Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen [1 ed.] 9783428480838, 9783428080830

122 77 18MB

German Pages 212 Year 1994

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen [1 ed.]
 9783428480838, 9783428080830

Citation preview

Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht

Band 23

Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen Von

Dr. Volker Haug

Duncker & Humblot · Berlin

VOLKER HAUG

Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen

Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Herausgegeben von Wolfgang Graf Vitzthum in Gemeinschaft mit Martin HeckeI, Ferdinand Kirchhof Hans von Mangoldt, Thomas Oppermann Günter Püttner, Michael Ronellenfitsch sämtlich in Tübingen

Band 23

Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen

Von Dr. Volk er Haug

Duncker & Humblot . Berlin

Diese Arbeit wurde durch einen Druckkostenzuschuß des Deutschen Bundestages gefördert.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Haug, Volker: Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen / von Volker Haug. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht ; Bd. 23) Zug!.: Tübingen, Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08083-1 NE:GT

D 21

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: W. März, Tübingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6061 ISBN 3-428-08083-1

Für meine Eltern und Gaby

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Frühjahr 1993 bei der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen eingereicht und von ihr im Frühjahr 1994 als Dissertation angenommen. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, der mit wertvollen Tips, konstruktiver Kritik und Ermutigung das Dissertationsvorhaben begleitet hat. Weiter danke ich Herrn Prof. Dr. Siegfried F. Franke, der mich als sein Mitarbeiter an der Abteilung Wirtschaftspolitik und Öffentliches Recht im Institut für Sozialforschung der Universität Stuttgart mit günstigen Arbeitsbedingungen für die Anfertigung der Dissertation und kritisches Durchsehen des Manuskripts unterstützt hat. Ferner danke ich Herrn Dr. Hempfer (Verwaltung des Landtags von Baden-Württemberg), Herrn Dr. Kretschmer (Verwaltung des Deutschen Bundestages), Herrn Dr. Lang MdL, Herrn Referendar Thomas Wiedmann, Herrn Rechtsreferendar Stefan Kilgus und Frau cand. rer. pol. Regine Neuschwander für die zahlreichen Anregungen und Hilfestellungen sowie meiner Frau für die oft bewiesene Geduld. Schließlich danke ich Herrn Prof. Dr. Wolfgang Graf Vitzthum für die bereitwillige Aufnahme dieser Arbeit in die von ihm herausgegebene Tübinger Schriftenreihe. Esslingen a.N., im Frühjahr 1994

Volker Haug

Inhaltsverzeichnis § 1

Einleitung......................................

21

A. Bedeutung der parlamentarischen Geschäftsordnung und der mit ihr verbundenen Rechtsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

1. Allgemeine Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

2. Verfahrensordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

................................

23

4. Selbstorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

B. Problemstellung und Aufbau der Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . ..

24

1. Aufgabe der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

2. Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

25

3. Minderheitenschutz

1. Kapitel

Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

27

Historischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

A. Entstehung und Entwicklung der parlamentarischen Selbstorganisation anhand von Beispielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

1. Geschäftsordnungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

2. Präsidentenwahl

28

§ 2

..................................

B. Herkunft und Entwicklung der parlamentarischen Geschäftsordnungen in

Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

1. Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

a) Ursprung im Mutterland des Parlamentarismus (England) . . . . . . .

29

b) Kontinentale Rezeption und Weiterentwicklung (Frankreich) . . . . .

29

c) Historische Gechäftsordnungstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

2. Entwicklung: Vom preußischen Abgeordnetenhaus zum Deutschen Bundestag ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

31

a) Preußisches Abgeordnetenhaus und Norddeutscher Bund . . . . . . .

31

b) Kaiserreich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

32

10

Inhaltsverzeichnis c) Weimarer Republik und NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

d) Bundesrepublik . . : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

C. Bedeutung des historischen Hintergrundes für das aktuelle Geschäftsordnungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

1. Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

2. Konstitutionelles Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

34

Begriff der Geschäftsordnung ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

A. Begriffsherkunft und Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

B. Die parlamentarische Geschäftsordnung im materiellen Sinn . . . . . . . . .

36

§ 3

1. Begriff

36

2. Ebenen

37

a) Übersicht und Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

b) Die Ebenen im einzelnen mit Beispielen . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

C. Die parlamentarische Geschäftsordnung im formellen Sinn

.........

41

1. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

41

2. Vorrangiger Gegenstand dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

D. Der Begriff der Geschäftsordnung im verfassungsrechtlichen Sinn . . . . .

43

1. Vorbemerkung

...................................

43

2. Weite Auslegung

43

3. Enge Auslegung

43

E. Probleme im Zusammenhang mit der Geschäftsordnung im formellen Sinn

44

1. Normcharakter der Geschäftsordnung im formellen Sinn

44

a) Problemdarstellung: Zweifel am Rechtsnormcharakter

44

b) Historisch-konventioneller Rechtssatzbegriff . . . . . . . . . . . . . . .

45

c) Moderner Rechtssatzbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

d) Prüfung der Geschäftsordnung anhand des öffentlich-rechtlichen Rechtssatzbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

e) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Problem der Formwahl zwischen Gesetz und Geschäftsordnung

47

....

47

a) Problemdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

b) Formwahl möglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

Inhaltsverzeichnis

11

c) Typenzwang: Keine Formwahl möglich . . . . . . . . . . . . . . . . ..

49

d) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

3. Rangprobleme der Geschäftsordnung Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

gegenüber Verfassung und . . . . . . . . . . . . . . . .

51

a) Problemdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

b) Verhältnis der Geschäftsordnung zur Verfassung . . . . . . . .

52

c) Verhältnis der Geschäftsordnung zum (formellen) Gesetz . . .

52

4. Richterliche Prüfungskompetenz gegenüber Geschäftsordnungsnormen § 4

Deklaratorisches und konstitutives Geschäftsordnungsrecht . . . . . . . .

54 56

A. Problemdarstellung

56

B. Deklaratorisches Geschäftsordnungsrecht ....

56

1. Begriff .

56

2. Beispiele

57

a) Wiederholung oder Konkretisierung von Verfassungsvorschriften ..

57

b) Wiederholung oder Konkretisierung von einfach-gesetzlichen Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

C. Konstitutives Geschäftsordnungsrecht . . . . . . . 1. Begriff ...

58

2. Reichweite.

60

D. Folgen für Geltungs- und Bindungsgrund

. . . . . . . . . ... .

E. Problem der Behandlung kodifizierten Gewohnheitsrechts

§ 5

58

60 61

1. Vorbemerkung

61

2. Parlamentarisches Gewohnheitsrecht

61

3. Verfassungsgewohnheitsrecht

62

....

Funktionen und Rechtsgrundlage der parlamentarischen Geschäftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

A. Geschäftsordnungsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

1. Vorbemerkung

...................................

64

2. Gewährleistung eines geordneten und effektiven Verfahrens

64

3. Minderheitenschutz

65

........................ .

12

Inhaltsverzeichnis 4. Selbstorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

B. Rechtsgrundlage der Geschäftsordnung

69

1. Delegationsnorm in der Verfassung

69

2. Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

3. Bedeutung der Delegationsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

2. Kapitel Bindungsprobleme der Geschäftsordnung § 6

72

.................................

72

A. Der allgemeine Diskontinuitätsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

1. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

2. Herkunft und Bedeutung der sachlichen Diskontinuität . . . . . . . . . .

73

3. Normative Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Zeitliche Bindung

B. Gültigkeit des Diskontinuitätsgrundsatzes auch für die Geschäftsordnung? 1. Geltung der Geschäftsordnung nur für eine Wahlperiode . . . . . . . . .

76

a) Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

b) Begründung ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

c) Kritische Würdigung

.............................

78

d) Weitergehende Kritik an der akzessorischen Geltung der Geschäftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

aa) Fehlende Berücksichtigung der Entwicklung von Parlamentsbedeutung und -praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

bb) Untauglichkeit für ungeschriebenes Geschäftsordnungsrecht . . .

83

2. Grundsätzliche Geltung der Geschäftsordnung bis auf Widerruf . . . ..

84

a) Argumente aus den obigen Ausführungen . . . . . . . . . . . . . . . .

84

b) Weitere Argumente

..............................

85

c) Kritik und abschließende Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

88

d) Kein Widerspruch zum allgemeinen Diskontinuitätsgrundsatz ....

89

3. Ausnahmen in Sonderfällen § 7

76

90

Personelle Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

A. Problem der personellen Bindung als Unterfall der Adressatenbindung ..

92

Inhaltsverzeichnis

13

B. Abgeordneter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Problemstellung

93

..................................

93

2. In der Ausübung des Mandats (als "Parlamentsangehöriger") . . . . . .

94

a) Notwendigkeit weiterer Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

b) Als Repräsentant des Volkes ("Statusverhältnis") .. . . . . . . . . ..

94

c) Als Organwalter ("Organverhältnis") . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

aa) Nochmalige Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

bb) Als Teil des Gesamtkörpers Parlament ("parlamentarisches Innenverhältnis") . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

cc) Als Einzelmandatsinhaber ("parlamentarisches Außenverhältnis") . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

3. Außerhalb seiner Mandatsausübung (als "Staatsbürger")

.........

99

4. Problem der Grenzziehung anhand von Beispielen . . . . . . . . . . . ..

100

a) Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

100

b) Redeordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

100

c) Ordnungsrecht, insbesondere Ausschließung . . . . . . . . . . . . . . .

101

d) Verhaltensregeln und Ehrenordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

aa) Verhaltensregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

105

bb) Ehrenordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

C. Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110

1. Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

110

a) Umfang der Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

110

b) Problem des Gesetzesvorbehalts

......................

111

2. Bindungswirkungen anhand von Beispielen . . . . . . . . . . . . . . . . .

112

a) Bürger als Zuhörer bei Plenar- oder öffentlichen Ausschußsitzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112

b) Bürger als Medienvertreter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

113

c) Bürger als Auskunftspersonen oder Sachverständige bei Anhörungen oder als Mitglieder von Enquetekommissionen . . . . . . . . . .

113

d) Bürger als Zeugen in Untersuchungsausschüssen

115

Institutionelle Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

116

A. Andere Staatsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

116

1. Historische Dimension: Die konstitutionelle Doktrin . . . . . . . . . . ..

116

§ 8

Inhaltsverzeichnis

14

2. Gültigkeit dieser Grundsätze heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

117

3. Bindung von Regierungs- (und Bundesrats-)Vertretern unter besonderer Berücksichtigung ihrer verfassungsmäßigen Rechte im Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

a) Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

119

b) Ordnungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

119

aa) Allgemeine Bindung der Regierung (und des Bundesrates) durch das Ordnungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

bb) Die Ordnungsmaßnahmen im einzelnen . . . . . . . . . . . . . . .

125

c) Redeordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

d) Berichts- und Antwortpflichten ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

129

B. Parlamentsinterne und parlamentsnahe Organe und Zusammenschlüsse ..

131

1. Parlamentsinterne Organe bzw. Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . ..

131

2. Parlamentsinterne Zusammenschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

a) Die parlamentarische Mehrheit (als informaler Zusammenschluß) ..

133

b) Fraktionen und Gruppen (als formale Zusammenschlüsse) . . . . . .

135

3. Parlamentsnahe Institutionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

137

a) Wehrbeauftragter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

137

b) Datenschutzbeauftragter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

138

c) Rechnungshof. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

140

Bindungsauswirkungen bezüglich parlamentarischer Entscheidungen..

141

§ 9

A. Problemdarstellung

..................................

141

B. Parlamentarische Entscheidungen mit Außenwirkung . . . . . . . . . . . . .

143

1. Begriff und Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

143

a) Begriff ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

143

b) Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

143

2. Folgen bei Zustandekommen entgegen konstitutivem Geschäftsordnungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

144

Parlamentarische Entscheidungen mit (bloßer) Innenwirkung

........

145

1. Begriff und Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

145

a) Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

145

b) Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

145

c.

Inhaltsverzeichnis 2. Folgen bei Zustandekommen entgegen konstitutivem Geschäftsordnungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. § 10

Durchsetzungsprobleme..............................

15

146

146

A. Vorbemerkung

146

B. Abweichungen

147

1. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

147

a) Mehrheitserfordemis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

147

b) Rechtstheoretische Grenzen

.........................

147

.............................

149

2. Dogmatische Einordnung dieses bindungsschwächenden Instituts . . . .

150

a) Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

150

b) Parallele zum verwaltungsrechtlichen Ermessen . . . . . . . . . . . ..

151

c) Parallele zur zivilrechtlichen Dispositivität . . . . . . . . : . . . . . ..

152

d) Fazit

.......................................

152

C. Richterliche Prüfungskompetenz bei Geschäftsordnungsverstößen . . . . ..

153

c) Praktische Ausübung

1. Vorbemerkung

...................................

153

2. Verfassungsgerichtliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

154

3. Andere Rechtsschutzmöglichkeiten bei Geschäftsordnungsverstößen ..

155

a) § 40 Abs. 1 VwGO

155

b) Art. 19 Abs. 4 GG

155

.........................................

156

Bindungskraft der Normen auf anderen untergesetzlichen Ebenen des (materiellen) Geschäftsordnungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

157

4. Fazit § 11

A. Vorbemerkung

.....................................

157

B. Untergesetzliche Normebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

157

1. Ergänzungsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

157

2. Parlamentarisches Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

158

3. Auslegungsentscheidungen zur formellen Geschäftsordnung . . . . . . .

160

a) Zuständigkeit

160

b) Bindungskraft

161

16

Inhaltsverzeichnis aa) Unterscheidung nach dem Charakter des auszulegenden Geschäftsordnungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

161

bb) Unterscheidung nach dem auslegenden (Teil-)Organ . . . . . . .

162

C. Sonstige Regelungsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . "

163

1. Parlamentsbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

163

2. Interfraktionelle Absprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

164

3. Kapitel

§ 12

Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung im formellen Sinn

166

Problem der rechtlichen Qualifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

166

A. Vorbemerkungen

166

1. Streitrelevanz

166

2. Einordnungsmethode

...............................

B. Leitende Gesichtspunkte bei der Problemlösung . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ergebnisse der vorhergehenden Untersuchungen

167 168

..............

168

2. Weitere wichtige Gesichtspunkte ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

168

a) Rechtscharakter des Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

168

b) Erlaß- und Änderungsverfahren der Geschäftsordnung, insbesondere das Publikationserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169

c) Weitgehende Identität von Normgeber, -adressat und -anwender

171

§ 13

..

d) Einheitlichkeit der Geschäftsordnung hinsichtlich ihrer Rechtsnatur

172

Darstellung und kritische Würdigung der Lösungsvorschläge in Literatur und Rechtsprechung mit Ausnahme der Satzung . . . . . . . . . ..

172

A. Vorbemerkung

.....................................

172

B. Normcharakterbestreitende Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

173

1. Vorbemerkung

...................................

2. Konventionalregeln

173

................................

173

3. Verwaltungsvorschrift (Verwaltungsverordnung) . . . . . . . . . . . . . ..

174

C. Rangvernachlässigende Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

175

1. Verfassung im formellen Sinn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

175

Inhaltsverzeichnis

17

2. Gesetz im formellen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

176

3. Rangvernachlässigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

176

D. Weitere materiell-gesetzliche Vorschläge mit Ausnahme der Satzung 1. Vorbemerkung

...

177

...................................

177

2. Rechtsverordnung oder gemischte Rechts- und Verwaltungs verordnung

177

E. Wirkungssphärenbezogene Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

179

1. Amtsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

2. Öffentlich-rechtliche Vereinbarung

180

3. Parlamentarische Innenrechtsnorm

181

4. Staatliches Innenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

181

Rechtsnorm sui generis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

182

1. Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

182

2. Wissenschaftliche Wertlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

183

Darstellung der Satzungsarten und Lösungsvorschlag . . . . . . . . . ..

184

F.

§ 14

A. Autonome Satzung

..................................

184

1. Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

184

2. Problem des Autonomiebegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

185

3. Unangemessenheit des Rechtsnaturtyps . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

186

4. Fehlende innere Schlüssigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

187

a) Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

187

b) Personelle und institutionelle Bindung. . . . . . . . . . . . . . . . . ..

187

c) Zeitliche Geltung. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . ..

189

5. Fazit

.........................................

189

B. Feststellung der satzungstypischen Merkmale in Übereinstimmung mit den leitenden Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

189

1. Vorbemerkung

...................................

189

2. Rangproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

190

3. Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

191

a) Personell und institutionell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

191

b) Zeitlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

191

4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

192

2 Haug

18

c.

Inhaltsverzeichnis Satzungsarten und Lösungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . .. .....

192

1. Ähnlichkeitslösungen ..... .. ..... .. . . . . . . . . . . . . .....

192

2. Ober- und Unterbegriffe der Satzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193

a) Der allgemeine (öffentlich-rechtliche) Satzungsbegriff . . . . . . . ..

193

b) Unterbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193

aa) Autonome Satzung

193

bb) Verfassungssatzung

194

3. Lösung der Rechtsnaturfrage der parlamentarischen Geschäftsordnung.

195

Zusammenfassende Leitsätze

197

Literaturverzeichnis

201

Stichwortverzeichnis

209

Abkürzungsverzeichnis Die verwendeten Abkürzungen sind, soweit sich aus dem Nachfolgenden nichts anderes ergibt, aus dem Abkürzungsverzeichnis ,,Abkürzungen für Juristen" von Hildebert Kirchner und Fritz Kastner, Berlin/New York 1983 entnommen. Abweichend oder ergänzend hierzu enthält diese Arbeit folgende Abkürzungen: Abgh.

Abgeordnetenhaus

aRT

Reichstag 1871- 1918 [alter Reichstag]

aRV

Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 [alte Reichsverfassung]

Ba.-Wü.

Baden-Württemberg

Brand.

Brandenburg

BS

Bürgerschaft

bzg!.

bezüglich

bzw.

beziehungsweise

ders.

derselbe

Ein!.

Einleitung

FS

Festschrift

gern.

gemäß

LV

Landesverfassung

Meck!. -Vorp.

MeckIenburg-Vorpommem

Norddt. Bd.

Norddeutscher Bund

NVers.

Nationalversammlung

PrVU

Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850 [Preußische Verfassungsurkunde]

RT

Reichstag

RV

Reichsverfassung

S.

Satz, Seite, Sitzung

Saar!.

Saarland

Sachs.

Sachsen

Sachs.-Anh.

Sachsen-Anhalt

2"

20

Abkürzungsverzeichnis

Schl.-H.

Schleswig-Holstein

StB

Stenographischer Bericht

Thür.

Thüringen

UAG

Gesetz über Einsetzung und Verfahren von Untersuchungsausschüssen des Landtags [Untersuchungsausschüssegesetz]

Vorb.

Vorbemerkung(en) zu

Württ.

Württembergische(r)

§ 1 Einleitung A. Bedeutung der parlamentarischen Geschäftsordnung und der mit ihr verbundenen Rechtsfragen 1. Allgemeine Bedeutung

Als Teil des Staatsrechts hat die parlamentarische Geschäftsordnung einen starken Politikbezug, ist also an der Gestaltung und Ordnung des Gemeinwesens beteiligtl . Die konkrete Bedeutung der Geschäftsordnung hängt naturgemäß vom Stellenwert des Parlaments in der jeweiligen Verfassungsordnung ab. Folglich spielt die Geschäftsordnung im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes eine besonders wichtige Rolle, was auch Bezeich.nungen wie "sekundäres Verfassungsrecht"2 und "Grundgesetz des Bundestages"3 deutlich machen. Gut sichtbar wird dies im historischen Vergleich, wonach nicht wenige parlamentsbezogene Verfassungsnormen geschäftsordnungsrechtlichen Ursprungs sind4. Dieses beachtliche Gewicht wird auch nicht durch die zunehmenden Absprachen der Fraktionen verringerts, denn der Erfolg dieser Absprachen hängt - nach wie vor - davon ab, daß die latent im Hintergrund stehende Geschäftsordnung den Abspracheparteien häufig nicht ausgesprochene Drohmittel an die Hand gibt. Die Bedeutung der parlamentarischen Geschäftsordnung wird durch ihre drei wesentlichen Funktionen - Verfahrensordnung, Minderheitenschutz und Selbstorganisation besonders deutlich, wie im Nachfolgenden zu zeigen ist.

1 Vgl. Bäckenfärde, Scupin-FS, S. 320; siehe auch Rothaug, Leitungskompetenz, S.9l. 2 Vgl. etwa Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 19 und Schulze-Fielitz, ebenda, § 11 Rn. I, 19; schon früh und besonders deutlich Jellinek, Schriften und Reden 11, S. 261 f.; Zeh, ZParl 17, S. 396, betont "die Fähigkeit und die Berechtigung" der GO zu Konkretisierung, Ausfüllung und Fortentwicklung des Verfassungsrechts. 3 von Mangoldt, bei Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S. 54; ähnlich Schmid bei Troßmann, JöR 28, S. 170: "Verfassung des Parlaments". 4 So weist H. Schneider, Smend-FS, S. 309 darauf hin, daß etwa die Polizeigewalt des Präsidenten oder auch das Fragerecht im Kaiserreich nur geschäftsordnungsrechtlich festgelegt waren; siehe auch Schweitzer, NJW 1956, S. 84, der in den "GOBestimmungen von heute Verfassungsrecht von morgen" sieht. S So aber Szmula im Artikel "Geschäftsordnungen", Handbuch des politischen Systems, S. 233.

22

§ 1 Einleitung

2. Verfahrensordnung Zunächst ist eine Verfahrensordnung eine nicht hinwegzudenkende Voraussetzung dafür, daß ein Parlament überhaupt funktionsgemäß tätig werden kann; unter den regelmäßig mehreren hundert Abgeordneten herrschte sonst der Zustand der Anarchie6 • Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet die Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 bei ihrer ersten Sitzung, in der sich häufig weder Redner noch Präsident Gehör verschaffen konnten 7 • Diese wichtige Aufgabe der Geschäftsordnung, das ..geordnete Funktionieren des Parlaments im Staats- und Verfassungs leben" zu sichern, hat auch das Bundesverfassungsgericht schon früh betont8 • Darüber hinaus hat die Geschäftsordnung als Verfahrensordnung in sachlicher Hinsicht häufig große Auswirkungen: Nicht selten nämlich beinhalten Verfahrensfragen bereits wichtige, oftmals sogar ausschlaggebende Vorentscheidungen für die Sachfragen, für die sie eigentlich ..nur" die Entscheidungsfindung regeln sollen9 • Deshalb wird in Verfahrensfragen oft engagierter und verbissener gerungen als später in den Sachfragen lO • Ein besonders gravierendes Beispiel für materielle Auswirkungen von Geschäftsordnungsentscheidungen stellt die Änderung der Geschäftsordnung des preußischen Landtags kurz vor der Wahl 1932 dar: Trotz der von der NSDAP errungenen relativen Mehrheit und der Handlungsunfähigkeit der anderen Parteien konnte in der neuen Legislaturperiode die Wahl eines NS-Kandidaten zum Ministerpräsidenten verhindert werden 11. Noch folgenreicher waren die Manipulatio-

6 Haagen, Rechtsnatur, S.4.; Hemau, Geschäftsordnungen, S.40 f. weist darauf hin, daß dieser Aspekt ganz vorrangig auf die parlamentarische GO zutrifft, weil gerade im Parlament der politische Meinungskampf ausgetragen wird - im Gegensatz zu den anderen Staatsorganen. 7 StB Paulskirche, Band 1, S. 4 ff. 8 BVerfGE I, 144 (148). 9 Vgl. Amdt, Autonomie, S. 130. 10 Vgl. H. Schneider, Smend-FS, S. 308, 313; Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 19, spricht davon, daß sich hinter GO-Fragen stets auch Machtfragen verbergen. 11 Kurz vor der Landtagswahl wurde für die Wahl des Ministerpräsidenten die Möglichkeit der Stichwahl bei fehlender absoluter Mehrheit abgeschafft und so in jedem Falle die absolute Mehrheit vorgeschrieben. Bei der Wahl erhielt die NSDAP - wie erwartet - die relative Mehrheit; wegen der KPD waren aber auch die Weimarer Parteien nicht (mehr) in der Lage, ihren Kandidaten positiv bestätigen zu lassen. So hielten sie den bisherigen Ministerpräsidenten Braun (SPD) mangels erfolgreicher Nachfolgerwahl zumindest geschäftsführend im Amt; vgl. H. Schneider, Smend-FS, S. 313; StGH, in: RGZ 139, Anh. S. 17 ff.

§ 1 Einleitung

23

nen an der Reichstagsgeschäftsordnung von 1933, die erst die Annahme des Ermächtigungsgesetzes vom 24.3.1933 möglich machten 12. 3. Minderheitenschutz Im parlamentarischen Regierungssystem ist das Parlament zum Mittelpunkt des politischen Prozesses geworden; deshalb ist es besonders wichtig, daß zur Erfüllung der parlamentarischen Kontrollaufgabe übermäßige Machtkonzentration der Regierung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit verhindert wird. Dies setzt eine mit entsprechenden Rechten ausgestattete Minderheit voraus. Die Gewährleistung dieser notwendigen Minderheitenrechte ist neben den verfassungsrechtlichen Vorgaben wie z.B. Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG - Sache der Geschäftsordnung, die jedoch zugleich Vorsorge gegen Mißbrauch dieser Minderheitenrechte treffen muß. Besonders anschaulich wurde die Bedeutung der Geschäftsordnungsminderheitenrechte bei den Änderungen der baden-württembergischen Landtagsgeschäftsordnung im Jahre 1992; nach der Bildung einer Großen Koalition in der Folge der Wahl vom Frühjahr 1992 konnte nicht einmal mehr die gesamte - aus drei Fraktionen bestehende - Opposition (die überdies wegen unüberbrückbarer politischer Gegensätze kaum geeint handlungsfähig sein wird) die Minderheitenquoren der alten Geschäftsordnung (25%) erfüllen, weshalb die Quoren an die neue Situation angepaßt wurden (neben 25% jetzt auch zwei Fraktionen) 13. 4. Selbstorganisation Entsprechend der Staatsverfassung, die unter anderem auch den Staatsaufbau organisatorisch zu regeln hat, besteht die dritte wesentliche Funktion der parlamentarischen Geschäftsordnung darin, den inneren parlamentarischen Aufbau zu organisieren 14 • Die besondere Bedeutung dieser Funktion ist eng

12 Die für die Annahme des "Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich" erforderliche 2/3-Mehrheit war wegen der Stärke von SPD und KPD eigentlich nicht gewährleistet; sie wurde nur erreicht durch die Ausschaltung vornehmlich der KPD angehörenden Abgeordneten in Verbindung mit der GO-Änderung, wonach sich das Mehrheitserfordernis nicht auf die gesetzliche Mitgliederzahl, sondern nur auf die abgegebenen Stimmen bezieht; vgl. Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S. 55, 56. 13 Vgl. LT Ba.-Wü., Drucks. 11/996. 14 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 116.

24

§ 1 Einleitung

mit der parlamentarischen Selbstbestimmung verbunden; das Recht, sich selbst unabhängig von Einflüssen der anderen Staatsorgane organisieren zu können, ist für die eigene Festlegung der Arbeitsweise und Arbeitsteilung von eminenter Wichtigkeit. Dies hat durchaus auch politische Relevanz; so kann das Parlament etwa durch die Einsetzung eines ständigen Ausschusses zur Kontrolle eines bestimmten Ministeriums oder Sachbereichs ls die Kontrolldichte und auch den Kontrolldruck gegenüber diesem Ministerium oder Sachbereich stark erhöhen. Noch folgenreicher sind die von der parlamentarischen Geschäftsordnung aufgestellten Voraussetzungen für die Bildung einer Fraktion. Von dem Erreichen des Fraktionsstatus hängen für die betroffenen Abgeordneten nicht unerhebliche Verbesserungen ihrer Arbeitsmöglichkeiten ab l6 ; auch hat die nie ganz verstummte Problematik der Anerkennung der CDU /CSU-Bundestagsfraktion vor dem Hintergrund des § 10 Abs. 1 GO BT mit Blick auf das Vorschlagsrecht bei der Wahl des Bundestagspräsidenten ganz wesentliche Bedeutung 17 •

B. Problemstellung und Aufbau der Untersuchung 1. Aufgabe der Arbeit

Die beachtliche verfassungspolitische und verfassungsrechtliche Bedeutung der parlamentarischen Geschäftsordnung steht in einem auffälligen Mißverhältnis zur juristischen Würdigung dieser RechtsqueUe. Sowohl hinsichtlich ihrer Bindungskraft als auch ihrer normativen Wertigkeit wird die Geschäftsordnung von der h.M. nur sehr gering geachtet: So soll sie nur für eine Wahlperiode und auch nur für die Abgeordneten selber gelten; schließlich sei sie als autonome Satzung einzuordnen ls . Diese Bewertung der Geschäftsordnung durch die h.M. geht schon auf die Anfangszeit des deutschen

Vgl. § 54 GO BT. Landesparlamente haben daher schon des öfteren auch solchen Abgeordnetengruppen den Fraktionsstatus zuerkannt, die ihrer Größe nach die geschäftsordnungsrechtlichen Anforderungen nicht erfüllt haben (in der Regel 5 v.R. der Parlaments mitglieder). 11 Da insbesondere die CSU regelmäßig betont, eine selbständige Partei zu sein (was 1976 sogar beinahe eine Auflösung der Fraktion zur Folge gehabt hat), wurde des öfteren namentlich von seiten der SPD in Zweifel gezogen, daß CDU und CSU eine gemeinsame Bundestagsfraktion bilden könnten; verneinendenfalls würde nämlich die SPD die stärkste Fraktion stellen und damit das Vorschlagsrecht für die Wahl des Bundestagspräsidenten haben. 18 Vgl. statt vieler: BVerfGE 1, 144 (148); weitere Nachweise folgen im einzelnen an den jeweiligen Stellen. 15

16

§ 1 Einleitung

25

Parlamentarismus (im Konstitutionalismus) zurück 19 und hat trotz der erheblichen Veränderungen der Verfassungsordnung und der Stellung des Parlaments keine Korrekturen erfahren20 • Aufgabe dieser Arbeit soll es sein, die engen Zusammenhänge zwischen der h.M. und konstitutionellen Denkweisen aufzudecken und so den stark tradierten Charakter dieses Bereichs der Rechtswissenschaft zu zeigen. Davon ausgehend sollen vor allem die Bindungsprobleme sowie die Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung unter besonderer Berücksichtigung der von der Verfassung vorgegebenen Leitfunktion, die den heutigen verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen Rechnung trägt, untersucht und gewürdigt werden. Dabei sollen die hier gemachten Ausführungen grundsätzlich für das Geschäftsordnungsrecht des Bundes wie der Länder gelten21 ; bei speziellen Problemen und konkreten Beispielen wird allerdings das Bundesrecht und unter den Ländern das Recht Baden-Württembergs einen gewissen Vorrang einnehmen. Aus der vorstehend geschilderten Zielsetzung ergibt sich nun folgender Aufbau dieser Arbeit:

2. Aufbau der Arbeit In einem ersten Kapitel (Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen) bedarf es zunächst der Herausarbeitung grundlegender Begrifflichkeiten und wichtiger Hintergründe. Das zweite Kapitel (Bindungsprobleme) wird den Schwerpunkt der Arbeit bilden. Die Bindungskraft der Geschäftsordnung soll unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht werden; dabei wird die Prüfung zunächst auf die Geschäftsordnung im formellen Sinn beschränkt, da diese den wesentlichen Teil des Geschäftsordnungrechts ausmacht, bevor auch die anderen Regelungsebenen behandelt werden. Schließlich erfolgt im 3. Kapitel (Rechtsnatur) eine Auseinandersetzung mit der Rechtsnaturfrage. Denn zum

19 Laband, Staatsrecht I, S. 320, der als Urheber der "Satzungstheorie" gilt, spricht von "statutarischen Regelungen" nur unter den Reichstagsmitgliedern. 20 H. Schneider, Smend-FS, S. 304, beklagt (schon 1952) die Geringschätzung der GO als "Normen minderen Grades, die in ihrer Geltungskraft noch unter einer Polizeiverordnung stehen"; Magiera, Staatsleitung, S. 122, sieht im GO-Recht einen "eher vernachlässigten Gegenstand", was weder seiner tatsächlichen noch seiner rechtlichen Tragweite für das Staats- und Verfassungsrecht gerecht werde. 21 Schröder, Parlamentsrecht, weist auf S. 250 ff. und insbes. S. 256 ff. eine weitgehende sachliche Übereinstimmung der einzelnen "Parlamentsrechte" mit der Folge fest, von einem allgemeinen deutschen Parlamentsrecht ausgehen zu können. Auf S. 268 zieht er daraus die Folgerung, daß eine zusammenfassende dogmatische Behandlung statthaft ist.

26

§ 1 Einleitung

einen wird die wenig begründete h.M., die - wie erwähnt - von einer autonomen Satzung ausgeht, in jüngerer Zeit wieder zunehmend in Frage gestelle2 ; zum anderen muß gerade in enger Verbindung mit den Feststellungen zur normativen Bindungskraft auch eine Aussage zur normativen Qualifizierung getroffen werden.

22 Siehe z.B. Achterberg, Parlamentsrecht, S. 59 und in: MKAS, Art. 40 Rn. 39, sowie im Anschluß daran Kretscluner, ZParl 17, S.334 (341); außerdem Rothaug, Leitungskompetenz, S. 79 f.

1. Kapitel

Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen § 2 Historischer Hintergrund

A. Entstehung und Entwicklung der parlamentarischen Selbstorganisation anhand von Beispielen 1. Geschäftsordnungskompetenz Der europäisch-kontinentale Parlamentarismus mußte in seiner Anfangszeit - in Frankreich mit der Revolution von 1789, in Deutschland mit Beginn des 19. Jahrhunderts - noch sehr um seine Anerkennung kämpfen; dieses Bemühen entsprach dem Kampf um einen selbstbestimmten Freiraum zur Regelung der eigenen Angelegenheiten!. So wurde die der französischen Nationalversammlung 1789 bzw. 1791 zuerkannte Geschäftsordnungskompetenz schon unter Napoleon (ab 1799) wieder stark eingeschränkt und im Zeichen der Restauration 1814 von König Ludwig XVIII. formell aufgehoben; das innere Verfahren der Kammer wurde gesetzlich - also unter bedeutendem Einfluß des Monarchen - geregelt. Mit der Revolution von 1830 wurde der Kammer wieder die selbständige Geschäftsordnungskompetenz eingeräume. Auch heute beschließt die Nationalversammlung ihre Geschäftsordnung allein, die allerdings der Genehmigung des Verfassungsrates (der etwa dem Verfassungsgericht entspricht) unterliegt; dieser Genehmigung geht eine nur an der Verfassung orientierte Prüfung voraus (Art. 61 Abs. 1 Frz. Verf. 1958). In den deutschen Ländern, die zwischen 1815 und 1867 nur im lockeren Staatenbund ,,Deutscher Bund" zusammengeschlossen waren, erschien es ebenfalls zunächst undenkbar, der (zweiten) Kammer auch nur die Regelung ihrer inneren Angelegenheiten allein zu überlassen. So wurde die Geschäfts-

Kretschmer, ZParl 17, S. 334 (337). 2 Vgl. Rösch, Geschäftsordnung, S. 17. 3 Zumeist wurde ein Zweikammersystem eingeführt; in der Ersten Kammer waren Adel, Klerus und bestimmte Einrichtungen vertreten, in der Zweiten Kammer die volksgewählten Abgeordneten. I

28

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

ordnung in Bayern 1818 gesetzlich und in Hessen 1820 und Sachsen 1831 gar verfassungsgesetzlich, später (in Hessen bis 1920!) immer noch einfachgesetzlich, geregelt; selbst im vergleichsweise fortschrittlichen Baden wurde das Reglement durch eine Vereinbarung zwischen der Regierung und der jeweiligen Kammer festgelegt4 • In Württemberg, wo die Verfassung von 1819 bereits umfassende geschäftsordnungsrechtliche Vorschriften (vor allem betreffs Stimmrecht, Abstimmung, Sitzordnung und Organisation) enthielt5, unterlag die Geschäftsordnung zunächst noch einem königlichen Genehmigungsvorbehalt, was keineswegs nur eine Formalie darstellte. Dieser Vorbehalt konnte im Zuge der Revolution von 1848/49 abgestreift werden, was die Regierung auch in der restaurativen Folgezeit nicht wieder rückgängig machen konnte6 • Erst durch die neue Verfassung von 1874 (§ 164a) wurde jeder Kammer unter gleichzeitigem Wegfall des Großteils der materiell-geschäftsordnungsrechtlichen Verfassungs vorschriften die Geschäftsordnungskompetenz zugestanden 7• Eher erstaunlich wirkt es, daß das für demokratische Fortschrittlichkeit wenig bekannte Preußen bereits in der oktroyierten Verfassung von 1850 (Art. 78 Abs. 1 S. 2) und damit vergleichsweise früh den Kammern die eigenständig auszuübende Geschäftsordnungskompetenz neben nur sehr wenigen verfassungsrechtlichen Einzelvorgaben (etwa zu Öffentlichkeit und Beschlußfähigkeit) - eingeräumt hat8 •

2. Präsidentenwahl Ebenso wie die Geschäftsordnungskompetenz mußten sich die Kammern die freie Wahl ihres Präsidenten erst erkämpfen. So war es in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts üblich, daß die Kammer dem Monarchen nur eine Vorschlagsliste unterbreiten durfte. In Hessen wählte der Großherzog zwischen 1820 und 1849 sowie 1855 und 1874 den 1. und 2. Präsidenten aus einem sechs Abgeordnete umfassenden Vorschlag aus; lediglich die zwei

4 Rösch, Geschäftsordnung, S. 23; zu Hessen detailliert Brentano, Parlamentspräsident, S. 19 - 22. 5 Rösch, Geschäftsordnung, S. 24; Mohl, Staatsrecht, S. 723 (Anm. 9) rechtfertigt die verfassungsvorgegebene Sitzordnung (§ 162 - innerhalb der Klassen nach Amtsbzw. Lebensalter nebeneinander) mit mehr Sachlichkeit der Debatte und größerer Gewissensfreiheit des Abg. 6 Brentano, Parlamentspräsident, S. 19 Fn. 30; vgl. auch Rösch, Geschäftsordnung, S. 24; Mohl, Staatsrecht, S. 698 (Anm. 3). 7 Rösch, Geschäftsordnung, S. 25. 8 Rösch, Geschäftsordnung, S. 19; der demokratische "Wert" dieses Zugeständnis wird allerdings durch das damalige Zensuswahlrecht wieder relativiert.

§ 2 Historischer Hintergrund

29

Sekretäre durften von der Kammer frei gewählt werden9 • In Württemberg mußten sowohl für den Präsidenten wie für den Vizepräsidenten nacheinander drei mit absoluter Mehrheit gewählte Abgeordnete vorgeschlagen werden (§ 164 Abs. 3 LV württ. 1819), was ebenfalls - entsprechend den Beschränkungen der Geschäftsordnungskompetenz - mit der Verfassung von 1874 zugunsten eines freien Wahlrechts wegfiel lO• Die Preußische Verfassungsurkunde von 1850 sah in Art. 78 Abs. 1 S. 2 eine freie Präsidentenwahl durch jede Kammer vor.

B. Herkunft und Entwicklung der parlamentarischen Geschäftsordnungen in Deutschland 1. Herkunft

a) Ursprung im Mutterland des Parlamentarismus (England) In England hat sich schon früh ein Parlament herausgebildet, das bereits im 17. Jahrhundert den offenen Machtkampf mit der Krone nicht scheute und letztlich sogar für sich entscheiden konnte; dies wurde mit der - vom Parlament beschlossenen - Hinrichtung König Charles I. im Jahre 1649 besonders dramatisch unterstrichen. Spätestens seit der "Glorious Revolution" von 1688 war das Parlament entscheidend an der Staatsleitung beteiligtlI. So entstand dort sehr viel früher als auf dem Kontinent eine parlamentarische Geschäftsordnung; diese bildete sich durch viele harte innerparlamentarische Auseinandersetzungen "in langsamer organischer Entwicklung"12. b) Kontinentale Rezeption und Weiterentwicklung (Frankreich) Bei dem sehr viel späteren Aufkommen des Parlamentarismus auf dem Kontinent konnte auf eine langjährig erprobte und an parlamentarischen Erfahrungen reichhaltige englische Geschäftsordnung zurückgegriffen werden,

Brentano, Parlamentspräsident, S. 19 - 22. 10 Brentano, Parlamentspräsident, S. 19 Fn. 31; vgl. auch Mohl, Staatsrecht, S. 719; in StuVöR, S. 287 ff., kritisiert Mohl zwar das königliche Auswahlrecht, fordert - wegen der Bedeutung des Präsidenten für das Verhältnis zwischen Kammer und Regierung - gleichwohl dessen Bestellung unter Regierungseinfluß. 11 Vgl. Rösch, Geschäftsordnung, S. 11, 12. 12 Rösch, Geschäftsordnung, S. 7. 9

30

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

wobei Jeremy Benthams Zusammenstellung!3 der - nie kodifizierten! - parlamentarischen Regeln und Gebräuche eine wichtige Hilfe darstellte!4. Allerdings stand auf dem Kontinent - wie oben dargestellt - die Einräumung der ErIaßkompetenz lange vor inhaltlichen Fragen!5. Frankreich nahm durch die Revolution von 1789 eine Vorreiterrolle ein; hier wurde inhaltlich die englische Geschäftsordnung auf den kontinental und national bedingt etwas anderen Hintergrund übertragen!6. Über Frankreich und Belgien fand dieses Gedankengut auch nach Deutschland, wo es trotz des ebenfalls starken Einflusses ständischer Traditionen und Gepflogenheiten dominierend auf die entstehenden Geschäftsordnungen einwirkte 17 • In inhaltlicher Hinsicht zeigen noch heute die zentralen Geschäftsordnungsvorschriften auch in Deutschland den englischen Ursprung, so etwa Immunität, Minderheitenschutz oder parlamentarische Ordnung!8. c) Historische Geschäftsordnungstypen

Die Geschäftsordnungen entwickelten sich in den verschiedenen Ländern hinsichtlich ihrer äußeren Form und ihrer normativen Verortung sehr unterschiedlich, was zu Hatscheks Geschäftsordnungstypenlehre führte. So ist der englische Geschäftsordnungtyp durch ein besonders großes Gewicht des Gewohnheitsrechts und die verschiedenen Arten von "orders" (Resolutionen mit unterschiedlicher Geltungsdauer) gekennzeichnet!9. In Frankreich entwickelten sich in Abhängigkeit von der politischen Lage zwei unterschiedliche Typen. Der französische Geschäftsordnungstyp von 1791 und 1830 sieht neben nur wenigen Organisationsbestimmungen in der Verfassung einen weiten Regelungsspielraum für die Geschäftsordnung vor; dieser Typ war für die meisten europäischen Staaten richtungsweisend, auch für Preußen und damit für das Deutsche Reich von 1871 2°. Der andere französische Typ von 13 Bentham, Taktik oder Theorie des Geschäftsganges in deliberierenden Volksständeversammlungen, 1817; bearb. von St. Dumont. 14 Rösch, Geschäftsordnung, S. 16. 15 Rösch, Geschäftsordnung, S. 8, 14. 16 Rösch, Geschäftsordnung, S. 16 f. 17 Rösch, Geschäftsordnung, S. 18, 19; Meyer / Anschülz, Staatsrecht, S. 364; Mohl, Staats- und Völkerrecht, S. 283, beklagt sich als Zeitgenosse über die häufig undifferenzierte Übernahme französischer GO-Vorschriften; den Grund hierfür sieht er ganz praktisch in der leichten Zugänglichkeit und Übersichtlichkeit der französischen GO. 18 Rösch, Geschäftsordnung, S. 7 f. 19 Hatschek, Parlamentsrecht, S. 30, 31; Rösch, Geschäftsordnung, S. 26. 20 Hatschek, Parlamentsrecht, S. 32, mit Hinweis auf die anderen europäischen Länder: Belgien, Spanien, Griechenland, Italien, Holland und Dänemark.

§ 2 Historischer Hintergrund

31

1814 trennt scharf zwischen innerer und äußerer Geschäftsordnung; letztere war nur durch Gesetz zu regeln. Dieser Typ fand mit verschiedenen Abwandlungen Eingang in die süddeutschen Verfassungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Der amerikanische Typ bewegt sich zwischen der englischen und französischen Regelungsweise; so ist auch hier die Dreiteilung der "orders" (in standing, sessional und einfache orders) bekannt, aber nicht die Zwangsgewalt gegen Nichtmitglieder. Schließlich ist laut Hatschek der schwedische Typ durch eine verfassungsrechtliche Regelung der Geschäftsordnung gekennzeichnet; es besteht hier nur noch Raum für wenig bedeutsame Arbeitsordnungen21 •

2. Entwicklung: Vom preußischen Abgeordnetenhaus zum Deutschen Bundestag a) Preußisches Abgeordnetenhaus und Norddeutscher Bund

Die 1849 in Anlehnung an die Geschäftsordnungen der Frankfurter Nationalversammlung und der belgischen Kammer beschlossene Geschäftsordnung des preußischen Abgeordnetenhauses wurde vom konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes mit geringfügigen Änderungen en bloc - ausdrücklich aus praktischen Gründen (Bekanntheits- und Bewährungsgrad)22 auch als seine Geschäftsordnung angenommen; diese wurde unverändert vom ordentlichen norddeutschen Reichstag zunächst provisorisch übemommen23. Im Jahre 1868 kam es dann auf die Anträge Lasker und Twesten hin zur ersten bedeutenden Geschäftsordnungsreform, die durch eine besondere Geschäftsordnungskommission vorbereitet wurde24 . Dabei entwickelte sich die Geschäftsordnung von der französisch-belgischen Doktrin in Richtung der englischen Geschäftsordnung; so wurde unter anderem die bislang sehr schwache Stellung des Präsidenten gestärkt und die Gesetzesberatung in drei Lesungen eingefübft2s.

Hatschek, Parlamentsrecht, S. 31, 32; Rösch, Geschäftsordnung, S. 27 Vgl. StB RT Norddt. Bd., 1. S. (25.2.1867), 6. S. (6.3.1867). 23 Hatschek, Parlamentsrecht, S. 62, 63; Rösch, Geschäftsordnung, S. 20; Perels, Reichstagsrecht, S. 1. 24 Vgl. StB RT Norddt. Bd., 16. S. der 1. Session (8.10.1867), 17. S., 2. Sess. (6.6.1868),21. S. (12.6.1868). 25 Hatschek, Parlamentsrecht, S. 64-67. 21

22

32

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

b) Kaiserreich

Diese Geschäftsordnung wurde dann nach der Reichsgründung vom Deutschen Reichstag zu Beginn der ersten Legislaturperiode übernommen; in den nachfolgenden Legislaturperioden erfolgte die jeweilige Übernahme zumeist sogar nur stillschweigend26 • Lediglich in kleinen Einzelschritten fanden während des Kaiserreiches inhaltliche Veränderungen statt; so wurde die Stellung des Präsidenten weiter gestärkt (etwa durch Erleichterung des Wortentzugs und der Wortversagung), das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit besser austariert und das Interpellationsrecht eingeführt27 • c) Weimarer Republik und NS-Zeit

Auch die staatstheoretisch enorm bedeutsame Wende von der Monarchie zur Republik im Jahr 1918 blieb zunächst ohne spürbare Folgen für die Geschäftsordnung; sowohl die Verfassunggebende Weimarer Nationalversammlung als auch der erste Reichstag übernahmen die Geschäftsordnung des letzten kaiserlichen Reichstages, wobei sie lediglich auf die Bildung von Abteilungen verzichteten28 • Erst 1922 wurde eine neue Geschäftsordnung verabschiedet, die bei zum Teil erheblichen Veränderungen dennoch auf der alten Geschäftsordnung beruhte29 • Diese Geschäftsordnung galt unter überwiegend stillschweigender Übernahme während der ganzen Weimarer Zeit und erfuhr auch unter dem Nationalsozialismus keine formelle Veränderung, wobei freilich der Reichstag nach dem Erlaß des Ermächtigungsgesetzes von 1933 keine nennenswerte Rolle mehr spielte. d) Bundesrepublik

Wie 1919/20 arbeitete der erste Deutsche Bundestag 1949 zunächst im wesentlichen auf der Grundlage der Weimarer Reichstagsgeschäftsordnung von 1922 einschließlich späterer Änderungen. Aber auch die 1951 verabschiedete eigene Geschäftsordnung enthielt überwiegend alte Geschäftsordnungsvorschriften; allerdings wurden zahlreiche Einzelrechte an Quoren

26 Zeh, ZParl 17, S. 396 (398); Pereis, Reichstagsrecht, S. 2; Rösch, Geschäftsordnung, S. 21. 27 Ausführlich Hatschek, Parlamentsrecht, S. 67 - 83. 28 StB NVers., 6.2.1919; StB RT, 24.6.1920. 29 Rösch, Geschäftsordnung, S. 21; Anschütz. Weimarer Reichsverfassung, Art. 26 Anm.2.

§ 2 Historischer Hintergrund

33

geknüpft, die Abweichung von einer Mehrheit von zwei Dritteln abhängig gemacht (bislang nur einstimmig) und die Fragestunde - zunächst nur zu lokalen Problemen - sowie die öffentlichen Anhörungen eingeführt30 • Erst in der 5. Wahlperiode wurden wieder umfassendere inhaltliche Veränderungen vorgenommen; so wurde durch die Reform von 1969 unter anderem die Ausstattung von Abgeordneten in finanzieller wie personeller Hinsicht verbessert, der Begriff der Fraktionsmindeststärke als Leitbegriff für die meisten Quoren und das Prinzip von Rede und Gegenrede eingeführt, der Ältestenrat als einziges innerparlamentarisches Leitungsorgan konstituiert und die Ausschußarbeit umgestalteei. Zuletzt erfuhr die Bundestagsgeschäftsordnung am Ende der 8. Wahlperiode nennenswerte inhaltliche Veränderungen; insbesondere wurde die Stellung der Fraktionen zu Lasten des einzelnen Abgeordneten noch weiter verstärkt. Außerdem erfolgten beispielsweise Verfeinerungen der Redezeitregelung und die Stärkung einzelner Ausschüsse32 •

C. Bedeutung des historischen Hintergrundes für das aktuelle Geschäftsordnungsrecht 1. Bedeutung Wie eben gezeigt wurde. hat sich das deutsche Geschäftsordnungsrecht - relativ unbeeindruckt von staatsrechtlichen Umwälzungen - sehr behutsam und stetig entwickelt. Aufgrund dieser normativen Kontinuität weisen die heutigen Geschäftsordnungen sowohl strukturell wie auch inhaltlich starke Züge ihrer Vorgängerinnen aue3 • So sind viele Vorschriften nur vor ihrem Entstehungshintergrund zu verstehen; deshalb kommt der historischen Dimension bei der Auslegung von Geschäftsordnungsrecht ein ganz besonderes Gewicht zu, wie auch das Bundesverfassungsgericht bereits festgestellt hae4 •

30 Schröder, Parlamentsrecht, S. 217; Zeh, ZParl 17, S. 396 (399); Szmula, Handbuch des politischen Systems, Art. "Geschäftsordnungen", S. 231; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 63. 31 Ausführlich Thaysen/Schindler, ZParl 1, S. 22 (22-26); Achterberg, Parlamentsrecht, S. 63; kritisch zur Reichweite der Reform Schneider, AöR 105, S. 4, 34. 32 Roll, NJW 1981, S. 23 (23-25); Achterberg, Parlamentsrecht, S. 64. 33 Roll, Bundesrecht, S. 43 f.; Zeh, ZParl 17, S. 396 (397); vgl. Dreier, JZ 1990, S. 310 (316), zur "erstaunlichen Stabilität der GO": "In Wirklichkeit ist kaum ein Gesetz in seinen Grundstrukturen so dauerhaft wie die GO." 34 BVerfGE 1, 144 (148 f.) im Anschluß an StGH, in: RGZ 139 Anh. S. 5 (15); Schröder, Parlamentsrecht, S. 214 f.; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 333.

3 Haug

34

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

2. Konstitutionelles Denken

Allerdings muß gleichzeitig gesehen werden, daß sich die verfassungsrechtlichen Rahrnenbedingungen seit der Schaffung vieler Geschäftsordnungsvorschriften grundlegend verändert haben. So bedarf manche Norm, die vor einem konstitutionellen Hintergrund entstanden ist, einer den modernen Gegebenheiten angepaßten Auslegung und Behandlung; insofern darf man nicht bei der historischen Betrachtung stehenbleiben35 • Es muß dem Umstand Rechnung getragen werden - auch hinsichtlich der Geschäftsordnung als Ganzes -, daß die klassische Geschäftsordnungsfunktion im konstitutionellen Gegensatz von Parlament und Regierung ihre Bedeutung unter dem parlamentarischen Regierungssystem verloren hae6 • Außerdem hat sich der Stellenwert des Parlaments in der Verfassungsordnung grundlegend gewandelt; aus der den Fürsten lediglich beratenden Herbstversammlung37 ist ein oberstes Staatsorgan geworden, das zwar formell den anderen obersten Staatsorganen gleichsteht, materiell jedoch zentrale Bedeutung gewonnen haes. Bei dieser juristisch zu verstehenden und - allein - an der Verfassung orientierten Feststellung kann es auf reale Machtverhältnisse zwischen den Staatsorganen freilich nicht ankommen. Das Parlament ist in Deutschland das einzige Organ mit unmittelbarer Legitimation durch das Volk als Souverän39 ; die Exekutive ist - allein - von seinem Vertrauen abhängig. Selbst die Legitimation des Bundesrates geht letztlich auf die Länderparlamente zurück, von denen die Landesregierungen als Bundesratsmitglieder abhängig sind40 • Damit soll jedoch nicht einer "Organsouve-

35 Vgl. Arndt, Autonomie, S. 48; Roll, Bundesrecht, S. 44; Bücker, ZParl 17, S. 324 (332). ' . 36 Maunz, in: MDHS, Art. 40 Rn. 1; Schröder, Parlamentsrecht, S. 222. 37 Jellinek, Schriften und Reden 11, S. 237. 38 Kelsen, Staatslehre, S. 364, spricht in diesem Zusammenhang von "Parlamentsherrschaft"; Troßmann, JöR 28, S. 12-17, weist zudem auf den systematischen Gesichtspunkt hin, daß der Bundestag im GG als erstes der Verfassungsorgane genannt wird; Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S. 134; vorsichtiger Achterberg, DVBI 1974, S. 693 (697); Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 79, 80, dagegen bestreitet einen materiellen Vorrang des Parlaments. 39 P. Kirchhof, BVerfG und GG 11, S. 77, spricht sogar von "legislativer Staatsleitung"; Bücker, ZParl 17, S. 324 (332), weist auf die - allein - entscheidenden Verfassungsbestimmungen hin; BVerfGE 33, 125 (159); Stern, Staatsrecht, § 26 I 2a; kritisch Magiera, Staatsleitung, S. 104 ff., der die Legitimation viel eher auf den Kanzler und die Parteien bezieht, ähnlich auch Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 81; beide verkennen dabei freilich den Unterschied zwischen politischer und rechtlicher Wertigkeit. 40 H.-P. Schneider, in: Alternativkommentar, Art. 38 Rn. 5; Schäfer, Bundestag,

§ 3 Begriff der Geschäftsordnung

35

ränität" das Wort geredet werden; das Parlament bleibt neben den anderen Staatsorganen in die Kompetenzordnung des Grundgesetzes eingebunden41 • Es wird in den beiden folgenden Kapiteln zu zeigen sein, daß dieser ganz wesentliche Gedanke bei geschäftsordnungsrechtlichen Problemen nicht immer in ausreichendem Umfang berücksichtigt wird42 •

§ 3 Begriff der Geschäftsordnung A. BegritTsherkunft und Einordnung Der Begriff der "Geschäftsordnung", der den des (Geschäfts-)Reglements im deutschen Parlamentsrecht verdrängt hat, geht auf F. C. von Savigny zurück, der 1825 im Preußischen Staatsrat an der Erarbeitung der Geschäftsordnung mitgewirkt und dabei diese Bezeichnung vorgeschlagen hatte43 • Das Recht der parlamentarischen Geschäftsordnung bildet heute gemeinsam mit den Vorschriften über die Zusammensetzung des Parlaments (Wahlrecht) und über die Rechtsstellung des Parlaments (Parlamentsrecht im engeren Sinn) sowie der Parlamentsmitglieder (Abgeordnetenrecht) das Parlamentsrecht44 • Dieses wiederum ist als Teil des Staatsrechts und damit des materiellen Verfassungsrechts anzusehen45 •

S. 51, weist auf die legitimationsspendende Funktion des Parlaments für die anderen Staatsorgane hin; Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S. 10-13. 41 Vgl. Achterberg, Parlamentsrecht, S. 95; Magiera, Staatsleitung, S. 167, 169, 170; H.H. Klein, in: lsensee/Kirchhof, § 40 Rn. 2; Schramm, Staatsrecht I, S.77; BVerfGE 49, 89 (124 f.). 42 Bücker, ZParl 17, S. 324 (332). 43 So bei Schneider, Smend-FS, S. 305. 44 Insofern gilt noch Hatschek, Parlamentsrecht, S. 1; siehe aber auch Achterberg, Parlaments recht, S. I, 15; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 67; zu eng Badura, Staatsrecht, S. 313, der eigentlich nur das GO-Recht meint. 45 Überzeugend Mattem, Grundlinien, S. 79, 80; a.A. noch Hatschek, Parlamentsrecht, S. 8-11.

36

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

B. Die parlamentarische Geschäftsordnung im materiellen Sinn 1. Begriff

Weite Teile des Schrifttums verstehen unter dem materiellen Geschäftsordnungsbegriff die Regeln zur Gewährleistung eines geordneten und effektiven Verfahrens sowie zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Hause46 • Im einzelnen zählen dazu die innere Organisation (Ältestenrat, Ausschüsse, Fraktionen), das Verfahren (etwa Antragsquoren, Redeordnung) sowie das Disziplinarrecht47 • Schon hier wird die konstitutionelle Prägung sichtbar, denn dieses Verständnis beruht auf der noch in der PrVU 1850 und in der aRV gebrauchten Umschreibung der Geschäftsordnung; dort war von "Geschäftsgang und Disziplin" die Rede gewesen48 • Diese konstitutionell bedingte - relativ oberflächliche - Enumerativvorstellung wird jedoch dem materiellen Geschäftsordnungsbegriff nicht gerecht49 • Er bedarf vielmehr eines erweiterten Geschäftsordnungsverständnisses, das sich daran orientiert, worin die Leitfunktion - also die verfassungsrechtliche Aufgabe - der parlamentarischen Geschäftsordnung liegt. Diese Leitfunktion besteht unabhängig von den einzelnen (Unter-)Funktionen der Geschäftsordnung vornehmlich darin, dem Parlament als oberstes Verfassungsorgan eine adäquate Erledigung seiner verfassungsrechtlichen Aufgaben zu ermöglichen. Diese Sicherungsfunktion klingt in Schrifttum und Rechtsprechung zwar vereinzelt an, wird aber nicht als Grundlage des materiellen Geschäftsordnungsbegriffs behandelt50• 46 Vgl. etwa Seifert, in: Seifert/Hömig, Art. 40 Rn. 3 oder Klein, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 40 Rn. 6; zu weitgehend Rösch, Geschäftsordnung, S. 29 und Jellinek, Schriften und Reden 11, S. 258, die beide das Wahlrecht zum mat. GO-Recht zählen. 47 Vgl. Pietzcker, in: Schneider/Zeh § 10 Rn. 20 und Kretschmer, ebenda, § 9 Rn. 2. 48 Art. 78 Abs. I, Satz 2 PrVU 1850, Art. 27 Satz 2 aRV; der Sache nach ähnlich § 165 Württ. LV 1819. 49 So aber ausdrücklich unter Berufung auf die historische Entwicklung BVerfGE 44, 308 (314 f.). ~o Siehe C. Schmid bei Troßmann, JöR 28, S. 170, wonach die GO " ... nicht eine bloße Felddienstordnung für parlamentarische Gefechte (ist). ... sie gewährleistet ... daß es [das Parlament] ... in einer Weise tätig werden kann und muß, die dem demokratisch-freiheitlichen Geiste des GG gemäß ist"; Köhler, ZParl 22, S. 177 (184, 185) stellt das "im Staatsorganisationsrecht geltende Prinzip einer funktionsorientierten Normauslegung" auch für die GO fest. Das BVerfG erwähnt zumindest "die Befugnis, sich selbst zu organisieren und sich dadurch zur Erfüllung seiner Aufgaben in den Stand zu setzen" in BVerfGE 80, 188 (219); Vgl. außerdem Bernau, Geschäftsordnungen, S. 222; deutlich Roll, Bundesrecht, S. 44.

§ 3 Begriff der Geschäftsordnung

37

Legt man diesen funktionellen Ansatz zugrunde, so umfaßt der Begriff der materiellen Geschäftsordnung unter der Geltung des Grundgesetzes alle Vorschriften, die für Organisation und Arbeitsweise einer freiheitlich-demokratischen Volksvertretung geeignet und erforderlich sind. Freilich beinhaltet dieser Begriff die oben genannten Einzelbereiche des klassisch-materiellen Geschäftsordnungbegriffs. Aber er geht insofern weiter, als er über den internen Parlaments bereich hinausgehen kann; so ist etwa auch die Bannmeilenregelung materiell als Geschäftsordnungsangelegenheit - und nicht etwa als sonstiges Parlamentsrecht - anzusehen51 • Ebenso sind die (zumindest auch) im Interesse der freien parlamentarischen Verhandlung in Art. 46 GG aufgestellten Grundsätze der Indemnität (Ermöglichen einer scharfen parlamentarischer Auseinandersetzung) und der Immunität (Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit) materiell der Geschäftsordnung zuzurechnen52 • Außerdem wird dieses Verständnis der materiellen Geschäftsordnung als Regelungsinstrument wesentlich eher gerecht und wirkt sich bei den Bindungsproblemen noch aus. 2. Ebenen a) Übersicht und Hintergrund Es ist offensichtlich, daß sich die Vorschriften des materiellen Geschäftsordnungsbegriffs nicht auf den kodifizierten Geschäftsordnungstext beschränken können; dies gilt ebenso bei Zugrundelegung des klassisch-materiellen Geschäftsordnungsbegriffs. Vielmehr finden sich materielle Geschäftsordnungsvorschriften in zahlreichen Normen und Regelungen, die auch auf unterschiedlichen Hierarchiestufen angesiedelt sind. So zerfällt die materielle Geschäftsordnung in zahlreiche Regelungsebenen53 , angefangen von der Verfassung, über Gesetz, Geschäftsordnungstext und dessen Anlagen, Sondergeschäftsordnungen, Auslegungsentscheidungen, Gewohnheitsrecht, Parlamentsbrauch und Übungen bis hin zu informalen, ungeschriebenen (regelmäßig interfraktionellen) Absprachen 54 •

SI So beinhaltet der freiheitlich-demokratische Parlamentsbegriff, daß das Parlament ohne äußeren Druck - etwa der Straße - verhandeln und entscheiden kann. S2 ZU den Zielsetzungen des Art. 46 GG vgl. H.-P. Schneider, in: Alternativkommentar, Art. 46 Rn. 1. S3 Der dafür von Kretschmer gebrauchte Begriff der "Normebenen" ist deshalb nicht ganz geeignet, weil nicht alle GO-Ebenen normativ bindenden Charakter haben, was er in Schneider/Zeh, § 9 Rn. 55, auch einräumt; dies wird im einzelnen noch nachzuweisen sein; siehe auch Achterberg/Schulte, in: MKAS, Art. 40 Rn. 43, wo der Begriff der "Regelungsebenen" verwendet wird. 54 Übersichtlich Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 55 ff.; siehe auch SchulzeFielitz, ebenda, § 11 Rn. 4 ff. und Achterberg, Parlamentsrecht, S. 38.

38

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

Allerdings gilt diese Aufzählung nur für das deutsche Geschäftsordnungsrecht; in England beispielsweise, wo es gar keine geschriebene Verfassung gibt, zerfällt das materielle Geschäftsordnungsrecht im wesentlichen in Gewohnheitsrecht und Geschäftsordnungsbeschlüsse (die sogenannten "orders"), bei denen wiederum unterschiedliche Klassen zu beachten sind (standing, sessional und einfache orders)". Auf der anderen Seite gibt es auch den schwedischen Geschäftsordnungstyp, wo die Geschäftsordnung weitgehend durch ein Verfassungs gesetz geregelt ist; bei der in Deutschland anzutreffenden Mittellösung, wonach die Verfassung nur die wichtigsten Organisationsbestimmungen vornimmt, den Rest aber der vom Parlament zu verabschiedenden Geschäftsordnung überläßt, handelt es sich um den auf die Verfassungen von 1791 und 1830 zurückgehenden französischen Typus'6. b) Die Ebenen im einzelnen mit Beispielen

So treffen beispielsweise das Grundgesetz in den Art. 39 Abs. 2 (Zusammentritt), Abs. 3 (Einberufung), Art. 42 Abs. 1 (Öffentlichkeitsgrundsatz) sowie die Landesverfassungen geschäftsordnungsrechtliche Entscheidungen; so wäre auf Art. 32 Abs. 2 (Ausschußbesetzung) und 45 Abs. 3 LV Berlin (Gesetzesberatung in mindestens zwei Lesungen), 85 Abs. 2 (Ausschluß wegen Ordnungsverstößen) und Art. 99 (Dringlichkeitsanträge der Regierung) LV Bremen hinzuweisen'7. Auf formell-gesetzlicher Ebene sind beispielsweise § 14 AbgG (Entschädigungsabzug bei unentschuldigtem Fehlen), §§ 1, 3 BannmeilenG, das WehrbeauftragtenG, das Petitionsausschußgesetz, § 5 RichterwahlG (Verfahren zur Bestimmung der Bundestagsabgeordneten im Richterwahlausschuß) und ähnlich § 6 BVerfGG (Wahlverfahren bezüglich der vom Bundestag zu wählenden Richter) oder das Untersuchungsausschußgesetz etwa in Baden-Württemberg zu erwähnen'8. Der größte Teil der materiellen Geschäftsordnungsvorschriften findet sich freilich in der als Geschäftsordnung bezeichneten Kodifikation, auf die noch 55 So schon bei Mohl, Staats- und Völkerrecht, S. 283 f. (Fn. 2); siehe auch Hatschek, Parlamentsrecht, S. 30 f., und Rösch, Geschäftsordnung, S. 13 f., 26. S6 ZU dieser Typenlehre umfassend Hatschek, Parlamentsrecht, S. 30-32; der schwedische Typ wurde auch bei der württ. LV 1819 praktiziert. S7 Siehe Zusammenstellungen bei Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 6, 8 und Zeh, in: Isensee/KirchhoJ, § 43 Rn. 3; vgl. auch Szmula, Handbuch des politischen Systems, Art. "Geschäftsordnungen", S. 228. S8 Siehe Zusammenstellungen bei Zeh, in: Isensee/KirchhoJ, § 43 Rn. 9, und Achterberg, Parlamentsrecht, S. 38.

§ 3 Begriff der Geschäftsordnung

39

als Geschäftsordnung im formellen Sinn zurückzukommen sein wird. Die meisten deutschen Parlamente haben ihren Geschäftsordnungen im formellen Sinn noch Anlagen - vornehmlich zur Festlegung von Verhaltensregeln, Fragestundenrichtlinien und der Geheimschutzordnung - beigefügt, die zumeist ausdrücklich "als Teil der Geschäftsordnung (im formellen Sinn)" gelten sollen59 • Unter Sondergeschäftsordnungen sind besondere Detailregelungen etwa einzelner Ausschüsse zur verfahrensmäßigen Behandlung bestimmter Fragen zu verstehen, die allerdings auf einer entsprechenden gesetzlichen oder (gesamt-)parlamentarischen Rechtssetzungsdelegation beruhen müssen60 • Außerdem gibt es zur Geschäftsordnung im formellen Sinn noch ergänzende Vorschriften wie die Hausordnung, Richtlinien etwa für Ausschußprotokolle oder Einzelfallbeschlüsse des Plenums61 wie beispielsweise der Beschluß, den Fraktionsvorsitzenden beratende Stimme in allen Ausschüssen zu gewähren62 • Schließlich ist für den Bereich der geschriebenen (materiellen) Geschäftsordnungsregelungen noch auf die zahlreichen Auslegungsentscheidungen hinzuweisen, ohne daß damit schon deren Rechtsnormcharakter festgestellt wäre. Hier ist zwischen solchen Entscheidungen des Plenums, des für Geschäftsordnungsfragen zuständigen Ausschusses und von Gerichten zu unterscheiden63 • Die bedeutsamste Quelle ungeschriebener Geschäftsordnungsregelungen stellt das parlamentarische Gewohnheitsrecht dar, das nicht selten eine Vorstufe zum kodifizierten formellen Geschäftsordnungsrecht darstellt64 ; viele Autoren - v.a. in früherer Zeit - verwenden dafür auch den Begriff der "parlamentarischen Observanz..65 • Hierzu zählen etwa die in den meisten Ge59 Lediglich Bremen und Mecklenburg-Vorpommem haben auf solche Anlagen zur GO verzichtet. Auf deren rechtliche Qualifikation wird im Zusammenhang mit der GO im formellen Sinn noch eingegangen. 60 Siehe Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 58. 61 Vgl. Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 59; §§ 7 Abs. 2 (Hausordnung), 73 (Ausschußprotokolle) GO BT; siehe auch Amdt, Autonomie, S. 94, 95 zu EinzelfaIlbeschlüssen. 62 BT-Beschluß vom 9.12.1965, bei H.-P. Schneider, Opposition, S. 247. 63 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 60, 61. 64 Versteyl, in: von Münch, Art. 40 Rn. 19; 65 Vgl. Pereis, Reichstagsrecht, S. 3, Brentano, Parlamentspräsident, S. 14, Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S. 48; für eine selbständige Bedeutung aber Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 11 und (abgeschwächt) Rösch, Geschäftsordnung, S. 59.

40

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

schäftsordnungen nicht geregelte66 Rüge, die Möglichkeit der nachträglichen Erteilung eines Ordnungsrufes oder der Vorrang des Antrags auf Ausschußüberweisung67 . Daneben gibt es den - nach h.M. im Gegensatz zum Gewohnheitsrecht nicht rechtlich bindenden68 - Parlamentsbrauch. In diesem Zusammenhang wäre etwa die Übung, schon auf Wunsch einer Fraktion Plenar- und Ausschußsitzungen zu unterbrechen, ebenso zu erwähnen wie das Verbot der Kritik an der Amtsführung des Präsidenten69 . Wegen der fließenden und letzlich nicht genau festzulegenden Grenze zwischen parlamentarischem Gewohnheitsrecht und Parlaments brauch gibt es auch eine Reihe von Instituten, deren Einordnung streitig ist. Dazu gehören das Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion bei der Wahl zum Präsidenten und das der Opposition bei der Besetzung des Vorsitzes im Haushaltsausschuß70. Schließlich gibt es weitere, noch weniger verfestigte Übungen und Gepflogenheiten, so zum Beispiel protokollarische Regelungen (Kleiderordnung) oder informale Inkompatibilitäten wie etwa zwischen Bundeskanzler- und Alterspräsidentenschaft, Regierungsamt und leitender Parlamentsfunktion (Fraktions- oder Ausschußvorsitz) oder Bundestagsmandat und Landesregie-

Auf diese Problematik wird im Zusammenhang mit dem parlamentarischen Gewohnheitsrecht im 2. Kapitel noch genauer eingegangen. 66 So ist das im deutschen GO-Recht durchweg anerkannte und praktizierte Institut der Rüge positiv-rechtlich nur in den Geschäftsordnungen der Landtage von Bayern (§ 119 Abs. 1, 1. Alt.) und Nordrhein-Westfalen (§ 67 Abs. 1) sowie im Geschäftsordnungsgesetz des Saarlandes (§ 71 Abs. 1) verankert. 67 Vgl. Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 10; Bücker ebenda, § 34 Rn. 25; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 85 f.; Troßmann, Parlamentsrecht, § 127 Rn. 5. 68 Der Parlamentsbrauch wird nur als werdendes Recht angesehen, vgl. Lechner / Hülshajf, S. 186; Brentano, Parlamentspräsident, S. 14; H.-P. Schneider, Opposition, S. 235; Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S.49; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 87, Braun, Landesverfassung, Art. 32 Rn. 30; so auch bereits Pereis, Reichstagsrecht, S.7; ders., in: Anschütz/Thoma, S.450; a.A. aber Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 62; siehe auch Mattem, Grundlinien, S. 78, der den Begriff des Parlamentsbrauchs synonym mit dem des Gewohnheitsrechts - mit der Folge normativer Bindungskraft - verwendet. 69 H.-P. Schneider, Opposition, S. 247; Bücker, in: Schneider/Zeh, § 34 Rn. 21. 70 Zum Vorschlagsrecht bezüglich des Bundestagspräsidenten: für Gewohnheitsrecht Steiger, Grundlagen, S. 47; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 67; Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 10; für Parlamentsbrauch Rothaug, Leitungskompetenz, S. 87. - Zum Vorschlagsrecht bezüglich des Haushaltsausschußvorsitz: für Gewohnheitsrecht Zeh, in: lsensee/Kirchhof, § 42 Rn. 25; für Parlamentsbrauch H.-P. Schneider, Opposition, S. 247.

§ 3 Begriff der Geschäftsordnung

41

rungsame 1• Praktisch große verfahrensregelnde Bedeutung haben zunehmend die interfraktionellen Absprachen, die vor allem im Ältestenrat (konsensual) getroffen werden - auch das sind materiell ungeschriebene, informale Geschäftsordnungsregelungen72 • Inhaltlich handelt es sich dabei häufig um Anwendungsfragen der Geschäftsordnung oder Regelungen zum Arbeitsablauf wie etwa die Aufstellung des Arbeitsplanes73 •

C. Die parlamentarische Geschäftsordnung im formellen Sinn 1. Begriff

Als Geschäftsordnung im formellen Sinn ist die ausdrücklich als Geschäftsordnung bezeichnete und im Beschlußwege zustandegekommene Kodifikation anzusehen74• Der Begriff der formellen Geschäftsordnung weicht folglich von dem der materiellen Geschäftsordnung in nicht unerheblichem Umfang ab. Fraglich erscheint allerdings, ob auch die der Geschäftsordnung im formellen Sinn beigefügten Anlagen noch zu dieser zu zählen sind. Schließlich wird diese Regelungsform ganz bewußt gewählt, um neue Verfahrensinstitute zu Erprobungszwecken einzuführen7s . Von einer automatischen Einbeziehung in die Geschäftsordnung im formellen Sinn kann folglich nicht schon wegen der "äußerlichen Vereinigung" ausgegangen werden76 • Diese Einbeziehung kann vielmehr nur bejaht werden, wenn die fragliche Anlage vom Plenum in dem für die Geschäftsordnung im formellen Sinn vorgesehenen Verfahren beschlossen und von dieser als ihr Bestandteil inkorporiert wurde77 • Heute

71 Vgl. Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 34 f., 59 f.; so hat beispielsweise Adenauer - der schon früh das älteste Pariamentslllitglied war - erst in der 5. Wahlperiode die Alterspräsidentschaftübernommen, als er nicht mehr Bundeskanzler war. 72 Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 46 spricht zutreffend von der "wichtigsten Erscheinungsform" der Kooperationsregeln ,;n Ergänzung zum geschriebenen GO-Recht", um die ,,zusammenarbeit im Bundestag organisatorisch [zu] optimieren". 73 Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 48 f. 74 Rösch, Geschäftsordnung, S. 28; vgl. auch Haagen, Rechtsnatur, S. 46, 47; Amdt, Autonomie, S. 17; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 9. 7S Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 57; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 65. 76 So aber Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 19; ähnlich auch Roll, BlischkeFS, S. 102 f. 77 Rothaug, Leitungskompetenz, S. 68.

42

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

sind alle Anlagen der Bundestagsgeschäftsordnung vorn Plenum beschlossen; die vorn Geschäftsordnungsausschuß beschlossenen Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten stellen keine Anlage, sondern nur einen ,,Anhang" zur Anlage 6 dar. Noch vor der Geschäftsordnungsreform von 1980 hatte es vorn Ältestenrat oder Geschäftsordnungsausschuß beschlossene ,,Anlagen" gegeben78 • Anlagen, die den genannten Anforderungen nicht genügen, sind als Einzelbeschlüsse im Bereich der materiellen Geschäftsordnung anzusehen79 • 2. Vorrangiger Gegenstand dieser Arbeit Ungeachtet der Fülle der verschiedenen Ebenen der materiellen Geschäftsordnung enthält doch die Geschäftsordnung im formellen Sinn den weitaus größten Teil aller materiellen Geschäftsordnungsvorschriften80• Deshalb stellt die Geschäftsordnung im formellen Sinn den vorrangigen Gegenstand dieser Arbeit dar. Hinsichtlich der Bindung wie der Rechtsnatur des verfassungsgesetzlichen und einfachgesetzlichen materiellen Geschäftsordnungsrechts bestehen ohnehin keine begründeten Zweifel81 • Die Bindungsfragen der übrigen vorn materiellen Geschäftsordnungsbegriff mitumfaßten Ebenen werden im Anschluß an die Prüfung der Bindungsprobleme der Geschäftsordnung im formellen Sinn gegen Ende des 2. Kapitels behandelt. Dieser Vorrang der Geschäftsordnung im formellen Sinn rechtfertigt es auch, im Nachfolgenden für diese nur noch den Begriff der Geschäftsordnung (ohne den Zusatz "im formellen Sinn") zu gebrauchen.

Vgl. Steiger, Grundlagen, S. 35. So Arndt, Autonomie, S. 90 f., für alle Anlagen. 80 Vgl. Rothaug, Leitungskompetenz, S. 68; Rösch, Geschäftsordnung, S. 33; kritisch Roll, Blischke-FS, S. 107, der das Gewicht der GO im fonnellen Sinn nicht so hoch veranschlagt sehen will. BI Die Bindung dieser Vorschriften entspricht der allg. Gesetzesbindung (generellabstrakt); die Rechtsnatur richtet sich nach der sie beinhaltenden Rechtsquelle (Verfassung bzw. Gesetz, jew. im fonnellen Sinn). 78

79

§ 3 Begriff der Geschäftsordnung

43

D. Der Begriff der Geschäftsordnung im verfassungsrechtlichen Sinn 1. Vorbemerkung Sowohl das Grundgesetz wie die Landesverfassungen gestehen dem Parlament ausdrücklich zu, sich eine Geschäftsordnung zu geben82 • Fraglich ist nun, wie dieser verfassungsrechtliche Geschäftsordnungsbegriff im Zusammenhang mit den dargestellten unterschiedlichen Geschäftsordnungsbegriffen einzuordnen ist. 2. Weite Auslegung Denkbar wäre es, hierunter das gesamte vom Parlament selbst geschaffene Geschäftsordnungsrecht zu verstehen 83 • Dies würde neben der Geschäftsordnung im formellen Sinn auch die anderen Regelungsebenen mit Ausnahme von Verfassung, formellem Gesetz und Gerichtsentscheidungen umfassen und käme so dem materiellen Geschäftsordnungsbegriff schon sehr nahe. Eine solche Auslegung müßte den von den Verfassungen gebrauchten Begriff abstrahiert, also nicht bezogen auf die konkrete Geschäftsordnung, verstehen. Dafür würde sprechen, den ganz überwiegenden Bestand an materiellen Geschäftsordnungsregelungen in den verfassungsrechtlichen Begriff einzubinden, was auch der Dynamik des Rechtsgebiets entsprechen würde. 3. Enge Auslegung Unklar bliebe bei der weiten Auslegung jedoch, ob auch die Geschäftsordnungsebenen miteinbezogen sein sollten, die nach h.M. keine Rechtsnormqualität haben wie etwa der Parlamentsbrauch. Gegen ein solches Verständnis spricht außerdem zum einen der Wortlaut, der mit dem Verb "gibt" auf einen bewußten Erlaßakt hindeutet; denn mindestens beim Gewohnheitsrecht und beim Parlamentsbrauch ist dies gerade nicht der Fall. Zum anderen wird eine solche weite Auslegung auch nicht von der grammatisch-historischen Auslegung getragen; denn mit dem Begriff der Geschäftsordnung ist in der Ge-

82 Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG, 32 Abs. 1 S. 2 LV Ba.-Wü., 20 Abs. 3 LV Bay., 29 LV Berl., 68 LV Brand., 106 LV Brem., 18 Abs. 1 S. 2 LV Hmb., 99 LV Hess., 8 Abs. 1 S. 2 LV Nds., 38 Abs. 1 S. 2 LV NRW, 85 Abs. 1 LV Rh.-Pf., 70 Abs. 1 LV Saarl., 46 Abs. 1 LV Sachs., 46 Abs. 1 LV Sachs.-Anh., 14 Abs. 1 S. 2 LV Schl.-H. 83 So bei Rothaug, Leitungskompetenz, S. 67 f.

44

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

setzessprache ebenso wie im innerparlamentarischen Sprachgebrauch immer nur die Geschäftsordnung im formellen Sinn gemeint. Aus diesen Gründen ist der verfassungsrechtliche Geschäftsordnungsbegriff als dem der Geschäftsordnung im formellen Sinn entsprechend anzusehen 84•

E. Probleme im Zusammenhang mit der Geschäftsordnung im formellen Sinn 1. Normcharakter der Geschäftsordnung im formellen Sinn a) ProblemdarsteUung: Zweifel am Rechtsnormcharakter

Der Rechtsnormcharakter der Geschäftsordnung wurde vor allem im Zeitalter des Konstitutionalismus noch heftig bestritten. Vor allem Hatschek ging davon aus, daß eine Vorschrift, die "in hundert Fällen ( ... ) befolgt und im 101. Fall wieder außer Acht gelassen [wird], je nachdem es das Haus zweckmäßig und angemessen findet", keine Rechtsnorm darstellen könne; vielmehr würde erst die Approbation durch langen Brauch zu einer normativen Bindung führen können. Konsequenterweise hielt er die Geschäftsordnung auch nicht für eine eigenständige Rechtsquelle 8s • Da bis heute zumindest noch vereinzelt Zweifel an der Einschätzung der Geschäftsordnung als Rechtsnorm geäußert werden 86, soll auf diese Frage hier eingangen werden. Diese Zweifel beruhen im wesentlichen auf dem hohen Flexiblitätsgrad der Geschäftsordnung, auf ihrer Durchbrechungsmöglichkeit dank des Institutes der Abweichung (vgl. § 126 GO BT) und auf ihrem Mangel hinsichtlich der Erzwingbarkeit87 • Es wird im zweiten Kapitel noch im einzelnen zu zeigen sein, daß es sich dabei nur um Probleme der Bindungsintensität, nicht aber der Existenz einer normativen Bindung überhaupt handelt. Um die vorliegende Frage entscheiden zu können, bedarf es zunächst der Ermittlung des Rechtssatzbegriffs, der dabei zugrundegelegt werden soll.

Rothaug, Leitungskompetenz, S. 68. So Hatschek, Parlamentsrecht, S. 42 f., S.45. 86 Amdt, Autonomie, S. 148, 157 f. 87 Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 19; Pietzcker, ebenda, § 10 Rn. 38; Rösch, Geschäftsordnung, S. 63 weist zutreffend darauf hin, daß die Erzwingbarkeit nicht zu den Begriffsmerkmalen des Rechts gehört, "wenn auch der Zwangsschutz ein regelmäßiger Begleiter der Rechtsgebote ist". In diesem Zusammenhang ist auch auf das Völkerrecht hinzuweisen, wo aus Gründen der staatlichen Souveränität ebenfalls ganz überwiegend keine Erzwingungsmechanismen existieren. 84 85

§ 3 Begriff der Geschäftsordnung

45

b) Historisch-konventioneUer Rechtssatzbegriff

Der historisch-konventionelle Rechtssatzbegriff tritt in zwei Varianten auf; die eine stellt darauf ab, ob durch die Festlegung von Rechten und Pflichten Willenssphären verschiedener Personen voneinander abgegrenzt werden (SchrankenziehungsbegriftYs, die andere darauf, ob der Staat in Freiheit oder Eigentum des Bürgers eingreift (Eingriffsbegriff)s9. Beide Varianten beruhen also auf einer Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft bzw. Individuum, wodurch der gesamte innerstaatliche Bereich (als Innenbereich der einen juristischen Person "Staat") ausgegrenzt wird90 ; damit ist dieser Rechtssatzbegriff für das Staatsrecht ungeeignet, weil er das gesamte leistungsgewährende und planende Staatshandeln ebensowenig wie organschaftliches Tätigwerden überhaupt rechtlich zu erfassen vermag91 . Außerdem widerspricht ein solches Verständnis dem demokratischen Gedanken, wonach gerade die Gesellschaft den Staat bildet (Art. 20 Abs. 1 GG)92. Folglich ist der historisch-konventionelle Rechtssatzbegriff als zu eng und überholt abzulehnen. c) Moderner Rechtssatzbegriff

Der moderne Rechtssatzbegriff tritt wiederum in zwei - allerdings ganz unterschiedlichen - Varianten auf. Während die eine Ansicht die Rechtsnormqualität nur von Generalität und Heteronomität einer Regelung abhängig machen will93 , plädiert die andere Meinung ergänzend zum historisch-konventionellen Rechtssatzbegriff dafür, als öffentlich-rechtliche Rechtsnorm jede ,,Begründung und verbindliche Maßbestimmung für die Ausübung öffentlicher Gewalt und die Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten" anzu-

Bernau, Geschäftsordnungen, S. 50; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 71. 89 Bei Schlosser, Verhaltensregeln, S. 31. 90 Dies hindert Bemau, Geschäftsordnungen, S. 51 freilich nicht daran, die GO auf der Grundlage des historisch-konventionellen Rechtssatzbegriffs als Rechtsnorm anzuerkennen; er sieht die Abgrenzung der Willenssphären zwischen den Abgeordneten, Fraktionen o.ä. (als Personen) einerseits und dem Parlament als Staat andererseits. Es wird deutlich, daß Bernau die organrechtliche Seite völlig vernachlässigt. 91 Steiger, Grundlagen, S. 38 f.; Schlosser, Verhaltensregeln, S. 31 f.. 92 Anstinger, Sonderverordnung, S.8; besonders überzeugend Rothaug, Leitungskompetenz, S. 72 und Schlosser, Verhaltensregeln, S. 32. 93 Vgl. Schlosser, Verhaltensregeln, S. 34; Anstinger, Sonderverordnung, S. 14; F. Kirchhof, Rechtsetzung, S. 95 f. 88

46

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

sehen94 • Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich, daß sich diese Begriffe nicht widersprechen; vielmehr handelt es sich bei ersterem um eine wesentlich allgemeinere Definition, die folglich auch nicht alle, sondern nur die typischen Rechtssätze erfassen kann9s • Der zweite (öffentlich-rechtliche) Rechtssatzbegriff dagegen ist speziell auf das Rechtsgebiet des öffentlichen Rechts zugeschnitten. Er erfaßt dessen organisationsrechtlichen Charakter und macht die Ausrichtung dieses Rechtsgebiets am übergeordneten Gemeinschaftsinteresse deutlich; so sind sowohl die Beziehungen der Staatsorgane untereinander wie diejenigen zwischen Teilorganen innerhalb der Organe mitumfaßt96 • Deshalb soll dieser öffentlich-rechtliche Rechtssatzbegriff der weiteren Untersuchung zugrundegelegt werden97 • d) Prüfung der Geschäftsordnung anband des öffentlich-rechtlichen Rechtssatzbegriffs

Der parlamentarischen Geschäftsordnung wurde schon früh unter Hinweis auf prozeßrechtliche Parallelen (Leitungs befugnisse des Vorsitzenden, Urteilsberatung) normativer Charakter zuerkannt98 • Neben Vorschriften betreffend die parlamentarische Ordnung99 ist vor dem Hintergrund des oben festgestellten maßgeblichen Rechtssatzbegriffs vor allem darauf hinzuweisen, daß die Geschäftsordnung nicht nur Zuständigkeiten und amtliche Befugnisse etwa von Präsident, Ausschußvorsitzenden und Abgeordneten schafft oder zumindest konkretisiert, sondern sogar Teilorgane wie den Ältestenrat überhaupt (und natürlich dann auch deren Kompetenzen) erst konstituiert HXl• Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, daß diese Teilorgane öffentliche Angelegenheiten wahrnehmen. 94 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 74; im Anschluß daran Rothaug, Leitungskompetenz, S. 72 f. 9' F. Kirchhof, Rechtsetzung, S. 96. 96 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 74, und Rothaug, Leitungskompetenz, S.73. 97 Bei Zugrundelegung der allgemeineren Definition gelangt man nach F. Kirchhof, Rechtsetzung, S. 82-90, ebenfalls zur Rechtsnormqualität der GO. Die Generalität ist durch die Möglichkeit des Nachrückens gewährleistet, denn so bleibt der Adressatenkreis offen und variabel; die Heteronomität, also das Aufzwingen des Rechtswillens, beruht trotz des Identitätsproblemes zwischen Normgeber und Normunterworfenem "potentiell" auf dem Mehrheitsprinzip beim GO-Erlaß. 981ellinek, System, S. 169. 99 Das erkennt auch Amdt, Autonomie, S. 153, als Rechtsnorm an, da hier eine rechtliche Durchsetzung gewährleistet sei. Er verkennt dabei aber, daß es darauf gar nicht ankommt; denn die Erzwingbarkeit ist kein Rechtsnormmerkmal, vgl. Fn. 44. 100 Vgl. Rothaug, Leitungskompetenz, S. 73.

§ 3 Begriff der Geschäftsordnung

47

e) Ergebnis

Nach alledem sind etwaige Zweifel an der Rechtsnormqualität der parlamentarischen Geschäftsordnung unbegründet lOl • Diesem Ergebnis kann auch nicht entgegengehalten werden, daß einzelne Geschäftsordnungsvorschriften den festgestellten Anforderungen an Rechtssätze nicht entsprechen; da die gesamte Geschäftsordnung auf derselben Rechtsgrundlage (s.u. S. 64 ff.) und außerdem dem gleichen Schöpfungsakt beruht, ist sie schon wegen der jedenfalls auch vorhandenen Rechtsnormen insgesamt als Rechtsnorm anzusehen lO2 • So hat auch ein Gesetz unstreitig Rechtsnormcharakter, wenn es rein technische Bestimmungen oder symbolhafte Zielsetzungsnormen enthält 103 •

2. Problem der Formwahl zwischen Gesetz und Geschäftsordnung a) ProblemdarsteUung

Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen zwischen Staatspraxis und -lehre bildet schon lange die Frage, ob materielle Geschäftsordnungsangelegenheiten auch durch Gesetz geregelt werden können, oder ob vielmehr mit der Geschäftsordnungskompetenz ein Typenzwang zur Regelung materieller Geschäftsordnungsangelegenheiten in der Geschäftsordnung im formellen Sinn verbunden ist. Im Falle einer Verneinung eines solchen Typenzwangs bliebe noch zu prüfen, ob eine völlige Fonnwahlfreiheit besteht oder gewisse Einschränkungen zu beachten sind. Allerdings sind von diesem Meinungsstreit diejenigen Gesetze ausgenommen, die sich - insofern entsprechend zur Geschäftsordnung - auf eine ausdrückliche Verfassungsermächtigung stützen können (vgl. Art. 41 Abs. 3, 45c Abs. 2, 45b S. 2 GG)I04.

101 Zu dieses Ergebnis gelangt auch die ganz h.M., vgl. etwa Achterberg, Parlamentsrecht, S. 45; Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S. 52 f.; so schon Hubrich, Verfassungsrecht, S. 64. 102 Bernau, Geschäftsordnungen, S. 68; besonders anschaulich Rothaug, Leitungskompetenz, S. 74 und S. 77, wonach "ein einziger Rechtssatz ... dem ganzen Normenkomplex Rechtssatzcharakter verleiht"; siehe auch Amdt, Autonomie, S. 150; unklar Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 79. 103 Bernau, Geschäftsordnungen, S. 68, weist in diesem Zusammenhang auf die Organisationsgesetze hin; siehe außerdem § 1 BWaldG. 104 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 20; Pietzcker, ebenda, § 10 Rn. 13; Amdt, Autonomie, S. 124.

48

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

Vor einer Erörterung der anstehenden Streitfrage erscheint es sinnvoll, sich zunächst die wesentlichen Unterschiede zwischen den Regelungsinstrumenten Gesetz und Geschäftsordnung vor Augen zu führen. So muß beachtet werden, daß - ungeachtet der beherrschenden Stellung des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren des demokratischenen Staates - zwischen Gesetzgeber und Parlament keine Identität besteht; besonders deutlich ist dies im Bund und im Land Bayern, wo jeweils ein weiteres oberstes Staatsorgan (Bundesrat bzw. Senat) an der Gesetzgebung - und sei es nur durch ein Einspruchsrecht beteiligt ist. Aber auch in den übrigen Ländern fällt die Gesetzgebung nicht in den alleinigen Verantwortungsbereich des Parlaments; durch die mit dem Ausfertigungs- und Gegenzeichnungserfordernis verbundenen Kontrollrechte sowie ihr Gesetzesinitiativrecht ist die Regierung (und bei ersteren im Bund auch der Bundespräsident) in den Gesetzgebungsprozeß miteingebundenlOs. Des weiteren ist eine Änderung oder Aufhebung der Geschäftsordnung ungleich schneller und einfacher möglich als beim formellen Gesetz lO6 • Schließlich bestehen unterschiedliche Bindungsreichweiten, wobei hier nicht dem zweiten Kapitel vorgegriffen werden soll; nach h.M. gilt die Geschäftsordnung nur für die jeweilige Wahlperiode und außerdem nur für die Abgeordneten selbst. Auch eine Abweichungsmöglichkeit wie bei der Geschäftsordnung ist dem Gesetz fremd 107. Es wird also deutlich, daß es sich bei der Geschäftsordnung um ein wesentlich flexibleres Regelungsinstrument handelt. b) Formwahl möglich

Die Staatspraxis und eine Minderheit im Schrifttum geht wegen der Gesetzgebungsbefugnis des Parlaments davon aus, daß eine freie Formwahl möglich ist lO8 . Insbesondere wird aus der durch die Verfassung eingeräumten Geschäftsordnungskompetenz gefolgert, daß das Parlament frei über die Form des Erlasses der Geschäftsordnung befinden kann HJ9 • Materiell wird

I'"

Anschaulich Hamann, Satzungen, S. 26; Amdt, Autonomie, S. 123 f.; vgl. Zeh, in: lsensee/Kirchhof, § 43 Rn. 11; unzur. Problemsicht Schmidt, OÖV 1986, S. 236 (239). 106 Dies gilt allerdings nicht uneingeschränkt für die GO LT Ba.-Wü. und GO LT Sachs.; dort ist kraft LV (Art. 32 Abs. I S. 2 bzw. Art. 46 Abs. 4) eine 2/3-Mehrheit für eine GO-Änderung erforderlich, so daß streitige GO-Änderungen jedenfalls während einer Wahlperiode kaum durchzusetzen sein werden. 107 Insgesamt anschauliche Gegenüberstellung von Gesetz und GO bei Kretschmer, ZParl 17, S. 334 (340); vgl. außerdem Zeh, in: lsensee / Kirchhof, § 43 Rn. 11. 108 Vgl. v.a. Kretschmer, ZParl 17, S.334 (339); ders., in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 40; außerdem Pietzner, Evang. Staatslexikon, Sp. 1102. 109 Haagen, Rechtsnatur, S. 47; auch bei Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 14.

§ 3 Begriff der Geschäftsordnung

49

etwa für den Minderheitenschutz darauf hingewiesen, daß dieser in Gesetzesfonn wegen der dort nicht möglichen Abweichung sogar seinem Zweck entsprechend besser abgesichert sei 110. Außerdem wird häufig mit dem Bedürfnis einer Außenbindung bestimmter materieller Geschäftsordnungsregelungen argumentiert, die - nach h.M. - die Geschäftsordnung nicht besitzt'\1; in diesem Zusammenhang wird mit dem Begriff der "Gemengenlage zwischen internen und externen Angelegenheiten" auf die Unmöglichkeit der genauen Abgrenzung der einzelnen Regelungsmaterien hingewiesen ll2 • Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner hierzu ergangenen Leitentscheidung die Fonnwahl ebenfalls anerkannt, allerdings nur unter drei Einschränkungen, nämlich "wenn das Gesetz - auch seine Aufhebung - nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf, der Kern der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages nicht berührt wird und überdies gewichtige sachliche Gründe dafür sprechen, die Fonn des Gesetzes zu wählen" 113. c) Typenzwang: Keine Fonnwahl möglich

Die herrschende Meinung im Schrifttum verneint dagegen diese Formwahlmöglichkeit; sie sieht durch die verfassungsrechtliche Einräumung der Geschäftsordnungskompetenz nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht des Parlaments verbrieft, in dieser Fonn seine Angelegenheiten zu regeln. Diese Auslegung der einschlägigen Verfassungsnormen wird dabei vom Gedanken der Souveränität jedes (neugewählten) Parlaments getragen; durch die zeitlich unbegrenzte und wegen erschwerter Abänderung stärkere Bindungskraft des Gesetzes behindere jedes nachfolgende Parlament in der Ausübung seiner Geschäftsordnungskompetenz und gefährde damit dessen Selbständigkeit und Unabhängigkeit\14. Eine weitere Gefahr wird in diesem Zusammenhang in den - oben dargestellten - Beteiligungsrechten anderer Staatsorgane (insbesondere im Fall eines parlamentari~chen Änderungsbegehrens) gesehen llS • Gegen die nur eingeschränkte Formwahlfreiheit, wie sie Schmidt, DÖV 1986, S. 236 (239). 111 Bücker, ZParl 17, S. 324 (333). 112 Vgl. Zeh, in: Isensee/Kirchhoj, § 43 Rn. 11; Begriff bei Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 15. 113 BVerfGE 70, 324 (LS Nr. 6; außerd. auf S. 361); ebenfalls mit der Einschränkung zugunsten des "Kembestand des inneren Parlamentsrechts" Seifert, in: Seifert/ Hömig, Art. 40 Rn. 3. 114 Sondervotum Mahrenholz, BVerfGE 70, 366 (377); Pietzcker, in: Schneider/ Zeh, § 10 Rn. 14; siehe auch Amdt, Autonomie, S. 59. 11S Sondervotum Böckenförde, BVerfGE 70, 380 (387 f.); Amdt, Autonomie, 110

4 Haug

50

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

vom Bundesverfassungsgericht vertreten wird, wird das Fehlen eines Anknüpfungspunktes im Grundgesetz für die Einschränkungen ins Feld geführt; zumal etwa der Begriff des "Kembereichs der Geschäftsordnung" viel zu unbestimmt sei 1l6 . Den - praktischen - Hinweis auf die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen internen und externen Regelungen läßt die h.L. ebenfalls nicht gelten; derartige Probleme seien durch eine Verfeinerung der Abgrenzungskriterien zu beheben 117. Aus alledem wird gefolgert, daß es dem Gesetzgeber bei materiellen Geschäftsordnungsangelegenheiten - soweit keine spezielle verfassungsrechtliche Ermächtigung vorliegt - an der erforderlichen Regelungskompetenz (im als Ämter- und Kompetenzordnung zu verstehenden Grundgesetz) mangele ll8 • d) Entscheidung

Die h.L. stützt sich im wesentlichen auf den Gedanken der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung des Parlaments, die sie sowohl von anderen Staatsorganen wie von Vorgängerparlamenten bedroht sieht. Die Geschäftsordnungskompetenz des Parlaments hatte im Konstitutionalismus noch die überragende Bedeutung, dem Parlament einen eigenbestimmten Freiraum zu schaffen. Heute aber ist das Parlament das beherrschende Organ im Gesetzgebungsverfahren l19 • Insbesondere hat es auch das Recht zur Gesetzesinitiative und kann so jede durch Gesetz geregelte materielle Geschäftsordnungsangelegenheit wieder in den rein-parlamentarischen Rechtssetzungsbereich "zurückholen"; weder die Rechte der Exekutive noch im Bund des Bundesrates - die bei parlamentarischen Geschäftsordnungsfragen nur auf die Einspruchsmöglichkeit reduziert sind - könnten dies letztlich verhindern. Insofern findet ein echter Verzicht auf Geschäftsordnungskompetenzen nicht statt120. Das Parlament hat immer die letzte Entscheidung darüber, ob und in welcher Rechtsform die Regelung erfolgen soll. S. 123, 124; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 40 Rn. 6; Achterberg/Schulte, in: MKAS, Art 40 Rn. 47; Dreier, JZ 1990, S. 310 (314 f.). 116 Sondervotum Mahrenholz, BVerfGE 70,366 (377 f.). 117 Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 15; ähnlich Scherer, AöR 112, S. 189 (212). 118 Sondervotum Böckenförde, BVerfGE 70, 380 (387); Rothaug, Leitungskompetenz, S. 76 f.; Steiger, Grundlagen, S. 45. 119 Kretschmer, ZParl 17, S.334 (337); Achterberg/Schulte, in: MKAS, Art. 40 Rn. 46. 120 Überzeugend Achterberg, Parlamentsrecht, S. 329; kritisch vom rechtssoziologischen Standpunkt aus Steinberg, in: Schneider/Zeh, § 7 Rn. 18,41 f., 94, 96, der das Parlament beinahe nur noch als Akklamationsorgan sieht.

§ 3 Begriff der Geschäftsordnung

51

Auch die Gefahr einer Fremdbestimmung durch das Vorgängerparlament kann nicht ernsthaft gesehen werden. In Geschäftsordnungsangelegenheiten hat dasselbe Staatsorgan mit genau denselben Aufgaben auch in veränderter Zusammensetzung die gleichen Probleme und Regelungswünsche. Zu Interessengegensätzen hinsichtlich der Geschäftsbehandlung oder Arbeitsweise kann es sinnvollerweise nur mit anderen Organen kommen, die - etwa gemäß Art. 43 Abs. 2 GG - daran beteiligt sind. Die Geschäftsordnungskompetenz soll (te) dementsprechend das Parlament vor Einmischungen anderer Organe wegen der hier bestehenden bzw. möglichen Interessendivergenzen bewahren, nicht aber vor Festlegungen durch Vorgängerparlamente. Darauf wird im Zusammenhang mit den zeitlichen Bindungsproblemen nochmals zurückgekommen. Hier wird der im Zusammenhang mit dem materiellen Geschäftsordnungsbegriff genannte funktionelle Ansatz bedeutsam: In manchen Fällen mag es für die Funktionsfähigkeit des Parlaments als freiheitlich-demokratische Volksvertretung hilfreicher sein, eine Geschäftsordnungsregelung durch Gesetz zu treffen, um sie gerade der erleichterten Abänderungs- oder Abweichungsmöglichkeit im unsicheren und häufig unberechenbaren politischen Alltag zu entziehen l21 • Dies ist beispielsweise im Bereich des Minderheitenschutzes wegen der erhöhten Rechtssicherheit der Fall; die Geschäftsordnungskompetenz darf nur als Erleichterung für den parlamentarischen Bereich verstanden werden; ein Typenzwang würde insofern dem Ziel des Grundgesetzes, ein funktionsfähiges und leistungsstarkes Parlament als zentrales Organ der Verfassungsordnung einzurichten, zuwiderlaufen 122 • Soweit unter diesem funktionellen Gesichtspunkt eine gesetzliche Regelung geboten ist, kann das Parlament daher die Gesetzesform wählen. 3. Rangprobleme der Geschäftsordnung gegenüber Verfassung und Gesetz a) ProblemdarsteUung

Gerade mit Blick auf die zahlreichen Ebenen der materiellen Geschäftsordnung stellt sich die Frage nach der Stellung der Geschäftsordnung im formellen Sinn innerhalb des Normengefüges - insbesondere vor dem Hintergrund etwa möglicher Konkurrenzprobleme. Dabei soll hier zunächst nur der Frage des Verhältnisses der Geschäftsordnung zu Verfassung und Gesetz nachge121 Vgl. Bücker, ZParl 17, S. 324 (331); in der Sache ähnlich Schramm, Staatsrecht I, S. 78. 122 Vgl. Kretschmer, ZParl 17, S. 334 (338).

52

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

gangen werden; auf Rangfragen im Zusammenhang mit den anderen - rein innerparlamentarischen - Regelungsebenen wird noch am Ende des zweiten Kapitels im Zusammenhang mit etwaigen Konkurrenzen hinsichtlich der normativen Bindung zurückzukommen sein. b) Verhältnis der Geschäftsordnung zur Verfassung

Nach ganz h.M. geht die Geschäftsordnung der Verfassung im Rechtsrange nach, was sich auch dadurch überzeugend erklären läßt, daß sie ihren Geltungsgrund dort erst findee 23 • Dies schließt es allerdings nicht aus, daß der Geschäftsordnung durchaus eine konkretisierende Funktion gegenüber der Verfassung zukommt l24 • c) Verhältnis der Geschäftsordnung zum (formeUen) Gesetz

Die Rangfrage im Verhältnis zum formellen Gesetz dagegen ist im Schrifttum umstritten. So hängt die Lösung dieses Problems maßgeblich von der Beantwortung der oben entschiedenen Streitfrage ab, ob materielle Geschäftsordnungsangelegenheiten auch durch Gesetz geregelt werden können oder nicht. Eine starke Mindermeinung, die vom strengen Typenzwang zugunsten der Geschäftsordnung ausgeht, sieht die Geschäftsordnungskompetenz (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG) und die Gesetzgebungskompetenz des Parlaments (Art. 77 Abs. 1 Satz 1 00) jeweils als sachlich ausschließlich an. Wegen der damit verbundenen Unmöglichkeit, eine materielle Geschäftsordnungsangelegenheit durch Gesetz zu regeln, kann nach dieser Ansicht der Konfliktfall zwischen Gesetz und Geschäftsordnung gar nicht eintreten. Diese beiden Regelungsinstitute stehen unabhängig und gleichwertig nebeneinander, so daß sich die Rangfrage gar nicht stellt125 • Hierbei wird jedoch nicht berücksichtigt, daß

123 So schon Laband, DJZ 1903, S. 5 und Dambitsch, Reichsverfassung, S.450; vgl. H.-P. Schneider, Opposition, S. 234; Amdt, Autonomie, S. 121; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 61 f.; deutlich Rothaug, Leitungskompetenz, S. 80, 81; wobei Schäfer, Bundestag, S. 63 f., außerdem zutreffend darauf hinweist, daß die Geschäftsordnungen dazu neigen, die verfassungsmäßig vorgegebenen Grenzen auszureizen und zu überschreiten; siehe auch Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 385. 124 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 42; Zeh, in: [sensee/Kirchhof, § 43 Rn. 2. 125 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 124 f. (zur Regierungs-GO); Steiger, Grundlagen, S.44 f. (im Anschluß an Böckenförde); Arndt, Autonomie, S. 122;

§ 3 Begriff der Geschäftsordnung

53

es - unstreitig - zumindest dann materiell geschäftsordnungsrechtliche Gesetze geben kann, wenn sie auf einer ausdrücklichen Verfassungsermächtigung beruhen. Dieser Gesichtspunkt ließe sich allerdings noch mit der streng kompetenzrechtlichen Argumentation erklären: in diesen Fällen hat die Verfassung die jeweils betroffene Materie der Kompetenz des Geschäftsordnungsgebers zugunsten der des Gesetzgebers entzogen. Geht man jedoch - wie oben vertreten - davon aus, daß in beschränktem Umfang materielle Geschäftsordnungsangelegenheiten auch ohne verfassungsrechtliche Ermächtigung durch Gesetz geregelt werden können, stellt sich die Rangfrage im dann durchaus möglichen Kollisionsfall. Die h.M. im Schrifttum und das Bundesverfassungsgericht gehen dabei von einem Vorrang des Gesetzes aus; die Begründungen hierfür gehen allerdings auseinander. Das Bundesverfassungsgericht und zahlreiche Stimmen in der Literatur weisen auf die - jedoch zumeist nicht näher begründete - Rechtsnatur als "autonome Satzung" hin 126. Von anderen Autoren wird beispielsweise die Allgemeinverbindlichkeit l27 des Gesetzes angeboten oder von einer gewohnheitsrechtlichen l28 Begründung des Gesetzesvorrangs ausgegangen. Diese Ansätze erscheinen jedoch nicht überzeugend; so ist die Allgemeinverbindlichkeit ein quantitatives Geltungsmerkmal, nicht aber ein qualitatives Argument für die normative Wertigkeit einer Rechtsquelle. Ebensowenig kann die Rangfrage von Rechtsquellen gewohnheitsrechtlieh geklärt werden; vielmehr ist von der Wertigkeit des Normgebers auf die normative Wertigkeit der Rechtsquelle zu schließen. So steht der Verfassungsgesetzgeber, an dem alle wesentlichen Staatsorgane beteiligt sind (s.o. S. 47 f.) und für den außerdem die gesetzgebenden Organe eine qualifizierte Mehrheit aufbringen müssen, ganz oben. Andererseits steht der nur aus der Exekutive bestehende Rechtsverordnungsgeber wegen dessen nur abgeleiteter Rechtssetzungsgewalt und seiner nur mittelbaren demokratischen Legitimation unterhalb etwa des (formellen) Gesetzgebers. Die Geschäftsordnung wird vom Parlament - ohne Mitwirkungs- oder nur Beteiligungsrechte anderer Staatsorgane - erlassen; der formelle Gesetzgeber, der neben dem Parlament auch die anderen staatsleitenden Organe umfaßt, ist folglich über dem Geschäftsordnungsgeber einzuordnen.

Rothaug, Leitungskompetenz, S. 81; Magiera, Staatsleitung, S. 124; Kretschmer, ZParl 17, S. 334 (340, im Anschluß an Steiger); mit anderer - an der Rechtsnatur als parlamentarische Innenrechtsnorm orientierter - Begründung im Ergebnis ähnlich Achterberg, Parlamentsrecht, S. 61, 328, und in: MKAS, Art. 40 Rn. 42. 126 BVerfGE 1, 144 (148); zur h.L. vgl. etwa Versteyl, in: von Münch, Art. 40 Rn. 18; Seifert, in: Seifert/Hömig, Art. 40 Rn. 3; Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 17; unter Hinweis auf die Rechtsnatur Lechner/Hülshoff, Parlament, S. 186. 127 Schäfer, Bundestag, S. 64. 128 So - selbst nicht überzeugt - Achterberg, Parlamentsrecht, S. 61.

54

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

Daraus ergibt sich im Kollisionsfall der Vorrang des formellen Gesetzes gegenüber der Geschäftsordnung, sofern es nach obiger Maßgabe als Rechtsform zulässig ist 129 • 4. Richterliche Prüfungskompetenz gegenüber Geschäftsordnungsnormen Im historisch-ausländischen Vergleich wird deutlich, daß ein richterliches Prüfungsrecht gegenüber parlamentarischen Geschäftsordnungsnormen nicht von vornherein als selbstverständlich angesehen werden kann. So verhinderte der ursprüngliche Charakter des englischen Parlaments als oberster Gerichtshof Einmischungen "anderer" Gerichte; in Frankreich stand einer gerichtlichen Einflußnahme auf innerparlamentarische Rechtsfragen der Gewaltenteilungsgrundsatz entgegen 130. Das deutsche Staatsrecht zu Beginn des Jahrhunderts ging bis einschließlich der Weimarer Zeit ebenfalls noch davon aus, daß den Gerichten lediglich die Überprüfung der Einhaltung des Kompetenzrahmens (Verfahren und Disziplin) zustand; was innerhalb dieser Kompetenz geregelt wurde, entzog sich der richterlichen Kontrolle l31 • Unter dem Grundgesetz wurde durch die Verfassungsgerichtsbarkeit in Bund (Art. 93 GG) und Ländern ein weitgehendes Rechtsschutzsystem auch im innerstaatlichen Bereich eingeführt, das auch nicht ohne Folgen auf die vorliegende Frage geblieben ist 132 • So unterliegt die Geschäftsordnung vor allem der abstrakten Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG). Zwar wird im Schrifttum vereinzelt unter Hinweis auf die Parlamentsautonomie bestritten, daß eine gerichtliche Geschäftsordnungsüberprüfung ohne konkreten Anlaß - also abstrakt - möglich sei 133 ; aber davon ausgehend, daß die Geschäftsordnung verbindliches Recht darstellt und außerdem eine große Bedeutung im Bereich des materie!129 So im Ergebnis auch Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 41, unter Hinweis auf "Eigenarten der GO und ... anerkannte Grundsätze der Rechtsquellenlehre" . 130 So für die 20er und 30er Jahre Haagen, Rechtsnatur, S. 64, 65, und Rösch, Geschäftsordnung, S. 13. 131 Hatschek, Parlamentsrecht, S. 6 f.; so auch später noch Brentano, Parlamentspräsident, S.41, v.a. Fn. 102; weitergehender schon damals Haagen, Rechtsnatur, S. 66, unter Hinweis auf den Rechtscharakter der GO. 132 Siehe Hmb. VerfG, DVBI 1976, S. 444 (446), und BayVfGH 29 11 62 (83). 133 Schäfer, Bundestag, S.67; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 87 f.; ähnlich Arndt, Autonomie, S. 74 f., der eine gerichtliche Verwerfung nur gestatten will, wenn eine GO-Vorschrift "unter keinem sachlich vertretbaren Gesichtspunkt zu rechtfertigen ist".

§ 3 Begriff der Geschäftsordnung

55

len Verfassungsrechts hat, muß das Geschäftsordnungsrecht der abstrakten Normenkontrolle unterliegen!34. Allerdings ist hinsichtlich der Antragsbefugnis zu beachten, daß diese der Regierung nur dann zustehen kann, soweit eine sie betreffende Geschäftsordnungsregelung angegriffen werden soll; dies ergibt sich folgerichtig aus der Geschäftsordnungskompetenz, wonach rein innerparlamentarische Fragen nicht durch andere Verfassungsorgane zur Klärung gebracht werden dürfen 13S • Das Bundesverfassungsgericht hat des weiteren festgestellt, daß bei der Normenkontrolle von der "faire[n] und loyale[n] Anwendung durch die dazu berufenen Organe" und nicht etwa von denkbaren Mißbrauchsgefahren auszugehen ise36 . Im Wege des Organstreitverfahrens (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) kann geprüft werden, ob durch Geschäftsordnungsnormen verfassungsmäßige Rechtspositionen der Antragsteller (etwa Abgeordnete oder Fraktionen) verletzt sind. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich anerkannt, daß eine Geschäftsordnungsvorschrift - ebenso wie der Erlaß eines Gesetzes - eine Maßnahme im Sinn von § 64 Abs. 1 BVerfGG darstellen kann, "wenn sie beim Antragsteller eine aktuelle rechtliche Betroffenheit auszulösen vermag"!3? Eine konkrete Normenkontrolle im Sinn von Art. 1()() Abs. 1 GG wird dagegen praktisch deshalb nicht möglich sein, weil im konkreten Streitfall wegen des formell wie materiell verfassungsrechtlichen Streitgegenstandes sofort das Bundesverfassungsgericht zuständig ist (Organstreitverfahren) und so eine Normenkontrollvorlage durch ein anderes Gericht nicht erfolgen kann 138 • Abschließend ist festzustellen, daß die genannten Verfahrensarten - wegen des durch die Verfassung eingeräumten weiten Spielraums des Parlaments bei seiner Selbstorganisation - lediglich eine Prüfung auf eventuelle Unvereinbarkeiten mit der Verfassung hin ermöglichen!39; Zweckmäßigkeitserwägungen bleiben folglich außer Ansatz; ebensowenig findet eine Prüfung am

134 Bemau, Geschäftsordnungen, S. 186 -188; Achterberg / Schulte, in: MKAS, Art. 40 Rn. 59; kritisch Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 86 f., der nur generelles Recht und ,,nicht ... das interne Verfahren einer beschränkten Anzahl von Personen" geprüft sehen will und so Bedeutung und Rechtscharakter der GO verkennt. m Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 45. 136 BVerfGE 80, 188 (229).

BVerfGE 80, 188 (LS 1, S. 209); Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 44. Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 45, 46. 139 BVerfGE 80, 188 (189: LS 3c, 220); vgl. außerdem Pietzcker, in: Schneider/ Zeh, § 10 Rn. 45; Achterberg/Schulte, in: MKAS, Art. 40 Rn. 59. 137 138

56

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

höherrangigen Gesetz (s.o. S. 51 ff.) - mangels entsprechender Grundlage in Art. 93 Abs. 1 GG - statt l40 .

§ 4 Deklaratorisches und konstitutives

Geschäftsordnungsrecht A. Problemdarstellung

Bei allen Normen des untergesetzlichen Geschäftsordnungsrechts muß vor allem hinsichtlich Geltungsgrund und Bindungswirkung zwischen den Vorschriften, die nur höherrangiges Recht wiederholen oder zumindest konkretisieren, sowie den vom Parlament inhaltlich frei und selbstbestimmt gesetzten Normen unterschieden werden. Für diese Normengruppen wurden im Schrifttum die Begriffspaare "Geschäftsordnung im weiteren bzw. im engeren Sinn"141 und "strenge bzw. einfache Geschäftsordnung" 142 angeboten. Diese Begriffe sind jedoch nicht geeignet, den dargestellten Normunterschied sprachlich zum Ausdruck zu bringen; denn sie stellen nicht auf den entscheidenden Umstand ab, der in der Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit von höheren Normen besteht. Das zuletzt genannte Begriffspaar gibt sprachlich-logisch keinen Gegensatz wieder; der einfachen Geschäftsordnung müßte eine qualifizierte oder doppelte Geschäftsordnung bzw. der strengen Geschäftsordnung eine dispositive Geschäftsordnung gegenübergestellt werden l43 . Diese Begriffe haben sich auch nicht durchgesetzt.

B. Deklaratoriscbes Gescbäftsordnungsrecbt 1. Begriff Für die durch höherrangiges Recht vorgegebenen Normen wurde noch kein spezieller Begriff geprägt; meist wird von "Geschäftsordnungsvorschriften, die Verfassungs- oder Gesetzesbestimmungen wiedergeben oder konkretisieren" 144, gesprochen. Dieser wenig griffige Terminus kann durch "deklaratorisches Geschäftsordnungsrecht" ersetzt werden, denn er bringt (im

140 Darauf weist ausdrücklich Rei/enberg, Geschäftsordnungen, S. 82 f. hin. Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 10 ReibertlKlinkhammer bei Bemau, Geschäftsordnungen, S. 17. 143 So auch Bemau, Geschäftsordnungen, S. 17 f. 144 Vgl. Amdt, Autonomie, S. 81. 141

142

§ 4 Deklaratorisches und konstitutives Geschäftsordnungsrecht

57

Gegensatz zu den oben genannten Vorschlägen) hinreichend den besonderen, durch höherrangiges Recht determinierten Charakter dieses Rechts zum Ausdruck 14s • Allerdings darf dabei der Begriff des Geschäftsordnungsrechts nicht materiell verstanden werden, sondern muß auf die vom Parlament allein geschaffenen (untergesetzlichen) Normen beschränkt werden (Geschäftsordnung und ungeschriebene Rechtsquellen). Da diese Einschränkung jedoch dem üblichen Sprachgebrauch (s.o. S. 43 f.), der unter Geschäftsordnungsrecht nur die Geschäftsordnung im formellen Sinn und bestenfalls noch das ungeschriebene Geschäftsordnungsrecht versteht, entgegenkommt, sind keine begrifflichen Unsicherheiten zu befürchten. 2. Beispiele a) Wiederholung oder Konkretisierung von Verfassungsvorschriften

Dem deklaratorischen Recht wäre etwa § 1 Abs. 1 GO BT zuzurechnen, der die 30-Tage-Frist des Art. 39 Abs. 2 00 wiederholt (Einberufung des neugewählten Bundestages); ebenso gibt § 7 Abs. 2 S. 1 GO BT die in Art. 40 Abs. 2 S. 1 00 niedergelegte Haus- und Polizeigewalt des Präsidenten wieder. § 13 Abs. 1 GO BT betont wie Art. 38 Abs. 1 Satz 2 a.E. die Gewissensfreiheit des Abgeordneten, § 19 GO BT regelt in Übereinstimmung mit Art. 42 GG den Grundsatz der Öffentlichkeit der Plenarverhandlungen und § 21 Abs. 2 GO BT wiederholt die in Art. 39 Abs. 3 00 genannten Einberufungsvoraussetzungen. Außerdem ist noch auf § 43 GO BT hinzuweisen, der das Zutritts- und Rederecht für Regierungs- und Bundesratsmitglieder wie in Art. 43 Abs. 2 00 vorsieht. Neben wiederholenden gibt es auch konkretisierende Vorschriften des deklaratorischen Geschäftsordnungsrechts; so regelt beispielsweise § 4 GO BT im einzelnen die Voraussetzungen für die Wahlvorschläge bei der Wahl des Bundeskanzlers gern. Art. 63 Abs. 3, 4 00. Des weiteren gibt es derartige Detailnormierungen unter anderen auf den Gebieten der Ausgabegesetze (§ 87 GO BT und Art. 113 00), der Behandlung des Bundesratseinspruchs (§ 91 GO BT und Art. 77 Abs. 4 00), des Mißtrauensvotums (§ 97 GO BT und Art. 67 00) und des Gesetzgebungsnotstandes (§ 99 Go BT und Art. 81 GG)l46.

145 Im Schrifttum wird der Begriff "deklaratorisch" schon vereinzelt für die 00Normen verwendet, die keinen eigenen Regelungsgehalt aufweisen, allerdings ohne bislang daraus eine allgemein-begriffliche Konsequenz zu ziehen; vgl. etwa Steiger, Grundlagen, S. 33, oder Ritzel/Bücker, Handbuch, § 7 S. 12a. 146 Siehe auch Beispiele bei Amdt, Autonomie, S. 82-84.

58

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

b) Wiederholung oder Konkretisierung von einfach-gesetzlichen Vorschriften

Im Bereich des gesetzes wiederholenden bzw. -konkretisierenden Geschäftsordnungsrechts sind nicht so zahlreiche Bestimmungen zu finden wie im Verhältnis zur Verfassung, doch wäre hier etwa hinzuweisen auf § 7 Abs. 4 GO BT, der ebenso wie § 176 BBG die Stellung des Bundestagspräsidenten als oberste Dienstbehörde der Bundestagsbeamten festlege 47 • Auf baden-württembergischer Landesebene wiederholt § 33 GO LT inhaltlich § 2 Abs. 3 des UntersuchungsausschußG bezüglich des Antragsrechts auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Im Verhältnis zum WehrbeauftragtenG nimmt die Geschäftsordnung bezüglich Berichtspflicht (§ 114 Abs. 1 GO BT und § 2 WBeauftrG) und Zitierrecht (§ 115 Abs. 2 GO BT und § 6 WBeauftrG) ebenfalls eine konkretisierende Funktion wahr. Abschließend sind noch die Verweise der Bundestagsgeschäftsordnung auf einzelne Bundesgesetze zu erwähnen, so etwa bei der Kürzung der Kostenpauschale (§ 13 Abs.2 S. 3 GO BT und § 14 Abs. 1 AbgG) oder bei der Wahlprüfung (§ 15 GO BT und WahlprüfungsG).

C. Konstitutives Geschäftsordnungsrecht 1. Begriff Für das verbleibende - also nicht durch eine höherrangige Norm vorgegebene - Geschäftsordnungsrecht hat Kurt Pereis 1903 den Begriff des "autonomen" Parlamentsrechts geprägt, der VOn der ganz überwiegenden Lehre seither hierfür akzeptiert worden ist148 • Er bringt auch den wesentlichen Umstand der selbstbestimmten Eigengesetzgebung deutlich zum Ausdruck. Allerdings bezeichnet Autonomie im juristisch-überkommenen Sinn den eigenbestimmten Rechtsgestaltungsspielraum eines rechtlich selbständigen Zusammenschlusses; denn die aus dem griechischen "autos" (selbst) und "nomos" (Gesetz) gebildete Selbstgesetzgebung 149 setzt - nach in jüngerer Zeit kritisierter h.M. - begrifflich ein "selbst", d.h. eine juristische Rechtspersönlichkeit, voraus ISO. Deshalb wird die Autonomie dem Staat eingeglie-

147

Vgl. Amdt, Autonomie, S. 85.

Pereis, Reichstagsrecht, S. 3; siehe heute Amdt, Autonomie, S. 16 f. Siehe Oberreuter, Staatslexikon, Bd. 1, Sp. 490. 150 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 120 (im Anschluß an G. Jellinek), Achterberg, Parlamentsrecht, S.54; Meyer/Anschütz, Staatsrecht, S.363 Fn. a.; Haagen, 148

149

§ 4 Deklaratorisches und konstitutives Geschäftsordnungsrecht

59

derten, von ihm aber organisatorisch abgehobenen Verbänden zugestanden 151. Die Verwendung des Autonomiebegriffs im Bereich des Parlamentsrechts läßt sich durch das konstitutionelle Denken erklären. So wurde das Parlament als Volksvertretung zunächst als eine eher gesellschaftliche, nichtstaatliche Einrichtung im Gegenüber zum den Staat verkörpernden Monarchen verstanden 1S2 ; daher kommt auch der Begriff der "gesetzgebenden Körperschaft"153. Im demokratisch-parlamentarischen Staat jedoch kann das Parlament als Repräsentant des Souveräns nicht mehr - auch nur durch geeignete Begriffe - als "neben- oder außerstaatlich" bezeichnet werden; es handelt sich um ein oberstes und zentrales Staatsorgan 1S4. Als Organ der Rechtsperson Staat - der ja auch die parlamentarischen Entscheidungen zugerechnet werden - kann das Parlament per definitionem nicht selbst rechtsfähig sein 155 • Diesem Gesichtspunkt könnte mit dem obigen öffentlichrechtlichen Rechtssatzbegriff oder dem Hinweis auf die Rechtsstellung des Parlaments im Verfassungsprozeß gern. Art. 93 Abs. 1 GG begegnet werden, weil das Parlament demzufolge zumindest teilrechtsfähig wäre 1S6 • Vereinzelt wird auf die Rechtsfähigkeit auch ganz verzichtet; Autonomie wird demnach nur noch als selbständige Rechtssetzungsgewalt handlungsfähiger Einheiten verstanden 157 • Dies wäre zwar mit einem modemen Begriffsverständnis denkbar, würde aber wegen der noch starken Bedeutung des herkömmlichen Begriffs zumindest zu begrifflichen Verwirrungen führen. Denn immer noch wird autonomes Recht als nichtstaatlich angesehen, während es sich beim parlamentarischen Geschäftsordnungsrecht um staatliches Recht handelt, weil es von einem staatlichen Organ gesetzt wird 1s8 .

Rechtsnatur, S. 34, 35; Anslinger, Sonderverordnung, S. 28 f., kritisch Hamann, Satzungen, S. 24; Kiess, Rechtsverordnung, S. 65. 151 So Schick, Evang. Staatslexikon, Sp 160; vgl. auch H. Schneider, Möhring-FS, S.525. 152 Amdt, Autonomie, S. 147; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 39-41 und DVBI 1974, S. 693 (701); dies wird auch in BVerfGE 70, 324 (361), eingeräumt. 153 lellinek, Schriften und Reden II, S. 252. 154 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 47 und DVBI 1974, S. 693 (701). ISS Bemau, Geschäftsordnungen, S. 87 f.; Rösch, Geschäftsordnung, S. 79 f.; vgl. Stem, Staatsrecht, § 26 I 3. 156 H.-P. Schneider, in: Altemativkommentar, Art. 38 Rn. 6; Maunz, in: MDHS, Art. 38 Rn. 7; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 78; Schlosser, Verhaltensregeln, S. 13 (im Anschluß an Bachof); ähnlich Mattem, Grundlinien, S. 8 f., der von einer "relativierten ,Organpersönlichkeit'" spricht. 157 Amdt, Autonomie, S. 141; BayVfGH 8 II 91 (99); Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 47. Maunz, in: MDHS, Art. 40 Rn. 21. lS8 Insofern überzeugend Steiger, Grundlagen, S. 34 f.

60

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

Nach alledem wird man den Autonomiebegriff in diesem Zusammenhang zumindest als wenig glücklich - weil mißverständlich - ansehen müssen. Deshalb wird hier der Begriff "konstitutives Geschäftsordnungsrecht" angeboten; dieser bringt ebenso wie "autonom" die selbstbestimmte Eigengesetzgebung und darüber hinaus den rechtsbegründenden Charakter dieser Vorschriften zum Ausdruck. Überdies bietet er sich als begriffliches Gegenstück zum deklaratorischen Geschäftsordnungsrecht an 1S9 ; entsprechend ist auch hier der Begriff des Geschäftsordnungsrechts nicht materiell zu verstehen, sondern auf die untergesetzlichen Geschäftsordnungsnormen beschränkt. 2. Reichweite Die Reichweite des vom konstitutiven Geschäftsordnungsrecht auszufüllenden Raumes ist durch die einschlägigen Verfassungs- und Gesetzesvorschriften eingeschränkt l60 • Außerdem muß sich auch das konstitutive Geschäftsordnungsrecht innerhalb der Definition des materiellen Geschäftsordnungsrechts bewegen; so hat es die Funktionsfahigkeit und Arbeitsfahigkeit des Parlaments als Diskussions- und Entscheidungsorgan zu erhalten und zu fördern l61 • Folglich sind auch im Bereich des konstitutiven Geschäftsordnungsrechts Vorgaben wie das Willkürverbot, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die Rechtsstellung des Abgeordneten, die Oppositionsfreiheit und der Minderheitenschutz zu beachten l62 •

D. Folgen für Geltungs- und Bindungsgrund Die Existenz deklaratorischen Geschäftsordnungsrechts ist vor allem durch das Bestreben begründet, in der Geschäftsordnung möglichst umfassend die materiellen Geschäftsordnungsvorschriften zu kodifizieren l63 • Es liegt je-

159 Dieses Begriffspaar findet sich - bezogen auf den Charakter von GO-Vorschriften - auch bei RitzellBücker, Handbuch, § 7 S. 12a. 160 Vgl. Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 35 ff; Schulze-Fielitz, ebenda, § 11 Rn. 1 f.; Perels, Reichstagsrecht, S. 3; interessante Unterteilung in vertikale, horizontale und inhaltliche Grenzen bei Bernau, Geschäftsordnungen, 5. Abschnitt. 161 Leibholz/Rinck/Hesselberger, 00, Art. 38 Rn. 531 (im Anschluß an BVerfGE 10, 13 f.); siehe auch Pietzner, Evang. Staatslexikon, Sp. 1101; Bernau, Geschäftsordnungen, S. 222. 162 Braun, Landesverfassung, Art. 34 Rn. 30; Amdt, Autonomie, S. 75 f., weist in diesem Zusammenhang auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung hin. 163 Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 75; Amdt, Autonmie, S. 81; allerdings warnt Roll, Blischke-FS, S. 107, davor, die GO als abgeschlossene Kodifikation anzusehen.

§ 4 Deklaratorisches und konstitutives Geschäftsordnungsrecht

61

doch auf der Hand, daß diese in der formellen Geschäftsordnung (auch) verorteten Normen rechtlich der höherrangigen Rechtsquelle zuzuordnen sind und auch nur dort ihren normativen Geltungsgrund haben können l64 • Folglich sind auch ihre Bindungswirkungen jeweils nach der höherrangigen Rechtsquelle zu bestimmen; deshalb unterliegen diese Vorschriften - als Verfassungs- bzw. Gesetzesrecht - in ihrem zeitlichen, personellen und sachlichen Anwendungsbereich keinen Beschränkungen, soweit eine solche nicht ausdrücklich vorgesehen ist. Somit ist allein das konstitutive Geschäftsordnungsrecht Gegenstand des zweiten Kapitels dieser Arbeit; denn hier stellt sich die zu untersuchende Frage, welche normative Kraft und Qualität diese Rechtsnormen haben.

E. Problem der Behandlung kodifizierten Gewohnheitsrechts 1. Vorbemerkung Abschließend soll der Charakter und insbesondere der Geltungsgrund der Geschäftsordnungsnormen untersucht werden, die bereits länger bestehendes Gewohnheitsrecht zum Inhalt haben. Hierbei ist allerdings zwischen parlamentarischem und Verfassungsgewohnheitsrecht zu unterscheiden 165. 2. Parlamentarisches Gewohnheitsrecht Das parlamentarische Gewohnheitsrecht setzt - wie gewöhnliches Gewohnheitsrecht auch - eine langdauernde Übung und eine entsprechende Rechtsüberzeugung voraus; letztere muß sich jedoch nicht allgemein, sondern nur innerhalb des Parlaments einschließlich der in die parlamentarischen Abläufe miteinbezogenen Amtspersonen entwickeln l66 • Es besitzt - wie die Geschäftsordnung - Rechtsnormqualität. Die Aufn~me einer gewohnheitsrechtlichen Regelung in die Geschäftsordnung hat nur dann Auswirkungen auf deren Geltungsgrund, wenn dieser sich normativ-qualitativ nach oben verändert; der Geltungsgrund einer Verfassungsbestimmung etwa bleibt von einer Wiederholung der Vorschrift auf niederrangiger Ebene unberührt. Deshalb bedarf vorab die Rangfrage des parlamentarischen Gewohnheitsrechts im Verhältnis zur Geschäftsordnung der Klärung.

Amdt, Autonomie, S. 81; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 70. Vgl. MaunzlZippelius, Staatsrecht, § 30 III 2b. 166 Rothaug, Leitungskompetenz, S. 85; Rösch, Geschäftsordnung, S. 32; Steiger, Grundlagen, S. 46 ff. will die Rechtsüberzeugung ausreichen lassen. 164

165

62

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

So wird in jüngerer Zeit eine grundsätzliche Gleichordnung aller Innenrechtsquellen vertreten l67 ; dieser Ansicht ist jedoch entgegenzuhalten, daß dies der durch die verfassung~rechtliche Ermächtigungsgrundlage besonders betonten Bedeutung der Geschäftsordnung nicht gerecht wird l68 • Außerdem entspricht es dem - auch innerhalb des Parlamentsrechts zu beachtenden Gedanken der Rechtssicherheit, grundsätzlich von einem Vorrang des geschriebenen Rechts vor dem ungeschriebenen Recht auszugehen l69 • Somit steht das parlamentarische Gewohnheitsrecht innerhalb des selbsterzeugten Rechts des Parlaments im Rang unter der Geschäftsordnung. Daraus folgt, daß bei einer Aufnahme einer gewohnheitsrechtlichen Regelung in die Geschäftsordnung deren Geltungsgrund nun nicht mehr im Gewohnheitsrecht, sondern in der (formellen) Geschäftsordnung liegt. Die Kodifzierung hat hier zwar keine rechtsbegründende Wirkung, aber es handelt sich dabei - sowohl als Gewohnheitsrecht wie als formelles Geschäftsordnungsrecht - um konstitutives Geschäftsordnungsrecht, da dieser Begriff auch das parlamentarische Gewohnheitsrecht mitumfaßt. Allerdings kann ergänzend von gewandeltem, erstarktem oder positiviertem Geschäftsordnungsrecht gesprochen werden. Als Beispiel ist das Ordnungsmittel der Rüge zu nennen, das gewohnheitsrechtliche Geltung hat und von einigen Geschäftsordnungen auf Länderebene kodifiziert worden ist 170.

3. Verfassungsgewohnheitsrecht Unter der Geltung des Grundgesetzes erscheint zunächst fraglich, ob es Verfassungsgewohnheitsrecht überhaupt gibt. So steht diesem tendenziell der umfassende Regelungsanspruch des Grundgesetzes (vgl. Art. 79 Abs. 1 S. 1 00) entgegen l7l • Denn das Verfassungsgewohnheitsrecht ist nicht auf die geschriebene Verfassung zurückzuführen, sondern steht vielmehr in einem

167 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 61; Steiger, Grundlagen, S. 44; Magiera, Staatsleitung, S. 127. 168 Überzeugend Rothaug, Leitungskompetenz, S. 81. 169 So im Ergebnis auch H.-P. Schneider, AK Art. 40 Rn. 12; a.A. Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S. 48. 170 Vgl. Brentano, Parlamentspräsident, S. 14 f. (Fn. 27); §§ 118 Abs. 1 GO LT Bay., 67 Abs. 1 S. 2 GO LT NRW, 71 Abs. 1, 1. Alt. GO-Ges. LT Saarl. 171 Maunz/Zippelius, Staatsrecht, § 30 1II 2b; Stern, Staatsrecht, § 4 I 6. Siehe auch Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 87 f., der mit Blick auf Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG zumindest vorkonstitutionelles Verfassungsgewohnheitsrecht bestenfalls als ,,Ausnahmeerscheinung" zuläßt.

§ 4 Deklaratorisches und konstitutives Geschäftsordnungsrecht

63

Konkurrenzverhältnis zu dieser 172 • Folglich ist es auch von solchen Rechtssätzen zu unterscheiden, die durch - etwa verfassungsgerichtliche - Auslegung der positivierten Verfassung gewonnen wurden 173 • Daher ist von einem stark eingeschränkten Wirkungsbereich des neben der Verfassung stehenden Gewohnheitsrechts auszugehen 174• Aber auch das Grundgesetz stellt - wie jedes Gesetz - letztlich eine nur lückenhafte Regelung dar und läßt somit Raum nicht nur für Auslegung und Fortbildung, sondern auch für die Bildung von Verfassungsgewohnheitsrecht, das sich allerdings nur im Zusammenspiel mit der geschriebenen Verfassung entwickeln kann 17S. An Beispielen wären nach h.M. etwa die Antwortpflicht eines nach Art. 43 Abs. 1 GG herbeigerufenen Regierungsmitglieds im Parlament oder die Stimmabgabe nur eines anwesenden Mitglieds für die ganze Landesregierung im Bundesrat zu nennen 176 • Das Verfassungsgewohnheitsrecht nimmt am Rang des (formellen) Verfassungsrechts teil und steht daher über der Geschäftsordnung; der Geltungsgrund eines solchen Rechtssatzes verbleibt dementsprechend - ungeachtet einer Kodifizierung - im Verfassungsgewohnheitsrecht. Folglich handelt es sich hierbei nur um deklaratorisches Geschäftsordnungsrecht l71 • Ein bekanntes Beispiel hierfür bietet nach h.M. der (sachliche) Diskontinuitätsgrundsatz, der in § 125 GO BT und mehreren LT-Geschäftsordnungen seine positivrechtliche Ausformung gefunden hat178 •

Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 51. Vgl. die Abgrenzung von Gewohnheitsrecht und Richterrecht bei Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 51-56. 174 Maunz/Zippelius, Staatsrecht, § 30 III 2b; Maunz, in: MDHS, Art. 70 Rn. 52; Schulze-Fielitz, § 11 Rn. 74; Stern, Staatsrecht, § 4 I 6 m.w.N. l7S Rothaug, Leitungskompetenz, S. 83 f.; Maunz/Zippelius, Staatsrecht, § 6 IV 2; Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 88,91, sieht zwar in Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG noch kein Hindernis für nachkonstitutionelles Verfassungsgewohnheitsrecht; aber ausgehend von der Feststellung, daß das BVerfG nicht an eine "einverständliche Übung der Verfassungsorgane" gebunden sei, verneint er (auch) im Bereich der Staatsorganisation Verfassungsgewohnheitsrecht und billigt dieser Übung lediglich Indizcharakter zu (S. 140-144). Freilich ist die Prämisse Tomuschats, das Monopol des Richterrechts als ungeschriebenes Verfassungsrecht, nicht zwingend; insbesondere wären dadurch jegliche ungeschriebene verfassungsrechtliche Bindungen außerhalb der mit Gesetzeswirkung entschiedenen Fälle von vornherein ausgeschlossen. 176 Vonderbeck, Befugnisse, S. 20; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 84; Stern, Staatsrecht, § 4 I 6; weitere Beispiele bei Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S.33-43. 177 Maunz/Zippelius, Staatsrecht, § 30 III 2b. 178 Vonderbeck, Befugnisse, S. 32; siehe auch Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 30 f., der sich aber letztlich dagegen ausspricht (S. 85 f.); §§ 51 GO LT Ba.172 173

64

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

§ 5 Funktionen und Rechtsgrundlage der

parlamentarischen Geschäftsordnung A. Geschäftsordnungsfunktionen 1. Vorbemerkung

Die Leitfunktion der parlamentarischen Geschäftsordnung wurde bereits oben darin gesehen, dem Parlament als freiheitlich-demokratisches Staatsorgan in Konkretisierung der Verfassung l79 eine adäquate Erledigung seiner verfassungsrechtlichen Aufgaben zu ermöglichen l80 • Diese Aufgaben bestehen vor allem in der Kreations- und Kontrollfunktion bezüglich anderer Staatsorgane sowie in der Gesetzgebung und in der öffentlichen Erörterung anstehender Probleme l81 • Es ist nun zu untersuchen, welche wesentlichen (Unter-)Funktionen der (formellen) Geschäftsordnung sich hieraus - und mit welchen Auswirkungen - ergeben 182 • 2. Gewährleistung eines geordneten und effektiven Verfahrens Die Gewährleistung eines geordneten und effektiven Verfahrens wird meist ohne nähere Begründung als "selbstverständliche" Geschäftsordnungsfunktion angesehen 183. Vor allem in der konstitutionellen Frühzeit wurde dies als Grundlage des Rationalismus und damit der Richtigkeit der so getroffenen

Wü., 92 GO Abgh. Berl., 109 GO LT Brand., 74 GO BS Brem., 95 GO LT Hess., 60 GO LT Meckl.-Vorp., 21 GO LT Nds., 116 GO LT NRW, 116 GO LT Rh.-Pf., 61 GO LT Saarl., 40 GO LT Sachs., 19 GO LT Sachs.-Anh., 77 GO LT Schl.-H., 118 GO LTThür. 179 Magiera, in: Schneider/Zeh, § 52 Rn. 40; Zeh, in: lsensee/Kirchhof, § 43 Rn. 2. IBO Vgl. Rösch, Geschäftsordnung, S. 69; Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S. 57; Schramm, Staatsrecht I, S. 95; siehe auch BVerfGE 80, 188 (LS 2b, S. 218, 219); den Sicherungszweck unterstreicht auch Ritzel als Berichterstatter des GO-Ausschusses, StB BT, 1. WP., 179. S. (6.12.1951), S. 7412 B. 181 BVerfGE 80, 188 (218); Schäfer, Bundestag, S. 16-18 (nach Walter Bagehot). 182 Wie hier lellinek, Schriften und Reden 11, S. 251; Schröder, Parlamentsrecht, S.90-93; Szmula, Handbuch des politischen Systems, Art. "Geschäftsordnungen", S. 229; freilich sind auch andere (Unter-)Funktionseinteilungen denkbar, vgl. Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 113-116. 183 Vgl. etwa BVerfGE 1, 144 (148); Bernau, Geschäftsordnungen, S. 222; Haagen, Rechtsnatur, S. 3 f.; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 2.

§ 5 Funktionen und Rechtsgrundlage der Geschäftsordnung

65

Entscheidungen angesehen l84 • Wie bereits gezeigt wurde, ist die Frage nach dieser Funktion anhand der Leitfunktion zu entscheiden. Es ist ohne weiteres einsichtig, daß die Lösung der oben genannten Aufgaben ein geordnetes und effektives Verfahren voraussetzt, denn nur dann ist eine Bewältigung der großen Arbeitslast insbesondere im Gesetzgebungsbereich überhaupt möglich. Aber auch jede Debatte als Verdeutlichung der unterschiedlichen politischen Standpunkte in Parlament und Bevölkerung zur einer politischen Frage wäre ohne eine solche Verfahrensordnung zum Scheitern verurteilt; das ungestörte Vortragen insbesondere mißliebiger Standpunkte könnte von einer destruktiven Mehrheit durch ein entsprechendes Verhalten verhindert werden. Als historisches Beispiel hinsichtlich der Notwendigkeit der Geschäftsordnung für eine zügige Erledigung des Arbeitspensums wäre wiederum auf die Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 zu verweisen, die auch wegen des Fehlens einer bekannten und akzeptierten Verfahrensordnung wesentlich mehr Zeit zur Bewältigung ihrer Aufgaben benötigte; diese Verzögerungen waren letztlich auch mitursächlich für ihr Scheitern l85 • Ein sach- und erfolgsorientiertes Verfahren setzt neben Konsensfähigkeit auch Praktikabilität und Flexibilität voraus; insbesondere letztere ist vor allem deshalb sehr bedeutsam, weil der sehr politikgeprägte Geschäftsordnungsbereich einer starken verfassungspolitischen Dynamik ausgesetzt ist und so häufig Neuerungen eingeführt und erprobt werden müssen l86 •

3. Minderheitenschutz Während die Gewährleistung eines geordneten und effektiven Verfahrens im Schrifttum einhellig als Geschäftsordnungsfunktion angesehen wird, gehen die Meinungen darüber hinsichtlich des Minderheitenschutzes auseinander. Von zahlreichen Autoren wird davor gewarnt, von der unstreitigen Bedeutung der Geschäftsordnung im Bereich des Minderheitenschutzes auf eine entsprechende normative Zielsetzung zu schließen 187 • Im Kaiserreich dagegen - als es in der Verfassung noch keine minderheitenschützende Regelungen gab wurde die Geschäftsordnung als "natürlicher Schutz der Minderheit" ange-

184

185

Smend, Abhandlungen, S. 61. Zeh, ZParl 17, S. 396.

186 Roll, Blischke-FS, S. 101-104; Appoldt, Hearings, S. 86; Schäfer, Bundestag, S. 66, 73; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 82 f.; 187 Haagen, Rechtsnatur, S. 62 f.; Maunz, in: MDHS, Art. 40 Rn. 17.

5 Haug

66

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

sehen 188 ; aber auch heute wird vertreten, die Geschäftsordnung habe die vorrangige Funktion des Minderheitenschutzes 189• Es stellt sich daher durchaus die Frage, ob es zur nonnativen Zielsetzung der Geschäftsordnung gehört, die Minderheit zu schützen. Dagegen spricht, daß gerade die fonnelle Geschäftsordnung mit ihrer Änderungsmöglichkeit im vereinfachten Verfahren sowie der Möglichkeit der Abweichung im Einzelfall wenig geeignet ist, der Minderheit sicheren Schutz zu bieten l90 ; daran ändert auch der Umstand nichts, daß in der Praxis gerade die geschäftsordnungsrechtlichen Minderheitenrechte eine besondere Stabilität bewiesen haben 191 • Für eine minderheitenschützende Zielsetzung der Geschäftsordnung spricht allerdings die Leitfunktion 192 ; denn ein freiheitlich-demokratisches Parlament setzt die Existenz von Mehrheit und Minderheit voraus 193. Mit dem Mehrheitsprinzip (Art. 42 Abs. 2 GG) korrespondiert jedoch, daß die Minderheit ihre politischen Ansichten artikulieren und die Mehrheit zur Auseinandersetzung damit zwingen kann 194• Dies gilt um so mehr gerade im parlamentarischen Regierungssystem, weil hier die bedeutende Kontroll- und Kritikfunktion weitgehend auf die Minderheit (die in diesem System der parlamentarischen Opposition regelmäßig entspricht) verlagert worden ist 19S • Dafür können die relativ wenigen Minderheitenrechte in der Verfassung (Art. 39 Abs. 3 S. 3, 42 Abs. 1 S. 2, 44 Abs. 1 GG) nicht ausreichen l96 ; der Geschäftsordnung kommt hier eine ganz wesentliche Aufgabe zu. Mit der Verfassungsdelegation ist der Geschäftsordnung deshalb auch die Aufgabe übertragen worden, die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Min-

Bei Rösch, Geschäftsordnung, S. 4. Sondervotum Mahrenholz, BVerfGE 70, 366 (377), allerdings unter ausdrücklicher Bezugnahme auf eine Rede des RT-Präsidenten Simson von 1867. 190 Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 33, sieht deshalb die Funktion der Gewährleistung der Minderheitenrechte beim GG; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 78 f. 191 Darauf weist Dreier, JZ 1990, S. 310 (316) hin. 192 Roll, Bundesrecht, S. 44. 193 Maunz/Zippelius, Staatsrecht, § 10 III lc, weist darauf hin, daß "politische Einigkeit im Sinn allseits gleichgerichteter Auffassungen ... kein Ideal der freiheitlichen Demokratie" darstellt. 194 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 77; Hofmann/Dreier, ebenda, § 5 Rn. 67 f.; Szmula, Handbuch des politischen Systems, Art. "Geschäftsordnungen", S. 229; Birk, NJW 1988, S. 2521. 19' Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S. 134; Schäfer, Bundestag, S. 85; H.-P. Schneider, Opposition, S. 236-238. 196 Stein, Staatsrecht, S. 42. 188 189

§ 5 Funktionen und Rechtsgrundlage der Geschäftsordnung

67

derheitenschutzes und der Chancengleichheit (Art. 20 Abs. 1, 2 GG)197 im parlamentarischen Bereich umzusetzen. Auch das Argument der erleichterten Abänderung oder der Abweichungsmöglichkeit vermag nicht zu überzeugen; so würde eine Abänderung zu Lasten der Minderheit aus konkretem Anlaß sowohl ein Rechtsmißbrauch der Mehrheit wie auch ein Verstoß gegen die so übergangene Abweichungsmöglichkeit darstellen l98 . Eine Abweichung im Einzelfall, die die Minderheit im Verfahren benachteiligen würde, wäre ebenfalls unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmißbrauchs geschäftsordnungswidrig; hierauf wird im Zusammenhang mit den Grenzen der Abweichungsmöglichkeit noch zurückzukommen sein l99 . Nach alledem soll die Geschäftsordnung den innerparlamentarischen Minderheitenschutz gewährleisten und ist dafür auch von ihrem normativen Charakter her geeignet. Umgekehrt bedeutet dies jedoch nicht, daß die Minderheit einen geschäftsordnungsrechtlichen "Anspruch" auf bestimmte Rechtspositionen hätte; in welcher Form und Intensität die Geschäftsordnung die minderheitenschützende Aufgab~ erfüllt, bleibt dem Geschäftsordnungsgeber - und damit der Mehrheit - überlassen. Lediglich ein Kernbestand an Minderheitenrechten, der unmittelbar aus dem Demokratieprinzip abgeleitet werden muß, ist verfassungsrechtlich geboten; so muß beispielsweise die verfahrensmäßige Handlungsfähigkeit der parlamentarischen Opposition sichergestellt sein 2°O. Deshalb war etwa der Landtag von Baden-Württemberg bei seiner Geschäftsordnungsreform 1992 verpflichtet, die Minderheitenquoren in der geschehenen Weise an die neue Situation anzupassen 201 . BVerfGE 70, 324 (LS 7, 363); Amdt, Autonomie, S. 78. Vgl. H.-P. Schneider, Opposition, S.240; Zeh, in: Isensee/KirchhoJ, § 42 Rn. 23; Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S. 54, 123, der eine "derartige ,Gelegenheitsgesetzgebung' , die auf den Einzelfall abgestellt ist, (für) ... mit dem Wesen der GO als Norm objektiven Rechts unvereinbar" hält und deshalb hier einen "Mißbrauch der dem Bundestag gewährten Autnomie" sieht; ähnlich schon Laband, DJZ 1903, S.6. 199 Streitig, vgl. Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 35; wie hier: Ritzel/Bücker, Handbuch, § 126, S. 2; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 596; Troßmann, Parlamentsrecht, § 127 Rn. 4. 200 Weitere Beispiele: Mitwirkung in parlamentarischen Leitungsorganen, Fragerechte, Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, Verhinderung von Abweichungen. Allerdings handelt es sich bei den diesbezüglichen GO-Vorschriften deshalb noch nicht um nur deklaratorisches Recht; dieses liegt nur bei inhaltlicher Identität bzw. konkretem Regelungsgegenstand, der näher bestimmt wird, vor. 201 So war es notwendig, bei einer aus drei politisch völlig gegensätzlichen Fraktionen bestehenden Opposition bereits zwei Fraktionen für die wesentlichen Minderheitenrechte (etwa auch Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses) ausreichen zu lassen. Ein Nichtstun wäre der weitgehenden Ausschaltung der Opposition durch die (Regierungs-)Mehrheit gleichgekommen. 197 198

68

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

4. Selbstorganisation Die selbstverständlichste und deswegen in Literatur und Rechtsprechung weniger deutlich betonte dritte Unterfunktion der Geschäftsordnung liegt darin, das Parlament als Organ nach innen zu organisieren202 • Die parlamentarische Arbeit findet nicht nur im Plenum, sondern auch auf weiteren Ebenen und in anderen Gremien statt; in diesem Zusammenhang sind etwa die Ausschüsse, die Fraktionen oder auch der Ältestenrat zu erwähnen. Die Einrichtung und das Zusammenwirken dieser unterschiedlichen Teile sowie ihre Anbindung an das Plenum und damit an die parlamentarische Entscheidungsfindung müssen organisiert werden, um die parlamentarische Funktionsund Arbeitsfähigkeit zu gewährleisten203 ; damit ist auch diese dritte Geschäftsordnungsfunktion von der Leitfunktion getragen. Da diese parlamentarischen Untergliederungen im Grundgesetz nur teilweise und eher beiläufig Erwähnung finden 204 , hinsichtlich ihres innerparlamentarischen Status jedoch keine Regelung erfahren, fallt diese Aufgabe ebenfalls der Geschäftsordnung zu; diese regelt im Rahmen dieser Funktion die Voraussetzungen für die Bildung der parlamentarischen Untergliederungen und Gremien, gegebenenfalls außerdem die Zusammensetzung (vgl. etwa § 6 Abs. 1 S. 1 GO BT für den Ältestenrat) sowie - in Abgrenzung voneinander und vor allem gegenüber dem Plenum - deren Aufgabenbereiche und Kompetenzen205 • Angesichts der ständig anwachsenden Aufgabenfülle und der komplexen Zusammenhänge in der modemen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft wird man noch über Verbesserungen im Bereich der Arbeitsteilung innerhalb des Parlaments nachdenken müssen; so wäre durch die Leitfunktion der Geschäftsordnung etwa eine Entscheidungsdelegation durch das Plenum an

202 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 116; Schäfer, Bundestag, S. 63, 65; siehe außerdem BVerfGE 80, 188 (LS 2b, 219); Rösch, Geschäftsordnung, S. 69; Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 35 sowie (bezüglich der Regierungs-GO) S. 119 f. 203 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 116, spricht vom "funktionelle[n] Wechselspiel zwischen der Gesamtheit des Parlaments und seinen Teilen". 204 So erwähnen die Art. 44, 45a und 45c GG lediglich einzelne, bestimmte Ausschüsse; das Ausschußwesen insgesamt sowie die Einsetzung der ständigen Ausschüsse wird erst in den §§ 54 ff. GO BT geregelt. Die Fraktionen werden von Art. 53a GG ohne nähere Erläuterung einfach vorausgesetzt, während die normative Fundierung ihrer Bildung den §§ 10 ff. GO BT vorbehalten bleibt. Der Ältestenrat findet im GG überhaupt keine Erwähnung. W Vgl. die in anderem Zusammenhang aufgestellte Übersicht von Organisationsakten bei Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 47 f.

§ 5 Funktionen und Rechtsgrundlage der Geschäftsordnung

69

Ausschüsse zumindest dann gedeckt, wenn es nicht um die Nation bewegende Grundfragen gehe 06 •

B. Rechtsgrundlage der Geschäftsordnung 1. Delegationsnorm in der Verfassung

In Deutschland enthalten alle Verfassungen eine Vorschrift des Inhalts, daß sich das Parlament eine Geschäftsordnung gibt207 • Sie wird ganz überwiegend als Delegationsnorm verstanden; demnach überträgt die Verfassung erst hier dem Parlament seine Geschäftsordnungskompetenz2oB • Die einschlägige Vorschrift des Grundgesetzes (Art. 40 Abs. 1 Satz 2) unterscheidet sich nur gering von ihren Vorläufervorschriften (Art. 78 Abs. 1 PrVU 1850; Art. 27 S. 2 aRV 1871; Art. 26 S. 2 WRV 1919). Während die konstitutionellen Normen noch von "Geschäftsgang und Disziplin" sprechen, wird seit Weimar der Begriff "Geschäftsordnung" gebraucht. 2. Rechtsgrundfrage Dennoch stellt sich die Frage, ob es sich bei den Delegationsnormen um den konstitutiven Rechtsgrund der Geschäftsordnungskompetenz handeln kann. Das Grundgesetz sieht als freiheitlich-demokratische Verfassung ein Parlament im wahren Wortsinn vor; das parlamentarische Wesen liegt darin, Forum möglichst völlig freien und unbeeinflußten Diskurses und Wortstreites zu sein209 • Außerdem beinhaltet das grundgesetzliche Parlamentsverständnis, wie auch bei den oben genannten Parlamentsaufgaben deutlich wurde, 206 Derzeit sind sie gern. § 62 Abs. I GO BT nur "vorbereitende Beschlußorgane", die dem Plenum nur Beschlußempfehlungen machen können. 207 Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG, 32 Abs. I S. 2 LV Ba.-Wü., 20 Abs. 3 LV Bay., 29 LV Ber!., 68 LV Brand., 106 LV Brem., 18 Abs. I S. 2 LV Hamb., 99 LV Hess., 8 Abs. 1 S. 2 LV Nds., 38 Abs. 1 S,. 2 LV NRW, 85 Abs. I LV Rh.-Pf., 70 Abs. 1 LV Saar!., 46 Abs. 1 LV Sachs., 46 Abs. I LV Sachs.-Anh., 14 Abs. I S. 2 LV Sch!.-H. 208 In diese Richtung scheint das BVerfG zu neigen; es stellt fest, daß die GOAutonomie durch Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG gewährleistet wird, BVerfGE 44, 308 (314) und wiederholt in: NJW 1982, S. 2233; AchterberglSchulte, in: MKAS, Art. 40 Rn. 53, sehen die Delegationsnorm als rechtsdogmatisches Erfordernis an, weil die Einheitlichkeit der staatlichen Normsetzung die Rückführbarkeit der GO auf die Verfassung verlange; dabei wird jedoch übersehen, daß eine Kompetenzgrundlage nicht unbedingt ausdrücklich und konkret erfolgen muß, sondern sich auch aus dem Zusammenspiel von Normen ergeben kann. 209 Vg!. LeibholzlRincklHesselberger, 00, Art. 38 Rn. 531.

70

1. Kap.: Bearbeitungsgegenstand und Grundlagen

daß das Parlament unter anderem die Regierung zu kontrollieren und kritisch - gegebenenfalls unter Darstellung von Alternativen zur Regierungspolitik zu begleiten hat. Dieses Leitbild eines freien und die Regierung ernsthaft kontrollierenden Parlaments schließt es darum gerade aus, daß die Organisation der Debatten und der Regierungskontrolle und, noch weiter gefaßt, die nonnativen Voraussetzungen der parlamentarischen Arbeits- und Funktionsfähigkeit, auch nur in wesentlichem Umfang fremdbestimmt sein könnten. Sonst wäre das Parlament nicht der Ort der freien, sondern kontrollierten und unter Umständen sogar von außen gesteuerten Rede und Diskussion; bezeichnend hierfür ist auch, daß im Konstitutionalismus bis 1918 in einer Reihe deutscher Staaten Erlaß, Abänderung und Aufhebung der parlamentarischen Geschäftsordnung nur gesetzlich oder doch zumindest unter wesentlicher Mitwirkung des Monarchen (etwa durch Einspruchs- bzw. Bestätigungsrechte) möglich waren210 • Nach alledem stellt das Recht des Parlaments, sein Verfahren (im weiteren Sinn) selbst zu ordnen, im freiheitlich-demokratischen Staat des Grundgesetzes keine dem Parlament erst zu verleihende Kompetenz dar, sondern ist vielmehr als integraler Bestandteil der repräsentativen und parlamentarischen Demokratie anzusehen 2l1 • Deshalb liegt der Rechtsgrund für die Geschäftsordnungskompetenz nur vordergründig in der Delegationsnonn; tatsächlich liegt er tiefer, nämlich im durch viele Bestimmungen des Grundgesetzes konstituierten staatsrechtlichen Gesamtsystem (etwa Art. 38, 43 Abs. 1, 44, 46, 47, 48, 61, 63, 67, 77 Abs. V 12 • Dies hat auch zur Folge, daß die oben vorgenommene Beschränkung des Geschäftsordnungsbegriffs im Sinn der Delegationsnonnen auf die Geschäftsordnung im fonnellen Sinn letztlich für die anderen untergesetzlichen Geschäftsordnungsnonnen (vor allem das Gewohnheitsrecht) unschädlich bleibt; denn diese stützen sich ebenso wie die (fonnelle) Geschäftsordnung auf die verfassungsrechtliche Gesamtordnung. Nicht gefolgt aber kann solchen Ansichten, die die Selbstverständlichkeit der Geschäftsordnungskompetenz aus einer - vom staatsrechtlichen Umfeld weitgehend unabhängigen - "natürlichen" Autonomie des Parlaments ableiten wollen213 ; das Grundgesetz ist als Kompetenzordnung

Vgl. oben, § 2.A.1.; außerdem bei Amdt, Autonomie, S. 60 f. Ähnlich Finger, Staatsrecht, S. 236, der in der Delegationsnorm lediglich eine "Anerkennung" sieht; ebenso BayVfGH 8 11 91 (100); Stier-Somlo, Staatsrecht I, § 80 Ein!.; Schäfer, Bundestag, S. 63, sieht die GO-Gebung als Konkretisierung seiner Stellung durch das Parlament, um seine Handlungsfähigkeit für die parlamentarische Demokratie herzustellen; von der Selbstverständlichkeit der GO-Kompetenz ging nach Amdl, Autonomie, S. 63, auch der Organisationsausschuß des Parlamentarischen Rates aus, weshalb Antrag auf Verzicht der Vorschrift gestellt wurde. 212 Rösch, Geschäftsordnung, S. 30 Fn. 80,35,45. 213 So insbesondere Amdl, Autonomie, S. 62 f., und Maltern, Grundlinien, S. 78, die dies aus dem Status der Verfassungsorgane ableiten, der Fremdbestimmung nicht 210

211

§ 5 Funktionen und Rechtsgrundlage der Geschäftsordnung

71

zu verstehen und überläßt den Organen keine funktionsfreien Gestaltungsräume2l4 . Die Existenz und Reichweite der Geschäftsordnungskompetenz muß sich aus einer Verfassungsvorschrift oder - wie hier vertreten - aus der verfassungsrechtlichen Grundordnung ableiten lassen. Durch seine Verankerung letztlich in Art. 20 Abs. 2 GG steht die Geschäftsordnungskompetenz in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG auch nicht zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers.

3. Bedeutung der Delegationsnorm Die Delegationsnormen sind folglich hinsichtlich des Rechtsgrundes nur deklaratorisch; ihre Existenz ist - wie so häufig im Parlamentsrecht historisch - dadurch zu erklären, daß dieses von den Parlamenten seit Anbeginn in Anspruch genommene Recht im Konstitutionalismus bestritten wurde und außerdem ohne DelegationsnornT nicht zustand; denn damals wurde die Verfassung eben gerade nicht vom grundgesetzlichen Leitbild eines freiheitlichdemokratischen Parlaments beherrscht. Unter dem Grundgesetz haben die Delegationsnormen dennoch eine durchaus nicht zu unterschätzende Bedeutung; so wird durch die Betonung einer Geschäftsordnung, die - wie dargelegt wurde - im formellen Sinn zu verstehen ist, eine Grundentscheidung für die Kodifikationstechnik gefällt. Denkbar wäre immerhin auch eine auf case law, Einzelresolutionen oder nur ungeschriebenen Gewohnheiten und Bräuchen basierende Behandlung der parlamentarischen Geschäfte2lS • Außerdem wird dadurch die Bedeutung der formellen Geschäftsordnung gegenüber dem ungeschriebenen Geschäftsordnungsrecht konstitutiven Charakters hervorgehoben, weshalb eine Gleichstellung im Rechtsrang bereits abgelehnt wurde.

zuläßt; ähnlich Jellinek, Schriften und Reden 11, S. 258, mit historischen und ausländischen Beispielen, der von einer selbstverständlichen Parlamentsautonomie ausgeht, S. 259; Schäfer, Bundestag, S. 65, gesteht dem Parlament das Satzungsrecht "aus seiner Natur" zu. 214 In anderem Zusammenhang Scherer, AöR 112, S. 189 (212); Rothaug, Leitungskompetenz, S. 76. 215 Mahl, Erörterungen, S. 41-44.

2. Kapitel

Bindungsprobleme der Geschäftsordnung § 6 Zeitliche Bindung

A. Der allgemeine Diskontinuitätsgrundsatz 1. Inhalt

Aufgrund der institutionellen Kontinuität des Verfassungsorgans Parlament bleiben die Rechte, Pflichten, Funktionen und Kompetenzen insbesondere im Zusammenspiel mit den anderen obersten Bundesorganen von einer Neuwahl der Mitglieder unberührt!. Allerdings beendet der Ablauf der Wahlperiode die Mandatslegitimation der einzelnen Mitglieder und damit die konkretpersonelle Zusammensetzung; insofern verliert das Parlament als Organ hierdurch seine "politische Substanz..2 • Die damit verbundene Problematik wird in Schrifttum und Rechtsprechung unter dem Begriff der parlamentarischen Diskontinuität behandelt. Dabei wird zwischen der personellen, sachlichen (materiellen) und institutionellen Diskontinuität unterschieden. Die personelle Diskontinuität bezeichnet den Mandatsverlust der Abgeordneten bzw. die personelle Erneuerung durch die Wahl; unter sachlicher Diskontinuität wird die automatische Erledigung (beinahe) aller (inner-)parlamentarischer Initiativen und Angelegenheiten und der dadurch unbelastete Arbeitsbeginn des Nachfolgeparlaments verstanden, die auch in vielen Geschäftsordnungen ausdrücklich erwähnt ist. Die institutionelle Diskontinuität schließlich meint die - ebenfalls automatische - Auflösung (meist)3 aller (inner-)parlamentarischer Organe, also insbesondere des Präsidiums, des Ältestenrates und der Ausschüsse4 •

! Schäfer, Bundestag, S. 87; H.-P. Schneider, in: Alternativkommentar, Art. 39 Rn. 9, spricht vom Prinzip der "Organidentität" (im Anschluß an BVerfGE 1, 144 [152]). 2 Schäfer, Bundestag, S. 87. 3 Als Ausnahmen wären etwa der Wehrbeauftragte (kraft Gesetzes, § 14 Abs. 2 WBeauftrG) oder der Ständige Ausschuß gern. Art. 36 LV Ba.-Wü. zu nennen. 4 Insgesamt zu den einzelnen Diskontinuitätsbegriffen H.-P. Schneider, in: Alternativkommentar, Art. 39 Rn. 7; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, § 63 Rn. 39.

§ 6 Zeitliche Bindung

73

2. Herkunft und Bedeutung der sachlichen Diskontinuität Sowohl die personelle wie auch die institutionelle Diskontinuität lassen sich direkt aus dem Gedanken der demokratischen Legimitation und der Repräsentationserneuerung ableiten; ein historischer Rückblick zeigt dagegen, daß die sachliche Diskontinuität auf andere Wurzeln zurückzuführen ist. Während heute alle drei Diskontinuitätsfolgen gleichzeitig mit dem Ende der Wahlperiode eintreten, wurde im Konstitutionalismus die sachliche Diskontinuität noch enger gefaßt und auf die einzelnen Sessionen innerhalb einer Wahlperiode bezogen; die Vorstellung der sachlichen Diskontinuität ist also im Zusammenhang mit einem auf Arbeitsabschnitte bezogenen Denken entstanden und ist letztlich auf ständische Verfahrensgewohnheiten zurückzuführens. So wird diesem Grundsatz auch kritisch entgegengehalten, er stelle im demokratisch-parlamentarischen System einen konstitutionellen Fremdkörper dar, weil er mit dem monarchischen Einberufungsrecht verbunden war und außerdem ein Mittel zur ,,Eindämmung der parlamentarischen Teilhabe am Staat" und zur Konservierung der ,,Machtbefugnisse der Krone" w~. Aber die sachliche Diskontinuität unterliegt auch Angriffen mit ungleich aktuellerem Bezug. Besondere Kritik erfährt nämlich die Praxis, daß gegen Ende einer Wahlperiode die parlamentarische Aktivität stark zunimmt und so viele Gesetze übereilt und ohne ausreichende Beratung verabschiedet werden; damit soll verhindert werden, daß die bislang schon geleisteten Vorarbeiten an einem Gesetzentwurf oder ähnlichem der (sachlichen) Diskontinuität verfallen 7 • In diesem Zusammenhang ist auch die praktische Schwierigkeit zu sehen, innerhalb einer Wahlperiode von regelmäßig vier Jahren große und entsprechend langwierige Gesetzesvorhaben in angemessener Gründlichkeit durchzuführen; die erforderliche Neueinbringung verursacht so eine partielle Doppelbelastung8• Die Verteidigung des Grundsatzes der sachlichen Diskontinuität stützt sich vor allem auf die "Reinigungsfunktion" durch die automatische Erledigung aller Vorlagen; so muß gesehen werden, daß die wirklich bedeutsamen und

S Schräder, Parlamentsrecht, S. 130, 131; ähnlich Schäfer, Bundestag, S. 88, der die sachliche Diskontinuität historisch als Ausfluß des monarchischen Einberufungsrechts erklärt; denn der Souverän rief die Ständeversammlungen nur zu bestimmten Fragen und für begrenzte Arbeitsperioden zusammen; siehe im einzelnen zur ständischen Arbeitsweise Scheuner, DÖV 1965, S. 510 (511). 6 Müller, DÖV 1965, S. 505 (507 f.). 7 Müller, DÖV 1965, S. 505; Schäfer, Bundestag, S. 90 f.; Ossenbühl, in: lsenseel Kirchhof, § 63 Rn. 40. 8 Schäfer, Bundestag, S.90; Achterberg, DVBI 1974, S.693 (704); siehe auch Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 30.

74

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

wichtigen Gesetzesvorhaben nur einen kleinen Bruchteil aller vorgelegten Parlamentsinitiativen darstellen. Zahlreiche andere Vorlagen entspringen auch tagespolitischem Hintergrund, die schon bald nicht mehr ernsthaft weiterverfolgt werden; ebenso sind viele Initiativen noch nicht hinreichend durchdacht oder auch weniger dringlich. Eine formelle Erledigung etwa durch Rücknahme oder Ablehnung würde die politische Selbstachtung der Initiatoren berühren9 • Deshalb bewirkt die sachliche Diskontinuität eine angesichts der Anträge- und Gesetzesftut dringend notwendige Entlastung und Klärung auf eine politisch unauffällige Weise 10. Die langwierigen Gesetzesvorhaben, die nicht innerhalb einer Wahlperiode zur Verabschiedung gebracht werden, werden von den damit besonders befaßten Abgeordneten "aus der Mitte" des Parlaments eingebracht, was namentlich auf Bundesebene das zeitraubende Vorverfahren (Stellungnahme von Bundesregierung bzw. Bundesrat bei Initiativen dieser Organe, vgl. Art. 76 Abs. 2, 3 GG) wegfallen läßt; so kann die Beratung mit nur geringer Mehrarbeit in der Sache an der Stelle wiederaufgenommen werden, an der sie durch die Diskontinuität unterbrochen wurdelI. Schließlich spricht noch ein weiterer praktischer Umstand für die sachliche Diskontinuität: die Weiterverfolgung von solchen Anträgen, deren Initiatoren nach der Wahl dem Parlament nicht mehr angehören, erscheint wenig sinnvoll; und sollten doch andere Abgeordnete sich der Sache wieder annehmen wollen, so können sie dies durch Neueinbringung tun. Insbesondere aber wenn die Wahl eine veränderte politische Mehrheit hervorgebracht hat, wäre es unpraktisch, die neue Mehrheit noch mit allen alten Vorlagen befassen zu wollen 12 • Das konstitutionelle Gegenargument der Unterdrückung parlamentarischer Initiativen ist spätestens seit Einführung des unbeschränkten Selbstbefassungsrechts hinfällig 13 • Nach alledem ist der Grundsatz der sachlichen Diskontinuität aus praktischen Gründen auch heute noch als sehr sinnvoll anzusehen und sollte keinesfalls aufgegeben werden 14 •

9 Stern, Staatsrecht, § 26 III 4f, spricht davon, Projekte "geräuschlos beerdigen" zu können. 10 Scheuner, Döv 1965, S. 510 (512, 513); in diesem Sinn spricht sich auch ausdrücklich der Bundestag im Schlußbericht Verfassungsreform aus, BT Drucks. 7/ 5924, S. 37. 11 Schäfer, Bundestag, S. 91 f. 12 Scheuner, DÖV 1965, S. 510 (513); Schäfer, Bundestag, S. 88 f. 13 Darauf weist auch der Bundestag im Schlußbericht Verfassungsreform hin, BT Drucks. 7/5924, S. 37. 14 So auch Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, § 63 Rn. 40; Scheuner, DÖV 1965, S. 510 (513); a. A. Achterberg, DVBI 1974, S. 693 (704).

§ 6 Zeitliche Bindung

75

3. Normative Grundlage Für jede der Unterfälle der Diskontinuität soll nun noch die nonnative Grundlage festgestellt werden. Insbesondere stellt sich dabei die Frage, inwieweit die Diskontinuität jeweils zwingend ist. Die Darstellung beschränkt sich dabei auf die Bundesebene, weil die einschlägigen Vorschriften inhaltlich übereinstimmend auch in den Länderverfassungen enthalten und die Ergebnisse deshalb entsprechend auf die Länder übertragbar sind. Die personelle Diskontinuität ergibt sich aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 00 in Verbindung mit Art. 39 Abs. 1 S. 1, 2, 4 00; denn aus der Zusammenschau dieser Vorschriften ergibt sich, daß die vom Wähler vermittelte demokratische Legitimation nach vier Jahren oder nach Auflösung des Bundestages endet. Die institutionelle Diskontinuität wird in Art. 40 Abs. 1 S. 1 00 für das Präsidium festgestellt; hinsichtlich der anderen innerparlamentarischen Organe ergibt es sich aus der Natur der Sache, daß auch sie von der konkretpersonellen Zusammensetzung abhängig sind, denn alle diese Organe bestehen aus nach Ablauf der Wahlperiode nicht mehr demokratisch legitimierten Mitgliedern. Für die sachliche Diskontinuität ist das Demokratieprinzip als verfassungsrechtliche Untennauerung angeboten worden; so solle der durch die Wahl festgestellte politische Wille des Volkes frei von Ballast "in praktische Politik umgesetzt werden"15. Damit werde die Unabhängigkeit des Abgeordneten ebenso gestärkt wie das "demokratische Strukturprinzip der Machtalternanz", weil nun ohne Verzögerung eine neue Politik gemacht werden könne l6 • Diese Begründung vermag jedoch nicht zu überzeugen; durch zahlreiche, langfristige Bindungen - sowohl durch Gesetze wie durch Verträge - ist auch ein neues Parlament ebenso wie eine neue Regierung im politischen und finanziellen Handlungsspielraum an zahlreiche Vorgaben ihrer Vorgänger inhaltlich gebunden. Die angesprochenen Verfassungsvorschriften werden von der dargestellten Ansicht außerdem überfordert; sie enthalten keinen konkreten Anhaltspunkt für eine verfassungsrechtlich gebotene sachliche Diskontinuität. Manche Autoren sehen den Rechtsgrund hierfür folglich nur in der einschlägigen Geschäftsordnungsvorschrift (§ 125 GO BT), die dann als konstitutives Geschäftsordnungsrecht anzusehen wäre 17 • Die h.M. rekurriert dagegen auf Verfassungsgewohnheitsrecht, dessen Existenz bereits oben begründet wurde (S. 62 f.). Da dieser Grundsatz schon vom preußischen Landtag durch eine entsprechende Geschäftsordnungsbe-

H.-P. Schneider, in: Alternativkommentar, Art. 39 Rn. 6. H.-P. Schneider, in: Alternativkommentar, Art. 39 Rn. 6; ähnlich auch der Bundestag im Schlußbericht Verfassungsreform, BT Drucks. 7/5924, S. 37. 17 Müller, DÖV 1965, S. 505 (508). 15

16

76

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

stimmung im Jahre 1851 ausdrücklich anerkannt wurde und außerdem seither jedes deutsche Parlament von diesem Grundsatz ausging, sind sowohl dauernde Übung wie die darauf gerichtete Rechtsüberzeugung gegeben. Wegen des Zusammenhangs mit der verfassungsrechtlich bedingten personellen Diskontinuität und der einschneidenden Bedeutung für die Gesetzgebung (Art. 76 Abs. I, 77 Abs. 1 S. 1 00) ist dieser Gewohnheitsrechtssatz außerdem tatsächlich auf Verfassungsebene anzusiedeln l8 •

B. Gültigkeit des Diskontinuitätsgrundsatzes auch für die Geschäftsordnung? 1. Geltung der Geschäftsordnung nur für eine Wahlperiode a) Vorbemerkung

Die ganz h.M. überträgt den Diskontinuitätsgrundsatz auch auf die Geltung der Geschäftsordnung; insofern könnte man den oben genannten Diskontinuitätsbegriffen noch den der normativen Diskontinuität hinzufügen. Da die h.M. jedoch auf die Abhängigkeit der Geschäftsordnung von dem sie beschließenden Parlament in seiner konkret-personellen Zusammensetzung abstellt l9 , erscheint der Begriff einer "akzessorischen Geltung" noch geeigneter. Im Nachfolgenden sollen die Argumente der h.M. dargestellt und anschließend einer kritischen Würdigung unterzogen werden. b) Begründung

Die Begründung der h.M. geht in dogmatischer Hinsicht vom Parlament als jeweils konkret-personelle, zeitlich für sich abgeschlossene Einheit aus 20 • Jedes neugewählte Parlament sei in seinen inneren Angelegenheiten souverän und folglich keiner Fremdbestimmung zugänglich; als fremd gilt hierbei auch

180ssenbühl, in: lsensee/Kirchhof, § 63 Rn. 41; bei Müller, DÖV 1965, S. 505 (507); Schäfer, Bundestag, S. 91; Troßmann, Parlamentsrecht, § 126 Rn. 2; Gewohn-

heitsrecht nur auf Gesetzesrang nach Reichsgericht bei Troßmann, Parlamentsrecht, § 126 Rn. 2, und Anschütz bei Ritzel/Bücker, Handbuch, Vorb. § 125, S. 2. 19 So schon sehr deutlich Laband, Staatsrecht I, S. 320; BVerfGE I, 144 (148). 20 Pereis, Reichstagsrecht, S. 4; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 68; Finger, Staatsrecht, S. 237, beschränkt deshalb den Reichstag als staatsrechtliche Institution nur auf die Dauer der Legislaturperiode.

§ 6 Zeitliche Bindung

77

das organidentische Vorgängerparlamene l . In diesem Zusammenhang wird auch auf das verfassungsrechtliche Prinzip der Repräsentationserneuerung hingewiesen22 • Außerdem wird die begrenzte Geltung der Geschäftsordnung als notwendige Konsequenz der institutionellen Diskontinuität angesehen, weil mit dem Ende der Wahlperiode die innerparlamentarische Organisation aufgelöst sei23 • Einzelne Autoren meinen auch, bereits aus dem Wortlaut der Delegationsnorm(en) die zeitlich begrenzte Geltung ableiten zu können; so weisen sie etwa für Art. 40 Abs. I GG darauf hin, daß das Grundgesetz zwischen den Begriffen ,,Bundestag" und "Volksvertretung" unterscheide. Dabei handele es sich beim Bundestag um den konkret-gewählten PersoJlenverband (dies wird auch von der Zählweise - Erster Bundestag, Zweiter Bundestag, ... - unterstützt) und bei der Volksvertretung um das Parlament im staatsorganisatorischen Sinn. Sichtbar würde dieser Unterschied gerade bei einem Vergleich von Art. 17 und 40 Abs. 1 GG; während das Petitionsrecht gegenüber dem Parlament als Staatsorgan besteht (Art. 17 GG spricht von der "Volksvertretung"), kann das Recht zur Wahl des Präsidiums schon von seiner Funktion her nur für den konkret-gewählten Personenverband gelten (Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG spricht vom ,,Bundestag"). In der die Geschäftsordnungskompetenz betreffenden Norm (Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG) wird durch das Personalpronomen "er" auf den ersten Satz Bezug genommen, in dem der Begriff des ,,Bundestages" verwendet und überdies gerade die fraglos zeitlich begrenzte Präsidiumswahl geregelt wird24 • Des weiteren wird auf die in den meisten Geschäftsordnungen enthaltene Diskontinuitätsregelung (z.B. § 125 GO BT) hingewiesen2s • Außerdem sei eine dauerhafte Geltung mit dem dynamischen Charakter der Geschäftsordnung als flexibles Experimentierfeld innerparlamentarischer Geschäftsbehandlung nicht zu vereinbaren 26 • Schließlich wird noch auf die Praxis hingewiesen, nach der die meisten Parlamente jeweils zu Beginn einer neuen Legislaturperiode die Geschäftsordnung durch einen ausdrücklichen Beschluß - teilweise auch mit kleineren Veränderungen - übernehmen; vor allem der Bundestag ist in jüngerer Zeit wieder dazu

21 Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 28; Hatschek, Parlamentsrecht, S.41; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 69; Achterberg, S. Parlamentsrecht, S. 330, in: MKAS, Art. 40 Rn. 55 und in: lsensee/Kirchhof, § 52 Rn. 90; Maunz, in: MDRS, Art. 40 Rn. 19. Konsequent auch für die GO der Regierung Zinkeisen, Geschäftsordnung der Reichsregierung, S. 5. 22 Amdt, Autonomie, S. 129, 130. 23 Rothaug, Leitungskompetenz, S. 69. 24 Bemau, Geschäftsordnungen, S. 152, 153; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 67, 68; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 69. 2S Schweitzer, NJW 1956, S. 84 (85). 26 Schäfer, Bundestag, S. 66.

78

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

übergegangen 27 • Allerdings wurde die Geschäftsordnung auch häufig stillschweigend28 , aufgrund einer bekanntgegebenen interfraktionellen Vereinbarung29 oder durch die vom Alterspräsidenten vorgenommene Feststellung, daß sich gegen den Vorschlag der Übernahme keinen Widerspruch geregt habe und folglich so beschlossen sei, übernommen 3o• c) Kritische Würdigung

Die eben dargestellten Argumente für eine akzessorische Geltung der Geschäftsordnung in Abhängigkeit vom jeweils gewählten Parlament in seiner konkret-personellen Zusammensetzung begegnen einigen Bedenken. So wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Schutzfunktion der Geschäftsordnung vor Fremdbestimmung gegen Einflußnahmeversuche anderer Staatsorgane - namentlich und insbesondere der Regierung - gerichtet ist. Wegen der Interessenidentität von Vorgänger- und Nachfolgerparlament hinsichtlich der Verfahrensfragen fehlt es in diesem Verhältnis an der Fremdbestimmungsgefahr (s.o. S. 51)31. Außerdem kann im Bund und in allen Bundesländern mit Ausnahme Baden-Württembergs und Sachsens die Geschäftsordnung jederzeit mit einfacher Mehrheit und regelmäßig im vereinfachten Verfahren (d.h. durch sofortigen Beschluß ohne vorbereitende Lesungen) geändert werden; ein neugewähltes Parlament kann also erforderlichenfalls ohne weiteres ihm mißliebige Vorschriften aufheben oder ändern32 • Ein rechtlich qualitativer Unterschied zwischen dem aktiven Akt, eine Geschäftsordnung zu beschließen bzw. verändert zu übernehmen, und dem ebenfalls aktiven Akt, eine Geschäftsordnungsänderung vorzunehmen, ist nicht ersicht27 Siehe StB BT 1983 (Bd. 124), 1987 (Bd. 141) und 1990 (Bd. 155); vgl. außerdem StB LT Ba.-Wü. 1972, 1976, 1980; Hatschek, Parlamentsrecht, S. 26; Pereis, Reichstagsrecht, S. 3, und ders., in: Anschütz/Thoma, S. 450. 28 Abhaltun~ der konstituierenden Sitzung unter Bezugnahme auf GO-Vorschriften, ohne auf die Ubemahme in irgend einer Form eingegangen zu sein: im alten Reichstag 1884, 1887, 1890, 1893, 1898, 1907, 1912 (vgl. StB aRT) und im Weimarer Reichstag 1924, 1925, Aug. und Dez. 1932 (vgl. StB RT), im Bundestag 1953 (Bd. 18) und im Landtag von Baden-Württemberg 1968. 29 So im Bundestag 1957 (Bd. 39). 30 So im alten Reichstag 1874, 1877, 1881 (vgl. StB aRT), im Bundestag 1961 (Bd. 50), 1965 (Bd. 60), 1969 (Bd. 71), 1972 (Bd. 81), 1976 (Bd. 100), 1980 (Bd. 117) und im Landtag von Baden-Württemberg 1953, 1956, 1960, 1964. 3! Siehe außerdem Amdt, Autonomie, S. 128 Fn. 7. 32 Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 33; §§ 90 GO Abgh. Berl., 92 GO BS Hmb. (allerdings mit zwei Lesungen oder 2/3-Mehrheit), 100 GO LT Nds., 87 GO LT Sachs.-Anh.

§ 6 Zeitliche Bindung

79

lich33 • Nach alledem vermag das Argument der Fremdbestimmung nicht zu überzeugen. Ebenso ist die Verbindung der Geschäftsordnungsgeltung mit der institutionellen Diskontinuität verfehlt; diese These erfaßt bestenfalls die organisatorische Seite der Geschäftsordnung und reduziert sie hierauf. Die Geschäftsordnung ist jedoch Verfahrens- und Verhaltens grundlage für das gesamte parlamentarische Handeln und deshalb nicht von der (Nicht-)Existenz einzelner parlamentarischer Organe, sondern von der Existenz des Parlaments als Staatsorgan abhängig. Solange die Verfassung ein Parlament vorsieht und ein solches besteht, hat die Geschäftsordnung ihre Existenzberechtigung. Die oben dargestellte Wortlautargumentation wird selbst von vielen Vertretern der h.M. nicht ernsthaft vertreten. Das Grundgesetz, das sogar den Begriff der verfassungsmäßigen Grundordnung inhaltlich unterschiedlich verwendet34, gebraucht die Begriffe ,,Bundestag" und "Volksvertretung" keineswegs nach einern durchdachten Konzepe s. Die unterschiedliche Terminologie ist vielmehr durch die unterschiedliche Reichweite bedingt; während der Begriff "Bundestag" nur das Bundesparlament umfaßt, sind unter "Volksvertretungen" außerdem die Länderparlamente und sogar die kommunalen Vertretungsorgane zu verstehen 36 • Der Begriff ,,Bundestag" bezeichnet im Grundgesetz also das Parlament sowohl als Staatsorgan wie als konkretgewählten Personen verband. So ist zuzugestehen, daß Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG das Parlament im letzteren Sinn meint; die Begriffserstreckung auf Satz 2 jedoch ist nicht überzeugend31 • Denn eine am jeweiligen Norrninhalt orientierte Auslegung gelangt zu dem Ergebnis, daß Satz 1 ein politisches Amt meint, das - wie jedes in einer Demokratie - nur auf Zeit vergeben wird und werden kann, während Satz 2 eine Rechtsnorm meint, für die eine zeitliche Begrenzung zumindest untypisch ist. Nach alledem ist mit der h.M. davon auszugehen, daß der Wortlaut der Delegationsnorm für die vorliegende

33 Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 31; Roßmann, Leitung, S. 18 f.; Bilfinger, Geschäftsordnung, S. 445. 34 von Münch, in: von Münch, Art. 2 Rn. 29; beispielsweise: Art. 2 Abs. 1 (gesamte mit der Verfassung formell und materiell übereinstimmende Rechtsordnung), 9 Abs. 2 (freiheitlich-demokratische Grundordnung) und 20 Abs. 3 GG (nur verfassungsrechtlicher Kernbestand). 35 So schon für die WRV Rösch, Geschäftsordnung, S. 75, und Haagen, Rechtsnatur, S. 42. 36 Rauhall, in: von Münch, Art. 17 Rn. 12. 37 So - allerdings mit historischer Begründung bzgl. der Normentstehung - Haagen, Rechtsnatur, S. 44.

80

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

Streitfrage keine brauchbare Entscheidungsgrundlage darstelle 8 • Noch viel weniger überzeugend ist der Hinweis auf die geschäftsordnungsrechtlichen Diskontinuitätsvorschriften; denn diese erfassen nur die sachliche Diskontinuität, also die Erledigung von Vorlagen und anderen Initiativen. Die Geschäftsordnung ist jedoch die normative Grundlage für deren Behandlung und ist somit funktional und qualitativ hiervon zu unterscheiden. Schließlich ist zur Übernahmepraxis festzustellen, daß es sich dabei bestenfalls um ein äußerliches Indiz handelt; ein dogmatisches Argument kann daraus noch nicht abgeleitet werden 39• In der deutschen Parlamentsgeschichte ist außerdem zu häufig ohne jede Erwähnung einer Übernahme von der Fortgeltung ausgegangen worden, als daß die doch sehr wechselhafte Praxis hier ein verläßliches Indiz für die zeitliche Geltung der Geschäftsordnung darstellen könnte (vgl. die obigen Nachweise). Insbesondere kann schon aus Gründen der Rechtssicherheit ein objektives Recht begründender Akt, als der die Geschäftsordnungsübernahme nach der h.M. anzusehen wäre, nicht stillschweigend erfolgen4O ; der Zeitpunkt des Inkrafttretens ist nicht immer ersichtlich, und außerdem mangelt es an ,jeder Formalisierung und Publizität des Rechtsetzungsvorganges'04I. Somit ist festzustellen, daß die von der h.M. angeführten Gründe für die akzessorische Geltung der Geschäftsordnung letztlich nicht durchschlagen. d) Weitergehende Kritik an der akzessorischen Geltung der Geschäftsordnung 00) Fehlende Berücksichtigung der Entwicklung

von Parlamentsbedeutung und -praxis

Über die dargestellten Bedenken hinaus ist der h.M. entgegenzuhalten, daß sie noch das konstitutionelle Leitbild des Parlaments vor Augen hat; die konstitutionelle Wurzel der auf die Geschäftsordnung bezogenen Diskontinui-

Amdt, Autonomie, S. 128 Fn. 7. Apetz, Autonomie, S. 9; Jellinek, Schriften und Reden 11, S. 253. 40 So aber Hatschek, Parlamentsrecht, S. 26; Brentano, Parlamentspräsident, S. 23 Fn. 37; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 69; Köhler, ZParl 22, S. 177 (181); siehe auch Amdt, Autonomie, S. 95 f. 41 Amdt, Autonomie, S. 134 f.; Haagen, Rechtsnatur, S.41, fordert für eine RechtsbegrUndung einen formellen Beschluß; a.A. Bemau, Geschäftsordnungen, S. 163, für den die äußerliche Ersichtlichkeit bereits dann vorliegt, wenn das neue Parlament die (alte) GO seiner Geschäftsführung zugrundelegt. 38

39

§ 6 Zeitliche Bindung

81

tät wird auch im Schrifttum eingeräumt42 • Gerade in rechtstatsächlicher Hinsicht mag die Vorstellung der akzessorischen Geschäftsordnungsgeltung im letzten Jahrhundert eine gewisse Berechtigung gehabt haben; damals stellten die Parlamente in ihrer konkret-personellen Zusammensetzung (und sogar deren einzelnen Sessionen) - in zeitlicher Hinsicht, worauf es entscheidend ankommt - noch wirklich selbständige Handlungseinheiten dar; so wurde der württembergische Landtag nach 1819 (ordentlicherweise) nur alle drei Jahre einberufen (§ 127 Abs. 1 LV württ. 1819). Noch im Kaiserreich war der Reichstag zunächst als eine jährlich im Herbst für einige Wochen zusammentretende Versammlung vorgesehen, wobei die Sessionen freilich kontinuierlich länger wurden und schließlich nur noch eine Fonnsache darstellten, bevor sie 1919 ganz abgeschafft wurden43 • Im letzten Jahrhundert wurde auch folgerichtig zwischen ordentlichen und außerordentlichen Sessionen unterschieden (vgl. § 127 Abs. 1 LV Württ. 1819) - ähnlich also den Parteitagen oder ähnlichen Einrichtungen heute; jede Session wurde noch mit einem feierlichen ,,Abschied" beendet, der die Ergebnisse der Tagung zusammenfaßte44 • Das Parlament wurde eben noch nicht als pennanentes und die Regierungsarbeit ständig begleitendes Staatsorgan begriffen, sondern eher als eine auf bestimmte Grundentscheidungen (namentlich im Bereich des Budgets) beschränkte Versammlung, die in regelmäßigen Abständen jeweils nur vorübergehend zusammengerufen wurde4s •

Hatschek, Parlamentsrecht, S. 36, 37. So dauerten die regelmäßig einmal pro Jahr stattfindenden Sessionen im Reichstag des Norddeutschen Bundes 1868, 1869 und 1870 jeweils etwa drei Monate; in der 7. und 8. Wahlperiode des alten Reichstages gab es schon beinahe sechsmonatige Sessionen (1888/89; 1892/93), was in der 9. Wahlperiode üblich wurde. In der 10. Wahlperiode dauerte die erste Session vom 6.12.1898-12.6.1900 und die zweite kurz darauf vom 14.11.1900-30.4.1903; die von den Sessiol1en belegte Zeitspanne innerhalb der Wahlperiode überwog folglich die sessionsfreie Zeit bei weitem. So blieb das bis zur letzten (13.) Wahlperiode des Kaiserreichs: erste Session vom 7.2.1912-20.5.1914 und zweite Session vom 4.8.1914 bis 13.7.1918 (letztere allerdings kriegsbedingt verlängert) - vgl. StB RT Norddt. Bd. und StB aRT. Die Abschaffung 1919 erfolgte zunächst allerdings nur in praxi (vgl. Art. 24 WRV), siehe Müller, DÖV 1965, S. 505 (507). Erst das GG vollzog die Abschaffung dann auch auf formell verfassungsrechtlicher Ebene. 44 Mayer, Staatsrecht, S. 137 f.; Meyer/ Anschütz, Staatsrecht, S. 358. 45 Vgl. lellinek, Schriften und Reden 11, S. 241 f., der dies auch mit dem zu geringen Arbeitspensum der Parlamente begründet; permanente Parlamente würde nur eine "bedenkliche Vielgeschäftigkeit" entwickeln; siehe auch Kelsen, Staatslehre, S. 353, der ein permanentes Parlament höchstens in "sozial bewegten Zeiten, sonderlich nach Revolutionen" als notwendig ansieht; aufschlußreich ist hierfür auch der Wortlaut von § 124 LV Württ. 1819, der die Bereiche dieser Grundentscheidungen aufzählt. 42 43

6 Haug

82

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

Seit der Einführung des parlamentarischen Regierungssystems ist das Parlament jedoch mit einer solchen Arbeitsbelastung konfrontiert, daß es in Pennanenz tagt; die sogenannten ,'parlamentsferien" - in denen durchaus Ausschüsse tagen können - stellen keine auch nur vorübergehende Einstellung der parlamentarischen Existenz und Arbeit dar, wie dies in den Zeiten zwischen den Sessionen im Konstitutionalismus noch der Fall war46 • Außerdem haben sich Funktion und Bedeutung des Parlaments "in der heutigen Demokratie einer komplizierten, interessendurchzogenen und von intensiver rechtlicher Regelung abhängigen Wirtschafts- und Industriegesellschaft'047 insbesondere auch wegen des Wandels der staatlichen Aufgaben im Leistungsstaat so grundlegend verändert, daß die dem konstitutionellen Leitbild zugrundeliegende Konzeption inzwischen völlig überholt ist. Dieser Entwicklung des parlamentarischen Wesens hat auch das Bundesverfassungsgericht dadurch Rechnung getragen, daß es zumindest das Bundestagsmandat als Vollbeschäftigung anerkannt hat48 • Die Änderung des Art. 39 GO in Abs. 1 S. 2, wonach die Wahlperiode erst mit dem Zusammentritt des neugewählten Bundestages endet (und nicht, wie bisher, automatisch vier Jahre nach dem ersten Zusammentritt), verstärkt ebenfalls durch die Abschaffung der Möglichkeit einer parlamentslosen Zeit die parlamentarische Pennanenz; da "ein demokratischer Staat ohne ein stets verfügbares Verfassungsorgan Parlament ... nicht vollgültig verfaßt" wäre, war diese Verfassungsänderung auch dringend geboten49 • In der Frage der zeitlichen Geschäftsordnungsgeltung jedoch ist die h.M. von diesem tiefgreifenden Wandel der parlamentarischen Praxis und Bedeutung unbeeinflußt geblieben. Dabei sind gerade die im Zeitalter des Konstitutionalismus aufgestellten Grundsätze im Bereich des Parlamentsrechts vor dem Hintergrund der dargestellten Strukturveränderungen der Verfassungstheorie und -praxis auf ihre Berechtigung in der Gegenwart hin kritisch zu untersuchen.

46 Damals wurde das Parlament bei Sessionsende nicht vertagt, sondern geschlossen; dies hatte unter anderem zur Folge, daß sich das Parlament zu Beginn der nächsten Session (selbst bei personeller Identität) wieder neu zu konstituieren hatte - vgl. Mayer, Staatsrecht, S. 139; Meyer/ Anschütz, Staatsrecht, S. 360; siehe zu den heutigen ,'parlamentsferien" Versteyl, in: Schneider/Zeh, § 14 Rn. 18; Müller, DÖV 1965, S. 505 (507); Schäfer, Bundestag, S. 88. 47 Badura, in: Schneider/Zeh, § 15 Rn. 8 (bezogen auf die Professionalisierung der Abg.). 48 BVerfGE 40, 296 (312-314); auf S. 315 spricht das Gericht von einer "nicht zufälligen, sondern notwendigen und innerlich folgerichtigen, schwerlich reversiblen Entwicklung"; im Schrifttum siehe Badura, in: Schneider/Zeh, § 15 Rn. 8, und sogar Kelsen, Staatslehre, S. 353. 49 Schlußbericht Verfassungsreform, BT Drucks. 7/5924, S. 34, 36; in der Sache ebenso schon Kelsen, Staatslehre, S. 353.

§ 6 Zeitliche Bindung

83

bb) Untauglichkeit für ungeschriebenes Geschäftsordnungsrecht

Des weiteren führt die h.M. zu unlösbaren Widersprüchen hinsichtlich der zeitlichen Geltung des ungeschriebenen Geschäftsordnungsrechts, insbesondere also des parlamentarischen Gewohnheitsrechts. So wollen manche Autoren auch diese Rechtsquelle der Akzessorietät unterwerfen; sie verzichten dafür auf die für Gewohnheitsrecht regelmäßig erforderliche längere Übung, denn innerhalb einer Wahlperiode kann bestenfalls (also bei häufiger Anwendung der Regelung) gegen deren Ende von einer dauernden Übung gesprochen werden 50 • Aber dem Begriff des Gewohnheitsrechts ist nun einmal der Begriff der Gewohnheit immanent; und eine spontane Gewohnheit ist ein Widerspruch in sich. Die dauernde Übung stellt das äußere Merkmal dieser Rechtsquelle dar; gerade dadurch zeigt der betroffene Rechtskreis nach außen und für sich selbst sichtbar, daß er diese gewohnheitliche Regelung als bindendes Recht ansieht. Deshalb kann auf das Erfordernis der dauernden Übung bei der Bildung von Gewohnheitsrecht nicht verzichtet werden, ohne den spezifischen und rechts begründenden Charakter dieser Rechtsquelle aufzugeben51 • Folglich würde eine akzessorische Geltung dazu führen, daß es während eines Großteils der Zeit (noch) kein parlamentarisches Gewohnheitsrecht gäbe. Dieses Ergebnis steht jedoch im Widerspruch zur parlamentarischen Praxis, die seit jeher - über alle Wahlperioden hinweg - von bestimmten Gewohnheitsrechtssätzen ausging und -geht. Andere Autoren tragen dieser Problematik Rechnung und wollen deshalb gerade das parlamentarische Gewohnheitsrecht von der Akzessorietät ausnehmen; dieses gelte auch über die Diskontinuität hinweg 52 • Damit aber führen diese Autoren ihre eigene Argumentation hinsichtlich der (formellen) Geschäftsordnung ad absurdum, weil natürlich auch Gewohnheitsrecht würde man den eingangs dargestellten Argumenten der h.M. folgen - eine Bindung des neuen Parlaments durch die Vorgängerparlamente bedeuten würde. Außerdem aber würde eine solche Privilegierung des parlamentarischen Gewohnheitsrechts hinsichtlich der zeitlichen Bindungskraft dem bereits dargelegten und auf die Delegationsnormen gestützen Bedeutungsvorrang der Geschäftsordnung widersprechen.

so Steiger, Grundlagen, S. 46 ff.; Amdt, Autonomie, S. 130.

Vgl. Rothaug, Leitungskompetenz, S. 84, 85, der für die erforderliche Dauer zutreffend mindestens mehrere Jahre und mehr als eine Wahlperiode fordert. S2 Vgl. Köhler, ZParl 22, S. 177 (180 f.); Schii/er, Bundestag, S. 70; H.-P. Schneider, Opposition, S. 244. SI

84

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

Nach alledem ist festzustellen, daß die h.M. keine in sich schlüssige Erklärung für das Phänomen des parlamentarischen Gewohnheitsrechts hinsichtlich der zeitlichen Geltung anbieten kanns3 • 2. Grundsätzliche Geltung der Geschäftsordnung bis auf Widerruf a) Argumente aus den obigen Ausführungen

Die vorgetragene Kritik an der h.M. beinhaltet im Umkehrschluß bereits einige Argumente für eine grundsätzlich zeitlich unbeschränkte Geltung der parlamentarischen Geschäftsordnung. So entspricht dieses Verständnis der zeitlichen Bindungskraft in rechtstatsächlicher Hinsicht der mittlerweile stark gewandelten parlamentarischen Arbeitsweise, die von einzelnen, unzusammenhängenden Tagungen zu einer permanenten Staatsorgantätigkeit - wie Verwaltung und Rechtsprechung - übergegangen ist (vgl. oben S. 80 ff.). Wie ebenfalls gezeigt wurde, bestehen sachlich überzeugende Anhaltspunkte für eine Notwendigkeit der akzessorischen Geltung etwa eine Fremdbestimmungsgefahr - im Gegensatz zur sachlichen Diskontinuität nichf4. Neben diesen praxisbezogenen Argumenten, denen bei dieser Frage keine letztlich entscheidende Bedeutung zukommen kann, sprechen auch zahlreiche dogmatische Argumente für eine grundsätzlich unbefristete Geschäftsordnungsgeltung. So wäre unter Hinweis auf die obigen Ausführungen zunächst darauf hinzuweisen, daß sich bei dieser Ansicht das parlamentarische Gewohnheitsrecht problemlos erklären ließe; denn dann fände der Rechtssetzungsprozeß des gesamten untergesetzlichen Geschäftsordnungsrechts in einer stetigen Entwicklung statt, die gerade für die Herausbildung und Festigung von Gewohnheitsrecht die erforderliche zeitliche Distanz gewähren würde. Inbesondere bestünde die Gefahr einer vor dem Hintergrund des Rangverhältnisses unangemessenen Privilegierung des Gewohnheitsrechts nicht. Weitere dogmatische und praktische Argumente sollen im Nachfolgenden vorgetragen werden; anschließend erfolgt eine Auseinandersetzung mit der hieran geübten Kritik seitens der h.M.

53 54

Diese Kritik wird auch von Haagen. Rechtsnatur. S. 45 f.. vorgetragen. Bernau, Geschäftsordnungen, S. 158.

§ 6 Zeitliche Bindung

85

b) Weitere Argumente

Von entscheidender Bedeutung ist die Frage, wer denn eigentlich der Geschäftsordnungsgeber ist; handelt es sich dabei um die konkret-personelle Zusammensetzung oder um das institutionelle Staatsorgan? Im ersteren Fall wäre der h.M. zu folgen, denn die konkret-personelle Zusammensetzung kann nur für sich und damit bis zum Ende ihrer Wahllegitimation Entscheidungen fällen; im letzteren Fall jedoch würde das von der Diskontinuität nicht betroffene Staatsorgan Recht setzen, das in seiner zeitlichen Geltung dann ebenfalls von der Diskontinuität nicht berührt sein kann. Es gilt dann für die Dauer der Existenz dieses Staatsorgans, soweit nicht vorher eine Aufhebung oder Änderung beschlossen wird. Zur Klärung dieser Frage wiederum ist entscheidend auf folgenden Umstand abzustellen: Im Falle einer nur akzessorischen Geltung wäre jedes Parlament zu Beginn seiner Wahlperiode ohne eine Geschäftsordnung. Dies hätte zur Folge, daß auch die in den Geschäftsordnungen gerade für die Konstituierung vorgesehenen Vorschriften - inbesondere über die Einberufung (beim Bundestag durch den Präsidenten des Vorgängerparlaments, vgl. § 1 Abs. 1 GO BT) und den Alterspräsidenten - in dem für sie relevanten Zeitraum (noch) nicht gelten würden. Dieses normative Vakuum führt zu weiteren Widersprüchen: Solange keine Geschäftsordnung besteht, kann auch kein Übemahmebeschluß gefaßt werden, weil für das dafür erforderliche Beschlußverfahren eben die normative Grundlage fehlt; deshalb wird hier (in Erinnerung an den berühmten Lügenbaron, der sich selbst am Schopf aus dem Moor gezogen haben will) zutreffend von einer ,,Münchhausen-Situation" gesprochen55 • Eine weitere Folge wäre, daß Einberufung und zumindest der Beginn der konstituierenden Sitzung ohne Rechtsgrundlage stattfinden würden; auch die Sitzungsleitung durch den Alterspräsidenten wäre zunächst juristisch nicht gerechtfertigf6. Berücksichtigt man jedoch die bereits dargelegte, von der Verfassung vorgegebene Leitfunktion der Geschäftsordnung, so wäre ein solches Normvakuum wegen der damit verbundenen rechtlichen Unsicherheiten nicht mit der Arbeits- und Funktionssicherungsaufgabe in Einklang zu bringen57 • Deshalb kann die konkret-personelle Zusammen-

'5 Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 29. '6 Das Problem sieht auch Hatschek, Parlamentsrecht, S. 26, der es allerdings durch den - für ihn vorrangigen - Parlamentsbrauch als gelöst ansieht; vgl. außerdem Pereis, Reichstagsrecht, S. 1; Brentano, Parlamentspräsident, S. 13; Finger, Staatsrecht, S. 237. Die Alterspräsidenten berufen sich deshalb auch oft auf "alten Brauch", allerdings teilweise auch auf die (alte) GO, vgl. Brandt, in: StB BT, 18.2.1987. '7 Dies räumt auch Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 69, ein; er gelangt dadurch allerdings nur zu der Ansicht, daß die Übernahme "aus ZweckmäBigkeitsgfÜnden geboten" sei. Mohl, Erörterungen, S. 48, geht sogar soweit zu sagen, daß die Ver-

86

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

setzung gar nicht von der Verfassung mit der Geschäftsordnungsgebung beauftragt worden sein, sondern nur das Staatsorgan Parlament58 • Richtig ist es dagegen, daß nachfolgende Staatsorgane - mangels Kompetenz - nicht gebunden werden können59 ; in diesem Sinn sind auch die einschlägigen Redebeiträge in der Frankfurter Paulskirche zu verstehen, die sich dafür aussprachen, das - in der noch zu erarbeitenden Verfassung vorzusehende nächste Parlament nicht durch die Geschäftsordnung der Verfassunggebenden Nationalversammlung binden zu können60 • Diese von der h.M. zumeist mißverstandenen Äußerungen betreffen ein anderes Organ, nicht aber die nur personell erneuerte Substanz desselben Organs. Dieses Ergebnis zugunsten des Staatsorgans als Geschäftsordnungsgeber wird außerdem vom internationalen Vergleich gestützt: In England, wo die Souveränität des Parlaments eine ganz besondere und wesentlich stärkere Rolle als in Deutschland spielt, gibt es unstreitig sogenannte standing orders, die bis auf Widerruf - ohne durch die wahl vermittelte parlamentarische Erneuerung berührt zu werden - gelten61 ; auch hier geht man folglich vom Handeln des Staatsorgans und nicht des konkret-gewählten Personenverbandes aus. In praktischer Hinsicht wäre auch noch auf die bereits erwähnte erhebliche normative Kontinuität hinzuweisen62 • Insbesondere gibt es im Deutschen Bundestag eine Praxis, wichtige Geschäftsordnungsänderungen erst zum Ende der Wahlperiode vorzunehmen und deren Termin des Inkrafttretens sogar auf einen Zeitpunkt nach der letzten Plenarsitzung des alten Parlaments vor (oder sogar nach) der Wahl zu legen; auch die größeren Geschäftsordnungsreformen 1969 und 198063 fanden jeweils erst kurz vor dem Ablauf der Wahlsammlung "ohne geregelten Geschäftsgang gar nicht bestehen kann", ohne daraus jedoch Konsequenzen zu ziehen. 58 Zu diesem Ergebnis gelangt - allerdings mit anderer Begründung - auch Haagen, Rechtsnatur, S. 42; ebenso im Ergebnis Roßmann, Leitung, S. 17. 59 Deshalb waren die formelle GO-Regelung des Ersten Reichstages und des Ersten preußischen Landtags wirklich rechtsbegründend und erforderlich, vgl. Brentano, Parlamentspräsident, S. 23 Fn. 37, und Haagen, Rechtsnatur, S. 44. 60 Vgl. StB Paulskirche, Bd. 1, S. 166 (Mohl, J. Grimm), 167 (Tellkampf) , 168 (Kolb, Jaup). 61 Vgl. Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 29. 62 Szmula, Handbuch des politischen Systems, Art. "Geschäftsordnungen", S. 229; Rothaug, Leitungskompetenz, S.70; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 29, 31; Haagen, Rechtsnatur, S. 41; Bilfinger, Geschäftsordnung, S. 445. 63 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 125; an jüngeren Beispielen wären etwa am Ende der 1l. Wahlperiode (Neuwahl am 2.12.1990) die Änderungen von § 27 Abs. 2 GO BT bzgl. Zwischenfragen, § 71 Abs. 1 S. 1 GO BT bzgl. der Antragsberechtigung in Ausschüssen und § 106 GO BT bzgl. der aktuellen Stunde sowie die

§ 6 Zeitliche Bindung

87

periode statt. In diesem Zusammenhang auf eine bloße Rezeptionserwartung zu verweisen, greift viel zu kurz64 • Außerdem sind in vielen Geschäftsordnungen Vorschriften enthalten, die auf eine Geltung über die Diskontinuität hinaus schließen lassen65 ; insbesondere sind hier die Konstituierungsregelungen zu nennen. So ist die Aufgabe der Einberufung in der Regel dem Präsidenten des Vorgängerparlaments oder dem (neuen) Alterspräsidenten zugewiesen. Die Sitzungsleitung gebührt in allen deutschen Parlamenten bis zur Wahl des neuen Präsidenten dem Alterspräsidenten66 • Abschließend soll noch ein Umstand erwähnt werden, dem freilich nur indizielle Wirkung zukommen kann, aber doch einiges über das Denken in der Praxis verrät. So wird die Geschäftsordnung immer unter Bezugnahme auf ihren Erlaßzeitpunkt zuzüglich der zwischenzeitlich erfolgten Änderungen bekanntgemacht. Sogar die von der Verwaltung des Bundestages herausgegebene Geschäftsordnungsausgabe (Stand vorn 20.12.1990, also Beginn der 12. Wahlperiode) enthält in der Überschrift ("Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages") den Zusatz: ,,in der Fassung der Bekanntmachung vorn 2. Juli 1980 (BGBI. I S. 1237), zuletzt geändert laut Bekanntmachung vorn 12. November 1990 (BGBI. I S. 2555)". Der Übemahrnebeschluß vorn 20.12. 1990 erscheint in dieser Ausgabe nur noch in der Fußnote. Würde der "Übernahme" aber wirklich konstitutive Wirkung zuerkannt, müßte die Publikation unter diesem Datum erfolgen; insbesondere davor liegende Änderungen wären als solche hinfaIlig, da sie von Anfang an Bestandteil der neuen Geschäftsordnung wären. Nach alledem kommt es für die zeitliche Geltung nur noch darauf an, ob der Geschäftsordnungsgeber selber Geltungsbefristungen vorgenommen hat oder nicht; hierauf wird noch unter 3. eingegangen. Grundsätzlich jedoch ist

Einfügung von § 56a GO BT bzgl. Technikfolgenanalysen (alles beschlossen am 31.10.1990, bekanntgemacht am 12.11.1990 - BGBl. I S. 2555) ebenso zu nennen wie die vollständige Neufassung der Verhaltensregeln (Anlage 1 GO BT) vom 18.12.1986 (BGBl. 1987 I S. 147), die erst am 1.2.1987 in Kraft trat (nachdem im Januar die Wahl stattgefunden hatte). Siehe außerdem Ritzel/Bücker, Handbuch, Einl. GO, S. 2; Amdt, Autonomie, S. 127. M Vgl. Achterberg, Parlamentsrecht, S. 35. 6S Vgl. Rösch, Geschäftsordnung, S. 76 Fn. 217, allerdings mit historisch überholten Beispielen, was an der dogmatischen Bedeutung jedoch nichts ändert. 66 Vgl. §§ IGO BT, 2 und 3 GO LT Ba.-Wü., 1 GO LT Bay., 10 GO Abgh. Berl., 1 GO BS Hmb., 5 GO LT Hess., 1 GO LT Meckl.-Vorp., 63 und 68 GO LT Nds., 1 GO LT NRW, 1 GO LT Rh.-Pf., 11 GO LT Saarl., 2 Abs. 1 GO LT Sachs., 50 und 54 GO LT Sachs.-Anh., 1 GO LT Schl.-H., 1 GO LT Thür.

88

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

die zeitliche Geltung wie bei jedem anderen insbesondere staatlichen Rechtssatz unbeschränkt67 • c) Kritik und abschließende Bewertung

An manchen der hier vorgetragenen Argumenten wird seitens der h.M. Kritik geübt. Vor allem wird versucht, das hier entscheidende Normvakuum zu überbrücken. So beruft man sich häufig darauf, vor der Übernahme gelte eben Gewohnheitsrecht; aber es gibt - wie bereits dargelegt wurde - im Falle einer akzessorischen Geschäftsordnungsgeltung auch (noch) kein Gewohnheitsrecht. Die von wenigen Stimmen vorgeschlagene Verortung auf der Verfassungsebene68 übersieht des weiteren, daß es sich bei dieser Regelungsmaterie nicht um das Verhältnis zwischen Staatsorganen, Gesetzgebung o.ä. handelt, sondern um eine klassische - das parlamentarische Verfahren betreffende - Geschäftsordnungsangelegenheit. Andere Erklärungsversuche verkennen die Bedeutung des Fehlens einer rechtlichen Grundlage zu Beginn der parlamentarischen Arbeit; so sei es unschädlich, daß zunächst ohne Geschäftsordnung verhandelt werde69 • Wenn dies zuträfe, wäre zumindest jede konstitutierende Sitzung und jeder Alterspräsident davon abhängig, daß sich die Abgeordneten an die zu übernehmende Geschäftsordnung von vornherein freiwillig halten; im Fall von Störungen oder aufsässigem Verhalten im frühen Stadium (was etwa von radikaler Seite nie auszuschließen ist) bestünden keine juristischen Mittel, um die Gefahren für den Sitzungserfolg abzuwehren. Wieder von anderer Seite wird auf die zumeist schon vor der konstituierenden Sitzung getroffenen interfraktionellen Absprachen als Überbrückung dieser normativen Lücke hingewiesen70 • Aber diese Absprachen haben zum einen nach ganz h.M. keine rechtliche Verbindlichkeie 1 und beziehen zum anderen fraktionslose Abgeordnete - die zumindest rechtlich schon vor der 67 Zu diesem Ergebnis gelangt auch lellinek, Schriften und Reden 11, S. 253, 260 f; ebenso Haagen, Rechtsnatur, S. 42, unter besonderem Hinweis auf den Charakter als staatliches Recht; vgl. außerdem Nawiasky, Rechtslehre, S. 90 f., und H. Schneider, Gesetzgebung, Rn. 551 f. 68 Arndt, Autonomie, S. 83, 123. 69 Brentano, Parlamentspräsident, S. 8, weist in diesem Zusammenhang auf Landtage hin, die bis 1918 keine GO gehabt hätten; er verkennt dabei jedoch, daß diese Parlamente dann eine ungeschriebene (gewohnheitsrechtliche) GO hatten, für die sich das Problem der zeitlichen Geltung ebenso stellt; vgl. auch Rösch, Geschäftsordnung, S. 34, der dem ersten Zusammentreten eines neugewählten Parlaments nur eine rein faktische Bedeutung zuerkennen will. 70 Troßmann, Parlamentsrecht, § 1 Rn. 6; Köhler, ZParl 22, S. 177 (181). 71 Vgl. etwa Zeh, in: lsensee/Kirchhof, § 42 Rn. 36; Schulze-Fielitz, in: Schneidert Zeh, § 11 Rn. 53; Amdt, Autonomie, S. 108.

§ 6 Zeitliche Bindung

89

Konstituierung möglich und denkbar sind - nicht mit ein. Außerdem können auch die Fraktionen unabhängig von ihrem Rechtscharakter noch nicht als Fraktionen des neuen Parlaments im Rechtssinn vor dessen Konstituierung angesehen werden. Nach alledem muß davon ausgegangen werden, daß eine akzessorische Geltung zu dieser normativen Lücke führen würde, was vor dem Hintergrund der Leitfunktion des Geschäftsordnungsrechts die obige Verfassungsauslegung erforderlich macht. Ebensowenig kann davon ausgegangen werden, daß das Vorgängerparlament sein Werk dem Nachfolgeparlament zur Übernahme "anbietet"72; dieser sehr zivilistisch gedachte Ansatz versucht das eigentliche Problem der Normlücke zu umgehen und verwickelt sich insoweit in Widersprüche, als er von einer die Diskontinuität überwindenden Weitergeltung ausgeht, die aber der (auch stillschweigend möglichen) Bestätigung durch das Nachfolgeparlament bedarf. Schließlich wird von der h.M. auf die Übernahmepraxis hingewiesen, die in jüngster Zeit im Bundestag wieder ausdrücklich erfolgt; diese steht aber mit der dauernden Geschäftsordnungsgeltung nicht in Widerspruch. Die entsprechenden Übernahmebeschlüsse sind insoweit nur deklaratorisch, zumal jedes Parlament seine Geschäftsordnung nochmals bekräftigen bzw. geringfügig abändern kann. Somit ist im Ergebnis festzustellen, daß die von der h.M. vorgebrachten Gegenargumente die hier vertretene Theorie der grundsätzlich zeitlich unbegrenzten Geschäftsordnungsgeltung nicht überzeugend widerlegen. d) Kein Widerspruch zum allgemeinen Diskontinuitätsgrundsatz

Schließlich steht dieses Ergebnis auch nicht in Widerspruch mit dem oben bejahten Grundsatz der Diskontinuität. Die Vollerneuerung der personellen Substanz des Parlaments und die damit zwingende Erneuerung der innerparlamentarischen Organisation ergeben sich aus dem demokratischen Prinzip; Ämter und Funktionen werden nur auf Zeit vergeben. Wie bereits festgestellt wurde, ist dies bei Normen gerade nicht üblich. Die oben für die Beibehaltung der sachlichen Diskontinuität genannten Argumente lassen sich ebenfalls nicht auf die Geschäftsordnung übertragen. Denn als Norm kann die Geschäftsordnung nicht auf eine Stufe mit Vorlagen und ähnlichen Parlamentsinitiativen gestellt werden; bei diesen handelt es sich um die Bearbeitungsgegenstände des parlamentarischen Tuns, bei der Geschäftsordnung dagegen um die dafür maßgebliche Bearbeitungsanleitung oder -grundlage. Dieser wesensmäßige Unterschied verdeutlicht, daß sich die Diskontinuität keineswegs auf beides gleichermaßen auswirken muß.

72

Bernau, Geschäftsordnungen, S. 166.

90

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

Folglich ist es auch kein Widerspruch, für Vorlagen und Initiativen die Diskontinuität zu bejahen, bei der Geschäftsordnung jedoch von einer grundsätzlich dauernden Geltung auszugehen. Nur ergänzend, weil insofern nur deklaratorisch, sei auf die Diskontinuitätsvorschriften (z.B. § 125 GO BT) hingewiesen, die ja auch nur den Geschäftsanfall und nicht die Geschäftsordnung selbst betreffen.

3. Ausnahmen in Sonderfällen Der hier vertretene Grundsatz der dauernden Geschäftsordnungsgeltung schließt freilich aber auch nicht aus, daß der Geschäftsordnungsgeber Normbefristungen vornimmt oder Normbefristungen unterworfen ist73 • So wird in einigen Geschäftsordnungen eine neuerliche Übernahme durch das Nachfolgeparlament verlange4 • In diesen Fällen gilt die (alte) Geschäftsordnung zwar auch über die Diskontinuität hinweg; sonst entstünde wieder das Normvakuum. Außerdem gehen diese Vorschriften ihrem Wortlaut zufolge davon aus, daß die betreffenden Geschäftsordnungen bis zur Übernahme bzw. Bestätigung (in der konstituierenden Sitzung) weitergelten (jedoch nicht länger), der dann allerdings eine rechtsbegründende Bedeutung zukommt. Schwieriger gestaltet sich die Bestimmung der zeitlichen Geltung für die Landtagsgeschäftsordnungen in Baden-Württemberg und Sachsen. Denn zum einen regeln die Landesverfassungen in Art. 32 Abs. 1 S. 2 LV Ba.-WÜ. bzw. Art. 46 Abs.4 LV Sachs., daß für eine Geschäftsordnungsänderung "eine Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Abgeordneten" erforderlich ist; diese Vorschriften werden von der Geschäftsordnung - deklaratorisch in § 107 GO LT Ba.-Wü. bzw. § 111 GO LT Sachs. wiederholt und hinsichtlich der Antragsberechtigung und des Verfahrens konkretisiert. Damit sollen vorschnelle und etwaige einzelfallmotivierte Geschäftsordnungsänderungen verhindert werden75 • Dies hat zur Folge, daß ein neugewähltes Parlament bei dauernder Geltung von Anbeginn an die 2I3-Mehrheit gebunden wäre und daher nicht - wie oben zur Widerlegung des Fremdbestimmungsarguments der h.M. dargelegt - durch Änderung seinen neuen mehrheitlichen Willen ebenso einfach durchsetzen könnte wie bei einer Übernahme. Hier läge dann tatsächlich eine Bindung des neugewählten Parlaments vor, die mit dessen Selbstbestimmungsrecht in Verfahrensfragen unvereinbar wäre. AndeVgl. Nawiasky, Rechtslehre, S. 90 f. §§ 152 GO LT Bay. und 76 GO BS Brem. sehen z.B. vor, daß in der konstituierenden Sitzung darüber zu befinden ist, in welchem Umfang die GO fortgelten soll; §§ 1 Abs. 4 GO LT Rh.-Pf. und 1 Abs. 4 GO LT Thür. erlauben die Wahl des Präsidenten erst nach Annahme der GO; vgl. außerdem Schneider, Opposition, S. 293. 75 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 332. 73

74

§ 6 Zeitliche Bindung

91

rerseits sehen die Geschäftsordnungen in § 3 Abs. 2 GO LT Ba.-Wü. bzw. § 2 Abs. 2 GO LT Sachs. die Fortgeltung der alten Geschäftsordnung bis zu einer anderweitigen Beschlußfassung des Landtags voe6 • Diesen Widerspruch kann man jedoch dahingehend auflösen, daß die Geschäftsordnung zunächst die Diskontinuität überdauert; so würde § 3 Abs. 2 GO LT Ba.-Wü. bzw. § 2 Abs. 2 GO LT Sachs. Rechnung getragen werden. Dann aber bedürfen die Geschäftsordnungen - als Ausfluß von Art. 32 Abs. 1 S. 2 LV Ba.-Wü. bzw. Art. 46 Abs. 1 LV Sachs. in Verbindung mit dem Selbstbestimmungsrecht - wie in den vorgenannten Bundesländern einer neuerlichen, konstitutiven (einfach-mehrheitlichen) Bestätigung77 • Insofern enthalten die Landesverfassungen von Baden-Württemberg und Sachsen inzidenter eine Geltungsbeschränkung der Landtagsgeschäftsordnungen bis zu deren Neubestätigung, was in der Sache die gleichen Folgen hat, wie die oben genannten Bestätigungserfordernisse in manchen Geschäftsordnungen; freilich stehen letztere im Ermessen des Geschäftsordnungsgebers, was bei der verfassungsrechtlichen Geltungsbeschränkung nicht der Fall ist. Diesen Überlegungen entspricht auch die baden-württembergische Staatspraxis; so wird in beinahe jeder Wahlperiode die alte Geschäftsordnung zunächst ausdrücklich nur als "provisorisch" in Geltung belassen und dann innerhalb weniger Monate eine auf die aktuelle Situation angepaßte Geschäftsordnung ausgearbeitet, die dann (bei einfachem Mehrheitserfordernis) angenommen wird78 • Für spätere Änderungen während der Wahlperiode gilt dann die 2/3-Mehrheit.

76 Auf diese Vorschrift bezogen sich auch zumeist einleitend die Alterspräsidenten, vgl. StB LT Ba.-Wü. 11.6.1968, 7.6.1972, 2.6.1976, 3.6.1980, 5.6.1984, 7.6.1988, 10.6.1992. 77 Vgl. Feuchte, in: Feuchte, Landesverfassung, Art. 32 Rn. 27. 78 Vgl. Braun, Landesverfassung, Art. 32 Rn. 24; insofern war die GO-Änderung von 1992, als die Minderheitenquoren geändert wurden, keine unübliche Maßnahme; da fast immer zu Beginn einer Wahlperiode eine Überarbeitung erfolgte, stellt hier die Annahme der neuen GO auch nicht nur eine Formsache - wie im Bund, wo die GO in der Regel (fast) unverändert übernommen wird - dar. Den von der SPD-Fraktion zu Beginn der 8. Wahlperiode (3.6.1980) vorgetragenen Bedenken gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der provisorischen Übernahme kann nicht gefolgt werden; diese waren wohl auch nicht wirklich rechtlich, sondern politisch motiviert, denn dann wäre jede GO-Änderung schon zu Beginn der Wahlperiode von der Zustimmung der SPD abhängig gewesen. Eine angemessene Frist zur Überarbeitung der GO muß der (u.U. neuen) einfachen Mehrheit zugestanden werden; vgl. zu diesem Problem Feuchte, in: Feuchte, Landesverfassung, Art. 32 Rn. 29, der allerdings auch zutreffend darauf hinweist, daß ein willkürliches Hinausschieben der konstitutiven Bestätigung nicht zulässig ist.

92

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

§ 7 Personelle Bindung A. Problem der personellen Bindung als Unterfall der Adressatenbindung Als von der Geschäftsordnung im Rechtssinn gebundene Normadressaten werden gemeinhin nur die Abgeordneten angesehen. Dies hängt damit zusammen, daß nur der konkret-gewählte Personenverband als Geschäftsordnungsgeber betrachtet wird und dieser keine außenstehenden Personen rechtlich zu binden vermag79 • Als weiteres Argument wird auf den Wortlaut mancher Verfassungen hingewiesen, wonach "sich" das Parlament "seine" Geschäftsordnung zu geben hat; aus dieser possessiven Formulierung wird auf eine reine Innenwirkung geschlossen8o • Auf der Grundlage der bereits gewonnenen Erkenntnis, daß nicht der konkrete Personenverband, sondern vielmehr das Staatsorgan Parlament als verfassungsrechtlich gewollter Geschäftsordnungsgeber anzusehen ist, ist diese - personal begründete - Sicht der Adressatenbindung als zu eng abzulehnen. Eine besondere Rolle spielt dabei auch die bereits mehrfach erwähnte Leitfunktion des Geschäftsordnungsrechts. So soll die Geschäftsordnung dem Parlament - verfahrensmäßig und organisatorisch - ermöglichen, Parlament im Sinn einer demokratischen, repräsentativen und pluralistischen Volksvertretung - kurz: im Sinn des grundgesetzlichen Parlamentsbildes - zu sein; das bedeutet, daß sie ein offenes, äußerlich wie innerlich ungestörtes, eigenbestimmtes und effektives Verfahren sowie selbständige Organisationsentscheidungen sicherstellen will und - nur! - in unmittelbarem Zusammenhang damit auch in außerparlamentarische Rechtsverhältnisse eingreifen darf. Denn da dies bereits von der verfassungsrechtlichen Delegation vorgegeben ist, kann die Geschäftsordnung insofern auch Adressaten außerhalb des konkreten Personenverbandes (der das Parlament bildet) binden, soweit solche

79 BVerfGE 1, 144 (148); BayVfGH 8 11 91 (100); Hmb. VerfG, DVBI 1976, S. 444 (446); Seifert, in: Seifert/Hömig, Art. 40 Rn. 3; Weides, in: Staatslexikon, Bd. 2, Sp. 923, unter Miteinbeziehung der Teilorgane; Lechner/Hülshoff, Parlament, S. 186; Brentano, Parlamentspräsident, S. 12 Fn. 23; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 69; Magiera, in: Schneider/Zeh, § 52 Rn. 37; Schäfer, Bundestag, S. 64, 67; Achterberg, Parlamentsrecht, S.61; Maunz, in: MDHS, Art. 40 Rn. 18; Badura, Staatsrecht, S. 314; Braun, Landesverfassung, Art. 32 Rn. 22; Stern, Staatsrecht, § 26 III 6d; so schon Laband, Staatsrecht I, S. 320. 80 Hubrich, Verfassungsrecht, S. 64; Hangen, Rechtsnatur, S. 38; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 41, 73; im Gegensatz zu Art. 26, 2 WRV formuliert das GG allerdings in Art. 40 Abs. 1 S. 2 "eine" GO. Heute verwenden noch die Delegationsnormen der Verfassungen von Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland das Possessivpronomen.

§ 7 Personelle Bindung

93

Personen von außerhalb in den parlamentarischen Funktions- und Machtbereich eintreten81 • So wird auch deutlich, daß der - in sich zwar schlüssige personale Ansatz der h.M. sowohl der Bedeutung wie auch der verfassungsrechtlich auf die Geschäftsordnung übertragenen Regelungsaufgabe nicht gerecht werden kann. Im Rahmen dieses Paragraphen soll im Nachfolgenden auf die personelle Bindung eingegangen werden. Diese betrifft einerseits den Abgeordneten, der nach h.M. nicht als institutionelles Organ anzusehen ist, weil sein (alleiniges) Handeln weder dem Parlament noch erst recht dem Staat als verbindlich zugerechnet wird; nur in der Gemeinschaft mit den anderen Abgeordneten kann er zur staatlichen Willensbildung beitragen82 • Deshalb ist auch zur Venneidung des Amtsbegriffs die Bezeichnung des Organwalters für den (einzelnen) Abgeordneten vorgeschlagen worden83 • Andererseits wird von der personellen Bindung der Bürger in bestimmten (nichtamtlichen) Funktionen innerhalb des parlamentarischen Bereichs gesprochen. Im nächsten Paragraphen wird dann die institutionelle Seite der Adressatenbindung beleuchtet; dabei geht es sowohl um (inner-)parlamentarische und parlamentsnahe Organe und Zusammenschlüsse wie auch um andere Verfassungsorgan~, insbesondere um die Regierung.

B. Abgeordneter 1. Problemstellung Die von der ganz h.M. bejahte Bindung des Abgeordneten wird zumeist nicht ausreichend differenziert untersucht. Der nur auf die parlamentarische Aufgabenerfüllung bezogene funktionelle Ansatz hat zur Folge, daß darauf abzustellen ist, in welcher Funktion der Abgeordnete gerade tätig ist. Da

8\ Ebenso auch in der Begründung Bemau, Geschäftsordnungen, S. 242; ähnlich Kretschmer, ZParl 17, S. 334 (341), und in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 54 (v.a. Fn. 34); H.-P. Schneider, in: Alternativkommentar, Art. 40 Rn. 10; vgl. ferner Amdt, Autonomie, S. 110, der allerdings auf den folgenden Seiten doch zur h.M. findet; siehe auch lellinek, Schriften und Reden 11, S. 261, der eine Wirkungserstreckung auf Nichtmitglieder der Kammer bejaht. 82 Rösch, Geschäftsordnung, S. 72; Tatarin-Tamheyden, in: Anschütz/Thoma, S. 415; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 215 f. und in: MKAS, Art. 38 Rn. 70; andererseits wird der konstitutionell bedingte Begriff "einer Art gesellschaftlichen Ehrenamtes" bei Magiera, Staatsleitung, S. 110, der Bedeutung des Abgeordneten eines modemen Arbeitsparlaments ebenfalls nicht gerecht. 83 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 216 und in: MKAS, Art. 38 Rn. 70; außerdem wird "Organschaftsträger", Mattem, Grundlinien, S. 12 f., vorgeschlagen.

94

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

diese funktionsabhängige Betrachtung im Beamtenrecht ausgebildet ist, kann auf die bekannten dortigen Sphärenmuster zurückgegriffen werden 84 ; mit dieser rein strukturellen Anleihe soll der Abgeordnete freilich nicht als Beamter gesehen oder ihm auch nur pauschal gleichgestellt werden. Dies verbietet schon - unter anderem - die mit dem freien Mandat verbundene innere Unabhängigkeit und Gewissensfreiheit85 • Auf der Grundlage der Sphärenunterteilung erfolgt hier die Kernunterscheidung zwischen dem Abgeordneten in der Ausübung seines Mandats bzw. damit zusammenhängender Aufgaben und dem Abgeordneten als Privatperson86 • 2. In der Ausübung des Mandats (ais "Parlamentsangehöriger") a) Notwendigkeit weiterer Differenzierung

Beim Abgeordneten muß in der Ausübung des Mandats ein weiteres Mal differenziert werden. So kann der Abgeordnete sowohl in seinem verfassungsrechtlichen Status als Volksvertreter (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) wie auch als Organwalter (also Amtsinhaber im weiteren Sinn) betroffen sein. Diese beiden Rechtsverhältnisse werden im Nachfolgenden als Status- und Organverhältnis bezeichnet. b) Als Repräsentant des Volkes ("Statusverhältnis'')

Der verfassungsmäßig festgelegte Status des Abgeordneten, dessen Kern das freie Mandat darstellt, hat für die repräsentativ-parlamentarische Demokratie eine ganz erhebliche Bedeutung87 ; dies hat jedoch nicht zur Folge, 84 Ebenfalls eine solche Anleihe nimmt das BVerfG in seinem Diätenurteil mit dem Alimentationsbegriff vor, BVerfGE 40, 296 (314); zur Vergleichbarkeit siehe auch Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S.23 f.; auch Rot!uJug, Leitungskompetenz, S. 71, unterscheidet zwischen Funktion und dem dahinterstehenden Amtswalter. 85 BVerfGE 40, 296 (314, 316); auf die zum Teil sehr erheblichen Differenzen zwischen dem Abgeordneten- und einem Amtsstatus weist dankenswerterweise Schröder, Parlamentsrecht, S. 293 ff., ausführlich und anschaulich hin; mißverständlich Magiera, Staatsleitung, S. 110, und Badura, in: Schneider/Zeh, § 15 Rn. 59, die von einem "öffentlichen Amt" sprechen; Badura, a.a.O., nimmt aber in Rn. 63 noch eine Abgrenzung vom Beamtenstatus vor; auch H.-P. Schneider, in: Alternativkommentar, Art. 38 Rn. 20, und Maunz, in: MDHS, Art. 38 Rn. 8, sprechen von einem "obersten Staatsamt" und lehnen zugleich den Beamtenstatus ab. 86 Diese Unterscheidung macht auch Magiera, Staatsleitung, S. 124. 87 BVerfGE 80, 188 (LS 2a, 217); H.-P. Schneider, in: Alternativkommentar, Art. 38 Rn. 23.

§ 7 Personelle Bindung

95

daß er keinen Beschränkungen unterliegen kann88 • Auf ranggleicher - nämlich formell verfassungsrechtlicher - Ebene ist die Kompetenz des Parlaments geregelt, seine innere Ordnung so zu regeln, daß es seinen Aufgaben sinnvoll nachkommen kann. Im Spannungsverhältnis zwischen dem Abgeordnetenstatus und der Geschäftsordnungskompetenz muß auf den jeweiligen Hintergrund abgestellt werden. So ist für den Abgeordneten festzustellen, daß er in sachlich-inhaltlicher Hinsicht keinen rechtlichen Bindungen unterliegen kann und über ein Mindestmaß an Mitwirkungsmöglichkeiten im parlamentarischen Verfahren verfügen muß 89 ; auch der Grundsatz der rechtlichen Gleichheit der Parlamentsmitglieder, der sich aus der Gleichheit der Wahl ergibt, darf nicht ausgehebelt werden90• Die Geschäftsordnung wiederum hat die bereits mehrfach erwähnte Aufgabe, dem Parlament einen dem grundgesetzlichen Leitbild - das einen unabhängigen Abgeordneten an zentraler Stelle miteinschließt - entsprechenden Geschäftsgang zu ermöglichen. Soweit die genannte Unabhängigkeit des Abgeordneten, in seiner politischen Meinungsfindung keinen rechtlichen Bindungen zu unterliegen, und seine Mitwirkung gewahrt bleiben, kann die Geschäftsordnung, soweit dies von ihrer Leitfunktion her geboten ist, den Abgeordnetenstatus konkretisieren und erforderlichenfalls auch einschränken91 • Hierauf wird im Zusammenhang mit dem Rederecht noch beispielhaft eingegangen. Hinsichtlich des formalisierten Gleichheitsgrundsatzes sind rechtliche Differenzierungen zwischen Abgeordneten - etwa nach einer innerparlamentarischen Funktion - zumindest dann zulässig, wenn sie willkürfrei erfolgen und zur Absicherung der Funktions-, Arbeits- oder Beschlußfahigkeit des Parlaments erforderlich sind92 ; auch hier wird wieder die Sicherungsfunktion der Geschäftsordnung angesprochen. 88 Art. 38 Abs. 1 GG, 27 Abs. 3 LV Ba.-Wü., 13 Abs. 1 LV Bay., 25 Abs.4 LV Ber!., 56 Abs. 1 Brand., 83 Abs. 1 LV Brem., 7 LV Hmb., 77 LV Hess., 3 Abs. 1 S.2 LV Nds., 30 Abs. 2 LV NRW, 79 S.2 LV Rh.-Pf., 66 Abs. 2 LV Saar!., 39 Abs. 3 LV Sachs., 41 Abs. 2 LV Sachs.-Anh., 11 Abs. 1 LV Sch!.-H. 89 BVerfGE 80, 188 (219); Badura, in: Schneider/Zeh, § 15 Rn. 42. 90 BVerfGE 40, 296 (317 f.) und BVerfGE 80, 188 (LS 2c, 218); Mattem, Grundlinien, S. 14; Badura, in: Schneider/Zeh, § 15 Rn. 16; Scherer, AöR 112, S. 189 (193); zur Bedeutung vg!. Birk, NJW 1988, S. 2521 (2522). 91 Das BVerfG gesteht der GO dies ausdrücklich zu und untersagt lediglich einen grundsätzlichen Entzug der Abgeordnetenrechte durch die GO, BVerGE 80, 188 (LS 3a, 219); es betont weiterhin den besonderen Stellenwert der parlamentarischen Funktionstüchtigkeit, a.a.O., S. 222; Seifert, in: Seifert/Hömig, Art. 40 Rn. 3; BayVfGH 29 II 62 (89-91); Badura, in: Schneider/Zeh, § 15 Rn. 46; Pieroth, in: Jarass/ Pieroth, Art. 38 Rn. 31; Schramm, Staatsrecht I, S. 95; Böhm, ZParl 23, S. 231 (234), äußert sich sehr kritisch zu einer solchen "nachhaltigen Aufwertung der GO-Autonomie". 92 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 70 (m.w.N., Fn. 45); Badura, ebenda, § 15 Rn. 16.

96

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

Die Möglichkeit der Statusbeschränkung durch die Geschäftsordnung findet letztlich auch gerade in den Verfassungsvorschriften über den Abgeordnetenstatus eine Stütze: Denn in einem zu effizienter und aufgabenorientierter Arbeit unfähigen Gesamtparlament kann der einzelne Abgeordnete seine Statusrechte auch nicht sinnvoll entfalten; bestünde etwa nicht die (das aus dem Abgeordnetenstatus fließende Rederecht93 beschränkende) Möglichkeit der Redezeitbegrenzung, könnten sich viele andere Abgeordnete wegen der naturgegebenen Begrenztheit der Zeit nicht mehr äußern94 • Insofern kommt hier das Urproblern von Rechtsgemeinschaften zum Tragen, daß die Rechte des einzelnen ihre Grenze spätestens an den Rechten der anderen finden müssen. Die Verfassungsnonnen betreffend den Abgeordnetenstatus, die vor allem den einzelnen Abgeordneten im Auge haben, müssen sich daher Beschränkungen durch die ebenfalls verfassungsrechtlich gestützte Geschäftsordnung, die das Zusammenspiel aller Abgeordneten betrifft, gefallen lassen95 • Nach alledem ist - soweit der Kernbereich des freien Mandats, nämlich die sachlich-inhaltliche Unabhängigkeit, die Gleichheit der Parlamentsmitglieder und deren Mitwirkungsmöglichkeit, beachtet wird96 - der Abgeordnete in seinem Statusverhältnis durch die Geschäftsordnung gebunden. c) Als Organwalter ("Organverhältnis'')

aa) Nochmalige Differenzierung

Bei der Untersuchung der Geschäftsordnungsbindung des Abgeordneten in seinem Organverhältnis ist eine weitere Differenzierung erforderlich. Der Organwalter kann einerseits als Teil des Gesamtkörpers tätig sein (so etwa bei Unterstützung eines Antrags auf namentliche Abstimmung), andererseits aber auch eigene, individuelle Aufgaben im Zusammenhang mit seinem Man93 BVerfGE 80, 188 (218); Leiblwlz/Rinck/Hesselberger, 00, Art. 38 Rn. 507; H.-P. Schneider, in: Alternativkommentar, Art. 38 Rn. 23; Besch, in: Schneider/Zeh, § 33 Rn. 5. 94 Besch, in: Schneider/Zeh, § 33 Rn. 8. 95 Das BVerfG begründet in BVerfGE 80, 188 (219), und auch in NJW 1991, S. 2474 (2475), die Konkretisierungsfunktion der GO unter besonderer Betonung des Charakters der Abgeordnetenrechte als einander zugeordnete Mitgliedschaftsrechte; Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 86; Magiera, Staatsleitung, S. 147; Ritzel! Bücker, Handbuch, Vorb. §§ 36-41, S. 5. 96 BVerfG NJW 1991, S. 2474 (2475 f.); Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 67; BayVfGH 29 II 62 (89); H.-P. Schneider, in: Alternativkommentar, Art. 38 Rn. 23.

§ 7 Personelle Bindung

97

dat wahrnehmen (beispielsweise als Redner bei einer Wahlkreisveranstaltung). Beide Tätigkeiten erfolgen in der Eigenschaft als Abgeordneter, die eine innerhalb und die andere außerhalb des Personenzusammenschlusses Parlament. Folglich ist innerhalb des Organverhältnisses zwischen dem parlamentarischen Innen- und Außen verhältnis zu unterscheiden. bb) Als Teil des Gesamtkörpers Parlament ("parlamentarisches Innenverhältnis ") Das parlamentarische Innenverhältnis betrifft das Zusammenwirken der Abgeordneten im Parlament bei der Vorbereitung und Findung staatlicher Entscheidungen. Im einzelnen sind hiervon die Tätigkeiten im Plenum, in den Ausschüssen und - gegebenenfalls - in den Fraktionen umfaßt. In diesem Rechtsverhältnis zwischen Staat und Organwalter ist der Abgeordnete an die Geschäftsordnung gebunden, deren Ziel ja gerade die Sicherstellung eines funktionsfähigen Zusammenwirkens der Parlamentsmitglieder ist. Deshalb kann die Geschäftsordnung im Rahmen dieses parlamentarischen Innenverhältnisses Rechte und Pflichten des Abgeordneten festlegen; insofern ist ihm die Art und Weise der Mandatsausübung nicht etwa freigestellt97 • An Rechten wären beispielsweise das Verlangen auf Teilung der Frage (§ 47 GO BT) oder die Akteneinsicht (§ 16 GO BT) zu nennen98 • Allerdings dürfen diese Rechte nicht mit subjektiv-öffentlichen Rechten verwechselt werden; der hier als Organwalter auftretende Abgeordnete nimmt lediglich staatsrechtliche Zuständigkeiten w~. Hinsichtlich der Pflichten wäre hier - vor allem die in vielen Geschäftsordnungen festgelegte Pflicht zur Mitarbeit zu nennen (vgl. § 13 Abs. 2 GO BT), aber auch z. B. die Einhaltung der Rednerreihenfolge und der Geheimschutzordnung (§§ 28, 17 GO BT)HJO. In einzelnen

97

Badura, in: Schneider/Zeh, § 15 Rn. 41 f.; kritisch Troßmann, Parlamentsrecht,

§ 16 Rn. 1. 98

Vgl. Badura, in: Schneider/Zeh, § 15 Rn. 36-38. ellinek, Schriften und Reden 11, S. 255; Schreiner, in: Schneider/Zeh, § 18

991

Rn. 1.

100 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 261 f.; H.H. Klein, in: Isensee/Kirch/wJ, § 41 Rn. 22-24; Schäfer, Bundestag, S. 68; Kremer, Blischke-FS, S. 10, dehnt die Anwesenheitspflicht noch weiter zu einer Vorbereitungs- und Informationspflicht aus; Hatschek, Parlamentsrecht, S. 601, hält die die Anwesenheitspflicht betreffende 00Vorschrift für deklaratorisch; für ihn ergibt sich diese Pflicht bereits aus der Abgeordnetenstellung. Aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG jedenfalls läßt sich eine derartige Pflicht nicht ableiten, da sie ausschließlich als individualistische Schutzvorschrift für den einzelnen Abgeordneten ausgestaltet ist (so auch Kremer, a.a.O., S. 10 f.); ähnlich Mahl, Erörterungen, S. 92 f., für den sich die Anwesenheitspflicht aus der Natur der

7 Haug

98

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

Geschäftsordnungen gibt es sogar noch das Institut einer fonnellen Abgeordnetenverpftichtung, die im Wortlaut stark an den Amtseid von Regierungsmitgliedern angelehnt ist\01. Daher greift die bundesverfassungsgerichtliche Feststellung, der Abgeordnete schulde keine Dienste, zu kurz; insbesondere kann von der Sanktionslosigkeit bei etwaigen Pflichtverletzungen nicht auf eine pftichtenfreie Rechtsstellung geschlossen werden \02. Diesem Organverhältnis ist auch die (annahmebedürftige) Übertragung zusätzlicher innerparlamentarischer Funktionen - etwa im Präsidium - zuzurechnen; auch dadurch wird dem Abgeordneten eine besondere, zusätzliche durch die Geschäftsordnung festgelegte Pftichtenstellung übertragen (beispielsweise die Erledigung von Amtsgeschäften)\03. cc) Als Einzelmandatsinhaber ("parlamentarisches Außenverhältnis ")

Weniger eindeutig gestaltet sich die Beurteilung der Geschäftsordnungsbindung im parlamentarischen Außen verhältnis. So erfolgen etwa Wahlkreisaktivitäten, Besprechungen mit Bürgern (auch im Abgeordneten-Büro im Parlamentsgebäude) oder Rechenschaftsberichte vor Parteigremien durch den Abgeordneten nicht als (kollektiv eingebundenes) Mitglied des Beratungsund Entscheidungsköpers Parlament; aber diese Tätigkeiten haben einen direkten parlamentarischen Bezug und können deshalb nicht außerhalb des Bereichs der Mandatsausübung eingeordnet werden; der Aktionskreis des Parlaments läßt sich heute weniger denn je auf Plenar-, Ausschuß- oder Fraktionssitzungen beschränken. In einer repräsentativen Demokratie, wie sie das Grundgesetz vorsieht, ist die Rückkoppelung zum Wahlbürger für die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments unabdingbar. Der Mandatsträger handelt hier als (einzelner) Abgeordneter insbesondere in seinem Wahlkreis (unbeschadet des Umstandes, daß er Vertreter des ganzen Volkes ist) und

Sache ergibt: "der Gewählte wird nur zum Zwecke seiner Beteiligung ernannt und hat mit der Wahlannahme die Erfüllung zugesagt". 101 §§ 2 Abs. 1 GO LT NRW, 2 GO LT Brand., 2 Abs. 1, 2 GO LT Schl.-H.; letztere ist sogar als Eid ausgestaltet; siehe auch § 163 Abs. 1 LV Württ. 1819; vgl. Achterberg, Parlament, S. 264. 102 BVerfGE 40, 296 (316); allerdings wird hier weniger auf die PflichtensteIlung des Abgeordneten als auf den (nicht arbeitsrechtlichen) Charakter der Aufwandsentschädigung abgehoben; in BVerfGE 80, 188 (218) wird auch von den "Pflichten ihres Amtes" gesprochen. H.H. Klein, in: Isenseel Kirchhof, § 41 Rn. 22, stellt diesen vermeintlichen Widerspruch klar; vgl. Stern, Staatsrecht, § 24 III 1. 103 Sondervotum Seuffert, in: BVerfGE 40,330 (340).

§ 7 Personelle Bindung

99

nicht etwa als nur politisch interessierter oder engagierter Privatbürger lO4 • Dies hat aber auch zur Folge, daß in diesem - weiteren - parlamentarischen Aktionskreis die Leitfunktion der Geschäftsordnung noch Auswirkungen haben kann. Der Abgeordnete ist daher bei seinen Aktivitäten im parlamentarischen Außen verhältnis noch soweit an die Geschäftsordnung gebunden, als dies - und hier wirkt der funktionelle Ansatz begrenzend - für die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des freiheitlich-demokratischen Parlaments erforderlich ist. So bindet etwa die Geheimschutzordnung den Mandatsträger nicht nur innerhalb des Parlaments, sondern er muß auch beispielsweise bei der Weitergabe von Infonnationen im Rahmen seiner Rechenschaftsberichte oder Bürgergespräche die parlamentarische Vertraulichkeit beachten. 3. Außerhalb seiner Mandatsausübung (als "Staatsbürger") Entsprechend zum Beamten steht auch hinter dem Mandatsträger immer die Privatperson; diese wesentliche Unterscheidung zwischen dem Amtsträger und dem Staatsbürger hat auch hier grundlegende Bedeutung. Während der Mandatsträger in seinen jeweiligen besonderen Rechtsverhältnissen immer der Geschäftsordnungsbindung (durch ihre Leitfunktion bedingt in unterschiedlicher Intensität) unterliegt, ist dies beim dahinterstehenden Staatsbürger grundsätzlich nicht der Fall; in all seinen nicht parlamentsspezifischen (Rechts-)Verhältnissen - etwa als Ehegatte, Grundstückseigentümer, Unternehmer oder Angestellter, bis hin zum Hundehalter - gilt für ihn dasselbe "allgemeine" Recht wie für alle anderen Staatsbürger auch. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz wird allerdings dann zu machen sein, wenn - wieder durch die Leitfunktion der Geschäftsordnung bedingt - die Parlaments zugehörigkeit Ausstrahlungen auf das private Leben des Abgeordneten nach sich zieht. Insofern muß dem Umstand Rechnung getragen werden, daß ein Parlamentsmitglied als Teil eines obersten Staatsorgans auch außerhalb seiner diesbezüglichen Tätigkeit von seiner Umgebung als Träger eines besonderen und einflußreichen Amtes angesehen wird. So können Verquickungen zwischen dem Privatleben und der Mandatsausübung nicht ausgeschlossen werden (inbesondere im beruflichen Bereich); sofern diese dann außerdem geeignet sind, die freie und nur am Gewissen der Abgeordneten orientierte parlamentarische Arbeit zu beeinträchtigen, ist wieder - neben dem freien Mandat - die Leitfunktion der Geschäftsordnung angesprochen. Allerdings 104 Diese wichtige Abgrenzung zwischen dem parlamentarischen Außenverhältnis und dem Privatverhältnis wird nicht deutlich genug gesehen, vgl. Troßmann, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 2, der für alle den Abg. außerhalb des parlamentarischen Geschäftsbetriebes bindenden Normen eine gesondere verfassungsrechtliche Ermächtigung fordert.

7'

100

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

müssen auch die sich mittelbar auf das Privat- oder Berufsleben auswirkenden Geschäftsordnungsvorschriften unmittelbar an die Eigenschaft als Mandatsträger angeknüpft werden. Hierauf wird noch beispielhaft im Zusammenhang mit den Verhaltensregeln eingegangen.

4. Problem der Grenzziebung anband von Beispielen a) Vorbemerkung

Die Aktivitäten eines Abgeordneten als Status inhaber, Kollektivmitglied, Einzelmandatsinhaber und Staatsbürger lassen sich in der Praxis und auch in ihren Erscheinungsformen nur sehr schwer und teilweise unzureichend voneinander trennen. Diese Problematik soll im Nachfolgenden anhand geeigneter Beispiele aufgezeigt werden. b) Redeordnung

Zunächst soll anhand der Redeordnung die Konkretisierungfunktion der Geschäftsordnung gegenüber dem Status verhältnis des Abgeordneten und den daraus resultierenden Rechten dargestellt werden. Die Redeordnung umfaßt alle die parlamentarische Verhandlung betreffenden Regelungen, so vor allem bezüglich Redeberechtigung, -gegenstand, -dauer und -weiselOS. Sie rechtfertigt sich durch die Unmöglichkeit, eine größere Anzahl von Abgeordneten gleichzeitig miteinander endlos reden zu lassen. Es ist offensichtlich, daß bei solchen ,,Debatten" keine Entscheidungsvorbereitung stattfinden könnte; deshalb ist hier die Geschäftsordnung in ihrer Leitfunktion direkt angesprochen, durch geeignete Regelungen eine störungsfreie und funktionsfahige Kommunikation innerhalb der Personengemeinschaft Parlament sicherzustellen lO6 • So wird von der Geschäftsordnung die Festsetzung einer Tagesordnung und damit der Besprechungsgegenstände (vgl. Sachruf) , die Vertagung, der Schluß der Aussprache, die Höchstdauer für Redebeiträge Ge nach ihrem Charakter) und der Grundsatz der freien

Versteyl, in: von Münch, Art. 43 Rn. 33. BVerfGE 10, 4 (13); Besch, in: Schneider/Zeh, § 33 Rn. 33; H.H. Klein, in: Isensee/Kirchhoj, § 41 Rn. 31; Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Art. 38 Rn. 531; Zeh, ZParl 17, S. 396 (401); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 38 Rn. 32, betont die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der mit der Redeordnung verbundenen Eingriffe in den Abgeordnetenstatus. 105

106

§ 7 Personelle Bindung

101

Rede 107 vorgesehen. Alle diese Teilaspekte der Redeordnung bedeuten zugleich mehr oder minder gravierende Einschränkungen des aus dem Abgeordnetenstatus abgeleiteten Rederechts 108 • Sie werden durch den Kernbereich des freien Mandats und das parlamentarische Wesen, ,,Forum für Rede und Gegenrede zu sein"I09, begrenzt. Eine völlige Aufhebung des Rederechts einzelner - insbesondere fraktionsloser - Abgeordneter darf deshalb weder faktische noch rechtliche Folge der Redeordnung sein llO • Solange diese Grenze eingehalten ist, sind die Parlamentarier an diese Redeordnung aus den oben genannten Gründen - trotz des Eingriffs in ihr Statusverhältnis - gebunden. c) Ordnungsrecht, insbesondere Ausschließung

Jede parlamentarische Geschäftsordnung in Deutschland enthält mehr oder minder detaillierte Vorschriften zur Ahndung unparlamentarischen oder ordnungswidrigen Verhaltens von Abgeordneten im Plenum bzw. in AusschüssenilI. Diese geschäftsordnungsrechtliche Ordnungskompetenz steht - wie die sie begründende Geschäftsordnungskompetenz - grundsätzlich dem Parlament ingesamt zu; sie ist allerdings regelmäßig dem (amtierenden) Präsidenten (bzw. Ausschußvorsitzenden) zur Ausübung übertragen ll2 , wobei bei

107 Dieser Grundsatz läßt sich in der parlamentarischen Praxis allerdings nur unvollkommen umsetzen - vg!. Besch, in: Schneider/Zeh, § 33 Rn. 64; Zeh, in: Isensee/ Kirchhof, § 43 Rn. 35; Roll, Bundesrecht, S. 51; Ritzel/Bücker, Handbuch, § 33 S. 1-3, sprechen von einem "guten Vorsatz"; dies ändert aber nichts daran, daß es sich dabei um den Redner bindendes GO-Recht handelt - a.A. Troßmann, Parlamentsrecht, § 37 Rn. 5, der dieser GO-Norm nur appellativen Charakter zuerkennen will, weil das höherrangige Rederecht sonst verletzt wäre. Zur Bedeutung des Durchsetzungsmangels vg!. unten § 10 dieser Arbeit. lOS Besch, in: Schneider/Zeh, § 33 Rn. 7-9. 109 BVerfGE 10,4 (13); Badura, in: Schneider/Zeh, § 15 Rn. 39.

110 Zum Umfang der einem fraktionslosen Abgeordneten zu gewährenden Redezeit vg!. BVerfGE 80, 188 (LS 5, 228 f.); Scholz, Blischke-FS, S. 82-84; siehe außerdem Bücker, Schellknecht-FS, S. 51 f.; H.H. Klein, in: Isensee/Kirchhof, § 41 Rn. 31. 1I1 §§ 36-41 GO BT, 90-91 GO LT Ba.-Wü., 113-123 GO LT Bay., 76-83 GO Abgh. Berl., 61-66 GO LT Brand., 46-49 GO BS Brem., 47 -52 GO BS Hmb., 70-75 GO LT Hess., 48-52 GO LT Meck!.-Vorp., 73 und 88 GO LT Nds., 66-71 GO LT NRW, 36-39 GO LT Rh.-Pf., 70-76 GO-Ges. LT Saar!., 92-97 GO LT Sachs., 59 und 74 GO LT Sachs.-Anh., 65-70 GO LT Sch!.-H., 36-39 GO LT Thür. 112 BVerfGE 60, 374 (379); H.H. Klein, in: Isensee/Kirchhof, § 41 Rn. 24; Brentano, Parlamentspräsident, S. 42-50; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 219; Schäfer, Bundestag, S. 73; H.-P. Schneider, in: Altemativkommentar, Art. 40 Rn. 15.

102

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

den schärferen Ordnungsmitteln durch einen Einspruch des Betroffenen eine Entscheidung des Hauses herbeigeführt werden kann 113. Dieses Ordnungsrecht umfaßt abgestufte Reaktionsmöglichkeiten, angefangen von der einfachen Rüge ll 4, über Sachruf, formellen OrdnungsrufllS und Wortentzug 1l6 bis hin zur (zeitweiligen) Ausschließung ll7 ; bei nicht zu lokalisierenden Störungen kann der Präsident auch die Sitzung - notfalls durch Verlassen des Präsidentenstuhls - unterbrechen oder aufheben (§ 40 GO BT). Häufig wird dieser Rechtsbereich auch als parlamentarische Disziplinargewalt bezeichnet; diese aus dem Konstitutionalismus herrührenden Begriffe der Disziplin und der Gewalt sind vom hierarchisch-bürokratischen Obrigkeitsdenken geprägt. Nicht ohne Grund haben sie im Beamtenrecht ihre Berechtigung. So sehr die Entstehungsgeschichte dieser Begriffe nachvollziehbar ist, so wenig sind sie im pluralistisch-demokratischen System des Grundgesetzes angebracht; auch die Bundestagsgeschäftsordnung spricht nur von "Ordnungsmaßnahmen" (vgl. § 41). Schließlich ist auch zu berücksichtigen, daß hier nicht erzieherisch auf Repräsentanten des Volkes eingewirkt, sondern nur der ungestörte und ordnungsgemäße Verlauf der parlamentarischen Verhandlungen sichergestellt werden soll1l8. Deshalb soll hier anstelle von Disziplin der Begriff der (parlamentarischen) Ordnung verwendet und anstelle von Gewalt von Kompetenz gesprochen werden 119. Dieses Ordnungsrecht trägt zur Funktions- und Arbeitsfähigkeit des Parlaments in ganz wesentlichem Umfang bei; die Sicherstellung eines - von

113 Brentano, Parlamentspräsident, S. 73; Versteyl, NJW 1983, S. 379 (380); Achterberg, Parlamentsrecht, S. 662. 114 BVerfGE 60, 374 (381 f.); Versteyl, NJW 1983, S. 379 (379, 380); Bücker, in: Schneider/Zeh, § 34 Rn. 16. 115 Zu den Voraussetzungen Versteyl, NJW 1983, S. 379 (380); Achterberg, Parlamentsrecht, S. 653-655. 116 Siehe Achterberg, Parlamentsrecht, S. 657 f.; Bücker, in: Schneider/Zeh, § 34

Rn.29.

117 Versteyl, NJW 1983, S. 379; Vogler, Ordnungsgewalt, S. 14; Bücker, in: Schneider/Zeh, § 34 Rn. 12. 118 Zu stark wurde daher zu Beginn des Jahrhunderts noch der Strafcharakter betont - vgl. Schmid, AöR 32, S. 522; Vogler, Ordnungsgewalt, S. 28; aber auch heute noch wird zwischen Straf- und Ordnungsmaßnahmen unterschieden - vgl. Bücker, in: Schneider/Zeh, § 34 Rn. 12 -, was als überholt abzulehnen ist. 119 Anschaulich Rothaug, Leitungskompetenz, S. 58, bezüglich "Gewalt", und S. 66, bezüglich "Disziplin"; er wendet sich besonders gegen hierarchische Vorstellungen etwa zwischen Plenum und einzelnem Abgeordneten; außerdem impliziert der Disziplinbegriff nach Rothaug ein - hier nicht vorhandenes - Sonderstatusverhältnis. Siehe auch Hatschek, Staatsrecht, S. 435, der die Disziplinargewalt als eine "Sondergewalt des Reichstages über seine Mitglieder" ansieht.

§ 7 Personelle Bindung

103

innen wie von außen - ungestörten Verfahrens bedingt es, aus spezial- und generalpräventiven Abschreckungsgründen Sanktionen für Störungen bereitzuhalten. Die parlamentarische Ordnung ist somit grundsätzlich von der Leitfunktion der Geschäftsordnung getragen und damit auch auf Geschäftsordnungsebene zulässig und zutreffend geregelt. Da das Ordnungsrecht (heute) nur noch für entsprechende Verhaltensweisen innerhalb parlamentarischer Sitzungen Anwendung findet, ist es grundsätzlich dem parlamentarischen Innenverhältnis als Unterfall des Organverhältnisses zuzuordnen. Allerdings wirken sich ordnungsrechtliche Maßnahmen regelmäßig auf die politische und private Reputation des Abgeordneten aus, zumal mit der Ahndung der zugrundeliegende Vorfall meist der Öffentlichkeit bekannt wird. Insofern sind Auswirkungen auf das parlamentarische Außenverhältnis und die Privatsphäre denkbar; allerdings handelt es sich dabei um gesellschaftlich-tatsächliche Folgen, die aber nicht durch die Geschäftsordnung normativ bedingt sind. Somit ist eine rechtliche Relevanz der parlamentarischen Ordnung im parlamentarischen Außenbereich und privaten Bereich zu verneinen. Auf der anderen Seite jedoch führen Wortentzug und noch mehr die Ausschließung zu Beeinträchtigungen des Statusverhältnisses, weil dieses sowohl das grundsätzliche Rederecht wie - erst recht - das jederzeitige Teilnahmerecht an den parlamentarischen Arbeiten beinhaltet; vor allem die Ausschließung, in deren Folge der Abgeordnete auch von seinem Rede- und Stimmrecht keinen Gebrauch machen kann 120, muß sich am oben genannten Kernbestand des Abgeordnetenstatus messen lassen 121. So ist vor diesem Hintergrund eine dauernde Ausschließung (also bis zum Ablauf der Wahlperiode) nicht statthaft; dies käme faktisch einer Mandatsaberkennung gleich, die fraglos in die "dingliche" Rechtsstellung des Abgeordneten eingreifen würde 122 • Damit aber wäre der Kernbestand des freien Mandats berührt, was - wie dargelegt - von der Geschäftsordnung mangels Kompetenz nicht geregelt werden kann. Wegen der verfassungsrechtlichen Verankerung des freien Mandats wäre auch eine einfach-gesetzliche Regelung ohne ausdrückliche Verfassungs grundlage nicht wirksam. Außerdem wäre ein dauernder Ausschluß nicht mehr von der Leitfunktion des Geschäftsordnungsrechts

120 BVerfGE 60, 374 (379); vgl. Brentano, Parlamentspräsident, S. 49-54; Troßmann, Parlamentsrecht, § 42 Rn. 14 ff., weist auf das Ruhen aller parlamentarischen Rechte - etwa auch der AntragsteIlung oder -unterstützung - hin. 121 Vgl. zur Entwicklung der Ausschließung Ritzel/Bücker, Handbuch, Vorb. §§ 36-41, S. 9. 122 Katz, Staatsrecht, Rn. 356; BayVfGH 8 11 91 (l05 f.); Schmid, AöR 32, S. 563 f.; Vogler, Ordnungsgewalt, S. 31 f.; a.A. noch Brentano, Parlamentspräsident, S. 59.

104

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

getragen 123; denn auch bei schwersten Störungen wäre es zur Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit nicht erforderlich (und damit unverhältnismäßig), dem Störer die Mitwirkung für die ganze Wahlperiode zu versagen (aus demselben Grund verbietet sich auch ein freiheitsentziehendes OrdnungsmitteI 124). Der dauernde Ausschluß ist dem deutschen Geschäftsordnungsrecht heute auch weitgehend fremd 125; lediglich in Bremen sieht die Geschäftsordnung der Bürgerschaft dies (im Falle von Mandatsmißbrauch) noch vor (§ 59). Aus den genannten Gründen wäre diese Vorschrift als konstitutives Geschäftsordnungsrecht rechtsunwirksam; sie stellt jedoch nur eine wortgleiche Wiederholung von Art. 85 Abs. 1 LV Bremen dar und ist daher als deklaratorisches Recht wirksam l26 • Hierbei wird davon ausgegangen, daß diese bremische Verfassungsbestimmung nicht gegen Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG verstößt; mit Blick auf den hier zu untersuchenden Bearbeitungsgegenstand soll diesem Streit nicht nachgegangen werden 127 • Weniger eindeutig ist die Frage nach der Zulässigkeit einer geschäftsordnungsrechtlich geregelten zeitweiligen Ausschließung zu beantworten; die bremische und die hamburgische Verfassung beispielsweise enthalten in Art. 85 Abs. 2 bzw. Art. 13 Abs. 3

123 Diese Begrenzung der Reichweite des Ordnungsrechts betont auch Troßmann, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 5.1. 124 Schmid, AöR 32, S. 561. 125 Diese Vorstellung einer "Ausstoßung" mag noch auf der Einschätzung des Parlaments als "politischer Verein" beruhen; insofern kommt hier wieder das echte Autonomiedenken zum Vorschein. Das Staatsorgan Parlament geht aber aus den Wahlen hervor, weshalb das Parlament nicht auch nur partiell über seine Zusammensetzung zu entscheiden hat (selbst die Wahlprüfung kann - auf Bundesebene - nur im Rahmen des verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Gesetzes erfolgen und unterliegt zudem der Überprüfung durch das BVerfG, Art. 41 GG); das Parlament hat vielmehr den Wählerwillen (Art. 20 Abs. 2 GG) insofern zu respektieren, daß dieser auch unbotmäßige Bürger mandatieren kann. 126 Eine ähnliche Verfassungsbestimmung findet sich auch in Art. 13 Abs.2 LV Hmb., ohne allerdings in der GO wiederholt zu werden. 127 Instruktiv und übersichtlich zu diesem Problemkreis Kratzsch, DÖV 1970, S. 372 (373 f.), der - ausgehend von der "Gewissensausübung als Grundlage der Repräsentation" - ausdrücklich kein verfassungsrechtliches Verbot erkennt, den Mandatsbestand zu regeln, wenn dem Abg. - wie in Art. 85 Abs. 1 LV Bremen - ein Verhalten vorgeworfen wird, "welche[s] die Vornahme einer Gewissensentscheidung von vornherein ausschließt"; denn damit liege das Handeln des Abg. "außerhalb der zu schützenden Unabhängigkeit" und könne ohne Verletzung des Grundsatzes des freien Mandats i.S.v. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG zum Mandatsverlust führen. Ohne Bedenkungen gegen diese Einschränkung des Mandats auch Badura, in: Schneider/ Zeh, § 15 Rn. 26; vgl. außerdem BremStGH, NJW 1977, S. 2307 (2307 f.), der die partielle Einschränkung der Mandatsausübung durch Art. 84 Abs. 1 S. 1 LV Bremen vor dem Hintergrund der Art. 38 Abs. 1 S. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG ausdrücklich nicht beanstandet.

§ 7 Personelle Bindung

105

auch eine ausdrückliche Ermächtigung zur vorübergehenden Ausschließung bei wiederholten oder groben Ordnungsverstößen. Diese Ausschließung wäre jedenfalls von der Geschäftsordnungsfunktion getragen, da ein fortgesetzt oder besonders gravierend störender Abgeordneter die parlamentarische Verhandlung völlig zum Erliegen bringen könnte; deshalb muß zur Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit - als schärfstes Mittel - die Möglichkeit bestehen, diesen Störer zu entfemen 128 • Fraglich wäre also allenfalls, ob hier der Kernbereich des freien Mandats verletzt ist 129 • Dabei ist darauf abzustellen, daß zwar die dem Kembereich zuzurechnenden Statusrechte (siehe oben) betroffen sind; aber sie werden nicht als solche in Frage gestellt, sondern nur deren zeitweilige Ausübung l30 • Dies stellt ebenso eine zulässige Konkretisierung des Statusverhältnisses dar wie etwa eine Redezeitbegrenzung. Abschließend ist also festzustellen, daß Wortentzug und Ausschließung dem Statusverhältnis des Abgeordneten zuzurechnen sind, während die übrigen Ordnungsmaßnahmen zum (inneren) Organverhältnis gehören. Nach alledem begegnet das parlamentarische Ordnungsrecht insgesamt auf der Geschäftsordnungsebene keinen (kompetenz-)rechtlichen Bedenken l31 • d) Verhaltensregeln und Ehrenordnung aa) Verhaltensregeln

Zahlreiche Geschäftsordnungen deutscher Parlamente enthalten in ihren Anlagen zum Zweck der Verhinderung von Mandatsmißbrauch sogenannte Verhaltensregeln 132 ; dabei handelt es sich um relativ detaillierte Anzeige-

128 Auf diese Funktion des Ordnungsrechts weist besonders Roll, Bundesrecht, S. 52, hin; siehe außerdem Ritzel/Bücker, Handbuch, Vorb. §§ 36-41, S. 10, mit Hinweis auf die Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Parlaments bei knappen Mehrheiten; so auch Röper, ZParl 22, S. 189 (194). 129 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 658, hält dies ebenfalls für die entscheidende Frage. \JO SO im Ergebnis: RGSt 47, 270 (274); Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 221; Roßmann, Leitung, S. 53; Schmid, AöR 32, S. 529 f.; Vogler, Ordnungsgewalt, S. 30 f.; Brentano, Parlamentspräsident, S. 55-58, mit umfassender Darstellung des Meinungsstandes von 1930; Bar, Das Recht 1912, Sp. 362 f., mit einer heute so nicht mehr vertretenen Notwehrargumentation; a.A. Pereis, Reichstagsrecht, S. 100 f., weil die Wahl den Abgeordneten zur Teilnahme berechtige und verpflichte. 13\ So bzgl. Rechtsgrund BVerfGE 60, 374 (379); H.H. Klein, in: Isensee/Kirchhof, § 41 Rn. 24. \32 Anl. 1 GO BT, Anl. 1 GO LT Ba.-Wü., Anl. 1 GO Abgh. Berl., Anl. 1 GO LT Brand., Anl. 1 GO BS Hmb., Anl. 1 GO LT Nds., Anl. 3 GO LT NRW, Anl. 1 GO

106

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

pflichten der Abgeordneten hinsichtlich ihres beruflichen Engagements und gegebenenfalls anderer Einnahmequellen (vor allem Spenden). Etwaige aus diesem Hintergrund herrührende Interessenverquickungen bei Ausschußberatungen sind offenzulegen (vgl. § 8 Anl. 1 GO BT); vereinzelt werden auch ausdrückliche Bestechungsverbote postuliertl 33 oder zumindest solche Vertragsabschlüsse untersagt, in deren Vollzug an den Abgeordneten Geld im Zusammenhang mit Erwartungen hinsichtlich seiner Mandatsausübung gezahlt werden SOIlI34. Außerdem wird den Abgeordneten untersagt, in beruflichen Zusammenhängen auf ihre Parlamentsmitgliedschaft hinzuweisen. Schließlich enthalten diese Verhaltensregeln noch Verfahrensvorschriften zur Ermittlung und Behandlung festgestellter Regelverstöße. Zumeist werden Präsidium oder Ältestenrat tätig; Verstöße werden - in der Regel durch Mitteilung an das Plenum - öffentlich festgestellt l3S • In normativer Hinsicht sind die meisten dieser die Verhaltensregeln beinhaltenden Anlagen durch eine entsprechende Geschäftsordnungsvorschrift in den Geschäftsordnungstext inkorporiert l36 ; in den übrigen Fällen handelt es sich um schriftlich fixierte Einzelbeschlüsse, die jedoch auf der Basis der Geschäftsordnungskompetenz erlassen wurden und deshalb hinsichtlich ihrer Bindungskraft gleichwertig sind 137. Diese Verhaltensregeln greifen durch die Anzeigepflichten weit in das private - also nicht parlamentsspezifische - Berufsleben des Abgeordneten ein, der dadurch wesentlich offener über seine privat-finanziellen Verhältnisse Rechenschaft ablegen muß, als jeder andere Bürger. Auch das Feststellungsverfahren dürfte ganz erhebliche Auswirkungen auf die Reputation und schließlich auch auf die politische Zukunft des betroffenen Abgeordneten haben 138 • Aus diesen Gründen stellt sich die Frage, ob diese Eingriffe noch LT Rh.-Pf., Anl. 1 GO LT Sachs., Anl. GO LT Sachs.-Anh., Anl. GO LT Schl.-H., Anl. GO LT ThUr. 133 § 9 Anl. 1 GO BT; 11 2, Abs. 2 Anl. 1 GO LT Ba.-WU.; IV 1 Anl. 1 GO BS Hmb.; 11 2 S. 4 Anl. 1 GO LT Sachs., VII GO LT Sachs.-Anh. 134 Vgl. 11 Anl. I GO LT Rh.-Pf., 11 Anl. GO LT ThUr.; siehe auch zu den Abgrenzungsproblemen Roll, in: Schneider/Zeh, § 19 Rn. 18. m Zur Entstehungsgeschichte der Verhaltensregeln siehe Roll, in: Schneider/Zeh, § 19 Rn. 3. 136 § 18 GO BT, § 8a GO LT Ba.-WU., § 1 Abs. 1 GO Abgh. Berl., § 5 Abs.2 S. 2 GO LT Brand., § 5 Abs. 2 GO LT NRW, § 14 GO LT Rh.-Pf., § 11 GO LT Sachs., § 1 Abs. 3 GO LT Sachs.-Anh., § 14 GO LT ThUr. 137 Hmb., Nds., Schl.-H. 138 Diese Außenwirkung sieht auch Schlosser, Verhaltensregeln, S. 45; auf S. 146-148 wird die Bedeutung der öffentlichen Feststellung durch den Hinweis auf das EinmUtigkeitserfordernis besonders betont; Troßmann, Parlamentsrecht, § 22

§ 7 Personelle Bindung

107

auf der geschäftsordnungsrechtlichen Ebene zulässig sind, oder nicht vielmehr eine gesetzliche Grundlage erforderlich ist 139 ; die Staatspraxis ist seit dem Diätenurteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem der Gesetzgeber zum Handeln aufgefordert wurde l40 , dazu übergegangen, mehr oder minder detaillierte einfachgesetzliche Grundlagen in den Abgeordnetengesetzen zu schaffen (vgl. § 44a AbgG). In Baden-Württemberg allerdings ist eine solche Regelung bislang noch nicht erfolgt. Die geschäftsordnungsrechtliche Regelung wäre dann ausreichend und rechtlich nicht zu beanstanden, wenn die geschilderten Eingriffe noch von der Geschäftsordnungskompetenz des Parlaments getragen wären. Es ist offensichtlich, daß hier die Privatsphäre des mit dem Mandat ausgestatteten Staatsbürgers betroffen ist. Folglich ist - ausgehend von den oben getroffenen Feststellungen - zu untersuchen, ob die Verhaltensregeln von der Leitfunktion der Geschäftsordnung noch getragen sind und unmittelbar an die Abgeordneteneigenschaft des Bürgers anknüpfen. Durch diese Regelungen soll verhindert werden, daß der einzelne Abgeordnete in persönlicher - insbesondere beruflicher - Hinsicht das Mandat "zu Geld macht". So soll der berufstätige Abgeordnete keine Zahlungen mit dem Hintergedanken bekommen, dann die Interessen des Zahlenden im Parlament besonders zu berücksichtigen; das freie Mandat soll auch gegenüber finanziellen Abhängigkeiten bewahrt bleiben 141 • Insofern haben die Verhaltensregeln vorrangig eine das freie Mandat sichernde Funktion. Die durch die Anzeigepftichten erreichte Transparenz verhindert mit solchen Abhängigkeiten (die durch eine Veröffentlichung ihr Ziel nicht mehr erreichen könnten) auch unbekannte oder

Rn. 5.1., spricht von einem "humanisierten An-den-Pranger-Stellen". Roll, in: Schneider/Zeh, § 19 Rn. 26, weist in diesem Zusammenhang auf Nachteile hin, so etwa auf die Abschreckungswirkung dieser Regelungen gegenüber "manchem kompetenten und erfolgreichen Bürger". In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen von Schlosser, Verhaltensregeln, S. 97 -101, über das Verhältnis zu Art. 48 Abs. 2 GG aufschlußreich. 139 Schlosser, Verhaltensregeln, S. 214, hält bei einem wesentlich zu engen 00Verständnis für Teil I der Verhaltensregeln BT a. F. eine gesetzliche Grundlage für erforderlich; vgl. auch ders., a.a.O., S. 52-61. Ebenfalls für die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage H.H. Klein, in: Isenspe/Kirchhof, § 41 Rn. 22; Troßmann, Parlamentsrecht, § 22 Rn. 5.1., und ders./ Roll, Parlamentsrecht, Ergänzungsband, § 18 Rn. 2. 140 BVerfGE 40,296 (319). 141 Siehe zum Verbandseinfluß über Abgeordnete Steinberg, in: Schneider/Zeh, § 7 Rn. 32 ff., 36 ff.; zum Verhältnis zwischen Verhaltensregeln und freiem Mandat siehe Roll, ebenda, § 19 Rn. 22.

108

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

unbewußte Interessenmanipulationen im Parlamene 42 ; ein von verdeckten Interessen beeinflußtes oder gar gesteuertes Parlament entspräche nicht mehr dem grundgesetzlichen Leitbild einer freiheitlich-repräsentativen Volksvertretung. Deshalb sind die Verhaltensregeln für die Funktionsfähigkeit des Parlaments im Sinn des Grundgesetzes notwendig und stehen durch ihre Reinigungswirkung in unmittelbarem Zusammenhang mit dem parlamentarischen Verfahren; sie sind damit - in zweiter Linie - von der Geschäftsordnungsleitfunktion getragen l43 • Außerdem knüpfen die Verhaltensregeln direkt am Abgeordnetenstatus an, da sie ganz offensichtlich in ihrer Reichweite nur mandatsrelevante Fragen zu klären versuchen; die Pflichten werden dem Mandatsinhaber um seiner Parlamentsmitgliedschaft willen auferlegt. So sind die Angehörigen oder Kollegen der Abgeordneten ebenso wenig miteinbezogen wie etwaige Parlamentskandidaten (vor der Wahl bzw. als potentielle Listennachrücker)144. Nach alledem ist zusammenfassend festzustellen, daß die Verhaltensregeln eine sowohl das freie Mandat (vorrangig) als auch das (freie) parlamentarische Verfahren (als Reflexwirkung) schützende Tendenz aufweisen. Dies hat zur Folge, daß hinsichtlich der erforderlichen normativen Grundlage zunächst auf die das freie Mandat betreffenden Verfassungsbestimmungen abzustellen ist. Soweit hier ein Gesetzesvorbehalt vorhanden ist, bedürfen die Verhaltensregeln einer gesetzlichen Grundlage, wenngleich die detaillierte Ausformulierung der Geschäftsordnung übertragen werden kann; in diesem Zusammenhang ist auf Art. 38 Abs. 3 GG hinzuweisen l4s • Fehlt dort ein solcher Gesetzesvorbehalt, kann im Rahmen der oben bejahten Formwahlfreiheit wegen der auch tangierten Geschäftsordnungsleitfunktion auf die Geschäftsordnung als (alleiniges) Regelungsinstrument rekurriert werden; so ist etwa in BadenWürttemberg mit Blick auf Art. 27 Abs. 3 LV eine gesetzliche Grundlage möglich, aber nicht notwendig. Soweit eine gesetzliche Grundlage - unabhängig von ihrer Erforderlichkeit - vorhanden ist, müssen sich die geschäftsordnungsrechtlichen Regelungen in deren Rahmen bewegen und stellen nur deklaratorisches Geschäftsordnungsrecht dar.

142 Troßmann/ Roll, Parlamentsrecht, Ergänzungsband, § 18 Rn. 1; Schlosser, Verhaltensregeln, S. 7. 143 Ablehnend Schlosser, Verhaltensregeln, S. 214. 144 Roll, in: Schneider/Zeh, § 19 Rn. 9. 14' Schlosser, Verhaltensregeln, S. 55; allerdings ist hier nicht - wie es das BVerfG tut - Art. 48 Abs. 3 S. 1 GO angesprochen; denn diese Vorschrift betrifft die vom Staat zu zahlende Abgeordnetenentschädigung, nicht aber sonstige Zahlungen von interessierter Seite im Zusammenhang mit dem Mandat, vgl. BVerfGE 40,296 (319).

§ 7 Personelle Bindung

109

bb) Ehrenordnung

Die begrenzende Wirkung des funktionellen Ansatzes wird bei der Frage der Ehrenordnungen sichtbar. Eine umfassende Ehrenordnung (die zudem ein übereinstimmendes ,,Berufsethos" der Abgeordneten voraussetzen würde l46), die etwa an private - insbesondere gesellschaftlich negativ beurteilte - Verfehlungen (z. B. Ehebruch oder Steuerhinterziehung) bestimmte (innerparlamentarische) Sanktionen knüpfen würde, wäre nur durch die damit zu schützende "Würde des Hohen Hauses" zu rechtfertigen l47 • In einer repräsentativen Demokratie jedoch kann auch der im Parlament befindliche Bevölkerungsteil nicht über die sittlichen oder rechtlichen Verfehlungen in der allgemeinen Bevölkerung erhaben sein. Auch wenn die Bedeutung eines hohen Ansehens des Parlaments in der Bevölkerung nicht verkannt werden soll, besteht doch vor dem Hintergrund der Geschäftsordnungsleitfunktion ein wesentlicher Unterschied zwischen einer allgemeinen Rufminderung und einem Mandatsmißbrauch durch die verdeckte Interessenbeeinftussung der Verhandlungen l48 • Insbesondere sind Freiheit, Transparenz und Sachverbundenheit der parlamentarischen Verhandlungen nicht unmittelbar vom individuellen Sittenkodex und etwaigen (un-)moralischen Verhaltensweisen einzelner Abgeordneter abhängig. Damit aber ist eine solche - ebenfalls stark in die Privatsphäre des Mandatsträgers eingreifende - Ehrenordnung nicht auf geschäftsordnungsrechtlicher Ebene möglich l49 • Die Geschäftsordnungsvorschriften, die dies vorsehen bzw. vorgesehen haben, stellen daher nur Worthülsen ohne normative Relevanz dar l50 ; außer in Bayern zwischen 1950 und 1957 kam - nicht zuletzt wegen erheblicher und begründeter verfassungsrechtlicher Bedenken - in keinem deutschen Parlament eine Ehrenordnung zustande 151 • An diesem Umstand wird der wesensmäßige Unterschied 146 Hinweise hierauf finden sich in der bei Ritzel/Bücker, Handbuch, § 18 S. 2-4, wiedergegebenen Plenardiskussion. 147 Die am 9.3.1950 angenommene GO LT Bay. enthielt'Ordnungsstrafen im Falle gröblicher Schädigung des Ansehens der Volksvertretung - so in: BayVfGH 811 91 (92); vgl. Haagen, Rechtsnatur, S. 38; aufschlußreich hierzu eine im GO-Ausschuß der 1. Wahlperiode BT behandelte Eingabe, bei: Ritzel/Bücker, Handbuch § 18 S. 2. 148 Vgl. BayVfGH 8 II 91 (lOS); hier wird auch zwischen der nicht das Verfahren betreffenden Ansehensrninderung und Sitzungs störungen unterschieden. 149 Vgl. Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 21. 150 Siehe Roll, in: Schneider/Zeh, § 19 Rn. 2, zu den erfolglosen Versuchen, auf der Basis von § 22 GO BT a. F. eine Ehrenordnung zu erstellen; vgl. auch Troßmann/ Roll, Parlamentsrecht, Ergänzungsband § 18 Rn. 2. 1S1 Zum bayerischen Einzelfall vgl. BayVfGH 8 11 91 (92 f., 105); siehe außerdem Roll, in: Schneider/Zeh, § 19 Rn. 2. In den USA gibt es in den Geschäftsordnungen beider Häuser einen umfassenden Verhaltenskodex, der auch einen moralischen Verhaltensstandard enthält, vgl. Roll, a.a.O., Rn. 6.

110

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

zwischen dem Beamten und dem Abgeordneten sichtbar; während sich der in einem Dienst- und Treueverhältnis zum Staat stehende und gemäß § 37 BRRG weisungsunterworfene Beamte auch außerhalb seines Dienstes eines vertrauenswürdigen Verhaltens zu befleißigen hat (vgl. §§ 35 f. BRRG, insbes. § 36 S. 2), ist der grundsätzlich unabhängige und insbesondere nicht in einem Subordinationsverhältnis zum Staat befindliche Abgeordnete gerade einer solchen Pftichtenstellung nicht unterworfen.

C. Bürger 1. Bindungswirkung a) Umfang der Bindungswirkung

Der ,,Normalbürger", der regelmäßig nicht in den parlamentarischen Funktions- und Machtbereich eintritt, dürfte nur selten mit dem Geschäftsordnungsrecht in Berührung kommen. Von der h.M. wird daher eine als Außenwirkung verstandene Bindung des Bürgers abgelehnt \S2. Insbesondere wird dabei die geringere Rechtssicherheit des Geschäftsordnungsrechts geltend gemacht lS3 • Vor dem Hintergrund des funktionellen Ansatzes soll diese Sicht hinterfragt werden. Die Geschäftsordnung soll in Erfüllung ihrer Leitfunktion die (Verfahrens-) Abläufe, Ordnungsgrundsätze und ähnliches innerhalb des gesamten parlamentarischen Funktions- und Machtbereichs regeln; der in diesen Bereich eintretende Bürger befindet sich nicht mehr in einem ,,Außenverhältnis"IS4; folglich würde es sich bei einer Bindung des Bürgers innerhalb dieses Bereichs nicht um eine Außenwirkung handeln. Durch den engen sachlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Parlament und seinen (Teil-)Organen kann der Bürger störend, aber auch fördernd, auf die parlamentarische Arbeit einwirken. Damit aber ist er von der Geschäftsordnungsfunktion, eben diese Arbeit zu organisieren und normativ zu steuern, erfaßt und gehört dann zu ihrem Adressatenkreis. Es wäre realitätsfern, die Parlamentsarbeit nur auf die Abgeordneten reduziert zu sehen; andererseits könnte eine Geschäftsordnung, die nur für einen Teil der in diesem Schäfer, Bundestag, S. 64; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 61. Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 41; Bücker, ZParl 17, S. 324 (331). Da hierbei vor allem auf die Abweichungsmöglichkeit abgehoben wird, sei auf § 10.B. (S. 147 ff.) dieser Arbeit hingewiesen. 154 Vgl. Kretschmer, ZParl 17, S.334 (341), der zutreffend auf das freiwillige ..Handeln in Kenntnis der sie erwartenden Parlamentsdisziplin" abstellt; ders., a.a.O., S. 342, betont außerdem die besondere begrenzende Funktion des parlamentarischen Bereichs. 152 153

§ 7 Personelle Bindung

111

Funktionsbereich agierenden Personen gelten sollte, ihre Aufgaben nur sehr unvollkommen erfüllen - insbesondere dann, wenn es um das Zusammenwirken der Beteiligten geht. Insofern trägt bereits die Geschäftsordnungsfunktion die Bindung von Nichtabgeordneten unter diesen Bedingungen in sich; auf diesen Gedanken wird auch hinsichtlich der anderen Staatsorgane zurückzukommen sein. Unter normativer Bindung wird hier - wie beim Abgeordneten - nicht nur die Auferlegung von Pflichten, sondern auch die Einräumung von Rechten verstanden. b) Problem des Gesetzesvorbehalts

Diese Bindungswirkung gegenüber dem Bürger wirft die Frage nach dem Gesetzesvorbehalt auf; dieser beruht auf den Prinzipien des Rechtsstaates und der Demokratie. Letzteres verlangt eine Rückführung der Regelung "auf eine Willensentschließung der vom Volke bestellten Gesetzgebungsorgane"ISS; da das Parlament in jedem Fall das einzige (direkt) vom Volk gewählte Organ der Legislative darstellt, ist dieses Erfordernis unproblematisch erfüllt l56 • Durch das Rechtsstaatsprinzip soll ,,Machtrnißbrauch verhütet und die Freiheit des einzelnen gewahrt" werden 1S7. Hier wird in der Regel nicht nur ein Tätigwerden des Parlaments, sondern außerdem ein Gesetz im formellen Sinn verlangt. Allerdings würde eine undifferenzierte Übertragung dieses Erfordernisses auf die Bindung des Bürgers durch die parlamentarische Geschäftsordnung der Besonderheit dieser Problematik nicht Rechnung tragen. Denn die Säule des Rechtsstaatsprinzips im Rahmen des Gesetzesvorbehalts ist vor allem im Verhältnis des Bürgers zur Exekutive relevane 58 • Fraglich ist daher, ob und bejahendenfalls wie weit diese Säule des Gesetzesvorbehalts auch für das Verhältnis des Bürgers zum Parlament gilt. Hierbei ist neben der unmittelbaren Erfüllung der demokratischen Legitimation besonders zu beachten, daß das Parlament auch im formellen Gesetzgebungsverfahren eine überragende Stellung einnimmt. Außerdem handelt es sich bei der Geschäftsordnung um eine vom Parlament nach einem festgesetzten Verfahren erlassene und durch die Verfassungsdelegation ausdrücklich legitimierte Rechtsquelle und trägt damit bereits dem Grundgedanken der dem Rechtsstaatsprinzip innewohnenden Rechtssicherheit Rechnung. Aus diesen

m BVerfGE 33, 125 (158); Ossenbühl, in: Isensee/KirchhoJ, § 62 Rn. 37. 1560ssenbühl, in: Isensee/KirchhoJ, § 62 Rn. 39, weist zudem darauf hin, daß der Demokratieaspekt des Gesetzesvorbehalts nicht zwingend ein formelles Gesetz, son-

dern lediglich eine vom Parlament beschlossene Regelung verlangt. 157 BVerfGE 33, 125 (158). 158 Ossenbühl, in: Isensee/KirchhoJ, § 62 Rn. 38.

112

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

Gründen würde es eine auch vom Rechtsstaatsprinzip nicht mehr geforderte Förmelei darstellen, im von der Geschäftsordnung normierten Bereich hinsichtlich der Bindung des Bürgers ein formelles Gesetz zu verlangen. Dieser Bereich wird durch die verfassungsrechtlich verbürgte Geschäftsordnungskompetenz auf den innerparlamentarischen Arbeits- und Funktionsbereich begrenzt. Folglich gilt der Gesetzesvorbehalt im innerparlamentarischen Bereich in Form des Parlamentsvorbehalts, dem mit der kodifizierten Geschäftsordnung hinreichend Rechnung getragen ist. Ein formelles Gesetz dagegen ist im Verhältnis von Bürger und Parlament dann zu verlangen, soweit das Parlament den Bürger außerhalb dieses innerparlamentarischen Bereichs normativ zu binden versucht. 2. Bindungswirkungen anband von Beispielen a) Bürger als Zuhörer bei Plenar· oder öffentlichen Ausschußsitzungen Die Sitzungszuhörer unterliegen der präsidialen Ordnungskompetenz, die sich in diesem Fall nach der h.M. jedoch nicht aus der Geschäftsordnung (§ 41 GO BT), sondern aus dem Hausrecht (Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG) ergibt 1s9 • Diese Begründung ist eine konsequente Folge aus der Beschränkung der Geschäftsordnungsbindung auf die Parlamentsmitglieder, hält jedoch einer funktionsorientierten Überprüfung nicht stand. Das Hausrecht nämlich will nicht Störungen während der parlamentarischen Verhandlungen verhindern, sondern ermöglicht - nur - dem Präsidenten ein Vorgehen gegen ungebührliches Verhalten von Bürgern (und Abgeordneten) im Bereich der Liegenschaften des Parlaments l60 • Sitzungsstörungen jedoch betreffen ganz unmittelbar die parlamentarische Arbeit im engeren Sinn, die sicherzustellen vorrangig die Aufgabe der Geschäftsordnung ist l61 • Insofern geht in parlamentarischen Sitzungen die Geschäftsordnungskompetenz als speziellere

159 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 651 f., 659 f., sieht in den einschlägigen GOVorschriften bestenfalls "Anhaltspunkte für die Art und Weise der Ausübung des Hausrechts"; vgl. ferner Amdt, Autonomie, S. 119; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 74, 234; Rösch, Geschäftsordnung, S. 50; Roßmann, Leitung, S. 57; Vogler, Ordnungsgewalt, S. 51; Bemau, Geschäftsordnungen, S. 238 Fn. 1; Schäfer, Bundestag, S. 67, 73; Troßmann, JöR 28, S. 197; Bücker, in: Schneider/Zeh, § 34 Rn. 53 f.; Zeh, in: Isensee / Kirchlwf, § 43 Rn. 38. 160 StGH Ba.-Wü., in: ES VGH 38, 81 (83).

161 Noch weitergehender ist das englische GO-Recht, vgl. Rösch, Geschäftsordnung, S. 13 (..contempt of court").

§ 7 Personelle Bindung

113

Rechtsgrundlage dem allgemeineren Hausrecht vor l62 • Deshalb ist die Ordnungskompetenz des Präsidenten (bzw. des Ausschußvorsitzenden, vgl. § 59 Abs. 3 GO BT) auch gegenüber Zuhörern in der Geschäftsordnung nicht nur zweckmäßigerweise geregelt, sondern hat dort auch ihren durch die verfassungsrechtlich der Geschäftsordnung übertragenen Aufgabe getragenen Rechtsgrund. Da es sich hierbei um den innerparlamentarischen Bereich handelt, ist außerdem - wie dargelegt - dem Gesetzesvorbehalt mit der parlamentarischen Geschäftsordnung hinreichend Rechnung getragen. b) Bürger als Medienvertreter

Die Medienvertreter sind als Sitzungszuhörer ebenso den Ordnungsbestimmungen unterworfen wie die anderen Zuhörer l63 ; auch sie haben sich, soweit sie in den parlamentarischen Wirkungsbereich eingetreten sind, an die einschlägigen Geschäftsordnungsvorschriften zu halten (etwa ruhiges Verhalten auf den Tribünen)I64. Dies berührt außerdem nicht das von ihnen besonders in Anspruch genommene Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG, denn dies hat nur zur Folge, daß das Parlament - und damit die Geschäftsordnung - keinen Einfluß darauf nehmen kann, welche der so erlangten Informationen verwertet werden 165 und in welcher Weise dies geschieht. c) Bürger als Auskunftspersonen oder Sachverständige bei Anhörungen oder als Mitglieder von Enquetekommissionen

Besonders anschaulich wird die Geschäftsordnungsbindung von Bürgern, wenn sie unmittelbar an der parlamentarischen Arbeit teilnehmen. Spätestens hier erweist sich das Hausrecht für die Regelung des Verhaltens und der Mitwirkung der Bürger als völlig überfordert und auch unangebrache 66 • Die für Anhörungen festgelegten Geschäftsordnungsvorschriften binden (kon-

162

Rothaug, Leitungskompetenz, S. 64.

Im übrigen sind die im Rahmen parlamentarischer Sitzungen erlangten Informationen für die Medienvertreter ohnehin nur selten interessant, vgl. Martenson, in: Schneider/Zeh, § 8 Rn. 17. 164 RitzellBücker, Handbuch, § 41 S. 1. 163

165 Das bedeutet allerdings nicht, daß das Parlament aus Art. 5 Abs. 1 GG verpflichtet wäre, alle Medienformen generell zuzulassen; vgl. für Fernsehübertragungen Martenson, in: Schneider/Zeh, § 8 Rn. 13 f.

166 Amdt, Autonomie, S. 119, widerspricht sich selber: so haben "diese Personen ... das durch autonomes Parlamentsrecht geregelte Verfahren ... hinzunehmen", ihr Verhalten wäre dadurch aber "rechtlich nicht zu binden".

8 Haug

114

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

stitutiv) neben den Ausschußmitgliedern auch - soweit dies sachlich möglich ist - die Auskunftspersonen (Sachverständige, Interessenvertreter und andere, vgl. § 70 Abs. 1 S. 1 GO BT). Ein unter Vergleich mit den Zuhörern vorgenommener Rekurs auf das Hausrecht trägt der ganz anderen Funktion und Bedeutung dieser Personen in keiner Weise Rechnung!67; im Gegensatz zu den - vorgesehen passiven - Zuhörern, denen bei Unbotmäßigkeiten etwa noch mit hausrechtlichen Mitteln zu begegnen wäre (bestünden die oben genannten Einwände nicht), sollen die Auskunftspersonen aktiv in das parlamentarische Geschehen eingreifen, wofür es verfahrensregelnde Vorschriften - etwa Redezeitbegrenzungen (vgl. § 70 Abs. 4 S. 2 GO BT) und ähnliches geben muß!68. Außerdem werden den Auskunftspersonen und Sachverständigen die Auslagen erstattet (§ 70 Abs. 6 GO BT)!69; die diesen Anspruch nonnierenden Geschäftsordnungsvorschriften räumen den - vom Parlament ausgewählten - Bürgern (die auch als Auskunftspersonen keine staatsrechtlichen Kompetenzen wahrnehmen, sondern nur ein Staatsorgan bei der Wahrnehmung dessen Kompetenzen unterstützen) ein subjektiv-öffentliches Recht ein. Dies ist im Rahmen der Geschäftsordnung auch möglich, weil dieser Anspruch mit der parlamentarischen Tätigkeit der Bürger in einem unmittelbaren Zusammenhang steht, diese aber keine amtliche oder amtsähnliche Funktion ausüben. Noch deutlicher wird die Geschäftsordnungsbindung bei den Enquetekommissionen. Diese parlamentarischen Gremien sollen "Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe" (§ 56 Abs. 1 S. 1 GO BT) vorbereiten und bestehen daher nicht nur aus Abgeordneten, sondern in der Regel auch aus sachkundigen Bürgern 170 • In diesen Kommissionen sind die Bürger den Abgeordneten in allen verfahrensrelevanten Rechten und Pflichten gleichgestellt, insbesondere auch beim Rede- und Stimmrecht!7!; dies verstößt auch nicht gegen das Repräsentationsprinzip, weil hier Entscheidungen nur vorbereitet werden. Die Einräumung von Rechten an Nichtmitglieder auf Geschäftsordnungsebene findet sich beispielsweise auch in der Geschäftsordnung der Bundesregierung, wo in § 23 Abs. 1 bis 3 die Hinzuziehung von Beamten oder besonderen Funktionsträgern (etwa der Chef des BundespräsiSo aber Troßmann/Roll, Parlamentsrecht, Ergänzungsband, § 59 Rn. 3.1.3. Die beiderseitige Bindung an § 70 Abs.4 S. 2 GO BT betont Ritzel/Bücker, Handbuch, § 70 S. 2. 169 Roll, Bundesrecht, S. 55, weist in diesem Zusammenhang auf die "geltenden" Richtlinien hin. 170 Vgl. Mommer, StB BT, 5. WP, 240. S. (18.6.1969), S. 13297 B, der "eine engere Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Erfahrung und Praxis auf der einen Seite und Politik auf der anderen Seite" vor Augen hat. 171 Stern, Staatsrecht, § 26 IV 20. 167 168

§ 7 Personelle Bindung

115

dialamtes) zu den Kabinettssitzungen geregelt ist; hier werden mit der Funktionsunterstützung durch sachkundige Beratung etwaige Zulässigkeitsbedenken abgelehnt172 • Dies muß aber auch für das Parlament geIten, das in mindestens ebenso hohem Maße einer sachkundigen Unterstützung durch geeignete Personen bedarf. Aus den dargestellten Gründen bestehen - entgegen der h.M. - keine Bedenken, Bürgern (etwa auf Antrag von Fraktionen unter Anrechnung auf deren Redezeit) im Plenum ein geschäftsordnungsmäßiges Rederecht einzuräumen l73 ; auch öffentliche Anhörungen im Plenum könnten durch die Geschäftsordnung vorgesehen werden. Die dagegen vorgebrachten Bedenken, das Grundgesetz gehe von einem geschlossenen Kreis Redeberechtigter aus, vermag nicht durchzugreifen l74 ; denn das "natürliche" Rederecht steht selbstverständlich nur den Abgeordneten zu. Dies schließt aber gerade nicht aus, daß eben diese Abgeordneten in sachlich begründeten Fällen Bürger reden lassen; ein solches ,,Rederecht" beinhaltet (ähnlich dem des Wehrbeauftragten) nämlich keinen Anspruch, das Wort zu erhalten, sondern bliebe von der alleinigen Entscheidung des Parlaments abhängig 17S • d) Bürger als Zeugen in Untersuchungsausschüssen

Die - nicht immer gerne - als Zeugen aussagenden Bürger werden vom Untersuchungsausschuß geladen; dieser Ladung haben sie auch Folge zu leisten. Doch gerade dieser Eintritt von außen in den parlamentarischen Funktions- und Machtbereich kann nach den einleitenden Bemerkungen nicht durch das Geschäftsordnungsrecht erzwungen werden, ebensowenig ein bestimmtes materiell-aktives Verhalten wie etwa eine Aussage 176, denn dieses "Hinausgreifen" wäre nicht mehr von der inneren Sicherungsfunktion der Geschäftsordnung erfaßt. Denn die - technische - Arbeitsfähigkeit des Untersuchungsausschusses ist vom Erscheinen bzw. Nichterscheinen eines Zeugen unabhängig; der inhaltlich zu erzielende Arbeitserfolg kann und soll nicht Stern, Staatsrecht, § 31 I 2b. Dies fordert Schäfer, Bundestag, S. 74; Vonderbeck, Befugnisse, S. 73, 74; ausdrücklich ablehnend Bücker, Schellknecht-FS, S. 42 f., der dies auch auf ausländische Staatsoberhäupter erstreckt. 174 Vgl. Bücker, Schellknecht-FS, S.4O; unsicher Besch, in: Schneider/Zeh, § 33 Rn. 31; siehe auch Pietzcker, ebenda, § 10 Rn. 26. 175 Vgl. die jüngere Praxis bei Reden ausländischer Staatsoberhäupter, die nun (seit 1969) innerhalb ordentlicher Bundestagssitzungen (und nur außerhalb der Tagesordnung) gehalten wurden, bei Blischke, Schellknecht-FS, S. 58; die Abhängigkeit vom freiwilligen Angebot des Parlaments und von der eigenen Entscheidung betont Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 25. 176 Vgl. Arndt, Autonomie, S. 119; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 25. 172

173



116

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

durch die Geschäftsordnung sichergestellt werden. Außerdem liegt diese Pflichtenbegründung für den Bürger außerhalb des parlamentarischen Innenbereichs und ist daher nicht mehr von der Geschäftsordnungskompetenz gedeckt. Deshalb bedarf es auch aufgrund des Gesetzesvorbehaltes einer formell-(verfassungs-)gesetzlichen Grundlage, zum Beispiel Art. 44 Abs.2 GG in Verbindung mit der entsprechenden Anwendung der StPO oder Art. 35 Abs. 4 S. 1 LV Ba.-Wü. i.V.m. dem Untersuchungsausschußgesetz. Soweit aber im übrigen kein besonderes oder höherrangiges Recht (wie StPO, UAG) Regelungen für das Verhalten und Verfahren bei der Zeugenvernehmung vorhanden ist, kommt wieder das Geschäftsordnungsrecht zum Tragen, da sich dieses wiederum im innerparlamentarischen Bereich abspielt.

§ 8 Institutionelle Bindung A. Andere Staatsorgane 1. Historische Dimension: Die konstitutionelle Doktrin Im konstitutionellen Zeitalter wurde der Monarch - und nicht etwa die Gesellschaft - mit dem Staat identifiziert; es bestand daher dogmatisch ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Herrscher und den Beherrschten 177. Deshalb konnte die Volksvertretung kein staatliches, sondern nur ein gesellschaftliches Organ darstellen. Wenngleich dies bereits im Konstitutionalismus ein durch die Rechtslage nicht mehr gerechtfertigter Anachronismus aus dem absolutistischen Zeitalter darstellte (,,L'Etat c'est moi,,178), so war dies doch ein in der Staatsrechtslehre noch durchaus waches Gedankengut179 , das sich auf viele Rechtsfragen auswirkte. So war es davon ausgehend unvorstellbar, daß das dem gesellschaftlichen Bereich entstammende Parlament den Staat bzw. staatliche Organe normativ binden könnte, ohne daß diese damit einverstanden waren. Im Kaiserreich wurden der Bundesrat als Zusammenschluß der die Souveränität innehabenden Fürsten und die Reichsregierung als Ver-

In Achterberg, Parlamentsrecht, S. 39 f.; Dreier, JZ 1990, S. 310 (314); Im Schlußbericht der Enquetekommission Verfassungsreform, BT-Drucks. 7/5924, S. 35 f., wird zudem auf das andere "Legitimations- und Konstruktionsprinzip" des Parlaments im Verhältnis zum "exekutivisch konzipierte(n) und bereits 'fertige(n), Staatsbau" hingewiesen. 178 Dieser Ausspruch des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. (1661-1715) veranschaulicht(e) besonders das damalige Staats verständnis. 179 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 44, spricht zutreffend von der "Trägheit der Theorie".

§ 8 Institutionelle Bindung

117

tretung der geheiligten Person des Kaisers angesehen und respektiert180. Weil es sich aus dem damaligen Staatsverständnis verbot, daß die Volksvertretungen den souveränen Fürsten bzw. deren Regierungen irgendwelche Vorschriften - auch bezüglich deren Verhalten im Parlament - machen konnten, wurde die sogenannte ,,zweigleisigkeit des Geschäftsordnungsrechts" eingeführt. Diese sah eine Trennung in eine innere und eine äußere Geschäftsordnung vor; die erstere war dabei auf die rein internen Parlamentsvorgänge beschränkt, während die äußere Geschäftsordnung - die entweder der Gesetzesform oder zumindest einer vertragsähnlichen Vereinbarung zwischen Parlament und Regierung bedurfte - die Beziehungen zu anderen Staatsorganen (also vor allem zur Regierung) zu regeln hatte 181 . Trotz der normativen Verankerung des Parlaments im Staatsaufbau hatte die geschilderte Denkweise vor dem Hintergrund der bei den Fürsten liegenden Souveränität eine gewisse Berechtigung; das Parlament wurde als ein der Exekutive nachgeordnetes Organ angesehen, das nur ganz begrenzte Enumerativzuständigkeiten hatte 182 •

2. Gültigkeit dieser Grundsätze heute Die auf eine ausschließliche Geschäftsordnungsbindung der Parlamentsmitglieder festgelegte h.M. sieht in einer Bindungserstreckung auf andere Staatsorgane auch heute noch eine die Geschäftsordnungskompetenz überfordernde Außenwirkung 183 . Wie bereits mehrfach betont wurde, hat sich die Stellung des Parlaments seit dem konstitutionellen Zeitalter sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht grundlegend gewandelt. Es gehört nun - neben der Regierung - zu den obersten Staatsorganen und hat außerdem als das einzige direkt demokratisch legitimierte Organ, von dem alle anderen Organe mehr oder minder abhängen, eine zentrale Bedeutung im Staatsaufbau erlangt (vgl. oben S. 34 f.)184.

Vgl. Schröder, in: Schneider/Zeh, § 53 Rn. 3. Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 15; Hatschek, Parlamentsrecht, S. 38; Rösch, Geschäftsordnung, S. 37, 47, 51-53; siehe auch Mohl, Staatsrecht, S. 695 ff.; ders., Erörterungen, S. 45. \82 Dreier, lZ 1990, S. 310 (314) spricht von einem "eher limitativ-beratenden Verfassungsorgan" . \83 Vgl. Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 69, 71; Nawiasky, Apelt-FS, S. 141, 143 f.; Weis, DVBI 1988, S. 268 (269); siehe auch Rösch, Geschäftsordnung, S. 51-53, der - unter der Weimarer Verfassung - (nach wie vor) von einer entsprechenden Übereinkunft der verschiedenen Organe ausgeht. \84 Siehe außerdem Achterberg, DVBI 1974, S. 693 (696 f.); im Schlußbericht \80

\8\

118

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

Dies hat zwar nicht zur Folge, daß das Parlament im Wege seiner Geschäftsordnung anderen Organen Vorschriften über deren Handhabung ihrer Angelegenheiten machen könnte. Die Regierung ist jedoch auch kein dem Parlament übergeordnetes Organ mehr, das über sein Verhalten innerhalb des parlamentarischen Bereichs allein entscheiden kann, sondern vielmehr ein vom Parlament abhängiges Organ, das sich im parlamentarischen Funktionsund Machtbereich an die dort gültigen Vorschriften halten muß. Denn ebenso wie bei den Bindungsfragen bezüglich der Staatsbürger ist auch hier auf die von der Verfassung intendierte Funktion der Geschäftsordnung abzustellen. Diese Aufgabe der Sicherstellung und Steuerung der parlamentarischen Arbeit bedingt es - um überhaupt bewältigt werden zu können -, daß alle an dieser Arbeit amtlich oder personell Beteiligten an die dafür aufgestellten Normen gebunden sind l85 ; der Adressatenkreis der Geschäftsordnung ist - um es nochmals zu betonen - nicht personell, sondern funktional zu bestimmen. Deshalb ist die Geschäftsordnung mit dieser - partiellen - Bindung von anderen Staatsorganen keineswegs überfordert; näher betrachtet handelt es sich nämlich hierbei ebenfalls noch um das (parlamentarische) Innenverhältnis l86 • Außerdem ließe sich diese so begrenzte Bindung anderer Staatsorgane durch das Gebot kooperativen Verhaltens der Organe zusätzlich begründen 187. Allerdings muß sich auch die Geschäftsordnung im Rahmen der Verfassung bewegen und hat folglich insbesondere verfassungsrechtliche Vorgaben zugunsten anderer Staatsorgane zu berücksichtigen. Das bedeutet, daß die in allen deutschen Verfassungen der Regierung (und auf Bundesebene auch den Mitgliedern des Bundesrates) sowie deren Beauftragten verfassungsrechtlich eingeräumten Befugnisse innerhalb des parlamentarischen Bereichs (d.h. das Anwesenheits- und das Rederecht) einer besonderen Berücksichtigung bedürfen l88 • Verfassungsreform, BT Drucks. 7/5924, S. 36, wird das Parlament als verfassungsrechtliches Zentralorgan eingestuft. 185 Wie hier - ebenfalls unter Hinweis auf den Zweck der GO - Bemau, Geschäftsordnungen, S. 239-242; diese "Sachgesetzlichkeit" sieht auch Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 71; er will allerdings das Problem durch gewohnheitsrechtliehe Regelungen lösen; zu oberflächlich argumentiert Rothaug, Leitungskompetenz, S. 69, der im GO-Recht für andere Staatsorgane wegen "horizontaler Kompetenzüberschreitung" lediglich "eine bloße Tatsache" sieht, aber letztlich auch über gewohnheitsrechtliche Überlegungen zu einer indirekten GO-Bindung gelangt. 186 Vgl. Haagen, Rechtsnatur, S. 39. 187 Dies deutet Troßmann, JöR 28, S. 42, an. 188 Art. 43 Abs. 2 00, 34 Abs. 2 LV Ba.-Wü., 24 Abs. 2 LV Bay., 34 Abs. 2 LV Ber!., 66 Abs. 2 LV Brand., 98 Abs. 1 LV Brem., 23 Abs. 1 S. 1 und 2 LV Hmb., 92 S. 2 bis 4 LV Hess., 10 Abs. 2 LV Nds., 45 Abs. 1 LV NRW, 89 Abs. 2 LV Rh.-Pr.,

§ 8 Institutionelle Bindung

119

3. Bindung von Regierungs- (und Bundesrats-) Vertretern unter besonderer Berücksichtigung ihrer verfassungsmäßigen Rechte im Parlament a) Vorbemerkung

Die soeben bejahte grundsätzliche Geschäftsordnungsbindung auch anderer Staatsorgane bzw. deren Amtsträger innerhalb des parlamentarischen Funktionsbereichs soll nun - insbesondere vor dem Hintergrund verfassungsmäßiger Rechte der Betroffenen - anhand von Beispielen behandelt werden; hierfür wurden die besonders interessanten "natürlichen" Konfliktgebiete zwischen Parlament und Vertretern der Regierung (und des Bundesrates) ausgewählt, nämlich das Ordnungsrecht, die Redeordnung sowie etwaige durch die Geschäftsordnung der Regierung auferlegte Berichts- und Antwortpflichten. b) Ordnungsrecht

aal Allgemeine Bindung der Regierung (und des Bundesrates) durch das Ordnungsrecht

Nach h.M. sind Regierungs- und Bundesratsmitglieder nur dann der Ordnungskompetenz des Präsidenten unterworfen, soweit ihre Rechte aus Art. 43 Abs. 2 GG (bzw. den entsprechenden Bestimmungen der Länderverfassungen) nicht tangiert sind; der Rechtsgrund hierfür wird - wie bei den Zuhörern - allein im verfassungsrechtlich dem Präsidenten zugewiesenen Hausrecht gesehen 189. Im übrigen seien diese Personen nur dann den geschäftsordnungsrechtlichen Ordnungsmaßnahmen unterworfen, wenn sie zugleich ein Abgeordnetenmandat innehaben und allein in dieser Funktion handeln 190. Hierzu muß zunächst - wieder - festgestellt werden, daß die Geschäftsordnung ihre Ordnungsfunktion nur dann sinnvoll und effektiv wahrnehmen

76 Abs. 2 LV Saarl., 49 Abs. 2 LV Sachs., 52 Abs. 2 LV Sachs.-Anh., 21 Abs. 2 LV Schl.-H. 189 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 651; Troßmann, JöR 28, S. 197; ders., Parlamentsrecht, § 45 Rn. 2.2; Amdt, Autonomie, S. 117; Bücker, in: Schneider/Zeh, § 34 Rn. 5; in Rn. 6 allerdings unsicher, ob nicht auch Verfassungsgewohnheitsrecht oder parlamentarische Übung als Rechtsgrund denkbar wären; Achterberg/Schulte, in: MKAS, Art. 43 Rn. 71, sehen in der GO lediglich (wie bei den Zuhörern) "Anhaltspunkte für die Art und Weise der Ausübung des Hausrechts". Sclunid, AöR 32, S. 488 f., verneint sogar ein der Regierung gegenüber bestehendes Hausrecht. 190

Vgl. etwa Ritzel/Bücker, Handbuch, Vorb. §§ 36-41, S. 3.

120

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

kann, wenn sie damit alle Personen erreicht, die potentiell diese Ordnung zu stören geeignet sind. Hierzu gehören alle Sitzungsteilnehmer, also auch die in amtlicher Eigenschaft anwesenden Regierungs- und Bundesratsvertreter; dies wird im Schrifttum auch eingeräume 91 • Völlig verfehlt ist es daher, in diesem Bereich auf freiwillige Rücksichtnahme oder politische Courtoisie zu rekurrieren; hier besteht ein im Konfliktfall nur mit normativen Mitteln zu erreichender Ordnungsbedarf192 • Dieses Ordnungsziel könnte zwar im Ergebnis mit einer hausrechtlichen Überlegung ebenfalls erreicht werden, aber das Hausrecht will - wie bereits oben festgestellt wurde - allgemeinen Ordnungswidrigkeiten im Bereich der Liegenschaften begegnen, während die Geschäftsordnung die spezielle Ordnungsfunktion für die parlamentarische Arbeit hat. Das Hausrecht wird innerhalb der Verhandlungen insofern - wie bereits erwähnt - von der Geschäftsordnung als lex specialis verdrängt193 • Gegen die Hausrechtsargumentation spricht auch die unterschiedliche Trägerschaft; die Ordnungskompetenz des Präsidenten wäre gegenüber den Abgeordneten nicht seine eigene, sondern die des Parlaments, während er eine auf sein Hausrecht gestützte Ordnungskompetenz aus eigenem Recht ausüben würde 194 • Dies hätte aber zur Folge, daß etwa ein mit Regierungsamt ausgestatteter Abgeordneter (bei den schärferen Ordnungsrnaßnahmen) keine Entscheidung des Hauses herbeiführen könnte. Diese Ungleichbehandlung ist jedoch - wie nun zu zeigen sein wird - aus praktischen und verfassungsrechtlichen Gründen nicht gerechtfertigt. Ein Grundfehler der h.M. liegt in der - durch konstitutionelles Denken geprägten - Unterscheidung zwischen Ordnungs- und Disziplinarrecht; sie geht von einem innerparlamentarischen Subordinationsverhältnis aus, das gegenüber anderen Staatsorganen nicht bestünde 195 • Richtig ist vielmehr - wie schon oben im Zusammenhang mit dem Disziplinbegriff erörtert wurde -, daß weder innerhalb des Personenverbandes Parlament noch gegenüber anderen Staatsorganen ein Subordinationsverhältnis besteht und folglich hier

191 Ritzel/Bücker, Handbuch, Vorb. §§ 36-41, S. 8; Bemau, Geschäftsordnungen, S. 241; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 63, 65. 192 Wie hier Röper, ZPar1 22, S. 189 (193); a.A. aber etwa Maunz, in: MDHS, Art. 43 Rn. 24; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 231; ähnlich Schäfer, Bundestag, S.73. 193 Rothaug, Leitungskompetenz, S. 64.

Vgl. Braun, Landesverfassung, Art. 32 Rn. 22. Ritzel/Bücker, Handbuch, Vorb. §§ 36-41, S. 7 f.; Schäfer, Bundestag, S. 73; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 24; vgl. auch Hatschek, Staatsrecht, S. 438-440; Oehme, Reichstagspräsident, S. 18 f.; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 229, und Schmid, AöR 32, S. 475, sprechen hier von einem Sonderkreis; Brentano, 194

195

Parlamentspräsident, S. 41, 70.

§ 8 Institutionelle Bindung

121

gar nicht das Problem liegen kann. Die Ordnungskompetenz ist rein funktional begründet und gilt deshalb gegenüber allen, die davon potentiell betroffen sein können, mithin für alle Sitzungsteilnehmerl96 • Daran ändert auch der Umstand nichts, daß die anderen Sitzungsteilnehmer (als solche) am Geschäftsordnungserlaß nicht beteiligt sind l97 ; das Parlament nimmt hier für seinen Funktionsbereich eine verfassungsrechtliche Kompetenz wahr, die auch andere Personen und Amtsinhaber innerhalb dieses Bereichs betreffen kann. Insofern liegt hier ebenfalls keine echte Außenwirkung l98 , sondern nur eine - funktional und eben nicht personal zu verstehende - Innenwirkung vor. Zudem erscheint die Funktionsunterscheidung bei Regierungsmitgliedern mit Abgeordnetenmandat nicht sinnvoll; diese Differenzierung· stößt in der Praxis auf große Probleme. Die Tätigkeit dieses Personenkreises läßt sich nämlich häufig nicht sauber dem einen oder anderen Bereich zuordnen l99 • Die Literatur behilft sich hierbei mit Indizien. So soll entscheidend sein, ob der Betreffende auf der Regierungsbank oder im Abgeordnetenbereich Platz genommen haeoo; beim Redner wird außerdem auf den Inhalt der Rede oder darauf abgestellt, von wo aus er zum Rednerpult gegangen ist201 • Diese "Lokalisationstheorie" ist als völlig untauglich abzulehnen; sie orientiert sich an reinen Äußerlichkeiten. So ist es durchaus üblich, daß Regierungsmitglieder auch im Abgeordnetenbereich - etwa mit anderen Regierungsmitgliedern, aber auch mit Abgeordneten - ,,regierungs amtliche" Gespräche führen. Würde man außerdem der h.M. folgen, so könnte wegen der verfassungsrechtlichen Privilegierung ein im Abgeordnetenbereich befindlicher Mandatsträger mit Regierungsamt - etwa wegen eines grob ordnungswidrigen Zwischenrufs aus dem Plenum, den er dann zweifellos "als Abgeordneter" machen würde - nicht von der Sitzung ausgeschlossen werden. Denn damit

196 Vgl. in diesem Zusammenhang Anschütz, Weimarer keichsverfassung, Art. 33 Anm. 4 und Vogler, Ordnungsgewalt, S. 50. 197 Bei Perels, Reichstagsrecht, S. 97, weist der amtierende Reichstagspräsident auf seinen Legitimationsmangel gegenüber den Regierungsmitgliedern hin, die an seiner Wahl nicht mitgewirkt haben. 198 So aber Bücker, in: Schneider/Zeh, § 34 Rn. 4; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 651, und in: MKAS, Art. 43, Rn. 71; Brentano, Parlamentspräsident, S. 64 f., 67.; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 63. 199 Diese Schwierigkeit wird auch von Amdt, Autonomie, S. 118 f., gesehen. 200 Troßmann, JöR 28, S. 197; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 660, und in: MKAS, Art. 43 Rn. 72; H.-P. Schneider, in: Alternativkommentar, Art. 43 Rn. 14; Maunz, in: MOHS, Art. 43 Rn. 23. 201 Bücker, in: Schneider/Zeh, § 34 Rn. 48; Vogler, Ordnungsgewalt, S.47, hält dies für unproblematisch; vgl. außerdem Röper, ZParl 22, S. 189.

122

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

wäre - weil sich die Person real eben nun einmal nicht teilen kann - nämlich gleichzeitig der Minister ausgeschlossen worden. Auch mit Blick auf die alle Sitzungsteilnehmer gleichermaßen betreffende Ordnungsfunktion der Geschäftsordnung ist offensichtlich, daß es nicht vom geographischen Ort innerhalb des Plenarsaales abhängen kann, ob, wie weit und aus welchem Rechtsgrund eine (Amts-)Person dem Ordnungsrecht unterworfen ist202 • Besonders deutlich wird die Untauglichkeit dieses Differenzierungsversuchs zwischen verschiedenen Sitzungsteilnehmern durch die ebenfalls als Ordnungsmaßnahme verstandene Möglichkeit der Sitzungsunterbrechung oder -aufhebung; hier nimmt der Präsident eine ihm geschäftsordnungsrechtlich eingeräumte Kompetenz wahr, die sich notwendigerweise auf alle Sitzungsteilnehmer auswirkeo3 • So könnte zu diesem Zeitpunkt etwa ein Regierungsvertreter sprechen oder sprechen wollen, der sein Rederecht durch diese Maßnahme vorübergehend nicht mehr nutzen könnte; deshalb kann auch nicht von einer nur faktischen Auswirkung auf die privilegierten Personen gesprochen werden204 . Letztlich entscheidend ist jedoch, daß eine solche Unterscheidung auch (verfassungsrechtlich) nicht geboten ist. Denn alle Sitzungsteilnehmer haben ein grundsätzliches Zutritts- und Rederecht, die Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 GG, die Regierungs- und Bundesratsvertreter aus Art. 43 Abs. 2 00. Bei den letzteren handelt es sich um Mitglieder eines anderen obersten Staatsorgans, denen durch die Verfassung ein besonderes Mitwirkungsrecht innerhalb eines anderen obersten Staatsorgans eingeräumt wird. In einer modem-parlamentarischen Demokratie ist das keineswegs selbstverständlich; man denke nur an den umgekehrten Fall, daß also etwa das Parlamentspräsidium (und damit unter Umständen auch die Opposition) mit beratender Stimme an den Kabinettssitzungen teilnehmen könnte2os . Bei der Privilegierung des Art. 43 Abs. 2 00 handelt es sich vielmehr um ein konstitutionell bedingtes Verfassungsrelikt, das noch von einer Überordnung der (monarchischen) Regierung gegenüber dem (eher gesellschaftlichen gedachten) Parlament geprägt ist206• Deswegen bedarf diese Verfassungsvorschrift heute ei-

202 Diese Problematik war mitursächlich für die Einfügung des Art. 33 Abs. 4 in die WRV, vgl. Delbrück, StB NVers., S.303 (304), 28. S. (11.4.1919); siehe auch Hatschek, Staatsrecht, S. 440. 203 Dies räumt auch Achterberg, Parlamentsrecht, S. 661, ein. 204 Röper, ZParl 22, S. 189 (195). 2~ Deshalb weist Schröder, in: Schneider/Zeh, § 53 Rn. 4, zutreffend darauf hin, daß ..der Zutritt zu einem Kollegialorgan ... für Nichtmitglieder niemals selbstverständlich ist". 206 Besonders klar Schröder, in: Schneider/Zeh, § 53 Rn. 3; Röper, ZParl 22, S. 189 (190 f.); Zeh, ZParl 17, S. 396 (399).

§ 8 Institutionelle Bindung

123

ner restriktiven Auslegung, die der staatsorganisatorischen Wertung des Grundgesetzes Rechnung trägt. Sie soll heute sicherstellen, daß sich die Staatsorgane Regierung und Bundesrat über die parlamentarische Willensbildung informieren und ihre Standpunkte dort einbringen können; dies ist vor allem bezüglich der Regierung dadurch gerechtfertigt, daß diese vom Parlament abhängig ist und sich deshalb dort jederzeit verteidigen können muß207 • Beim Bundesrat ist in diesem Zusammenhang auf seine Gesetzgebungsfunktion hinzuweisen, in der er mit dem Parlament - mit geringerem Gestaltungsspielraum und deshalb von einer schwächeren Warte aus208 zusammenwirken muß. Damit wird eine Aussage hinsichtlich des "ob" der Mitwirkung getroffen, nicht jedoch des "wie". Die Verfassungsvorschrift bedeutet keinen Freibrief für die darin genannten Personen, sich im Parlament störend oder gar würdelos zu verhalten; insbesondere bedingt sie keine Besserstellung gegenüber den Abgeordneten hinsichtlich des Verhaltens während parlamentarischer Verhandlungen 209 • Schließlich handelt es sich bei Art. 43 Abs. 2 GG wie bei Art. 38 Abs. I GG um die Einräumung einer Rechtsposition, die durchaus im Einzelfall - durch die Geschäftsordnung, soweit deren Leitfunktion angesprochen ist - Beschränkungen unterworfen werden kann, wenn keine auch nur partielle Aufhebung dieser Rechte stattfindet. Das der Regierung gegenüber bestehende "Gegenrecht" des Parlaments aus Art. 43 Abs. I GG steht dieser einschränkenden Auslegung ebenfalls nicht entgegen; denn solange man - mit der h.M. und richtigerweise Art. 43 Abs. I GG als ein Recht nur des Parlaments insgesamt (also der Mehrheit) und Art. 43 Abs. 2 GG dagegen als eine Rechtsposition jedes einzelnen Regierungs- und Bundesratsmitglieds ansieht, stehen sich diese Vorschriften gerade nicht korrespondierend gegenüber. Daher unterstützt die Gegenüberstellung mit dem parlamentarischen Zitierrecht vielmehr die hier vertretene restriktive - weil auf die Organe insgesamt bezogene - Auslegung der Rechte aus Art. 43 Abs. 2 GG. Aus diesen Gründen steht Art. 43 Abs. 2 GG einer ordnungsrechtlichen Gleichbehandlung von Regierungs- und Bundesratsmitgliedern einerseits und Abgeordneten andererseits nicht entgegen, sofern die genannten Staatsorgane ihre Informations- und Artikulationsrechte noch wahrnehmen können; dies gilt auch für den Rechtsgrund dieses Ordnungsrechts.

2m Besch, in: Schneider/Zeh, § 33 Rn. 18; Bücker, Schellknecht-FS, S. 40 f. 208 Der Bundesrat kann ja nicht - wie der Bundestag - durch Änderungsanträge auf die einzelnen Bestimmungen gestaltend einwirken, sondern ist auf Zustimmung bzw. Ablehnung beschränkt; die Einflußmöglichkeiten im Vermittlungsausschuß sind hier verfassungsrechtlich unerheblich, weil es sich hierbei um ein anderes Verfassungsorgan handelt. 209 Röper, ZParl 22, S. 189 (192, 195 f.).

124

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

Gegen dieses Ergebnis wird von der h.M. geltend gemacht, das Grundgesetz enthalte nicht - wie noch die WRV und heute einige Länderverfassungen210 - eine Vorschrift, durch die der privilegierte Personenkreis der Ordnungskompetenz des Präsidenten bzw. Ausschußvorsitzenden unterstellt sei211 • Dieser Einwand verkennt jedoch die historische Dimension: Art. 33 Abs. 4 WRV war 1919 - direkt nach dem konstitutionellen Zeitalter - eine erforderliche Klarstellung 2l2 , die von den betreffenden Länderverfassungen nach 1945 einfach wieder übernommen wurde; bei der Schaffung des Grundgesetzes konnte man aber schon als selbstverständlich ansehen, daß der Regierung im Parlament keine überhöhte Stellung mehr zuteil würde. Außerdem läuft die h.M. darauf hinaus, daß der Verzicht auf eine neuerliche Vorschrift wie Art. 33 Abs. 4 WRV im Grundgesetz einen Rückschritt in den Konstitutionalismus bedeuten würde; dies kann aber nicht ernsthaft behauptet werden213 • Vielmehr ist unter Würdigung der staatsorganisatorischen Gesamtkonstruktion des Grundgesetzes (in der das Parlament - durch den Wegfall des starken Staatsoberhauptes - eine noch stärkere Stellung hat als in der WRV) davon auszugehen, daß diese Ordnungskompetenz nun unter die dem Parlament zukommende Geschäftsordnungskompetenz fallt; nur hier kann sie sinnvoll mit Wirkung für alle potentielle Ordnungsstörer umgesetzt werden. Damit schließt sich zugleich der Kreis dieser funktional ausgerichteten Begründung. Unbeschadet der soeben dargelegten grundsätzlichen Möglichkeit der Bindung von Mitgliedern anderer Staatsorgane durch das geschäftsordnungsrechtliche Ordnungsrecht geht diese Bindung konkret immer nur soweit, wie die Geschäftsordnungen davon auch Gebrauch machen; eine etwa analoge Erstreckung von ausdrücklich auf die Abgeordneten bezogenen Ordnungs vorschriften auf Regierungsmitglieder ist nicht möglich. Soweit also auf den Abgeordneten - und nicht etwa auf den Redner, den Anwesenden oder ähnliches - ausdrücklich abgestellt wird, sind andere Sitzungsteilnehmer nicht betroffen; anders ist es freilich, wenn - wie etwa bei der Bundestagsgeschäftsordnung - in einer Vorschrift (insbesondere am Ende des Ordnungsrechts) das gesamte Ordnungsrecht auf diese erstreckt wird (vgl. § 41 Abs. 1 GO BT).

210

Art. 33 Abs. 4 WRV; Art. 34 Abs. 2 S. 2 LV Ba.-Wü., Art. 34 Abs. 4 LV Ber!.,

Art. 23 Abs. 2 S. 2 LV Hmb., Art. 92 S. 4 LV Hess., Art. 10 Abs. 2 S. 3 LV Nds., Art. 45 Abs. 1 S.2 LV NRW, Art. 89 Abs.4 LV Rh.-Pf., Art. 49 Abs. 2 S. 2 LV

Sachs., Art. 52 Abs. 2 S. 3 LV Sachs.-Anh. 2J1 Arndt, Autonomie, S. 116; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 229 f. 212 Dies ergibt sich eindeutig aus der Begründung des entsprechenden Antrags des Abg. Fischer, vg!. StB NVers., S. 303 (304),28. S. (11.4.1919). 213 Vg!. Rothaug, Leitungskompetenz, S. 63.

§ 8 Institutionelle Bindung

125

bb) Die Ordnungsmaßnahmen im einzelnen

Diese allgemeinen ordnungsrechtlichen Bindungswirkungen sollen nun - insbesondere vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Privilegierung - kurz anband der einzelnen Ordnungsmittel verdeutlicht werden. Schon hinsichtlich einer inhaltlichen Kritik des Präsidenten gegenüber privilegierten Amtswaltern gehen zahlreiche Autoren davon aus, daß keine formellen Ordnungsmittel zum Einsatz gelangen dürften, sondern nur allgemeine Kritikformen oder hypothetische Formulierungen, wonach der Redner als Abgeordneter für die kritisierte Äußerung einen Ordnungsruf erhalten hätte214 • Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen ist jedoch davon auszugehen, daß auch Regierungs- und Bundesratsvertreter im Parlament mit einer Rüge oder einem Ordnungsruf (hier zunächst einmal ohne etwaige weitere Folgen) belegt werden können; es handelt sich bei diesen Personen nicht um Angehörige einer höheren Instanz, die zu kritisieren nicht statthaft wäre215 ; insbesondere beeinträchtigen die formellen Ordnungsmittel in keiner Weise deren verfassungsrechtliche Sonderstellung. Schon schwieriger gestaltet sich dies beim Sachruf, da die einschlägigen Verfassungsbestimmungen von einem jederzeitigen und sachlich-inhaltlich unbeschränkten Rederecht ausgehen. Doch auch dies bedarf - wegen der gebotenen restriktiven Auslegung - einer Einschränkung; denn durch häufige und insbesondere sachlich nicht gebotene Abschweifungen könnten die Mitglieder der anderen Staatsorgane den parlamentarischen Verhandlungsbetrieb nachhaltig stören und letztlich sogar lahmlegen. Dadurch aber wäre die Ordnungsfunktion der Geschäftsordnung direkt angesprochen. Folglich hat sich auch ein nach Art. 43 Abs. 2 GG Privilegierter grundSätzlich an die Tagesordnung und damit an den Besprechungsgegenstand zu halten, soweit nicht ein begründeter und von ihm zu begründender Ausnahmefall vorliegr 16 • Ist dies jedoch nicht der Fall, kann auch ein Regierungs- oder Bundesratsmitglied aufgrund der Geschäftsordnung zur Sache gerufC(n werden217 •

Vgl. Bücker, in: Schneider/Zeh, § 34 Rn. 52; Roll, Bundesrecht, S. 52. Röper, ZParl 22, S. 189 (191, 192); Vogler, Ordnunsgewalt, S. 50 (vor dem Hintergrund von Art. 33 Abs. 4 WRV); vgl. historische Beispiele schon bei Hatschek, Interpellationsrecht, S. 163; kritisch Perels, Reichstagsrecht, S. 96; Brentano, Parlamentspräsident, S. 68. 216 Deshalb wendet sich Röper, ZParl 22, S. 189 (193), zu Recht gegen ein "zeitlich unbeschränktes und grundsätzlich unbeschränkbares Recht der Regierung, ihren Standpunkt im Parlament darzulegen und zu verteidigen"; zu oberflächlich dagegen Maunz, in: MDHS, Art. 43 Rn. 22. 217 Vgl. Röper, ZParl 22, S. 189 (191); kritisch Amdt, Autonomie, S. 118; ablehnend Ritzel! Bücker, Handbuch, § 36, S. 1. 214

215

126

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

Am deutlichsten schließlich tritt der Konflikt zwischen dem geschäftsordnungsrechtlichen Ordnungsanspruch und der verfassungsrechtlichen Privilegierung bei Wortentzug (auch als Folge mehrerer Ordnungs- und/ oder Sachrufe) und Ausschließung zutage. Denn diese Ordnungsmittel beeinträchtigen das verfassungsrechtlich verbürgte Zutritts- und Rederechf '8 ; allerdings werden die so garantierten Rechte von Regierung und Bundesrat auf Information und Standpunktdarlegung nicht substantiell aufgehoben, wenn einem sich ungebührlich verhaltenden Mitglied dieser Organe das Wort entzogen wird2l9 • Denn das parlamentarische Ordnungsrecht betrifft die Amtsinhaber, wohingegen Art. 43 Abs. 2 GG und die entsprechenden Bestimmungen auf Länderebene - bei der gebotenen restriktiven Auslegung - nur Rechtspositionen der Gesamtorgane gewahrt wissen wilJ220. Vor diesem Hintergrund bleibt den genannten Staatsorganen als solchen die Wahrnehmung ihrer Rechte sogar dann möglich, wenn einer ihrer Vertreter wegen grober Ordnungswidrigkeit des Saales verwiesen wurde221 . c) Redeordnung

Im Anschluß an das sehr frühe Redezeiturteil des Bundesverfassungsgerichts folgert die ganz h.M. aus der verfassungsrechtlichen Redeprivilegierung, daß die darin genannten Amtswalter nicht der parlamentarischen Redeordnung - inbesondere hinsichtlich der Redezeitbeschränkungen - unterliegen 222 • Im Vergleich zum Abgeordnetenstatus sei den Regierungs- und Bundesratsvertretern ein zeitlich wie sachlich unbeschränktes und unbeschränkbares Rederecht von Verfassungs wegen garantiert; dies sei vor allem 218 Deshalb ist für Reifenberg, Geschäftsordnungen, die Unzulässigkeit von Wortentzug und Ausschließung unbestritten; Troßmann, JöR 28, S. 197, will ebenfalls keine Einschränkung von Art. 43 Abs. 2 GG zulassen; ebenso Ritzel/Bücker, Handbuch, Vorb. §§ 36-41, S. 8. 219 So auch H.-P. Schneider, in: Alternativkommentar, Art. 40 Rn. 15; im Anschluß daran Bücker, in: Schneider/Zeh, § 34 Rn. 21; a.A. Vogler, Ordnungsgewalt, S.49, der ein bloßes Kritikrecht des Präsidenten gegenüber Regierungsvertretern sieht; Achterberg/Schulte, in: MKAS, Art. 43 Rn. 72, sehen darin eine Aufhebung des Zutritts- und Rederechts. 220 Röper, ZParl 22, S. 189 (196). 221 Röper, ZParl 22, S. 189 (196); ebenso Giese, Staatsrecht, S. 134 und WRV, Art. 33 Anm. 3, vor dem Hintergrund des Art. 33 Abs.4 WRV; Amdt, Autonomie, S. 117, gestützt auf Hausrecht und Polizeigewalt; Brentano, Parlamentspräsident, S. 65, lehnt jede auch nur konkretisierende Beschränkung der Privilegierung ab und sieht deshalb hierin eine Verfassungsverletzung. 222 BVerfGE 10, 4 ff.; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 24; Besch, ebenda, § 33 Rn. 19; dazu kritisch Versteyl, in: von Münch, Art. 43 Rn. 34.

§ 8 Institutionelle Bindung

127

durch das Spannungsverhältnis zwischen den Staatsorganen Regierung und Parlament bedingt223 • Die Grenze dieses Redeprivilegs wird erst an der Mißbrauchsgrenze gesehen, die jedoch erst dann als überschritten gilt, wenn die Regierung durch dauernde Vorträge oder Belegung öffentlichkeitswirksamer (Fernseh-) Zeiten das Rednerpult "besetzt"224; außerdem wird dem Präsidenten aufgrund einer verfassungsgewohnheitsrechtlich begründeten Leitungskompetenz die Unterbrechung von Privilegierten zum Zwecke geschäftsleitender Mitteilungen gestattet225 • Schließlich soll eine Wortmeldung etwa eines Regierungsmitglieds eine Abgeordnetenrede nicht unterbrechen können, sondern nur zu einer entsprechenden Veränderung der Rednerliste führen226 ; auch kann eine solche Wortmeldung überhaupt nur während einer Debatte oder Aussprache, nicht aber etwa während einer Abstimmung, umgesetzt werden227 • Diese Ansicht verkennt jedoch wiederum sowohl den konstitutionellen Charakter des Redeprivilegs (insbesondere zugunsten des im Kaiserreich noch der Exekutive zuzurechnenden Bundesrates, bei dessen Sitzungen bis heute kein Rederecht für Abgeordnete besteht) als auch das heutige Verhältnis von Parlament und Regierung228 • So kann man nicht mehr - wie es das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich noch tut - von einem Gegenüber von (Gesamt-)Parlament und Regierung ausgehen229 ; da die Regierung im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes allein vom Vertrauen des Parlaments abhängt, können sich zwischen der Regierung und der sie tragenden parlamentarischen Mehrheit keine ernsten politischen Differenzen ergeben, ohne daß dies den Sturz der Regierung nach sich zieht. Die parlamentarische Mehrheit sieht ihre Aufgabe auch nicht mehr in einer kritischen Kontrolle der Regierung, sondern vielmehr in deren Verteidigung gegenüber der parlamentarischen Minderheit (Opposition), die folglich zumindest ganz über-

223

BVerfGE 10,4 (17 f.); Besch, in: Schneider/Zeh, § 33 Rn. 21.

BVerfGE 10,4 (18); Vonderbeck, Befugnisse, S. 64. So schon Pere/s, Reichstagsrecht, S. 96; Besch, in: Schneider/Zeh, §3 33 Rn. 21. 226 Schon das wird als "Eingriff in die Parlamentsdebatte empfunden, da dadurch ... der parlamentstypische Wechsel zwischen Rednern von Parlamentsmehrheit und Opposition gestört wird", vgl. Bericht Parlamentsreform, BT Drucks. 10/3600, S. 7. 227 So ebenfalls schon Pereis, Reichstagsrecht, S. 87; Besch, in: Schneider/Zeh, § 33 Rn. 21; Achterberg/Schulte, in: MKAS, Art. 43 Rn. 62. 228 Zeh, ZParl 17, S. 396 (399) und in: Isensee/KirchhoJ, § 43 Rn. 31; Schröder, in: Schneider/Zeh, § 53 Rn. 3; deshalb kritisch gegenüber der derzeitigen Auslegungspraxis Geisel (Landtagsvizepräsident, hier aber als Abg.), StB LT Ba.-Wü., 11. WP., 3.12.1992. 229 BVerfGE 10,4(19). 224 225

128

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

wiegend die Kontrollfunktion wahrnimme30• Deshalb stehen sich im parlamentarischen Regierungssystem nicht - wie im Konstitutionalismus oder in Präsidialdemokratien (v.a. USA) - Parlament und Regierung, sondern vielmehr Parlamentsmehrheit und Regierung einerseits und Parlamentsminderheit andererseits gegenüber. Vor diesem Hintergrund muß auch das Redeprivileg systemgerecht ausgelegt werden. So stellt das jederzeitige Zutritts- und Rederecht - wie bereits erwähnt - nur eine Grundaussage über das "ob" dar und bedeutet insofern auch keine qualitative Steigerung gegenüber dem Abgeordnetenstatus. Es soll verhindert werden, daß das Parlament die Regierung wie z.B. die Öffentlichkeit, Art. 42 Abs. 1 S. 2 GG - von seinen Verhandlungen ausschließen oder zumindest vom Rednerpult fernhalten kann231 • Aber hinsichtlich des "wie" ist - gerade vor dem Hintergrund der politischen Unterstützung durch die Parlamentsmehrheit - eine Überhöhung der Regierungsposition gegenüber der der Abgeordneten abzulehnen232 • Im Rahmen dieser restriktiven Auslegung des Redeprivilegs besteht nun die Möglichkeit einer Bindung der Regierungs- und Bundesratsvertreter an die geschäftsordnungsrechtliche Redeordnung, da sie ja durch ihre Teilnahme an den parlamentarischen Verhandlungen in den von der Geschäftsordnung normativ zu steuernden (inner-)parlamentarischen Funktionsbereich eingetreten sind. Deshalb sind die privilegierten Amtswalter auch an entsprechende Redezeitabsprachen gebunden, wobei das Parlament bei deren Festsetzung nicht gegen das Gebot der kooperativen Zusammenarbeit der Staatsorgane verstoßen darf33 • Dies ist etwa bei einer Verteilung 30% Regierung, 30% Parla230 H.-P. Schneider, in: Alternativkommentar, Art. 38 Rn. l3; Maunz/Zippelius, Staatsrecht, § 10 IV 3; Zeh, ZParl 17, S. 396 (403) spricht folgerichtig von der Regierung als "gouvernementalem Arm der Parlamentsmehrheit"; Birk, NJW 1988, S. 2521 (2522); Schäfer, Bundestag, S. 78 f.; ablehnend BVerfGE 10, 4 (19); ähnlich Troßmann, JöR 28, S. 287 f.; vgl. Besch, in: Schneider/Zeh, § 33 Rn. 27; differenzierend H.H. Klein, in: lsensee/Kirchhoj, § 40 Rn. 32; Stern, Staatsrecht, § 23 I 3a. 231 Vgl. Maunz, in: MDHS, Art. 43 Rn. 18; dies - und nicht mehr - ist der Sinn des Zutritts- und Rederechts, vgl. auch Zwischenruf Schoettle, StB BT, 5. WP., 240. S. (18.6.1969), S. l3304 D, wonach die Regierung (nur) anzuhören ist. 232 Ebenfalls kritisch gegenüber der extensiven Auslegung von Art. 43 Abs. 2 GG RitzellBücker, Handbuch, Vorb. § 35, S. 6; gegen diese Überhöhung wenden sich auch die Abgeordneten, vgl. StB BT, 5. WP. 240. S. (18.6.1969), S. 13303 A. 233 Siehe Troßmann, JöR 28, S. 42 f., der in einer geschäftsordnungswidrigen Ausübung des Rederechts bereits den Mißbrauch sieht und so zu einer mittelbaren GOBindung gelangt; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 43 Rn. 6, sieht ähnlich die Notwendigkeit einer Harmonisierung des Rederechts mit der GO-Kompetenz; auch die Bundestags(vize-)präsidenten gehen von einer Bindung (aus welchem Rechtsgrund auch immer) aus, vgl. StB BT, 6. WP., 32. S. (20.2.1970), S. 1497 D; ausdrücklich von einer GO-Bindung geht Vizepräsident Schoettle (bei einem Redebeitrag als Abg. im Rahmen der GO-Reformdebatte von 1969) aus, StB BT 5. WP., 240. S. (18.6.1969), S. l3303 D; a.A. Zeh, ZParl 17, S. 396 (403), der sich ausdrücklich

§ 8 Institutionelle Bindung

129

mentsmehrheit, 40% Parlamentsminderheit234 oder (wie im 11. Bundestag) 57% Koalition (einschließlich Regierung), 33% SPD und 9,5% Grüne (unter jeweiliger Zurechnung von Bundesratsbeiträgen)235 auch nicht der Fall. In der Praxis hält sich die Regierung zumeist schon deshalb an die entsprechenden Absprachen, weil deren Zeitüberschreitungen dann zu Lasten der sie tragenden Parlamentsmehrheit gehen, was wiederum zu Verstimmungen innerhalb des Regierungslagers führt 236. d) Berichts- und Antwortpflichten

Alle parlamentarischen Geschäftsordnungen in Deutschland sehen Fragerechte der Minderheit bzw. sogar einzelner Abgeordneter vor; dabei handelt es sich um die Kleine und Große Anfrage sowie um Fragen in der Fragestunde237 • In manchen Geschäftsordnungen ist überdies noch eine Berichtspflicht der Regierung über den Vollzug der Parlamentsbeschlüsse (meist unter Fristsetzung) und ein parlamentarisches Recht auf Einsicht von Regierungsakten verankert238 . Während das Fragerecht der Parlamentsmehrheit, deren Wille aufgrund des Mehrheitsprinzips dem Parlament insgesamt zuzurechnen ist, aus dem verfassungsrechtlichen Zitierungsrecht (vgl. Art. 43 Abs. 1 GG bzw. die entsprechenden Länderverfassungsbestimmungen239) abgeleitet wird, findet gegen eine einseitige Bindungsmöglichkeit wendet; ders., in: lsensee / Kirchhof, § 43 Rn. 13, sieht eine zu parlamentarischem Gewohnheitsrecht erstarkte Vereinbarung als Grundlage an; ähnlich Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 24. 234 Vgl. Vonderbeck, Befugnisse, S. 53. 235 Zeh, ZParl 17, S. 396 (403). 236 Zeh, ZParl 17, S. 396 (403); BM Genscher, StB BT, 6. WP., 21. S. (12.12.1969), S.799 B, beendet entsprechend eines Hinweises des amtierenden Präsidenten auf den "Zeitablauf' nach wenigen Sätzen seine Rede, obwohl er eigentlich noch Anmerkungen hatte machen wollen. 237 Vgl. §§ 100-106 GO BT, 61-64 GO LT Ba.-Wü., 68-77 GO LT Bay., 47-52 GO Abgh. Berl., 88-93 GO LT Brand., 29-30a GO BS Brem., 36-40 GO BS Hmb., 49-52 GO LT Hess., 25-28 GO LT Meckl.-Vorp., 45-49 GO LT Nds., 94-99 GO LT NRW, 85-93 GO LT Rh.-Pf., 65-60 GO LT Saarl., 58-63 GO LT Sachs., 39-42 GO LT Sachs.-Anh., 35-40 GO LT Schl.-H., 85-93 GO LT Thür. Zum historischen Hintergrund siehe Hatschek, Parlamentsrecht, S. 80-82. 238 Vgl. §§ 36, 37 GO LT Ba.-Wü., 78 GO LT Bay., 41, 46 GO Abgh. Berl., 80 GO BS Hmb., 23, 35 Abs. 1 GO LT Hess., 59 Abs. 1 GO LT Meckl.-Vorp., 34, 74 GO LT NRW, 105 GO LT Rh.-Pf., 33 GO LT Sachs., 40 Abs. 2, 76 GO LT Schl.-H. - siehe auch § 115 a.F. (bis 1980) GO BT. 239 Art. 34 Abs. 1 LV Ba.-Wü., 24 Abs. 1 LV Bay., 34 Abs. 1 LV Berl., 66 Abs. 1 9 Haug

130

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

sich auf Verfassungsebene zumindest in der Regel keine Grundlage für ein Minderheiten- oder Einzelfragereche40 • Allerdings hat sogar das Bundesverfassungsgericht die Pflicht der Regierung, auf solche Fragen zu antworten, verfassungsrechtlich bejaht; ohne die erforderliche Informationsbasis sei den Abgeordneten eine sinnvolle Mandatsausübung nicht möglich241 • Nicht zuletzt deshalb wird diese Pflicht seitens der Regierung zumindest nicht mehr abgestritten242 • Hierbei handelt es sich um einen Ausfluß des Statusrechts des Abgeordneten243 oder um ein Beispiel für Verfassungs gewohnheitsrechf44 ; denn auf das eindeutig dem Gesamtorgan - und damit der Mehrheit - zustehende Zitierrecht kann das Fragerecht nicht gestützt werden 24s • Eine entsprechende Verpflichtung der Regierung allein durch die Geschäftsordnung wäre ebenfalls nicht möglich246 ; denn wenngleich der so normativ gegebene Informationsanspruch dem Parlament bei der Erledigung seiner verfassungsrechtlichen Aufgaben hilfreich ist (etwa bei der Kontrolle der Regierung), so berührt er doch nicht die Funktionsfähigkeit der inneren parlamentarischen Arbeit. Hier handelt es sich vielmehr um ein Hinausgreifen aus dem parlamentarischen Funktions- und Machtbereich in die Zuständigkeit eines anderen Staatsorgans; dies aber ist aufgrund der Geschäftsordnung

LV Brand., 98 Abs. 2 LV Brem., 23 Abs. 1 S.3 LV Hmb., 91 S. 1 LV Hess., 10 Abs. 1 LV Nds., 45 Abs. 2 LV NRW, 89 Abs. 1 LV Rh.-Pf., 76 Abs. 1 LV Saarl., 49 Abs. 1 LV Sachs., 52 Abs. 1 LV Sachs.-Anh., 21 Abs. 1 LV Schl.-H. 240 So nur in Art. 100 Abs. 1 LV Brem., 24 Abs. 1 LV Hmb.; besonders ausführlich und verbindlich geregelt in der neuen LV Schl.-H., Art. 23; vgl. in den neuen Verfassungen der östlichen Ländern allerdings Art. 56 Abs. 2 S. 2 LV Brand., 51 Abs. 1 LV Sachs., 53 LV Sachs.-Anh. 241 BVerfGE 13, 123 (125); 57, 1 (5); 67, 100 (129); so auch Badura, in: Schneider/Zeh, § 15 Rn. 40; Weis, DVBI 1988, S. 268 (271); Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S. 106; a.A. Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 77 f. 242 Die Antwort von BM Genscher, BT Drucks. 11/2148, S. 10, kann als Anerkennung dieser Pflicht verstanden werden; Weis, DVBI 1988, S. 268 (269) weist auf die Praxis hin, wonach sich keine Bundesregierung "bisher pauschal und endgültig geweigert (hat), eine Kleine oder Große Anfrage zu beantworten". 243 H.H. Klein, in: lsensee/Kirchhof, § 41 Rn. 32. 244 Schäfer, Bundestag, S. 67, sieht das geschäftsordnungsrechtliche Interpellationsrecht als Konkretisierung des "dem parlamentarischen Regierungssystem innewohnende(n) Prinzip(s), daß die Regierung dem Parlament Rede und Antwort zu stehen habe". Dambirsch, Reichsverfassung, S. 435 f., schildert die schon im Kaiserreich stets geübte Praxis. 24S Achterberg/Schulte, in: MKAS, Art. 43 Rn. 7 f.; Amdt, Autonomie, S. 112; H.P. Schneider, in: Altemativkommentar, Art. 43 Rn. 6; Ritzel/Bücker, Handbuch, Vorb. §§ 100-106, S. 18; a.A. jedoch F. Klein, in: Schmidt-Bleibtreu/ Klein, Art. 43 Rn. 6; Stern, Staatsrecht, § 26 II 3b. 246 So schon lAband, Staatsrecht I, S. 285.

§ 8 Institutionelle Bindung

131

mangels Kompetenzgrundlage ebenso wenig möglich wie die verbindliche Ladung von Zeugen (vgl. oben S. 115 fl 47 • Folglich ist es richtig und sinnvoll, daß die Geschäftsordnungen bei den Vorschriften zu den Interpellationsrechten von keiner Antwortpflicht der Regierung ausgehen und für das Ausbleiben der Antwort nur innere Verfahrensfolgen (beispielsweise Aufsetzung auf die nächste Tagesordnung) vorsehen248 • Keine andere Beurteilung gilt für die Berichtspflicht und das Akteneinsichtsrecht; wie bei den Fragerechten handelt es sich hierbei nicht um einen Teil der (inner-)parlamentarischen Arbeit (insbesondere nicht des Verfahrens), sondern um eine Frage der Beziehungen zwischen den Staatsorganen Regierung und Parlament, genauer der wechselseitigen Rechte und Pflichten 249 • Damit aber ist die Geschäftsordnungsleitfunktion, wonach diese die Arbeit im parlamentarischen Funktionsbereich im grundgesetzlichen Sinn normativ sicherzustellen hat, nicht angesprochen. Da sich diese Arbeit auf die geschäftsordnungsrechtlichen Bindungsprobleme beschränken will, soll auf die Frage des verfassungsrechtlichen Hintergrundes dieser Geschäftsordnungsvorschriften nicht weiter eingegangen werden; gegebenenfalls würde es sich dann um deklaratorisches Geschäftsordnungsrecht handeln, dessen Rechtsgrund dann im Verfassungsrecht liegen würde. Als konstitutives Geschäftsordnungsrecht jedenfalls wären solche Vorschriften wegen Kompetenzüberschreitung rechtlich ohne Belang und hätten allenfalls politische Bedeutung2SO •

B. Parlamentsinterne und parlamentsnahe Organe und Zusammenschlüsse 1. Parlamentsinteme Organe bzw. Einrichtungen Bei den parlamentsinternen Organen bzw. Einrichtungen handelt es sich um den Parlamentspräsidenten, das Präsidium, den Ältestenrat, die Ausschüsse und die Parlamentsverwaltung. Es bedarf keiner näheren Ausführungen,

247 Vonderbeck, Befugnisse, S. 12-23; Magiera, in: Schneider/Zeh, § 52, Rn. 37; Ritzel/Bücker, Handbuch, Vorb. §§ 100-106, S. 17 f. 248 Pietzner, Evang. Staatslexikon, Sp. 1102; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 22; Schulze-Fielitz, ebenda, § 11 Rn. 75; Hatschek, Interpellationsrecht, S. 161, unterscheidet zwischen Antwort- und Reaktionspflicht (keine Antwort ist schließlich auch eine Antwort). 249 Kritisch dazu Stern, Staatsrecht, §§ 22 III 3d, der in einem "schlichten" Berichtsersuchen keinen "Eingriff in eine andere ,Gewalt'" sieht. 250 Braun, Landesverfassung, Art. 34 Rn. 12.

9*

132

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

daß alle diese Organe an der (inner-)parlamentarischen Arbeit beteiligt sind und deshalb potentiell von der Geschäftsordnungsleitfunktion, diese Arbeit zu regeln, erfaßt werden. Da alle diese Organe bzw. Einrichtungen ihre Existenzberechtigung vom Parlament ableiten, stehen der Geschäftsordnungsbindung auch keine "organhoheitlichen" Erwägungen - wie etwa bei den anderen Staatsorganen - entgegen. Alleinige Grenze der Geschäftsordnungsbindung bilden hier deshalb verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Direktermächtigungen an die jeweiligen Organe; denn hier wird eine speziellere und alleinige Kompetenz des Organs begründet, die deshalb der allgemeineren Geschäftsordnungskompetenz des Gesamtparlaments vorgeht2s1 • Der Ältestenrat ist im Bund sowie in den meisten Ländern auf Verfassungsebene nicht geregelt, bezieht also seine rechtliche Existenzgrundlage aus der Geschäftsordnung2S2 ; er kann deshalb - als geschäftsordnungsrechtliches Organ - ohne jede Einschränkung durch die Geschäftsordnung in seinen Funktionen sowie deren Ausübung gebunden werden. Die Parlamentsverwaltung wird in den Verfassungen ebenso nicht erwähnt; sie hat auch auf gesetzlicher Ebene eine nur sehr marginale Bedeutung (vgl. § 176 BBG). Dies ist auch logisch, da ihre Funktion in der dienenden Zuarbeit für parlamentarische Organe begründet ist. Deshalb unterliegt auch ihre Geschäftsordnungsbindung keinen Beschränkungen; insbesondere ergibt sich keine Einschränkung aus . der Stellung des Parlamentspräsidenten als oberste Dienstbehörde der Parlamentsverwaltung (vgl. § 176 Abs. 1 S. 3, 1. Alt. BBG). Dem insofern exekutivisch tätig werdenden Präsident wird dadurch keine Normsetzungsbefugnis eingeräumt, sondern vielmehr die Durchsetzung der - u.a. in Form der Geschäftsordnung - bestehenden Normen gegenüber der ihm unterstellten Verwaltung rechtlich ermöglicht. So sind die im Plenarsaal diensttuenden Beamten ebenso an die parlamentarische Ordnung durch die Geschäftsordnung gebunden wie einzelne Abteilungen der Verwaltung an zumindest theoretisch denkbare Aufgabenfestlegungen durch die Geschäftsordnung2S3 • Zwar ist einzuräumen, daß die Parlamentsverwaltung in den Geschäftsordnungen derzeit nur sehr geringe Beachtung findet2S4 ; aber in einigen Geschäftsordm Siehe Brentano, Parlamentspräsident, S. 70; Braun, Landesverfassung, Art. 32 (heide bezüglich des präsidialen Hausrechts). 2S2Vgl. §§6 GO BT, 15-17 GO LT Bay., 17-19 GO Abgh. Berl., 11-13 BS Hmb., 11-13 GO LT Hess., 5 GO LT Meckl.-Vorp., 19-21 GO LT NRW, 10-12 GO LT Rh.-Pr., 8 und 9 GO LT Sachs.-Anh., 10-12 GO LT Thür.; nur in Schleswig-Holstein gibt es neben den GO-Bestimmungen (§§ 7, 8) eine verfassungsrechtliche Grundlage; so skizziert die neue Landesverfassung in Art. 14 Abs. 4 und 5 Aufgaben und Zusammensetzung des Ältestenrates. 253 Kritisch hierzu Ritzel/Bücker, Handbuch, § 7, S. 11. 254 So wird - wenn überhaupt - auf die Vertretung des Präsidenten innerhalb der Verwaltung durch den Direktor und allgemein auf die Aufgaben (Unterstützung) hingewiesen; vgl. §§ 7 GO BT, 147, 148 GO LT Bay., 10 Abs. 2 GO LT Brand., 74

§ 8 Institutionelle Bindung

133

nungen wird der Direktor immerhin ermächtigt, an Ausschuß- oder Ältestenratsitzungen teilzunehmen255 • Anders sieht es beim Präsidenten und zumindest bei bestimmten Ausschüssen aus; diese Organe sind auf Verfassungsebene mit eigenen Kompetenzen bedacht worden, die durch Geschäftsordnungsrecht nicht substantiell beeinträchtigt werden dürfen. So wäre hinsichtlich des Präsidenten auf das Hausrecht und die Polizeigewalt hinzuweisen (Art. 40 Abs. 2 00), aber auch auf das jederzeitige Einberufungsrecht (Art. 39 Abs. 3 S. 2 00)256. Außerdem räumt beispielsweise das Parteiengesetz dem Präsidenten im Zusammenhang mit der Wahlkampfkostenerstattung (§§ 19, 20, 22a PartG) eine Prüfungs- und Auszahlungskompetenz ein. In der Ausübung dieser Rechte kann der Präsident von der Geschäftsordnung nicht gebunden werden, soweit nicht unmittelbar die (inner-)parlamentarische Arbeit tangiert und damit die Leitfunktion der Geschäftsordnung angesprochen ises7 • Bei den Ausschüssen ist allgemein auf das Zitierrecht (Art. 43 Abs. 1 00) und im besonderen auf die Untersuchungsausschußrechte des Verteidigungsausschusses (Art. 45a Abs. 2 00) hinzuweisen. 2. Parlamentsinteme Zusammenschlüsse a) Die parlamentarische Mehrheit (als informaler Zusammenschluß)

Der im Schwerpunkt in der Geschäftsordnung geregelte Schutz der parlamentarischen Minderheit hat gerade im parlamentarischen Regierungssystem eine ganz herausragende Bedeutung. Wie bereits erwähnt, bewirkt die Abhängigkeit der Regierung von der Parlamentsmehrheit zwischen diesen eine politisch-personelle Verzahnung, aufgrund derer die Parlamentsmehrheit höchstens nur noch sehr eingeschränkt die parlamentarische Kontrollfunktion wahrnimmt (vgl. oben S. 127 f.). Daran ändert auch der Umstand nichts, daß im ,,Regierungslager" durchaus hinter verschlossenen Türen gestritten wird; entscheidend ist die Rolle der Mehrheit im (öffentlichen) Parlament, die sich im wesentlichen auf die Regierungsverteidigung konzentriert258 • Deshalb GO BS Brern., 3 Abs.5 GO LT Meckl.-Vorp., 9 GO LT Nds., 11 Abs.2 GO LT NRW, 124 Abs. 1 GO LT Rh.-Pf., 7 GO LT Sachs.-Anh., 124 GO LT Thür. m Vgl. §§ 13 Abs. 3 GO LT Ba.-Wü., 124 Abs. 2 GO LT Rh.-Pf., 78 Abs. 2 GOGes. LT Saarl., 6 Abs. 5 GO LT Sachs. 256 Vgl. Troßmann, Parlamentsrecht, § 7 Rn. 40. 257 Vgl. Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 25. 258 Zu weitgehend Stern, Staatsrecht, § 23 I 3a, der eine "Renaissance der ,alten' Frontstellung" sieht.

134

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

kommt vor allem der Minderheit die Wahrnehmung der parlamentarischen Kontrolle und Alternativenentwicklung zu; die dafür erforderlichen Minderheitenrechte haben deshalb eine oppositionsschützende und -stärkende Wirkung259 • Doch weder diese unbestreitbare Bedeutung noch das oben festgestellte Geschäftsordnungsziel des Minderheitenschutzes können dazu führen, die Mehrheit ohne weiteres an die Geschäftsordnung zu binden; denn dies liefe auf eine Unabänderlichkeit und Erstarrung der Geschäftsordnung hinaus, die gerade dem von ihr zu regelnden dynamischen politisch-parlamentarischen Prozeß in keiner Weise gerecht werden könnte260 • Nur im Bereich des deklaratorischen Geschäftsordnungsrechts ist eine Änderung dem Geschäftsordnungsgeber entzogen, weil der Rechtsgrund hierfür auf höherer Ebene liegt261 • Doch die Bedeutung des Minderheitenschutzes hat gerade vor dem Hintergrund der damit zusammenhängenden Geschäftsordnungsleitfunktion, ein freiheitlich-parlamentarisches Verfahren zu ermöglichen, zur Folge, daß auch die in der Geschäftsordnung konstitutiv geregelten Minderheitenrechte nicht zur völligen Disposition der Mehrheit stehen. Wie bereits oben ausgeführt wurde (S. 67), handelt die Mehrheit dann unter Mißbrauch ihrer Normsetzungsgewalt und damit außerhalb der Geschäftsordnungskompetenz, wenn sie für den konkreten Einzelfall eine Geschäftsordnungsänderung herbeiführen würde; ebenso wenig kann sie von einem Minderheitenrecht abweichen, wenn dadurch die damit nicht einverstandene (nicht notwendigerweise ein Drittel der Anwesenden umfassende) Parlamentsminderheit benachteiligt würde. Insofern also ist die Mehrheit während des konkreten Verfahrens an die (minderheitenschützende) Geschäftsordnung gebunden262 • Es steht ihr jedoch frei, unabhängig von einer konkreten Situation - etwa zur Vermeidung parlamentarischer Obstruktion - Minderheitenrechte der Geschäftsordnung umzugestalten oder gar aufzuheben263 ; allerdings ist hier2S9 Auf diesen Zusammenhang weist H.-P. Schneider, Opposition, S. 238, hin; allerdings können Minderheitenrechte nicht nur als Oppositionsrechte angesehen werden, weil natürlich auch die Mehrheit sich dieser Rechte bedienen kann, vgl. ders., a.a.O., S. 242; Schäfer, Bundestag, S. 78; zu eng aber Achterberg, Parlamentsrecht, S. 592; zur Bedeutung der Opposition vor dem Hintergrund des Demokratieprinzips Besch, in: SchneiderlZeh,§ 33 Rn. 23-25. 260 Besonders eindringlich bereits Lasker, bei: Achterberg, Parlamentsrecht, S. 43 f.: "Kein Gesetz wäre imstande, in seiner starren Abgeschlossenheit Genüge zu tun den Wechselfällen, wie sie tagtäglich im Parlament vorkommen ... "; siehe außerdem Schäfer, Bundestag, S. 73. 261 Allerdings ist innerhalb der ratio höherrangiger Minderheitenrechte deren Erweiterung zulässig; insofern zu eng Ritzel/Bücker, Handbuch, § 126, S. 2. 262 Vgl. Haagen, Rechtsnatur, S. 53. 263 Arndt, Autonomie, S.78; Auf die im Schrifttum tlw. vorgenommene Unterscheidung innerhalb der Minderheitenrechte (absolute I relati ve; unbeschränkte I be-

§ 8 Institutionelle Bindung

135

bei vor dem Hintergrund der Frontstellung zwischen Mehrheit und Regierung einerseits und Minderheit andererseits als verfassungsmäßige Grenze zu beachten, daß die Minderheit (insbesondere die Opposition) in der Lage sein und bleiben muß, die Artikulations- und Kontrollrechte des Parlaments sinnvoll wahrzunehmen 264. Die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Minderheitenschutzes und der Chancengleichheit dürfen nicht verletzt werden26s . Eine solche Grenzüberschreitung ist aber auch wegen der Möglichkeit des demokratischen Mehrheitswechsels wenig wahrscheinlich; die Mehrheit von heute muß auch die Möglichkeit berücksichtigen, die Minderheit von morgen sein zu können266 . In Baden-Württemberg allerdings, wo von Verfassungs wegen eine Geschäftsordnungsänderung während der Wahlperiode nur mit 2/3-Mehrheit möglich ist, hat die Geschäftsordnung faktisch eine die Mehrheit noch stärker bindende Wirkung als etwa das formelle Gesetz. b) Fraktionen und Gruppen (als formale Zusammenschlüsse) Bei den Fraktionen bzw. Gruppen handelt es sich um innerparlamentarische Zusammenschlüsse von Abgeordneten mit "gleichgerichteten politischen Zielen" (§ 10 Abs. 1 GO BT?67. Diese politische Übereinstimmung wird in aller Regel durch die Zugehörigkeit zur gleichen politischen Partei festgestellt, weshalb die Fraktionen auch als Repräsentanten der Parteien im Parlament bezeichnet werden 268 . Diese Zusammenschlüsse sind stark formalisiert; so gibt es neben der Mitgliedschaft meist einen Gaststatus, und die

schränkte) kommt es hier nicht an; vgl. H.-P. Schneider, Opposition, S. 237 -241; Troßmann, Parlamentsrecht, Vor §§ 16-22, Rn. 8-17; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 591, der den "Erkenntniswert solcher Unterscheidungen" als gering ansieht. 264 Schäfer, Bundestag, S. 85, spricht hier ganz deutlich von der Minderheit als "Motor des parlamentarischen Geschehens"; siehe auch BVerfGE 70, 324 (LS 7, 363); für eine Änderbarkeit ohne Einschränkungen Stein, Staatsrecht, S. 42; zu den Aufgaben der Opposition (ähnlich den klassischen Aufgaben des Gesamtparlaments) siehe Maunz/Zippelius, Staatsrecht, § 10 IV 3. 265 Vgl. H.-P. Schneider, Opposition, S. 240; Zeh, in: lsensee/Kirchhof, § 42 Rn. 23; Amdt, Autonomie, S. 78; Scherer, ÄöR 112, S. 189 (205, 208 f.) weist dankenswerterweise daraufhin, daß erst unter dem GG eine Absicherung der GO-Minderheitenrechte erfolgt ist; der Gedanke der völligen Freiheit der Mehrheit (als "Herrin des Verfahrens") entspringt konstitutionellem Gedankengut. 266 Vgl. Zeh, ZParl 17, S.396 (397); Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S. 121; differenzierend Achterberg, Parlamentsrecht, S. 592. 267 Vgl. Achterberg, Parlamentsrecht, S. 274. 268 Altmann, DÖV 1956, S. 751 (753).

136

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

Willensbildung innerhalb der Fraktionen bzw. Gruppen ist - durch entsprechende Geschäftsordnungen - geregelt. Die Fraktionen (und Gruppen) stehen daher als parteipolitische Untergliederung des jeweiligen Parlaments mitten im parlamentarischen Funktionsbereich; innerhalb des parlamentarischen Verfahrens nehmen die Fraktionen eine zunehmend wichtige Funktion ein. Weil sie durch die Mediatisierung des einzelnen Abgeordneten269 eine erhebliche Bündelung und Konzentration nicht nur der politisch-inhaltlichen, sondern auch der verfahrensmäßigen Parlamentsarbeit bewirken, sind sie in der Geschäftsordnung Anknüpfungspunkt für die meisten Verfahrensrechte270 • Als zentrale Verfahrensgröße und Organisationseinheit kann die Fraktion (und ebenso die weniger bedeutende Gruppe) - unabhängig von ihrem (umstrittenen) rechtlichen Charakter271 - Träger von durch konstitutives Geschäftsordnungsrecht geschaffenen Rechten und Pflichten sein. Diese Geschäftsordnungsbindung findet allerdings ihre Grenze an den allgemeinen Verfassungsgrundsätzen des Gleichheitssatzes, des Willkürverbots und des Minderheitenschutzes272 • Außerdem genießen die Fraktionen und Gruppen als parteipolitische Abgeordnetenzusammenschlüsse auch den Schutz des Art. 21 GG und des freien Mandats 273 ; deshalb ist die Geschäftsordnung auch nicht Rechtsgrund für die Existenz von Fraktionen. Allerdings folgt hier aus der Selbstorganisationsfunktion der Geschäftsordnung, daß die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Fraktion mit für diese verbindlicher Wirkung in der Geschäftsordnung festgelegt werden können und auch tatsächlich normiert sind. Ein theoretisch denkbares Agieren außerhalb des parlamentarischen Funktionsbereichs entzieht sich einer Regelung durch die Geschäftsordnung, da

BVerfGE 10, 4 (15). BVerfGE 10, 4 (14), nennt die Fraktionen "notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens"; in BVerfGE 80, 188 (LS 3b, 219) werden sie gar als "politisches Gliederungsprinzip für die Arbeit des Bundestages" und "maßgebliche Faktoren der politschen Willensbildung" bezeichnet; Amdt, Autonomie, S. 38, weist auf die Bedeutung der Fraktionen für die Arbeitsfähigkeit des Parlaments hin; vgl. auch Badura, in: Schneider/Zeh, § 15 Rn. 49; Zeh, in: Isensee/Kirchhof, § 42 Rn. 6; Schäfer, Bundestag, S. 68 f.; Smend, Abhandlungen, S. 62 f., warnt vor einer verfahrensrechtlich "unbeschränkte(n) Herrschaft (der Fraktionen) über Organisation und Verfahren des Parlaments". 271 Zu diesem Streit vgl. Scherer, AöR 112, S. 189 (197 ff.); Zeh, in: Isensee/ Kirchhof, § 42 Rn. 7 f.; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 275 ff.; übersichtlich Braun, Landesverfassung, Art. 34 Rn. 30. 212 BayVfGH 29 11 62 (LS 11 2). 273 Auf den Zusammenhang mit Art. 21 GG weist auch das BVerfG hin, BVerfGE 10, 4 (14); zu Art. 38 Abs. 1 GG siehe BVerfGE 80, 188 (LS 3b, 220); vgl. außerdem Scherer, AöR 112, S. 189 (200); Zeh, in: Isensee/Kirchhof, § 42 Rn. 6. 269

270

§ 8 Institutionelle Bindung

137

hierbei weder die Verfahrenssicherung noch die Selbstorganisation (beides innerparlamentarisch verstanden) tangiert sind. Allerdings könnten die Fraktionen - insofern vergleichbar dem außerparlamentarischen Organverhältnis der Abgeordneten - bei Aktivitäten mit Bezug auf die parlamentarische Arbeit (beispielsweise ,,Anhörungen" durch Fraktionen)274 von Geschäftsordnungsvorschriften gebunden werden, soweit die Geschäftsordnungsleitfunktion tangiert ist. In der Praxis werden durch die Geschäftsordnung den Fraktionen nur wenige Pflichten (Anzeige der Bildung, der Bezeichnung, der Namen von Vorsitzenden, Mitgliedern und Gästen) auferlegt; zumeist treten sie als Inhaber von Rechten auf, die nicht etwa im Umkehrschluß zu Pflichten umgedeutet werden können275 •

3. Parlamentsnahe Institutionen a) Wehrbeauftragter

Beim Wehrbeauftragten handelt es sich - auch - um ein Hilfsorgan des Bundestages (Art. 45b S. 1 GG); damit kann einer eventuellen Geschäftsordnungsbindung nicht - wie etwa bei der Regierung - mit dem Argument begegnet werden, es handele sich bei ihm um ein fremdes, womöglich formal gleichrangiges Staatsorgan. Besonders augenfällig wird dies durch den Umstand, daß dem Bundestagspräsidenten die Ernennung und Entlassung des Wehrbeauftragten obliegt (§ 15 Abs. 1 WBeauftrG)276. Die Hilfsorganqualität hat außerdem zur Folge, daß der Wehrbeauftragte in dieser dem Parlament zuarbeitenden Funktion durch die Geschäftsordnung gebunden werden kann; diese Bindung hat ihre Grenze erst dort, wo der parlamentarische Funktionsbereich nicht mehr betroffen ist. So könnte beispielsweise nicht durch die Geschäftsordnung Einfluß darauf genommen werden, wie er etwaige Grundrechtsverletzungen innerhalb der Bundeswehr beim Bundesminister der Verteidigung bzw. den ihm nachgeordneten Stelle,p geltend macht. Aber soweit er den Bundestag bei dessen Kontrolle der Regierung - insbesondere des Bundesverteidigungsministeriums - unterstützt, tritt er in den parlamentarischen Funktionsbereich ein. Hier kann er durch die Geschäftsordnung gebunden werden, also etwa schriftliche Berichtspflichten auferlegt bekommen; der von § 5 Abs. 1 WBeauftrG genannten Richtlinienkompetenz bedarf es in diesem Bereich - im Gegensatz zum oben genannten Außenbereich - folglich

214 Nicht zu verwechseln mit öffentlichen Anhörungen durch Ausschüsse im Sinn von § 70 GO BT. 215 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 295. 276 Vgl. Stern, Staatsrecht, § 26 IV 2d.

138

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

gar nicht (die verfassungsrechtliche Geschäftsordnungskompetenz ist hier vorrangig). Soweit er unmittelbar an der parlamentarischen Arbeit - im Plenum, aber auch im Verteidigungsausschuß - mitwirkt, unterliegt er erst recht den für diese Arbeit geltenden Regeln. So wird er durch § 115 Abs. 1 GO BT berechtigt und verpflichtet, nach einer entsprechenden Worterteilung durch den Präsidenten im Plenum seine Berichte zu erläutern und insbesondere auf vorgetragene Kritik und Fragen einzugehen; dabei handelt es sich auch nicht um eine Reflexwirkung des (gesetzlichen) Zitierungsrechts (§ 6 WBeauftrG)277. Dieses vom Antrag einer Fraktion oder von 5% der anwesenden Abgeordneten abhängige Rederecht könnte auch ohne diese Voraussetzungen in der Geschäftsordnung verankert werden, da es von der Geschäftsordnungsleitfunktion getragen wäre278 • Denn beim Wehrbeauftragten handelt es sich um ein durch Verfassung und Gesetz dem Parlament zur Erfüllung seiner Aufgaben zugewiesenes Hilfsorgan. Außerdem könnte die Bundestagsgeschäftsordnung ohne weiteres mit einfacher Mehrheit wieder geändert werden (und überdies von ihr abgewichen werden), so daß auch dann das Rederecht vom Willen des Parlaments abhängig bliebe. Des weiteren unterliegt er auch dem parlamentarischen Ordnungsrecht; dies ergibt sich aus der bereits begründeten funktionalen Adressatenbestimmung zur Erfüllung der Ordnungsaufgabe279 • b) Datenschutzbeauftragter

Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz ist - im Gegensatz zum Wehrbeauftragten - nicht verfassungsrechtlich, sondern nur einfachgesetzlich (v.a. §§ 22 - 26 BDSG) vorgesehen. Außerdem ist seine Funktion lange nicht so intensiv auf die Unterstützung des Parlaments hin angelegt. Aus dem Bundesdatenschutzgesetz ist zu ersehen, daß die Prüfungs- und Beanstandungsfunktion gegenüber den das Gesetz mißachtenden Behörden im Vordergrund steht (§§ 24, 25 BDSG); die Hilfsfunktion gegenüber dem Parlament ist nur eine "weitere Aufgabe" (vgl. Überschrift § 26 BDSG). In institutioneller Hinsicht ist darauf hinzuweisen, daß der Bundesbeauftragte zwar vom Parlament gewählt, vom Bundespräsidenten jedoch ernannt bzw. entlassen wird (§§ 22 Abs. 1 S. 1 und 3, 23 Abs. 1 BDSG); außerdem untersteht er der Dienstaufsicht des Bundesministers des Innern bzw. der Rechtsaufsicht der Bundesregierung (§ 22 Abs. 5 S. 1 und 2, Abs. 4 S. 3 BDSG). Nach alledem han-

m So aber Bücker, Schellknecht-FS, S. 42. 278

Vgl. Vonderbeck, Befugnisse, S. 70, zur Rechtfertigung der Redepflicht des

279

Vgl. oben A.3.b. (S. 119 ff.); a.A. Troßmann, Parlamentsrecht, § 116 Rn. 1.

Wehrbeauftragten.

§ 8 Institutionelle Bindung

139

delt es sich beim Bundesbeauftragten für den Datenschutz um kein dem Parlament direkt untergeordnetes Hilfsorgan, sondern um ein verselbständigtes Kontrollorgan der Exekutive (vgl. § 22 Abs. 4 S. 2 BDSG)280. Allerdings hat der Bundesbeauftragte neben einer regelmäßigen Berichtspflicht das gesetzliche Recht, sich jederzeit an den Bundestag zu wenden281 ; ebenso kann er vom Bundestag zur Erstellung von Gutachten bzw. zur Überprüfung bestimmter Vorgänge ersucht werden (§ 26 Abs. 1 und 2 BDSG). Es besteht also eine gewisse Ebene der Zusammenarbeit; in diesem Rahmen unterstützt der Bundesbeauftragte das Parlament bei der Wahrnehmung dessen Kontrollfunktion gegenüber der Regierung. Deshalb ist er dann - auf gesetzliche Anordnung - im parlamentarischen Funktionsbereich tätig, in dem er - wie alle anderen staatlichen und nichtstaatlichen Stellen und Personen - der Geschäftsordnungsbindung (also vor allem Redeordnung und Ordnungsrecht) unterworfen ist, soweit deren Leitfunktion angesprochen ist. Dies ist dann der Fall, wenn der Bundesbeauftragte an der parlamentarischen Arbeit mitwirkt, etwa also im Plenum oder in einem Ausschuß (v.a. Petitionsausschuß) seine Gutachten vorträgt bzw. erläutert. Gegen ein geschäftsordnungsrechtlich eingeräumtes Rederecht bestehen ebenfalls - aus den beim Wehrbeauftragten genannten Gründen - keine Bedenken282 ; eine Redepflicht jedoch wäre wegen der selbständigen Stellung gegenüber dem Parlament nicht durch die Geschäftsordnung zu begründen 283 . Aus diesem Grund ist auch ein ausschließlich auf die Geschäftsordnung gestütztes Zitierrecht gegenüber dem Bundesbeauftragten nicht möglich (vgl. § 31a Abs. 2 GO LT Ba.-Wü.i84 .

Vonderbeck, Befugnisse, S. 71 f. Vonderbeck, Befugnisse, S. 70, geht allerdings nur von einem schriftlichen Vortragsrecht aus, weil es für ein Rederecht an der dafür erforderlichen Deutlichkeit im Gesetz fehlt. 282 So auch Vonderbeck, Befugnisse, S. 73 f.; aus Art. 43 Abs.2 GG könnte ein Rederecht jedenfalls nicht abgeleitet werden, weil der Bundesbeauftragte - obwohl Organ der Exekutive - in seiner Amtsführung unabhängig ist, vgl. Vonderbeck, a.a.O., S. 71 f. 283 Vonderbeck, Befugnisse, S. 74. 284 An einer gesetzlichen Grundlage für die GO-Vorschrift fehlt es; insbesondere enthält § 27 LDSG kein Anhaltspunkt für eine Präsenzpflicht. Ein entsprechendes Zitierrecht gegenüber dem Datenschutzbeauftragten findet sich auch in 32 Abs. 3 GO LT Sachs. 280

281

140

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung c) Rechnungshof

Eine - sowohl vom Parlament als auch von der Regierung - noch unabhängigere Stellung genießt der als selbständiges Staatsorgan geschaffene Rechnungsho(l8s; wie der Wehrbeauftragte ist er verfassungsrechtlich verankert (Art. 114 Abs. 2 GG). Er hat - wie die vorgenannten Einrichtungen neben anderen Aufgaben ebenfalls eine Unterstützungsaufgabe gegenüber dem Parlament bei der Wahrnehmung dessen Kontrollfunktion286 . Dabei ist der Rechnungshof nicht auf die verfassungsrechtliche Berichtspflicht beschränkt, sondern kann und soll seine umfassenden Prüfungserfahrungen bereits in die Haushaltsplanung miteinbringen; deshalb nehmen Rechnungshofmitglieder häufig an den Beratungen des Haushaltsausschusses teiJ287. Dies ergibt sich aus der auf Bundesebene in § 88 Abs. 2 BHO statuierten Beratungspflicht gegenüber dem Bundestag288 . Einzelne Landtagsgeschäftsordnungen sehen sogar ausdrücklich ein Zutrittsrecht und die Redemöglichkeit von Rechnungshofmitgliedern mindestens in Ausschüssen (§ 31a Abs. 1 GO LT Ba.-Wü.) oder darüber hinaus bei (sogar nichtöffentlichen) Plenarsitzungen (§ 111 GO LT Rh.-Pf.) vor; in diesen Vorschriften wird - ohne daß es eine entsprechende Grundlage auf gesetzlicher Ebene gäbe289 - sogar eine Erscheinens- und Äußerungspflicht von Rechnungshofmitgliedern auf ein entsprechendes Verlangen der Ausschüsse (in Rheinland-Pfalz auch des Plenums) statuiert290 . Wegen der institutionellen Selbständigkeit des Rechnungshofes kann seinen Mitgliedern eine solche Präsenz- bzw. Mitwirkungspflicht nicht durch die Geschäftsordnung verpflichtend auferlegt werden; hierbei handelt es sich um ein unzulässiges Hinausgreifen in den Außenbereich. Soweit aber der Rechnungshof im 285 § 1 S. 1 BRHG billigt dem Bundesrechnungshof den Status als oberste Bundesbehörde zu. 286 Stern, Staatsrecht, § 23 I 1, spricht deshalb - zu weitgehend - den Rechnungshof neben dem Wehrbeauftragten als "Hilfsorgan (des Parlaments) zur Erfüllung seiner Aufgaben" an; vgl. ders., a.a.O., § 34 IV, zum Einordnungsstreit. 287 Zunker, Handbuch des politischen Systems, Art. "Bundesrechnungshof', S. 109 f. 288 Vgl. zur Bedeutung dieser Beratung Troßmann, ]öR 28, S.71 f.; Durch die Reform des Art. 114 GG 1968/69 wurde der Bundesrechnungshof auf eine entsprechende Initiative des Rechtsausschusses dem Parlament angenähert, vgl. Stern, Staatsrecht, § 34 I 3c; Maunz, in: MDHS, Art. 114 Rn. 57. 289 In Baden-Württemberg enthält das RechnungshofG hierzu keine Anhaltspunkte; § 88 Abs. 3 LHO sieht lediglich eine Pflicht der Gutachtenerstattung vor, nicht aber eine Präsenzpflicht. 290 Siehe auch § 32 GO LT Sachs.; ebenso § 80 GO-Ges. LT Saarl., das hier aber als Beispiel deshalb untauglich ist, weil die Gesetzesform gewählt wurde.

§ 9 Bindungswirkung bezüglich parlamentarischer Entscheidungen

141

parlamentarischen Funktionsbereich auftritt und insbesondere durch beratende Redebeiträge im Ausschuß an der parlamentarischen Arbeit mitwirkt, ist er an die Geschäftsordnungsvorschriften gebunden. Denn die von der Verfassung dem Parlament eingeräumte Geschäftsordnungskompetenz ist hinsichtlich ihrer Adressatenbindung - wie bereits mehrfach festgestellt - funktional zu verstehen; die Geschäftsordnung kann die ihr gestellten Aufgaben nur sinnvoll wahrnehmen, wenn alle an der parlamentarischen Arbeit Beteiligten normativ eingebunden sind291 •

§ 9 Bindungsauswirkungen bezüglich parlamentarischer Entscheidungen A. Problemdarstellung Nach der Untersuchung der zeitlichen, personellen und institutionellen Bindung soll nun der Frage nachgegangen werden, ob und gegebenenfalls mit welchen Folgen sich die Nichteinhaltung der Geschäftsordnung auf die dadurch zustandegekommenen parlamentarischen Entscheidungen auswirkt. Insbesondere geht es darum, ob der Geschäftsordnung im parlamentarischen Verfahren dergestalt eine normative Bindungskraft zukommt, daß geschäftsordnungswidrig gefaßte Beschlüsse rechtswidrig und womöglich nichtig sind. Einigkeit besteht in dieser Frage zumindest insoweit, daß Verstöße gegen deklaratorisches Geschäftsordnungsrecht - und damit gegen höherrangiges Recht - immer zur Rechtswidrigkeit und Unwirksamkeit der bei diesem Verfahren zustandegekommenen Beschlüsse führen292 • Kontrovers wird jedoch diskutiert, welche Folgen Verstöße gegen konstitutives Geschäftsordnungsrecht haben; die überwiegende Meinung hält derartige Verstöße für folgenlos, insbesondere sollen sie keine Ungültigkeit der so getroffenen Parlamentsentscheidungen nach sich ziehen293 • Diese Ansicht ist schon deshalb fragwürdig, weil sie der - vom ganzen Schrifttum einhellig anerkannten (auch normativen) Bedeutung der Geschäftsordnung nicht Rechnung trägt;

29\ Im Saarland sieht § 80 Abs. 2 GO-Ges. LT ausdrücklich die Erstreckung des Ordnungsrechts auf die Rechnungshofmitglieder vor. 292 Lechner/Hülshojf, Parlament, S. 186; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 42; Rösch, Geschäftsordnung, S. 61 f.; Rothaug, Leitungskompetenz, S.70; Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 551. 293 So bei Gesetzen Versteyl, in: von Münch, Art. 40 Rn. 18; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 70; allgemein Jellinek, Schriften und Reden H, S. 268; hess. StGH, DVBI 1967, S. 83; Schweitzer, NJW 1956, S. 84 (87); Badura, Staatsrecht, S. 314 f.

142

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

wenn gegen allgemein anerkanntes objektives Recht - wobei es sich bei der Geschäftsordnung handelt - verstoßen wird, hat dies zumindest die Folge der Rechtswidrigkeit. Nur in durch höhere Ziele zu begründenden Fällen bleibt die WIrksamkeit davon unberührt; so sind beispielsweise rechtswidrige Verwaltungsakte (bis zu einer behördlichen Rücknahme bzw. gerichtlichen Aufhebung) aus Gründen der Rechtssicherheit rechtsgültig. Der von der h.M. vorgetragene Hinweis, bei der Geschäftsordnung handele es sich um bloßes Innenrecht, löst dieses Problem noch nicht294 • Denn Verstöße gegen eine Geschäftsordnung, die einen freiheitlich-demokratischen Parlamentarismus ermöglichen soll, müssen auch bei einer Verletzung konstitutiven Geschäftsordnungsrechts zumindest grundsätzlich Konsequenzen nach sich ziehen. Außerdem geht die h.M. in keiner Weise auf den Wirkungsbereich des Beschlusses ein; insbesondere unterscheidet sie nicht zwischen parlamentarischen Entscheidungen mit und ohne Außenwirkung, weshalb die Ansicht der generellen Unbeachtlichkeit von Verstößen gegen konstitutives Geschäftsordnungsrecht abzulehnen ist295 • Die nachfolgende Untersuchung differenziert zwischen einer Außen- bzw. Innenwirkung der geschäftsordnungswidrig zustandegekommenen Beschlüsse296 ; die Begriffe "außen" und ,,innen" werden dabei - wie in der ganzen Arbeit - nicht personal, sondern funktional aufgefaßt. Nicht berücksichtigt werden jedoch solche Entscheidungen, die das Parlament nicht (allein) als Volksvertretung trifft, sondern die von einem das Parlament nur beinhaltenden organisatorischen Gebilde gefällt werden; hier wären z.B. die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, die zur Hälfte aus den Bundestagsabgeordneten besteht, oder Vorschläge des Vermittlungsausschusses zu nennen. Denn dabei handelt es sich rechtlich nicht mehr um das Parlament, sondern um andere Organe297 •

Vgl. Criegee, Ersuchen, S. 54 f. Zumindest "Vorbehalte" gegen die h.M. macht Seifert, in: Seifert/Hömig, Art. 40 Rn. 3, geltend; ebenso kritisieren Lechner/Hülshojf, Parlament, S. 186, die h.M., sie werde in ihrer Allgemeinheit "vielen wichtigen Bestimmungen der GO nicht gerecht"; siehe auch Stern, Staatsrecht, § 26 III 6e. 296 Ansätze dieser Unterscheidung bei Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 42. 297 Vgl. Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 23. 294

295

§ 9 Bindungswirkung bezüglich parlamentarischer Entscheidungen

143

B. Parlamentarische Entscheidungen mit Außenwirkung 1. Begriff und Beispiele a) Begriff

Bei den parlamentarischen Entscheidungen, die (Rechts-)Wirkungen (auch) über den parlamentarischen Funktions- und Machtbereich hinaus erzielen, handelt es sich um solche mit Außenwirkung. b) Beispiele

Dabei geht es vor allen Dingen um sowohl einfache wie auch verfassungsändernde Gesetzesbeschlüsse, die sich untereinander verfahrensmäßig lediglich durch die von der Verfassung festgelegten Mehrheitserfordernisse unterscheiden. Ebenso sind hierzu die Kreationsakte zu zählen, also die Wahl von Amtsträgem in anderen Verfassungsorganen; dies betrifft vor allem die Wahl des Regierungschefs, in einigen Ländern jedoch außerdem die Wahl bzw. Bestätigung der einzelnen Minister bzw. des Gesamtkabinetts298 ; aber auch die Wahl anderer Amtsträger - etwa eines Teils der Richter des Bundesverfassungsgerichts - gehört dazu. Sogar die Wahl des Wehrbeauftragten als parlamentarisches Hilfsorgan geht über den parlamentarischen Funktionsbereich hinaus, weil es sich bei ihm trotz aller Zuordnung zum Parlament um ein selbständiges Organ handelt; er agiert zwar vor allem innerhalb des parlamentarischen Funktionsbereichs, aber eben auch darüber hinaus (Schutz der Grundrechte, vgl. Art. 45b GO). Schließlich gibt es auch eine große Zahl sogenannter schlichter Parlamentsbeschlüsse; sowohl bei den förmlichen wie bei den nichtförmlichen dieser Beschlüsse gibt es solche, die ihre Wirkungen nur innerhalb des parlamentarischen Funktionsbereichs entfalten als auch solche, die darüber hinausgehen. Zu den - hier zu untersuchenden - letzteren zählen in förmlicher Hinsicht beispielsweise Wahlprüfungsentscheidungen, Petitionsbescheide, der Ausschluß der Öffentlichkeit, die Feststellung des Verteidigungsfalles, die Entscheidung über die Anklage des Bundespräsidenten oder der Beschluß über eine vom Regierungschef gestellte Vertrauensfrage299 • Ebenso gehört

298 Vgl. etwa Art. 46 Abs. 3 und 4 LV Ba.-Wü., 41 Abs. 2 LV Bed., 107 Abs. 2 LV Brem. 299 Vgl. Magiera, Staatsleitung, S. 210 f., der jedoch die Wllhlprüfung als innere

144

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

der Beschluß über die Ausübung des Zitierungsrechts gegenüber der Regierung hierher, da es sich dabei - wie bereits dargelegt - um ein Hinausgreifen in den Außenbereich handelt. Bei den nichtförmlichen schlichten Parlamentsbeschlüssen mit Außenwirkung sind vor allem die - verfassungs- oder einfachgesetzlich nicht vorgesehenen - Ersuchen an die Regierung zu erwähnen, außerdem Resolutionen, die unter Umständen die Regierung in ihrem politischen Handeln binden können3OO •

2. Folgen bei Zustandekommen entgegen konstitutivem Geschäftsordnungsrecht

Allen diesen genannten parlamentarischen Entscheidungen ist die Außen wirkung über den parlamentarischen Funktions- und Machtbereich gemeinsam; sie konstituieren, regeln oder bewirken Rechtsstellungen, Rechte bzw. Pflichten für andere Organe oder Personen. Vielfach haben diese jedoch keinen Einblick in den parlamentarischen Innenbereich; es ist daher ein Gebot der aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Rechtssicherheit, daß diese Rechtsstellungen, Rechte bzw. Pflichten von der Einhaltung innerparlamentarischer Rechtssätze nicht abhängen können301 • Andererseits hat die Geschäftsordnung von Verfassungs wegen die Funktion, ein freiheitlich-demokratisches Parlaments verfahren sicherzustellen; dadurch kommt ihr innerhalb der Verfassungsordnung eine große Bedeutung zu. Dieser Gegensatz ist so aufzulösen, daß Verletzungen konstitutiven Geschäftsordnungsrechts aus Gründen der Rechtssicherheit bei Beschlüssen mit Außenwirkung grundSätzlich nicht zur Ungültigkeit führen; wenn aber im Rahmen des Geschäftsordnungsverstoßes - ohne daß zugleich Verfassungsrecht verletzt ist - das grundgesetzlich intendierte Parlamentsverfahren nicht mehr gesichert ist, muß dieser Beschluß mit Außenwirkung ungültig und nichtig sein302 • Dies läßt sich auch

Angelegenheit ansieht; dies ist aber wegen der Betroffenheit der hinter dem Organwalter stehenden Privatperson (vgl. oben) nicht zutreffend. 300 Übersichtlich zu den verschiedenen Beschlußarten Kretschmer, in: Schneider/ Zeh, § 9 Rn. 64; ebenso Klein, JuS 1964, S. 181 (183); siehe auch Criegee, Ersuchen, S.5 ff.; zur Zulässigkeit der Resolutionen Magiera, Staatsleitung, S. 213-216; zu deren Verbindlichkeit Klein, a.a.O., S. 186-190; ders., Weber-FS, S. 112-116, 122 ff., anband der Gemeinsamen Entschließung des Bundestages und Bundesrates vom 19.5.1972 zu den Ostverträgen; P. Kirchhof, BVerfG und GO 11, S. 77; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 738-747; kritisch BVerwGE 12, 16 (17 -20). 301 Stern, Staatsrecht, § 26 III 6e. 302 Ähnlich Magiera, Staatsleitung, S. 124 f.; Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S. 129 f.; H.-P. Schneider, in: Altemativkommentar, Art. 40 Rn. 10; zu eng Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 126 (zur Regierungs-GO), der bei der Verletzung

§ 9 Bindungswirkung bezüglich parlamentarischer Entscheidungen

145

dadurch rechtfertigen, daß aufgrund der Öffentlichkeit der parlamentarischen Verhandlungen außenstehende Personen und Institutionen die Möglichkeit zur Informationsbeschaffung haben. Die nicht zu bestreitende Schwierigkeit, diesen Fall der Gefährdung des freiheitlich-demokratischen Parlamentsverfahrens im einzelnen zu bestimmen, steht dieser Lösung in der Sache nicht entgegen.

c. Parlamentarische Entscheidungen mit (bloßer) Innenwirkung 1. Begriff und Beispiele a) Begriff

Die parlamentarischen Entscheidungen mit Innenwirkung erzeugen nur (Rechts-) Wirkungen innerhalb des parlamentarischen Funktions- und Machtbereichs. b) Beispiele

Solche Entscheidungen umfassen verfahrensregelnde Beschlüsse wie z.B. die Genehmigung der vom Ältestenrat vorgeschlagenen Tagesordnung, aber auch die Wahl parlamentsinterner Organe. Hierzu gehören vor allem der Präsident, seine Vertreter, die Ausschußvorsitzenden oder vom Gesamtplenum zu bestimmende besondere Gremien. Außerdem sind in diesem Zusammenhang alle Entscheidungen bezüglich des konstitutiven Geschäftsordnungsrechts selbst zu nennen, also Abweichungen, Auslegungsbeschlüsse oder gar die Änderung bzw. der Neuerlaß der Geschäftsordnung; da das gesamte konstitutive Geschäftsordnungsrecht in seiner Geltung auf den funktionellen Innenbereich beschränkt ist, können alle im Zusammenhang mit ihm getroffenen Entscheidungen über diesen Bereich nicht hinausreichen. Auswirkungen auf andere Personen oder Organe innerhalb des parlamentarischen Funktionsbereichs stellen ja gerade keine Außenwirkungen im Sinn der funktionalen Bereichsabgrenzung dar. Schließlich sind auch schlichte nichtförmliche Parlamentsbeschlüsse mit Innenwirkung möglich, so etwa Arbeitsaufträge an innerparlamentarische Organe (v.a. an Ausschüsse)303.

grundlegender GO-Vorschriften auf einen Verfassungs verstoß rekurriert; ähnlich auch Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 551; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 70. 303 Vgl. Klein, JuS 1964, S. 181 (183 ff.); Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 64. 10 Haug

146

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

2. Folgen bei Zustandekommen entgegen konstitutivem Geschäftsordnungsrecht

Wie bereits mehrfach festgestellt wurde, ist es gerade die von der Verfassung der Geschäftsordnung übertragene Aufgabe, den parlamentarischen Funktions- und Machtbereich normativ mit dem Ziel zu steuern, daß eine freiheitliche und demokratische Parlamentsarbeit möglich und gesichert ist. Das bedeutet, daß der Geschäftsordnung im funktional verstandenen Innenbereich die gleiche Aufgabe zukommt wie dem allgemeinen (Gesetzes-)Recht im Außenbereich. Dies wiederum hat mit Blick auf den objektiv-normativen Charakter der Geschäftsordnung zur Folge, daß im Innenbereich das konstitutive Geschäftsordnungsrecht uneingeschränkt zu beachten ist; zumindest soweit nicht im Rahmen des Zulässigen von der Geschäftsordnung abgewichen wurde. Da hier außerdem keine außerparlamentarischen Rechtspositionen, Rechte bzw. Pflichten tangiert werden, kann die durch den Geschäftsordnungsverstoß (immer) begründete Rechtswidrigkeit nicht durch das Rechtssicherheitsargument zugunsten der Wirksamkeit zurückgestellt werden, sondern führt automatisch zur Ungültigkeit bzw. Nichtigkeit der dadurch zustandgekommenen parlamentarischen Entscheidung304 •

§ 10 Durchsetzungsprobleme A. Vorbemerkung Im Zusammenhang mit den Zweifeln am Charakter der Rechtsnatur der Geschäftsordnung (vgl. oben S. 44) wurde bereits auf die unbestrittenen Schwächen der Geschäftsordnungsbindung hingewiesen; wie dort jedoch bereits festgestellt wurde, ist es dem Charakter einer Rechtsnorm nicht immanent, in jedem Fall erzwungen werden zu können 30s •

304 Vgl. Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 43, der zwar auch zwischen "innen" und "außen" (allerdings wohl nur personell) unterscheidet, aber trotzdem sogar beim (engen) Innenbereich zur Unbeachtlichkeit von GO-Verstößen gelangt. 305 Vgl. F. Kirchhof, Rechtsetzung, S. 59, der zwischen faktischer und normativer Geltung unterscheidet.

§ 10 Durchsetzungsprobleme

147

B. Abweichungen 1. Anwendungsbereich a) Mehrheitserfordernis Beinahe jede parlamentarische Geschäftsordnung sieht eine Regelung vor, aufgrund derer von der Geschäftsordnung im Einzelfall - also ohne jede präjudizierende Wirkung306 - abgewichen werden kann307 • Während auf Reichs- bzw. Bundesebene bis 1951 noch Einstimmigkeit (bzw. Ausbleiben eines Widerspruchs) dafür verlangt wurde, sind inzwischen die meisten Parlamente mit dem Bundestag dazu übergegangen, ein erhöhtes Widerspruchsquorum zu verlangen oder die 2/3-Mehrheit ausreichen zu lassen; einige Landtage können sogar bereits mit einer einfachen Mehrheit von ihrer Geschäftsordnung abweichen308 • Diese Herabsetzungen des Mehrheitserfordernisses, die aus praktischen Gründen geboten waren, haben freilich die Anwendung dieses Instituts erleichtert. b) Recbtstbeoretiscbe Grenzen Bei oberflächlicher Betrachtung insbesondere des Wortlauts liegt der Schluß nahe, es könne von jeder Vorschrift der Geschäftsordnung abgewi-

Ritzel/Bücker, Handbuch, § 126, S. 1. 307 Vgl. §§ 126 GO BT, 105 GO LT Ba.-Wü., 149 GO LT Bay., 91 GO Abgh. Ber!., 107 GO LT Brand., 91 Abs. 1 GO BS Hmb., 94 GO LT Hess., 57 GO LT Meck!.-Vorp., 99 GO LT Nds., 114 GO LT NRW, 119 GO LT Rh.-Pf., 83 Abs. 1 GO-Ges. LT Saar!., 110 GO LT Sachs., 86 GO LT Sachs.-Anh., 75 GO LT Sch!.-H., 119 GO LT Thür. In Bremen allerdings fehlt eine entsprechende Vorschrift; dort wird man aber gewohnheitsrechtlich von einer Abweichungsmöglichkeit ausgehen dürfen, wenn kein Mitglied widerspricht, vg!. Brentano, Parlamentspräsident, S. 32, und Haagen, Rechtsnatur, S. 55. 308 Auch heute noch ist die Abweichung entgegen des Widerspruchs eines anwesenden Mitglieds nicht möglich in Berlin, Hamburg und Schleswig-Holstein; ein höheres Quorum für einen erfolgreichen Widerspruch gegen eine Abweichung ist in Bayern (20 Abg. oder eine Fraktion), Niedersachsen (10 Abg.), Nordrhein-Westfalen (5 Abg.) und Sachsen-Anhalt (8 Abg.) vorgesehen. In Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Thüringen und im Saarland bedarf es einer Mehrheit von zwei Dritteln; die einfache Mehrheit genügt in Hessen und Mecklenburg-Vorpommern. Zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses relativ geringen Mehrheitserfordernisses vg!. Arndt, Autonomie, S. 106, der in der GO-Kompetenz richtigerweise auch die Abweichungskompetenz sieht. 306

148

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

chen werden309 • Dies kann jedoch schon deshalb nicht stimmen, weil das Parlament als Geschäftsordnungsgeber nicht über durch höherrangige Normen vorgegebenes (deklaratorisches) Geschäftsordnungsrecht verfügen kann31O • Doch auch hinsichtlich des konstitutiven Geschäftsordnungsrechts ist der Anwendungsbereich des Abweichungsinstituts nicht schrankenlos. So ist die Reichweite dieses Instituts vor dem Hintergrund seines Normzwecks zu bestimmen, der - nur - in der Erleichterung des Geschäftsganges im Plenum liegt; das Parlament soll in Situationen, in denen die sklavische Geschäftsordnungseinhaltung eine sachlich und politisch ungerechtfertigte Förmelei darstellen würde, nicht in einer unangemessenen Weise an die Geschäftsordnung gebunden sein311 • Dies ist eine logische Konsequenz aus dem Umstand, daß die Geschäftsordnungsvorschriften nicht aus Gründen des Selbstzwecks aufgestellt worden sind; nur in diesem Sinn ist die Abweichungsmöglichkeit von der Geschäftsordnungsleitfunktion getragen, nämlich - ohne substantiell in die geschäftsordnungsrechtliche Position von Beteiligten einzugreifen - zur Verfahrenssicherung und -beschleunigung beizutragen312 • Aus dieser Überlegung folgt, daß die zahlreichen Geschäftsordnungsvorschriften, die nicht unmittelbar den Geschäfts- und Verhandlungs gang des Plenums regeln, schon aus dem Anwendungsbereich der Abweichung herauszunehmen sind; dazu zählen etwa Regelungen über Anfragen an die Regierung, Ordnungsvorschriften sowie die von der Organisationsfunktion geprägten Normen etwa betreffend die Aufgaben der Ausschüsse und andere Zuständigkeitsregelungen (beispielsweise auch bezüglich des Präsidenten). Damit aber ist der Anwendungsbereich für dieses Institut bereits in einem bedeutsamen Umfang eingeschränkt. Eine weitere wichtige Reduzierung ergibt sich aus dem als Geschäftsordnungsnormzweck festgestellten Minderheitenschutz313 ; deshalb ist - wie bereits mehrfach festgestellt - eine Abweichung zu Lasten einer damit nicht einverstandenen Minderheit (die nicht notwendigerweise das Widerspruchsquorum oder die Sperrminorität erreichen muß) ausgeschlossen (vgl. oben S. 67, 134); denn bei einer solchen Abweichung würde es sich wegen 309 So Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 34, der deshalb "die Bindungskraft der GO ... erheblich reduziert" sieht. 310 Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 35. 311 Zeh, in: Isensee/ Kirchhof, § 43 Rn. 15; vgl. Brentano, Parlaments präsident, S. 31, der ebenfalls den Ausnahmecharakter der Abweichung betont. 312 Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 92, stellt fest, daß die Abweichung nicht von grundsätzlicher Bedeutung sein darf; allerdings sieht er nur deklaratorische GORegelungen als grundsätzlich bedeutsam an. 313 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 596; Troßmann, Parlamentsrecht, § 127 Rn. 4; RitzellBücker, Handbuch, § 126, S. 2; einschränkend allerdings Bücker, ZParl 17, S. 324 (331); vgl. außerdem die sächsischen Berichte bei Brentano, Parlamentspräsident, S. 31 f. Fn. 66; ablehnend Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 35.

§ 10 Durchsetzungsprobleme

149

des Verstoßes gegen die Leitfunktion, einen freiheitlichen und demokratischen Verfahrensgang sicherzustellen, um einen Mißbrauch dieses Instituts handeln 314 . Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, daß der amtierende Präsident zur Vermeidung von "Uberraschungen und Täuschungsmanövern"315 auf die Abweichung etwa mit der Frage, ob sich gegen eine bestimmte (von der Geschäftsordnung abweichende) Vorgehensweise Widerspruch erhebe, aufmerksam zu machen hat316. c) Praktische Ausübung

In der Geschichte des Deutschen Bundestages wurde das Abweichungsinstitut auch nicht besonders exzessiv eingesetzt317 • So ergibt sich aus der Fallsammlung zur Geschäftsordnung318 für die 7. bis 10. Wahlperiode folgendes Bild: Von insgesamt 67 Abweichungen während der ganzen 7. Wahlperiode erfolgten 61 im Zusammenhang mit der Fragestunde, meistens in Form einer Verlängerung bzw. Verkürzung; ebenso betrafen 28 von insgesamt nur 39 Abweichungen in der 8. Wahlperiode die Fragestunde319 • Von wiederum nur 43 Abweichungen in der 9. Wahlperiode standen 30 im Zusammenhang mit Beratungsfristen, die zumeist verkürzt wurden, und neun wiederum mit der Fragestunde. In der 10. Wahlperiode gab es 78 Abweichungen, von denen ebenfalls 26 zur Abkürzung von Beratungsfristen erfolgten; weitere 33 Abweichungen ermöglichten die Abgabe von Reden nur zu Protokoll und elf betrafen erneut die Fragestunde. Alle diese Beispiele betreffen minder bedeutsame Verfahrensregelungen, auf die offensichtlich aus Zweckmäßigkeitsgründen verzichtet wurde. So ist es schon durch die Sache geboten, etwa die Länge bzw. Häufigkeit der Fragestunde vom aktuellen Fragebedarf abhängig zu machen; entsprechendes gilt für die Beratungsfristen.

314

315 316

Zu weitgehend daher Perels, Reichstagsrecht, S. 4, insbesondere Fn. 21. Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 93. Troßmann/Roll, Parlamentsrecht, Ergänzungsband, § 126 Rn. 3; Ritzel/Bücker,

Handbuch, § 126, S. 2. 317 Roll, Blischke-FS, S. 103, unter Hinweis auf die Abweichungen in der 7. und 8. Wahlperiode. 318 Anhang zum Sachregister der StB BT (jeweils mit FundsteIlennachweis im Penarprotokoll); 7. WP., § 127, S. 3017; 8. WP., § 127, S. 3094 f.; 9. WP., § 126, S. 1883 f. 319 Auch die übrigen Abweichungen betrafen unbedeutende Verfahrensfragen, so beispielsweise die offene Wahl der Vizepräsidenten oder Antragsformen.

150

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

Der zurückhaltende Umgang mit der Abweichung zeigt sich exemplarisch am Verhalten von Bundestagspräsident Gerstenmaier bei der ersten Sitzung der 5. Wahlperiode (1965). Bei der Wahl der Vizepräsidenten verlangte ein Abgeordneter unter Berufung auf § 2 Abs. 1 GO BT geheime Wahl, weshalb der Präsident eine Abweichung von dieser Vorschrift herbeiführte; als derselbe Abgeordnete im Anschluß daran zumindest Einzelabstimmung über jeden Vizepräsidenten verlangte, lehnte Gerstenmaier eine nochmalige Abweichung trotz Protestes aus dem Plenum ab32o • Wenngleich dieser Befund die juristische Bedeutung der Abweichungsmöglichkeit nicht unmittelbar betrifft, so zeigt dieser Blick auf die Parlamentspraxis auf Bundesebene, daß der Abweichung für die normative Bindungskraft der Geschäftsordnung keine entscheidend schwächende Funktion zukommt. 2. Dogmatische Einordnung dieses bindungsschwächenden Instituts a)

Vorbemerkung

Entscheidend für die juristische Bewertung und Einordnung der bindungsschwächenden Wirkung der Abweichungsmöglichkeit für die Geschäftsordnung ist ein seit jeher die Rechtswissenschaft beschäftigendes Grundproblem der Normsetzung; spätestens seit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 wird - auch unter den Positivisten - die Erkenntnis nicht mehr ernsthaft bestritten, daß eine umfassende Normierung jedes Lebenssachverhaltes im Vorhinein nicht möglich ist. Dies erklärt sich schon durch die hohe Komplexität und Vielschichtigkeit des menschlichen Verhaltens und der gesellschaftlichen Strukturen und Vorgänge. In besonderem Maße gilt dies im politisch-parlamentarischen Bereich, der - aufgrund der Kumulation zusammentreffender und häufig stark divergierender Interessen - durch eine eigene Dynamik geprägt ist und deshalb in hohem Maße einer flexiblen Verfahrensordnung bedarf321 • Der genannten "natürlichen" Grenze normativen Regelungsgebarens wird in der Rechtspraxis auf höchst unterschiedliche Art und Weise Rechnung getragen, die jeweils auf den konkreten Regelungshintergrund bezogen ausgestaltet ist; so gibt es sowohl im Verwaltungs- wie im Zivilrecht ,,Abweichungsmöglichkeiten" (im weiteren Sinn) von Rechtsnor-

320 StB BT, 5. WP., 1. S., S. 4 D-5 B; er sagte dazu, a.a.O.: "Bitte, wir wollen den § 127 auch nicht überziehen. Von § 127 darf man nur in seltenen Fällen Gebrauch machen, aber nicht in der Regel." 321 Vgl. Versteyl, in: von Münch, Art. 40 Rn. 21; Appoldt, Hearings, S. 86; Schäfer, Bundestag, S. 73.

§ 10 Durchsetzungsprobleme

151

men, ohne daß dadurch deren Geltungsanspruch und Bindungskraft in Frage gestellt werden. b) Parallele zum verwaltungsrechtlichen Ermessen

Das Verwaltungsrecht enthält an ,,Abweichungsmöglichkeiten" den unbestimmten Rechtsbegriff und vor allem das behördliche Ermessen (das sogar der richterlichen Prüfung regelmäßig entzogen ist). Damit soll sichergestellt werden, daß die ausführende Behörde sachgerechte Entscheidungen treffen kann und nicht über Gebühr in ein kontraproduktives - weil zur Handlungsunfahigkeit führendes - normatives Korsett eingezwängt ist. Soweit die Ermächtigungsnorm jedoch durch das Einräumen von Bewertungs- und Ermessensspielräumen - freilich in Grenzen - "freie Hand" gibt, beschränkt die Norm ihren (absoluten) Regelungsanspruch zugunsten sachnäherer Kriterien322 • Ähnlich verhält es sich mit der parlamentarischen Geschäftsordnung; auch hier kann und will man nicht alles von vornherein normativ festlegen und schafft deshalb Freiräume, um ein sachgerechtes (parlamentarisches) Arbeiten zu ermöglichen323 • In beiden Fällen steht Sachgerechtigkeit vor strikter Normdurchsetzung. Da das Parlament ein in aller Regel relativ großes Kollegialorgan ist, kann kein Ermessen eingeräumt werden, sondern es muß ein parlamentsspezifischer Weg gefunden werden. Deshalb zieht sich der Geltungsanspruch der Geschäftsordnung soweit zurück, als er Abweichungen in einem bestimmten Bereich bei genereller Fortgeltung ermöglicht. Der wesentliche Unterschied besteht nur darin, daß beim Ermessen die Anwendung nicht auch nur vorübergehend - also zeitlich - zur Disposition gestellt wird, sondern die Norm die Detailausfüllung von vornherein - also gegenständlich - der Verwaltung überläßt und den Spielraum deshalb bereits in sich trägt. Aber in beiden Fällen wird bewußt ein Freiraum gerade von zu starker normativer Einbindung geschaffen324; die Divergenz in der Art und Weise der Einräumung dieses Freiraums sind auf die grundlegenden Unter-

322 Rothaug, Leitungskompetenz, S.73, spricht im Zusammenhang mit öffentlichrechtlichen Dispensationsklauseln von einem Vorrang der materiellen Gerechtigkeit über die formelle Gleichbehandlung; nach H. Schneider, Gesetzgebung, Rn. 626, bewirkt die Ermessenseinräumung eine Milderung der Strenge der gesetzlichen Regelung. 323 Vgl. H. Schneider, Gesetzgebung, Rn. 621 f., der auf öffentlich-rechtliche Vorschriften hinweist, bei denen ,~n atypischen Lagen in einer sinngemäßen Weise abgewichen werden darf'; er sieht darin "punktuelle Durchbrechungen zwingender Regelungen, die der Normgeber selbst gestaltet hat". 31A Auf die Vergleichbarkeit der Intention weist auch Rothaug, Leitungskompetenz, S. 73, hin.

152

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

schiede von Parlament und Verwaltung insbesondere hinsichtlich des Entscheidungsfindungsprozesses zurückzuführen. c) Parallele zur zivilrechtlichen Dispositivität

Das Zivilrecht betrifft ein Rechtsgebiet, auf dem Privatpersonen untereinander die unterschiedlichsten Rechtsverhältnisse vereinbaren; dies ist - in gewissen Grenzen (z.B. §§ 134, 138 BGB) - von der Privatautonomie auch gedeckt (§ 305 BGB). Viele dieser Rechtsbeziehungen werden jedoch zumindest unvollständig geregelt; deshalb bedarf es einer gesetzlichen Regelung der häufigsten und typischen dieser Rechtsbeziehungen. Wegen der Privatautonomie sollen die so getroffenen Regelungen nicht allen Rechtsanwendern - etwa Vertragsparteien - aufgezwungen werden, sondern vor allem eine ,,Auffangfunktion" für fehlende Regelungen einnehmen325 • Dies bedeutet aber, daß beispielsweise Vertragsparteien von den für ihre Rechtsbeziehung maßgeblichen Vorschriften auch "abweichen" können müssen, indem sie eine nicht dem gesetzlich normierten Regelfall entsprechende Sonderregelung vereinbaren. Doch auch dann gilt die betroffene Gesetzesnorm latent für alle anderen Fälle weiter, in denen sie nicht abbedungen wird. Deshalb wird hier aber noch lange nicht von einer Bindungsschwäche etwa des BGB aufgrund der Dispositivität gesprochen326 • Dabei handelt es sich um eine Parallele zur Geschäftsordnung; das Parlament weicht als Anwender im Einzelfall von der Geschäftsordnung ab, die deswegen aber latent weitergilt und in ihrer normativen Existenz ebensowenig tangiert ist wie eine dispositive BGB-Norm327 • Außerdem ist - wie im Zivilrecht - ja auch nicht jede Geschäftsordnungsvorschrift "dispositiv", wie bereits dargelegt wurde (vgl. oben S. 147 f.). d) Fazit

Die vorstehenden Beispiele aus anderen Rechtsgebieten haben gezeigt, daß nicht jede Norm auf inhaltlich oder zeitlich unbedingter Geltung bestehen muß. Bei der Abweichungsmöglichkeit in den parlamentarischen Geschäftsordnungen handelt es sich um eine - praktisch wie normativ gesehen - nicht Vgl. H. Schneider, Gesetzgeber, Rn. 623. 326 Zu eng daher Haagen, Rechtsnatur, S. 54, der auch bei normalen Gesetzen keine ,,Abweichungsmöglichkeit" erkennen kann. 327 Schäfer, Bundestag, S. 83, betont die ,,Aufrechterhaltung ... (des) Selbstbindungscharakters" der GO; vgl. Arndt, Autonomie, S. 152. 325

§ 10 Durchsetzungsprobleme

153

besonders bedeutsame Offenhaltung für flexible Regelungen im Einzelfall (wie in anderen Rechtsgebieten auch), die aber die normative Bindung der Geschäftsordnung insgesamt nicht mehr zu schwächen vermag, als dies bei zahlreichen - vor allem auch gesetzlichen - Normen mit anderen ,,Abweichungsmöglichkeiten" der Fall ist328 • Das in Rede stehende Institut der Geschäftsordnungsabweichung stellt somit keine geschäftsordnungsspezifische Bindungsschwäche dar, sondern ist vielmehr parlamentsspezifischer Ausfluß des Problems der "natürlichen" Grenze normativer Regelungsmöglichkeiten.

C. Richterliche Prüfungskompetenz bei Geschäftsordnungsverstößen 1. Vorbemerkung Im Rahmen der Durchsetzungsprobleme soll nun untersucht werden, ob und gegebenenfalls wie weit durch die Inanspruchnahme gerichtlicher Hilfe gegen Geschäftsordnungsverstöße vorgegangen und so die Einhaltung der Geschäftsordnung durchgesetzt werden kann 329 • Dies ist zu unterscheiden von der gerichtlichen Überprüfung der (abstrakten) Geschäftsordnungsnormen; diese wurde bereits mit dem Ergebnis erörtert, daß eine begrenzte Prüfung am Maßstab des Grundgesetzes gern. Art. 93 Abs. 1 GG stattfindet (s.o. S. 54 ff.). Potentielle Streitparteien bei einem Geschäftsordnungsverstoß können ausgehend vom funktional zu bestimmenden Adressatenkreis - nur Personen bzw. Amtswalter sein, die innerhalb des parlamentarischen Funktionsbereichs auf verfassungsrechtlicher, gesetzlicher oder geschäftsordnungsrechtlicher Ebene Rechte bzw. Kompetenzen eingeräumt bekommen haben, in denen sie auch verletzt sein können. Dabei handelt es sich um Abgeordnete, Fraktionen, Ausschüsse, den Präsident, das GesamtparlamelJt sowie die nach Art. 43 Abs. 2 GG (bzw. den entsprechenden Bestimmungen in den Landesverfassungen) privilegierten Amtsträger und - mit allerdings nur geringer Bedeutung - der Bürger (in den oben dargestellten Funktionen), auf Bundesebene der Wehrbeauftragte oder unter Umständen auch Rechnungshofmitglieder Oe nach der Ausgestaltung ihrer innerparlamentarischen Stellung).

328 Vgl. Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 34, der nach alledem unzutreffend die Abweichung ohne Änderung für das normale Außenrecht für untypisch hält; 329 Diese Dimension verkennt Hachenburg, DJZ 1926, Sp. 139, völlig: "Der Reichstag kann selbst auf die Beobachtung der GO verzichten."

154

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

2. Verfassungsgerichtliche Zuständigkeit

Vor den Verfassungsgerichten kommt als einzig denkbare Verfahrensart der Organstreit in Betracht; insbesondere kann der Bürger mangels grundrechtlicher Relevanz nicht etwa Verfassungsbeschwerde erheben. Dadurch ist der Kreis potentieller Verfahrensbeteiligter bereits reduziert; gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GO LV.m. § 63 BVerfGO verbleiben Abgeordnete, Fraktionen, Ausschüsse, der Präsident, das Gesamtparlament sowie die Bundesregierung und der Bundesrat. Der Bürger fallt ebenso wie die parlamentsnahen Organe heraus. Zwar sind diese durch die Geschäftsordnung mit eigenen Rechten ausgestattet; sie sind deswegen aber noch lange keine Untergliederungen des Parlaments. Eine weitere - und die entscheidende - Einschränkung ergibt sich daraus, daß in dieser Verfahrensart nur Verfassungsverstöße relevant sind; das bedeutet, daß der Teil des deklaratorischen Geschäftsordnungsrechts, der Verfassungsrecht wiederholt, der verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterliegt330• Aber das konstitutive Geschäftsordnungsrecht, das den Gegenstand dieser Untersuchung bildet, ist vom Organstreitverfahren ebenso wenig erfaßt wie das nur Gesetzesrecht wiederholende deklaratorische Geschäftsordnungsreche31 • Dieses Ergebnis erscheint zwar vor dem Hintergrund der Bedeutung der Geschäftsordnung bedenklich; aber eine andere Entscheidung ist angesichts des eindeutigen Wortlauts der einschlägigen Bestimmungen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GO i.V.m. § 64 Abs. 1 BVerfGO) nicht möglich. Insbesondere verbietet sich eine Begründung der verfassungsgerichtlichen Prüfungskompetenz durch das Argument, bei dem konstitutiven Geschäftsordnungsrechts handele es sich um direkt aus der Verfassung wegen Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GO abgeleitetes Recht; denn dies ändert nichts daran, daß es sich beim Geschäftsordnungsrecht eben nicht um (fonnelles) Verfassungsrecht handelt, ebenso wenig wie beim Gesetzesrecht, das sich ja ebenso direkt auf die Verfassung stützen kann (vgl. Art. 76 ff. GO).

330 BVerfGE 60, 374 (380 f.); dies erklärt auch die angesichts der Bedeutung der GO relativ überschaubare Judikatur; vgl. Zeh, in: lsensee/Kirchhof, § 43 Rn. 7; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 47; für das niedersächsiche Landesrecht siehe den Nds. StGH. in: Rechtsprechungsbeilage Nr. 11 zum Nds. Ministerialblatt Nr. 35/ 1962, S. 42 (Az. StGH 1/62). 331 Lßrken, Geschäftsordnungsrecht. S. 138; Achterberg/Schulte, in: MKAS, Art. 40 Rn. 61.

§ 10 Durchsetzungsprobleme

155

3. Andere Rechtsschutzmöglichkeiten bei Geschäftsordnungsverstößen a) § 40 Abs. 1 VwGO

Eine verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit würde in Ermangelung einer abdrängenden Spezialzuweisung gemäß § 40 Abs. 1 VwGO "öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art" voraussetzen. Geschäftsordnungsange1egenheiten betreffen fast nur (oberste) Staatsorgane, die am Verfassungsleben unmittelbar beteiligt sind; außerdem werden wiederum ganz überwiegend wechselseitige Kompetenzabgrenzungen hinsichtlich der Wahrnehmung verfassungsrechtlicher Aufgaben vorgenommen. Deshalb handelt es sich hierbei in aller Regel sowohl formell wie auch materiell um verfassungsrechtliche Streitigkeiten, die aufgrund der Subsidiaritätsklausel der verwaltungs gerichtlichen Entscheidung entzogen sind; auf das Nichtvorliegen der verfassungsgerichtlichen Zuständigkeit kommt es dabei nicht an332 • Denkbar wäre demnach eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung nur hinsichtlich subjektiv-öffentlicher Rechte von Bürgern; da in einer parlamentarischen Geschäftsordnung jedoch so gut wie nie subjektiv-öffentliche Ansprüche eingeräumt werden, ist die praktische Bedeutung dieses Ergebnisses sehr gering. Ein Beispiel dafür stellt der Anspruch auf Auslagenerstattung gern. § 70 Abs. 6 GO BT dar; denn mit der Geltendmachung dieses Anspruchs nimmt der Bürger noch nicht am Verfassungsleben teil333 • b) Art. 19 Abs. 4 GG

Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG soll nur subjektiv-öffentliche Rechtspositionen des Bürgers gegenüber dem Staat schützen334 • Im parlamentarischen Funktionsbereich treten jedoch ganz überwiegend andere (zum Teil oberste) Staatsorgane bzw. Amtswalter auf, die als Teile des Staates gegenüber diesem keine subjektiv-öffentlichen Rechte haben können. Wie bereits ausführlich dargestellt wurde, handelt es sich auch beim Abgeordneten um einen Organwalter, der in der Wahrnehmung seiner statusmäßigen Rechte lediglich staatsrechtliche Kompetenzen ausübt33S • Allein der Bürger könnte

332 Kopp, VwGO, § 40 Rn. 31, 32, m.w.N.; siehe außerdem Achterberg, Parlamentsrecht, S. 778 f. 333 Vgl. Kopp, VwGO, § 40 Rn. 33, m.w.N. 334 Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S. 130. 335 Anschaulich Jellinek, Schriften und Reden 11, S. 254, der feststellt, daß die Parlamentsmitglieder ebenso wenig Anspruch auf Einhaltung der GO haben, wie der Bürger auf Einhaltung der Gesetze; Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S. BI, 132;

156

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

sich auf die Rechtsweggarantie berufen; dieser ist auch folgerichtig - wie gerade dargestellt - hinsichtlich seiner subjektiv-öffentlichen Rechte von § 40 Abs. 1 VwGO erfaße36•

4. Fazit Es hat sich gezeigt, daß sowohl § 40 VwGO als auch Art. 19 Abs. 4 GG letztlich daran scheitern, daß das Streitpotential innerhalb der staatlichen Organisation zu finden ist. Deshalb handelt es sich um eine materiell verfassungsrechtliche Streitsache, die bestenfalls am Rande den einzelnen (zumeist außenstehenden) Bürger betriffe37 • Die einzige Verfahrensart für derartige denkbare Streitkonstellationen stellt im deutschen Recht der Organstreit dar. Wegen dessen bedeutungsschweren Beschränkung auf (formell) verfassungsrechtliche Auseinandersetzungen muß eingeräumt werden, daß es sich beim (konstitutiven und nur Gesetzesrecht wiederholenden) Geschäftsordnungsrecht zwar um bindendes und auch sehr bedeutsames, nicht jedoch gerichtlich durchsetzbares Recht handelt338 • Insofern hat die resignierende Äußerung, daß letztlich die Mehrheit immer Herrin der Geschäftsordnung ist, faktisch gesehen durchaus ihre Berechtigung; insbesondere für den geschäftsordnungsrechtlichen Minderheitenschutz bewirkt dies eine entscheidende Schwächung339 • Das ändert zwar nichts am Rechtscharakter der Geschäftsordnung, hat jedoch zur Folge, sie als lex imperfecta ansehen zu müssen340 •

siehe auch Roßmann, Leitung, S. 16, der allerdings fälschlich die Einspruchsrechte gegen Ordnungsrnaßnahmen als subjektive Rechte ansieht. 336 Vgl. Kopp, VwGO, § 40 Rn. 31, der wegen Art. 19 Abs. 4 GG erforderlichenfalls eine erweiterte Auslegung von § 40 Abs. 1 VwGO verlangt. 337 Viel zu weitgehend H.-P. Schneider, in: Altemativkommentar, Art. 40 Rn. 10, der jedem Bürger gemäß Art. 2 Abs. 1 GG gestatten will, gegen unter Verletzung wichtiger GO-Vorschriften verabschiedete Gesetze vorzugehen. 338 lellinek, Schriften und Reden 11, S. 260, stellt dazu fest: "Es gibt daher kaum einen Teil der Rechtsordnung, der so der normalen rechtlichen Schutzmittel bar ist, wie das GO-Recht"; es gibt keine rechtlichen Garantien für das Einhalten der GO. Vgl. (für die Rechtslage unter der WRV) Rösch, Geschäftsordnung, S. 61; allerdings hat damals Haagen, Rechtsnatur, S.66 f., eine auf formelle GO-Verstöße (d.h. bezüglich des Verfahrens) begrenzte Prüfungskompetenz bejaht; siehe außerdem Achterberg , Parlamentsrecht, S. 776 - 778. 339 Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S. 138; lellinek, Schriften und Reden 11, S.270. 340 Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 19; Zeh, in: Isensee/KirchhoJ, § 43 Rn. 14; nach Achterberg, DVBI 1974, S. 693 (701) ist ,'parlamentsrecht ... zu einem guten Teil lex de iure imperfecta, de politicis perfecta", weil durch das Urteil des Wählers die Möglichkeit der politischen Sanktion besteht; vgl. zum Begriff der "leges imperfectae" H. Schneider, Gesetzgebung, Rn. 628 f.

§ 11 Bindungskraft der Normen auf anderen Ebenen

157

§ 11 Bindungskraft der Normen auf

anderen untergesetzlichen Ebenen des (materiellen) Geschäftsordnungsrechts A. Vorbemerkung Die in den §§ 6-10 vorgenommene Untersuchung der zeitlichen, personellen und institutionellen Bindung, der Bindungswirkungen bezüglich parlamentarischer Entscheidungen sowie der Durchsetzungsprobleme war erklärtermaßen schwerpunktmäßig auf die formelle Geschäftsordnung bezogen. Wie jedoch bereits im Zusammenhang mit dem materiellen Geschäftsordnungsbegriff dargelegt wurde, gibt es noch weitere untergesetzliche Geschäftsordnungsebenen. Bei deren Untersuchung wird von den für die formelle Geschäftsordnung erzielten Ergebnissen ausgegangen und vor allem die Frage deren Übertragbarkeit geprüft. Auch hier wird mit dem Begriff der Geschäftsordnung die formelle Geschäftsordnung bezeichnet.

B. Untergesetzliche Normebenen 1. Ergänzungsbeschlüsse Jedes Parlament kann - insbesondere zu Erprobungszwecken - geschäftsordnungsrechtliche Beschlüsse fassen, ohne die dadurch geschaffenen Regelungen sofort in die Geschäftsordnung aufzunehmen341 • Dies gilt insbesondere für solche Anlagen zur Geschäftsordnung, die nicht durch eine Vorschrift in der formellen Geschäftsordnung in diese inkorporiert sind; dabei handelt es sich folglich nicht um Teile der formellen Geschäftsordnung, sondern um Ergänzungen derselben. Diese Einzelbeschlüsse können sich zwar nicht auf die verfassungsrechtlichen Delegationsnormen - deren Geschäftsordnungsbegriff nur die formelle Geschäftsordnung umfaßt (vgl. oben S. 43 f.) - stützen; aber die die eigentliche Geschäftsordnungskompetenzgrundlage darstellende verfassungsrechtliche Gesamtordnung stützt alle untergesetzlichen Geschäftsordnungsvorschriften im materiellen Sinn (s.o. S. 69 ff.). Deshalb beruhen die Einzelbeschlüsse letztlich auf derselben Kompetenzgrundlage wie die formelle Geschäftsordnung; letztere ist jedoch - wie bereits mehrfach dargelegt wurde - durch ihre ausdrückliche Hervorhebung in den Delegationsnormen als vorrangig gegenüber anderen untergesetzlichen

341

Vgl. Amdt, Autnomie, S. 94.

158

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

Nonnebenen der materiellen Geschäftsordnung - und damit auch gegenüber den Einzelbeschlüssen - anzusehen (vgl. S. 71)342. Das ist auch logisch, denn das Parlament will ja gerade durch die Einzelbeschlußfassung der fraglichen Regelung - vor allem wegen den damit noch verbundenen Unsicherheiten - nicht den Rang der fonnellen Geschäftsordnung zukommen lassen. Die Übereinstimmung in der Kompetenzgrundlage führt allerdings dazu, daß diese Einzelbeschlüsse in der zeitlichen, personellen und institutionellen Bindung sowie in den Bindungswirkungen bezüglich parlamentarischer Entscheidungen von der fonnellen Geschäftsordnung grundsätzlich nicht abweichen; sie sind lediglich dieser gegenüber subsidiär und können deshalb von ihr aufgehoben bzw. ausgehebelt werden. Dies hat auch zur Folge, daß bei Abweichungen nach dem in der Geschäftsordnung vorgesehen Verfahren (analog) vorgegangen werden muß; denn die Einzelbeschlüsse können keine höhere Unverbrüchlichkeit haben als die höherrangige Geschäftsordnung selbst343 • 2. Parlamentarisches Gewohnheitsrecht Das parlamentarische Gewohnheitsrecht wird im - vor allem älteren Schrifttum häufig auch als "parlamentarische Oberservanz" bezeichnef44 ; da dieser Begriff aber mit dem der Autonomie eng verknüpft isf45 , sollte er besser - aus den zum Autonomiebegriff genannten Gründen - vennieden werden346• 342 Dies wird von Achterberg, Parlamentsrecht, S. 15, bestritten; er sieht vielmehr die einzelnen parlamentarischen Innenrechtsakte gegenüber der GO als leges speciales und somit sogar vorrangig an; ders., a.a.O., S. 61, 751 geht ansonsten von einer Gleichordnung der innerparlamentarischen Rechtsverhältnisse aus; vgl. Erwiderung Rothaug, Leitungskompetenz, S. 82, 86, der beizutreten ist; ähnlich wie Achterberg auch Magiera, Staatsleitung, S. 127, der von einem "grundsätzlich gleichberechtigten" Nebeneinander von geschriebenem und ungeschriebenem Parlamentsrecht ausgeht. 343 Rothaug, Leitungskompetenz, S. 83. 344 So etwa bei Pereis, Reichstagsrecht, S. 3; Brentano, Parlamentspräsident, S. 14; Lör/cen, Geschäftsordnungsrecht, S. 48; eine selbständige, dem Parlamentsbrauch angenäherte, Funktion hat der Begriff nach Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 11. 345 Rothaug, Leitungskompetenz, S. 84; Pereis, Reichstagsrecht, S. 3 f. Fn. 16 (im Anschluß an Gier/ce). 346 Vgl. aber auch Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 56, der unter Observanz "vornehmlich ein örtlich begrenztes Gewohnheitsrecht" versteht; in diesem Sinn akzeptiert er den Begriff im Parlamentsrecht, das er als eine "Rechtsrnasse mit beschränktem persönlichem Geltungsbereich" ansieht. Nach den obigen Feststellungen zur Adressatenbindung der GO ist auch nach diesem Begriffsverständnis der Begriff der Obervanz hier als ungeeignet anzusehen.

§ 11 Bindungskraft der Normen auf anderen Ebenen

159

Wie bereits dargestellt wurde, setzt das parlamentarische Gewohnheitsrecht eine lang dauernde Übung und eine entsprechende Rechtsüberzeugung (innerhalb des Parlaments) voraus (S. 61 f.)341. Mit der fehlenden schriftlichen Fixierung ist eine gewisse Ungenauigkeit und damit auch Unsicherheit darüber verbunden, was nun genau rechtlich gesollt ist. Wegen der auch im innerparlamentarischen Bereich bedeutsamen Rechtssicherheit ist daher das Gewohnheitsrecht dem geschriebenen Geschäftsordnungsrecht (also der formellen Geschäftsordnung, aber auch den formellen und entsprechend protokollierten ergänzenden Parlamentsbeschlüssen) nachrangig348 • Insbesondere kommt dem Gewohnheitsrecht entgegen einer im Schrifttum öfters vertretenen Ansicht keine derogierende Kraft gegenüber der formellen Geschäftsordnung ZU 349 ; soweit sich parlamentarische Gewohnheiten entgegen der formellen Geschäftsordnung entwickelt haben, ist von einer regelmäßigen, konkludenten Abweichung gern. § 126 GO BT (bzw. den entsprechenden Landesvorschriften) auszugehen3so . Das hat zur Folge, daß im Falle eines Widerspruchs darüber ein Beschluß herbeizuführen ist. Weil dies aber wiederum mit dem Bindungsanspruch von gefestigtem Gewohnheitsrecht nicht in Einklang zu bringen ist, können solche Gewohnheiten lediglich als - rechtlich nicht erheblicher - Parlamentsbrauch angesehen werden. Soweit höherrangiges Recht im eben genannten Sinn jedoch nicht entgegensteht, entfaltet das Gewohnheitsrecht als im parlamentarischen Funktionsbereich bestehende Quelle objektiven Rechts dieselbe zeitliche, personelle und institutionelle Bindung sowie die gleichen Bindungswirkungen bezüglich parlamentarischer Entscheidungen wie die Geschäftsordnung; hinsichtlich der zeitlichen Bindung ist darauf bereits eingegangen worden (vgl. S. 83 f.). Wie schon bei den Einzelbeschlüssen gilt daher auch für Abweichungen vom parlamentarischen Gewohnheitsrecht das dafür in der Geschäftsordnung vorgesehene Verfahren (analog)3sl.

347 Siehe auch Brentano, Parlamentspräsident, S. 14; zur Abgrenzung des Gewohnheitsrechts von anderen Quellen ungeschriebenen Rechts vgl. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 45 - 51. 348 Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Art. 40 Rn. 6. 349 So aber Lörken, Geschäftsordnungsrecht, S.48; wie hier H.-P. Schneider, in: Altemativkommentar, Art. 40 Rn. 12; vgl. zur Derogationskraft von Gewohnheitsrecht allgemein Stier-Somlo, Staatsrecht I, § 54 Anm. III. 350 So auch Rothaug, Leitungskompetenz, S. 82. m Troßmann, Parlamentsrecht, § 127 Rn. 5.

160

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

3. Auslegungsentscheidungen zur formellen Geschäftsordnung a) Zuständigkeit

Aufgrund der Geschäftsordnungskompetenz kommt dem Parlament auch das Recht zu, seine eigene Geschäftsordnung selbst auszulegen3S2 ; die Zuständigkeit für Geschäftsordnungsauslegungen lag auch ursprünglich beim Parlament, das ja bis heute der Träger der Geschäftsordnungskompetenz ist3S3 • Unter Auslegung ist in diesem Zusammenhang nicht nur die Interpretation bestehender Vorschriften, sondern auch die Ausfüllung von Lücken - also die Rechtsfortbildung - zu verstehen; dies ergibt sich aus dem besonderen Flexibilitätsbedürfnis der Geschäftsordnung, das - zu gegebener Zeit auszufüllende - Lücken geradezu voraussetzeS4• Nicht zuletzt aus Praktikabilitätsgründen (zur Venneidung endloser Geschäftsordnungsdebatten, die den eigentlichen Sachgegenstand in den Hintergrund treten lassen würden) wurde die Auslegungskompetenz immer stärker vom Plenum weg und hin zum (amtierenden) Präsidenten verlagert, der die Geschäftsordnung bei Zweifeln während einer Sitzung unabhängig vom Bedeutungsgrad der Auslegungsfrage für den Einzelfall auslegen kann (§ 127 Abs. 1 S. 1 GO BT)3ss. Eine ebenfalls kontinuierlich stärker gewordene Rolle spielen der Geschäftsordnungsausschuß und der Ältestenrat. Die Empfehlungen des letzteren bedürfen zwar der zumindest konkludenten Billigung durch das Plenum, da dieser kein Entscheidungsgremium darstellt. Der Geschäftsordnungsausschuß des Bundestages jedoch ist durch die Geschäftsordnungsrefonn von 1980 erheblich

352 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 119, 121; Haagen, Rechtsnatur, S. 60; diese Auslegung erfolgt im Bereich des GO-Rechts unter besonderer Berücksichtigung der parlamentarischen Tradition und Praxis, vgl. BVerfGE 1, 144 (148 f.) und dazu Roll, Blischke-FS, S. 105 -110, der "die Ausrichtung an Präzedenzfallen (als) . .. nicht nur die typische, sondern auch die adäquate Methode" ansieht; zu den Auslegungsmethoden insgesamt vgl. Achterberg, Parlamentsrecht, S. 333 f. 353 Vgl. zur historischen Entwicklung Hatschek, Parlamentsrecht, S. 58-60; Jellinek. Schriften und Reden 11, S. 269 f.; vgl. zu den Unterschieden in der Praxis von Reich und Ländern in der Weimarer Republik Brentano, Parlamentspräsident, S. 26 f.; ders., a.a.O., S. 29 f., geht ausführlich auf das Kompetenzverhältnis zwischen Plenum und Präsident ein und gelangt schließlich zu einer grundsätzlichen Plenarzuständigkeit; a.A. Pereis, Reichstagsrecht, S. 17. 354 So Roll, Blischke-FS, S. 97 f.; zur Lückenhaftigkeit siehe Sehn/er, Bundestag, S. 66; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 82 f.; Amdt, Autonomie, S. 94; siehe außerdem Achterberg, Parlamentsrecht, S. 335, der einen Vorrang der Auslegung vor der Ergänzung sieht. m Roll, Blischke-FS, S. 99; Troßmann, JöR 28, S. 189; ders., Parlamentsrecht, § 128 Rn. 11.1.; zum Für und Wider einer starken Stellung des Präsidenten vgl. Plate, Geschäftsordnung, S. 217.

§ 11 Bindungskraft der Normen auf anderen Ebenen

161

aufgewertet worden, indem er nicht mehr nur Auslegungsvorschläge an das Plenum zu machen hat (so § 129 GO BT a.F.), sondern vielmehr selbst Auslegungsentscheidungen treffen kann, die nur auf qualifizierten Antrag hin dem Plenum zur Bestätigung vorgelegt werden müssen (vgl. § 127 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 GO BT)356; damit ist sichergestellt, daß jede Auslegungsentscheidung letztlich vor das Gesamtparlament als Träger der Geschäftsordnungskompetenz gebracht werden kann. Über die rechtliche Relevanz einer solchen - nicht bestätigten - Entscheidung ist damit freilich noch nichts ausgesagt. b) Bindungskraft

00) Unterscheidung nach dem Charakter des

auszulegenden Geschäftsordnungsrechts

Das Parlament kann - und muß gegebenenfalls - seine Geschäftsordnung auslegen; doch ist auch hier wieder der zentrale Unterschied von deklaratorischem und konstitutivem Geschäftsordnungsrecht entscheidend. Das deklaratorische Geschäftsordnungsrecht nämlich hat - wie bereits dargestellt - seinen Rechts- und Geltungsgrund in höherrangigem Recht, zu dessen rechtsverbindlicher Auslegung nicht das Parlament als Inhaber der niederrangigeren Geschäftsordnungskompetenz berufen ist, sondern die Gerichte; soweit insbesondere formelles Verfassungsrecht tangiert ist, liegt die Zuständigkeit beim Bundesverfassungsgericht (bzw. unter Umständen beim Landesverfassungsgericht). Deshalb haben parlamentarische Auslegungsentscheidungen hinsichtlich des deklaratorischen Geschäftsordnungsrechts (unabhängig von der im einzelnen auslegenden Instanz) mangels Kompetenz keinerlei rechtliche Erheblichkeit; sie stellen vielmehr lediglich ganz gewöhnliche Äußerungen der Rechtsansicht des Parlaments zu den betreffenden Streitfragen dar3S7 • Bezüglich des konstitutiven Geschäftiordnungsrechts dagegen ist im Nachfolgenden die normative Verbindlichkeit von Auslegungsentscheidungen unter Berücksichtigung des jeweils konkret auslegenden (Teil-)Organs zu ermitteln.

356 Roll, NJW 1981, S. 23 (24), sieht den GO-Ausschuß dadurch ,.zumindest (als) Mitträger der parlamentarischen GO-Autonomie". 357

Vgl. Troßmann, JöR 28, S. 189.

11 Haug

162

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

bb) Unterscheidung nach dem auslegenden (Teil-)Organ Sowohl aus den Delegationsnonnen wie aus dem verfassungsrechtlichen Gesamtzusammenhang ergibt sich, daß grundsätzlich nur das Parlament als Gesamtorgan dazu berufen ist, geschäftsordnungsrechtlich verbindliche Akte zu erlassen. Wenn der Nonngeber selbst das von ihm - konstitutiv - gesetzte Recht im Wege eines Beschlusses (und sei es auch nur in Fonn einer konkludenten Zustimmung zu einem entsprechenden Vorschlag des Präsidenten oder Ältestenrates) auslegt, handelt es sich um eine authentische Interpretation, die als Ergänzung zur fonnellen Geschäftsordnung die gleiche zeitliche, personelle und institutionelle Bindung sowie die gleichen Bindungswirkungen bezüglich parlamentarischer Entscheidungen wie die fonnelle Geschäftsordnung selbst beanspruchen kann358 • Allerdings sind diese Entscheidungen als Ergänzungen gegenüber der Geschäftsordnung wegen deren besonderer Hervorhebung in den Delegationsnonnen nachrangig (siehe oben); soweit diese Beschlüsse jedoch ordnungsgemäß protokolliert wurden, gehen sie dem Gewohnheitsrecht - wie oben dargelegt - vor. Im Umkehrschluß aus der Begründung zur nonnativen Wertigkeit der Auslegungsbeschlüsse des Plenums ergibt sich, daß diese Bewertung - mangels der Identität von Nonngeber und -ausleger - den von dem Parlament untergeordneten Teilorganen getroffenen Auslegungsentscheidungen nicht zukommen kann. Andererseits sind - wie dargestellt - der Präsident und der Geschäftsordnungsausschuß durch die Geschäftsordnung selbst mit eigenen Auslegungskompetenzen ausgestattet worden359 • Die von ihnen getroffenen Auslegungsentscheidungen nehmen insofern abgeleitet an der Geschäftsordnungsbindungskraft teil360 • Es handelt sich daher nicht um (vollwertige) Geschäftsordnungsergänzungen wie bei Plenarbeschlüssen, sondern um eine nachrangige Rechtsquelle innerhalb des parlamentarischen Funktionsbereichs 361 ; ihre Bindungskraft kann jederzeit durch Vorschriften auf allen an358 Vgl. Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 89 ff.; Haagen, Rechtsnatur, S. 57; Troßmann, Parlamentsrecht, § 128 Rn. 11.1.; Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 60. 359 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 122. 360 Vgl. Haagen, Rechtsnatur, S. 61, der aber ausdrucklich die Ausschüsse auf ihre allein vorbereitende Funktion festlegt. 361 Vgl. Kretschmer, in: Schneider/Zeh,,§ 9 Rn. 60, der für die rechtliche Erheblichkeit dieser Auslegungsentscheidungen mehrfache Anwendung in der Praxis verlangt; Roll, Blischke-FS, S. 98, greift allerdings zu kurz, wenn er vor dem Hintergrund der neuen Rechtslage die Auslegung des GO-Ausschusses nur als "Vorschlag für die zukünftige Handhabung des GO-Rechts" ansieht; ähnlich Troßmann/ Roll, Parlaments recht, Ergänzungsband, § 127 Rn. 11, die für die rechtliche Erheblichkeit einen bestätigenden Plenarbeschluß verlangen.

§ 11 Bindungskraft der Normen auf anderen Ebenen

163

deren Nonnebenen des materiellen Geschäftsordnungsrechts aufgehoben werden. Dazu zählen auf untergesetzlicher Ebene die formelle Geschäftsordnung, Auslegungs- und Ergänzungsbeschlüsse des Plenums und auch das parlamentarische Gewohnheitsrecht. Bei den Auslegungsentscheidungen des Präsidenten ist überdies die zeitliche Bindung dadurch stark eingeschränkt, daß sie nur für den konkreten Einzelfall gelten und deshalb keinerlei präjudizielle Bedeutung entfalten können362 .

c. Sonstige Regelungsebenen 1. Parlamentsbrauch

Es wurde bereits festgestellt, daß dem Parlamentsbrauch keine rechtliche Verbindlichkeit zukommt (s.o. S. 40)363. Er stellt vielmehr parlamentarische Übungen und Gewohnheiten dar, die noch nicht so dauerhaft, gefestigt oder in die Rechtsüberzeugung hinreichend eingegangen sind, daß sie Gewohnheitsrecht darstellen; da diese Regelungen jedoch quasi "auf dem Weg" sind, zu Gewohnheitsrecht zu erstarken, wird in diesem Zusammenhang von "werdendem Recht" gesprochen364 • Hierzu zählen auch die vielen informalen Regeln, Übungen und Konventionen im parlamentarischen Bereich36s, deren politische Bedeutung sich wesentlich von der (fehlenden) normativen Erheblichkeit abhebf 66 • Wegen des Mangels einer rechtlichen Verbindlichkeit stellt sich hier nicht mehr die Frage nach den einzelnen Ausformungen rechtlicher Bindung.

Troßmann, Parlamentsrecht, § 128 Rn. 10; Roll, Blischke-FS, S. 99. A.A. Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 62 f.; mißverständlich Mattem, Grundlinien, S. 78, der mit dem Begriff des Parlamentsbrauchs tatsächlich das parlamentarische Gewohnheitsrecht meint, das fraglos normativen Charakter hat; eine ganz andere, sogar die - allerdings nur als Konventionalregel anerkannte - GO überlagernde Bedeutung hatte der Parlamentsbrauch (nur) bei Hatschek, Parlamentsrecht, S. 43, 45,83,86. 364 Lechner/Hülshoff, Parlament, S. 186; Pereis, in: Anschütz/Thoma, S.450; Brentano, Parlamentspräsident, S. 14, vergleicht das Verhältnis von Parlamentsbrauch zum parlamentarischen Gewohnheitsrecht mit dem von Handelsbrauch zum Handelsgewohnheitsrecht; Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 70, spricht von einer "Zwitterstellung zwischen Recht und Politik". 365 Vgl. Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 63; BUschke, Schelllrnecht-FS, S. 55 und S. 56 f., 68-73, mit zahlreichen Beispielen. 366 Vgl. Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 14, 69, 74; Achterberg/Schulte, in: MKAS, Art. 40 Rn. 49, 51; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 87. 362

363

11*

164

2. Kap.: Bindungsprobleme der Geschäftsordnung

2. Interfraktionelle Absprachen Die ganz überwiegend im Ältestenrat herbeigeführten interfraktionellen Absprachen sind in der parlamentarischen Praxis neben der formellen Geschäftsordnung das bedeutendste Steuerungsinstrument für den Geschäftsgang367 . Diese Absprachen, an denen regelmäßig die Fraktionsgeschäftsführer maßgeblich mitwirken, sind - wie alle im Ältestenrat erzielten Ergebnisse - nur einvernehmlich möglich368 . Da aber den Geschäftsführern eine diesbezügliche "geschäftsordnungsrechtliche Vertretungsgewalt" fehlt, der Ältestenrat in den Geschäftsordnungen hinsichtlich der Verfahrensgestaltung nicht als Beschlußorgan (sondern eben als ,,Abspracheorgan") konzipiert ist (vgl. § 6 Abs. 2 S. 2 und 3 GO BT)369 und überdies von diesen Absprachen die fraktionslosen Abgeordneten ohne auch nur mediatisierte Beteiligung durchaus betroffen sind, können die interfraktionellen Absprachen keine rechtliche Verbindlichkeit entfalten37o. Sie stellen daher nur Beschlußempfehlungen des Ältestenrates oder - vor dessen Konstituierung oder beispielsweise bei kurzfristigen Änderungen der Tagesordnung - der Fraktionen37 ! an das Plenum dar372 ; dementsprechend teilt der Präsident die Vereinbarung mit und stellt in aller Regel das Einverständnis des Hauses zunächst fest, bevor er danach verfährt. Erst durch diese Bestätigung erlangt die Vereinbarung rechtliche Relevanz, während sie gleichzeitig ihren Charakter zugunsten eines Plenarbeschlusses verliert. Deshalb stellt sich hinsichtlich der

367 Vgl. Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 21, 22, der einen Bedeutungsüberhang der parlamentarischen Praxis gegenüber ihrer normativen Grundlage sieht; zu Beispielen siehe ders., a.a.O., Rn. 48-53; zu weit geht jedoch Rothaug, Leitungskompetenz, S. 92, der darin einen Bedeutungsverlust der GO sieht (vgl. oben, § l.A. [So 21]); ähnlich Szmula, Handbuch des politischen Systems, S. 233 und Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 37. 368 Zur Bedeutung der "Verhandlungsdemokratie" auch im parlamentarischen Verfahrensrecht siehe Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 124; zur Mitwirkung der parlamentarischen Geschäftsführer siehe Szmula, Handbuch des politischen Systems, S. 233 f.; auf das Einvemehmlichkeitserfordemis weist Rothaug, Leitungskompetenz, S. 88, hin. 369 Siehe außerdem Roll, Blischke-FS, S. 95; Zeh, ZParl 17, S. 396 (409); Schäfer, Bundestag, S. 100. 370 Roll, Blischke-FS, S.95 f.; ders., in: Schneider/Zeh, § 28 Rn. 47, 49; Amdt, Autonomie, S. 108; Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rn. 53, sieht darin "politische Verträge"; bei Rothaug, Leitungskompetenz, S. 89, werden noch weitere Vorschläge aus dem Schrifttum genannt, so z.B. "verfassungsrechtliche Verträge" oder "verfassungspolitische Vereinbarungen". 371 Roll, in: Schneider/Zeh, § 28 Rn. 50, 51; siehe auch Rothaug, Leitungskompetenz, S. 88 f. 372 Rothaug, Leitungskompetenz, S. 92; Zeh, in: Isensee/Kirchhof, § 42 Rn. 36.

§ 11 Bindungskraft der Normen auf anderen Ebenen

165

Absprache als solcher ebenfalls nicht die Frage nach den einzelnen Bindungsarten. Der "Übemahmebeschluß" des Plenums dagegen ist in aller Regel nur für die konkrete Situation bestimmt und entfaltet daher eine zumindest zeitlich begrenzte Wirkung; im übrigen steht er wie jeder Ergänzungs- oder Abweichungsbeschluß unterhalb der formellen Geschäftsordnung und auch der protokollierten Einzelbeschlüsse.

3. Kapitel

Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung im formellen Sinn § 12 Problem der rechtlichen Qualifizierung A. Vorbemerkungen 1. Streitrelevanz Schon im Kaiserreich wurde die Frage nach der Rechtnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen heftig und sehr kontrovers diskutiert; schon damals wurden die unterschiedlichsten Theorien vertreten I. In der Weimarer Republik ließ die Diskussion nach, und in der jungen Bundesrepublik wurde sie kaum mehr geführf. Erst in jüngster Zeit werden nicht nur allgemein formulierte Bedenken gegen die von der h.M. vorgenommene Qualifizierung vorgebracht, sondern auch neue Vorschläge unterbreitet3 • Eine solche juristische Einordnung der Geschäftsordnung kann dazu beitragen, auch in der Praxis konkrete Anwendungsfragen zu entscheiden; denn hinter der Beantwortung der Rechtsnaturfrage steht auch ein parlamentarisches Grundverständnis 4• Die h.M. geht spätestens seit Paul Laband davon aus, daß es sich bei der Geschäftsordnung um eine autonome Satzung handelt; er selbst sprach noch von einer "statutarischen Regelung der internen Angelegenheiten dieses Or1 Vgl. Haagen, Rechtsnatur, S. 35; zum Streitstand (1971) Achterberg, Grundzüge, S. 15; siehe auch Schäfer, Bundestag, S. 65. 2 Arndt, Autonomie, S. 136 f., konstatiert (1966 veröffentlicht) ein fast völliges Erliegen der Diskussion. 3 Von einer neuen Aktualität geht auch Rothaug, Leitungskompetenz, S.68, aus (1979 veröffentlicht). 4 Altmann, DÖV 1956, S. 751 (752); vgl. Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 40; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 68, weist auf die bedeutsame "Einordnung der GO BT als selbständige Rechtsquelle oder bloße Hilfsquelle" hin; Achterberg, Parlaments recht, S. 49, sieht in der "Verrechtlichung des Staatsinnenbereichs" die Notwendigkeit einer rechtlichen Deutung der GO. Diese Dimension wird nicht immer erkannt, so etwa von Finger, Staatsrecht, S. 236, der schon in der Weimarer Republik von einem "vielfach unfruchtbaren Wortstreit" sprach; ähnlich auch BayVfGH 29 11 62 (83); Arndt, Autonomie, S. 148; Maunz, in: MDHS, Art. 40 Rn. 21.

§ 12 Problem der rechtlichen Qualifizierung

167

gans"S. Durch die - ohne Begründung - vorgenommene Übernahme dieser Beurteilung durch das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahr 1952 war damit auch für die h.M. in der Bundesrepublik die Richtung vorgegeben 6 •

2. Einordnungsmethode Zahlreiche Autoren, die sich mit der Rechtsnaturfrage beschäftigen, stützen ihre Lösung auf eine mehr oder minder abstrakte - an der verfassungsrechtlichen Delegationsnorm und dem Erlaßverfahren orientierte - Würdigung der Geschäftsordnung; die rechtlichen Wirkungen und insbesondere die Bindungsintensität werden anschließend anhand des Rechtsnaturbefundes vorgenommen7 . Diese Methode mag bei verfahrensmäßig formalisierten Rechtsquellen wie etwa bei der Verfassung, dem formellen Gesetz oder der Rechtsverordnung ihre Berechtigung haben. Die parlamentarische Geschäftsordnung dagegen stellt ein rechtliches Phänomen dar, dessen rechtliche Beurteilung etwa hinsichtlich der Bindungsfragen nicht von einer weitgehend abgehobenen Rechtsnaturentscheidung abhängen kann, sondern - wie ausführlich dargestellt - nach ihrer von Verfassungs wegen zugedachten Funktion zu bestimmen ist. Deshalb muß eine rechtliche Untersuchung der Geschäftsordnung methodisch von den so vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Dimension getroffenen Feststellungen ausgehen und anhand dieser die Rechtsnatur bestimmen8• In dieser Weise ist denn auch von einigen Autoren verfahren worden9 •

S

Laband, Staatsrecht I, S. 320.

BVerfGE 1, 144 (148): "Die GO des Bundestages ist eine autonome Satzung." Weitere Ausführungen hierzu enthält die Entscheidung nicht. Der gleichen Meinung sind unter ausdrücklicher Berufung auf das BVerfG Lechner/Hülshoff, Parlament, S. 186; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 40 Rn. 5; vgl. außerdem Maunz, in: MDHS, Art. 40 Rn. 21. 7 Vgl. Steiger, Grundlagen, S. 34 Fn. 2, der von der Rechtsnatur auf den Rang schließen will; kritisch Rothaug, Leitungskompetenz, S. 68 f.; auch kritisch dazu Achterberg, Parlamentsrecht, S. 51. 8 Völlig zutreffend Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 120 (zur Regierungs-GO), der eine Ableitung aus "einem abstrakten Modellbegriff der GO" ablehnt; ebenso Rothaug, Leitungskompetenz, S. 69. 9 Beispielsweise von Schäfer, Bundestag, S. 65; ähnlich zumindest Stern, Staatsrecht, § 26 III 6d, der von der (verneinten) Bindungswirkung nach außen auf die Rechtsnatur schließt. 6

168

3. Kap.: Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung

B. Leitende Gesichtspunkte bei der Problemlösung 1. Ergebnisse der vorhergehenden Untersuchungen Im ersten Kapitel wurde der Nonncharakter der Geschäftsordnung als einheitlich zu behandelnde Rechtsquelle anhand des öffentlich-rechtlichen Rechtssatzbegriffs festgestellt (S. 44 ff.). Ebenso wurde dort das Rangproblem zwischen (fonnellem) Gesetz und Geschäftsordnung als solches anerkannt und zugunsten eines Vorrangs des Gesetzes entschieden; hierbei wurde wesentlich auf die höhere Stellung des auch andere Staatsorgane umfassenden Gesetzgebers abgestellt (S. 53 f.). Als Rechtsgrundlage für die Geschäftsordnung wurde nicht die nur deklaratorische verfassungsrechtliche Delegationsnonn, sondern der verfassungsrechtliche (parlamentsbezogene) Gesamtzusammenhang angesehen (S. 69 ff.). Im zweiten Kapitel wurde die grundSätzlich zeitlich unbegrenzte Geltung mit der Begründung festgestellt, daß als Geschäftsordnungsgeber nicht der konkret gewählte Personen verband, sondern das von der Diskontinuität nicht berührte Staatsorgan anzusehen ist (S. 85 f.). Der Adressatenkreis sowohl der personellen wie der institutionellen Bindung ist - wie dargelegt wurde - rein funktional zu bestimmen; dies hat zur Folge, daß auch personell bzw. institutionell Außenstehende von der Geschäftsordnungsbindung erfaßt sind, soweit sie im parlamentarischen Funktions- und Machtbereich agieren (S. 92 ff., 116 ff.). 2. Weitere wichtige Gesichtspunkte a) Reehtscharakter des Parlaments

Die juristische Beurteilung der parlamentarischen Geschäftsordnung hängt maßgeblich von der rechtlichen Einordnung des Parlaments ab; denn dabei handelt es sich ja um das Staatsorgan, für dessen Funktionsbereich und -fähigkeit sie überhaupt existiert. Im Zusammenhang mit der Rechtsfähigkeit des Parlaments ist bereits kurz auf seine rechtliche Beurteilung eingegangen worden (vgl. oben S. 59). So wurde festgestellt, daß es als Staatsorgan anzusehen ist und deshalb keine nur rein gesellschaftliche Vereinigung darstellen kann. Qualifizierungen etwa als "politischer Verein" oder als Körperschaft bzw. körperschaftsähnliche Einrichtung lO beruhen (neben dem oben genannten konstitutionellen Vorverständnis) auf der irrtümlichen Anknüpfung an den 10 So aber Vogler, Ordnungsgewalt, S. 5; ähnlich Maunz, in: MDHS, Art. 38 Rn. 7; vgl. Haagen, Rechtsnatur, S. 35 f., der einen eingehenden Vergleich zwischen Parlament und autonomer Körperschaft vornimmt.

§ 12 Problem der rechtlichen Qualifizierung

169

konkret gewählten Personenverband; tatsächlich jedoch bilden diese in dieser Funktion als Organwalter anzusprechenden Personen nur einen zeitlichen Ausschnitt des kollegial verfaßten Staatsorgans ParlamentlI. Allein hierauf kommt es auch bei der rechtlichen Einordnung des Parlaments an; sowohl das Parlament insgesamt wie auch seine einzelnen Mitglieder haben keine etwa gegenüber dem Staat bestehenden Rechte oder Ansprüche, sondern verfügen lediglich über Kompetenzen innerhalb der staatlichen Aufgabenteilung l2 • Wegen deren Unvereinbarkeit mit dieser Eingebundenheit des Parlaments in die innerstaatliche Organisation und Kompetenzordnung verbieten sich alle Anleihen im autonomen oder privatrechtlichen Bereich. b) Erlaß- und Änderungsverfahren der Geschäftsordnung, insbesondere das PubUkationserfordernis

Ein weiterer bedeutsamer Gesichtspunkt für die Rechtsnaturbestimmung ist das Erlaß- und Änderungsverfahren der Geschäftsordnung. Der Geschäftsordnungserlaß erfolgt ebenso wie die Änderung regelmäßig in einem stark vereinfachten Verfahren, also insbesondere ohne die für Gesetze vorgeschriebenen drei Lesungen l3 ; nur in einigen Parlamentsgeschäftsordnungen der Länder werden bei Änderungen eine Vorprüfung durch den zuständigen Ausschuß 14 oder mehrere Lesungen lS verlange 6 • In jedem Fall aber wirken hier keine anderen Staatsorgane mit.

11 Haagen, Rechtsnatur, S. 42; zumindest mißverständlich Stern, Staatsrecht, § 26 I 3, der das Parlament als ,,körperschaftlich organisiert" ansieht; er verkennt dabei jedoch den Unterschied zwischen Kollegium und Köperschaft. 12 Fülster, Reichstaatsrecht, S. 473; Roßmann, Leitung, S. 11; Mattem, Grundlinien, S. 8; unklar Bernau, Geschäftsordnungen, S. 88; auch bei den prozessualen "Rechten" des Parlaments bzw. seiner Teilorgane im Organstreitverfahren handelt es sich nicht um außerstaatliche Rechte gegenüber dem Staat; so wird auch nicht der Staat, sondern nur das beklagte Organ verurteilt. Zu weitgehend daher Stern, Staatsrecht, § 26 I 3. 13 Vgl. Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 127; Bernau, Geschäftsordnungen, S. 186; zu weitgehend allerdings Blischke, Schellknecht-FS, S. 61, der Änderungen schon aufgrund interfraktioneller Vereinbarung oder Entscheidung des Präsidenten für möglich hält. 14 § 90 GO Abgh. Berl. 1S §§ 100 GO LT Nds., 87 GO LT Sachs.-Anh.; besonders differenziert ist die Regelung in § 92 GO BS Hmb., wonach entweder die 213-Mehrheit oder aber zwei Lesungen (mit mindestens sechs Tagen Pause dazwischen) erforderlich ist. In BadenWürttemberg gilt zwar das vereinfachte Verfahren, ist jedoch - wie bereits erwähnt in jedem Fall eine Mehrheit von zwei Dritteln erforderlich, ebenso in Sachsen. 16 Vgl. dazu Haagen, Rechtsnatur, S. 53; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 331.

170

3. Kap.: Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung

Auch die Publikation erfolgt nicht (mehr) durch die Regierung oder das Staatsoberhaupt, sondern durch den Parlamentspräsidenten 17 • Im Schrifttum wird deren Erforderlichkeit überwiegend bestritten, weil die Geschäftsordnung ohnehin nur für die Personen gelte, die sie beschlossen hätten 18; vor dem Hintergrund des personal verstandenen Adressatenkreises der h.M. ist dies auch vertretbar, wenngleich aus historischen Gründen eigentlich jede objektive Rechtsnorm einer ordnungsgemäßen Publikation bedarfl9 • Bei einem funktionalen Verständnis des Adressatenkreises - wie es hier vertreten wird - tritt jedoch das Problem auf, daß von außen in den parlamentarischen Funktionsbereich eintretende Personen bzw. Amtswalter sich schon aus Gründen der Rechtssicherheit vor diesem Eintritt über die dort geltenden Regeln informieren können müssen (vgl. oben S. 110 f.)20; das betrifft vor allem Bürger, die als Zuhörer eine Sitzung verfolgen oder gar als Auskunftspersonen an der parlamentarischen Arbeit mitwirken wollen, sowie außerdem an einer Parlamentskandidatur interessierte Bürger. Schließlich gilt dies auch für die beteiligten Staatsorgane, die nur zum Teil ein jederzeitiges Zutrittsrecht haben. Deshalb bedarf die parlamentarische Geschäftsordnung für ihre Gültigkeit - zumindest gegenüber dem Parlament nicht zugehörigen Personen bzw. Amtswaltern - einer Veröffentlichung; im Zeitraum zwischen der Beschlußfassung und der Veröffentlichung kann die Geschäftsordnung folglich bestenfalls für und gegen die Abgeordneten im Bereich des Organverhältnisses wirken21 . Da die Verfassungen für die Publikation jedoch keine Formvorschriften - wie etwa bei Gesetzen - enthalten, ist die Art und Weise der Veröffentlichung als von der Geschäftsordnungskompetenz mitumfaßt anzu-

17 Die Veröffentlichung der GO RT von 1922 im RGBl. erfolgte durch den Reichsinnenminister (RGBl. 1923 H, S. 101 ff.), die GO BT von 1951 durch den Bundesinnenminister (BGBl. 195211, S. 389 ff.). 18 Haagen, Rechtsnatur, S. 47; BayVfGH 8 H 91 (101); Ritzel/Bücker, Handbuch, Einl. GO, S. 4. 19 BayVfGH 8 H 91 (l01); zur historischen Entwicklung des Publikationserfordernisses siehe Giese, AöR 76, S. 464 (466-475); a.A. Rösch, Geschäftsordnung, S. 60 f., der mit dem fragwürdigen Hinweis auf die Ausnahmeverordnungen des Reichspräsidenten aufgrund von Art. 48 WRV "die Verkündung einer ... Rechtsnorm (für) kein notwendiges juristisches Moment für deren Verbindlichkeit" hält, sondern "vielmehr nur (für) eine Erleichterung der Kenntnisnahme durch den Staatsbürger". 20 Vgl. Rothaug, Leitungskompetenz, S. 74. 21 Insofern zu undifferenziert Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 128; praktisch relevant etwa bei der am 12.12.1922 beschlossenen GO RT, die am 1.1.1923 in Kraft treten sollte, aber erst unter dem 17.2.1923 im RGBl. veröffentlicht wurde, oder bei der am 6.12.1951 beschlossenen GO BT, deren Inkrafttreten für den 1.1.1953 vorgesehen war, aber erst unter dem 28.1.1952 im BGBl. veröffentlicht wurde; vgl. Arndt, Autonomie, S. 144 f. Fn. 39.

§ 12 Problem der rechtlichen Qualifizierung

171

sehen 22 . Die auf Reichs- bzw. Bundesebene seit der Weimarer Republik übliche Praxis der Publikation im Reichs- bzw. Bundesgesetzblatf3 ist daher sinnvoll, nicht aber zwingend24 ; ein gesondertes ,,Parlamentsamtsblatt" wäre ebenso denkbarS . c) Weitgehende Identität von Nonngeber, -adressat und -anwender

Wie bereits dargelegt wurde, ist das Parlament als Geschäftsordnungsgeber anzusehen; Adressat sind alle im parlamentarischen Funktions- und Machtbereich agierenden Personen bzw. Amtswalter, also - quantitativ und qualitativ gesehen - vor allem die das Parlament bildenden Abgeordneten. Aber auch die Anwendung der Geschäftsordnung liegt - zumindest letztlich - beim Parlament (woran die partielle Delegation auf Teilorgane nichts ändert), wie oben anhand der Ordnungs- sowie Auslegungs- und Rechtsfortbildungskompetenz gezeigt wurde. Wegen der funktionalen Bindung von Nichtmitgliedern des Parlaments liegt zwar damit keine völlige, aber doch immerhin eine sehr weitgehende Identität von Normgeber, -adressat und -anwender vor. Dies unterscheidet die Geschäftsordnung von "normalen" Quellen objektiven Rechts, bei denen als Normgeber die Legislative (mit abgeleiteter und eingeschränkter Kompetenz die Exekutive bei Rechtsverordnungen), als Adressat die Gesamtheit der Bürger und als Anwender die dazu berufenen Staatsorgane der Exekutive und Judikative (im Bereich des Privatrechts auch die Vertragsparteien) anzusehen sind; hier also kann trotz partiell möglicher Überschneidungen noch lange nicht von einer auch nur weitgehenden Identität gesprochen werden. Die fast verwirklichte "Selbstgesetzgebung" stellt also ein typisches und besonderes Merkmal der Geschäftsordnung dar, das folglich bei der Rechtsnaturbestimmung berücksichtigt werden muB26•

22

Haagen, Rechtsnatur, S. 47; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 74.

Dabei waren die "inneren Angelegenheiten des Bundestages und des Bundesrates" (bzw. "des Reichstages ... ") zunächst dem Teil 11 zugeordnet; seit 1959 werden diese nicht mehr bei den Sachgebieten des Teils 11 erwähnt, weshalb sie wegen der Generalklausel bei Teil I ("Gesetze, Verordnungen und sonstige Veröffentlichungen von wesentlicher Bedeutung") seither zu diesem Teil gerechnet werden. 24 Keine amtliche Publikation erfuhr die GO RT im Kaiserreich; vgl. Arndt, Autonomie, S. 144 Pn. 39. 25 Hubrich, Verfassungsrecht, S. 65. 26 Auf dieses Identitätsproblem weist auch Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rn. 2, hin. 23

172

3. Kap.: Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung

d) Einheitlichkeit der Geschäftsordnung hinsichtlich ihrer Rechtsnatur

Aus der Einheitlichkeit der Geschäftsordnung als Rechtsnonn ergibt sich auch das Erfordernis einer einheitlichen Rechtsnaturbestimmung; denn bei der Geschäftsordnung handelt es sich um eine als einheitliche Kodifikation in einem entsprechenden Schöpfungsakt geschaffene Rechtsquelle27 • Es kann also nicht angehen, verschiedenen Geschäftsordnungsteilen eine unterschiedliche Rechtsnatur zuzuerkennen28 • Hiervon ist die (Nonn-)Ebenenvielfalt der materiellen Geschäftsordnung zu unterscheiden; da Ergänzungs- oder Auslegungsbeschlüsse ebenso wie gewohnheitsrechtliche Vorschriften eben nicht Bestandteil der kodifizierten Geschäftsordnung sind und überdies in separaten Erlaßakten bzw. Entstehungsprozessen begründet wurden, bedarf es nicht etwa einer einheitlichen Rechtsnaturbestimmung für das gesamte untergesetzliche Geschäftsordnungsreche9 ; nur die fonnelle Geschäftsordnung soll hier wegen ihrer herausragenden nonnativen Bedeutung als Rechtsquelle näher qualifiziert werden.

§ 13 Darstellung und kritische Würdigung der Lösungsvorschläge in Literatur und Rechtsprechung mit Ausnahme der Satzung A. Vorbemerkung Vor dem Hintergrund der im vorigen Paragraphen zusammengestellten Prämissen sollen nun die einzelnen in Literatur und Rechtsprechung dargebotenen Rechtsnaturvorschläge kritisch auf ihre Eignung, das Phänomen der Geschäftsordnung in rechtlich charakterisierender Weise zu erfassen, untersucht werden. Dabei werden die Vorschläge in Gruppen zusammengefaßt; deren Bildung ist von jeweils übereinstimmenden Merkmalen bestimmt, die als besonders wesentlich anzusehen sind und an die zumeist auch die Kritik anknüpfen kann 30•

27 Vgl. Haagen, Rechtsnatur, S. 25, 46 f.; Amdt, Autonomie, S. 150; Bemau, Geschäftsordnungen, S. 68; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 43, 79.

28

So aber Rösch, Geschäftsordnung, S. 37; wie hier Rothaug, Leitungskompetenz,

S.77. 29 30

A.A. Amdt, Autonomie, S. 136. Vgl. ähnliche Gruppierung bei Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rn. 44.

§ 13 Lösungsvorschläge in Literatur und Rechtsprechung

173

B. Normcharakterbestreitende Vorschläge 1. Vorbemerkung In der Zeit des noch relativ jungen Parlamentarismus in Deutschland, die noch stark vom konstitutionellen Denken geprägt war und in der deshalb das Parlament noch eher gesellschaftlich verstanden wurde, war der Rechtsnormcharakter der Geschäftsordnung noch umstritten; dies wirkte sich auch auf die damals besonders heftig diskutierte Rechtsnaturfrage aus. 2. Konventionalregeln Julius Hatschek, der herausragende Parlamentsrechtler der Kaiserzeit, vertrat die Ansicht, bei der Geschäftsordnung handele es sich nur um eine von der Parlamentsverwaltung zusammengestellte Sammlung von durch parlamentarische Resolutionen festgestellten Konventionalregeln, was er vor allem auf die mit der Abweichungsmöglichkeit verbundene Bindungsschwäche stützte; denn bei einer Rechtsnorm könne es nicht im Belieben der Normadressaten stehen, ob sie gerade mal gelten solle oder nichf 1• Nach Hatschek ist für Konventionalregeln - im Gegensatz zu einer Rechtsnorm mit entsprechendem Geltungsanspruch - typisch, daß sie in ihrer Anwendung von reinen Zweckmäßigkeitserwägungen abhängf2; konsequent bestritt er auch den Kodifikationscharakter der Geschäftsordnung, wodurch seine starke Beeinflussung durch das englische Recht mit den zahlreichen einzelnen 'orders' deutlich wird33 • Zur Erwiderung auf Hatschek ist zunächst einmal auf die ausgehend vom öffentlich-rechtlichen Rechtssatzbegriff vorgebrachten Argumente für den Rechtsnormcharakter der Geschäftsordnung zu verweisen34 ; insbesondere ist auch auf die obigen Ausführungen zur Abweichungsmöglichkeit hinzuweisen, wonach diese die (gegebenenfalls nur latente) normative Geltung der Geschäftsordnung nicht beeinträchtigt und überdies auch andere - insofern unbestrittene - Rechtsnormen im Einzelfall abbedungen werden 31 Hatschek, Parlamentsrecht, S. 42-44, spricht von einer "Privatarbeit des Bureaus, welches die Resolutionen zusammenfaßt, welche vom Haus festgestellt wurden". 32 Hatschek, Parlamentsrecht, S. 29 f., 43. 33 Hatschek, Parlamentsrecht, S. 44; die ungerechtfertigte Übertragung der englischen Vorstellungen auf die deutschen Geschäftsordnungen kritisieren Rösch, Geschäftsordnung, S. 59, und Rothaug, Leitungskompetenz, S. 74. J4 Amdt, Autonomie, S. 152 f., nennt vor allem die Durchsetzungsmöglichkeiten mit Hilfe der Ordnungsmittel; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 38 f., und Magiera, Staatsleitung, S. 123, weisen auf die prozessualen "Rechte" aufgrund Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GO (die zu Hatscheks Zeit freilich noch nicht existierten) hin.

174

3. Kap.: Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung

können3s . Außerdem zeichnet Hatschek ein von zu starker Willkür im Umgang der Parlamente mit ihrer Geschäftsordnung geprägtes Bild; tatsächlich wurde schon damals nicht exzessiv von der Geschäftsordnung abgewichen36 . Vor allem aber würde eine solche Beurteilung der parlamentarischen Geschäftsordnung, die schon im Konstitutionalismus zumindest sehr fragwürdig war, der Bedeutung dieser Rechtsquelle im freiheitlich-demokratischen Parlamentarismus in keiner Weise gerecht werden können; sie stünde im Gegensatz zu den verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen im Bereich der Staatsorganisation, wonach es sich beim Parlament um das materiell zentrale Staatsorgan handelt und dessen der Verfassungsordnung gemäßes Verfahren nicht außerhalb des Rechts angesiedelt werden kann 37 . 3. Verwaltungsvorscbrift (Verwaltungsverordnung) Ebenfalls noch in der Zeit des Konstitutionalismus kam eine weitere Rechtsnaturtheorie auf, die den Rechtsnormcharakter der Geschäftsordnung bestritt. So wurde von einigen Autoren jener Zeit vertreten, es handele sich dabei um eine Verwaltungsverordnung; diesem nicht mehr gebräuchlichen Begriff entspricht heute im wesentlichen der der Verwaltungsvorschriff8 • Eine solche Verordnung sei "eine die Tätigkeit eines staatlichen Organs regelnde, lediglich innerhalb des Staatsorganismus sich bewegende allgemeine Vorschrift"39, was auch auf die Geschäftsordnung zutreffe. Dem wäre aber schon entgegenzuhalten, daß die Geschäftsordnung - wie gezeigt funktional bedingte Bindungswirkungen auf grundsätzlich außenstehende Personen und Amtswalter hat, was auch nach der obigen Begriffsfassung einer Verwaltungsvorschrift nicht zukommt40 ; außerdem wird zumindest 35 Brentano, Parlamentspräsident, S. 10 f., wirft Hatschek auch einen Widerspruch zu seinen eigenen Äußerungen vor, wenn dieser behauptet, die GO enthalte auch Rechtsnormen; ähnlich Rothaug, Leitungskompetenz, S. 74. 36 Darauf weisen Rösch, Geschäftsordnung, S. 58, und Stier-Somlo, Staatsrecht I, § 81 Anm. I, hin. 37 Vgl. Achterberg, Parlamentsrecht, S. 47. 38 Zur Bereichsreduzierung des Begriffs vgl. Anslinger, Sonderverordnung, S. 7 f.; Stier-Somlo, Staatsrecht I, § 50 Anm. 3, zählt zu den Verwaltungsverordnungen auch "Organisationsverordnungen" über Einrichtung und Zuständigkeitsbegründung staatlicher Behörden; heute wird man jedoch nur die von ihm als "Dienstanweisungen" und "Ausführungsvorschriften" bezeichneten Unterformen noch zu den Verwaltungsvorschriften zählen können; vgl. etwa P. Kirchhof, BVerfG und GG II, S. 88. 39 Fülster, Reichsstaatsrecht, S. 473. 40 Hiervon ist zu unterscheiden eine etwa auf Art. 3 Abs. 1 GG gestützte mittelbare Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften, vgl. P. Kirchhof, BVerfG und GG II, S. 89; Anslinger, Sonderverordnung, S. 16-18.

§ 13 Lösungsvorschläge in Literatur und Rechtsprechung

175

nicht deutlich, daß die Tätigkeit des Parlaments eben von diesem selbst geregelt wird. Doch gerade diese Identität von Normgeber, -adressat und -anwender bei der Geschäftsordnung sah man von der Verwaltungsvorschrift erfaßt, die ja von der Verwaltung erlassen und angewendet wird41 ; diese Überlegung verkennt jedoch, daß die Verwaltungs vorschriften von einer höheren an eine nachgeordnete Stelle gerichtet sind, während im Parlament ein solches Subordinationsverhältnis gerade fehlt42 • Dadurch wird auch deutlich, daß sich ein Regelungsinstitut für die vielschichtige und hierarchisch aufgebaute Verwaltung schon wesensmäßig nicht auf das Parlament übertragen läßt. Außerdem handelt es sich bei Verwaltungsvorschriften um ein ausschließlich dem innerexekutiven Bereich zugeordnetes Regelungsgebilde, während das Parlament das wesentliche oder (in den meisten Ländern) alleinige Organ der Legislative darstellt43 • Schon aus diesen Gründen ist die Beurteilung der Geschäftsordnung als Verwaltungs verordnung bzw. -vorschrift abzulehnen; folglich ist es auch nicht mehr entscheidend, ob man der Verwaltungsvorschrift - wie im jüngeren Schrifttum vermehrt - rnittel- oder unmittelbare Rechtsnormqualität zuerkennt44 •

C. Rangvernachlässigende Vorschläge 1. Verfassung im formellen Sinn Vereinzelte Autoren - vornehmlich im Kaiserreich und in der Weimarer Republik - deuteten durch mißverständliche Formulierungen eine Gleichstellung der Geschäftsordnung mit der Verfassung im formellen Sinn an, indem auf die Ergänzungsfunktion der Geschäftsordnung aufgrund der verfassungsrechtlichen Delegationsnorm hingewiesen wurde45 • Es ist jedoch davon auszugehen, daß hier nur der materiell verfassungsrechtliche Charakter der Geschäftsordnung gemeint war46 ; denn die Verfassung im formellen Sinn beschränkt sich auf die Verfassungsurkunde und ausdrücklich von dieser

lellinek, Schriften und Reden 11, S. 256. 42 Dies räumt auch Steiger, Grundlagen, S. 43, ein. 43 Kritisch Rothaug, Leitungskompetenz, S.75, wonach das Parlament beim Erlaß der GO "in exekutivähnlicher innerorganistorischer Funktion tätig" werde. 44 Str., vgl. P. Kirchhof, BVerfG und GG 11, S. 88; Anslinger, Sonderverordnung, S. 13 f.; Nawiasky, Rechtslehre, S. 118 f.; siehe auch lellinek, System, S. 169. 4S Perels, Reichstagsrecht, S. 3; vgl. außerdem dazu Rösch, Geschäftsordnung, S. 67, und Haagen, Rechtsnatur, S. 19; einzelne Beispiele bei Rothaug, Leitungskompetenz, S. 76. 46 Zur Abgrenzung dieser Verfassungsbegriffe siehe Criegee, Ersuchen, S. 46 f. 41

176

3. Kap.: Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung

inkorporierte Vorschriften47 • Sie kann auch nur im qualifizierten Verfahren (mit 2/3-Mehrheit im Parlament und auf Bundesebene außerdem einer solchen Mehrheit im Bundesrat) geändert werden; die Geschäftsordnung dagegen unterliegt in aller Regel weder hinsichtlich Erlaß, Änderung noch der Aufhebung derartigen Beschränkungen48 • 2. Gesetz im fonnellen Sinn Die Einschätzung der Geschäftsordnung als formelles Gesetz wird mit der parlamentarischen Beschlußfassung begründet49 ; dabei wird jedoch verkannt, daß diese jeweilige Beschlußfassung auf unterschiedlichen Ermächtigungsgrundlagen und innerhalb verschiedener Verfahrensabläufe erfolgt. So sehen die Vorschriften über die Gesetzgebung ein sehr differenziertes Verfahren unter Beteiligung aller wichtigen Organe der Legislative und Exekutive vor; das Verfahren zum Erlaß der Geschäftsordnung ist dagegen auf verfassungsrechtlicher Ebene gar nicht geregelt, zumal es mit dem Wesen eines freiheitlichen (selbstbestimmten) Parlaments - wie dargelegt wurde - unvereinbar wäre, wenn andere Organe bei der normativen Gestaltung des parlamentarischen Funktionsbereichs mitwirken könnten. Weil aber die Rechtsnatur des formellen Gesetzes gerade von der Einhaltung des dafür in der Verfassung vorgesehenen Verfahrens abhängt, kann die Geschäftsordnung nicht in diesem Sinn angesprochen werdenso. 3. Rangvemachlässigung Neben den vorstehend dargelegten Gründen ist gegen beide Rechtsnaturvorschläge einzuwenden, daß die oben begründete und bedeutsame Vorrangstellung von Verfassung und Gesetz Geweils im formellen Sinn) vernachlässigt wird. Wäre die Geschäftsordnung gar als formelles Verfassungsrecht

47 Dies mag in der Weimarer Zeit wegen der Durchbrechungsmöglichkeit gern. Art. 76 Abs. 1 S. 2 WRV noch nicht so streng gesehen worden sein, vgl. allerdings Rösch, Geschäftsordnung, S. 67 f.; aber unter dem 00 verbietet sich eine andere Sicht schon aufgrund Art. 79 Abs. 1 S. 1 00. 48 Rösch, Geschäftsordnung, S. 68; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 76. Auf die diesbezüglichen Besonderheiten in Ba.-Wü. und Sachs. wurde bereits mehrfach hingewiesen. 49 Vgl. Rösch, Geschäftsordnung, S.66; siehe auch Heyden, bei H.-P. Schneider, Opposition, S. 234: "Gesetz ohne Publikationszwang". so Rösch, Geschäftsordnung, S. 66; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S.44; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 76 f.; Nawiasky, Rechtslehre, S.69, 71; P. Kirchhof, BVerfG und 00 n, S. 77.

§ 13 Lösungsvorschläge in Literatur und Rechtsprechung

177

anzusehen, könnte das Parlament allein das niederrangigere Gesetz aushebeln, bei dessen Erlaß das Parlament auf die Kooperation anderer Organe Rücksicht nehmen muß. Das Parlament stünde dann folglich auf einer Ebene mit dem (Verfassungs-)Gesetzgeber, der wegen seiner umfassenden Einbindung aller wichtigen Staatsorgane der Exekutive und Legislative als über dem alleinigen Parlament stehend anzusehen ist (vgl. oben S. 53 f.).

D. Weitere materiell-gesetzliche Vorschläge mit Ausnahme der Satzung 1. Vorbemerkung Der Begriff des materiellen Gesetzes ist von einer Form völlig unabhängig und knüpft nur an den Charakter als Rechtsnorm an. Deshalb fallen unter diesen Begriff - unterhalb der formellen Gesetzesebene - die (Rechts-)Verordnung, die Satzung und das GewohnheitsrechtS 1, wobei auf die Satzung erst später eingegangen werden soll. Diese untergesetzlichen Rechtsnormen haben angesichts der Überlastung des Parlaments in einer zunehmend komplexer werdenden Industriegesellschaft eine praktisch erhebliche Bedeutung S2 . 2. Rechtsverordnung oder gemischte Rechtsund Verwaltungsverordnung Wiederum vor allem zu Beginn des Jahrhunderts wurde von einigen Autoren die Ansicht vertreten, die Geschäftsordnung sei als Rechtsverordnung anzusehen; dabei handelte es sich um die stärkste Mindermeinung, weshalb der Rechtsnaturstreit lange Zeit nur zwischen der Satzungs- und der Verordnungstheorie geführt wurde. Zur Begründung wird vor allem auf die (verfassungsrechtIiche) Ermächtigung hingewiesen, die einer Verordnungsermächtigung in einem (einfachen) Gesetz entspreche; in beiden Fällen handele es sich um eine nur abgeleitete Rechtssetzungsgewalts3 • Doch dieser Ansatz ist zu undifferenziert; natürlich SI Vgl. Nawiasky, Rechtslehre, S. 82 f.; Rösch, Geschäftsordnung, S. 66; Apetz, GO-Autonomie, S. 19. S2 P. Kirchhof, BVerfG und GG 11, S. 81; Kiess, Rechtsverordnung, S. 95; Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof, § 64 Rn. 2 f. S3 Schmid, AöR 32, S. 456-458; Hubrich, Verfassungsrecht, S. 65; Amdt, Autonomie, S. 146 f., der Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG als lex specialis gegenüber Art. 80 Abs. 1 GG ansieht, weshalb ersterer nicht an die Schranken des letzteren gebunden sei.

12 Hau&

178

3. Kap.: Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung

muß sich jede objektiv-rechtliche Norm - also Satzung ebenso wie Rechtsverordnung - auf eine staatliche Rechtsgrundlage stützen. Im modemen Rechtsstaat kommt diesem im Bereich des öffentlichen Rechts das Rechtsgewaltmonopol dergestalt zu, daß es keine nicht letztlich auf ihn zurückzuführenden Rechtsnormen geben kann s4 • Entscheidend ist jedoch die Art und Weise sowie der Umfang der Rechtssetzungsdelegation. Dem Geschäftsordnungsgeber ist eine verfassungsrechtliche - nur funktional (aus sich selbst heraus) begrenzte - Rechtssetzungsgewalt des Parlaments zur Regelung aller Angelegenheiten im funktionalen Innenbereich eingeräumt worden, die - wie festgestellt wurde - nicht zur Disposition steht; der Verordnungsgeber dagegen füllt lediglich einen ihm vom (einfachen) Gesetzgeber (und damit zumindest maßgeblich vom Parlament) zur detaillierteren Regelung überlassenen Spielraum aus, der engen Grenzen unterworfen ist (vgl. Art. 80 Abs. 1 S.2 00: Inhalt, Zweck und Ausmaß) und ihm zudem jederzeit wieder genommen werden kann ss • Insofern weist Hans Schneider völlig zu Recht auf den bedeutsamen Unterschied der Einräumung einer Rechtsrnacht gegenüber einer bloßen (Ausfüllungs-)Kompetenz hin S6 • Als weiteres Argument wurde darauf hingewiesen, daß es sich bei der Geschäftsordnung ebenso wie bei der Verordnung um staatliches Recht handeles7 ; wenngleich dies zutrifft, ist damit noch nicht diese Charakterisierung gerechtfertigt, da es auch noch andere staatliche Rechtsquellen gibt. Nur ergänzend sei noch darauf hingewiesen, daß es sich bei der Verordnung historisch wie normativ (vgl. Art. 80 Abs. 1 00) um ein Regelungsinstrument der Exekutive handelt; den Verordnungs begriff in den legislativen Bereich herüberzuziehen würde bedeuten, ihn eines ganz wesentlichen Sinngehaltes zu entkleidens8 • Außerdem ist dem Verordnungsbegriff - unabhängig davon, ob es sich um eine Rechts-, Sonder- oder Verwaltungsverordnung handelt - die rechtliche Überordnung des Normgebers gegenüber dem Norm54 Siehe Hamann, Satzungen, S. 19, 21; 50; Nawiasky, Rechtslehre, S. 78; Kiess, Rechtsverordnung, S. 51 f.; Ossenbühl, in: lsensee/Kirchhof, § 66 Rn. 36. 55 Vgl. Nawiasky, Rechtslehre, S. 75 - 77, der zwischen auf Verfassungsbestimmungen beruhenden (..gesetzesvertretenden") und aufgrund gesetzlicher Ermächtigung erlassenen Verordnungen unterscheidet. 56 H. Schneider, Möhring-FS, S. 522 f. 57 Roßmann, Leitung, S. 15; genau dies bestreitet Laband, Staatsrecht I, S. 320, der die Verordnungsform gerade wegen ihres Charakters als staatliche Regelung ablehnt. 58 Haagen, Rechtsnatur, S. 26; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 41; Stier-Somlo, Staatsrecht I, § 50 Anm. I, sieht die Verordnungsgewalt als Teil der vollziehenden Gewalt; P. Kirchhof, BVerfG und GG 11, S. 82, spricht von einer eigenständigen Aufgabe der Exekutive; siehe auch Nawiasky, Rechtslehre, S.73, der als Verordnungsgeber nur eine staatliche Instanz anerkennt; enger bei Anslinger, Sonderverordnung, S. 33.

§ 13 Lösungsvorschläge in Literatur und Rechtsprechung

179

adressat immanent59 ; gerade daran fehlt es aber bei der parlamentarischen Geschäftsordnung. Die h.M. bringt gegen die Verordnungstheorie noch weitere Argumente vor, die vor dem Hintergrund der hier vertretenen Bindungswirkung der Geschäftsordnung allerdings nicht oder nur eingeschränkt übernommen werden können. So gilt die Verordnung auch für Außenstehende und über das Ende der Wahlperiode hinaus, was mit der oben dargestellten h.M. nicht in Einklang zu bringen ist; zudem bedarf sie der Publikation, was von der h.M. für die Geschäftsordnung bestritten wird60 • Hinsichtlich der Außenwirkung ist der h.M. unter der Maßgabe zuzustimmen, daß die Geschäftsordnung zwar personell-institutionell, nicht aber funktional nach außen wirken kann. Nach alledem kann der Verordnungstheorie nicht gefolgt werden. Eine Nebenansicht hierzu geht von einer gemischten Rechtsnatur von Rechts- und Verwaltungs verordnung aus, weil die Geschäftsordnung sowohl rechtlich verbindliche als auch rein organisatorische Regelungen ohne normative Relevanz enthalte61 ; neben der zu beiden Rechtsnormtypen dargestellten Kritik ist diesem Vorschlag noch entgegenzuhalten, daß dieser dem oben bereits ausdrücklich festgestellten und begründeten Prinzip der Einheitlichkeit der Rechtsnatur widerspricht (S. 172)62, weshalb diese Ansicht ebenfalls abzulehnen ist63 •

E. Wirkungssphärenbezogene Vorschläge 1. Amtsrecht

Hans Schneider hat die parlamentarische Geschäftsordnung als ,,Amtsrecht" qualifiziert; darunter versteht er im Anschluß an Herbert Krüger "eine

Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 122. Hatschek, Parlamentsrecht, S.41; Rösch, Geschäftsordnung, S.70; Perels, in: AnschützlThoma, S.449; Haagen, Rechtsnatur, S.26; AchterberglSchulte, in: MKAS, Art. 40 Rn. 36; Brentano, Parlamentspräsident, S. 9 f.; Reifenberg, Geschäftsordnungen, S. 41 f.; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 77 f. 61 lellinek, Schriften und Reden 11, S. 253, 256; ders., System, S. 169; Giese, Weimarer Reichsverfassung, Art. 26 Anm. 1; außerdem dargestellt bei Achterberg, Parlamentsrecht, S. 50 62 Darauf weist Arndt, Autonomie, S. 149, ausdrücklich hin. 63 Sie wurde vom Schrifttum seit Giese nicht mehr ernsthaft aufgenommen; in . dessen GG-Kommentar wurde unter der Bearbeitung von Schunck diese Ansicht außerdem zugunsten der h.M. aufgegeben, vgl. Arndt, Autonomie, S. 139; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 68. 59

60

12"

180

3. Kap.: Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung

Erklärung des Amtes durch seinen Träger, wie es seine Aufgabe versteht und wie es sich ihrer zu entledigen gedenke'