreten. Diese Tatsache ist jedoch nicht Gegenstand des Verfahrens, ob und wann die Verfassungswidrigkeit eintritt, kann lediglich durch eine Prognoseentscheidung festgestellt werden. Für eine Entscheidung fehlt dem Bundesverfassungsgericht hier schon das Kontrollobjekt, eine wirksame Norm i n der von ihr geregelten Realität. Prognosen unterfallen demgegenüber primär der Kompetenz des Gesetzgebers, der verfahrensmäßig allein dazu i n der Lage ist, eine gestaltende Einschätzung der Zukunft vorzunehmen. Somit entscheidet das Bundesverfassungsgericht bei einem Appell i n derartigen Situationen über Rechtsfragen, die nicht Streitgegenstand sind, aufgrund von Prognosen, für welche primär der Gesetzgeber zuständig ist 1 8 0 . I n diesem Fall sind Appelle kein Ausdruck richterlicher Zurückhaltung 1 8 1 ; vielmehr ist das Gesetz ausschließlich verfassungsgemäß. Weitergehende Appelle über den Entscheidungsgegenstand hinaus bedürfen daher einer eigenen Begründung. Sind die Ubergänge zwischen „noch verfassungsmäßigen" und „schon verfassungswidrigen" Rechtslagen i m dynamischen Zeitablauf bisweilen fließend, so findet sich hier eine weitere Kategorie von Appellentscheidungen. So hat das Bundesverfassungsgericht i n einigen Fällen Normen, welche es selbst für verfassungswidrig hielt, weder für nichtig noch für verfassungswidrig erklärt, sondern lediglich an den Gesetzgeber appelliert, verfassungsgemäße Regelungen zu erlassen. Grundlage dafür waren „Evidenz-" oder Vorhersehbarkeitsformeln. So war die Wahlkreiseinteilung i m Jahre 1961 bereits verfassungswidrig; diesem Zustand fehlte jedoch die Evidenz, „die erforderlich gewesen wäre, 127

BVerfGE 25, 1, 13; 49, 89, 90, Ls 3; BVerfG, NJW 1981, 1657 m.w.N.;

Badura, FS K . Eichenberger, 481 ff.; Stettner, 128

DVB1 1982, 1123 ff.

s. o. 2 b). 129 BVerfGE 39, 169, Ls 3. 180 s. ο. I I 3; zur Unsicherheit verfassungsgerichtlicher Prognosen BVerfGE 39, 169 ff. einerseits und E 48, 346 ff. andererseits. 131

486 ff.

So aber Rupp υ. Brünneck,

FS G. Müller, S. 368; Gerontas,

DVB1 1982,

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um der Wahlkreiseinteilung schon zu jener Zeit die Geltungskraft zu nehmen" 1 3 2 . Wäre sie verfassungswidrig gewesen, wäre die Bundestagswahl ungültig; für ein verfassungsgemäßes Wahlgesetz hätte ein Gesetzgeber gefehlt 1 3 3 . Ebenso wurde ein verfassungswidriges Steuergesetz aufrechterhalten, da dem Gesetzgeber für die Neuordnung des Steuerrechts, welche ihrerseits u. a. durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erforderlich geworden w a r 1 3 4 , genügend Zeit eingeräumt werden müsse 135 . Auch wurden Verfahrensfehler mangels Evidenz nicht als Nichtigkeitsgründe angesehen 136 . Auch hier bedarf das Absehen von der Nichtig- bzw. Verfassungswidrigerklärung der Begründung, da hier entgegen § 78 S. 1 BVerfGG tenoriert wurde. Die eigentliche Wurzel des Problems liegt jedoch i n der Evidenzformel selbst. Appellentscheidungen können so i n zwei grundlegenden Fallkonstellationen ergehen. Ist die vorgefundene Rechtslage noch verfassungsgemäß, so antizipieren sie künftige Sachverhalte oder Rechtslagen. I n diesem Fall bedürfen sie wegen ihrer Überschreitung des entscheidungserheblichen Sachverhaltes einer dogmatischen Begründung. Ist die vorgefundene Rechtslage verfassungswidrig, so vermeiden Appelle die Nichtig- oder Verfassungswidrigerklärung. Sind diese grundsätzlich die adäquate Reaktion auf verfassungswidrige Gesetze 137 , so bedarf das Absehen von den zwingenden Tenorierungsvorschriften gleichfalls der Begründung. Die Wirkungen der Appellentscheidungen sind weder i m Grundgesetz noch i m Bundesverfassungsgerichtsgesetz thematisiert. Das Bundesverfassungsgericht nimmt Appelle regelmäßig nicht i n den Entscheidungstenor auf. Vielmehr w i r d i m Tenor häufig die Vereinbarkeit des angegriffenen Gesetzes mit dem Grundgesetz festgestellt 138 , i n jüngerer Zeit bisweilen „nach Maßgabe der Gründe" 1 3 9 . Lediglich i n den Gründen w i r d der Appell thematisiert, indem das Gericht seine Erwartung ausdrückt, daß der Gesetzgeber sich „ i n Zukunft intensiver u m eine sachgerechtere Lösung" bemüht, u m die sich i n Richtung auf die Verfassungswidrigkeit h i n bewegenden Wirkungen der jeweiligen Regelung aufzufangen. Damit verbindet das Bundesverfassungsgericht die A n kündigung, es könne i n einer späteren Entscheidung die angegriffene 182

BVerfGE 16, 130, 142 f. Dagegen Frowein, DöV 1963, 861. 134 BVerfGE 7, 282 ff. 135 BVerfGE 21, 12, 37 ff. 136 BVerfGE 34, 9, 21 ff. 137 s. o. 2 d). 188 Ausnahme etwa: BVerfGE 34, 9 f. iss BVerfGE 49, 169 f. 138

14 Gusy

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

Norm für nichtig oder verfassungswidrig erklären, wenn der Gesetzgeber eine sachgerechte Änderung unterließe. Ggf. w i r d dafür ein zeitlicher Rahmen abgesteckt 140 . Die Wirkungen solcher Entscheidungen werden dadurch charakterisiert, daß das Bundesverfassungsgericht i m Tenor eine gegenwartsbezogene Feststellung oder Gestaltung vermeidet. Ist die vorgefundene Regelung verfassungswidrig, so erläßt es die Kassation wegen der fehlenden Evidenz des Verfassungsverstoßes; ist die angegriffene Vorschrift verfassungsgemäß, so bestätigt es ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Angesichts dieser Praxis werden den Appellen rechtliche Wirkungen weitgehend abgesprochen 141 . Der Grund dafür liegt darin, daß der Appell nicht einmal einen „tragenden Grund" darstellt, da er für die Begründung der Entscheidung „denkgesetzlich" nicht erforderlich ist. Daher kann er auch nach der weitestgehenden Auffassung keine rechtlichen Bindungen begründen. Nichtsdestoweniger werden jedoch faktische Wirkungen gesetzt. Das Bundesverfassungsgericht ruft den Gesetzgeber „zur Wachsamkeit" auf, da ein Umschlagen i n die Verfassungswidrigkeit bevorsteht, wenn er nicht rechtzeitig Vorsorge trifft. So entsteht die Chance, daß eine spätere Nichtigerklärung überflüssig wird, da alle daran interessiert sein müssen, daß die Reformation durch den Gesetzgeber der Kassation durch das Bundesverfassungsgericht zuvorkommt 1 4 2 . b) Zulässigkeit und Grenzen der

Appellentscheidungen

Entscheidet das Bundesverfassungsgericht hier überwiegend pragmatisch, so ist dogmatisch zu ergründen, i n welchen Fällen das Gericht berechtigt und verpflichtet ist, an den Gesetzgeber zu appellieren. Maßgeblich dafür ist nicht die materielle Frage nach „Verfassung und Zeit", sondern die Kompetenzverteilung zwischen den Staatsorganen nach dem Grundgesetz. Hält das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz für verfassungswidrig, so ist dieses i m Entscheidungstenor für nichtig oder für verfassungsw i d r i g zu erklären. Die Abweichung hiervon durch Appelle w i r d mit der Funktion gerichtlicher Verfassungssicherung begründet 1 4 3 . Danach kommt dem Gericht nicht Rechtsprechung nach der Devise „fiat justitia pereat mundus" zu, vielmehr hat es bei seinen Entscheidungen deren politische Rückwirkungen auf die weitere Existenz der Verfassungsordnung und der durch sie verfaßten staatlichen Gemeinschaft zu be140

Ebd., S. 194 f. Pestalozza, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 556; Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 186 f. 142 Pestalozza, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 556. 141

143

Rupp v. Brünneck,

FS G. Müller, S. 363 ff.

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denken. Demnach stellt sich nicht die Alternative „Verfassungssicherung oder Staatssicherung"; beides sei den Staatsorganen anvertraut. So könne das Gericht nicht ohne Rücksicht auf die Folgen ein Wahlgesetz für nichtig erklären und so dem amtierenden Gesetzgeber die Legitimation — auch zum Erlaß eines neuen Wahlgesetzes — entziehen 1 4 4 oder ein Steuergesetz kassieren und so den Staatshaushalt gefährden 1 4 5 . Zur Vermeidung solcher staatsgefährdender Verfassungsrechtsprechung stehe dem Gericht neben der „schärfsten Waffe der Nichtigerklärung" und der „minderscharfen der förmlichen Feststellung eines Verfassungsverstoßes" auch die Appellentscheidung zu. Dieser sei so „Bestätigung des vom Bundesverfassungsgericht geübten judicial self restraint". Tatsächlich stellt sich hier die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht seine „Zurückhaltung" nicht zu weit getrieben hat. Verfassungswidriges Recht ist — spätestens — m i t der verbindlichen Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit durch das Bundesverfassungsgericht unwirksam 1 4 6 . Rückwirkende Konsequenzen solcher Nichtigerklärungen werden durch § 79 BVerfGG weitgehend vermieden. Ein Bedürfnis nach Vermeidung der Kassation kann somit nur durch die Notwendigkeit von Übergangsregelungen begründet werden. Hierzu stehen den Staatsorganen jedoch auch nach einer verfassungsgerichtlichen Feststellung der Nichtigkeit oder Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes vielfältige Mittel zur Verfügung 1 4 7 . I n den meisten Fällen der Beschränkung auf einen Appell angesichts der Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Rechts lag eine nicht anders abwendbare Gefahr für die staatliche Existenz gerade nicht vor. Auch i m Umsatzsteuerf a l l 1 4 8 hätte eine rasche, ggf. rückwirkende Regelung Abhilfe schaffen können. Unlösbare Probleme wären lediglich i n der Wahlkreisentscheidung aufgetreten 140 . Reichen i m übrigen die allgemeinen Instrumente auch für die Übergangszeit aus, so ist kein rechtlicher Grund für die Beschränkung auf einen Appell zu erkennen. Vielmehr wäre die Feststellung der Nichtigkeit oder Verfassungswidrigkeit zwingend geboten 1 4 6 . Nicht das Bundesverfassungsgericht ist streng zugreifend oder zurückhaltend, sondern das Grundgesetz 150 . Anderes kann nur gelten, wenn eine für verfassungswidrig erklärbare Norm nicht vorliegt, also 144

Dazu BVerfGE 16, 130 ff. Dazu BVerfGE 21, 12 ff. 146 s. o. 2 b). 147 s. o. 2 d). 148 BVerfGE 21, 12 ff. 149 BVerfGE 16, 130 ff.; hier wäre eine auf die Besonderheiten des Wahlprüfungsverfahrens abstellende Entscheidungspraxis notwendig geworden, etwa die Unterlassung der vom BVerfGG ohnehin nicht vorgesehenen Kopplung von Wahlprüfung und Normenkontrolle. 150 Schiaich, VVDStRL 39, 112. 146

14*

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

i m Falle des verfassungswidrig nicht erfüllten Gesetzgebungsauftrages. Hier enthält die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Unterlassens zugleich den Appell zum Handeln an den Gesetzgeber. Auf andere Weise w i r d die Zulässigkeit von Appellentscheidungen begründet, wenn das vorgefundene Recht „noch verfassungsgemäß" ist 1 5 1 . I n diesen Fällen sei die Norm „doch i n signifikanter Weise potentiell verfassungswidrig". Zwar ist die Verfassungswidrigkeit „noch nicht akut", i h r möglicher Eintritt lasse sich aber bereits in sachlicher oder zeitlicher Hinsicht spezifizieren. Läßt sich danach eine „graue Zone verfassungsimperfekter Zustände" feststellen, i n welcher nach sachlichen Gesichtspunkten nicht mehr zu trennen ist, was verboten, was lediglich nicht eigens erlaubt ist 1 5 2 , so stellt sich hier die Frage nach der adäquaten Form verfassungsgerichtlicher Reaktion. Grundsätzlich bestehen dabei zwei Möglichkeiten: Entweder appelliert das Gericht an den Gesetzgeber, für die Zukunft vorzusorgen oder aber es beschränkt sich auf die Entscheidung für die Gegenwart und damit auf den entscheidungserheblichen Sachverhalt. Hängt hier die Frage nach dem zukünftigen Eintritt der Verfassungswidrigkeit und den dafür maßgeblichen Bedingungen weitgehend von prognostischen Erwägungen ab, so stellt sich das Problem der Prognosezuständigkeit als Kompetenzproblem 1 5 3 . Prognosen können a priori nicht als „richtig" oder „falsch" qualifiziert, sondern nur auf ihre Rationalität überprüft werden. Stehen mehrere rationale Prognosemöglichkeiten zur Auswahl — wie es fast stets der Fall ist —, so kommt unter diesen dem Gesetzgeber die Auswahlkompetenz zu. Das Bundesverfassungsgericht kann nur prüfen, ob der vom Gesetzgeber gewählte Ansatz rational ist. Demgegenüber setzt der Appell die Prognose des Bundesverfassungsgerichts an die Stelle derjenigen der Legislative; das Gericht beschränkt sich nicht auf die Nachprüfung, sondern prognostiziert selbst. Zwar bleibt dem Parlament später noch die Einschätzungskompetenz, ob die vom Bundesverfassungsgericht vorhergesagten Ereignisse eingetreten sind oder nicht. Ob jedoch zu diesem Zeitpunkt noch die rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen vorliegen, welche die prognostische Einschätzung „verfassungsimperfekten Zustandes" prägten, ist nicht zuverlässig feststellbar. Wandlungen von Realität und Recht können i n solchen Vorhersagen nicht genügend berücksichtigt werden. Damit erhöht der Appell nicht die Rechtssicherheit 154 , sondern mindert sie. Das zeigt deutlich die kaum vorhersehbare Pro151

Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 183 f. 152 pestalozza, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 540. 153 Dazu allgemein ο. I I 3. 154 Anders Rupp v. Brünneck, FS G. Müller, S. 369.

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gnoselage i m Rentenrecht 155 . Für eine Überschreitung des entscheidungserheblichen Sachverhaltes und eine dadurch begründete Appellkompetenz des Bundesverfassungsgerichts besteht somit auch i n diesem Fall kein rechtfertigender Grund. Entscheidungsgrundlage wie Legitimationsbasis ist für das Gericht ausschließlich das Grundgesetz, nicht hingegen eine kaum näher konkretisierbare „graue Zone". Diese „neue Form verfassungsrechtlicher Reaktion" 1 5 6 ist somit ausschließlich im Falle der Feststellung eines verfassungswidrigen legislativen Unterlassens zulässig. Ein Verstoß gegen § 78 BVerfGG liegt dadurch nicht vor, da eine für nichtig erklärbare Norm nicht existiert. 4. Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen

Ungeachtet ihrer fehlenden gesetzlichen Regelung (s. aber § 791 BVerfGG) hat die verfassungskonforme Auslegung neben den übrigen dargestellten Entscheidungsformen erhebliche quantitative Bedeutung erlangt. Als Grund dafür w i r d die Flexibilität dieses Instituts gesehen, welches die materielle Gerechtigkeit, die Rechtssicherheit und das gemeine Wohl über den formalen Rechtsregorismus stellt 1 5 7 . Seine A n wendbarkeit setzt einen spezifischen materiell-rechtlichen Befund voraus. Ist eine Norm i n allen denkbaren Auslegungsalternativen verfassungsgemäß, so besteht für eine verfassungskonforme Auslegung kein Raum. Umgekehrt bedingt die Teilnichtigerklärung eine isolierbare verfassungswidrige Vorschrift 1 5 8 . Diese Dichotomie versagt allerdings, wenn eine Vorschrift in einigen Anwendungsalternativen verfassungsgemäß, in anderen hingegen verfassungswidrig ist. I n diesem Fall liegt keine verfassungsgemäße Norm vor; umgekehrt würde eine Kassation zugleich die verfassungskonformen Normteile vernichten, sie griffe daher zu weit. Auch eine Verfassungswidrigerklärung wäre hier zu weitreichend. Zwar setzt sie gleichfalls voraus, daß eine isolierbare verfassungswidrige Regelung nicht existiert; sie betrifft jedoch die gesamte Norm. Innerhalb des durch diese Alternativen gesteckten Rahmens soll die verfassungskonforme Auslegung flexibel den jeweiligen Verfassungsverstoß i n dem Umfang beseitigen, i n welchem er vom Bundesverfassungsgericht festgestellt worden ist. Sie behebt so eine „qualitative Teilnichtigkeit" 1 5 9 durch eine den jeweiligen Bedürfnissen angepaßte Regelung. iss BVerfGE 39, 169 ff. und E 48, 346 ff. 156 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 133. 157 Bachof in Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 293; zur Praxis in der Schweiz, N. Müller, Verfassungskonforme Auslegung, 1980. 158 s. o. 2 b). 159 Skouris, Teilnichtigkeit, S. 92 ff,

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

a) Die verfassungskonforme Auslegung in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts Eine an sachlichen Fallgruppen orientierte Typologie der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts zur verfassungskonformen Auslegung ist i n der Gegenwart kaum mehr möglich 1 6 0 . Das Gericht verwendet sie insbesondere i n zwei Fallgruppen. Hierzu zählt zunächst die Herstellung der Verfassungsmäßigkeit durch Ausschluß verfassungswidriger Interpretationsmöglichkeiten 1 6 1 ; daneben existiert die Fallgruppe der „verfassungsrechtlichen OptimierungHier w i r d unter mehreren verfassungskonformen Alternativen diejenige verbindlich gemacht, die einer Wertentscheidung der Verfassung am besten entspricht 1 6 2 . Deutlich lassen sich die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Voraussetzungen für die Zulässigkeit dieser Entscheidungsform konkretisieren. Erste Prämisse ist die Mehrdeutigkeit des Wortlautes. Nur wenn der Normtext mehrere Auslegungsmöglichkeiten zuläßt, welche bezüglich der Anwendbarkeit oder der Rechtsfolgen der Vorschriften zu unterschiedlichen Resultaten führen würden, ist für eine verfassungskonforme Auslegung Raum. Ist hingegen der Wortlaut klar und eindeutig, so daß nur eine Anwendung i n Betracht kommt, so kann lediglich die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit festgestellt werden. Ein solcher Text läßt sich nicht verfassungskonform korrigieren oder abwandeln. I n jedem Fall ist es unzulässig, durch verfassungskonforme Auslegung „dem klaren Wortlaut einen geradezu entgegengesetzten Sinn" zuzusprechen 163 . Dem Wortlaut kommt somit eine doppelte Funktion zu. Seine Mehrdeutigkeit ist die Grundlage der Separierung verfassungskonformer von verfassungswidrigen Auslegungsalternativen. Umgekehrt konstituiert er zugleich die Grenze der verfassungskonformen Auslegung. Verfassungskonform kann nur eine solche „Auslegung" sein, welche sich i m Rahmen der vom Normtext gezogenen Grenzen hält. Diese Prämisse ist vom Bundesverfassungsgericht allerdings gelegentlich außer acht gelassen worden 1 6 4 . Danach ist Ziel jeder Auslegung die Feststellung des Inhalts einer Norm, wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang ergibt, i n den sie hineingestellt ist. A m Wortlaut 1β0

Zur früheren Rechtsprechung Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 34 ff. 161 Beispiel: BVerfGE 51, 97, 105 ff. 162 BVerfGE 8, 210, 221; kritisch dagegen zu Recht Beckmann, GA 1978, 441, 444 ff. m BVerfGE 8, 28, Ls 1; 9, 194, 200; 33, 52, 69; 35, 263, 280; 47, 46, 82. 164 Bedenklich etwa BVerfGE 30, 1, 19 ff.

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der Vorschrift braucht der Richter nicht festzuhalten 165 . Hier ist nicht mehr der Normtext, sondern die systematisch-teleologische Interpretation maßgebend. Weitere Voraussetzung der verfassungskonformen Auslegung ist die Verfassungsmäßigkeit mindestens einer Interpretationsalternative. Widerspricht eine Norm i n allen möglichen Auslegungen dem Grundgesetz, so ist sie verfassungswidrig. Läßt sie hingegen mehrere Auslegungen zu, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen, so muß die Vorschrift verfassungskonform ausgelegt werden 1 6 6 . Diese unterschiedliche verfassungsrechtliche Beurteilung der möglichen Interpretationsalternativen einer Norm begründet überhaupt erst das Bedürfnis und die Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung. Unter allen denkbaren Alternativen muß zumindest eine nach dem Wortlaut mögliche Auslegung verfassungsgemäß sein. Diese verfassungsgemäße Interpretationsalternative muß zudem mit dem Zweck des Gesetzes vereinbar sein. Jede derartige Interpretation findet ihre Grenze an dem eindeutigen Sinn der Gesetze 167 ; sie darf nicht mit dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers i n Widerspruch treten 1 6 8 . Keineswegs darf sie das gesetzgeberische Ziel i n einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen 169 . Der Gesetzeszweck muß danach diejenige Auslegungsalternative legitimieren, die vom Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform angesehen wird. Dieses Erfordernis w i r d allerdings vielfach eingeschränkt. Sind verschiedene Deutungen einer Norm möglich, so verdient diejenige den Vorzug, der der Wertentscheidung der Verfassung am besten entspricht 1 7 0 . Demnach ist es ausreichend, daß von der Absicht des Gesetzgebers lediglich das Maximum aufrechterhalten wird, was nach der Verfassung aufrechterhalten werden kann. Darüber hinaus ist die verfassungskonforme Auslegung zulässig, wenn die verfassungswidrige Auslegung dem subjektivierten Willen des Gesetzgebers entsprechen würde 1 7 1 , die verfassungskonforme Variante aber noch von i h m umfaßt wird. Nehmen diese Korrekturen die strengen Anforderungen an die Kongruenz der Interpretation mit dem Gesetzeszweck bereits partiell zurück, so liegt das Zentralproblem dieses Kriteriums i m Grundsatz, 185 BVerfGE 35, 263, 278; kritisch Erichsen, VerwA 1974, 103; Zippelius, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II, S. 116. ιββ BVerfGE 19, 1, 5. 187 BVerfGE 2, 380, 398. ιββ BVerfGE 8, 34, 41; 18, 111. 189 BVerfGE 8, 28, 34; 9, 194, 200; 33, 52, 69; 35, 263, 280. ito BVerfGE 8, 221; 35, 280. 171 BVerfGE 8, 34; 9, 200; 33, 69,

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

nämlich der Frage nach der Feststellung des Gesetzeszwecks172. Sinnvoll kann dieser als Grundlage und Grenze der verfassungskonformen Auslegung nur dienen, wenn er ihr seinerseits vorausliegt, der Gesetzeszweck also unabhängig von dem Bedürfnis nach Verfassungsmäßigkeit feststeht und ermittelt werden kann. Diese Grundlage hat das Bundesverfassungsgericht jedoch schon frühzeitig i n Frage gestellt. Bereits die erste Entscheidung, i n welcher die verfassungskonforme Auslegung praktiziert wurde, ging von einer „Vermutung" aus, nach der ein Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar sei 1 7 3 . Eine solche „Vermutung" kann sich nicht nur auf den Gesetzesinhalt, sondern auch auf den Gesetzeszweck beziehen. I n diesem Fall wäre ein Gesetz nur unter der Voraussetzung verfassungswidrig, wenn jene Vermutung widerlegbar wäre, wenn also der Gesetzeszweck ausdrücklich auf einen Verfassungsverstoß gerichtet wäre, der Gesetzgeber also vorsätzlich verfassungsw i d r i g gehandelt hätte. I n allen anderen Fällen, i n denen der Gesetzeszweck eine gewisse Bandbreite an Regelungsalternativen zuläßt, nicht eindeutig zu ermitteln oder unklar ist, würde i m Wege der Vermutung der Gesetzeszweck erst am Grundgesetz gebildet. Setzt die verfassungskonforme Auslegung mehrere Auslegungsalternativen voraus, so hat danach die verfassungskonforme als die objektive Absicht des Gesetzes zu gelten 1 7 4 . Das Grundgesetz schafft so den erforderlichen verfassungsgemäßen Gesetzeszweck selbst; der Zweck ist nicht mehr Grundlage und Grenze, sondern Resultat der verfassungskonformen Auslegung. Diese Tendenz einer Auflösung der Wort- und Sinngrenzen verfassungskonformer Interpretation haben in der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts bereits Bedeutung erlangt. Deutlich w i r d dies insbesondere i n solchen Fällen, i n welchen ein Gesetz eine Regelung trifft, ohne auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen ausdrücklich Rücksicht zu nehmen. Das ist etwa der Fall, wenn Tatbestandsvoraussetzungen fehlen, welche nach dem Grundgesetz für eine Grundrechtseinschränkung zwingend erforderlich wären. I n solchen Fällen legt das Bundesverfassungsgericht das Gesetz als verfassungskonform aus, da der jeweilige Fall „durch zwingendes Verfassungsrecht bereits geregelt" sei und daher keiner eigenen gesetzlichen Regelung mehr bedürfe 1 7 5 . Überschreitet ein Gesetz diejenigen Grenzen, welche das Grundgesetz für die Einschränkung von Freiheitsrechten vorsieht, so werden diese Grenzen als ungeschriebene Tatbestandsmerkmale angesehen 176 . Bei der Gesetzesausführung sind i n solchen 172

Dazu Zippelius, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II, S. 117 ff. "a BVerfGE 2, 266, 282. 174 Ehmke, VVDStRL 20, 74. 175 BVerfGE 46, 43 Ls 2. ne BVerfGE 47, 327, Ls 1; s. auch E 49, 148, 156 ff.; 51, 150, 156 ff.

I I I . Die Entscheidungsformen i m Normenkontrollverfahren

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Fällen Verfassung und Gesetz nebeneinander anzuwenden. Das gilt selbst i n dem Fall, wenn das „ungeschriebene Tatbestandsmerkmal" notwendig durch ergänzendes Verfahrensrecht ausgeführt werden müßte, solches jedoch nicht vorgesehen i s t 1 7 7 und dadurch erhebliche praktische Unzuträglichkeiten entstehen 178 . Unbestimmte Normen werden aufgrund verfassungsrechtlicher Prinzipien konkretisiert, so daß sie die erforderliche Bestimmtheit erlangen 1 7 9 . Diese Tendenzen zeigen, daß zunehmend nicht mehr die Gesetze den verfassungsrechtlichen A n forderungen genügen müssen, sondern diese Anforderungen in jene hinein interpretiert werden und so den Gesetzen erst von außen die notwendige Verfassungskonformität zugesprochen wird. Die Vorgaben des Grundgesetzes für Gesetze richten sich dann nicht mehr an den Gesetzgeber, sondern unmittelbar an die Normunterworfenen. Dadurch entsteht die Gefahr eines besonders intensiven Eingriffs des Bundesverfassungsgerichts i n die Kompetenzen der Legislative. Das Gericht kassiert hier nicht, sondern setzt die verfassungskonformen Regelungen selbst. So w i r d es nicht nur negativ, sondern positiv normsetzend tätig. Die Wirkungen der verfassungskonformen Gesetzesauslegung 180 bestimmen sich danach, daß das Gericht die angegriffene Vorschrift aufrechterhält, jedoch bestimmte, dem Grundgesetz widersprechende Interpretationen ausschließt. Eine Nichtig- oder Verfassungswidrigerklärung kommt somit nicht in Betracht. Vielmehr erklärte das Gericht anfangs die angegriffenen Gesetze für verfassungsgemäß 181 ; die verfassungskonforme Auslegung ergab sich lediglich aus den Gründen. Die gegenwärtige Praxis geht dahin, die Gründe i n den Tenor einzubeziehen. I n diesen Fällen lautet die Entscheidungsformel, daß die geprüfte Vorschrift „ i n der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung" 1 8 2 oder „nach Maßgabe der Gründe" mit dem Grundgesetz vereinbar sei 1 8 3 . Diese Entscheidung erlangt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts Rechtskraft. Sie bestimmt die aus dem Verfassungsrecht sich ergebenden Maßstäbe oder Grenzen für die Auslegung eines einfachen Gesetzes verbindlich. Spricht das Bundesverfassungsgericht i m Rahmen der verfassungskonformen Auslegung einer Norm des einfachen Rechts aus, daß gewisse, an sich mögliche Interpretationen dieser Vorschrift mit dem Grundgesetz unvereinbar sind, so kann keine andere Instanz diese Interpretationsmöglichkeit für verfassungsgemäß halten 1 8 4 . Es ist 177 178 179 180 181 182 183 184

BVerfGE 51, 97, 114 f.; 309, 312 ff. s. E. Schneider, NJW 1980, 2377 ff. BVerfGE 49, 168, 184 ff. Dazu von Mutius, VerwA 1976, 403 ff.; Sachs, NJW 1979, 344 ff. Etwa BVerfGE 2, 266, 267. BVerfGE 33, 303, 305; 36, 1, 3; 38, 1, 2. BVerfGE 39, 148; 169, 170; dazu auch IV 1 b). BVerfGE 40, 88, 94.

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

daher jedermann untersagt, eine Norm i n der für verfassungswidrig gehaltenen Auslegung zu vollstrecken, auszuführen oder i n sonstiger Weise Rechtsakten zugrundezulegen. Die Norm bleibt somit grundsätzlich erhalten, sie w i r d nicht aufgehoben oder i n ihrer Anwendung gehemmt. I h r Geltungs- und Anwendungsbereich wandelt sich jedoch, ohne daß der Text irgendwelchen Handlungen unterworfen worden ist. Dadurch ändert sich ihr Regelungsgehalt als Ge- oder Verbotsnorm. Alle Adressaten haben sie i n der Weise auszulegen, durchzuführen und zu beachten, die nach der Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht verfassungsgemäß ist. Der Gesetzgeber ist demgegenüber nicht zu Reaktionen verpflichtet. Er kann die Vorschrift aufheben, i n dem für verfassungsgemäß erachteten Umfang neu erlassen oder die bisherige Norm bestehen lassen. b) Zulässigkeit und Grenzen der verfassungskonformen

Auslegung

I n Rechtsprechung und Literatur ist das zentrale Argument für die verfassungskonforme Auslegung das Gebot der Normerhaltung 185. Diese Ansicht w i r d allerdings unterschiedlich begründet. Vom Bundesverfassungsgericht werden Zulässigkeit und Notwendigkeit der verfassungskonformen Auslegung mit einer Vermutung zugunsten der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen begründet 1 8 6 . Diese Rechtmäßigkeitsvermutung läßt sich jedoch aus dem Grundgesetz nicht begründen. Die Erwartung, der Gesetzgeber wolle stets verfassungsgemäß handeln, könnte sich ohnehin nur an den nachkonstitutionellen Gesetzgeber wenden 1 8 7 . Zudem wäre eine solche Vermutung nur als widerlegliche möglich; andernfalls wäre eine verfassungsgerichtliche Normenkontrolle nicht denkbar. Unter dieser Voraussetzung müßten allerdings Bedingungen geklärt werden, welche jene Vermutung widerlegen könnten. Läßt ein Gesetz eine Auslegung zu, welche zweifelsfrei gegen die Verfassung verstößt, so ließe sich eine derartige Vermutung kaum mehr aufrechterhalten. Sie könnte i n diesem Fall auch eine verfassungskonforme Auslegung nicht legitimieren 1 8 8 . Als Alternative w i r d demgegenüber die Einheit der Rechtsordnung herangezogen. Danach bildet das Rechtssystem eine Einheit, die von der Verfassung und den i n i h r enthaltenen Prinzipien beherrscht wird. Daher sei nur eine solche Auslegung gesetzlicher Bestimmungen zulässig, welche mit der Verfassung i n Einklang steht, nicht aber eine solche, 185 Dazu Zippelius, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II, S. 110 f. ΐ8β BVerfGE 2, 266, 282. 187 Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 22; Burmeister, Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung, S. 105; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 98. 188

Michel, JuS 1961, 274.

I I I . Die Entscheidungsformen i m Normenkontrollverfahren

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die i h r widerspricht 1 8 9 . Diese Variante der systematischen Auslegung w i r d vielfach m i t der aus der Reinen Rechtslehre stammenden Theorie vom Stufenbau der Rechtsordnung i n Zusammenhang gebracht. Gegenstand dieser Lehre ist jedoch p r i m ä r der Vorrang der Rechtserzeugung, nicht hingegen derjenige der Norminterpretation. Die Reine Rechtslehre befaßt sich zentral m i t dem Rechtsaufbau, nicht m i t dem Rechtsinhalt. Selbst wenn man i h r jedoch inhaltliche Maßstäbe entnehmen könnte, wäre damit noch nicht der Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung begründet. Widerspruchsfreiheit läßt sich durch Nichtigerklärung partiell verfassungswidriger Normen ebenso erreichen wie durch verfassungskonforme Interpretation 1 9 0 . Ist das Bundesverfassungsgericht an das Grundgesetz als Entscheidungs- und Legitimationsgrundlage gebunden, so kann n u r die Verfassung selbst die Zulässigkeit der verfassungskonformen Interpretation begründen. W i r d ein Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit geprüft, so sind Kontrollobjekt wie Kontrollmaßstab i n hohem Maße interpretationsfähig u n d -bedürftig. Regelmäßig läßt die Auslegung nicht n u r der Verfassung, sondern auch des überprüften Gesetzes eine Mehrzahl vertretbarer Konkretisierungsmöglichkeiten zu. Das Grundgesetz als offene u n d lückenhafte Rahmenordnung 1 9 1 enthält i n den seltensten Fällen derart konkrete Anforderungen an die Regelungen einer Materie, daß lediglich eine einzige Vorschrift i n einer bestimmten Auslegung zulässig u n d möglich wäre. Vielmehr k o m m t dem Gesetzgeber ein Handlungs- u n d Gestaltungsfreiraum zu. Gerade bezüglich derjenigen Verfassungsnormen, welche für die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung i n hohem Maße justiziabel sind 1 9 2 , ist Gesetzgebung nicht Verfassungsverwirklichung oder -ausführung; vielmehr bestimmt das Grundgesetz überwiegend die Grenzen der Zulässigkeit legislativen Handelns und Gestaltens durch Verbotsnormen. Über die Einhaltung dieser Grenzen wacht das Bundesverfassungsgericht; n u r soweit der Gesetzgeber derartige Schrankenziehungen überschreitet, ist es zur V e r w a l tung von Normen berechtigt. Handelt die Legislative hingegen i m Rahmen der i h r eingeräumten Handlungsfreiheit, so ist dem Bundesverfassungsgericht jede Einflußnahme untersagt. Das Grundgesetz enthält i n diesem Bereich keine eigenen rechtlichen Maßstäbe, so daß dem Gericht hier keine Kompetenzen zukommen können. Das Bundesverfassungsgericht darf demnach n u r Verfassungsverstöße beseitigen, ist dazu aber 189 ßayVGHE 5, 19, 29; 41, 54; 10, 101, 113; Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 22 f.; Michel, JuS 1961, 276; Zippelius, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II, S. 108 ff.; Spanner, AöR 1966, 597 ff. 190 191 192

Skouris, Teilnichtigkeit, S. 100 f. s. o. 3. Teil, I. s. ο. I.

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

auch verpflichtet. Nur wenn es feststellt, daß eine Vorschrift gegen die Verfassung verstößt, kann es jene kassieren. Gesetze, welche i n der gegenwärtigen Entscheidungspraxis verfassungskonform ausgelegt werden, zeichnen sich jedoch dadurch aus, daß sie nicht notwendig verfassungswidrig, sondern nach bestimmten Auslegungsvarianten verfassungskonform sind. Eine Kollision zwischen Verfassung und Gesetz liegt so nicht notwendig vor, sondern lediglich unter Zugrundelegung einer bestimmten Interpretation. Lediglich diese Kollision begründet verfassungsgerichtliche Reaktionskompetenzen. Soweit die Norm i n einer anderen Auslegung verfassungsgemäß ist, enthält das Grundgesetz keine Maßstäbe oder Entscheidungsgrundlagen, welche das Bundesverfassungsgericht als Grundlage einer Nichtigerklärung heranziehen könnte. Die Voraussetzung der Nichtigkeitsfeststellung, das Vorliegen einer isolierbaren verfassungswidrigen Norm, besteht i n diesem Fall nicht. Ist die angegriffene Vorschrift nur teilweise verfassungswidrig, so kann sie auch nur insoweit vom Bundesverfassungsgericht kassiert werden. Der methodische Weg hierzu ist die verfassungskonforme Interpretation, die bestimmte Auslegungsweisen als mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt. Insofern ist dieser Grundsatz das Korrelat der Verfassungswidrigerklärung 193 . W i r d somit die verfassungskonforme Auslegung grundsätzlich vom Grundgesetz gefordert, so sind ihre Voraussetzungen und Grenzen zu bestimmen. Grundlage dafür ist der Vorgang der Rechtsbildung durch verfassungskonform ausgelegte Gesetze. I m Normalfall des verfassungsmäßigen Gesetzes entsteht die Rechtsfolgenanordnung durch eine Entscheidung des Gesetzgebers, die ihrerseits verfassungsgemäß ist. Demgegenüber wirken bei einer verfassungskonform ausgelegten Vorschrift drei Elemente zusammen: Das Grundgesetz, die Entscheidung des Gesetzgebers und die Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht. Erst nach diesen drei Schritten steht die endgültige, verfassungsgemäße Rechtsfolgenanordnung fest 1 9 4 . Erstes Element ist das Grundgesetz. Das enthält für die vom jeweiligen Gesetz geregelte Materie formelle und zumeist auch materielle Vorgaben. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß die Einzelheiten jeder Regelung i h m bereits selbst zu entnehmen wären. Das Grundgesetz bestimmt lediglich den Rahmen, innerhalb dessen die konkrete Entscheidung durch die Legislative getroffen werden muß. Es statuiert lediglich den Handlungsrahmen für den Gesetzgeber und den Interpretationsrahmen für Gesetze. Voraussetzungen der verfassungskonformen Auslegung ist demnach, daß diese durch das Grundgesetz zwingend geboten ist. 193 Skouris, Teilnichtigkeit, S. 106 ff.; Zippelius, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II, S. 112 ff. 194 von Mutius, VerwA 1976, 408 f. m. w. N.

I I I . Die Entscheidungsformen i m Normenkontrollverfahren

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Zweites Element ist das jeweilige Gesetz als Entscheidung der Legislative. Es ist zunächst aus sich selbst heraus auszulegen. Dem steht die These von der Verfassungsorientierung aller Gesetzesauslegung entgegen 195 . Diese insbesondere aus dem wertorientierten Verständnis des Grundgesetzes hergeleitete Auffassung geht davon aus, daß alle Auslegung zugleich verfassungskonforme Auslegung ist; das Grundgesetz enthält demnach einen Kanon zur Gesetzesinterpretation. I n der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts hat diese Ansicht seit den frühen Entscheidungen zur D r i t t w i r k u n g von Grundrechten 1 9 6 bisweilen Zustimmung gefunden 197 . Das Grundgesetz als Rahmenordnung enthält jedoch einen solchen Kanon nicht 1 9 8 . Zwar mag es auf einige Details der Methodik einwirken; auch darf Gesetzesinterpretation nicht gegen das Grundgesetz verstoßen. Damit erschöpfen sich jedoch die Hinweise der Verfassung für die Auslegung einfachen Rechts. Das Gesetz ist demnach primär aus sich selbst heraus zu interpretieren. Hierzu sind zunächst die rechtsanwendenden Instanzen berechtigt und verpflichtet. Maßgeblich sind dabei die allgemeinen Regeln, insbesondere die durch den Wortlaut eröffneten Interpretationsalternativen, der subjektive Wille des historischen Gesetzgebers und der Gesetzeszweck. Das so ausgelegte Gesetz muß selbst den verfassungsrechtlichen Anforderungen bereits Rechnung tragen, die Vorgaben des Grundgesetzes müssen bereits i m Gesetz zum Ausdruck kommen. Das gilt auch dann, wenn ein vom jeweiligen Gesetz erfaßter Sachverhalt vom Grundgesetz bereits „abschließend geregelt ist". Grundlage dafür ist der Bestimmtheitsgrundsatz 199 . Danach muß „das Gesetz" die Tätigkeit der Verwaltung inhaltlich determinieren; eine „vage Generalklausel" ist mit diesem Grundsatz nicht vereinbar 2 0 0 . Die inhaltliche Bestimmung der Verwaltungs- und Rechtsprechungstätigkeit muß demnach durch das Grundgesetz erfolgen und darf nicht erst durch Hinzuziehung weiterer Grundsätze an das Grundgesetz herangetragen werden. Grundsätzlich müssen demnach die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Regelung der Materie i n dem aus sich selbst heraus ausgelegten Gesetz Beachtung gefunden haben. Ist dies der Fall, so kann als letztes Element verfassungskonformer Auslegung die Korrektur der Gesetzesinterpretation am Grundgesetz erfolgen. Dadurch können einzelne diskutable Auslegungsalternativen, 195

s. etwa Göldner, Verfassungsprinzip, S. 47 ff. Zuerst BVerfGE 7, 198 ff. 197 BVerfGE 8, 221; 35, 280. 198 s. mit Nachweisen Skouris, Teilnichtigkeit, S. 102 ff.; Ipsen, Richterrecht, S. 177 ff. 199 Dazu jüngst Gusy, DVB1 1979, 575 ff. m. w. N.; anders in der Sache BVerfG, JZ 1981, 305 m. w. N. 200 BVerfGE 8, 274, 325. 198

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

die verfassungswidrig wären, ausgeschlossen werden. Voraussetzung dafür ist zunächst, daß der Fehler überhaupt durch Interpretation behoben werden kann. Das ist nicht der Fall, wenn ein Gesetz formell verfassungswidrig ist oder den formellen Mindestanforderungen an seinen Inhalt nicht genügt, etwa zu unbestimmt ist 2 0 1 . Bestimmt sein muß das Gesetz, nicht das Grundgesetz. Die verfassungskonforme Auslegung ist dabei die Herstellung von Kongruenz zwischen dem Gesetz als Entscheidung der Legislative und dem Grundgesetz. Auch die verfassungskonform interpretierte Vorschrift muß noch die Entscheidung des Gesetzgebers darstellen. Neben der Vereinbarkeit m i t dem Wortlaut der Norm ist dabei insbesondere der subjektive Wille des Gesetzgebers von Bedeutung. Nicht ausreichend ist, daß von der legislativen Entscheidung noch etwas übrig bleibt; entscheidend ist vielmehr, daß das Anliegen des Gesetzgebers durch verfassungskonforme Interpretation i n vollem Umfang verwirklicht werden kann. Ist dies nicht der Fall, so ist das „ausgelegte" Gesetz keine Entscheidung der Legislative mehr, sondern ein Gestaltungsakt des Bundesverfassungsgerichts, das eine Zuständigkeit an die Stelle derjenigen der Legislativorgane setzt. Für allgemeine Vermutungen über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzeszwecks besteht kein Raum. Verfassungskonforme Auslegung muß demnach vom Grundgesetz zwingend geboten sein. Die verfassungskonforme Auslegungsalternative muß dem subjektiven und objektiven Zweck des Gesetzes i n vollem Umfang gerecht werden, sie stellt somit ein Mittel dar, welches primär für die Vornahme von Randkorrekturen geeignet ist. 5. Die Verfassungsmäßigerklärung von Gesetzen

Für den Fall, daß das Bundesverfassungsgericht keinen Verstoß des angegriffenen Gesetzes gegen das Grundgesetz festhält, enthält das Bundesverfassungsgerichtsgesetz gleichfalls keine Tenorierungsvorschrift. Grundsätzlich kommen hier zwei mögliche Entscheidungen i n Betracht: Entweder weist das Gericht den Normenkontrollantrag ab — wie es etwa bei unzulässigen Anträgen geschieht 202 —, oder aber es entscheidet i m Tenor über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Das Bundesverfassungsgericht wendet i n diesem Fall § 78 S. 1 BVerfGG entsprechend an. Zur Begründung beruft es sich auf § 31 I I 1 BVerfGG. Danach hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts i n den Fällen des § 13 Nr. 6, 11 BVerfGG Gesetzeskraft. Das gelte i n diesen Verfahren der abstrakten und konkreten Normenkontrolle nicht 201 202

s. auch BVerfGE 9, 87. Maunz u. a., BVerfGG, § 78 Rn. 34.

I I I . Die Entscheidungsformen i m Normenkontrollverfahren

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nur, wenn das Gericht zur Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift gelangt, sondern auch, wenn es zu dem Ergebnis kommt, die angegriffene Norm sei m i t dem Grundgesetz vereinbar. Danach muß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, soweit wie möglich, einen Inhalt haben, welcher der Gesetzeskraft fähig ist. Wenn die Nachprüfung einer gesetzlichen Vorschrift zu dem Ergebnis führt, daß sie mit dem Grundgesetz vereinbar ist, so bedeutet dies für die Tenorierung bei Entscheidungen über Bundesgesetze: Da das Bundesverfassungsgericht zuständig ist, alle denkbaren Nichtigkeitsgründe nachzuprüfen, so hat es die Gültigkeit der Vorschrift positiv festzustellen 208 . Das Gericht beschränkt sich somit nicht darauf, daß Gesetz für verfassungsmäßig zu erklären, sondern erklärt es darüber hinaus für „gültig". Dieses stellt das Gegenstück zur Nichtigerklärung nach § 78 S. 1 BVerfGG dar. Unabhängig von dem Problem, ob einer solchen Entscheidung tatsächlich Gesetzeskraft zukommt 2 0 4 , stellt sich die Frage nach den W i r kungen einer Gültigerklärung. Die Feststellung der Nichtigkeit kassiert das Gesetz unmittelbar; sie w i r k t auf den Inhalt der Vorschrift als Ge- oder Verbotsnorm i n der Weise ein, daß sie i h n ganz oder teilweise aufhebt. Dieser Wirkung fehlt hingegen die Feststellung der Gültigkeit. Gültig, also verbindlich, ist ein Gesetz allein durch seinen Erlaß; weitere Akte, insbesondere eine Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, sind dazu nicht erforderlich. Dessen „Gültigerklärung" läßt vielmehr den Gesetzesinhalt unberührt. Das Gesetz gilt genau so, wie es ohne die Entscheidung gegolten hätte. Materielle Wirkungen kommen demnach einer solchen Erklärung nicht zu. Aus Gründen materiellen Rechts ist daher eine Gültigerklärung auch nicht erforderlich; das Gericht kann sich auf die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Norm beschränken. Die Wirkungen solcher Entscheidungen können demnach nur prozessualer A r t sein. Ist die „Gültigkeit" eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt, so kommt dieser Entscheidung Bindungswirkung zu. Solange und soweit diese reicht 2 0 5 , kann die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes nicht mehr geltend gemacht werden. Diese Wirkung ist jedoch unabhängig von der Frage, ob das Gesetz für „gültig" oder für „verfassungsgemäß" erklärt wird. Der Ausspruch der Gültigkeit eines Gesetzes ist somit weder aus materiellen noch aus prozessualen Gründen erforderlich. Ist ein Gesetz verfassungsgemäß, so entscheidet das Bundesverfassungsgericht nicht über seine Gültigkeit; es war und bleibt aufgrund seiner Gesetzeseigenschaft gültig. Auch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz geht nicht von einer derartigen Tenorierung aus. So t r i f f t es i n § 13 I I 2, 3 208 204 205

BVerfGE 1, 14, 64; zustimmend Lange, JuS 1978, 6. Dazu IV 3. Dazu IV.

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

BVerfGG ausdrücklich Vorkehrungen für den Fall, daß das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz „als mit dem Grundgesetz vereinbar" erklärt. Für Fälle einer „Gültigerklärung" sind keine Regelungen vorgesehen. Dementsprechend ist die Vereinbarkeitserklärung oder Verfassungsmäßigerklärung und nicht die Gültigerklärung die vom Bundesverfassungsgerichtsgesetz vorgesehene Tenorierung.

IV. Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Die Kontroversen um die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gründen vielfach i n der wenig eindeutigen Terminologie des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Eine Vorschrift über die Rechtskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen existiert nicht. § 311 BVerfGG regelt ihre „Bindungswirkung", § 31 I I BVerfGG ihre „Gesetzeskraft". Das Bundesverfassungsgericht selbst hat i n frühen Entscheidungen zwischen der materiellen Rechtskraft seiner Urteile und Beschlüsse und ihrer Bindungswirkung nach § 311 BVerfGG unterschieden1. Demgegenüber setzt eine jüngere Entscheidung beide Institute gleich 2 . Bedeutung und Tragweite der Begriffe „Rechtskraft", „Bindungswirkung" und „Gesetzeskraft" i m Verfassungsprozeßrecht sind noch keineswegs unumstritten. Daraus resultieren auch die Schwierigkeiten der Bestimmung ihres Verhältnisses zueinander. 1. Die Rechtskraft

I n der Prozeßrechtslehre w i r d unterschieden zwischen der Unwiderruflichkeit, der formellen und der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen 3 . a) Unwiderruflichkeit

und formelle Rechtskraft

Unwiderruflichkeit bedeutet Bindung des erkennenden Gerichts an seine eigenen Entscheidungen. Das Gericht selbst kann Entscheidungen, soweit sie unwiderruflich sind, nicht mehr aufheben oder sonst rückgängig machen. I m Verfassungsprozeßrecht sind unwiderruflich zumindest die verfahrensabschließenden Entscheidungen. Das sind nach § 25 BVerfGG alle Urteile und bestimmte Beschlüsse; ferner daneben Teilund Zwischenentscheidungen unabhängig von der jeweiligen Verfah1

BVerfGE 4, 31, 38; s. auch noch E 20, 56, 86 f. BVerfGE 33, 199, 203. 3 Dazu grundlegend Grunsky, Verfahrensrecht, S. 483 ff.; Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 553 ff. m. w. N.; Sachs, Bindung, S. 140 ff.; zum schweizerischen Recht Strehle, Rechtswirkung, 1980. 2

I V . Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

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rensart. Die Aufhebung einer solchen Entscheidung durch den gleichen Senat des Bundesverfassungsgerichts ist unzulässig 4 . Die Unwiderruflichkeit findet ihre Grenze i n der Möglichkeit der Aufnahme des Verfahrens nach § 61 BVerfGG 6 . Formelle Rechtskraft bedeutet Unanfechtbarkeit einer Entscheidung i m anhängig gewesenen Verfahren 6 , also den Ausschluß der Möglichkeit, eine gerichtliche Entscheidung durch ein Rechtsmittel zu einem anderen Gericht anzugreifen. Gegen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind keine Rechtsmittel gegeben. Weder ist ein übergeordnetes Gericht vorhanden, noch kann die Entscheidung eines Senates durch den anderen 7 oder das Plenum des Gerichts 8 überprüft werden. Ist daher kein Rechtsmittel zulässig, so erlangen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts formelle Rechtskraft i m Zeitpunkt ihres Erlasses 9. b) Materielle Rechtskraft Materielle Rechtskraft bedeutet die Bindung der Beteiligten an das formell rechtskräftige Urteil außerhalb des abgeschlossenen Prozesses, insbesondere i n einem späteren Verfahren. Eine neue Klage mit dem gleichen Streitgegenstand ist daher unzulässig i n einem neuen Verfahren mit abweichendem Streitgegenstand ist das Gericht an das rechtskräftige Ergebnis des früheren Verfahrens gebunden 10 . Voraussetzung für den Eintritt der materiellen Rechtskraft ist, daß die Entscheidung überhaupt einen rechtskraftfähigen Inhalt hat. Dies ist nach den allgemeinen Lehren des Prozeß rechts der Fall, wenn über einen Anspruch des Antragstellers gegen den Antragsgegner entschieden werden kann 1 1 . Materiell rechtskräftig w i r d i m Zivilprozeß die Entscheidung über den mit der Klage erhobenen Anspruch (§ 322 ZPO), i m Verwaltungsprozeß die Entscheidung über den „Streitgegenstand" (§ 121 VwGO). Inwieweit Normenkontrollentscheidungen einen solchen Inhalt auf weisen, ist jedoch wegen der Besonderheiten dieses Verfahrens strittig. 4

Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 583; Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 6. 5 Zu dessen Anwendbarkeit Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 622 f. 6 Grunsky, Verfahrensrecht, S. 485 ff. 7 BVerfGE 1, 89; 7, 17 f. 8 BVerfGE 1, 89 f. 9 Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 7; Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 622 f. 10 Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 584. 11 Dazu Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 484 ff.; zu Einzelheiten Sachs, Bindung, S. 191 f. 15 Gusy

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

Bezweckt die Rechtskraft die Beendigung konkreter Rechtsstreitigkeiten, so dient sie der Herstellung von Rechtssicherheit. Dabei w i r d der Befriedungszweck richterlicher Entscheidungen partiell über das Interesse der Beteiligten an einem richtigen Urteil gestellt. Dieser Vorrang der öffentlichen Belange rechtfertigt sich dadurch, daß die Rechtskraft nur inter partes gilt. Dagegen stehen sich i m Normenkontrollverfahren nicht öffentliche und private Interessen gegenüber; vielmehr seien hier lediglich öffentliche Belange tangiert. Zwar kommen auch hier die Vorteile der Befriedungswirkung der Allgemeinheit zu Gute; demgegenüber fallen ihr jedoch auch die Nachteile unrichtiger Urteile zur Last. Wegen der kleinen Zahl der i n Betracht kommenden Beteiligten sei zugleich die Gefahr einer Wiederholung von Rechtsstreitigkeiten gering 1 2 . Damit würde die Annahme einer materiellen Rechtskraft zu „sinnlosen Korrekturverboten" verfassungsgerichtlicher Entscheidungen führen 1 3 . Diese Auffassung gelangt zur Ablehnung des Gedankens materieller Rechtskraft i m Verfassungsprozeßrecht dadurch, daß sie das Bedürfnis nach materieller Erledigung des Rechtsstreites aus anderen Gründen befriedigt sieht. Ausschlaggebend dafür sei die geringe Zahl potentieller Antragsteller i m Verfahren der abstrakten Normenkontrolle (s. § 76 BVerfGG). Demgegenüber ist jedoch etwa i m Verfahren der konkreten Normenkontrolle die Zahl der Vorlageberechtigten — alle Gerichte — relativ groß. Hier kann jener Gedanke also nicht i n gleicher Weise herangezogen werden. Zudem stehen jene Ausführungen i n einem spezifischen Kontext, i n welchem nicht nur die Frage der Bindungswirkung überhaupt, sondern darüber hinaus der Umfang dieser Bindungswirkung untersucht w i r d 1 4 . Diese Fragestellungen und ihre Beantwortung werden häufig vermengt. Der Gedanke der Rechtssicherheit hat auch i m Verfassungsprozeßrecht durchaus seine Berechtigung 1 5 . Zwar rechtfertigt dies keineswegs die pauschale Übertragung zivilrechtlicher Rechtskraftgrundsätze auf das Bundesverfassungsgerichtsgesetz 16 , jedoch stellen sich auch hier vier Fragenkomplexe: Vermögen gerichtliche Normenkontrollentscheidungen überhaupt solche Bindungen zu begründen, die m i t dem Begriff der „materiellen Rechtskraft" bezeichnet werden können? Bezieht sich eine solche Rechtskraft lediglich auf den Entscheidungstenor oder zugleich auf die Gründe? Für und gegen wen w i r k t diese Rechtskraft? Welches sind die zeitlichen Grenzen dieser Rechtskraft?

12 13 14 15 18

Kriele, Rechtsgewinnung, S. 284 ff. Ähnlich auch Friesenhahn, FS Ambrosini, S. 698. s. die Kapitelüberschriften bei Kriele, Rechtsgewinnung, S. 290, 291. Dazu Lange, JuS 1978, 2. So ansatzweise aber Lange, JuS 1978, 2.

I V . Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

227

Gibt das Bundesverfassungsgericht einem Normenkontrollantrag statt, so erklärt er das angegriffene Gesetz für nichtig oder für verfassungswidrig. Spätestens m i t dem Zeitpunkt der Entscheidung endet die Gültigkeit u n d damit die Anwendbarkeit des Gesetzes. Damit endet zugleich die Möglichkeit, das Gesetz erneut zum Gegenstand eines Kontrollverfahrens zu machen; es k a n n weder selbst angegriffen noch v o n einem Gericht vorgelegt werden. Dadurch w i r d der Rechtsstreit nicht n u r prozessual, sondern zugleich materiell beendet. Seine Wiederholung ist f ü r die Z u k u n f t ausgeschlossen. E i n weiterer Rechtsstreit m i t ähnlichem Gegenstand könnte lediglich dadurch eintreten, daß der Gesetzgeber sogleich nach der Entscheidung eine neue, inhaltsgleiche oder ähnliche Vorschrift erläßt. Z w a r wäre das Verfahren bzgl. deren Verfassungsmäßigkeit nicht mehr dasselbe w i e der erste Prozeß; doch w i r d zur Vermeidung solcher Wiederholungen erwogen, die Bindung der Entscheidung neben dem kassatorischen Gehalt auf das Verbot zu erstrecken, i n der Z u k u n f t eine weitgehend inhaltsgleiche N o r m zu erlassen 17 . Rechtskräftig w i r d danach „diejenige dem Tenor zugrundeliegende Rechtsannahme, die gerade so allgemein formuliert ist, daß sich aus i h r außer der konkret gefällten Entscheidung noch eine übereinstimmende Entscheidung i n gleichartigen Fällen ergibt". „ N u r so" könne verhindert werden, daß der Gesetzgeber, dessen Gesetz für verfassungswidrig erklärt worden ist, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts durch Erlaß einer inhaltsgleichen oder n u r unwesentlich veränderten Voranschrift zu unterlaufen imstande ist. Diese Auffassung n i m m t eine Frontstellung zwischen Legislative u n d Bundesverfassungsgericht an, welche der Bindung aller Staatsgewalt an das Grundgesetz k a u m gerecht w i r d . Geht etwa die Rechtsprechung zum Verwaltungsprozeßrecht davon aus, daß Behörden aufgrund ihrer verfassungsmäßig verankerten B i n d u n g an Gesetz u n d Recht auch den einer Vollstreckung nicht fähigen Ausspruch i n einem Feststellungsu r t e i l befolgen w ü r d e n 1 8 , so ist k e i n G r u n d ersichtlich, w a r u m sich der Gesetzgeber i n vergleichbaren Fällen über seine Verfassungsbindung hinwegsetzen sollte. Die kassatorische Entscheidung bedarf somit keiner Ergänzung u m einen präventiven Verbotsgehalt. Diese Ansicht findet ihren Niederschlag auch i n § 95 I 2 BVerfGG. Danach k a n n das B u n desverfassungsgericht i m Verfassungsbeschwerdeverfahren „zugleich aussprechen", daß auch jede Wiederholung der beanstandeten Maßnahme das Grundgesetz verletzt. Ist dieser Ausspruch für eine Verfahrensart ausdrücklich vorgesehen, so folgt daraus, daß der verfassungsgerichtlichen Kassation nicht i m p l i z i t ein eigener Verbotsgehalt entnommen werden k a n n 1 9 . Sollte einmal ein Verfassungsverstoß des Ge17 18

1*

Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 558 ff., 606 f. BVerwGE 36, 179; weitere Nachweise bei Redeker / v. Oertzen, § 43 Rn. 26.

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

setzgebers konkret zu befürchten sein, könnte eine analoge Anwendung des §9512 BVerfGG auch i n anderen Verfahrensarten i n Betracht kommen. Die Nichtig- oder Verfassungswidrigerklärung entfaltet som i t lediglich i n dem Umfang Bindungswirkungen, als das kassierte Gesetz nicht nochmals Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung sein kann. Weitere Bindungen entfaltet die Entscheidung nicht, insbesondere k o m m t i h r kein präventiver Verbotsgehalt zu, vom Gesetzgeber k a n n erwartet werden, daß er diesen Ausspruch nicht unterläuft. Weist das Bundesverfassungsgericht einen Normenkontrollantrag ab, so erklärt es das angegriffene Gesetz für verfassungsgemäß 20 . Damit w i r d die Vereinbarkeit dieses Gesetzes m i t dem Grundgesetz positiv festgestellt. Die Vorschrift gilt fort u n d ist w e i t e r h i n zu vollziehen, anzuwenden bzw. durchzuführen. Diese Feststellung dient i n besonders hohem Maße der Herstellung von Rechtssicherheit. Das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts wurde gerade eingeführt, u m die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen u n d einer divergierenden Praxis zu vermeiden u n d so das Normenvertrauen zu erhöhen. Der dadurch erzielte Gewinn würde jedoch durch eine „obstinate Wiederholung" des Normenkontrollverfahrens wieder aufs Spiel gesetzt; gefährdet wäre nicht n u r die Funktionsfähigkeit des Gerichts, sondern auch die Handlungsfähigkeit anderer staatlicher Stellen, welche die permanent angegriffene N o r m vollziehen sollen. Die Überprüfung einer Vorschrift auf ihre Verfassungsmäßigkeit i m dafür vorgesehenen Verfahren schafft demnach einen Vertrauenstatbestand, welcher der Entscheidung materielle Bindung verleiht. Eine erneute Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit k a n n n u r durch das Bundesverfassungsgericht i n einem weiteren Normenkontrollverfahren durchgeführt werden. Ob und unter welchen Bedingungen die Einleitung eines solchen Verfahrens i n Betracht kommt, ist ein Problem der Grenzen dieser Bindung 2 1 . Keine Aussage enthält eine Verfassungsmäßigerklärung allerdings über die Vereinbarkeit solcher Normen, welche nicht Entscheidungsgegenstand waren, m i t dem Grundgesetz. Das gilt sowohl für solche Gesetze, die schon während des Verfahrens Gültigkeit besaßen, als auch für „zukünftige gleichartige Vorschriften", welche zu einem späteren Zeitp u n k t erlassen werden 2 2 . Gibt das Bundesverfassungsgericht dem Normenkontrollantrag teilweise statt, so legt es ein Gesetz verfassungskonform aus. Die Ent19 20 21 22

So auch Kriele, Rechtsgewinnung, S. 302 f. Dazu o. I I I 5. s. dazu c). Anders Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 607.

IV. Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

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Scheidung enthält damit zwei Feststellungen. Grundsätzlich ist die angegriffene Vorschrift verfassungsgemäß; sie darf jedoch nur i n bestimmter Weise ausgelegt werden 2 3 . Soweit die Verfassungsmäßigkeit bestätigt wird, gelten die dafür genannten Grundsätze. I m übrigen darf die für verfassungswidrig erklärte Auslegung von dem durch die Entscheidung gebundenen Stellen nicht mehr angewandt werden. Auch hier gelten die Grundsätze der Rechtssicherheit wie bei Verfassungsmäßigerklärungen. Eine erneute Überprüfung ist nach Maßgabe der Grenzen der Bindung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen zulässig 24 . Grundsätzlich enthalten die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts somit Bindungen nicht nur prozessualer, sondern auch materieller Art. Diese können als materielle Rechtskraft bezeichnet werden. Ihr Umfang und ihre Grenzen sind jedoch entsprechend den Besonderheiten des Verfassungsrechts und des Verfassungsprozeßrechts zu bestimmen. c) Umfang und Grenzen der Rechtskraft Diese materielle Rechtskraft umfaßt sachlich die Entscheidungen über den jeweiligen Antrag. Sie ergibt sich aus der Entscheidungsformel. Soweit der Formel allein der Umfang der materiellen Rechtskraft nicht zu entnehmen ist — etwa bei Entscheidungen, die lediglich einen Antrag ablehnen —, können die Gründe zur Auslegung der Formel herangezogen werden 2 5 . Hingegen nehmen die Gründe selbst nicht an der Rechtskraft teil 2 6 . Andernfalls könnte das Ausmaß der Rechtskraft für die Beteiligten nicht mit hinreichender Genauigkeit bestimmt werden, da sich der Antrag an das Gericht nur auf den Entscheidungsgegenstand, nicht aber auf die Gründe bezieht. Damit wäre für die Beteiligten nicht vorhersehbar, was konkret für sie auf dem Spiel steht 27 . Demgegenüber neigt das Bundesverfassungsgericht dazu, insbesondere i n Fällen verfassungskonformer Auslegung i n der Entscheidungsformel auf die Gründe zu verweisen und sie so vollständig einzubeziehen 28 . Derartige „Kopplungsklauseln" sollen die Grundsätze der verfassungskonformen Auslegung des angegriffenen Gesetzes konkretisieren. Tatsächlich vermögen solche Klauseln zwar regelmäßig bestimmte Interpretationen einer Vorschrift auszuschließen, unklar bleibt 23

s. o. I I I 4. s. dazu c). 25 BVerfGE 4, 31, 38; 20, 56, 86 f.; Klein, NJW 1977, 697. 2 « BVerfGE 4, 31, 38; 5, 34, 37; 20, 56, 86 f.; 33, 199, 203. 27 Grunsky, Verfahrensrecht, S. 514. 28 Etwa BVerfGE 30, 1, 3; 83; 33, 52, 53; 303, 305; 36, 1; dagegen und zum

24

folgenden Podlech, DöV 1974, 337 ff. m. w . N.; Wilke / Koch, JZ 1975, 233, 235 f.

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

jedoch häufig, welche Varianten ausgeschlossen sein sollen. Ob das Gesetz i n allen nicht ausdrücklich für unzulässig erklärten Auslegungsalternativen verfassungsgemäß ist oder ob die Entscheidung darüber offen bleiben soll, ergibt sich aus den vorliegenden Entscheidungen dieser A r t häufig nicht. Zudem sind die Gründe ihrerseits derart auslegungsfähig, daß die Frage, welche Auslegungen des Gesetzes noch verfassungsgemäß u n d welche schon verfassungswidrig ist, k a u m eindeutig zu beantworten ist. Der Grund dafür liegt darin, daß das Bundesverfassungsgericht entsprechend seiner Aufgabe eben nicht das einzelne Gesetz mehr oder weniger vollständig auslegt, sondern vielmehr n u r verfassungsrechtliche Interpretationsleitlinien aufstellt. Die normanwendende Instanz muß daher aufgrund der Entscheidungsgründe selbst entscheiden, ob die von i h r gewählte Auslegung m i t dem Grundgesetz vereinbar ist. Uber die Richtigkeit dieser Ansicht entscheidet i m Zweifel erneut das Bundesverfassungsgericht. Der I n h a l t u n d der generelle Umfang der Bindung bleiben dadurch weitgehend offen. Verfassungskonforme Auslegung k a n n somit, soll sie den Adressaten aussagefähige L e i t l i n i e n vermitteln, n u r i n der Weise erfolgen, daß i n der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unzulässige Auslegungsalternative explizit für verfassungswidrig erklärt w i r d . A l l e nicht ausgeschlossenen Varianten bleiben demgegenüber unentschieden. Eine abschließende Entscheidung ist n u r möglich, w e n n lediglich eine einzige Auslegungsalternative verfassungsgemäß sein soll. Diese ist i n der Entscheidung ausdrücklich anzugeben. Sachlich umfaßt die materielle Rechtsk r a f t somit lediglich die Entscheidungsformel. „Entscheidung" ist demnach nicht auch die Begründung 2 9 . Das bedeutet zugleich, daß alle Elemente, welche an der Rechtskraft teilhaben sollen, nach Maßgabe der Tenorierungsvorschriften i n die Entscheidungsformel aufzunehmen sind. Die subjektive Erstreckung der Rechtskraft von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gibt insofern spezifische Probleme auf, als dazu durch § 311 B V e r f G G für die „Bindungswirkung" u n d i n § 31 I I BVerfGG für die „Gesetzeskraft" Sonderregelungen getroffen worden sind. Unbestritten ist, daß die materielle Rechtskraft das Bundesverfassungsgericht i n einem späteren Verfahren über denselben Streitgegenstand bindet. Wenn zwischen denselben Verfahrensbeteiligten derselbe A n t r a g i m Streit ist, darf nicht abweichend entschieden werden 3 0 . Diese Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts u n d die durch sie begründete Gefahr einer Erstarrung der Verfassungsrecht2

» υ. Mutius, VerwA 1976, 403, 410; Sachs, NJW 1979, 344, 345 f.; anders BVerfGE 40, 296, 329. 30 BVerfGE 4, 31, 39; Klein, NJW 1977, 698; Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 597; Maassen, NJW 1975, 1343 ff.; Zuck, NJW 1975, 907 ff.

IV. Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

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sprechung zeigen deutlich, daß einzelfallbezogene Gründe nicht i n Rechtskraft erwachsen können 3 1 . Bezüglich sonstiger Adressaten der Rechtskraft ist nach dem jeweiligen Entscheidungsinhalt zu differenzieren. Hält das Bundesverfassungsgericht eine Vorschrift für verfassungswidrig, so erklärt es sie i m Normenkontrollverfahren für nichtig (§ 78 S. 1, 821 BVerfGG). Diese Nichtigerklärung hat feststellende Wirkung. Sie beendet die Gültigkeit der angegriffenen Vorschrift; diese darf nicht mehr angewandt werden. Die Nichtigkeitsfeststellung geht somit über eine Anwendungssperre für das jeweilige Verfahren hinaus: eine nichtige Vorschrift kann nicht nur inter partes, sondern überhaupt nicht mehr vollzogen, angewandt oder sonst durchgeführt werden. Diese Urteilswirkung t r i f f t Dritte ebenso wie die Beteiligten. Dementsprechend ist es nicht sinnvoll, von einer materiellen Rechtskraft lediglich inter partes auszugehen. Ist die Nichtigkeit einer Vorschrift generell festgestellt, so ist die Entscheidung für und gegen alle rechtskräftig. Insoweit w i r k t die materielle „Rechtskraft" inter omnes. I n den übrigen Fällen bindet die materielle Rechtskraft von Normenkontrollentscheidungen ebenso wie diejenige sonstiger Entscheidungen lediglich die Verfahrensbeteiligten 32 . Mangels eines Antragsgegners ist dies ausschließlich der Antragsteller 8 3 . Demgegenüber w i r d erwogen, i n analoger Anwendung der prozeßrechtlichen Institute der Nebenintervention, der Streitverkündung und der Beiladung die Bindung derartiger Entscheidungen auch auf weitere Organe und Körperschaften auszudehnen 34 . Danach haben die i n §§ 65 II, 69 BVerfGG von jedem anhängigen Verfahren zu unterrichtenden sowie nach §§ 65 I, 69 BVerfGG zum Beitritt berechtigten Verfassungsorgane eine dem Beigeladenen nach § 65 VwGO vergleichbare Stellung. Daher sei eine Erstreckung der materiellen Rechtskraft auf sie gerechtfertigt, sofern sie von der Einleitung des Verfahrens tatsächlich unterrichtet und sofern sie berechtigt waren, dem Verfahren beizutreten. Dieser Ansatz geht selbst davon aus, daß die Bindung solcher Dritter i n anderen Verfahren nicht die Rechtskraft selbst, sondern eine von ihr zu unterscheidende Wirkung sei. Gerade solche Bindungen sind für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts i n § 311 BVerfGG geregelt. Eine Analogie zur Rechtskraft ist demnach kaum erforderlich. Zudem besteht kein zwingender Grund, das Institut der Rechtskraft bei seiner Übertragung auf das Verfassungsprozeßrecht erweiternd auszulegen. W i r d Normenkontrolle als Einzelfallentscheidung verstanden 35 , 31

Lange, JuS 1978, 3. BVerfGE 4, 31, 38; Grunsky, Verfahrensrecht, S. 538, 548; Lange, JuS 1978, 2 m. w. N. 33 Rupp, FS Kern, S. 404. 34 Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 593 f. 32

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4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

so fehlt eine Begründung für die Rechtskrafterstreckung Kreis der Beteiligten hinaus.

über den

Zeitliche Grenzen der Rechtskraft sind das Kernproblem der verfassungsprozessualen Rechtskraftdiskussion. Die Problematik entsteht aus der Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts. Darf bezüglich einer Vorschrift, welche das Gericht früher für verfassungsgemäß erklärt hat, zu einem späteren Zeitpunkt erneut ein Normenkontrollverfahren eingeleitet werden? Darf das Gericht bei einer Norm, die früher verfassungskonform ausgelegt wurde, eine damals für verfassungswidrig erklärte Interpretation später für zulässig erklären? Hier ist die zeitliche Nachwirkung der Rechtskraft von Bedeutung. Keine Bedeutung kommt dieser Fragestellung hingegen für den Fall zu, daß der Gesetzgeber eine früher für nichtig erklärte Vorschrift erneut erläßt. Da über die inhaltsgleiche neue Vorschrift noch nicht entschieden ist, erstreckt sich die Rechtskraft nicht auf sie 36 . Darüber hinaus werden bezüglich der zeitlichen Wirkung der Normenkontrollentscheidungen auch „Vor Wirkung en" diskutiert 3 7 . Für die Legislative sind derartige „Vorwirkungen" rechtlicher A r t nicht feststellbar; der Gesetzgeber ist weder durch erwartbare spätere verfassungsgerichtliche Entscheidungen noch durch deren mögliche Gründe rechtlich gebunden. Die Pflicht zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzentwürfen 38 ist keine Vorwirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, sondern eine Konsequenz der Verfassungsbindung der Legislative aus A r t . 1 I I I , 20 I I I GG. Nichtsdestoweniger kann die Drohung mit dem „Gang nach Karlsruhe" politische Risikoscheu und Innovationsfeindlichkeit fördern. Die einzig mögliche A r t der Begründung von „Vorwirkungen" ist der Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG. Diese kann auch „Vorwirkungen" für die normanwendenden Instanzen i n Exekutive und Justiz begründen. Darüber hinaus besteht für Gerichte keine Pflicht zur Aussetzung anhängiger Verfahren, sofern nicht das Gericht selbst die Norm dem Bundesverfassungsgericht gem. A r t . 100 11 GG zur Prüfung vorgelegt hat 3 9 . Diese Vorschrift hält für Gerichte die Alternative des Anwendungszwanges oder der Aussetzungspflicht i m Vorlagefall bereit. Ein darüber hinausgehendes Aussetzungsrecht existiert demgegenüber nicht, sofern es nicht ausdrücklich gesetzlich vorgesehen ist 4 0 . Für die Exekutive besteht keine 35 38 37

Dazu o. 3. Teil, I I I 2 c). s. o. b). Söhn, Aussetzungspflicht; Skouris,

2569 ff.; Jekewitz, DSt 1980, 535 ff. 38 Dazu Jekewitz, DSt 1980, 540 ff. 39

40

N J W 1975, 713 ff.; Ipsen, N J W 1978,

Pestalozza, JuS 1981, 653; anders Skouris, N J W 1975, 713 ff.

s. etwa § 69 I I FGO.

IV. Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

233

Aussetzungspflicht; die Behörden sind zur Normanwendung verpflichtet, bis eine verbindliche Entscheidung über deren Verfassungswidrigkeit herbeigeführt ist 4 1 . Die zeitlichen Grenzen der nachwirkenden Rechtskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen sind gesetzlich n u r ansatzweise geregelt. Nach §§ 41, 47, 92 BVerfGG kann i n bestimmten Verfahren ein A n t r a g n u r „wiederholt" werden, wenn er auf „neue Tatsachen" gestützt w i r d . „Neu" sind n u r solche Tatsachen, welche erst nach dem Zeitpunkt der ersten Entscheidung eingetreten sind, nicht hingegen auch solche, welche erst nachträglich bekannt w u r d e n 4 2 . Das Bundesverfassungsgericht hat den Charakter des § 41 BVerfGG als allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsatz verneint 4 3 . Normenkontrollentscheidungen ergehen als Einzelfallentscheidungen i n einem bestimmten Moment 4 4 . Sie können also lediglich die Sach- u n d Rechtslage zugrundelegen, welche i n diesem Moment bestand. Demnach kann die Rechtskraft auch lediglich für die im Entscheidungszeitpunkt gegebene Sach- und Rechtslage wirken 45. Wandlungen können sich sowohl bezüglich des Prüfungsmaßstabs als auch bezüglich des Prüfungsobjekts ergeben 46 . Wandlungen des Prüfungsmaßstabs können auf den Prüfungsgegenstand n u r insoweit einwirken, als jener Rechtmäßigkeitsanforderungen an diesen stellt. Insbesondere Verfahrensvorschriften zum Gesetzgebungsverfahren gelten n u r für solche Normen, die unter ihrer Geltung erlassen werden. Älteres Recht w i r d von einem solchen Wandel nicht betroffen. Dagegen erlangt hier jede Verfassungsänderung, welche inhaltliche Anforderungen begründet, ändert oder aufhebt, Bedeutung 4 7 . T r i t t ein solcher Fall ein, so endet die materielle Rechtskraft der früheren Entscheidung. V o n wesentlich größerer praktischer Bedeutung ist allerdings der Wandel ohne förmliche Normänderung, insbesondere durch Neuinterpretation. Dies k a n n zunächst aufgrund von Tatsachenänderungen geschehen. Ob ein Phänomen einen „überragenden öffentlichen Belang" darstellt oder eine N o r m „zu dessen Sicherung erforderlich" ist, hängt häufig von den vorgefundenen tatsächlichen Rahmenbedingungen ab, unter denen sich die Beurteilung vollzieht. Daneben können auch Wandlungen der Verfassungsinterpre41

Zu Einzelheiten Ipsen, NJW 1978, 2570 ff. Maunz u. a., BVerfGG, § 41 Rn. 3 f.; zu den Nachwirkungen differenzierend nach Verfahrensarten Thierfelder, DöV 1968, 271 ff. 43 BVerfGE 20, 56, 88. 44 s. o. 3. Teil, I I I 2. 45 Brox, FS Geiger, S. 821 f.; Wenig, DVB1 1973, 348 f.; im Ansatz auch BVerfGE 33, 199, 203. 46 Zum folgenden Brox, FS Geiger, S. 819 ff.; Sachs, Bindung, S. 330 ff. 47 s. etwa BVerfGE 3, 225 zu Art. 117 I GG. 42

234

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

tation eine solche Inhaltsänderung herbeiführen 4 8 . Die materielle Rechtskraft endet somit, w e n n der Maßstab als Kontrollmaßstab i m konkreten Fall einen wesentlichen Bedeutungswandel erfahren h a t 4 9 . Wandlungen des Prüfungsgegenstandes können gleichfalls durch Rechts- oder Tatsachenänderungen eintreten. Während eine förmliche Gesetzesänderung einen neuen Prüfungsgegenstand begründet, auf welchen sich die Rechtskraft ohnehin nicht erstreckt, so k a n n eine Vorschrift auch durch Änderungen anderer Normen einen neuen, systematisch vermittelten Gehalt bekommen. Das ist etwa der Fall, w e n n zu einer generellen Regelung ein Ausnahmetatbestand aufgehoben w i r d . Tatsächliche Änderungen entstehen insbesondere i n den Fällen, i n welche grundlegende Wandlungen i m Regelungsbereich einer N o r m auftreten, wie es etwa i m Wirtschaftsrecht häufig der F a l l ist. Auch Wandlungen der sozialen oder k u l t u r e l l e n Rahmenbedingungen können einen Wandel b e w i r k e n 5 0 . E i n solcher grundlegender Bedeutungswandel des Prüfungsobjekts kann gleichfalls die materielle Rechtskraft beenden 5 1 . M i t dem Ende der Rechtskraft endet die Bindung der Beteiligten. Eine Vorschrift, die früher für verfassungsmäßig erklärt worden ist, kann erneut zum Gegenstand eines Normenkontrollverfahrens gemacht werden 5 2 . Zudem endet die E r w a r t u n g an den Gesetzgeber, von dem Erlaß inhaltsgleicher Normen Abstand zu nehmen 5 3 . Verfassungsgerichtliche Normenkontrollentscheidungen sind somit grundsätzlich rechtskraftfähig. I n Rechtskraft erwächst lediglich die Entscheidungsformel, die materielle Rechtskraft bindet das Bundesverfassungsgericht selbst; i m übrigen begründet sie nach den Eigenarten der Verfahren W i r k u n g e n inter partes oder inter omnes. E i n zeitbedingter grundlegender Normwandel des Prüfungsmaßstabes oder -gegenständes beendet die Rechtskraft. 2. Die Bindungswirkung gem. § 311 BVerfGG

Gem. § 311 BVerfGG binden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes u n d der Länder sowie alle Behörden u n d Gerichte. Anders als die Rechtskraft ist die B i n dungswirkung k e i n Institut des allgemeinen Prozeßrechts u n d somit 48

s. etwa BVerfGE 33,1 zum „besonderen Gewaltverhältnis". Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 10; Lange, JuS 1978, 3. 50 BGH, NJW 1969, 1818 f. zur „Unzucht". 51 s. etwa BVerfGE 33, 199, 203 f. 52 Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 10; Lange, JuS 1978, S. 3; Klein, NJW 1977, 698. 53 Dazu o. c). 49

IV. Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

235

auch nicht aufgrund einer gefestigten Terminologie zu erklären. Sie ist daher aus den Eigenarten des Verfassungsprozeßrechts zu deuten. Z u r Abgrenzung zwischen Rechtskraft u n d Bindungswirkung werden drei grundsätzlich verschiedene Auffassungen vertreten. Danach ist entweder die Bindungswirkung m i t der Rechtskraft — ggf. unter Erweiterung durch die Gesetzeskraft nach § 31 I I BVerfGG — identisch 5 4 , oder aber die ΒindungsWirkung erweitert die Rechtskraft ausschließlich i n subjektiver Hinsicht 5 5 , oder aber die Bindungswirkung erweitert die Rechtskraft nicht n u r subjektiv, sondern auch i n objektiver Hinsicht 5 6 . Betreffen diese Anforderungen den Umfang der Bindungswirkung, so sind daneben ihre zeitlichen Grenzen zu klären. a)

Bindungswirkung

Die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gilt für alle Sachentscheidungen unabhängig v o n der j e w e i l i gen Verfahrensart. Dies sind solche Entscheidungen nach § 25 BVerfGG, denen der Charakter einer Sachentscheidung zukommt. Die Urteile u n d Beschlüsse müssen demnach einen materiell-rechtlichen Gehalt aufweisen. Lediglich prozessuale Entscheidungen, insbesondere prozeßleitende Verfügungen und Beschlüsse, entfalten diese Bindungswirkung nicht 5 7 . Die Bindungswirkung verbietet ihren Adressaten, von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuweichen. Die Bindung ist i m wesentlichen Tatbestandswirkung. Hingegen ist ihnen nicht untersagt, das Bundesverfassungsgericht erneut m i t einer Rechtsfrage zu befassen, soweit Rechtskraft und Gesetzeskraft dem nicht entgegenstehen 58 . Die Bindungswirkung erstreckt sich i n subjektiver Hinsicht auf den i n § 311 BVerfGG genannten Adressatenkreis. Durch die Entscheidung werden somit nicht n u r die Beteiligten, sondern auch bestimmte Nichtbeteiligte gebunden. Verfassungsorgane des Bundes i. S. d. § 311 BVerfGG sind der Bundespräsident u n d die Bundesversammlung, Bundestag u n d Bundesrat sowie die Bundesregierung. Die Verfassungsorgane der Länder sind nach der jeweiligen Landesverfassung zu bestimmen. Hierzu zählen insbesondere die Volksvertretungen u n d die Regierungen 5 9 . Daneben werden Behörden u n d Gerichte von der B i n 54

55 56 57

58

So Seuffert,

AöR 1979, 169 ff.

So etwa Brox, FS Geiger, 814, 818 f.; Stern in BK, § 94 Rn. 129. Seit Geiger, DRiZ 1951, 173; NJW 1954, 1058 ff. Leibholz / Rupprecht, § 31 Rn. 2; Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 18.

BVerfGE 20, 56, 87; Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 618 f. 69 Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 20; wie allerdings eine Bindung des „Bundesvolkes" als Organ gestaltet sein sollte, ist nicht erkennbar.

236

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

dungswirkung erfaßt. Das gilt unabhängig davon, ob sie vom Bund oder von den Ländern errichtet worden sind. Gebunden sind auch die Gemeinden 60 . Für diese Stellen t r i t t eine ΒindungsWirkung ohne besondere Verkündung oder Bekanntmachung ein. Nicht gebunden ist demgegenüber das Bundesverfassungsgericht selbst. Es kann seine i n früheren Entscheidungen vertretene Rechtsauffassung aufgeben 61 . So hat es die Möglichkeit, seine frühere Ansicht i n einem späteren Verfahren zu korrigieren. Diese fehlende Bindung w i r d i n § 16 I BVerfGG bestätigt. Danach ist jeder Senat berechtigt, von der Auffassung des anderen abzuweichen. Er hat dazu jedoch das Plenum des Gerichts anzurufen. Β indungs Wirkung ist demnach nicht Selbstbindung des Gerichts. Ebensowenig gebunden sind Private, da ihnen kein rechtliches Gehör gem. A r t . 103 I GG gewährt w i r d 6 2 . I n subjektiver Hinsicht unterscheidet sich die Bindungswirkung somit von der Rechtskraft durch die obligate Erstreckung auf Nichtbeteiligte und die fehlende Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts. b) Bindungswirkung

der „tragenden

Gründe"

Sachlich umfaßt die Bindungswirkung jedenfalls den Entscheidungstenor in dem Sinne, welcher sich — bei Bedarf — aus seiner Interpretation aus den Gründen ergibt. Gegenstand vielfältiger Auseinandersetzungen ist hingegen die selbständige Bindungswirkung der Entscheidungsgründe. Binden gem. § 311 BVerfGG „die Entscheidungen", so stellt sich die Frage, ob die „Entscheidung" lediglich durch die Formel oder zusätzlich durch die Gründe 6 3 konstituiert w i r d 6 4 . Das Bundesverfassungsgericht geht i n ständiger Rechtsprechung davon aus, daß nicht nur der Entscheidungstenor, sondern auch die „tragenden Gründe" Bindungswirkung zeitigen 65 . Darüber hinaus wurde bisweilen allen Gründen Bindungswirkung zugesprochen 66 . Diese Erstreckung w i r d damit begründet, daß die Bindung des Tenors allein zur Sicherung des Zwecks der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht ausreiche. Wurde ursprünglich der Bindungswirkung tragender Gründe lediglich ein Wiederholungsverbot bezüglich der kassierten Maßnahmen entnommen 66 , so verselbständigten sich die 60

Zu Details ebd., Rn. 21 f. BVerfGE 4, 31, 38; 20, 56, 87; Lange, JuS 1978, 4 m.w.N. und Begründung. 82 Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 610 m. w. N. 83 Hierfür BVerfGE 40, 296, 329. 64 Zum folgenden Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 576 ff.; Endemann, FS G. Müller, S. 21 ff.; Engelmann, Prozeßgrundsätze, S. 78 ff.; Wischermann, Rechtskraft, S. 40 ff. 85 Seit BVerfGE 1, 14, 37. ·· BVerfGE 36, 36. 61

IV. Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

237

Wirkungen der Gründe von der Entscheidungsformel i m Zuge der weiteren Rechtsprechung. Aus ihnen wurde die Verpflichtung aller Behörden und Gerichte hergeleitet, „die sich aus dem Tenor und den tragenden Gründen ergebenden Grundsätze für die Auslegung der Verfassung i n allen zukünftigen Fällen" zu beachten 67 . Inwieweit eine Entscheidung über das Recht eines Bundeslandes „Konsequenzen" i m Sinne einer Bindung auch für andere Länder zeitigen kann, ist noch nicht abschließend entschieden 68 . Derartige Bindungen würden dann das Gebot der Aufhebung solcher Gesetze, welche den Gründen widersprechen und ggf. des Erlasses verfassungsgemäßen neuen Rechts bedeuten. Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts findet i n der Literatur vielfach Zustimmung, insbesondere unter Richtern des Gerichts selbst 69 . Demgegenüber w i r d die Begrenzung der Bindungswirkung auf den Entscheidungstenor vielfach gesetzessystematisch begründet 7 0 . Nach § 67 S. 3 BVerfGG kann das Gericht i m Organstreitverfahren neben der Entscheidung über den Antrag „die Entscheidung über eine für die Auslegung des Grundgesetzes erhebliche Rechtsfrage" i n den Tenor aufnehmen. Diese auch i n anderen Verfahrensarten anwendbare Vorschrift (s. §§ 69, 72 II, 74 BVerfGG) ermächtigt demnach dazu, durch Aufnahme i n den Tenor einer entscheidungserheblichen Rechtsansicht Rechtskraft und Bindungswirkung zu verleihen. Ferner kann das Bundesverfassungsgericht i m Verfassungsbeschwerdeverfahren nach § 95 12 BVerfGG ein Wiederholungsverbot erlassen und nach § 95 I I I 1 BVerfGG ein Gesetz für nichtig erklären, wenn der Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz stattgegeben worden ist. Diese Vorschriften wären möglicherweise nicht erforderlich, wenn die Entscheidungsgründe Bindungswirkung begründen würden. I n diesem Fall könnte jede Entscheidung Grundsätze der Verfassungsauslegung mit Verbindlichkeit feststellen, Wiederholungsverbote begründen und implizit zumindest die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen feststellen 71 . Eine eigene gesetzliche Anordnung solcher Entscheidungswirkungen wäre i n diesem Fall entbehrlich. Die genannten Vorschriften beschränken jedoch die Anordnungs- oder Feststellungskompetenz nicht auf die „tragenden Gründe"; zumindest partiell könnten so auch obiter dicta, welche zur 67

BVerfGE 19, 377, 392; 40, 88, 93. BVerfGE 40,296,329; für eine Bindung Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 25. 69 Umfassende Nachweise bei Lange, JuS 1978, 4, etwa zu den Richtern: Geiger, Leibholz, Friesenhahn, Rupp, Zweigert; dagegen Hoffmann-Riem, DSt 1974, 335. 70 Etwa von Kriele, Rechtsgewinnung, S. 301 ff.; weitere Nachweise bei Wischermann, Rechtskraft, S. 54 ff. 71 So konsequent die Rechtsfolgenbestimmung bei Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 16, 24. 68

238

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

Entscheidung des Ausgangsfalles nichts beitragen, i n den Tenor aufgenommen werden. Daher sprechen diese Erwägungen nicht zwingend für eine Beschränkung der Bindungswirkung auf den Tenor 7 2 . Die Begrenzung der Bindungswirkung auf den Entscheidungstenor ergibt sich jedoch aus der Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Gefüge der Gewaltenteilung. Entscheidungsgrundlage des Gerichts ist das Grundgesetz. Dieses stellt eine bewußt offene und lückenhafte Rahmenordnung dar 7 3 , welche die Sozialgestaltung i n vielen Bereichen nicht selbst übernahm, sondern den Staatsorganen nach Maßgabe der allgemeinen Kompetenzordnung überantwortet. Regelt das Grundgesetz einen Sachverhalt nicht und w i l l i h n auch nicht regeln, so kann ein an die Verfassung als Legitimationsgrundlage gebundenes Staatsorgan keinesfalls i m Wege der „Interpretation" lückenfüllend tätig werden. Entscheidungsgründe vermitteln die Entscheidung eines Einzelfalles aus abstrakten Normen, i n dem sie das Recht i m Hinblick auf die Regelungsbedürfnisse des vorliegenden Sachverhalts konkretisieren. Sie überbrücken dadurch die K l u f t zwischen abstrakt-genereller Regelung und dem zu beurteilenden Sachverhalt. Aus dieser Dichotomie beziehen die Gründe erst ihre Notwendigkeit. Sie setzen die Trennung von allgemeiner Norm und individualisiertem Sachverhalt voraus; diese soll i n den Gründen nicht aufgehoben werden. Inhaltlich werden die Entscheidungsgründe somit durch zwei Phänomene determiniert: Die Eigenarten des entscheidungserheblichen Einzelfalles und den Inhalt des jeweils anwendbaren Rechts 74. Würden die Gründe mit einem Verbindlichkeitsanspruch über den jeweiligen Fall hinaus ausgestattet, erhielten sie eine von jenen Grundlagen losgelöste Funktion. Ihr Einzelfallbezug würde partiell aufgelöst zugunsten allgemeiner Aussagen zur Verfassungsinterpretation. Unabhängig vom konkreten Prozeßgegenstand erhielten sie abstrakte Gültigkeit; sie wären nicht mehr durch den Einzelfall determiniert und begrenzt. So erhielten sie normative Wirkung; an diese Normen wäre der Gesetzgeber gebunden, jedes A b weichen von Ihnen wäre ein Verstoß gegen die Bindungswirkung der Gründe. Diese würden durch ihren Normcharakter zu einer Verdichtung und Vermehrung der aus dem Grundgesetz herzuleitenden normativen Anforderungen an den Gesetzgeber führen. So nähme das Verfassungsrecht an konkretem Gehalt zu; verfassungsgerichtliche Tätigkeit wäre materiell Rechtsetzung, nämlich Verfassunggebung 75 . 72 Menger, AöR 1955/56, 229; Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 587. 73 3. Teil, I I I 1. 74 Zum Einzelfallbezug der Normenkontrolle s. o. 3. Teil, I I I 2 c). 75 C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 45; Henke, DSt 1964, 449 ff.;

Klein, N J W 1977, 700.

IV. Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

239

Eine derartige Objektivierung der Gründe steht den Anforderungen des Grundgesetzes wie der Funktion der Gründe selbst entgegen. Das Grundgesetz ist bewußt als offene und lückenhafte Ordnung konzipiert. Das gilt nicht nur bezüglich der Materien und Sachverhalte, welche nicht geregelt sind, sondern zudem bezüglich vieler materieller Anforderungen, welche es an die von i h m geregelten Materien stellt. Diese sind häufig weitmaschig und durchaus i n mehr als nur einer Weise erfüllbar 7 6 . Gerade deshalb ist Gesetzgebung auch kein Verfassungsvollzug 7 7 , sondern eigenständige Sozialgestaltung. Eine Zunahme und Verdichtung des Verfassungsrechts durch Entscheidungsgründe stände dieser Interpretation nach gerade entgegen. Dadurch würden der Verfassung Grundsätze „entnommen", welche sie selbst nicht aufgestellt hat und auch gar nicht aufstellen wollte. Damit wäre jedoch die Legitimation des Gerichts durch seine Verfassungsbindung überschritten. Auslegung kann nur so weit reichen, wie die ausgelegte Norm reicht und reichen w i l l . Ist das Gericht lediglich insoweit demokratisch legitimiert, als es seine Entscheidungstätigkeit aus dem Grundgesetz begründen kann 7 8 , so besteht für eine gerichtsförmige Quasi-Verfassunggebung keine Grundlage. Zudem sichert der offene und lückenhafte Charakter des Grundgesetzes erst seine eigene Wirksamkeit. Nicht nur die begrenzte Prognosefähigkeit des Verfassunggebers bedingt die Offenheit einer Konstitution als „Langzeitregelung". Vielmehr eröffnet eine Verfassung, welche auch den Gesetzgeber bindet, durch ihre L ü k kenhaftigkeit erst den demokratischen Prozeß 77 . Entscheidbar und abstimmbar ist überhaupt lediglich das, was nicht bereits vorentschieden und erkennbar ist. So kann das Grundgesetz als Verfassung eines demokratischen Staates überhaupt erst Wirksamkeit erlangen, indem es Freiräume für Gestaltung und Entscheidung läßt. Diese Freiräume entsprechen somit der grundgesetzlichen Intention der Schaffung eines demokratischen Prozesses staatlicher Sozialgestaltung. Ihre Ausfüllung würde unter den Bedingungen des Grundgesetzes diese wechselseitige Bedingtheit von Offenheit der Verfassung und demokratischem Prozeß gefährden. Offenheit und Lückenhaftigkeit der Verfassung sind so keine korrekturbedürftigen Unzulänglichkeiten des Grundgesetzes, sondern Existenzbedingungen demokratischer Herrschaft. Zudem ist das Entscheidungsv erfahr en des Bundesverfassungsgerichts nicht geeignet, die Folgen der Bindungswirkung von Gründen zu verantworten 7 9 . Das Gericht besitzt kein eigenes Initiativrecht 8 0 ; als 76

Zur Dichte s. ο. I. 2. Teil, IV. 78 s. o. 3. Teil, I I I 3 c). 79 Zum folgenden Hoffmann-Riem, DSt 1974, 335, 341 ff.; Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 576 ff. 77

240

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

antragsgebundenes Organ kann es sich mit einer Materie lediglich unter der Voraussetzung befassen, daß es von einem Dritten angerufen wird. So kann es seine eigenen Entscheidungen nur modifizieren oder revidieren, wenn andere einen Rechtsstreit führen. Dadurch würde die Gefahr einer Erstarrung des Verfassungsrechts begründet, welche für eine flexible Praxis kaum noch Raum ließe. Zwar ist Bindungswirkung nicht Selbstbindung des Gerichts; über eine Bindung der potentiellen Antragsteller und das fehlende Initiativrecht des Gerichts würde dieser Effekt jedoch gleichfalls erreicht werden. Eine Korrektur von Entscheidungen wäre fast ausschließlich i m Verfassungsbeschwerdeverfahren oder durch Abweichung von Anträgen i n anderen Verfahren — und dadurch eine Kompetenzüberschreitung des Gerichts — möglich. Wäre dies möglicherweise noch unbedenklich, wenn verfassungsgerichtliche Entscheidungstätigkeit als „Rechtsanwendung" unabhängig von Zeitumständen stets zum gleichen Ergebnis führen müßte 8 1 , so legt gerade diese Voraussetzung für die Verfassungsrechtsprechung noch weniger vor als für die sonstige Gerichtsbarkeit. So nimmt etwa die gegenwärtige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Übermaßverbot und zu den besonderen Gleichheitssätzen vielfach auf Tatsachen oder einfach-gesetzliche Rechtslagen Bezug, u m auf ihrer Grundlage eine bestimmte Verfassungsinterpretation zu begründen. Faktenwandel bedeutet hier zugleich Normwandel. Trotz unveränderten Normtextes sind so zeitbedingte Interpretationsänderungen notwendig, wenn die einmal aufgestellten Grundsätze weiterhin realitätsnah konkretisiert werden sollen. Nehmen die Gründe auf das Verfassungsrecht i n der jeweils gegenwärtigen Realität Bezug, so würde ihre rechtliche Geltung durch spätere Wandlungen der Realität nur nach Maßgabe der zeitlichen Grenzen der Bindungswirkung i n kaum vorhersehbarer Weise beeinflußt. Die Geltung der Gründe würde diese so vom zeitbedingten Verfassungsrecht lösen und möglicherweise die konkrete Verfassung, auf welcher sie basierten, überdauern lassen. Hier würde durch die Geltung der Entscheidungsgründe eine Verfassungsstabilität suggeriert, welche nach der eigenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überhaupt nicht existiert. Dieser Verstoß gegen die grundgesetzlich vorgesehene Zuordnung von Legislative und Verfassungsgerichtsbarkeit führt zugleich zu einer Gefährdung der Funktion der Entscheidungsgründe. Sie dienen dazu, durch Anwendung anerkannter Regeln, die Einzelfallentscheidung auf das Grundgesetz rückführbar zu machen und so der Entscheidung demokratische Legitimation zu verleihen 8 2 . Ihre Aufgabe können sie le80 81 82

3. Teil, I I I 2 a). Dafür wohl Geiger, NJW 1954, 1059. 3. Teil, I I I 3; zum folgenden Eckertz, DSt 1978, 200.

IV. Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

241

diglich unter der Voraussetzung erfüllen, daß die Gründe die Einzelfallentscheidung als aus den Gesetzen hergeleitet ausweisen. Der Fall determiniert die anwendbaren Normen, aber die N o r m determiniert die Entscheidung des Falles. Wenn die Gründe die K l u f t zwischen beiden überbrücken, so muß i m Verhältnis von normativem u n d einzelfallbezogenem Material stets das Gesetz dominieren. Das k a n n jedoch n u r deshalb geschehen, w e i l die abstrakten Bezugspunkte der Dogmatik von der Situation der Einzelfallentscheidung abgehoben sind. Dieses Verhältnis kehrt sich jedoch um, sobald die Entscheidungssituation eine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung erhält. Gerade dieses wäre infolge einer Bindungswirkung der Gründe der Fall. Hier erhielten die jeweiligen Gründe neben der Legitimation der Entscheidung zugleich einen darüber hinausgehenden materiellen Gehalt. Die Folgendiskussion würde so v o m je entscheidungserheblichen Sachverhalt auf die zukünftige Sozialgestaltung ausgedehnt. Die Gründe stünden so nicht mehr i m Dienste einer einzelfallbezogenen Normkonkretisierung, sondern den Einzelfall initiierten, zukunftsorientierten Sozialgestaltung. Weisen die Gründe die aus der Beurteilung von Einzelfällen gewonnenen allgemeinverbindlichen Richtlinien aus, so wandelt sich damit die Bedeutung der Dogmatik. Sie dirigiert nicht mehr die normorientierte Entscheidung, sondern orientiert sich an den Bedürfnissen der am Einzelfall entwickelten Gestaltungsbedürfnisse des Gemeinwesens. Politische Folgendiskussion löst die Rückführung auf das geltende Recht ab. Dadurch entstehen zwei Gefahren. Einerseits vermindert sich die Legitimationskraft der Gründe, da sie nicht mehr lediglich durch Verfassung und Einzelfall, sondern zudem durch weitere Faktoren determiniert werden. Zudem gerät so die Verfassungskonkretisierung durch das Gericht i n den Sog politischer Alltagsbedürfnisse; die Normat i v i t ä t der Verfassung n i m m t ab zugunsten einer Einführung „verfassungsrechtlicher" Grundsätze i n die Tagespolitik 8 3 , wobei diese Grundsätze zumeist erst durch die Entscheidungsgründe v e r m i t t e l t werden. Die Bindungswirkung überfordert so die Gründe u n d schwächt zugleich die Legitimation der Entscheidungen wie die Normativität des Grundgesetzes. Demgegenüber werden für die Bindung der tragenden Gründe, sofern nicht der Einzelfallbezug verfassungsgerichtlicher Entscheidungstätigkeit überhaupt bestritten w i r d 8 4 , insbesondere zwei Aspekte herangezogen. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben danach insbesondere die Funktion, Rechtssicherheit zu schaffen. Sei das Gericht zu 83 84

Beispiel bei Gusy, AöR 1980, 304 f. Dazu 3. Teil, I I I 2 c).

1 Gusy

242

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

„authentischer Verfassungsinterpretation" berufen, so könne es sich nicht darauf beschränken, die gestörte Rechtsordnung i m Einzelfall wiederherzustellen. Vielmehr müsse es für die Zukunft befriedend w i r ken, rechtliche Klarheit schaffen, Wiederholung gleichartiger Streitigkeiten verhindern und Streitstoff beseitigen. Daraus folge die Notwendigkeit der Bindungswirkung tragender Gründe 8 5 . Soweit die Wiederholungsgefahr herangezogen wird, so ist diese durch die Rechtskraft bereits weitgehend ausgeschlossen86. Das gilt wegen der subjektiven Erstreckung der Bindungswirkung 8 7 auch für Parallelverfahren. Die Rechtssicherheit w i r d demgegenüber durch die Bindungswirkung tragender Gründe kaum erhöht 8 8 . Vielfach bleibt angesichts der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts offen, was überhaupt ein „tragender" und damit „bindender" Grund ist. Zudem sind die tatsächlichen Grundlagen der Geltung eines Grundes offen. Je dichter das Verfassungsrecht durch rechtlich bindende Gründe wird, desto dringender w i r d die Notwendigkeit, praktische Bedürfnisse durch eine flexible Ausgestaltung der Rechtsprechung zu befriedigen. Das kann allerdings i m Falle rechtlicher Bindungswirkung der Gründe lediglich durch eine flexible Zuordnung „tragender" und sonstiger Gründe oder aber durch vielfältige Änderungen früherer Rechtsprechung geschehen. Entscheidungen des Gerichts würden praktisch unkalkulierbar 8 9 . Die Rechtssicherheit w i r d demnach durch die Bindung an „tragende Gründe" kaum gefördert. Daneben w i r d auf Art. 100 III GG verwiesen. Danach dürfen Landesverfassungsgerichte „bei der Auslegung des Grundgesetzes" nicht von früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts abweichen; sie sind i n einem solchen Fall vorlagepflichtig. Diese Regelung sei keine Ausnahmevorschrift zu Lasten der Landesverfassungsgerichte, sondern zu ihren Gunsten. Grundsätzlich sei kein Grund erkennbar, warum ausschließlich Landesverfassungsgerichte an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebunden sein sollen. Vielmehr seien nur sie zur Vorlage berechtigt; alle anderen Gerichte seien vielmehr stets an die Grundgesetzinterpretation durch das Bundesverfassungsgericht gebunden 90 . Das Institut der Vorlagepflicht ist dem Prozeßrecht nicht unbekannt 9 1 ; es gibt jedoch keine allgemeine Vorlagepflicht von Gerich85

86

Geiger, N J W 1954, 1058; Lange, JuS 1978, 5 m. w.N.

s. ο. 1 b). 87 s. o. 2 a). 88 Eckertz, DSt 1978, 188. 89 s. etwa BVerfGE 42, 143 ff. einerseits; 42, 163 ff. andererseits. 90 Geiger, NJW 1954, 1058; dagegen Wischermann, Rechtskraft, S. 76 f. m. w. N. 91 s. etwa § 121 I I StPO, § 79 I I GBO.

I V . Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

243

ten unterer an solche höherer Instanzen. Die unteren Gerichte sind an die Beurteilung von Rechtsfragen durch vorgeordnete Instanzen rechtlich nicht gebunden. Sie können von ihr abweichen, wobei der Instanzenzug die Einheit der Rechtsprechung wahren kann, indem das höhere Gericht die Abweichung kassiert oder bestätigt. Eine allgemeine Bindungswirkung der Rechtsauslegung von Obergerichten ist dem geltenden Prozeßrecht fremd. Weicht ein Gericht bei der Beurteilung einer Frage des Verfassungsrechts von einer früheren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ab, so kann dieses die Abweichung auf Antrag überprüfen. Die Einheit der Rechtsprechung w i r d so nicht durch Bindungswirkung, sondern durch Rechtsmittel und Instanzen sichergestellt 9 2 . Demgegenüber dienen Vorlagepflichten dem Zweck, i n Fällen fehlender Instanzenzüge die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu sichern. So verhindert etwa § 121 I I StPO Rechtsprechungsdivergenzen zwischen den Revisionsinstanzen i n Strafsachen. Ebenso besteht kein Instanzenzug zwischen den Landesverfassungsgerichten und dem Bundesverfassungsgericht, da gegen deren Entscheidungen kein Rechtsweg offensteht. Hier ersetzt die Bindungswirkung des A r t . 100 I I I GG die fehlende Möglichkeit der Herstellung einheitlicher Verfassungsauslegung durch Rechtsmittel. Die Nachteile einer ΒindungsWirkung der Gründe werden auch nicht durch eine Beschränkung dieser Wirkung auf „tragende Gründe", wie sie das Bundesverfassungsgericht häufig vornimmt, vermieden 9 3 . „Tragende Gründe" sind danach Gründe, welche aus der Deduktion des Gerichts nicht hinwegzudenken sind 9 4 . Dabei werden gelegentlich die Leitsätze als Anhaltspunkt herangezogen 95 . Bislang hat sich jedoch eine trennscharfe Abgrenzung zwischen „tragenden" und sonstigen Gründen nicht durchführen lassen. Das Bundesverfassungsgericht neigt vielmehr dazu, seine Entscheidungen unter den verschiedensten Aspekten zu begründen und auf Rechtsausführungen der Beteiligten einzugehen. „Tragende" Teile der Begründung lassen sich dabei von sonstigen kaum unterscheiden 9e. Damit schwindet die Möglichkeit, Rechtssicherheit über das Maß von Bindung und Freiheit zu erzielen, welches einer Entscheidung zukommt. So entsteht die Gefahr, daß nicht das Bundesverfassungsgericht als bindender, sondern die Gebundenen selbst mangels Erkennbarkeit des normativen Gebotes über den Umfang ihrer Bindung entscheiden 97 . Soweit das Bundesverfassungsgericht selbst über 92

93 94

95 98 97

16*

Seuffert,

AöR 1979, 184.

Seit BVerfGE 1, 14, 37. Geiger, NJW 1954, 1060.

Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 12. Lechner, NJW 1956, 445; Hoffmann-Riem, BGH, NJW 1954, 1074.

DSt 1974, 349.

244

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

den Umfang der Bindungswirkung entschieden hat, hat es bisweilen über den Tenor alle Gründe einbezogen 98 . Danach sind alle Ausführungen der Begründung, auch soweit sie sich nicht auf den Gegenstand des Verfahrens beziehen, notwendig und daher „tragend". Gegen eine solche Praxis entstehen dieselben Bedenken wie bei der Erstreckung der Rechtskraft auf alle Gründe 9 9 . Auch die Beschränkung der Bindungsw i r k u n g auf einige Gründe erweist sich somit als unzureichend, u m die Nachteile einer derartigen Wirkung zu beheben 100 . Demnach können den Gründen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen keine rechtlichen Bindungen zukommen; sie sind auf die Bedeutung als Legitimationsgrundlage der Einzelfallentscheidung beschränkt 101 . Die Ablehnung der rechtlichen Bindungswirkung der Entscheidungsgründe bedeutet jedoch noch nicht, daß diesem keinerlei gestaltende Relevanz zukommt. Die rechtliche Verbindlichkeit kann nicht von den tatsächlichen Wirkungen isoliert werden 1 0 2 . Gerichte und Behörden pflegen sich häufig nach übergeordneten Stellen zu richten. Das ist unabhängig davon, ob sie dazu rechtlich verpflichtet sind oder nicht. Motive dafür sind das Streben nach Verhaltenssicherheit, Argumentationsentlastung und die dadurch bedingte Vermeidung kognitiver Dissonanz. Dabei ist es weitgehend unerheblich, ob auf eine frühere Entscheidung, ihrem Tenor oder ihren Gründen nach zurückgegriffen wird. Ausschlaggebend dafür können sowohl die Überzeugungskraft jener Gründe als auch die antizipierte Kassationserwartung unterer Instanzen für den Fall sein, daß sie einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zuwiderhandeln. Gerade diese instanzielle Absicherung verleiht Entscheidungen derjenigen Gerichte, welche i n der Lage sind, Entscheidungen niederer Instanzen oder von Behörden zu überprüfen und ggf. ihrer eigenen Anschauung anzupassen, eine erhöhte Bedeutung. Sie erlangen eine „Richtigkeitsvermutung" oder positive Verbindlichkeit als Präjudiz 103. Von diesen Mechanismen, welche normativer Kraft faktisch gleichkommen, profitieren auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Eine Abweichung ist faktisch nur unter der Bedingung besserer Begründung aussichtsreich; weicht eine Instanz von einem höchstrichterlichen Präjudiz ab, so trifft sie folglich eine beson98 99 100 101

s. etwa BVerfGE 36, 1 ff. s. ο. 1 b), c). Wischermann t Rechtskraft, S. 93 ff. m. w. N. Seuffert, AöR 1979, 169 ff.; Nachweise bei Wischermann,

41; Lange, JuS 1978, 4; Engelmann, 102

Prozeßgrundsätze, S. 7 ff.

Rechtskraft, S.

Zum folgenden Hoffmann-Riem, DSt 1974,339 f.; Rethorn, Kodifikationsgerechte Rechtsprechung, S. 109 ff. los Für eine solche Wirkung der Gründe verfassungsgerichtlicher Entscheidungen Kriele, Rechtsgewinnung, S. 299 ff.

IV. Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

245

dere Begründungslast 104 . Dies ist kein spezifisches Problem der Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, sondern von Organisation und Hierarchie i n formalisierten Instanzenzügen allgemein. Der Unterschied zwischen den rechtlichen und tatsächlichen Bindungswirkungen liegt überwiegend darin, daß eine Abweichung von früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht mit dem „Makel des Rechtsbruchs" behaftet ist 1 0 5 . Hingegen ist die Intensität faktischer Bindung kaum geringer als diejenige normativer Determinierung. c) Grenzen der Bindungswirkung Den zeitlichen Grenzen der Bindungswirkung kommt insbesondere unter der Voraussetzung Bedeutung zu, daß den Entscheidungsgründen rechtliche Wirkungen zugesprochen werden. Diese Grenzen werden ähnlich beurteilt wie diejenigen der materiellen Rechtskraft. Die Bindung entfällt, soweit sich Tatsachen oder allgemeine Rechtsanschauungen, welche einer Entscheidung oder einem ihrer Elemente zugrundeliegen, i m Zeitablauf i n maßgeblicher Weise ändern. Der Grund dafür liegt darin, daß die Entscheidungsgründe sich nur auf die tatsächliche und rechtliche Situation beziehen können, welche der Entscheidung zugrunde liegt 1 0 6 . Nur auf diese Weise kann demnach eine Innovation der Verfassungsrechtsprechung herbeigeführt werden. Die Entscheidung darüber, ob erhebliche Tatsachen- oder Rechtsänderungen eingetreten sind, obliegt letztverbindlich dem Bundesverfassungsgericht. Andere Stellen, welche etwa von früheren Entscheidungen des Gerichts abweichen, tragen das Risiko einer möglichen Aufhebung ihrer Maßnahmen. Sofern den Entscheidungsgründen lediglich faktische Wirkungen zugesprochen werden, gelten jene Grundsätze nur für die Bindung an den Entscheidungstenor. I m übrigen relativiert sich das Problem. Je älter ein Präjudiz ist, je vielfältiger sich die Verhältnisse i n der Zwischenzeit gewandelt haben und je erheblicher der spätere Sachverhalt von dem früheren abweicht, desto geringer ist die Bindung. Ein Zeitpunkt, zu welchem eine normative Direktive „außer Kraft t r i t t " , ist so nicht erforderlich. Die Entscheidungsbefolgung kann sich so flexibler gestalten. Insgesamt kommt somit rechtliche Bindungswirkung nur dem Entscheidungstenor zu; die Gründe binden lediglich faktisch. Adressaten dieser Wirkung sind alle i m § 311 BVerfGG genannten Stellen. Die Bindungswirkung unterscheidet sich von der materiellen Rechtskraft somit überwiegend durch deren subjektive Erstreckung. 104

Ebd., S. 286 ff.; ähnlich aus sozialwissenschaftlicher Sicht Lautmann, Die stille Gewalt, S. 98 ff. 105 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 245. 106

Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 27; Lange, JuS 1978, 5 f.

246

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

3. Die Gesetzeskraft nach § 3 1 Π BVerfGG

Gem. § 31 I I BVerfGG k o m m t bestimmten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts „Gesetzeskraft" zu. Dies sind solche Entscheidungen, welche über die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Normen befinden. Dazu zählen die abstrakte u n d konkrete Normenkontrolle, Entscheidungen i m Verfassungsbeschwerdeverfahren, w e n n das Gericht gem. § 95 I I I B V e r f G G über die Verfassungsmäßigkeit einer N o r m judiziert, sonstige Richtervorlagen gem. A r t . 100 I I GG u n d Entscheidungen über die Fortgeltung von Gesetzen als Bundesrecht (Art. 126 GG). Die Aufzählung ist abschließend 107 . Gesetzeskraft erlangen n u r die Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes selbst. Nicht hierzu zählen insbesondere einstweilige Anordnungen gem. § 32 BVerfGG u n d Vollstreckungsanordnungen gem. § 35 BVerfGG. Demgegenüber ist es für die Gesetzeskraft unerheblich, ob die Entscheidung gem. § 25 BVerfGG als U r t e i l oder Beschluß, als Teil- oder Zwischenentscheidung ergeht, sofern sie einen gesetzeskraftfähigen Inhalt hat. a) Die objektive

Wirkung

der Gesetzeskraft

Gesetzeskraft ist eine Durchbrechung des Gewaltenteilungsgrundsatzes, welche i n A r t . 94 I I 1 GG ausdrücklich vorgesehen ist. § 31 I I BVerfGG stellt die Ausfüllung dieser Ermächtigung dar. Die Bedeutung der „Gesetzeskraft" ist nicht identisch m i t der „Gesetzeseigenschaft". Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist k e i n Gesetz; sie ist gesetzähnlich, bleibt aber U r t e i l 1 0 8 . Dieses ist weder Gesetz i m formellen noch i m materiellen Sinne. Die Terminologie „Gesetzesk r a f t " stammt aus der Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit, nach w e l cher die Entscheidung über die Gültigkeit eines Gesetzes notwendig die K r a f t eines Gesetzes haben müsse 1 0 9 . Folge jener „Gesetzesähnlichkeit" ist, daß die Entscheidung selbst nicht Gegenstand der Normenkontrolle oder einer Verfassungsbeschwerde sein kann; infolge ihrer formellen Rechtskraft ist sie i n keinem Verfahren überprüfbar. Zudem k a n n der Gesetzgeber eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht wie ein Gesetz aufheben. Wenig geklärt sind die Wirkungen der gesetzeskräftigen Entscheidung. Sofern als sicher angenommen w i r d , daß die Gesetzeskraft eine Steigerung der Bindung an die Entscheidung sowohl gegenüber der 107

Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn 32; s. auch Stern, BK Art. 94 Rn. 128. Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 28 m. w. N. 109 Überblick bei Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 612 f.; Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 39 f.; Schiaich, VVDStRL 39, 127 ff. 108

IV. Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

247

materiellen Rechtskraft als auch gegenüber der Bindungswirkung nach § 311 BVerfGG begründet 1 1 0 , bleibt unklar, worin diese Steigerung liegen soll. Bindung bedeutet Befolgungsanspruch mit Ge- oder Verbotscharakter. Wer gebunden ist, ist verpflichtet, die Entscheidung zu befolgen. Eine gesteigerte oder weniger gesteigerte Bindung i n dem Sinne, daß die Entscheidung mehr oder weniger zu befolgen wäre, existiert nicht. Alle gebundenen Staatsorgane oder Körperschaften sind verpflichtet, die m i t Rechtskraft oder Bindungswirkung ausgestatteten Entscheidungen des Gerichts i n vollem Umfang zu befolgen. Eine „Steigerung" dieser Bindung ist nicht möglich. „Gesteigert" kann die Bindung lediglich sein, wenn sie i n objektiver oder subjektiver Hinsicht die Konsequenzen der Rechtskraft oder Bindungswirkung erweitert. Erlangen also zusätzliche Teile der Entscheidung verpflichtenden Charakter oder sind weitere Organe oder Personen gebunden, so kann die Gesetzeskraft die Bindung ausdehnen, aber nicht „steigern". Objektiv erlangt die Entscheidungsformel Gesetzeskraft 111 . Diese Formel ist i m Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen (§ 31 I I 3 BVerfGG). Demgegenüber nehmen die Gründe nicht an der Gesetzeskraft teil. Auch für die Ermittlung des Inhalts der m i t dieser Wirkung ergehenden Entscheidungsformel sind die Gründe heranzuziehen. Diese können jedoch die Formel i m Wege der Auslegung stets nur ergänzen, nicht hingegen ersetzen. Der Umfang der Auslegungsmöglichkeiten w i r d somit durch den Text des Tenors begrenzt; was i n i h m keinen Ausdruck gefunden hat, kann i h m auch nicht „entnommen" werden. Probleme entstehen dabei häufig i n Fällen verfassungskonformer Auslegung. Enthält die doppelte Aussage, daß einerseits ein Gesetz verfassungsgemäß ist, andererseits jedoch bestimmte Interpretationsalternativen verfassungswidrig sind, so sind beide Elemente i n den Tenor aufzunehmen. Sofern«die zweite Aussage nicht i n der Formel erscheint, kann sie keine Gesetzeskraft erlangen 1 1 2 . Insbesondere reicht die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes i m Tenor und die verfassungskonforme Auslegung i n den Gründen nicht für eine Erstreckung der Gesetzeskraft auf beide Anordnungen aus 113 . Eine „Auslegung" zu jener Formel durch diese Gründe ist schon deshalb nicht möglich, weil i n ihr die verfassungskonforme Interpretation keinen Niederschlag gefunden hat. Die Kopplung von Gesetzeskraft der Entscheidungsformel und ihrer Publikation i m Bundesgesetzblatt verfolgt gerade den Zweck, die 110 111

Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 28; Maunz in MDHS, Art. 31 Rn. 9. Stern in.BK, Art. 94 Rn. 128 m. w. N.; Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 34;

Hoffmann-Riem,

DSt 1974, 338; Sachs, Bindung, S. 315 f.; Lange, JuS 1978, 7

m. w. N. 112 So auch v. Mutius, VerwA 1974, 407 ff. 118

Sachs, N J W 1979, 344, 348; so aber Lange, JuS 1978, 7,

248

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

Publizität gesetzeskräftigen Entscheidungsinhaltes zu sichern. Nur so kann dem Gesetzblatt jeweils das maßgebliche Gesetzesrecht entnommen werden. Sind aus den Gründen i n den publizierten Tenor weitere Anordnungen hineinzuinterpretieren, so überschreitet dieses Vorgehen nicht nur die Beschränkung der Gesetzeskraft auf die Formel, sondern beeinträchtigt zudem Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Der Tenor der Verfassungsmäßigerklärung und der verfassungskonformen Auslegung, also zweier unterschiedlicher Entscheidungsformen würde sich i n jenem Falle weitgehend identisch gestalten. Zudem w i r d aus den Gründen nicht stets eindeutig herleitbar, welche Interpretation vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig ausgeschlossen werden sollte. Hier kann lediglich eine Aufnahme i n die Formel Rechtssicherheit und die notwendige Publizität bezüglich des jeweils geltenden Gesetzesrechts schaffen. Demnach sind grundsätzlich alle Elemente der Entscheidung, die Gesetzeskraft erlangen sollen, i m Tenor aufzunehmen. Eine Auslegung durch die Gründe kommt nur insoweit i n Betracht, als der Text des Tenors diese zuläßt. Sein Wortlaut ist Grundlage und Grenze der Auslegung. Die Wirkungen der gesetzeskräftigen Entscheidungsformel bestimmen sich nach ihrem jeweiligen Inhalt. § 31 I I 2, 3 BVerfGG geht davon aus, daß der Gesetzeskraft Entscheidungen zukommt, welche ein Gesetz „als mit dem Grundgesetz vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig" erklären. Wird ein Gesetz für nichtig erklärt, so kassiert dieser Ausspruch die Vorschrift unmittelbar. Der gesetzeskräftige Tenor stellt dies mit W i r kung für und gegen alle fest; er w i r k t wie ein Gesetz, welches die Verfassungswidrigkeit feststellen würde 1 1 4 . Die Entscheidung ist hier actus contrarius zum Gesetzeserlaß; diejenigen Wirkungen, welche der Erlaß des Gesetzes begründete, werden durch die Nichtigerklärung beseitigt. Das gilt unabhängig davon, ob ein verfassungswidriges Gesetz als ex tunc nichtig oder ex nunc vernichtbar angesehen wird; nach beiden Auffassungen ist die Kassation durch das Bundesverfassungsgericht notwendige Bedingung der Anwendungs- und Vollzugsbeendigung des Gesetzes. Für die Zukunft kommt dem Gesetz keinerlei W i r k u n g mehr zu; insofern unterscheidet sich die Nichtigerklärung nicht von der Aufhebung durch die Legislative. Hier zeigt sich die „abbauende W i r kung" der Gesetzeskraft; das Bundesverfassungsgericht ist hier nicht Gesetzgeber, sondern „Gesetzesvernichter" 115 . Diese Wirkungen der Entscheidung treten jedoch unabhängig von der Gesetzeskraft und bereits aufgrund der Tatbestandswirkung der Entscheidung durch deren Rechtskraft bzw. Bindungswirkung ein. 114

Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 613. Ebd., S. 614 m, w. N.

IV. Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

249

Sofern i m Tenor ein Gesetz für verfassungsmäßig erklärt wird, berührt dieser Ausspruch die Geltung der Norm nicht. Das Gesetz w i r k t genau i n der Weise fort, i n welcher es bereits zuvor gegolten hat. Es w i r d auch nicht unaufhebbar; der Gesetzgeber kann es durch neues Recht ersetzen oder aufheben, sofern nicht ein Gesetz gerade dieses Inhalts ausnahmsweise durch das Grundgesetz zwingend geboten ist 1 1 6 . Auch bedeutet die Verfassungsmäßigerklärung keinen gesetzlichen Ausschluß weiterer Überprüfungen desselben Gesetzes. Vielmehr bezieht sich schon die gesetzeskräftige Verfassungsmäßigerklärung i m Normenkontrollverfahren nur auf das Normverständnis und die A n wendungsbereiche, welche das Bundesverfassungsgericht bei seiner Prüfung i n Betracht gezogen hat. Andere Anwendungsmöglichkeiten werden von ihr nicht erfaßt 1 1 7 . Die objektive Wirkung der Gesetzeskraft solcher Entscheidungen geht somit nicht über deren Rechtskraft und Bindungswirkung hinaus 1 1 8 . Wird ein Gesetz verfassungskonform ausgelegt, so sind Elemente der Verfassungswidrig- und der Verfassungsmäßigerklärung kombiniert. Alle Gerichte und Behörden sind verpflichtet, die für verfassungswidrig erklärte Auslegungsvariante nicht mehr anzuwenden oder ihren Maßnahmen zugrundezulegen. Insgesamt w i r d der Anwendungsbereich des Gesetzes eingeschränkt, es t r i t t faktisch partiell außer Kraft. Soweit es hingegen verfassungsgemäß ist, bleibt seine Geltung unberührt. Beide Wirkungen treten jedoch bereits durch die Rechtskraft und die Bindungswirkung ein 1 1 9 . I n objektiver Hinsicht unterscheidet sich die Gesetzeskraft somit auch insoweit nicht von jenen Wirkungen. Materiell begründet somit die Gesetzeskraft keine zusätzlichen Wirkungen, welche nicht bereits durch Rechtskraft oder Bindungswirkung eingetreten wären. Bedeutung kommt der Gesetzeskraft lediglich insoweit zu, als gesetzeskräftige Entscheidungen i m Bundesgesetzblatt publiziert werden. Sofern eine Norm kassiert oder verfassungskonform ausgelegt wird, ist somit die gesetzliche Rechtslage stets dem Gesetzblatt zu entnehmen. Die Ranghöhe der gesetzeskräftigen Entscheidung i n der Normenhierarchie orientiert sich am Prüfungsgegenstand und nicht am Prüfungsmaßstab. Urteile und Beschlüsse nehmen — i m Gegensatz zu früheren Ansichten 1 2 0 — keinen Verfassungsrang ein. Dem116

Ebd., S. 613 m. w. N. BVerfGE 22, 387, 404 ff.; s. auch E 26, 44, 56. 118 Sofern daraus der Schluß gezogen wird, derartigen Entscheidungen komme keine Gesetzeskraft zu (etwa Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 611 ff.), so widerspricht dieses dem Wortlaut des § 31 I I BVerfGG, trägt jedoch dem tatsächlichen Befund Rechnung. 119 s. o. 1 b), 2 b). 120 Überblick bei Schiaich, VVDStRL 39, 127 ff. 117

250

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

nach orientiert sich die Ranghöhe am jeweiligen Rang der kontrollierten Norm 1 2 1 . Die Kassation des angegriffenen Gesetzes kann stets durch einen späteren A k t gleicher Ranghöhe erfolgen; hierzu ist ein übergesetzlicher Rang der Entscheidung nicht erforderlich. Zwar steht die Gesetzeskraft nicht dem Erlaß eines späteren gleichlautenden Gesetzes entgegen 122 ; ein solches „Wiederholungsverbot" enthält jedoch bereits die Rechtskraft der Entscheidung 123 . Die objektiven Wirkungen der Gesetzeskraft reichen somit nicht über Rechtskraft und Bindungswirkung hinaus. I h r Rang ist derjenige des Kontrollobjekts; ein höherer Rang ist nicht erforderlich. Wesentlichste eigenständige Wirkung ist die Publikationspflicht i m Bundesgesetzblatt. b) Die subjektive

Wirkung der Gesetzeskraft

Die zentrale Bedeutung der Gesetzeskraft w i r d i n ihrer subjektiven Wirkung gesehen. Danach erstreckt sich die Bindung der rechtskräftigen Entscheidungen noch über den Rahmen des § 311 BVerfGG hinaus. Da „die Kraft der Gesetze darin bestehe, daß sie allgemein gegenüber dem Bürger verbindlich" seien, begründe die Gesetzeskraft eine interomnes-Bindung und damit eine gesetzeseigentümliche Allgemeinverbindlichkeit 1 2 4 . Der Bürger muß daher ebenso wie jedes Staatsorgan die Nichtanwendung des für nichtig und die Anwendung des für verfassungsgemäß erklärten Gesetzes hinnehmen. Er kann keine abweichende Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des jeweiligen Gesetzes mehr beanspruchen. Demnach hindert die Gesetzeskraft Bürger und staatliche Instanzen an einer erneuten Anrufung des Bundesverfassungsgerichts 126 . Begründet w i r d dies m i t der Allgemeinheit des Gesetzes, welches bei seiner Anwendung und seinem Vollzug auf ein hohes Maß an Gleichheit und Gleichmäßigkeit angewiesen sei. Diese Gleichheit werde allerdings durch einander widersprechende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gefährdet. Daher müßten nicht nur alle Staatsorgane bei der Anrufung des Gerichts, sondern auch dieses selbst bei der Entscheidung an das gesetzeskräftige Präjudiz gebunden sein 1 2 6 . Deutlich w i r d dies für den Teil der Nichtigerklärung. Sie kassiert das Gesetz unmittelbar; es t r i t t mit der Entscheidung außer Kraft. Damit 121

122

Stern i n B K , A r t . 94 Rn. 128; Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 35.

Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 613; anders Stern in BK, Art. 94 Rn. 128. 123 s. ο. 1 b). 124

125

Lange, JuS 1978, 6 m. w . N.

BVerfGE 33, 199, 203 f.; 39, 169, 181 f. Lange, JuS 1978, 7; ähnlich Brox, FS Geiger, S. 817; Sachs, Bindung, S. 330. 126

IV. Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

251

verliert es seine Wirkung nicht nur inter partes; vielmehr darf keine staatliche Stelle und kein Bürger mehr Ansprüche aus der für nichtig erklärten Norm geltend machen. Diese Nichtigerklärung w i r k t so inter omnes; die Verbindlichkeit w i r k t für und gegen alle. Die Gesetzeskraft sichert mit der i n ihr angelegten Publikationspflicht die Kenntnismöglichkeit von der Entscheidung und damit Rechtsklarheit und Rechtssicherheit 127 . Hingegen ist die Bedeutung der Gesetzeskraft bei bestätigenden Entscheidungen, also der Verfassungsmäßigerklärung und der verfassungskonformen Auslegung, umstritten. Soweit die verfassungskonforme Auslegung bestimmte Interpretationsalternativen für verfassungswidrig erklärt, gelten die Grundsätze der Nichtigerklärung. Die bestätigenden Entscheidungen unterscheiden sich der Wirkung nach von der Kassation dadurch, daß sie die grundsätzliche Geltung des angegriffenen Gesetzes unberührt lassen. Die gesetzeskräftige Entscheidung soll jedoch darüber hinausgehen, nämlich einen allgemeinen Ausschluß weiterer Überprüfungen des jeweiligen Gesetzes bewirken. Rechtstechnisch kann dies auf zweifache Weise geschehen. Entweder bestätigt die Verfassungsmäßigerklärung die Geltung des angegriffenen Gesetzes und fügt ihr ein weiteres Gebot hinzu, nämlich die Pflicht aller Bürger und staatlichen Stellen, die Einleitung weiterer Normenkontrollverfahren zu unterlassen. I n diesem Fall würde die Gesetzeskraft das Recht zur Anrufung des Bundesverfassungsgerichts einschränken. Oder aber die Entscheidung sperrt nicht auf diese formell-verfahrensmäßige Weise, sondern stellt unabhängig von der materiellen Rechtslage authentisch die Vereinbarkeit des Gesetzes mit dem Grundgesetz fest. Die erste Alternative ließe somit i m Falle einer falschen Entscheidung die Verfassungswidrigkeit unberührt, sperrte aber deren Nachprüfbarkeit; die zweite Alternative würde die Verfassungsmäßigkeit durch einen Spruch des Bundesverfassungsgerichts notfalls herstellen 1 2 8 . Die Entstehungsgeschichte kann unter diesen Alternativen nur die letztere begründen. Entschied der Staatsgerichtshof nach A r t . 13 I I WRV über die Vereinbarkeit von Landesrecht mit Reichsrecht „mit Gesetzeskraft" (§ 3 I I I Ausführungsgesetz), so war diese „Gesetzeskraft" die Kraft eines Reichsgesetzes. Sie sollte das angegriffene Landesrecht derogieren und stand daher i m Rang des Prüfungsmaßstabes, nicht des Prüfungsgegenstandes. Damit hatte der Staatsgerichtshof die vormalige Kompetenz des Bundesrates übernommen, der nach 1871 „ i m Wege der Reichsgesetzgebung" über Widersprüche zwischen Reichs- und Landesrecht entschied. Gesetzeskraft war demnach kein Wiederholungsverbot 127 128

Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 613 f. Zum folgenden ebd., S. 612 f.; Schiaich, VVDStRL 39, 128 f.

252

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

für Normenkontrollverfahren, sondern Derogation. I m Parlamentarischen Rat ist die Möglichkeit, die Gesetzeskraft könne die aus A r t . 93 GG begründeten Befugnisse zur Einleitung eines Normenkontrollverfahrens beschränken, nicht einmal diskutiert worden 1 2 9 . Deutlich zeigt sich so, daß die Gesetzeskraft die inter-omnes-Bindung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen lediglich herstellen kann, wenn sie — unabhängig von der materiellen Richtigkeit der Entscheidung — die Vereinbarkeit des Gesetzes mit dem Grundgesetz authentisch aussprechen kann. Sofern das Gesetz tatsächlich verfassungswidrig wäre, würde dadurch die derogierende Kraft des Grundgesetzes ihm gegenüber beseitigt. Dies kann jedoch nicht durch eine Maßnahme mit Gesetzesrang geschehen, die Entscheidung müßte vielmehr Verfassungsrang besitzen. Eine solche Konsequenz ist allerdings weder im Wortlaut des A r t . 94 I I 1 GG angelegt, noch war sie vom Parlamentarischen Rat beabsichtigt. Während A r t . 99 I I HChE aus diesem Grunde lediglich die Gesetzeskraft kassatorischer Entscheidungen vorsah, war sich der Parlamentarische Rat einig, daß eine „Erstarrung des Verfassungsrechts" durch gesetzeskräftige Entscheidungen vermieden werden müsse 130 . Die Ablehnung des Verfassungsranges der gesetzeskräftigen Entscheidung, der wohl auch A r t . 79 I GG widersprechen würde, ist i n der Gegenwart dementsprechend allgemein 1 3 1 . Steht eine Entscheidung i m Rang eines Gesetzes, so kann sie die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes nicht authentisch feststellen oder begründen; sie ist demnach insoweit inhaltslos. Ein anderes Ergebnis ist durch das Grundgesetz nicht geboten. A r t . 94 I I 1 GG überläßt die Bestimmung der Gesetzeskraft dem einfachen Gesetzgeber, regelt also selbst nicht deren Umfang. Auch der Gleichheitssatz gebietet kein anderes Ergebnis. Schon die institutionelle Konzentration der Verwerfungsbefugnis beim Bundesverfassungsgericht verhindert die Möglichkeit einanderwidersprechender oder allzu wechselhafter Entscheidungen. Vielfach werden wiederholende Kontrollanträge bereits i m Vorverfahren aussichtslos sein 1 3 2 . Schließlich ist nicht ersichtlich, warum die Gefahr einer Ungleichbehandlung einen größeren Verfassungsverstoß darstellen sollte als die fortdauernde Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes. Eine Erstreckung der Rechtskraftwirkung inter omnes auch auf Private oder eine Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts kann demnach durch die Gesetzeskraft nicht eintreten 1 3 3 . 129

Zur Diskussion JöR 1, 686 f.

130 Abg. v. Mangoldt 131

u. Abg. Zinn ebd.

s. o. a) und Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 613;

Scheuner, DöV 1954, 645 f.; zweifelnd n u r Lange, JuS 1978, 6.

132 Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 615.

IV. Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

253

c) Grenzen der Gesetzeskraft Die zeitlichen Grenzen der Gesetzeskraft bemessen sich nach denselben Maßstäben wie diejenigen der Rechtskraft und der Bindungswirkung. Sofern sich die relevanten Tatsachen oder Rechtsanschauungen in maßgeblicher Weise geändert haben, entfällt die Gesetzeskraft 134 . Dieser Tatsache kommt jedoch kaum Bedeutung zu. Sofern ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt worden ist, kann die Kassation nicht später entfallen. Zum Erlaß einer neuen Norm ist nur die Legislative berechtigt. Sie ist jedoch nicht durch die Gesetzeskraft 135 , sondern durch die Rechtskraft gebunden. Lediglich für bestätigende Entscheidungen erlangt die zeitliche Grenze Relevanz. Begründet hier die Gesetzeskraft für alle gebundenen Instanzen die Pflicht, der Entscheidung nicht zuwiderzuhandeln, so entfällt diese Pflicht mit dem Ende der Gesetzeskraft. Die Gesetzeskraft begründet somit den Rang der Entscheidung nach Maßgabe des Entscheidungsgegenstandes. Objektiv ergeht die Entscheidungsformel i n Gesetzeskraft; subjektiv begründet sie für jedermann die Pflicht, der Entscheidung nicht zuwiderzuhandeln. Hingegen ist keine Pflicht begründet, ein bestätigtes Gesetz nicht erneut dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorzulegen. Die praktische Relevanz der Gesetzeskraft ist insgesamt gering; von Bedeutung ist insbesondere die Publikation i m Bundesgesetzblatt. Der Grund für diese geringe Relevanz ist der historisch tradierte Text des A r t . 94 I I 1 GG ohne Rücksichtnahme auf die übrigen Wirkungen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen 136 . 4. Obiter dicta

Obiter dicta sind alle rechtlichen Erörterungen und Schlußfolgerungen, die außerhalb des Ableitungszusammenhanges zwischen abstrakter Norm und konkreter Entscheidung stehen 137. Sie sind i n die Entscheidungsgründe aufgenommen, begründen die konkrete Entscheidung jedoch nicht und tragen dazu auch nichts bei. Solche Erwägungen sind i n einer Vielzahl von Entscheidungen enthalten. Dabei ist unbestritten, daß sie keine rechtliche Bindungswirkung nach § 31 BVerfGG entfalten 1 3 8 . Selbst auf der Grundlage der Ansicht des Bundesverfassungs133

Friesenhahn in Mosler, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 135; Vogel, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I, S. 614 f. m. w. N. 134 Klein, N J W 1977, 699; Frowein, Lange, JuS 1978, 8.

135

13e 137 138

DöV 1971, 794; Brox,

FS Geiger, S. 822;

s. o. a). Schiaich, VVDStRL 39, 133 f. Schlüter, Obiter dictum, S. 104.

Maunz u. a., BVerfGG, § 31 Rn. 16; Lange, JuS 1978, S. 5; Ipsen, Rechts-

folgen, S. 244.

254

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

gerichts, daß „tragenden Gründen" Β indungs Wirkung zukomme oder daß gar alle Entscheidungsgründe „tragende" sein sollen, können hierzu lediglich solche Ausführungen zählen, welche auf die konkrete Entscheidung hinführen. Lediglich diese sind Entscheidungsgründe i m materiellen Sinne. Nicht hierzu zählen alle außerhalb des Begründungszusammenhanges stehenden Erörterungen, die lediglich formell Bestandteile der Begründung sind 1 3 9 . Nichtsdestoweniger können obiter dicta jedoch faktische Bindungen begründen 1 4 0 . Umstritten ist jedoch, inwieweit sie überhaupt zulässig sind 1 4 1 . a) Obiter dicta in der Praxis Durch die Nichtigerklärung oder Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen entstehen Regelungslücken, die lediglich v o m Gesetzgeber aufgefüllt werden können. Das obiter dictum ist dabei das typische Instrument des Bundesverfassungsgerichts, u m auf den zukünftigen Gesetzgebungsprozeß e i n z u w i r k e n 1 4 2 . Besonders häufig ist die Verwendung von obiter dicta, w e n n das Bundesverfassungsgericht nach Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer N o r m weitere Erwägungen darüber anstellt, welche Regelungen zur Erreichung eines gleichen oder ähnlichen Zweckes an ihrer Stelle zulässig sein k ö n n t e n 1 4 3 . Leitsatzhaft werden dabei Thesen formuliert, die als Gesetzestatbestände faktisch übernommen werden können. Bisweilen werden auf gleiche Weise E r örterungen über die Grundsätze der Rückabwicklung v o n Fällen, w e l che aufgrund der für nichtig erklärten Form entschieden worden sind, aufgestellt, u m so die Rückwirkungen von Entscheidungen über § 79 B V e r f G G hinaus zu begrenzen 1 4 4 . Schließlich finden sich auch obiter dicta zu der Frage, auf welche Weise der v o m Gesetzgeber durch die verfassungswidrige N o r m angestrebte Zustand erreicht werden könnte, indem das Gericht zu politischen Zielvorstellungen Stellung n i m m t 1 4 5 . Zumeist hat der Gesetzgeber die verfassungsgerichtlichen Anregungen bis ins Detail befolgt u n d so weitere Streitigkeiten über das neue Recht vermieden 1 4 6 . I n Einzelfällen w u r d e n jedoch frühere obiter dicta durch 139

Ipsen, Rechtsfolgen, S. 245. Dazu o. 2 b). 141 Hierzu Schlüter, Obiter dictum, pass.; Köbl, JZ 1976, 752 ff.; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 244 ff.; Wolf, DSt 1974, 437 ff. 142 werden bisweilen „verfassungsrechtliche Leitlinien", welche dem Gesetzgeber zur Beachtung empfohlen sind, aufgestellt, so enthalten andere Entscheidungen ausgreifende und detaillierte Vorschriften über zukünftige Gesetze; Überblick bei Ipsen, Rechtsfolgen, S. 125 ff. 140

143 So etwa in BVerfGE 20, 56, 113 ff.; hier wird dafür ein eigener Abschnitt verwendet; sehr weit auch BVerfGE 59, 119, 127 ff. * 44 BVerfGE 37, 217, 260 ff. 145 BVerfGE 48, 127, 166 ff.

IV. Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

255

spätere Entscheidungen korrigiert 1 4 7 . Desungeachtet ist real das Vertrauen i n solche Ausführungen bei allen Staatsorganen verbreitet; die obiter dicta werden ähnlich den Gründen wie geltendes Verfassungsrecht behandelt. Daraus resultiert der faktische Charakter derartiger Erwägungen als „urbiter et orbiter apodicta" 1 4 8 . Die Befolgung von obiter dicta durch die Legislative zeigt deutlich, i n welchem Maße ein praktisches Bedürfnis nach Orientierung über zukünftige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts besteht. Findet sich dieses Phänomen grundsätzlich bei allen rechtsanwendenden Instanzen, auch bezüglich der Auslegung einfacher Gesetze, so ist es für das Grundgesetz besonders ausgeprägt. Der Grund dafür liegt i n der generalklauselartigen Weite und geringen Dichte verfassungsrechtlicher Normierungen. Die Steuerungsfunktion solcher Vorschriften ist häufig überaus gering, so daß ihr Charakter als Beurteilungsmaßstab i n den Vordergrund tritt. Damit der Gesetzgeber bereits zum Zeitpunkt des Normerlasses möglichst hohe Gewißheit über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes erlangt, entsteht so das Bedürfnis nach A n t i zipation der Kontrollentscheidung. Dabei können frühere Äußerungen zur Anwendung und zum Inhalt einzelner Bestimmungen als Indiz herangezogen werden. Zwar macht dies ein „unreflektiertes Vertrauen auf die Bestandskraft sämtlicher obergerichtlicher Äußerungen nicht schutzwürdig 1 4 9 ; nichtsdestoweniger entsteht so doch zumindest die faktische Pflicht, sich m i t der früheren Erörterung auseinanderzusetzen und darin abweichend zu begründen, sofern nicht das Risiko einer Kassation des Gesetzes eingegangen werden soll 1 5 0 . So fördert die Verwendung von obiter dicta die Rechtssicherheit und die ProzeßÖkonomie 151.

Diesen Vorteilen der obiter dicta stehen jedoch erhebliche Bedenken entgegen 152 . Solche Erwägungen können die Einheit der Rechtsprechung gefährden. Diese soll gerichtsintern durch Vorlagepflichten sichergestellt werden. Sofern ein Senat i n einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen abweichen w i l l , hat er das Plenum anzurufen (§16 BVerfGG). Rechtsausführungen, die ein Urteil nicht materiell begründen, sondern nur als obiter dicta aufgenommen werden, lösen eine solche Vorlagepflicht jedoch nicht aus 1 5 3 . Das Bundesverfassungsgericht 146 Ausnahme: BVerfGE 24, 300; diese Entscheidung war jedoch durch E 20, 56 ff. noch nicht präjudiziert. 147 s. etwa BVerfGE 8, 51, 63 und E 20, 56 ff. 148 149 150 151

Kriele, N J W 1977, 779. Kötz, A c P 1975, 375 f. Köhl, JZ 1976, 754; Kriele, Wolf, DSt 1974, 439.

N J W 1977, 779.

152 Schlüter, Obiter dictum, S. 39 ff. m. w. N. 153 BVerfGE 4, 27.

256

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

legt diese Pflicht sehr eng aus 1 5 4 . Dabei ist unerheblich, ob das obiter dictum i n der früheren oder späteren Entscheidung enthalten w a r 1 5 5 . Damit entsteht die Gefahr divergierender Rechtsansichten; die Vorhersehbarkeit, welche durch solche Ausführungen erst hergestellt werden sollte, w i r d soweit wieder gemindert. Zugleich beeinträchtigt dies die Kontinuität der Rechtsprechung wegen der fehlenden Präjudizienbindung i m Deutschen Recht u n d mindert so die Rechtssicherheit 15e. Begründet und bestritten w i r d demnach die Zulässigkeit von obiter dicta m i t dem Gedanken der Rechtssicherheit. Einerseits besteht die Chance, daß durch sie die K a l k u l i e r b a r k e i t der Rechtsprechung erhöht w i r d ; andererseits die Gefahr, daß devergierende Ansichten zunehmen und so die Vorhersehbarkeit sinkt. Gerade i m Verfassungsrecht stellt sich diese Alternative besonders deutlich. W i r d der lückenhafte u n d offene Charakter des Grundgesetzes nicht n u r betont, sondern auch konkret den Entscheidungen zugrundegelegt, so enthält bereits die Verfassung selbst ein hohes Maß an K l a r h e i t über die v o n i h r begründeten Bindungen der Legislative. I n diesem Fall besteht n u r ein geringes Bedürfnis nach Rechtssicherheit durch obiter dicta. Je weiter demgegenüber die Lücken des Verfassungsrechts aufgefüllt u n d damit die Rechtsfolgen des Verfassungsrechts ausgedehnt werden, desto vielfältiger werden die Bindungen der Legislative an das Grundgesetz. Eine solche Interpretation, wie sie insbesondere von der wertorientierten Auslegung praktiziert w i r d , bedarf i n hohem Maße der Herstellung von Vorhersehbarkeit. Da die Bindungen des Gesetzgebers weniger i m Grundgesetz als vielmehr i n den jeweiligen Werten wurzeln, entsteht so das Bedürfnis nach obiter dicta. b) Zulässigkeit

und Grenzen

von obiter

dicta

Die Gründe ver fassungsgerichtlicher Entscheidungen sind ebenso wie die Entscheidungen selbst einzelfallbezogen. Sie sollen lediglich die K l u f t zwischen abstrakter N o r m u n d konkretem Fall überbrücken u n d so die Entscheidung demokratisch legitimieren. Allgemeine Erwägungen können i n ihnen n u r insoweit Platz finden, als sie gerade zu diesem Zweck erforderlich sind. M i t weit ausgreifenden Rechtsausführungen u n d Leitsatzbildungen, die nicht zu Beurteilungen des konkreten Sachverhaltes geboten sind, werden diese Grenzen überschritten. Das Antragserfordernis 157 gebietet, daß das Gericht nicht über solche Materien entscheidet, die v o m A n t r a g nicht umfaßt werden. Andernfalls können 154 155 156 157

Hirsch, BVerfGE 48, 186. Schlüter, Obiter dictum, S. 41 f. m. w. N.; ebenso Lechner, § 31 Anm. 1. Schlüter, Obiter dictum, S. 46 ff.; insbes. S. 56 f. Dazu 3. Teil, I I I 2 a).

I V . Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

257

die Beteiligten nicht voraussehen, was für sie i m konkreten Fall auf dem Spiel steht. Zudem können sie, da sie von der Erstreckung des Entscheidungsgegenstandes zumeist nicht informiert sind, auch kein rechtliches Gehör gerade zu den Erörterungen erhalten, welche als obiter dicta i n die Gründe eingehens Zudem vermag das Bundesverfassungsgericht obiter dicta nicht i n der Weise zu korrigieren, daß sie zeitbedingtem Verfassungswandel angepaßt sein könnten. Vielmehr besteht die Gefahr, daß hier allgemeine Rechtsausführungen faktische Geltung erlangen, welche infolge des fehlenden Initiativrechts des Gerichts 1 5 8 kaum zurücknehmbar oder modifizierbar sind. Dadurch lösen sich die weitgehend irrevisiblen Gründe von der zeitbedingten Verfassung. Schließlich können einander wiedersprechende obiter dicta die Erkennbarkeit des geltenden Rechts und damit die Rechtsklarheit als Grundlage der Rechtssicherheit gefährden. Aus diesen Gründen nimmt das Gericht mit der Aufnahme von obiter dicta i n seine Entscheidungen Aufgaben wahr, die seinen Aufgaben nicht entsprechen und die es m i t seinen Instrumenten nicht sachgerecht erfüllen kann 1 5 9 . Damit ist allerdings das Problem erst formuliert und noch nicht gelöst. I n den meisten Entscheidungsgründen bestehen erhebliche Schwierigkeiten, die jeweils notwendigen Gründe von den sonstigen Ausführungen, insbesondere den obiter dicta, abzugrenzen 160 . Die Überbrückung der K l u f t zwischen abstrakter Norm und konkretem Sachverhalt geht regelmäßig i n der Weise vor sich, daß dieser Abstand durch Zwischensätze und -begriffe verringert wird. Solche Begriffe enthalten vielfach allgemeine Aussagen, die weit über den jeweiligen Einzelfall hinausreichen, aber auch für die einzelne Entscheidung von Bedeutung sind. Sie sind vielfach durch Leitsätze besonders hervorgehoben, wodurch sich der Einzelfallbezug lockert zugunsten einer quasi normativen Formel, die sich verselbständigt und als gesicherte Auslegungsmaxime i n den juristischen Kommunikations- und Argumentationshaushalt einfließt. Diese Verselbständigung löst bereits als solche jenen Kontext, der maßgeblich für die Formulierung jener Gründe war. Zudem erfahren viele Entscheidungsgründe ihre Plausibilität gerade aus ihrer Verallgemeinerungsfähigkeit und wertungsmäßigen Folgerichtigkeit 1 6 1 . Nicht nur die Beteiligten und Dritte als Adressaten der Entscheidungsgründe beurteilen diese an solchen Maßstäben; auch die entscheidenden Richter selbst erproben ihre Begründung häufig an der prognostizierten Generalisierbarkeit ihrer Ausführungen. Dafür findet sich jedoch keine exakt funktionierende Argu158 169 180 161

s. o. ebd. Schlüter, Obiter dictum, S. 57; i. E. auch Wolf, DSt 1974, 439. Köbl, JZ 1976, 753 f. Haverkate, ZRP 1973, 282.

1 Gusy

258

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

mentationstechnik 162 . Auch diese Umstände fördern i n der Begründung Aussagen, die auf den jeweiligen Fall nicht oder nur partiell anwendbar sind und nicht immer unanfechtbar bleiben. Die prognostizierte Verallgemeinerungsfähigkeit und die daraus hergeleitete Entscheidungsrichtigkeit kann sich i m Nachhinein als unrichtig herausstellen. Die Notwendigkeit einer allgemeinen Formulierung einzelner Begründungselemente bleibt so vielfach umstritten und ist auch nicht i n vollem Umfang rational diskutierbar. Unzulässige obiter dicta sind zumindest alle Ausführungen, die auf die Gewinnung von Obersätzen abzielen, an denen die überprüfte Norm nicht gemessen wird oder gemessen zu werden braucht. Hierunter sind alle Ausführungen zu verstehen, die — unabhängig vom vorliegenden Einzelfall — zur Auslegung solcher Verfassungsbestimmungen gemacht werden, welche als Prüfungsmaßstab für das angegriffene Gesetz nicht herangezogen werden 1 6 3 . Dieser Grenze kommt allerdings für das Normenkontrollverfahren wenig Bedeutung zu, weil das Bundesverfassungsgericht vielfach auf rechtliches Vorbringen der Beteiligten eingeht und dabei eine Vielzahl von Rechtssätzen thematisiert, die nicht unmittelbar einschlägig sind. Solche Hilfserwägungen sind nicht a priori unzulässig 164 . Vielmehr ist dies die Konsequenz der Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht die angegriffene Norm stets unter jedem möglichen Aspekt auf ihre Verfassungsmäßigkeit p r ü f t 1 6 5 . Führt bereits ein rechtlicher Gesichtspunkt zur Verfassungswidrigkeit der Norm, so kann das Gericht seine Prüfung darauf beschränken. Demgegenüber setzt die Verfassungsmäßigerklärung voraus, daß das Gericht alle rechtlichen Gesichtspunkte, aus denen sich die Unvereinbarkeit der zu prüfenden Normen m i t dem höherrangigen Recht ergeben könnte, vollständig gewürdigt h a t 1 6 6 . Bei der Bildung der Zwischensätze und -begriffe ist lediglich auf solche Tatbestandsvoraussetzungen einzugehen, die für die jeweils zu prüfende Norm als Maßstab herangezogen werden. Ähnliches gilt auch für die Rechtsfolgen des jeweiligen Prüfungsmaßstabes. Ist etwa zu prüfen, ob der Gesetzgeber berechtigt ist, eine Norm zu erlassen, so ist seine Verpflichtung dazu nicht Entscheidungsgegenstand 167 . Eine gegenteilige Praxis führt zur Verdichtung und Erstarrung des Verfassungsrechts, welche durch den Einzelfall nicht geboten ist. Das Gebotensein 162

56 ff.

Lorenz, Methodenlehre, S. 298 ff.; Brüggemann, Begründungspflicht, S.

103 s. aber BVerfGE 1, 14, 18 Ls 27; das überpositive Recht wurde in der Entscheidung an keiner Stelle als Maßstab verwendet. 164 Anders partiell Schlüter, Obiter dictum, S. 124 ff. 165 BVerfGE 1, 14, 41; 3, 187, 196 f. 1ββ BVerfGE 37, 363, 397; Maunz u. a., BVerfGG, § 76 Rn. 37. 167 Anders wohl BVerfGE 1, 208, 254 f. zur 5 %-Klausel als „gemeindeutscher Rechtssatz".

IV. Die Bindung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

259

einer Regelung ist lediglich i n dem Fall erheblich, wenn gerade über die Verfassungsmäßigkeit eines Unterlassens entschieden werden soll. I n diesem Kontext finden sich auch vielfach verfassungsgerichtliche Dezisionen, welche sich von denen des Gesetzgebers kaum unterscheiden 1 6 8 . Ob etwa die Wahlkampfkostenerstattung bei einem Anteil von 0,1 °/o, 0,5 °/o oder 1 % der Stimmen einsetzen soll, ist durch das Grundgesetz begründungsmäßig kaum herleitbar. I m Zusammenhang mit der Frage, ob sie bei 2,5 °/o einsetzen soll, ist dieses Problem nicht nur unerheblich, sondern auch nicht entscheidungsbedürftig 169 . Die Offenheit des politischen Meinungs- und Entscheidungsbildungsprozesses w i r d dadurch abgeschnitten, daß numerisch quantifizierte Vorgaben durch das Bundesverfassungsgericht vorliegen. Hier besteht ein fühlbarer Unterschied zwischen der negativen Abgrenzung gesetzgeberischer Befugnisse, etwa durch Hinweise auf frühere einschlägige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und der Hinlenkung der Legislative auf bestimmte Inhalte i n Form von obiter dicta 1 7 0 . Darüber hinaus sind die Rechtsausführungen des Bundesverfassungsgerichts durch den jeweils entscheidungserheblichen Sachverhalt determiniert. Das angegriffene Gesetz bestimmt die tatsächliche Grundlage der Normenkontrolle. Ein Eingehen auf die Verfassungsmäßigkeit anderer Regelungen i n sonstigen Gesetzen oder auf den hypothetischen Inhalt gedachter Regelungen, welche das vom Gesetzgeber angestrebte Ziel verfassungskonform erreichen könnten, ist unzulässig 171 . Solche späteren Normen stehen jeweils i n einem spezifischen tatsächlichen und rechtlichen Kontext, der vom Gericht kaum vollständig prognostiziert werden kann. Entscheidet das Bundesverfassungsgericht lediglich über die Verfassungsmäßigkeit des angegriffenen Gesetzes, so sind sonstige Ausführungen zu allgemeinen Problemen der Regelung der jeweiligen Materie unzulässig. Weder dürfen dafür i n einem besonderen Abschnitt der Gründe allgemeine Grundsätze aufgestellt werden 1 7 2 noch ist die Entscheidung über alternative Zwecke oder Mittel jenseits des angegriffenen Gesetzes i m allgemeinen Rahmen der Entscheidung zulässig 173 . Z u d e m müssen

die Entscheidungsgründe

i h r e r s e i t s mit

dem

Grund-

gesetz vereinbar sein. Nur solche Rechtsansichten, die ihrerseits aus der Verfassung begründet werden können, sind demnach zulässig. Das Bundesverfassungsgericht darf nicht weitgehend ungeprüfte Ausführungen 168

Ipsen, Rechtsfolgen, S. 249. Anders BVerfGE 24, 300, 342. 170 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 250. 171 s. aber BVerfGE 48, 127, 170 f.; weitere Nachweise bei Ipsen, Rechtsfolgen, S. 250 ff. 172 s. aber BVerfGE 20, 56, 113 ff. 173 Vgl. aber BVerfGE 39, 1, 49 f. 169

n*

260

4. Teil: Die Kompetenzabgrenzung

als obiter dictum übernehmen. A u f diese Weise gelangen bisweilen verfassungsrechtlich bedenkliche Bestandteile i n die Begründung. Solche Passagen werden nicht n u r durch den Zweck v o n obiter dicta nicht gefördert, da hier die Rechtssicherheit v o n vornherein gefährdet ist; auch das Grundgesetz selbst als Entscheidungsgrundlage steht der u n geprüften Aufnahme solcher Entscheidungsgründe entgegen. Andernfalls entstünde die Gefahr einer Präjudizierung v o n Gericht u n d Gesetzgeber durch möglicherweise verfassungswidriger Ausführungen 1 7 4 . Insgesamt ist das Bundesverfassungsgericht i n den Gründen somit auf Ausführungen beschränkt, die für die Entscheidung des vorliegenden Einzelfalles erheblich sind. Die Gründe sollten ihrerseits möglichst k l a r u n d unmißverständlich formuliert sein 1 7 5 . Dabei dürfen n u r solche Erwägungen aufgenommen werden, die ihrerseits sorgfältig auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft worden sind.

174 Etwa BVerfGE 48,127,170 f.; dagegen Gusy, JuS 1979,257; Ipsen, Rechtsfolgen, S. 250 f.; beide m. w. N. 175

Kriele, NJW 1977, 779.

SCHLUSS

Die Umsetzung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in der politischen Praxis Unabhängig von ihrer rechtlichen Bindung kommt Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts i m politischen Bereich erhebliche Bedeutung zu 1 . Eine Rechtsfrage, zu welcher das Gericht Stellung genommen hat, gilt als entschieden; eine ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Instrument zur Verrechtlichung der Verfassung i m Sinne einer Verdichtung und Vermehrung des geltenden Verfassungsrechts 2. Soweit das Gericht aus dem Grundgesetz numerisch quantifizierte Anforderungen an die Regelung einer Materie herleitet, werden diese vom Gesetzgeber fast stets genau befolgt 3 . Vom Gericht gesetzte Fristen zum Erlaß oder zur Änderung eines Gesetzes werden mit eben solcher Regelmäßigkeit eingehalten. D i e tatsächlichen

Wirkungen

der Entscheidungsgründe

reichen j e d o c h

noch darüber hinaus. Sobald das Bundesverfassungsgericht i n den Gründen einer Entscheidung zu einer Rechtsfrage auch nur als obiter dictum Stellung genommen hat, werden diese Aussagen nicht nur bei späteren Regelungen derselben Materie, sondern auch i n anderen Zusammenhängen wie geltendes Verfassungsrecht herangezogen. Dadurch werden politische Handlungs- und Gestaltungsalternativen von vornherein ausgeschlossen, ohne daß über sie bereits entschieden wäre oder noch entschieden werden könnte. Die explizite oder auch nur hypothetische Drohung mit dem „Gang nach Karlsruhe" beeinflußt i m politischen Prozeß so auch den zukünftigen Gang staatlicher Sozialgestaltung. W i r d so die Verfassungsauslegung i n der Praxis zumindest partiell mit einer Entscheidungsprognose des Bundesverfassungsgerichts gleichgesetzt, so erlangen auch nicht ergangene Entscheidungen erhebliche Vorwirkungen auf die Politik. Das gilt nicht erst dann, wenn ein politisch umstrittenes Steuergesetz schon deshalb mit Rückwirkung aufgehoben wurde, weil dagegen eine Verfassungsbeschwerde erhoben worden war 4 . 1 Zum folgenden Wagner in Däubler / Küsel, Bundesverfassungsgericht und Politik, S. 169 ff. 2 Fangmann, Justiz, S. 231 ff. 3 Beispiele: BVerfGE 24, 300, 342; 35, 79 ff.

262

Schluß: Die Umsetzung in der politischen Praxis

Als Ursache dieses verfassungsgerichtlichen „Kompetenzzuwachses" lassen sich theoretisch zwei Phänomene anführen. Er kann dadurch entstanden sein, daß das Bundesverfassungsgericht von seinen Zuständigkeiten i n besonders extensiver Weise Gebrauch gemacht hat oder sie gar vielfach überschritt 5 . Er kann aber auch dadurch begründet worden sein, daß Regierung und Parlament der Reduzierung ihrer politischen Alternativen durchaus positiv gegenüberstehen. I m p o l i t i s c h e n Prozeß

übernehmen so rezipierte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts eine „Entlastungsfunktion" für die Legislative. Sie ermöglichen ihr, die Verantwortung für politische Entscheidungen oder unterbliebene Maßnahmen auf ein politisch unverantwortliches Organ abzuwälzen. Politische Begründungen können so durch verfassungsrechtliche „Sachzwänge" ersetzt werden. Ein solcher Legitimationsübergang erfolgt dann nicht durch Okupation von Zuständigkeiten durch das Bundesverfassungsgericht, sondern durch deren Aufgabe seitens Parlament und Regierung 6 . Erlangt das Gericht auf diese Weise eine zusätzliche „systemstabilisierende" Funktion 7 , so ist dies — zumindest nicht ausschließlich — i h m anzulasten. Uber den Bereich der i h m vom Grundgesetz und vom Bundesverfassungsgerichtsgesetz zugewiesenen Kompetenzen hinaus erlangt das Bundesverfassungsgericht nur soviel Einfluß, wie i h m von den anderen Staatsorganen aus eigenem Antrieb zuerkannt wird.

4

Beispiel nach Wagner in Däubler / Küsel, S. 176. So wohl ebd., S. 176 ff. • Charakteristisch hierfür BVerfGE 52,63; die angegriffenen §§ 10 b I I EStG und 9 Nr. 3 b KStG hätten ebenso vom Gesetzgeber geändert werden können. 7 Dazu Massing, Probleme der Demokratie heute, 1971, 184 ff. 5

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