Otokar Fischer (1883–1938): Ein Prager Intellektueller zwischen Dichtung und Wissenschaft [1 ed.] 9783412518011, 9783412517991

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Otokar Fischer (1883–1938): Ein Prager Intellektueller zwischen Dichtung und Wissenschaft [1 ed.]
 9783412518011, 9783412517991

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OTOKAR FISCHER (1883–1938) Ein Prager Intellektueller zwischen Dichtung und Wissenschaft

VÁCLAV PETRBOK, ALICE STAŠKOVÁ, ˇ PÁN ZBYTOVSKÝ (HG.) ŠTE

:: INTELLEKTUELLES PRAG IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT Herausgegeben von Steffen Höhne (Weimar-Jena), Alice Stašková (Jena) und Václav Petrbok (Prag)

Band 15

OTOKAR FISCHER (1883–1938) Ein Prager Intellektueller zwischen Dichtung und Wissenschaft

Herausgegeben von Václav Petrbok, Alice Stašková und Štepán Zbytovský

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages. Herausgegeben mit freundlicher Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds

und des Prager Zentrums für Jüdische Studien der Karls-Universität

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Otokar Fischer, 1925, Fotoatelier J. F. Langhans, Prag. Literaturarchiv des Museums für nationales Schrifttum (LA PNP) 57/81/5499. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Korrektorat: Sven Lüder, Jena; Václav Petrbok, Prag; Alice Stašková, Jena; Štepán Zbytovský, Prag

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51801-1

Inhaltsverzeichnis Otokar Fischer – In Grenzgebieten. Eine Einleitung Die Herausgeber............................................................................................................9 Zum Geleit Jiří Brabec...................................................................................................................15 Jiří Stromšík...............................................................................................................21

1. Aspekte einer Biographie „Entlass deine Getreuen nicht mehr weiter in die Welt, / nur die, die dir sehnsüchtig wieder entgegeneilen“: die persönlichen und familiären tschechischdeutschen Affinitäten Otokar Fischers Václav Petrbok...........................................................................................................25 Otokar Fischer in Berlin (1903/1904) Michal Topor..............................................................................................................65 In Wort und Bild: Otokar Fischer und Vlasta Vostřebalová Michala Frank Barnová.............................................................................................97

2. Korrespondenzen und Kontexte: Nationalität, Kulturgeschichte und Philologie Zu Judentum und Nationalismus in Otokar Fischers Korrespondenz Kateřina Čapková.....................................................................................................121 Otokar Fischers Verhältnis zu Frankreich und Belgien Marie-Odile Thirouin...............................................................................................147 Otokar Fischer und die Prager deutsche Literatur Barbora Šrámková....................................................................................................179 Otokar Fischer und Arnošt Vilém Kraus. Begegnungen von zwei Generationen der Prager tschechischen Germanisten in den Jahren 1901–1938 Lenka Vodrážková..................................................................................................191

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Wechselseitige Beobachtungen. Die Philologen Otokar Fischer und Josef Körner im Dialog Ralf Klausnitzer......................................................................................................211

3. Literatur, Kultur und Theorie „Nicht so leicht in die Augen springend …“ Grenzen der Methode wechselseitiger Bereicherung und ihre bedenklichen Schösslinge Daniel Vojtěch..........................................................................................................247 Der (farben-)blinde Fleck in der Wissenschaftsgeschichte: Otokar Fischer und sein deutsches Werk im germanistischen Kontext Myriam Isabell Richter /Hans-Harald Müller..........................................................261 Otokar Fischer und der Prager Linguistische Zirkel. Zu konzeptionellen Korrespondenzen zwischen Fischers „Unnennbarem“ und Mukařovskýs „semantischer Geste“ Irina Wutsdorff.........................................................................................................283 Zu Otokar Fischers Aufsatz Das Problem der Erinnerung und deren Bedeutung für die Poesie Manfred Weinberg....................................................................................................301 Lyrik, Psychologie und Wissenschaft (Otokar Fischer als Dichter) Daniel Řehák...........................................................................................................313 „(neboť není ›náhody‹)“ Anmerkungen zu Otokar Fischers Auffassung von Literaturpsychologie und Richard Weiners Traumpoetik Filip Charvát............................................................................................................333

4. Literaturgeschichte, Vermittlung und Übersetzung Der Unaussprechliche. Otokar Fischers Kleist-Rezeption Dieter Heimböckel....................................................................................................351 Philologus (und) poeta: Fischers Heine. Mit Anmerkungen zu Fischers Universitätsvorlesungen Alice Stašková..........................................................................................................367

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Otokar Fischers Gottfried Keller-Lektüre. Eine wissenschaftshistorische Betrachtung Steffen Höhne...........................................................................................................389 „Don Juan der Sprache“. Otokar Fischer und die tschechische NietzscheRezeption Claus Zittel...............................................................................................................407 „Er war ein Dichter, den wir sehr geliebt …“ Otokar Fischer und Hugo von Hofmannsthal vor dem Ersten Weltkrieg Lucie Merhautová.....................................................................................................427 Wedekind – Fischer – Zavřel: Hoffnungsvolle Begegnung auf dem Theater 1914 Štěpán Zbytovský......................................................................................................465

5. Philologie und (Kultur-)Politik Otokar Fischer, Kleist und der Reichstagsbrand (1933). Zur literarischen Analyse politischer Provokationen Martin Maurach.......................................................................................................493 „Schwindet jene Fremdheit, die sich zwischen zwei im selben Land lebende Völker legte“? Otokar Fischer als Schauspielchef des Prager Nationaltheaters Petra Ježková............................................................................................................501 Die Rolle Otokar Fischers in tschechoslowakischen Hilfsorganisationen für deutsche Flüchtlinge nach 1933 Zuzana Duchková....................................................................................................513

Abbildungsnachweis..............................................................................................525 Namensregister.......................................................................................................527 Adressen der Autorinnen und Autoren.............................................................543

Otokar Fischer – In Grenzgebieten. Vorwort Aufschlussreich für die Auseinandersetzung mit Otokar Fischer (1883–1938) sowie für die Verbindungen zwischen seinem Schaffen und seiner Biografie ist ein im Jahre 1931 unter dem Titel Do života. Osobnosti naší doby mladému pokolení [Ins Leben. Persönlichkeiten unserer Zeit an das junge Geschlecht] erschienener Band, in dem der Literaturhistoriker Hugo Siebenschein sowie der Schriftsteller Pavel Sula (eig. Josef Sulík) Ansprachen tschechoslowakischer Intellektueller an die Jugend versammelten. Denn unter den zahlreichen Darlegungen persönlicher Lebensgrundsätze sowie Erinnerungen an prägende Kindheits- und Jugenderlebnisse ist auch ein Beitrag Fischers enthalten. Besonders nachdrücklich schildert Fischer darin, wie seine eigene Lebensund Weltauffassung durch die erschütternde Erfahrung des frühen Todes seines Vaters geprägt wurde. Die Lebenskrise konnte von ihm bewältigt, ja produktiv gemacht werden durch Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln. Sie wurde zu einem Aufbruch auf neue Wege, zu neuen Ambitionen genutzt. Und ausdrücklich suchte er gerade dies auch auf seine literarische Tätigkeit zu beziehen: Nelituji žádné odbočky, nedívám se sentimentálně na žádný ze svých literárních neúspěchů, nežehrám na kritiky, kteří ten neb onen můj pokus odmítali: naopak, neboť tím mě jenom ponoukali k tomu, abych šel do sebe, abych se snažil příštím svým činem je přiměti k revisi jejich vlastního úsudku. Mám nedůvěru k hladké dráze a k lehkým vítězstvím, věřím v tvůrčí sílu tragiky a v plodnost úsilí kritického a autokritického. Jinými slovy, jak jsem jednou radil ‚mladému umělci‘: Ranili tě? Hůř se raň! Dobij se! A z mrtvých vstaň! [Ich bereue keinen der Abstecher, blicke auf keinen meiner literarischen Misserfolge mit Sentiment zurück, beschwere mich nicht über die Kritiker, die diesen oder jenen meinen Versuch zurückgewiesen haben: im Gegenteil, denn dadurch haben sie mich nur angeregt, in mich zu gehen und sie mit meiner nächsten Tat zur Revision ihres eigenen Urteils zu bewegen. Ich bin misstrauisch gegenüber einer glatten Laufbahn und einfachen Siegen. Ich glaube an die schöpferische Kraft der Tragik und an die Fruchtbarkeit der kritischen und autokritischen Anstrengung. Mit anderen Worten, wie ich einmal dem ‚jungen Künstler‘ riet: Verwundet worden? Nimm’s in Kauf! Schlag’ Dich tot! Und stehe auf!]

Die Beiträge des vorliegenden Bandes bezeugen, dass diese Worte keineswegs als billige Selbststilisierung eines emphatischen Kleist- oder Nietzsche-

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Verehrers gelesen werden sollten, sondern auf Substanzielles verweisen. In ihnen wird sichtbar, dass Otokar Fischer nicht nur eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des Prager Kulturlebens zwischen der Jahrhundertwende und dem Zweiten Weltkrieg war, sondern auch ein international beachteter Wissenschaftler und Intellektueller. Fischer wuchs in einer jüdischen Familie in der Nähe von Prag, in Kolín, auf und lernte Deutsch wie Tschechisch – eine Bilingualität, die er später auch für seine publizistische Tätigkeit nutzte. Obwohl die Bedeutung dieser biographischen Eckdaten im Einzelnen klar scheint, fällt es heutzutage schwer, Fischer mit überlieferten kulturellen, nationalen, ethnischen oder sprachlichen Charakteristiken zu erfassen. Er war vielfältig begabt und entsprechend in mehreren Berufen erfolgreich: Als Philologe wurde er Professor für Germanistik an der Prager tschechischen Universität, als Lyriker und Dramatiker war er sehr angesehen. Als Übersetzer erschloss er der tschechischen Kultur und Sprache die großen Werke der deutschen Literatur, als Leiter des Schauspiels am Prager Nationaltheater und als rühriger Publizist, Kritiker und Essayist wirkte er in mannigfachen kulturpolitischen Kontexten. Als zweisprachiger Germanist und auch als jüdischer Intellektueller erwies er sich als unermüdlicher Vermittler zwischen der deutschsprachigen und der tschechischen Kultur in den schweren Zeiten unmittelbar vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Durch seine öffentliche Tätigkeit, sein politisches Engagement und sein persönliches Charisma gehört Otokar Fischer zu jenen wichtigen Persönlichkeiten innerhalb der Kultur Mitteleuropas, die es gleichermaßen in ihrer Individualität wie in ihren geradezu exemplarischen Eigenschaften in vielfältiger Weise zu untersuchen gilt. Nicht zuletzt der politischen Entwicklung der kommunistischen Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg ist es geschuldet, dass eine solche Forschungsarbeit bislang ausblieb. Mit guten Gründen betonen die beiden Nestoren der Prager Literaturwissenschaft Jiří Brabec und vor allem Jiří Stromšík in ihren Geleitworten (die auch im Folgenden abgedruckt sind) die Tatsache, dass beide für ihn eigentlich zuständigen philologischen Disziplinen – Bohemistik und Germanistik – ihrem wichtigen tschechischen Vertreter jeweils viel schuldig blieben. Dies hat mehrere Gründe, gesellschaftspolitische wie auch fachliche. Kaum ist heute jemand zu finden, der fähig wäre, Fischers Schaffen in aller Komplexität und als Ganzes zu analysieren. Abgesehen von einigen Studien, die sich einzelnen Facetten von Fischers vielseitiger Tätigkeit (Dichtung, Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit) widmen und die jeweils mit Editionsvorhaben verbunden sind (u. a. zuletzt die zweibändige Auswahl aus seinem literaturwissenschaftlichen Werk oder die Briefwechsel mit einigen Repräsentanten

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des deutschen, französischen und tschechischen öffentlichen und kulturellen Lebens), beschäftigte sich mit dem in seiner Zeit gefeierten Autor auf systematische Weise bislang nur die tschechische Theaterwissenschaft (vgl. den repräsentativen Band seiner Kritiken und programmatischen Aufsätze, eingeleitet von einer umfangreichen Studie). Bibliographisch wurden Arbeiten über Fischer im Standardwerk der tschechischen literaturwissenschaftlichen Lexikographik Lexikon české literatury sowie im zweiten Teil der erwähnten Werkausgabe erfasst (letztere berücksichtigt die nach 1980 erschienenen Titel); ein Verzeichnis seiner eigenen Schriften liegt bislang lediglich in Form eines nichtpublizierten und unkorrigierten Manuskripts vor. Fischers Werk und öffentliche Wirkung befanden sich, selbst 2013, im Jahr seines 75. Todestages, eher am Rande des öffentlichen Interesses. Im deutschsprachigen Kontext ist Fischer nahezu unbekannt, ein Eintrag über ihn fehlt u. a. auch im umfangreichen, oftmals auf Primärquellen basierenden Standardwerk Internationales Germanistenlexikon, in dem einige andere tschechische Germanisten berücksichtigt wurden. Die vorliegende Sammlung von Beiträgen stellt sich deshalb die Aufgabe, in einer ersten methodischen, auf Quellen und historische Kontexte gestützten Sichtung das Œuvre und die Biographie Otokar Fischers aufzuarbeiten. Fischers Monographien über Heinrich von Kleist, Friedrich Nietzsche und Heinrich Heine sowie auch seine Übersetzungen, etwa diejenige von Goethes Faust, prägen die tschechische Rezeption dieser Autoren bis heute maßgeblich. Darüber hinaus sind es aber gerade auch die historischen Bedingungen, Umstände und Ausprägungen von Fischers erfolg- und folgenreicher Praxis, die ein besonderes Interesse erwecken. Gleichermaßen fachspezifisch und fächerübergreifend gestaltet sich folglich der vorliegende Band. Der mit ihm unternommene Versuch, Persönlichkeit und Schaffen Fischers zu erkunden, gründet auf dem Bewusstsein dafür, dass es gerade die schöpferische Vermittlung war, die Fischers akademische, schriftstellerische und kulturpolitische Tätigkeit auszeichnete und die auch seine Wirkung zu seinen Lebzeiten maßgeblich begründete. In fünf thematischen Blöcken werden die mannigfaltigen Aspekte des Phänomens Otokar Fischer erfasst. In einem ersten Durchgang wird seine intellektuelle wie auch sprachliche Biographie nachgezeichnet, die es über das Individuelle hinaus erlaubt, Möglichkeiten und Grenzen einer mitteleuropäischen intellektuellen Laufbahn zwischen der Jahrhundertwende und dem Zweiten Weltkrieg aufzuzeigen. Der zweite Block widmet sich den nationalen wie übernationalen Interessen, aber auch Problematiken, die eine solche Biographie geprägt haben; die

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Frage einer jüdischen Identität, die Fischer zunehmend reflektierte, scheint dabei von Anfang an durch. Die vielfachen Kontakte und Korrespondenzen, die hier untersucht werden, stellen zudem auch einen Beitrag zur Erforschung der Wissenschaftsgeschichte dar. Dies gilt ebenfalls für den folgenden dritten Teil des Bandes, der die literaturtheoretische Dimension von Fischers Schaffen, seine Ansätze zu einer Theorie der Ästhetik im Kontext der Zeit und in Konfrontation mit zeitgleichen Tendenzen sowie auch seine Dichtung thematisiert. Die philologischen und literaturhistorischen Studien stehen im Mittelpunkt des vierten Blocks. Hier werden nicht nur die großen Monographien und weitere Arbeiten Fischers hinsichtlich ihrer Methodik sowie ihres Beitrags zur jeweiligen Autorenforschung untersucht (zu Kleist, Heine, Gottfried Keller und Nietzsche), sondern auch seine Beziehungen zu zwei großen Autoren der deutschsprachigen Moderne, nämlich Hugo von Hofmannsthal und Frank Wedekind. Den letzten Abschnitt bilden Beiträge, die sich mit Fischers kulturpolitischer Tätigkeit auseinandersetzen; dies geschieht mit Blick auf die Leitung des Schauspiels am Prager Nationaltheater, auf seine Publizistik der 1930erJahre sowie auf sein bedeutendes Engagement für die deutschen und österreichischen Flüchtlinge in der Tschechoslowakei nach 1933. Der Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die im Mai 2013 an der Prager Karls-Universität und im Österreichischen Kulturforum Prag stattfand. Für die problemlose und konstruktive Zusammenarbeit danken die Herausgeber den damaligen Mitarbeitenden des Österreichischen Kulturforum Prag, dessen Direktorin Natascha Grilj sowie dem Programmleiter und Bibliothekar Václav Maidl. Nicht ohne Grund wurde das Österreichische Kulturforum Prag als Veranstaltungsort ausgewählt. Wie bekannt, ist Fischer, nachdem er am 12. März 1938 im Rundfunk vom „Anschluss“ erfahren hat, an Herzversagen gestorben. Als Gastgeber der Tagung gab die führende ausländische Kulturvertretung Österreichs – dessen Kulturschaffenden sich Fischer intensiv widmete, und in dem auch zahlreiche Mitglieder seiner Großfamilie lebten – symbolisch ihre Anerkennung und Dank an ihn weiter. Für die finanzielle Unterstützung der Tagung sowie der Übersetzungen der tschechischen Beiträge sei dem Deutsch-tschechischen Zukunftsfonds und dem Prager Zentrum für jüdische Studien bei der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität gedankt, der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien für jene der Publikation. Weder die Tagung noch die Publikation wären ohne die Arbeit Michal Topors denkbar, der unermüdlich und uneigennützig den Beiträgern sowie Herausgebern mit Archivalienver-

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mittlung, bibliographischen Hinweisen und Ratschlägen zur Hilfe stand. Bei der Bearbeitung und Redaktion der Beiträge erwies sich die Retrospektivní bibliografie české literatury 1775–1945, výzkumné infrastruktury Česká literární bibliografie (http://clb.ucl.cas.cz) [Retrospektive Bibliographie der tschechischen Literatur 1775–1945, Forschungsinfrastruktur Tschechische literarische Bibliographie (http://clb.ucl.cas.cz)] immer wieder als besonders hilfreich, für die dem Institut für tschechische Literatur der Tschechischen Akademie der Wissenschaften zu danken ist. Für die Mitarbeit an der sprachlichen Redaktion des Bandes ergeht ein herzlicher Dank an Herrn Sven Lüder. Zu danken ist nicht zuletzt aber auch allen beteiligten Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzern. Die Herausgeber

Jiří Brabec

Zum Geleit In nahezu allen Abhandlungen, die dem Werk Otokar Fischers gewidmet sind, findet man Wörter wie „vielseitig“, „vielfältig“, „universell“. Sie ­beziehen sich auf das Schaffen des Dichters, Dramatikers, Ästhetikers, Übersetzers, Germanisten, Theaterwissenschaftlers, Literatur- und Theaterkritikers und -historikers, Dramaturgen, Publizisten, Epigrammatikers und Librettisten. Die unermessliche Breite von Fischers Werk zwingt die Forscher natürlich zur Fokussierung auf einzelne Bereiche und Interessenkreise, oft bezahlen sie jedoch diese Spezifizierung ihrer Forschung mit dem Verlust einer reichen Korrespondenz zwischen einzelnen Genres und Themen, die sich gegenseitig durchdringen, ergänzen und beleuchten. Es geht nicht nur um offensichtliche Zusammenhänge zwischen Studien, Übersetzungen, Poesie und Kritik. Bedeutend sind etwa Komparationen zwischen Fischers so verschiedenartigen Dramen und seinen soziologischen Überlegungen oder Repertoireansprüchen. Auch sein kulturell-politisches Engagement in den Anfängen des Nationalsozialismus ist ohne die Kenntnis seiner parallel zustande kommenden literaturgeschichtlichen, theaterwissenschaftlichen und theoretischen Arbeit nur schwer erfassbar. Schon für Fischers Zeitgenossen war klar, dass dieser ­Forscher und Dichter sich der Welt „ne jednou, ale jakoby mnohými ­bytostmi“ [nicht mit einem, aber sozusagen mit mehreren Wesen] bemächtigte. Pražáks Charakteristik von Fischers Persönlichkeit ist nicht vereinzelt: „Duch neklidný, vznětlivý, dramaticky stále vzrušený, pohotový k zápasu o svou myšlenku a cíl. Srdce stále rozechvěné jak jemně laděný nástroj, citlivý seismograf, zaznamenávající bděle zítřejší duchovní počasí a poruchy …“ [Unruhiger, reizbarer Geist, dramatisch stets erregt, bereit zum Kampf um den eigenen Gedanken und eigenes Ziel. Das Herz stets zitternd wie ein sanft gestimmtes Instrument, ein sensibler Seismograph, der wachsam das morgige geistige Wetter und seine Störungen aufzeichnet …]

Otokar Fischer stammte aus der Generation von Dichtern und Literaturhistorikern, die sich mit dem ausklingenden, aber immer noch suggestiven Symbolismus und der Dekadenz auseinandersetzen mussten, ähnlich wie mit der Herrschaft des Positivismus und dem stets faszinierenden Vermächtnis der Kritik der Neunzigerjahre. Während seine Altersgenossen, die Schüler

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Jiří Brabec

Jaroslav Vlčeks (Albert Pražák, Miloslav Hýsek, Arne Novák), den Weg zu jenem „Abstieg in die Unterwelt“ fanden, d.h. zum Entdecken und Beleuchten tschechischer Traditionen, jenen „Fackelträgern“, aus denen sie die Kriterien schöpften, die die chaotische Gegenwart klassifizierten, Fischer, Germanist und Romanist schon durch seine Bildung, war von Anfang an mit Problemen konfrontiert, die vor dem Ersten Weltkrieg die moderne Kunst begleiteten. Ein Teil des damaligen Angriffs junger tschechischer bildender Künstler, Kritiker und Dichter auf vorangehende Orientierungen der Dekadenz und des Jugendstils erfolgte auch durch den Entwurf neuer theoretischer, literarischer und theaterwissenschaftlicher Konstrukte, von denen sich Fischer angezogen fühlen musste. In einem Interview sagte er: „Nejsem ve věcech badatelských dogmatik, přisahající na jedinou samospasitelnou metodu, východiskem je mi živoucí umění…“ [In Sachen Forschung bin ich kein Dogmatiker, der auf eine alleinseligmachende Methode schwören würde, mein Ausganspunkt ist die lebendige Kunst…] Fischers Engagement in Umělecký měsíčník [Monatsschrift für Kunst] und an der Scena [Szene], ähnlich wie an dem Almanach na rok 1914 [Almanach für das Jahr 1914], signalisiert jedoch gleichzeitig ­seinen deutlichen Unterschied zum Autorenkreis dieser Publikationen. Gerade weil er aufmerksam die Geistesrevolten der Vorkriegszeit verfolgte, konnte er sich als Initiator durchsetzen, der die damaligen Bemühungen erweiterte und korrigierte. Als würde er der tschechischen Moderne, die manchmal im rationellen Plan des Schaffens steckenblieb (Neoklassizismus, Kubismus), Quellen aufzeigen, die auf die Verknüpfung der Emotionalität mit dem Willenselement, der Spontaneität mit dem intellektuellen Faktor hindeuteten. Die Gründe, warum er sich zum Studium des in Böhmen – außer des Zerbrochenen Krugs – damals nahezu unbekannten Heinrich von Kleist wandte, kann man bestimmt durch die Untersuchung seiner Berliner Studien ermitteln. Fischers Kleist-Monografie ist jedoch nicht nur auf den deutschen Forschungskontext bezogen, sondern muss auch im Zusammenhang der lebendigen Problematik der tschechischen modernen Theaterwissenschaft gesehen werden. Dies belegt zum Beispiel František Langers Studie vom ersten Jahrgang des Umělecký měsíčník [Monatsschrift für Kunst], in der Fischers Übersetzung der Tragödie Penthesilea im Rahmen zeitgenössischer Besprechungen der jungen Generation bewertet wird. So war es auch später. In den Zwanzigern eröffnete Fischers Übersetzung von Villon die avantgardistische Edition der „verfemten Dichter“. Die Begeisterung für seine Forschungen entfernte Fischer nie von den gegenwärtigen Kämpfen, durch deren Spektrum er auch seine „Aufgaben“ im Feld fand, in dem die Entdeckung und Einführung neuer oder bereits

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begrabener Fragestellungen die Grundprinzipien waren. Nur als Beispiel: Fischer war einer der ersten, die die Bedeutung der Psychoanalyse fürs intellektuelle Schaffen kritisch bewertete. Am häufigsten bewegt sich Fischer – wie er selbst sagt – „in Grenzgebieten“, „an der Grenze“: „Mne osobně zajímá nejvíc určitě a ostře nazíraný individuální zjev a třebas i detail zdánlivě nepatrný, jen jestliže lze na něm vystopovat nějaký vyšší a obecný zákon … krůpěj, ve které se zrcadlí svět.“ [Mich persönlich interessiert am meisten die bestimmt und scharf beobachtete individuelle Erscheinung und vielleicht auch ein Detail, das scheinbar unbedeutend ist, nur wenn daran ein höheres und allgemein gültiges Gesetz aufgespürt werden kann … ein Tropfen, in dem sich die Welt spiegelt.] In einer seiner frühen Studien, O nevyslovitelném [Das Unnennbare], stellte er sein Forschercredo vor und auch die Wege, auf die er sich begeben würde. Es geht ihm um die Beziehung der Seele (d. h. der individuellen ­psychischen Voraussetzungen) zum Wort, dem einmaligen dichterischen Ausdrucks. Während die Gefahr des ersten Faktors darin besteht, dass sich der Forscher oft in außerkünstlerische Bereiche begibt, kann der zweite Faktor wieder leicht im „Mechanismus des Formalismus“ erstarren. Die Schlussfolgerung ist klar: „Vzájemné doplňování a prolínání zřetele psychologického a formálního, [… jež] neodloučí požadavek šíře od úcty k pevnému jasu a neodtrhne zvučícího slova od jeho temného podkladu, od  nevyslovitelného…“ [Das wechselseitige Ergänzen und Durchdringen des psychologischen und formalen ­Aspekts, das den Anspruch der Weite von der Verehrung des festen Glanzes nicht trennt und das klingende Wort von seiner dunklen Grundlage, dem Unaussprechlichen nicht losreißt…] René Wellek schreibt in seiner Kritik der Essays Duše a slovo [Seele und Wort] über die „zakletí v  individualitu“ [Verzauberung in Individualität], den Parallelismus und die Vereitelung eines vereinigenden, synthetischen Zugangs. Jedoch fügt er hinzu: „Je dosti, že Fischer klade tak krásně a jasně vedle sebe tezi a antitezi, duši a slovo.“ [Es genügt, dass Fischer so schön und klar die These und die Antithese, die Seele und das Wort nebeneinanderstellt.] Auch die tschechischen Strukturalisten, vornehmlich Jan Mukařovský, mussten doch ständig zum entfliehenden Problem des Individuums in der Kunst, des Individuums in der Literaturentwicklung, des Menschen in der Welt der Funktionen zurückkehren, ohne zu einem relevanten Schluss zu kommen. In seiner berühmten Studie, die Fischer auf dem im Oktober 1913 abgehaltenen Ersten Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft vortrug, bekannte er: „Nechť se snažíme seberigorózněji vypisovati zápas tvořivosti a kritické analýzy – v nás onen zápas se vždy obnovuje, nám vždy

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Jiří Brabec

znova přiděluje úkol, abychom ‚přiznali barvu‘ a  zaujali osobní stanovisko k otázkám, které snad platí za definitivně rozřešeny…“ […so rigoros wir den Kampf von Produktivität und kritischer Analyse zu beschreiben bestrebt sind, in uns Literarhistorikern tobt und wütet er, dieser Kampf, immer von ­neuem, uns teilt er stets wieder die Aufgabe zu, ‚Farbe zu bekennen‘, ­persönliche Stellung zu Fragen einzunehmen, die vielleicht als endgültig gelöst gelten…]. Wir sind „strážci svých hranic i vetřelci na cizí území“ [Wächter unserer Grenzen und Eindringlinge auf fremdes Terrain in einer Person]. Ich wüßte nicht, wer unter den Literaturforschern jenes „Farbe bekennen“ und die – mit den Worten Roman Jakobsons – „chinesischen Grenzen“ der Literatur selbst zu entkräften versuchen würde. Auch die Monografien Heinrich von Kleist a jeho dílo [Heinrich von Kleist und sein Werk] (1912), Friedrich Nietzsche (1913) und Heine (1923–24) ­stellen Versuche dar, an eher geahnte, mehr oder weniger verborgene äußere Herausforderungen zu antworten, die jedoch vom Dichter und Wissenschaftler intensiv gelebt wurden. In Kleist fand Fischer die Verkörperung der Unruhe, einen reizenden Intellekt, das Gären und den Wirbelwind, das Modell eines Schöpfers, der auch seine eigene Orientierung zu initiieren schien: „Nesetkáme se v  německé literatuře nikde jinde s  živelnějším výbuchem lidských vášní a spolu s dynamičtějším napětím lidské vůle i s poctivějším zápasem lidského intelektu, než u Kleista.“ [Uns begegnet in der deutschen Literatur nirgendwo sonst ein lebhafterer Ausbruch menschlicher Leidenschaften und zusammen mit einer dynamischeren Spannung menschlichen Willens auch ein ehrlicherer Kampf menschlichen Intellekts, als bei Kleist.] In der zweiten Monografie, die eine mehr oder weniger traditionelle Einteilung hat, suchte er die Antwort auf die Frage, was Nietzsches ­Vermächtnis für die zeitgenössische Kultur, die seine Umdeutung verlangte, bedeuten kann. In Nietzsche fand Fischer eine unmittelbare Aufrichtigkeit und einen Heroismus der Selbstdisziplin, eine Persönlichkeit, die „strhuje vše tuhé a tuhnoucí v pohyb a proud“ [alles Starre und Erstarrende in Bewegung und Strom reißt], keinen konstanten Punkt kennt und „podřizuje jsoucno zákonům dění, vznikání a přeměny“ [das Seiende den Gesetzen des Geschehens, Entstehens und der Verwandlung unterordnet]: Fischer schreibt schließlich auch: „Naší době […] nejbližší a nejdražší jest odvaha, s níž vyplouval do ­neznámých moří myšlenkového světa, odvaha, s  níž sahal na problémy, ostatními filosofy zanedbávané, s  níž se obracel proti vlastní ­minulosti, rozbíjel, co bylo přežitou modlou.“ [Unserer Zeit am nächsten und am teuersten […] ist sein Mut, mit dem er auf unbekannte Gewässer der Gedankenwelt zusteuerte, der Mut, mit dem er Probleme anfasste, die von

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anderen ­Philosophen vernachlässigt wurden, mit dem er sich gegen die eigene Vergangenheit wandte, und zerstörte, was überholtes Götzenbild war.] Mit Heinrich Heine setzte sich Fischer als Autor seiner Monografie und als Übersetzer auseinander, aber auch mithilfe von Versen, die auf das ­breitere Thema des Judentums verweisen. Pavel Eisner schreibt in seiner Abhandlung Židovství Otokara Fischera [Das Judentum Otokar Fischers], einem Text, dem die Zeit noch mehr an Aktualität verlieh, als er zum Zeitpunkt seiner Entstehung hatte, über „kardinálním prožitku klaté cizoty mezi židem a jeho hostitelským okolím“ [das kardinale Erlebnis unseliger Fremdheit ­zwischen dem Juden und seiner Gastumgebung]. Im Gedichtband Ozářená okna [Erleuchtete Fenster] (1916) liest man folgende Beichtverse: „Mé místo: křižovatka, můj osud: rozhraní; / mou prapodstatou změna, severojižní můj směr, / můj domov: labyrint věků, má duše: prolnutí sfér – – / Jsem krví oné krve, v níž vyvřel Ahasver“ [Mein Ort: der Knoten, mein Kreuz in Grenzgebieten; / mein Urwesen der Wandel, nordsüdlich mein Ziel, / mein Heim: Labyrinth der Zeiten, meine Seele: der Sphären Ineinanderfließen – – / Ich bin das Blut jenes Blutes, das Ahasver gebar] (Gedicht „V amfiteatru“ [Im Amphitheater]). In der Gedichtsammlung Hlasy [Stimmen] (1923) bekommt diese Selbststilisierung eine weitere Dimension: „Mám odpor k stopám, kudy rod můj šel / a sám jsem poušť, kde bloudí Izrael / … / Já nemluvím. Má mluví krev, mé plémě. / Já nezpívám. To zpívá něco ve mně“ [Ich fühle Widerwillen zu den Spuren meines Geschlechts / und ich selbst bin die Wüste, durch die Israel irrt / … / Ich spreche nicht. Mein Blut spricht, mein Geschlecht. / Ich singe nicht. Etwas singt in mir] (Gedicht Ke kořenům [Zu den Heine Wurzeln]). Das Buch über den „wurzellosen – doppelwurzligen“ ­ wurde geschrieben „nicht nur von einem ausgezeichneten Germanisten, sondern von einem Menschen, der schon gänzlich sein Schicksal auf sich nahm“ (Pavel Eisner). Zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Fischers Heine geriet Europa unter Hitlers Bedrohung. Die Prager Vorträge von Stefan Zweig und Jakob Wassermann vom Anfang der dreißiger Jahre begleitete Fischer durch ­seine Überlegungen. Vor allem der Aufsatz Židé a  literatura [Juden und Literatur] oder die Texte Wassermann a Němci, Wassermann a Češi [Wassermann und die Deutschen, Wassermann und die Tschechen] sind bis heute aktuell. Die dringenden Fragen des Andersseins, der Einheit im kontradiktorischen Feld sollten stets im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen. Die letzten ­Jahre von Fischers Leben waren erfüllt durch vielseitige Aktivitäten, die den Autor eines neuen Essay-Sammelbands Wort und Welt präsentierten, Fischer zeigte sich als Redner auf öffentlichen Versammlungen, als Dramaturg des

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Jiří Brabec

Nationaltheaters, Dichter und Übersetzer, sowie als Moralautorität, die von der ganzen tschechischen Gesellschaft respektiert wurde. Im Nachruf auf Otokar Fischer schrieb Vladislav Vančura Worte, die auch zur Botschaft unserer Konferenz werden können: „Básník i vědec budou prozkoumáni; ale možná, že tváře, které se nám zjeví v kovaných pojednáních, nesplynou v obraz sjednocující osobnosti učeného básníka a básnického vědce, kterého studenti a  čtenáři sledující veřejný život milovali především pro řečené rozpětí.“ [Der Dichter und der Wissenschaftler werden erforscht werden; aber vielleicht werden uns die Gesichter, die uns in bewanderten Abhandlungen erscheinen werden, nicht in ein Bild der vereinigenden Persönlichkeit des gelehrten Dichters und dichterischen Wissenschaftlers verschmelzen, den die Studenten und dem öffentlichen Leben folgende Leser vor allem für diese Spannweite liebten.]

(Übersetzt von Kateřina Ringesová)

Jiří Stromšík

Zum Geleit Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste, die Initiatoren und Organisatoren dieser Konferenz nahmen sich vor, Otokar Fischers Werk „nach Jahren eines überraschenden Vakuums zu bewerten und neu zu beleuchten“. Das Wort „überraschend“ ist vielleicht sogar zu zurückhaltend: Dieses „Vakuum“ – nämlich die Tatsache, dass unsere Wissenschaftsgemeinde seit der Nachkriegszeit keinen Versuch um eine komplexe ­Bewertung dieser Persönlichkeit wagte, die bedeutend in eine Reihe künstlerischer und wissenschaftlicher Bereiche in unserem Land eingegriffen hatte – bleibt ein ständiger Vorwurf für zwei, drei Nachkriegsgenerationen von ­Germanisten, Bohemisten, Slawisten, Romanisten, Übersetzungstheoretikern und allgemeinen Kulturhistorikern. Sein Schüler Eduard Goldstücker fasste dies 1965 im Vorwort zur Anthologie von Fischers Essays sarkastisch zusammen, als er schrieb, dass Fischers Werk „für uns und unsere Nachkommen als Erbe blieb, aber es blieb auch beiseite liegen; die Erben nahmen sich dessen bisher nicht an“. Dieses Paradox hat sicher mehrere Ursachen: Eine davon ist schon die Breite von Fischers Aktivitäten, das die Grenzen vieler Bereiche überschritt und für eng spezialisiertes Forschen – auf das auch die Geisteswissenschaften der Nachkriegszeit hinsteuerten – schwer überschaubar und greifbar war. Otokar Fischer lebte und wirkte „in Grenzgebieten“ – wie der Titel unserer Konferenz in Anspielung auf seinen Essay andeutet, in dem er seine Position selbst am besten erfasste: an der Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft. Der wohl schwerwiegendere und objektiv fassbarere Grund ist die Tatsache, dass die Literaturwissenschaft schon während seines Wirkens begann, sich (im Formalismus, Strukturalismus und Prager Linguistischem Kreis) in eine Richtung zu entwickeln, die seiner Auffassung der Wissenschaft z­ iemlich entfernt war. Für Fischer bleiben die Persönlichkeit des Autors und die Entstehung des Werks aus persönlichen und gesellschaftlichen ­Voraussetzungen zentral – für die Strukturalisten ist nur noch der Text interessant. Der Strukturalismus und verwandte neue Tendenzen strebten radikal eine „Ver-

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wissenschaftlichung“ der Literaturwissenschaft an, eine strenge Methodik, die sich bemühte, sich deutlich vom künstlerischen Material abzugrenzen und die Exaktheit der Naturwissenschaften zu erreichen. Das war für Fischer nur schwer hinnehmbar; in seinem Vortrag Na rozhraní [In Grenzgebieten] bringt er im Gegensatz dazu sein Bedauern zum Ausdruck, dass „pobratimství mezi vědou a uměním“ [die Brüderlichkeit zwischen der Wissenschaft und der Kunst] von beiden Seiten, vor allem von den Künstlern, infrage gestellt wird. Seiner Meinung nach gehört auch „Divination“, Erratung, Einfühlung, zur legitimen Ausstattung eines Wissenschaftlers; er plädiert dafür, dass auch der Wissenschaftler sich um einen ganzheitlichen Blick bemüht, der Forscher soll auch Künstler sein. „Jsme postaveni na rozhraní dějin a filologie; ­psychologie a estetiky; minula i přítomnosti“. [Wir stehen an der Grenze zwischen Geschichte und Philologie; Psychologie und Ästhetik; Vergangenheit und Zukunft.] Dass die spätere Literaturwissenschaft andere Wege nahm als er, heißt natürlich nicht, dass seine Arbeiten „überholt“ worden wären und nichts mehr beizutragen hätten. Die Entwicklung der Geisteswissenschaften folgt, wie wir alle wissen, anderen Gesetzmäßigkeiten als die Entwicklung der exakten Wissenschaften oder der Technik: das heliozentrische Weltbild „überholt“ das geozentrische Weltbild in dem Sinne, dass es ihm die Gültigkeit nimmt und es nur noch für die Historiker des Faches interessant macht. In unseren Fachbereichen würde nur ein sehr kurzsichtiger Forscher denken können, dass Kant im gleichen Sinne Platon oder dass Jakobson Curtius „überholt“ oder „ungültig gemacht“ hätte. Die gegenwärtigen Geisteswissenschaften dürfen und müssen das Werk der schöpferischen Persönlichkeiten der Vergangenheit in Erwägung ziehen; kein heutiger Bohemist – wenn er ein wirklicher Kenner der tschechischen Literatur sein möchte, also mehr als nur ein begrenzter Glossator des Gegenwärtigen – kann František Xaver Šalda umgehen, kein Germanist Otokar Fischer. Es geht nur darum, kritisch zu unterscheiden, was bei ihnen zeitbedingt war und was auch weiterhin als eine dauerhaft gültige Erkenntnis oder fruchtbare Fragestellung wirkt und einen Anreiz zum ­weiteren Nachdenken schafft. Darin liegt wohl auch die Hauptaufgabe und der Sinn unserer Konferenz, vor allem der Beiträge, die sich Fischers literaturwissenschaftlichem Werk widmen werden. Ich bin froh, dass die jüngere Generation unserer Forscher, die diese Konferenz initiiert hat, sich entschied, endlich die Schuld zu begleichen, die unsere Wissenschaft gegenüber Fischers Vermächtnis immer noch hat. Dies ­geschah bestimmt nicht nur aus historischem Interesse, sondern auch weil diese Forscher sich bewusst sind, womit uns sein Werk noch heute bereichern kann.

Zum Geleit

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Denn von dem Dauerhaften, was von Fischers Vermächtnis entdeckt werden kann oder woran erinnert werden sollte, gibt es immer noch genug: In seinem umfassenden und vielfältigen Werk finden bestimmt nicht nur Literaturwissenschaftler im engeren Sinne viele Anregungen, sondern auch diejenigen, die sich für politik- und sozialwissenschaftliche Aspekte interessieren: Einige Beiträge konzentrieren sich darum auch auf sein (bisher wenig gewürdigtes) öffentliches Wirken, besonders nach 1933, als er sich in einer Reihe von Artikeln und Essays mit den Begriffen Nationalität, Patriotismus und Internationalismus auseinandersetzte und einen außer­ ordentlichen Scharfsinn für die Gefahr des Faschismus und Nationalsozialismus zeigte, zum Beispiel in seinem Vortrag vom 4. 5. 1933 Dvojí ­ nregungen Německo [Zweierlei Deutschland], und vielleicht kommen auch A zur Analyse seiner Auffassung der jüdischen Assimilation auf, ggf. des jüdischen Beitrags zur europäischen Kultur (also Fragen, mit denen er sich sein Leben lang beschäftigte, am umfangsreichsten wohl in der HeineMonografie). Zu dem Dauerhaftesten, womit er unsere Kultur bereichert hat (und was ebenfalls eine eigenständige monografische Verarbeitung verdienen würde), gehören, wie allgemein bekannt ist, seine Übersetzungen – jene Texte also, denen er selbst paradoxerweise nur eine transitorische Bedeutung beimaß (im Gegensatz zum originellen literarischen Werk): Seiner Meinung nach soll sich der Übersetzer damit abfinden, dass er „für die Gegenwart“ übersetzt, mit dem Bewusstsein, dass die nächsten Generationen sein Werk durch neue, zeitgemäßere Versionen ersetzen werden. Auch mit dieser bescheidenen Ambition aber schuf er Übertragungen, die unsere Übersetzungskultur entscheidend geprägt haben. Sein Faust bleibt seit 1928 bis heute eine unübertroffene Leistung. Šalda schrieb 1933 über den ­Übersetzer Fischer Folgendes: „Starší překladatelé čeští vypadají vedle volně létajícího, všechna pouta rozbíjejícího Fischera jako spoutaní soumaři vlekoucí se s  těžkým břemenem v  létě v  prachu silničném“ [Ältere tschechische Übersetzer erscheinen neben dem frei fliegenden, alle Fesseln zerschlagenden Fischer als gefesselte Maultiere, die sich im Sommer mit ihrer schweren Last durch den Straßenstaub schleppen] – und ich spreche wohl nicht nur für mich selbst, wenn ich hinzufüge, dass man sich auch als heutiger Übersetzer neben Fischer oft so vorkommt. Zum Schluss möchte ich noch an eins erinnern: Unsere Konferenz über das Werk Otokar Fischers ist nur der erste Schritt. Danach sollte – und muss, wenn diese Konferenz nicht nur eine theoretische Geste bleiben soll – der zweite Schritt folgen, nämlich eine möglichst vollständige Gesamtausgabe seiner wissenschaftlichen und publizistischen Texte, die bis heute über viele

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Zeitschriften und Zeitungen zerstreut und auch für einen Fachmann nicht nur schwer zu finden sind, sondern oft geradezu unerreichbar. (Übersetzt von Kateřina Ringesová)

Václav Petrbok

„Entlass deine Getreuen nicht mehr weiter in die Welt, / nur die, die dir sehnsüchtig wieder entgegeneilen“: die persönlichen und familiären tschechisch-deutschen Affinitäten Otokar Fischers1 Der Ausschnitt aus dem Gedicht Má vlast [Mein Heimatland] aus Fischers Sammlung Poslední básně [Letzte Gedichte] (Fischer 1938a: 27)2, den ich mir als Zitat für die Überschrift dieses Beitrags ausgeborgt habe, äußert sich mit poetischen Mitteln auch zum Thema des tschechisch-deutschen Bilingualismus Otokar Fischers und seiner kulturellen „Zweihäusigkeit“. Fischer bewegte sich im Grenzgebiet zwischen Kunst und Wissenschaft, aber auch zwischen den beiden Sprachen, die er souverän beherrschte. Obwohl uns der Autor in seinem gesamten, umfangreichen Werk in ungewöhnlichem Maße s­ uggestive Anspielungen und Verweise auf dieses Phänomen hinterlassen hat – und auch bei dieser Gelegenheit werde ich ohne Beweise dieser Provenienz nicht auskommen –, richtet sich meine Aufmerksamkeit dennoch auf der Basis von Archivmaterialien persönlicher und amtlicher Provenienz vornehmlich auf die Analyse von Fischers sprachlicher Biographie, ergänzt um (bis zu einem gewissen Grade spekulative) Überlegungen zu deren Rolle in Fischers fachlichem und künstlerischen Wirken. Einen solchen Versuch der kultursoziologischen Sondierung zur Verwendung des Tschechischen und des Deutschen halte ich für produktiver als die, im Übrigen der Zeit geschuldeten, Überlegungen zu Fischers „češství“ [Tschechentum] bzw. „Judentum“, die von seinen Interpreten und Freunden Josef Brambora und Pavel Eisner3 angestellt 1  Der Beitrag entstand mit der großzügigen Unterstützung von der Alexander von HumboldtStiftung. Den Hinweis auf einige Quellen sowie mehrere Gespräche (nicht nur über sie) verdanke ich Ladislav Jouza, Daniel Řehák und Michal Topor. Die spätere Forschungsliteratur (vor allem Hájek 2016) konnte nicht berücksichtigt werden. 2  Orig. Wortlaut: „Své věrné už nepouštěj do světa víc, / jen ty, kdo zas v touze ti spěchají vstříc“. Erstmals abgedruckt in: Lidové noviny (23.11.1937). 3  Josef Brambora (1948: 75) hält fest: „k svému češství se Otokar Fischer vždy hlásil, i když byl výchovou či spíše školením odváděn ke kosmopolitismu.“ [Zu seinem Tschechentum bekannte sich Otokar Fischer immer, auch wenn er der Erziehung bzw. seiner Ausbildung nach eher zum Kosmopolitismus geführt worden war.“] Pavel Eisner (1938/39: 72) ­urteilt, dass es eine „svrchovaně český způsob, jakým hodnotil [O. Fischer, pozn. VP] své zjevy

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wurden, bzw. das Etikett des „nečešství“ [Un/Nichttschechentums], mit dem er aus verschiedensten Anlässen z. B. von Viktor Dyk4, Antonín Klášterský5, vyvolené i milované, i způsob, jakým tlumočil své miláčky na německém Parnasse“ ­[zuhöchst tschechische Art und Weise gewesen sei, auf die er [O. Fischer, Anm. VP] die von ihm erwählten und geliebten Erscheinungen bewertete, auch die Art und Weise, auf die er seine Lieblinge auf dem deutschen Parnass dolmetschte.] Von Fischers Zweisprachigkeit behauptet Eisner einigermaßen apodiktisch, dass er „o jednom však nezapochyboval nikdy: o své mateřštině. Fischer měl všechny možnosti tvůrčího bilingvia. Bez váhání zavrhl své možnosti jazykové tvorby německé, omezil němčinu na dorozumívací jazyk své discipliny. Tím horoucněji a nenasytněji se přisál k češtině.“ [an einem jedoch niemals gezweifelt habe: an seiner Muttersprache. Fischer besaß alle Möglichkeiten eines schöpferischen Zweisprachigen. Ohne zu zögern verwarf er seine Möglichkeiten, in deutscher Sprache kreativ zu werden und beschränkte das Deutsche auf die Verständigungssprache innerhalb seiner Disziplin. Umso glühender und unersättlicher saugte er sich am Tschechischen fest.] Vgl. auch den Bericht über Fischer in Rozsévačka 1938, der gleichzeitig im Rozvoj abgedruckt wurde: „Otokar Fischer byl žid. Byl však při tom i dokonalý Čech, jak ­politicky, tak kulturně a svým cítěním.“ [Otokar Fischer war Jude. Er war jedoch dabei auch ein vollkommener Tscheche, wie politisch, so auch kulturell und in seinem Fühlen.”] (Anonym 1938) Siehe auch Tohn (1938: 1): „[…] choré srdce člověka, jenž miloval to, co bylo na němectví krásné a ušlechtilé, nesneslo nové svědectví, promlouvající proti této lásce a víře lidské a zastavilo se ve chvíli, kdy vojsko Německa hákového kříže vstupovalo na půdu Rakouska, ztrácejícího samostatnost.“ [[…] das kranke Herz eines Menschen, der das­ liebte, was am Deutschtum schön und edel war, ertrug nicht das neue Zeugnis, das gegen diese Liebe und den menschlichen Glauben sprach und blieb in dem Moment stehen, als die Truppen Hakenkreuz-Deutschlands den österreichischen Boden betraten, und das Land seine Unabhängigkeit verlor.] 4  Siehe die Nachweise bei Josef Brambora (1948) und vor allem die Vorlesung „Otokar Fischer a Viktor Dyk“ [Otokar Fischer und Viktor Dyk] (LA PNP Praha, Nachlass J. Brambora, eigene Handschriften). 5  Nachdem Fischer (1910) einen Seitenhieb veröffentlicht hatte, der die zeitgenössische sprachliche Sanktionierung wissenschaftlicher Aktivitäten kommentierte („‚Jakožto český učenec nesmíte psát v  cizí řeči!‘ To znamená: za celu, v  níž trávím samovazbu, mám platit nájemné.“ – [Als tschechischer Gelehrter dürfen Sie nicht in einer fremden Sprache schreiben!‘ Das bedeutet: Für die Zelle, in der ich meine Einzelhaft verbringe, soll ich auch noch Miete zahlen.]), reagierte Antonín Klášterský (1909/10) auf diese Bemerkung schonungslos persönlich: „To již není vtip, jen duchaplný paradox, toť přímo vyslovená nespokojenost, že se od českých učenců žádá, aby psali česky, a posměšné odbytí tohoto požadavku. […] Zdálo se nám, […] pak hlavně, že ani český učenec nemá vymykati se z národní discipliny. Ale ovšem, pociťuje-li se již češství jako úzká žalářní cela, která brání fenomenálnímu duchu rozvinouti nádheru svých myšlenek před celým světem, není divu, že vylamuje ve zdi prostor k útěku. Vždyť snad mu v Berlíně chystají již stolici a vy byste jej chtěli nutit, aby psal česky?“ [Das ist schon kein Witz mehr, nur ein geistvolles Paradox, nämlich die direkt ausgesprochene Unzufriedenheit damit, dass man von tschechischen Gelehrten fordert, sie sollten Tschechisch schreiben, und diese Forderung wird der Lächerlichkeit preisgegeben. […] Es schien uns […] dann hauptsächlich, dass auch ein

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Jarmil Krecar6 und Bohumil Mathesius7 ausgezeichnet wurde. Auch der harte tschechischer Gelehrter sich der nationalen Disziplin nicht entziehen sollte. Aber vor ­allem, wenn er sein Tschechentum schon als enge Kerkerzelle empfindet, die den phänomenalen Geist daran hindert, die Pracht seiner Gedanken vor der ganzen Welt zu entrollen, ist es kein Wunder, dass er einen Fluchtraum in die Wand bricht. Vielleicht richtet man ihm in Berlin schon einen Lehrstuhl ein, und ihr wolltet ihn zwingen, Tschechisch zu schreiben?] 6  Krecar (1918: 130) äußerte sich aus Anlass der Inszenierung der Přemyslovci [Přemysliden] am 26. April 1918 zweifelnd über Fischers persönliche Kompetenz, sich mit diesem Thema zu befassen, die angeblich durch dessen sprachlich-kulturelle Ausbildung und seine Sympathien bestimmt sei. Seiner Ansicht nach ist das „[p]oměr autora k  látce je zajisté svobodný, ale jde-li o námět velkého národního osudu, stává se téměř nezbytným předpokladem, aby básník dal nevýhradně a obětavě žíti podnětu, jenž zalehl do hloubi jeho nitra, z veškerých a nejvyzrálejších sil své bytosti. Je třeba kmenově silného ducha a srdce […] Hra o Přemyslovcích nevznikla z takového bytostního zasvěcení, essaista příznačně germánské vlohy a vkusu nebyl s  to, aby se dobral ústředí životního žáru, jediného a prazákladního, z  něhož by vzešlo drama rodu jako nositele národních sil, jednoduché a velkolepé.“ [Verhältnis des Autors zum Stoff ganz sicher frei, aber sofern es sich um das Thema eines großen nationalen Schicksals handelt, wird es beinahe zur unerlässlichen Voraussetzung, dass der Dichter einem Impuls, der tief in sein Inneres gelegt ist, rückhaltlos und aufopferungsvoll Leben verleiht, aus allen und den am weitesten gereiften Kräften seines Wesens. Es bedarf eines stammeskräftigen Geistes und Herzens […]. Das Schauspiel über die Přemysliden entstand nicht aus einem solchen wesenhaften Eingeweihtsein heraus, der Essayist von bezeichnend germanischer Veranlagung und Geschmack war nicht fähig, ins Zentrum der existentiellen Glut vorzudringen, der einzigen und urgrundsätzlichen, aus der ein solches Drama des Geschlechts als Träger nationaler Kräfte einfach und großartig hervorgegangen wäre.] 7  Fischers späterer Mitarbeiter Mathesius verlautete ebenso begründete Bedenken wie Krecar, indem er die Loyalitäten und kulturellen und nationalen Sympathien zahlreicher jüdischer Literaten mit dem tschechischen Milieu bezweifelte, und zwar aufgrund der angeblichen Unbeständigkeit ihres ästhetischen Geschmacks, ihrer sprachlichen, kulturellen und nicht zuletzt auch politischen Präferenzen. Dabei drückt er seine eindringlichen Befürchtungen aus, ihr Einfluss möge zunehmen: „Pan dr. Otokar Fischer nepochopil, že každý autor musí své látky dorůst, právo na ni si vykoupit přesvědčením a charakterním postojem k ní a legitimací k ní si opatřit. […] Pan dr. Otokar Fischer je vinen přečinem proti národní mravnosti. […] Pan dr. Otokar Fischer je výrazným exponentem celé ­skupiny kulturních pracovníků u nás (pp. Langer, Kodíček, Taussig, Siebenschein, Weiner, Fuchs) – pro sounáležitost sem není směrodatno vždy konfesionelní příslušenství, kteří básní dnes futuristicky a zítra budou národně; […] kterým schází bolest, strachující se láska a bázlivá naděje při pouhém pomyšlení na ni [tj. českou kulturu, pozn. VP]. A tihle kulturní diletanti, vrostlí do této země hlavou, ne nohama, milovníci abstrakt, kteří všechno vědí a všechno předvídají, stávají se v naší mladé, úzké, ještě nezorganisované kultuře redaktory, výtvarnými, divadelními a literárními referenty, krátce kulturní mocí, udávají ton, chválí, usilují a haní podle svého libozdání a kladou své nepozorné prsty na samy tepny národního krveběhu. A to už je zločin proti národní mravnosti.“ [Herr Dr. Otokar Fischer hat nicht verstanden, dass jeder Autor in seinen Stoff hineinwachsen, sich das Recht auf ihn mit

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Vorwurf eines „vorsichtigen Pseudoliberalismus“, der ihn vom „Judentum“ entferne – ausgesprochen von dem Kritiker Josef Kodíček –, blieb Fischer nicht erspart.8 Letztendlich erwähnt er selbst – wenn auch auf einigermaßen launige Art und Weise – die Vorwürfe seiner nationalen Unzuverlässigkeit, mit denen er wegen der Schreibung seines Vornamens traktiert wurde (Fischer 1947: 145). Diese Überlegungen lasse ich zunächst beiseite, ohne ihre Bedeutung unterschätzen zu wollen. Denn so wenig ich einerseits die Sprachseiner Überzeugung und seiner Charakterhaltung zu ihm erkaufen und sich die Legitimation zu ihm verschaffen muss. [...] Herr Dr. Otokar Fischer ist eines Vergehens gegen die nationale Moral schuldig. [...] Herr Dr. Otokar Fischer ist ein bedeutender Exponent einer ganzen Gruppe von Kulturschaffenden bei uns (der Herren Langer, Kodíček, Taussig, Siebenschein, Weiner, Fuchs) – für die Zugehörigkeit zu dieser ist nicht immer die konfessionelle Zugehörigkeit richtungsweisend, die heute futuristisch dichten und morgen national dichten werden; […] denen der Schmerz, die bangende Liebe und die scheue Hoffnung beim reinen Gedanken an sie [d.i. die tschechische Kultur, Anm. VP] abgeht. Und diese kulturellen Dilettanten, die mit dem Kopf, nicht mit den Füßen in diese Erde/ dieses Land eingewachsen sind, diese Liebhaber des Abstrakten, die alles wissen und alles vorhersehen, werden in unserer jungen, engen, noch nicht ganz organisierten Kultur Redakteure, Referenten für Kunst, Theater und Literatur, kurz eine kulturelle Macht, sie geben den Ton an, loben, erstreben und schmähen nach ihrem Gutdünken und legen ihre unvorsichtigen Finger auf die Schlagadern des nationalen Blutkreislaufs selbst. Und das ist schon ein Verbrechen gegen die nationale Moral.] (Mathesius 1918) 8  Josef Kodíček (1925) distanzierte sich kategorisch von Fischers Heine-Deutung, ­besonders von der überkommenen Ansicht, Heine sei ein Talent, doch kein Charakter, mit einem sehr persönlichen Vorwurf, der auf den Charakter des Autors der Monographie selbst abzielt: „Patrně nepostačí má psychologická bystrozrakost k  ocenění těžkých prohlubní duše, jež povždy se mi zdála nejbližší onomu opatrnému pseudoliberalismu, jenž jevy života důsledně označuje za ‚zajímavé, aniž se s nimi může stotožniti.‘ Kontinuita myšlenkových stanovisek Fischerových tu ovšem nesporně je. Zdála se mi však a zdá dosud kontinuitou metody, jež přírodovědci zovou: páchání mimikry. […] Ani já jsem nevykládal […] jeho [Fischerovy, pozn. VP] různorodé vztahy k židovství a židovské morálce jeho poměrem k veřejným místům, jež hodlal zastávati a nakonec zastával a při nichž židovství je promíjeno jen po cestě do Canossy křtem.“ [Augenscheinlich reicht meine psychologische Weitsicht nicht zur Bewertung der schweren Seelentiefen, die mir immer jenem vorsichtigen Pseudoliberalismus am nächsten schien, der die Erscheinungen des Lebens konsequent als ‚interessant‘ bezeichnet, ‚ohne dass er sich damit identifizieren könnte‘. Eine Kontinuität der gedanklichen Standpunkte Fischers ist aber unbestritten vorhanden. Sie erschien mir jedoch – und tut es auch weiterhin – als Kontinuität einer Methode, die die Naturwissenschaftler ‚Mimikry machen‘ nennen. […] Auch ich habe seine [d.i. Fischers, Anm. VP] verschiedenartigen Beziehungen zum Judentum und zur jüdischen Moral nicht anhand seines Verhältnisses zu den öffentlichen Stellen ausgelegt, die er zu bekleiden beschlossen hat und letztendlich auch bekleidete und bei denen Judentum nur durch Taufe nach dem Gang nach Canossa verziehen wird.] Vgl. auch Fischers Antwort in Právo lidu (Fischer 1925).

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verwendung anzweifeln möchte – immerhin zeigen die angeführten Beispiele aus der Rezeption von Fischers Wirken deutlich die Brisanz, die ein solcher Anspruch für das tschechische kulturelle Milieu besaß –, bin ich mir dennoch ihrer Funktion für die Feststellung der beinahe essentiellen Züge des sogenannten nationalen Charakters nicht sicher. Andererseits möchte ich jedoch die bequeme Vorstellung in Zweifel ziehen, die Sprachverwendung decke sich wenn schon nicht mit der Ethnizität, dann doch wenigstens ganz sicher mit der zugehörigen „nationalen“ Loyalität (oder direkt mit der nationalen Zugehörigkeit). Gerade dies ist aber eine Vorstellung, die für die tschechische Kultur- und Literaturhistoriographie – aber auch für einen relativ großen Teil der ausländischen Produktion – typisch ist. Meine Überlegung gehen in eine andere Richtung. Ich möchte – ähnlich wie bei Paul (Pavel) Eisner (Petrbok 2011) – anhand der sprachlichen B ­ iographie Otokar Fischers, besonders seines familiären Umfelds und seiner ­schulischen Sozialisation, die Frage nach den Voraussetzungen, der Quelle und der Intensität von Fischers tschechisch-deutscher Bilingualität beantworten. Gerade individuelle Zweisprachigkeit kann Teil eines literarischen, kollektiven Bilingualismus werden (und wurde es im Falle Fischers und Eisners auch), der in der literarischen Kommunikation in den Böhmischen Ländern im „langen“ 19. Jahrhundert alles andere als ein Einzelphänomen war.9 Der psychoanalytischen Kulturwissenschaft zufolge, die der Richtung der humanistischen Psychoanalyse angehört, kommt den zwischenmenschlichen Beziehungen in der Kindheit sowie den gesellschaftlichen Bedingungen und Zwängen für die mentale Entwicklung des Einzelnen entscheidende Bedeutung zu. Sie vollzieht eine Abkehr vom ursprünglichen Biologismus Freuds und konzentriert sich stattdessen mehr auf die sozio-kulturellen Einflüsse, die auf den Menschen einwirken (Erikson 2005 [1950]; List 2013). Es dürfte deshalb auch gerade bei Otokar Fischer, der selbst ein W ­ egbereiter der Psychoanalyse in der Kultur- und Literaturwissenschaft war, nicht weit hergeholt sein, im Rahmen von Überlegungen zu seinen sprachlichen Kompetenzen zunächst über seine Eltern zu sprechen.

9  Vgl. weiter Čapková (2010), Iggers (1980).

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Otokar Fischer im Familienkreis, Prag-Dejvice 02.06.1916. Hermína Fischerová 2. v. l. sitzend, Otokar Fischer 1. v. l. stehend, neben ihm seine damalige Frau Blažena, geb. Baušová, ferner Schwester Anna und Bruder Josef.

Otokar Fischer wurde am 20. Mai 1883 im tschechisch-deutschen Milieu einer assimilierten jüdischen Familie in Kolín geboren – einer mittelböhmischen Kleinstadt mit mehrheitlich tschechischsprachiger Bevölkerung, die allerdings nach Prag den höchsten Anteil an jüdischer Bevölkerung aufwies. Nach einigen Tage wurde er vom dortigen Rabbiner Josef Guggenheimer (1831 Kriegshaber bei Augsburg–1896 Kolín)10 beschnitten. Von der Verschlungenheit und Uneindeutigkeit der sprachlichen Verhältnisse in diesem jüdischen Milieu zeugen auch die komplexen sprachlichen Biographien und Lebens- und Kunstschicksale weiterer bekannter, aus Kolín gebürtiger Persönlichkeiten wie des Sozialreformators, Erfinders und Philosophen Josef Popper Lynkeus (1838–1921 Wien), der ausschließlich auf Deutsch schrieb; des Lehrers, Dichters und Dramatikers Maximilian Winder (1854–1920 Kroměříž), der Tschechisch schrieb und der Vater des bekannteren Ludwig Winder war; des Dichters, Kulturpublizisten, Übersetzers 10  Nach der Beschreibung auf der südlichen Galerie der Kolíner Synagoge, wo die ständige Ausstellung „Žili tu s námi” [Sie lebten hier mit uns] eröffnet wurde, war er in den Jahren 1860 bis 1890 Rabbiner in Kolín und gehörte der orthodoxen judaistischen Strömung an. Sein Sohn Raphael (1868–1916), Autor des Buches Kommentar zur Hagadah schel Pesach (1912), versah die Funktion des Rabbiners in Kolín in den Jahren 1896 bis 1916. Während Raphaels Wirken in Kolín wurde 1898 die deutsche (d.h. deutschsprachige) jüdische Schule aufgelöst und die tschechische Predigt eingeführt. Zu ihm Topor (2015: 51f., 59, 72).

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und Diplomaten Camill Hoffmann (1878–1944 KZ Auschwitz); des Juristen und Politikers, ersten Vorsitzenden der zionistischen Jüdischen Partei Ludvík/Ludwig Singer (1876–1931 Prag) und des Diplomaten, Dramatikers, Publizisten und Graphologen Robert Saudek (1880–1935 London), die Deutsch und Tschechisch schrieben. Dank der Studien einiger Kolíner Forscher – Jaroslav Formánek (1992), der Eheleute Jouza (Jouza 2005, Jouzová 2005, 2011) und Jaroslav Pejša ist über Otokars Vater Pavel verhältnismäßig viel bekannt. Er stammte aus Lysá nad Labem (geboren am 11. Mai 1852) und war wohl mit seinen Eltern und Geschwistern bereits 1862 nach Kolín gekommen, wo sein Vater Jakub (auch Jakob, Jacob) eine Rapsölpresse und -raffinerie in der Kouřimer Vorstadt kaufte, wo außerdem Ölkuchen produziert wurden. Es war eine der ersten Fabriken der Stadt und noch heute ist in dem Objekt eine Fabrik angesiedelt – die Sodawasserfabrik Sodovkárna Kolín ing. Pavel Vavruška. Zu Fischers Großvater Jakub (1814 Milovice oder Sadská–1874 Kolín), einem einstigen Fleischergesellen, gibt es nur wenige, verstreute Informationen (Gold 1934: 286; unter Verwendung unikalen Materials, seines Wanderbuchs, Jouzová 2005: 43f.; Vaňková 2007: 38). Allem Anschein nach war er ein lustiger Geselle, machte sich aus den Sabbat-Vorschriften nicht das geringste und wurde vom Kolíner Dekan Jan Nepomuk Svoboda11 wiederholt für seine Wohltätigkeit gelobt (Jouzová 2005: 43f.). Von der Großmutter Terezie (geborene Schulhoff zwischen 1823 und 1825 in Zápy) weiß man dagegen fast nichts.12 Zum Vater Pavel lassen sich die nachfolgenden Informationen ergänzen, die seine entschiedene kulturelle und politische Loyalität zum Umfeld der Tschechischen Nationalbewegung belegen. Bisher liegen keine Informationen über seine mögliche weitere (Mittelschul-) Bildung vor, der Besuch der Volksschule und möglicherweise auch der Bürgerschule mit tschechischer Unterrichtssprache kann vorausgesetzt werden. Er wurde später in die Leitung der Fabrik eingearbeitet und wird dort 1869 als „kněhvedoucí“ – wörtlich „Buchführer“, also Buchhalter – angeführt. Bald darauf erbte er die Fabrik von seinem Vater. Außerdem besaß er eine Konzession zum Verkauf und Ausschank von Wein. Nach nicht all11  Zu Svoboda (1821 Chrudim–1889 Kolín), dem Begründer der allgemeinen Stadtbibliothek in Kolín und „významné, činorodé osobnosti […] druhé poloviny 19. století“ [einer bedeutenden, tatkräftigen Persönlichkeit [...] der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts] s. Pejša/Krčmář (1996). 12  Die angeführten Informationen wurden aus der Studie Jouzovás (2005: 41, Anm. 3) übernommen. Sterbeort und -datum wurden bisher nicht festgestellt, Grossmutter Theresie Fischer ist jedoch auf der Todesanzeige des Sohnes Pavel noch aufgeführt.

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zu langer Zeit (1877) brannte die Fabrik aus, aber Pavel Fischer nahm die Produktion wieder auf. Nach einem zweiten Brand (1881) baute er seine Fabrik dann bereits im Stadtteil Zálabí wieder auf. Auf sie bezieht sich auch die nachfolgende, bittere Erinnerung seines Sohnes an ihn als nejoptimističtějšího, ba vskutku nevyléčitelného idealistu, kterého jsem kdy poznal […] Tento praktik se smyslem úžasně nepraktickým vysnil si sen: za továrním plotem založil si les […] a v jejich sousedství už zakládal příští středisko zábav a občerstvení. […] Skutečnost byla jiná. Bublina přeludů praskla. [den optimistischsten, ja in Wahrheit unheilbarsten Idealisten, den ich je kannte […] Dieser Praktiker hatte mit verblüffend unpraktischen Sinn einen Traum ersonnen: Hinter dem Fabrikzaun legte er einen Wald an […] und begründete daneben ein zukünftiges Imbissund Vergnügungszentrum. […] Die Wirklichkeit sah anders aus. Die Blase der Illusionen platzte.] (Fischer 1936b: 4)

Wie auch aus dem Zitat seines Sohnes deutlich wird, beteiligte sich Pavel Fischer trotz der elementaren Katastrophen und sonstigen Probleme aktiv weiter am kulturellen und gesellschaftlichen Leben von Kolín, von wo seine Aktivitäten bereits Anfang der 70er-Jahre nicht mehr wegzudenken waren. Aus Dokumenten, die in der Ausstellung über die Svobodná obec baráčnická [Freie Häusler-Gemeinde] von Kolín veröffentlicht wurden, die aus der Tischgesellschaft junger Männer hervorgegangen war, wissen wir, dass Pavel Fischer im Jahre 1873 zu ihren Begründern gehörte.13 Gemeinsam mit weiteren Freunden (Václav Veletovský und Vilém Jindřich Janke) aus dem Fecht- und Gesangsverein Záboj, der nach dem mythischen slawischen Sänger aus der Königinhofer Handschrift benannt war, trat er zu dem Verein über, der von ehemaligen unzufriedenen Mitgliedern des Sokol-Vereins gegründet wurde. Der unpolitische Häusler-Verein, der in seinen Ritualen von der Schlaraffen-Bewegung beeinflusst war, entfaltete in Kolín ebenfalls wohltätige Aktivitäten und widmete sich auf Fischers Betreiben hin mit großem Interesse dem Theatergeschehen – wobei man nicht vergessen sollte, wie sehr seinem Sohn das Theater am Herzen lag14 –, sei es durch die Auswahl von Beiträgen für das Prager Nationaltheater, in Form von Bemühungen um den Aufbau eines eigenständigen Theaters in Kolín oder indem er nicht nur Künstler des Nationaltheaters, die zu Gastspielen nach Kolín kamen, sondern auch Wandertheater unterstützte (vgl. auch Věstník 1938, Iltis 1973). Auch bei der Zusammenkunft der ersten 13  Vereinigte Gemeinde der Häusler von Staré Čičovice – Kolín V., Gründungsrede http:// baracnici.sweb.cz/Vernisaz03.htm (aufgerufen am 27.01.2014). 14  Zu Fischers emotional engagiertem Verhältnis als Kritiker und Historiograph des Nationaltheaters und seinem zwiefachen dramaturgischen Wirken vor allem Scherl (1983) und der Beitrag von Petra Ježková in diesem Sammelband.

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Sitzung des Gründungsausschusses für den Amateur-Klub Tyl in Kolín am 6. März 1876, dessen theatralische Aktivitäten er großzügig finanziell unterstützte, durfte Pavel Fischer nicht fehlen.15 Ebenso engagierte er sich in der Regionalpolitik – was sich als schicksalhaft erweisen sollte. Er finanzierte die Herausgabe des Humor-Blattes Drak [Der Drache], zusammen mit der Kolínské noviny [Kolíner Zeitung], die sein Freund Jan Matěj Balák16 redigierte und die sich energisch von den alttschechischen Honoratioren vor Ort distanzierten. Daneben schloss er sich den Aktivitäten der aufkommenden tschechojüdischen Bewegung an. In einem späteren Brief des Germanisten Arnošt Kraus an Otokar Fischer aus dem Jahre 1933 registriere ich Kraus’ Bewunderung, „jak student[u] nejmladších semestrů […] ve spolku tak plně znělo v sluch jméno Pavla Fischera!“ [wie de[m] Student[en] der jüngsten Semester […] im Verein [der tschechojüdischen Akademiker Kapper, Anm. VP] der Name Pavel Fischers so voll in den Ohren tönte!”]17 Denn Pavel Fischer war (obgleich er selbst kein Akademiker war) eines der Gründungsmitglieder dieses ersten tschechisch-jüdischen Organs; die Körperschaft gratulierte ihm auch zu seiner Eheschließung mit 15  In dem Fragment der Zápisky [Aufzeichnungen] Pavel Fischers (Regionalmuseum Kolín, im Weiteren: RMK) findet man u. a. die Information: „8. 3. [1884] jedeme s divadelním vlakem k dnešnímu představení ‚Sen noci svatojánské‘. Účastníků 1300, mezi nimiž 400 dětí.“ [8.3. [1884] fahren wir mit dem Theaterzug zur heutigen Vorstellung des ‚Sommernachtstraums‘. Teilnehmer 1300, darunter 400 Kinder.] (S. 7). Zum 21. Februar 1884 bemerkte er: „počali jsme dnes sbírky na divadlo v Kolíně – chodím s Dr. Hančem“ [Heute begannen wir, für ein Theater in Kolín zu sammeln – ich gehe mit Dr. Hanč.“ (S. 6). 16  Über die kontroverse Tätigkeit des jungtschechischen Nationalisten Balák (1848–1910), eines einstigen Unterstützers der Assimilierung der Juden an das tschechische Volk, eines Gegners der religiösen Orthodoxie und u. a. des Übersetzers von Rohlings antisemitischer Schrift Der Talmudjude (1871) ins Tschechische schrieb Frankl (2007: 64-69), der überzeugend Baláks Verlust der „asimilační perspektivy“ [Assimilierungs-Perspektive] und seine Hinwendung „k antisemitskému diskurzu“ [zum „antisemitischen Diskurs“] aufzeigt. 17  Gemeint ist der Verein tschechojüdischer Akademiker „Kapper“. LA PNP Praha, Nachlass O. Fischer, empfangene Korrespondenz, Arnošt Kraus an Otokar Fischer, 20.03.1933. Der sichtlich erfreute Fischer reagierte mit den Worten: „Ještě pak jeden dík, obzvláštní, za Vaši zmínku o Pavlu Fischerovi!“ [Jedoch dann noch einen Dank, einen besonderen, für Ihre Bemerkung über Pavel Fischer!“] (A AV ČR, Nachlass A. Kraus, empfangene Korrespondenz, Otokar Fischer an Arnošt Kraus, 25.03.1933). Ob „Dr. Kraus mit Gattin“, die Pavel Fischer als Hochzeitsgäste seiner Schwester Anna mit Josef Podvinec am 27. Januar 1884 aufführt, Arnošt Kraus und Frau meint, lässt sich nicht eindeutig nachweisen. Den ersten Hochzeitsritus in tschechischer Sprache abzuhalten weigerte sich der Rabbiner in letzter Minute, weswegen sie „[…] oddával otec […] ženicha“ [[…] der Vater des Bräutigams […] vermählte.“ (RMK Kolín, Zápisky Pavla Fischera [Aufzeichnungen Pavel Fischers]: 1).

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Hermine/Hermína Krásová (auch Krassa, Krahsa) am 27. Februar 1881 in Prag. Zu den Großeltern Krása und Fischers Mutter Hermína sind dagegen bisher nur einige verstreute Informationen vorhanden. Eine ausführliche Recherche in den Matrikelbüchern erbrachte zu Fischers Großvater Marek (auch Marcus, Markus) Krása (1825–1912),18 der Pächter von einem Hof in Velké Chválovice war, der zum Allodialgut von Radim bei Kolín und Klášterní Skalice Johanns II. von Liechtenstein gehörte (Procházka 1880: 219), bislang nur einige grundlegende, zusätzliche Fakten. Er war Vater von 6 Töchtern – eine von ihnen war Otokars Mutter Hermína; eine andere, Frida (Bedřiška, 1862–1920), war die Mutter des Historikers Bedřich Mendl.19 Neben der Brauerei, die eine gewisse Zeit lang zum Großgut dazugehörte, verwaltete er auch die Gemeindekonten von Radim und war allem Anschein nach finanziell gut situiert (in der Národní listy [Nationalzeitung] vom 20. Juli 1871 wird er als Aktionär einer „tschechischen Zuckerfabrik in Sadská“ aufgeführt). Aus diesen Angaben kann man mit einer gewissen Vorsicht auf seine politische Loyalität zur Alttschechischen Partei schließen.20 Otokars persönliche Bindung an Radim war groß: Er und seine Geschwister verbrachten dort häufig die Ferien21. Die erste Sprache seiner Mutter Hermína (24.08.1859–

18  Nach der Jüdischen Kontrollmatrikel (Židovská kontrolní matrika (HBM 399), Lošany u Kolína, pag. 4) wurde er am 17.12. 1825 in Velký Kbel bei Kolín, dem Samuel, Branntweinbrenner ebendort und der Ludmila, geb. Grünfeld geboren und starb am 27.04.1912 in Prag. Begraben ist er auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Strašnice. 19  Židovská kontrolní matrika (HBM 119) Dobřichov, fol. 12 (http:// www.badatelna.eu/fond/241/reprodukce/?zaznamId=375182&reproId=424805). Zu Bedřich (Friedrich) Mendl (Mändl, 1892–1940), dem Wegbereiter der tschechischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, vgl. Nodl (2007), Míšková/Paďourek (1994). 20  Jouza (1996: 13, 40) führt im Zusammenhang des wachsenden Interesses an der Kolíner Archäologie ein Mitglied der sog. Píčova skupina [Pičs Gruppe] mit Namen Jan Vaněk an, der in den Jahren 1883–1911 Verwalter des liechentsteinschen Großguts in Radim war. Vaněk gehörte zu den führenden Alttschechen in Kolín und Umgebung und war zugleich Mitglied der Gemeindevertretung von Kouřim. Allgemein zum zeitgebunden und lokal häufigen Typus des jüdischen Pächters eines Adelsguts vgl. Jouza (2013). 21  Z. B. schreibt Otokar in einem Brief an die Mutter aus Radim nach Wien: „Ehrlich gesagt habe ich noch nicht an die Hindernisse gedacht, denn es ist da so schön und Alle sind so lieb und aufmerksam zu mir, kurz es geht mir so ausgezeichnet, wie – nun wie’s einem in Radim gehen kann. Gestern nahm uns l[ieber]. Onkel [Karl Mändl, Anm. VP], der übrigens nur in der Theorie gegen die Versöhnung der Klassen ist, in Wirklichkeit aber mit der l[ieben]. Tante zu mir wetteifert – in die Chválovicer Felder mit und heute setzte ich auf einem Spaziergang mit Karl meine ökonom[ischen] Studien fort.“ (LA PNP Praha,

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22.07.1942 Ghetto Theresienstadt22) war zweifellos Deutsch. Ob sie erst nach ihrer Hochzeit Tschechisch lernte, ist nicht nachweisbar. Man kann jedoch davon ausgehen, dass sie spätestens seit ihrer Rückkehr nach Böhmen allmählich Tschechisch dazulernte (später korrespondierte sie nachweislich auch in dieser Sprache23), was im Falle von Juden, die in einem tschechischsprachigen Umfeld lebten, relativ üblich war. Wo sie allerdings ihre beachtliche literarische Bildung (in deutscher und französischer Literatur) und ihren überdurchschnittlichen Überblick über das kulturelle Geschehen erlangte, ist noch nicht überzeugend belegt. Aller Wahrscheinlichkeit nach erhielt sie nach dem Besuch der Volksschule (in Ungarn?) Privatunterricht, möglicherweise ebenso wie ihre Schwester Frida, von der es direkt heißt, sie habe eine „liberal-madjarische Erziehung“ (Míšková/Paďourek 1994: 9) genossen. Zu der weitverzweigten Verwandtschaft der Mutter, die in Berlin, Wien und Prag lebte, unterhielt Otokar – anders als zur Verwandtschaft väterlicherseits – während und auch nach seinem Studium Kontakte, von denen Dutzende

Nachlass O. Fischer, empfangene Korrespondenz, Otokar Fischer an Hermína Fischerová, 11.07.1899). 22  Vgl. Židovská kontrolní matrika (HBM 119) Dobřichov, fol. 10, http://www. badatelna.eu/fond/241/reprodukce/?zaznamId=375182&reproId=424799; evtl. Databáze obětí shoa (Datenbank der Shoa-Opfer) https://www.holocaust.cz/databaze-obeti/obet/84225-hermina-fischerova. 23  In Fischers Nachlass ist z. B. ein anrührender Brief der Mutter erhalten – die Gratulation zu Otokars fünfzigstem Geburtstag: „Drazí, u ‚starých‘ národů se slaví v předvečer každého svátku, řídím se podle toho, ale – misto Tobě, Otokare, gratuluju sobě, že mám takového syna, o Tebe se postarají jiné, lidé všeho druhu, všeho učení, všeho odbornictví, etc. etc. ale já mám primát na všechnu radost, jsem podle K[arla]. Č[apka]. ten květináč, z kterého vyrostl ten vzácný keř, nežila jsem nadarmo! […] prosím Otokare, / na Tvoje zdraví dej hodně pozor, dal jsi mi co proto před – 50 lety, je to možné, přes muj neduh se necítím tak stará, zustaňme moderní!“ [Meine Lieben, bei den ‚alten‘ Völkern feiert man den Vorabend jedes Feiertags, ich richte mich danach, aber – statt Dir, Otokar, gratuliere ich mir selbst, dass ich solch einen Sohn habe, um dich werden sich andere kümmern, Leute aller Arten, aller Wissenschaften, aller Fachrichtungen, etc., etc. aber ich habe das Primat auf alle Freude, ich bin nach K[arel] Č[apek] der Blumentopf, aus dem dieser seltene Busch erwachsen ist, ich habe nicht umsonst gelebt! […] Bitte, Otokar / pass sehr auf Deine Gesundheit auf, du hast mir Grund dazu gegeben vor – 50 Jahren, ist das möglich, trotz meines Gebrechens fühle ich mich nicht so alt, bleiben wir modern!] (LA PNP Praha, Nachlass O. Fischer, empfangene Korrespondenz, Hermína Fischerová an Otokar Fischer, 17.05.1933). An Frau Fischer erinnerten sich auch viele von Fischers Mitschülern und Freunden mit Rührung und Sympathie (u. a. O. Theer).

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Briefe und Postkarten von Angehörigen der Familien Basch24, Krása, Mändl25 und Turnau,26 zumeist in deutscher Sprache, zeugen, und ebenso Dutzende, in tschechischer oder deutscher Sprache abgefasste Briefe der Mutter nach Berlin, in denen sie ihn detailliert über die Ereignisse im engeren und weiteren Familienkreis, aber auch über das kulturelle, gesellschaftliche und universitäre Leben unterrichtet.27 Seiner Mutter widmete Otokar bezeichnenderweise eine von ihm zusammengestellte Auswahl von Übersetzungen deutscher Lyrik mit dem Titel Z Goethova odkazu [Aus Goethes Vermächtnis] (1916), die er „klad[l] […] vědomě nečasově pod záštitu Goetha, jenž, před sto lety válce tváří v  tvář, nepřestával věřiti v  lidskou píseň srdce“ [bewusst unzeitig […] unter die Schirmherrschaft Goethes stellte, der vor hundert Jahren im Angesicht des Krieges nicht aufhörte, an das menschliche Lied des Herzens 24  Klára (Clara) Baschová (1852–?) war eine weitere Schwester von Fischers Mutter Hermína. Belegt ist Otokars schriftlicher Kontakt mit ihrem Sohn, dem Mathematiker Alfred Basch (1882 Prag–1958 Wien). 25  Frida/Bedřiška Mändlová/Mendlová war die Schwester von Fischers Mutter Hermína, der vorzeitig gestorbene František und der Historiker Friedrich/Bedřich waren Otokars Cousins. Zwischen Otokar und Bedřich ist ein – wenn auch keinesfalls intensiver – späterer beidseitiger schriftlicher (und sicher auch persönlicher) Kontakt belegt. 26  Die Turnaus waren die weitverzweigte Familie von Friedrich und Wilhelm, den männlichen Geschwistern von Fischers Großmutter Anna Krásová, die bereits 1873 im Alter von 41 Jahren starb. Otokar schrieb z. B. mit Josef Turnau (1888–1954), der Opernintendant in Breslau und Frankfurt war und den er in Můj Kolín [Mein Kolín] erwähnt, und ebenso mit Richard (1881–?), einem einstigen Studenten der deutschen Philosophischen Fakultät der Prager Karls-Ferdinandeischen Universität. Vgl. Topor 2015: 225. 27  Formánek (1992: 142) zufolge schrieb sie angeblich auch tschechische Verse. Mit dem kulturellen Impuls der Mutter setzt sich Otokar auch in der Studie über das Motiv der „Mütter“ in Goethes Faust (ursprünglich vorgetragen an der Sorbonne am 16.03.1936) auseinander, in dem er den Wandel und das Gipfeln der Mutterschaft am Beispiel von Gretchen, Helena und endlich der Jungfrau Maria charakterisiert. Goethes Marienkult interpretiert Fischer als „nejvyšší sublimaci vytušené jednoty mezi čistotou a věděním, mezi nevinností a životem, neběží […] o představové řady náboženské, nýbrž o analogie k  básníkově koncepci života a světa” [höchste Sublimierung der ersehnten Einheit zwischen Reinheit und Wissen, zwischen Unschuld und Leben, es handelt sich nicht [...] um religiöse Vorstellungssysteme, sondern um Analogien zur dichterischen Konzeption des Lebens und der Welt.”] (Fischer 1937b: 291, abweichende deutsche Version s. Fischer 1936a). Schon vorher war dieses Thema Gegenstand der Korrespondenz mit Pavel Eisner gewesen, der Fischer darauf hinwies, dass „téma mateřství platí ve ‚Faustovi‘ i pro oblast zla a zlého […] a k duševnímu mateřství“ [das Thema der Mutterschaft im ‚Faust‘ auch für den Bereich des Bösen [...] und zur geistigen Mutterschaft gilt] (Fischer 1937b: 344). Hier sei daran erinnert, dass (durch ein zufälliges Zusammentreffen) eine der letzten veröffentlichten Publikationen Fischers Čapeks Matka [Mutter] galt (Fischer 1937/38, abgedruckt bei Scherl 1983: 261-265).

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zu glauben]. Neun Jahre darauf bekräftigte er seine emotionale Bindung zu seiner Mutter, die zugleich mit einer Bewunderung für die deutsche Kultur, aber auch mit übersetzerischer Sehnsucht einherging, im Gedicht Matce [Meiner Mutter], das er einer weiteren Auswahl von Übersetzungen deutscher Lyrik mit dem Titel Z Goethovy země [Aus Goethes Land] voranstellte (Fischer 1925: 9, übernommen in die Auswahl, die von seinem Bruder Josef und dem Dichter F. Halas zusammengestellt wurde, Fischer/Halas 1933: 25): Let přešlo devět. Podávám Ti znova, co milovat a ctít mě učilas. Jsou cizí kořínky – ne má to slova však zpívá v nich mé mateřštiny hlas. Let zhaslo devět. Mnohé změnilo se, však mlády zůstaly, jak v první den, ty písně, sny, jež planou v luční rose, žár titánů a lidských srdce sten. Běd přešlo mnoho. Přijmi však, co ve mně tak svatě horoucí, jak v dětství, jest – Ty, jež’ s mně vedla do Goethovy země a k níž jsem vždy se vracel z bludných cest! [Neun Jahre sind vergangen. Wieder geb ich dir was du zu lieben und zu ehren mich gelehrt. Fremde Wurzeln sind es – nicht meine eigenen Worte, doch singt in ihnen die Stimme meiner Muttersprache. Neun Jahre sind erloschen. Vieles hat sich verändert, jung jedoch, wie am ersten Tag, blieben die Lieder, Träume, die im Tau der Wiese leuchten, Feuerschein der Titanen und menschlicher Herzen Ächzen. Viel Leids verging. Jedoch empfange, was in mir so heilig brennend, wie in Kindheitszeiten ist – Du, die du mich in Goethes Lande führtest und zu der ich von meinen Irrwegen immer zurückgekehrt bin!]

Von seiner Erziehung legte Otokar Fischer im Gedicht Vroucně [Innig] Zeugnis ab, das in der späten Sammlung Rok [Das Jahr] (1935) veröffentlicht wurde: Blahoslavena budiž matčina meta: „Chci Tě vychovat v občana světa.“ Zvláštní však chvála buď otcově větě: „Vychovej… Ale až po šestém létě.“ Mé chůvy mi zpívaly o mácích v žitu. Pak dostal jsem klíče k nejednomu z bytů, jejichž počet je velký velice. Ale vlast mám jednu, vlast Kytice.

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Aus der angedeuteten Stellungnahme des späten Dichters zur mythischen Landschaft von Erbens Kytice – durch die er die seinerzeit konstruierten und betonten sogenannten deutsch-tschechischen Gegensätze weiter und weiter versöhnte – wird deutlich, dass seine ursprüngliche schulische Sozialisation in tschechischer Sprache erfolgte. Die Gründe, die Pavel Fischer dazu bewegten, seinen Sohn in eine tschechische Volks- und später auch Mittelschule zu schicken, waren zweifellos Ausdruck seiner politischen und persönlichen Präferenzen, eine Haltung, die für eine ganze Reihe jüdischer Familien aus der ländlichen Mittel- und Unterschicht typisch ist (in Altprag schon weniger). Für Fischers Mutter hatte – zweifellos aufgrund der etwas anderen persönlichen Situation (gleicher Hintergrund, jedoch in einer wohlhabenderen Familie) – das Deutsche einen höheren Stellenwert. Nach einem Jahr Unterricht bei einem Privatlehrer ging der kleine Otokar ab dem Schuljahr 1889/90 erstmals in die fünfklassige gemischte Volksschule im Kolíner Stadtteil Zálabí; er erinnert sich ausdrücklich an die „bodré, dnes už léta zesnulé učitele Hráského a Stárka“ [gutmütigen und heute schon seit

28   In der ersten, handschriftlichen Version lautet dieser Vers (bezeichnenderweise): „Polyglot? … Ale až po šestém létě“ [„Ein Polyglott? … Aber erst nach dem sechsten [Lebens] Jahr“]. 29  Zu Fischers komplexen Überlegungen zu [Karel Jaromír Erbens Zyklus, A. d. Ü.] Kytice [Der Blumenstrauß], der als „nationale” Dichtung par excellence galt, vgl. die Abhandlung, in der er konstatiert, dass Erben „[byl] přes prostonárodní ráz ‚Kytice‘ inspirován též básníky umělými a děkoval, přes vyslovenou českost svého cítění a projadřování, za nejeden popud svým předchůdcům.“ [trotz des volkstümlich-einfachen Charakters der ,Kytice’ auch von künstlichen Dichtern inspiriert [war] und, obwohl er in seinem Fühlen und seiner Ausdrucksweise ausgesprochen Tschechisch war, seinen Vorgängern nicht nur eine Anregung verdankte.] (Fischer 1929: 127f.). In den traditionellen Vergleich von Erbens Svatební košile [Das Hochzeitshemd bzw. Die Geisterbraut] und Bürgers Leonore baute Fischer dann überzeugend noch Goethes Ballade Totentanz ein. In derselben Studie erwähnte er aber zugleich auch die Affinitäten von Erbens Dichtungen „s Schillerem a jeho mravokárnou tendenčností“ [zu Schiller und seiner moralisierenden Tendenz] (Fischer 1929: 127), z. B. im Vergleich des Gedichts Štědrý večer [Heiligabend] und der Ballade Der Taucher.

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Jahren entschlafenen Lehrer Hráský und Stárek] (Fischer 1936b: 2).30 Danach setzte er seine Ausbildung am Kolíner Gymnasium fort, wo er in den Jahren 1893/94–94/95 die Prima und einen Teil der Sekunda besuchte.31 In seiner Klasse war u. a. Erich Kafka (der Sohn des Kolíner Geschäftsmanns Filip Kafka, eines Cousins von Franz Kafka), seinem Jahrgang (in den Klassen I.A und II.A) gehörte z. B. der Anglist Vilém Mathesius an, ein Jahr unter ihm war Leo Bondy, der spätere Lev Borský, Philosoph, „Biopolitiker“ und Publizist des tschechischen integralen Nationalismus;32 weitere Mitschüler, die anderen Jahrgängen angehörten, waren z. B. Otokar Fischers späterer Kollege Vincenc Červinka (1877 Kolín–1942 Prag), ein Theaterkritiker der Národní listy [Nationalzeitung] und Russisch-Übersetzer; der Pädagoge Otokar Chlup (1875 Boskovice–1965 Prag); der Orientalist Bedřich Hrozný (1879 Lysá nad Labem–1952 Prag); der Polnisch-Übersetzer und Mittelschullehrer Josef Matouš (1881 Červené Pečky–1971 Praha); der Pädagoge, Historiker und Politiker Vojtěch Čížek (1884 Kolín–1942 München)33; und der Historiker Jan Heidler (1883 Police nad Metují–1923 Opatija).34 Außer dem Historiker und Geographen Justin V. Prášek (1853 Brandýs n. L.–1924 Klánovice) führt Fischer in seiner kurzen Vzpomínka [Erinnerung], die in der Jubiläumsschrift zum 50. Gründungstag dieser Lehranstalt veröffentlicht wurde, an: „Jedno je tu jméno, jedna je tu vzpomínka, jeden zjev, při kterých mi vždy srdce podnes díkem zabuší: můj tehdejší třídní, Alois Pokorný. – Loučit se s  ním – bylo bolestné v  onom nebolestném loučení s Kolínem.“ [Es gibt hier einen Namen, eine Erinnerung, eine Erscheinung, bei der mir bis heute noch das Herz aus Dankbarkeit höherschlägt: mein einstiger Klassenlehrer, Alois Pokorný.35 – Mich von ihm zu verabschieden 30  Die heutigen Základní školy [Grundschulen], Michovická 62, 280 02 Kolín V. Die ausführliche und fundierte Information über die Kolíner schulische Sozialisation O. Fischers verdanke ich Jaroslav Pejša aus dem Státní okresní archiv Kolín. 31  A. d. Ü.: Österreichische Zählung. Entsprechen der 6. und 7. Klasse, Quinta und Quarta im deutschen System. 32  In Fischers Nachlass (LA PNP Praha) sind Briefe Borskýs erhalten, die u. a. einige Nietzscheanische Themen und damit verbundene Übersetzungsprobleme betreffen. 33  Vojtěch Čížek begründete zusammen mit Otokars Bruder Josef im Jahre 1939 den Petitionsausschuss Věrni zůstaneme [Wir bleiben treu] und beteiligte sich aktiv am Widerstand gegen den Nationalsozialismus (Kaufmannová 1999: 31-33, 44-47, 49-52, 100-102, 235). 34  Die Pädagogen und Mitschüler habe ich anhand von Zpráv výročních c. k. reálného a vyššího gymnasia v  Kolíně za  školní roky 1893–1895 [Jahresbericht des k.u.k. Real- und Höheren Gymnasiums in Kolín für die Schuljahre 1893–1895] identifiziert 35  Über Alois Pokorný vgl. die Erwähnung im Almanach Čáslav 1880–1975–2010 (2010: 96). Demzufolge war er in den Jahren 1910–1928 Direktor des Gymnasiums von

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– war das Schmerzhafte in jenem schmerzlosen Abschied von Kolín.] (Fischer 1923a: 50f.) An das Kolín seiner Gymnasialzeit erinnerte er sich nicht gern. Neben ausdrücklich erwähnten Schwierigkeiten mit der deskriptiven Geometrie36 hängt seine Verlegenheit, allerdings ohne dass er es erwähnen würde, mit den unglücklichen Ereignissen des Frühlings 1893 in Kolín und deren langjährigen Nachwehen zusammen.37 Damals hatte eine politisch motivierte antisemitische Ritualmord-Beschuldigung von jung-tschechischer Seite gegenüber den Juden von Kolín einen bewegten Verlauf genommen, Angriffe auf jüdische Häuser und Bewohner eingeschlossen, was „hocha svrcholně sensitivního, značně nervosního, velmi pilného, upřímného a opravdového“ [den höchst sensiblen, deutlich nervösen, sehr fleißigen, direkten und wahrhaftigen Jungen]38 sicherlich gezeichnet hatte. Aber auch die existentielle Situation der Familie war unhaltbar geworden: Die übermäßigen Ausgaben des Vaters für seine erwähnten gesellschaftlichen Aktivitäten, seine Unwirtschaftlichkeit und mangelnde praktische Veranlagung als Unternehmer, einige persönliche Enttäuschungen (auch aus dem weiteren Familienkreis)39 und die erwähnten langjährigen Angriffe von Seiten lokaler Čáslav. Er wurde am 21.06.1862 (im Orig. fehlerhaft: 1826) in Hobšovice bei Kladno geboren (www.actapublica.eu/matriky/praha/prohlizec/5430/?strana=73) und starb am 14.05.1939 in Čáslav. Vgl. Anonym (1939), Sto sedmdesát let [Einhundertsiebzig Jahre] (1948: 48); in Fischers Nachlass (LA PNP) befindet sich ein Brief Pokornýs, der sein Leben und seinen Werdegang als Lehrer beschreibt und eine lebhafte Erinnerung an den Adressaten erhält. 36  „Nebylo […] jediné trápení. Jiné se zvalo kreslení – perspektiva a deskriptiva. Gymnasium bylo reálné, a rýsování tedy, spolu s počty, zcela mimo okruh nadání, dědičně usměrněného filologicky. Z neuměle vyměřovaných výkresů plynula muka, jež mluvila – nebo byla by měla mluvit – jasně znějící řečí a výstrahou: nikdy se nepouštět do oboru, k němuž chybí vnější kvalifikace.“ [Es war nicht […] die einzige Qual. Eine weitere nannte sich Zeichnen – Perspektive und Deskriptive. Es war ein Realgymnasium, und Zeichnen lag also, zusammen mit dem Rechnen, gänzlich außerhalb meines Begabungshorizonts, der ererbtermaßen philologisch ausgerichtet war. Von den kunstlos bemessenen Zeichnungen ging eine Qual aus, die eine deutlich klingende Sprache sprach – oder hätte sprechen sollen – und eine Warnung aussprach, davor, sich jemals auf ein Fach einzulassen, zu dem einem die äußere Qualifikation fehlt.] (Fischer 1936b: 6) 37  Vgl. Frankl (2005) sowie, im breiteren Kontext, Frankl (2007: 192-196). Eine besonders unglückliche Rolle spielte dabei Josef Šíl, ein jungtschechischer Abgeordneter im tschechischen Landtag und Kolíner Stadtarzt, der die absichtliche Fehlinformation nicht bestritt, auf die sich der Verdacht auf Ritualmord an einer angeblich verschwundenen Dienerin stützte. 38  Zhor (1938) gibt hier die Ansicht von Fischers geliebtem Tschechischlehrer Alois Pokorný wieder. 39  Aus dem Fragment des Tagebuchs von Pavel Fischer, das im RMK aufbewahrt ist, ist die Desillusionierung und persönliche Enttäuschung fast aus jeder Zeile ersichtlich, egal ob es

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politischer Repräsentanten – zunächst alttschechischer Orientierung, aber später auch von ehemaligen Freunden aus jungtschechischen Kreisen – zwangen diesen „velkého snílka, blouznila a iluzionistu“ [großen Träumer, Phantasten und Illusionisten] (Fischer 1936b: 4), sein Engagement nach und nach zu reduzieren und später auch mit seiner Firma nach Prag überzusiedeln, wohin seine Frau mit den Kindern schon zuvor umgezogen war. Dieser erzwungene, aber dennoch erlösende Weggang aus Kolín („z města […] průmyslov[ého], horečného úsilí a malých fabrik“ [aus einer Industriestadt […] der fieberhaften Anstrengungen und der kleinen Fabriken] (Fischer 1936b: 2f.) veranlasste Otokar augenscheinlich dazu, auch seine Kindheitserlebnisse, bei denen das „pocit vyděděnců uprostřed zámožných příbuzných“ [Gefühl des Enterbten inmitten von vermögenden Verwandten] (ebd.: 5) vorherrschend gewesen war, zu unterdrücken oder zu verdrängen. Bezeichnenderweise rief sich ihm dieses Erlebnis bei einer der seltenen späteren Gelegenheiten einer Rückkehr wieder in Erinnerung, als er kurz auch an dem Ort Halt machte, den er mit der oben bereits erwähnten Anstrengung seines Vaters verband, einen Wald anzulegen und ein „příští středisko zábav a občerstvení“ [zukünftiges Imbiss- und Vergnügungszentrum] zu gründen. In seinem Gedicht Návrat [Rückkehr] hielt er seine Erinnerung an einstige Illusionen und Hoffnungen fest und beschloss – nach der Konfrontation mit der irdischen und trostlosen Gegenwart, noch verstärkt durch einen Besuch auf dem Friedhof –, die Stadt „seiner Vorväter“ (im übertragenen ebenso wie im wörtlichen Sinne) hinter sich zu lassen: Skleněné koule nad růžovým sadem, aeolská harfo na mé besídce – kam jste se poděly, vy v slunci mladém, vy v čisté touze dni a měsíce? Dnes řídké borky na písečné pláni a stavení zřím hnusem zemdlelá – aolská hudbo všeho vzpomínání, vy duhová mé minulosti skla! Jíl, písek, písky bez rosy a deště, les, jejž jsme sázeli, je chor a pust. Co bylo vetché, zdivočelo ještě, a prachem zalklo se, co chtělo vzrůst. Jak bylo lze tu ve městě žít mých dědů! um Probleme mit Insolvenzen von Auftraggebern oder um die Unzuverlässigkeit (oder gar Durchtriebenheit und Lügenhaftigkeit) von christlichen wie jüdischen Geschäftspartnern geht.

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Václav Petrbok Jen jedna cesta zbývá: na hřbitov; ač nápisů již čísti nedovedu, přec luštím smysl z vyvětralých slov. K mrtvým se nakloň! k stínům se vrať, stíne! tak minulost mi šeptá z pustých míst. Po mrtvých nešlap! nech je spát! mně kyne ne úcta k mrtvým, ale nenávist. Zde zprahlá thuj’ se nad blouznivcem třese, tam pod kamenem ubit sebevrah – Jdi, opusť domov, neohlížeje se, a z obuvi své vyraz otců prach! [Ihr gläsernen Kugeln über dem Rosengarten, o Äolsharfe an meiner Gartenlaube – wo seid ihr hin, ihr Tage und Monate in der jungen Sonne, in der reinen Sehnsucht? Heute sehe ich dürre Kiefern auf sandiger Ebene und von Ekel ermattete Gebäude – äolische Musik aller Erinnerung, ihr Regenbogengläser meiner Vergangenheit! Lehm, Sand, Sandböden ohne Tau und Regen, der Wald, den wir hier gesetzt haben, ist krank und leer. Was altersschwach war, ist noch verwildert, und was wachsen wollte, wurde vom Staub verschluckt. Wie hätte man hier in der Stadt meiner Vorväter leben sollen! Es bleibt nur ein Weg übrig: auf den Friedhof hin; auch wenn ich die Inschrift nicht mehr lesen kann, entziffere ich doch ihrer verwitterten Wörter Sinn. Neig dich zu den Toten hin! kehr zurück zu den Schatten, Schatten Du! so flüstert mir Vergangenheit von leeren Orten zu. Tritt nicht auf die Toten! lass sie schlafen! nickt mir nicht Ehrfurcht vor den Toten zu, sondern der Hass. Hier schüttelt sich die Thuja über dem Schwärmer aufgespannt, Unter dem Stein ermordet der Selbstmörder – Geh, verlass die Heimat, ohne dich umzusehen, und wisch von deinen Schuhen den Staub der Väter!] (Fischer 1916: 40f.)

In Prag trat Otokar 1896 als Tertianer in das Realgymnasium in Vinohrady/ Königliche Weinberge ein. Auch in diesem Fall zeugt die Wahl einer prestigeträchtigen Mittelschule mit tschechischer Unterrichtssprache, noch dazu in einer Zeit zunehmenden tschechischen politischen Antisemitismus, davon, dass die Loyalität des Vaters zum tschechischsprachigen Milieu groß war und

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weiter bestand.40 Am 3. Februar 1898 starb jedoch Pavel Fischer plötzlich an einer Lungenentzündung.41 Der Tod des Vaters erschütterte den Sohn tief, wie er später bekannte: Mám-li říci, která událost nejpronikavěji zasáhla do vývoje mých mladých let, vzpomínám otcovy smrti, jež mě zastihla v mém patnáctém roce a bolestně, leč i očistně způsobila převrat mého nazírání i života. Zhoršení hmotných poměrů, pocit, že vbrzku budu musit stát na vlastních nohou, nové a nově zjitřované přemýšlení o vlastnostech zděděných po zemřelém, zvlášť o jedné větě, kterou mi zanechal jakoby odkazem a která obsahovala jeho naději, že se jednou pokusím vyniknouti ‚v jadrném českém slohu‘ – to a leccos jiného přispívalo k tomu, že jsem své úkoly začínal bráti vážněji než dřív a hlavně: že jsem se jal od sebe požadovati věci mnohem vyšší nežli dosud. [Wenn ich sagen soll, welches Ereignis am durchdringendsten in die Entwicklung meiner Jugendjahre eingegriffen hat, fällt mir Vaters Tod ein, der mich in meinem fünfzehnten Lebensjahr ereilte und schmerzhaften, aber auch kathartischen Umbruch meiner Ansichten und meines Lebens bewirkte. Die Verschlechterung der materiellen Verhältnisse, das Gefühl, baldigst auf eigenen Füßen stehen zu müssen, das immer wieder von Neuem entfachte Nachdenken über die von dem Verstorbenen ererbten Eigenschaften, besonders über einen Satz, den er mir als Vermächtnis hinterlassen hatte und der seine Hoffnung enthielt, dass ich einst versuchen werde, mich „in kernigem tschechischen Stil“ auszudrücken – dies und so manches andere trug dazu bei, dass ich anfing, meine Aufgaben ernster zu nehmen als früher und vor allem: dass ich begann von mir viel höhere Dinge zu fordern als bisher.] (Fischer 1931a)

Otokars Verhältnis zu seinem Onkel, dem Kolíner Advokaten Josef Podvinec (1857 Dolní Cetno–1920 Bad Kudowa),42 der zu seinem Vormund bestellt 40  Cohen (2000: 171) führt an, dass sich im Jahre 1900 trotz der im Wandel begriffenen politischen Situation an der deutschen öffentlichen Schule 1. Grades in Prag 91% aller jüdischen Schüler einschrieben, 1910 waren auf tschechischen öffentlichen Schulen des 2. Grades (Gymnasien, Realschulen) 17% der jüdischen Studenten eingeschrieben, eine große Zahl von Schülern aus kleineren Städten in Mittelböhmen inbegriffen. 41  Einem anonymen Bericht zufolge (Anonym 1898) „konal se z domu smutku […] za velkého účastenství přátel a známých zesnulého. Obřad vykonal český rabín Vinohradský pan Dr. Weiner.“ [fand [das Begräbnis] [...] unter großer Beteiligung von Freunden und Bekannten des Verstorbenen statt. Den Ritus feierte der tschechische Rabbiner von Vinohrady, Herr Dr. Weiner.] Fischers Grab, eines der ersten in tschechischer Sprache, befindet sich auf dem Neuen jüdischen Friedhof in Strašnice. 42  Über Podvinec, der aus einer Rabbinerfamilie stammte, informier Navrátil (1904: 113), über seine spätere Übersiedelung nach Berlin, die Rückkehr nach Böhmen und die Gründung des Freidenker-Vereins Volná myšlenka [Freier Gedanke] vgl. die Kronika města Kolína [Chronik der Stadt Kolín] (o.J.: 66, 128f.). Aus weiteren verstreuten Informationen ergibt sich, dass er zusammen mit Leopold Katz und August Stein schon im akademischen Jahr 1876/77 Geschäftsführer des alttschechisch orientierten Spolek českých akademiků Židů Kapper [Verein der tschechojüdischen Akademiker Kapper] war (Guth 1938/39: 5;

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wurde und gerade dabei war, sich von seines Vaters Schwester Anna scheiden zu lassen, war einigermaßen kompliziert. Einerseits war er ihm in beträchtlicher Dankbarkeit verbunden – die auch sicher aufrichtig gemeint war, ermöglichten doch die finanziellen Mittel, die die Familie erhielt, ihr ein relativ gutes Leben und Otokar konnte sich später auch seinem ersehnten Universitätsstudium der Philologie widmen. Andererseits wurde er aber später auch mit dem „Pragmatismus“ seines Onkels konfrontiert, als ihm Podvinec in seiner Gratulation zur Promotion schrieb: Uvaž, nebylo by nejvíce na čas přikročiti k odstranění […] překážky, která budoucí karieře zajisté na závadu bude. Neboť i když sl[avný] sbor žida k docentuře připustí, činiti bude potíže při profesuře a bylo by to pak divné, abys teprve potom změnu učinil i nyní změna ta aspoň na venek zdá se dobrovolnou, pak bude okatě nucenou a proto nedůstojnou. [Bedenke, ob es nicht allerhöchste Zeit wäre, zur Entfernung […] des Hindernisses zu schreiten, das deiner zukünftigen Karriere sicherlich zum Schaden gereichen wird. Denn wenn das hohe Kollegium auch einen Juden zur Dozentur zulässt, wird es bei der Professur Schwierigkeiten machen und dann wäre es seltsam, wenn du den Wechsel erst danach vollziehst. Nun würde dieser Wechsel wenigstens nach Außen hin als freiwillig erscheinen, dann wird er auffällig erzwungen und von daher unwürdig sein.]43

Krejčová 1999: 57, 59). Nach Pejša/Jouza/Jouzová (2010: 34) wurde er 1895 Vorsteher des neu entstandenen Českožidovská národní beseda [Tschechojüdischen nationalen Kulturvereins] in Kolín. An Podvinec erinnert sich Eduard Lederer (1938/39:90), ein Mitschüler Arnošt Kraus´, der Advokat, Belletrist und tschechojüdische Funktionär, als [mal[ého], sněd[ého] studenta, později advokát[a] v  Kolíně, čipern[ého] mladík[a], kterého jsem si nedovedl za studentských let představit bez čamary. Byl pyšný na to, že se znal s několika předními mladočeskými žurnalisty. Řídil schůze autoritářsky. Dovedl každý názor od něho se třeba jen v  maličkostech uchylující povýšeně potírat“ [einen kleinen, dunklen Studenten, der später Advokat in Kolín wurde, einen aufgeweckten jungen Mann, den ich mir in seinen Studentenjahren nicht ohne Tschamarre [Schnürrock, Teil der tschechischen „Nationaltracht“, VP] vorstellen konnte. Er war stolz darauf, dass er mit einigen der führenden jungtschechischen Journalisten bekannt war. Er leitete die Versammlungen autoritär. Er war fähig, jede, von der seinigen auch nur im Mindesten abweichende Meinung überheblich zu bekämpfen]. Podvinec’ jungtschechisches Engagement bei den Wahlen zum Reichsrat in Kolín 1891 erwähnt Frankl (2007: 192). Über weitere Freunde Fischers und Unterstützer aus jüdischen Kreisen, die Zuckerfabrikantenfamilie Mandelík in Ratboř und Kolín, s. Jouza (2007: 165-185). 43  LA PNP Praha, Nachlass O. Fischer, empfangene Korrespondenz, J. Podvinec an O. Fischer 03.06.1906. Otokar empfing später die Taufe der römisch-katholischen Kirche, am 27.03.1911, zwei Tage vor seiner Hochzeit mit seiner ersten Frau Blažena Baušová in PragŽižkov. Sein Pate war Pavel Bauše, der spätere Schwiegervater, s. Archiv hlavního města Prahy, sbírka matrik, Žižkov, kostel sv. Prokopa, matrika narozených 1908–11 (ŽKP N13), fol. 355 [Archiv der Hauptstadt Prag, Sammlung der Matrikeln, Žižkov, Hl. Prokop-Kirche, Geburtsmatrik 1908–11 (ŽKP N13)] http://katalog.ahmp.cz/pragapublica/permal

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Auch diese Haltung Podvinec‘ mag zu Fischers sehr reservierter Beziehung der tschechisch-jüdischen Bewegung und zu seiner zeitweise ablehnenden Haltung dem „Judentum“ insgesamt gegenüber beigetragen haben. Von Fischers Jahren am Gymnasium in der Hálkova ulice (jetzt Londýnská) in Prag erzählen mit einer gehörigen Portion Scherzhaftigkeit, aber auch einer gewissen Melancholie ein anlässlich eines Klassentreffens vorgetragener Text und das Gedicht Epilog psaný k 30. výročí maturity [Epilog geschrieben zum 30. Jubiläum der Matura].44 Von seinen Lehrern muss der Tschechischlehrer Václav Flajšhans (1866–1950) genannt werden, ein Historiker der tschechischen Literatur vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, verlässlicher Herausgeber und Literaturkritiker, der ihm später als Redakteur ermöglichte, Feuilletons in den Národní listy zu publizieren. Auch nach Jahren dachte Fischer mit Respekt an seinen Ausspruch beim Maturabankett zurück: „Vychodili jste c. k. gymnasium na Královských Vinohradech. Buďte toho vždy pamětlivi, že jste jenom jednou císařští, ale dvakrát královští.“ [Ihr habt das k.u.k. Gymnasium in den Königlichen Weinbergen besucht. Bleibt immer dessen eingedenk, dass ihr nur einmal kaiserlich, aber zweimal königlich seid.]45 Flajšhans hatte zwar später keinen regelmäßigen Kontakt zu seinem „nejnadanějšímu žákovi” [begabtesten Schüler] und sah ihn nicht allzu oft, aber ihre von wechselseitiger Wertschätzung geprägte Beziehung ist in der Korrespondenz belegt.46 Zwischen dem Germanisten František Servít (1848–1923), der einer Anmerkung im Prolog zufolge – „kde ten, kdo volal ink?xid=1C339545088E4A65AC42AC46187D9312&scan=369#scan368 (aufgerufen am 12.02.2017) 44  Die Texte sind im LA PNP, Nachlass Otokar Fischer archiviert. Fischers Lehrer und Mitschüler habe ich mithilfe des Výroční zpráva c. k. státního gymnasia na Král. Vinohradech za školní rok 1895 [Jahresberichts des k.u.k. staatlichen Gymnasiums in den königl. Weinbergen für das Schuljahr 1895] und des Výroční zpráva c. k. státního gymnasia na Král. Vinohradech za školní rok 1901 [Jahresberichts des k.u.k. staatlichen Gymnasiums in den königl. Weinbergen für das Schuljahr 1901] identifiziert. 45  Literární archiv PNP Praha, weiter LA PNP, Nachlass Otokar Fischer, Otokar Fischer beim Maturitätstreffen im Jahre 1931. 46  „Vzkázala mi Vaše matinka, že jste ve schůzi Akademie loni, když bylo obsazováno křeslo mnou uprázdněné a byl na ně zvolen, věnoval také několik slov mně. Děkuji Vám za ně – a proto Vám píši. Vy víte, že se vyhýbám všem schůzím i společnostem – i tam, kam jsem srdečně a upřímně zván, jako svými bývalými žáky a žákyněmi.“ [Ihre liebe Mutter hat mir ausgerichtet, dass Sie letztes Jahr in der Sitzung der Akademie, als der von mir geräumte Sessel besetzt wurde und Sie darauf berufen wurden, auch mir einige Worte gewidmet haben. Ich danke Ihnen dafür – und deshalb schreibe ich Ihnen. Sie wissen, dass ich alle Sitzungen und Gesellschaften meide – auch dort, wohin ich herzlich und aufrichtig eingeladen werde, wie von meinen ehemaligen Schülern und Schülerinnen.] LA PNP Praha,

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nezbedníci, / kde Servít, kde ‚ho Pechános‘“ [wo der, der Lausbuben rief, / wo Servít, wo ‚ho Pechános‘47] – nicht eben zu den beliebten Lehrern gehörte, und Fischer ist dagegen kein Kontakt belegt. Dem patriotischen Geschichtsund Geographielehrer Dominik Čipera (1850–1929), einem Freund Alois Jiráseks und Zikmund Winters, der die Revue Osvěta [Aufklärung] propagierte,48 brachte er aber einige Ehrerbietung entgegen; und auch Čipera förderte ihn offensichtlich in der Schule und brachte ihm auch weiterhin persönliche Sympathien entgegen (gratulierte zur Promotion und zur Eheschließung), auch wenn er von seinen Ansichten und seinem Alter her deutlich der älteren Generation angehörte. Immer noch zu wenig gewürdigt wird die Person eines weiteren von Fischers Lehrern, und zwar des Lateinlehrers und Direktors des Instituts, Emanuel Peroutka (1860–1912), der sich um eine philosophisch aktualisierte Deutung der Antike bemühte, „který by se mohl na počátku 20. století stát protiváhou k dekadenci“ [die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Gegengewicht zur Dekadenz hätte werden sollen] (Svatoňová 2000). Dem Gymnasiasten Fischer, der später ein großer Verehrer der antiken Kultur und besonders der klassischen (und klassizistischen) Literatur wurde, kann sein Artikel Antika, my a naše gymnázia [Die Antike, wir und unsere Gymnasien] (Naše doba [Unsere Zeit] 1898), in dem Peroutka für eine reformierte Lehre der klassischen Sprachen und Literaturen als Art und Weise der Kultivierung des ästhetischen Geschmacks und des Persönlichkeitswachstums plädierte, wohl ebenso wenig entgangen sein wie einige Übersetzungen (Herbert Spencer, Marcus Aurelius) und Arbeiten zur Geschichte der antiken Kultur, die Peroutka in Laichters Verlag veröffentlichte.49 Mit manchen Mitschülern schloss Fischer aber Freundschaften, die oftmals viele Jahre halten sollten. Beispielsweise korrespondierte er mit Milan Svoboda (1883–1948), einem Professor am Prager Konservatorium, Theaterregisseur, Dramatiker und Übersetzer. In seinem bibliophilen Verlag verlegte Svoboda Fischers Übersetzung von Kleists Penthesilea und nach der erhaltenen Korrespondenz zu schließen – allem Anschein nach stehen heute nur Svobodas Briefe zur VerNachlass O. Fischer, empfangene Korrespondenz, Brief von V. Flajšhans an O. Fischer vom 02.02.1934. 47  LA PNP Praha, Nachlass Otokar Fischer, eigene Handschriften, Prolog. 48  Über Čipera, den Vater des gleichnamigen späteren Oberbürgermeisters von Zlín und Protektoratsministers für öffentliche Arbeiten (in der zweiten Regierung R. Berans und in der Regierung Alois Eliášs) schrieb Anonym (1929). 49  Auch in diesem Fall zeugen von der beidseitigen Geneigtheit und Fischers Ehrerbietung und Dankbarkeit dem ehemaligen Lehrer gegenüber Peroutkas Briefe in Fischers Nachlass im LA PNP.

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fügung – setzte er sich ebenfalls für die Publikation des Almanach na rok 1914 [Almanach für das Jahr 1914] ein, was an Svobodas Weigerung scheiterte, „primitivistické a nemožné Špálovy skizzy“ [die primitivistischen und unmöglichen Skizzen Špálas50] zu reproduzieren.51 Eine vertraute Beziehung verband Fischer auch mit dem späteren Mittelschulprofessor und Dichter Břetislav Vyskočil (1882–1938), mit dem er gemeinsam das Universitätsstudium aufnahm. Später war Fischer daran beteiligt, dem Komponisten und Publizisten Ladislav Vycpálek (1882–1969) eine Anstellung in der Universitätsbibliothek zu vermitteln, wo Vycpálek die Musikabteilung begründete (Svobodová 1958: 62). Kurz: Dieses Gymnasium entsprach als Lehranstalt von anständigem Niveau von seiner Ausrichtung her den Vorstellungen des jungen LiteraturAdepten sicher mehr als das Kolíner Realgymnasium. Fischers weitere, unbestreitbare – wenn auch kritische – Loyalität und Sympathie zum tschechischen kulturellen Milieu wurde gestärkt und angeregt durch seine Hochschulprofessoren, tschechische Realisten wie František Drtina oder Arnošt Kraus.52 Viele Jahre später hob Fischer die Rolle Masaryks als Initiator hervor: „Ne pedagog, ale inspirátor, ne historik, ale tvůrce, ne vědátor, ale velký člověk. […] Mám-li udati, co vedle odborného studia pokládám za největší zisk svých univerzitních let, řeknu bez váhání: osobní styk s Masarykem.“ [Nicht Pädagoge, sondern Inspirator, nicht Historiker, sondern Schöpfer, nicht Wissenschaftler, sondern großer Mann. […] Wenn ich angeben soll, was ich neben dem Fachstudium für den größten Gewinn meiner Universitätsjahre halte, sage ich ohne zu zögern: den persönlichen Kontakt zu Masaryk.] (Fischer 1930: 385) Außer mit Masaryk – und öfter als mit diesem – traf er sich jedoch mit anderen Persönlichkeiten aus dem Umfeld der realistischen Partei, zum Beispiel mit Jan Jakubec, einem Universitätsprofessor für tschechische Literatur und Redakteur der Rubriken Rozhledy literární [Literarische Rundschau] in der realistischen Naše doba [Unsere Zeit], und den Verlegern Jan und Josef Laichter. In Naše doba begann er zu publizieren, und zwar mit einer Rezension über Bücher von Rainer M. Rilke, Hugo Salus und Anton Ohorn, die, völlig im Einklang mit dem üblichen tschechischen Narrativ, die „krásné nazírání básníka p. Rilkeho“ [schönen Betrachtungen des Dichters H. Rilke] pries und den „štvavý tón, kterým se vyznačují verše a prosa značně oblíbeného novelisty Antona Ohorna“ [hetzerischen 50  Václav Špála (1885–1946), Maler, Grafiker und Illustrator. 51  LA PNP Praha, Nachlass O. Fischer, empfangene Korrespondenz, M. Svoboda an O. Fischer 22.08.1913. 52  Zu dem zunächst uneindeutigen Verhältnis von Kraus zu Fischers Studien an der Prager tschechischen Universität vgl. den Beitrag von Lenka Vodrážková in diesem Sammelband.

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Ton, durch den sich die Verse und die Prosa des äußerst beliebten Novellisten Anton Ohorn auszeichnen] davon abhob, „jeho knihy“ [dessen Bücher], wie er konstatierte, „se nedají čísti s klidnou myslí“ [sich nicht mit ruhigem Sinn lesen lassen]. Er sei besorgt darüber, dass „Ohornovy spisy nalézají ohlas a pochvalu česko-německé intelligence, i přednáška se o něm konala“ [Ohorns Schriften Anklang und Lob bei tschechisch-deutschen Intellektuellen finden, auch eine Vorlesung wurde zu ihm abgehalten] (Fischer 1902/03: 704). Vielleicht liege ich nicht ganz falsch, wenn ich auch die Studie zum literarischen Ahasver-Motiv im Kalendář česko-židovský [Tschecho-jüdischen Kalender] als Teilergebnis seiner Zweifel und Überlegungen zu seiner persönlichen Position in dieser Zeit betrachte.53 Auch die streng germanistisch ausgerichtete, augenscheinlich von August Sauer initiierte wissenschaftliche Studie über Gerstenberg im Euphorion (Fischer 1903/04b)54 deutete Fischers weitere fachliche – zu der Zeit vorzugsweise traditionell philologisch orientierte – Ausrichtung an. Aus den in Rozhledy veröffentlichten Aphorismen spricht persönliche Desillusionierung angesichts der Parteilichkeit des tschechischen kulturellen und politischen Lebens, aber auch ein Sinn für das Paradoxale und den Witz.55 Im weiteren Verlauf seines Hochschulstudiums verstand es Fischer, auch die Möglichkeiten, die ihm die Prager deutsche Universität bot, organisch zu nutzen. Das gilt besonders für die Lehre August Sauers, worauf sich auch die Erwähnung des „Fachstudiums“ aus dem Zitat mit seinem Bekenntnis zu Masaryk bezieht. Bezeichnend ist, dass das fast ausschließlich deutschsprachige Umfeld während seines Aufenthalts in Berlin ihn auch zu dramatischen und lyrischen Selbstreflexionen in deutscher Sprache zwang, die allem Anschein nach nicht publiziert wurden und heute im Unterschied zu den tschechischen, thematisch verwandten, formell findigeren und sprachlich geschickteren Kompositionen, die er kurz darauf veröffentlichte, beinahe

53  Fischer (1903/04a). Zuvor wurde dieser Beitrag am 07.02.1903 im Spolek českých akademiků židů [Verein der tschechojüdischen Akademiker] vorgetragen. Drei Jahre später ergänzte er das Thema um eine Überlegung zu dessen zeitgenössischer deutscher literaturgeschichtlicher Bearbeitung (Fischer 1906/07). 54  Vgl. im Weiteren den Beitrag von Myriam-Isabell Richter und Hans-Harald Müller in diesem Sammelband. 55  Einzelne Aphorismen widmete Fischer (1905a) u. a. den Studentenverbindungen (Zionisté, Č. A. Ž., Akademie českoslovanského studenstva; Společenský spolek Slavie [Zionisten, Assoziation des tschechischen akademischen Judentums, Akademie der tschechoslawischen Studentenschaft, Der Gesellschaftliche Verein Slavia]), ebenso ironisierte er das großmäulige jungtschechische Hej-Slawentum (Panslavismus? Na vybranou [Panslawismus? Zur Auswahl]).

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unbekannt sind.56 Existentielle und schöpferische Zweifel an der großen Welt drückt er auch in seiner Vzpomínka na Berlín [Erinnerung an Berlin] aus, wo er sich trotz aller Vorbehalte rückhaltlos zum tschechischen Milieu bekennt. Obwohl er in dem Moment, in dem er den geliebten Schmidt erwähnte, von einer „Nationalitäts-Depression“ spricht, „národnostní depresi, která se zmocňuje tak mnohého, kdo poprvé je z našich užších a stísněnějších poměrů přesazen do hlučného, bezohledného berlínského života“ [die so manchen ergreift, der zum ersten Mal aus unseren engeren und gedrückten Verhältnissen ins laute, rücksichtslose Berliner Leben umgesetzt wird], sprach er sich für eine Definition von Patriotismus aus, der „bývá zvláštní veličinou: roste se čtvercem vzdálenosti od rodinné země“ [eine merkwürdige Größe ist: Er wächst exponentiell mit der Entfernung vom Heimatland].57 Den Gedanken, im deutschen Umfeld wissenschaftlich und pädagogisch tätig zu werden, gab er aber einige Zeit lang nicht auf, wovon, wie es scheint, auch eine Bemerkung in einem Brief von A. Kraus zeugt: „smělý sen Váš (můj nikdy!) o povolání na některou ze slavných stolic germanistických se nevyplnil, naštěstí, jak ukázal rok Vašeho jubilea.“58 [Ihr kühner Traum (nicht aber meiner!) von einer Berufung an einen der berühmten germanistischen Lehrstühle hat sich nicht erfüllt, zum Glück, wie Ihr Jubiläumsjahr gezeigt hat.]. Nach der Rückkehr aus Berlin fing er als unbezahlter Praktikant in der Universitätsbibliothek an, die der tschechischen und der deutschen Universität gemeinsam war; damals waren Hugo Bergmann (1883–1958),59 der spätere Begründer und erste Direktor der jüdischen National- und 56  Die sprachlich nicht allzu gewandten dichterischen Kompositionen Berlin bzw. Stimmen der Heimat thematisieren auch Unwillen und Angst vor der Rückkehr: „Im Westens Wehmut / leis wies gekommen war, / Verglommen meiner Seele / Sommerjahr. // Und aus ferner Heimat / an der Trübsal Meer / Erklangen Stimmen / Schicksalschwer: // Du wolltest entrinnen / dem traurigen Lande / Und wolltest lösen / des Blutes Bande. // Doch es schleicht in deinen Adern / das Gift deiner Väter / Und die Seele muss stöhnen / unterm Fluch der Verräter: // Unterm Verzweiflungslachen / der Staubgebornen / Und der Sonnenadlereinsamkeit / der Lichterkornen. LA PNP Praha, Nachlass O. Fischer, deutschsprachige literarische Versuche (hier auch Tagebuchaufzeichnungen). Vgl. aber die Gedichte Vineta oder Světlá jízda [Lichte Fahrt] aus der Sammlung Království světa [Königreich der Welt] (in Buchform 1911). 57  Fischer (1905b: 41-46). Vgl. auch Nekrolog, eine selbstironische Causerie über das Verfließen der Jugend oder die nicht näher datierte Prosa Návrat [Die Rückkehr] (LA PNP Praha, Nachlass O. Fischer, eigene Handschriften, ohne Datum). 58  LA PNP Praha, Nachlass O. Fischer, empfangene Korrespondenz, 20.03.1933. Aus anderen Quellen ist diese Information bisher nicht belegt. 59  Den sporadischen, beiderseitigen Kontakt auch nach dem Weggang aus der Universitätsbibliothek belegt die Korrespondenz in Fischers Nachlass.

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Universitätsbibliothek und erste Rektor der Hebräischen Universität in Jerusalem, und der Dichter und Publizist Otakar Theer dort angestellt. Dieses einigermaßen skurrile Umfeld, dessen schlussendlich eher negativen Eindruck die unerfreulichen finanziellen Bedingungen und der permanente Druck von Seiten der tschechischen und deutschen kulturellen und universitären Öffentlichkeit noch verstärkten (es wurde eine Teilung der Bibliothek angestrebt), gab ihm jedoch immerhin die Möglichkeit, sich auf die fachliche Arbeit zu konzentrieren, und erleichterte ihm den Zugang zur Quellen- und Fachliteratur. Hier schloss er auch neue Freundschaften, vor allem mit Otakar Theer (1880–1917) – ihre gemeinsamen Gefühle hielt Fischer Jahre später in der Deutung eines von Theers Gedichten mit dem Titel Dům-Polyp [Haus-Polyp] (Fischer 1927/28; Novák 1938) fest –, aber auch mit dem vielseitig ausgerichteten Literaturhistoriker und Romanisten, Theaterkritiker und Folkloristen Václav Tille (1867–1937), dem er die Konsultation seiner frühen übersetzerischen Versuche verdankte (Fischer 1938b: 43; Jareš 1966: 323). Gute Beziehungen unterhielt er auch zu Spiridion Wukadinović (1870–1938) und Felix Weltsch (1884–1964).60 Allen verfügbaren Informationen zufolge scheint er dagegen zu Richard Kukula (1857–1927), dem Direktor, dessen Sekretär er war (weil Kukula kein Tschechisch konnte, erledigte er für ihn u. a. die Korrespondenz mit tschechischen Briefpartnern), ein eher reserviertes Verhältnis gehabt zu haben, das in den letzten Jahren von Kukulas Tätigkeit, während des Krieges, aufgrund von dessen relativ bizarren Arbeitsgewohnheiten und Verhaltensweisen in latente Ablehnung mündete.61 Das Klementinum verließ Fischer, „nejpilnější úředník knihovny a 60  Über den Philosophen und Publizisten Weltsch, einen aktiven Angehörigen der zionistischen Bewegung schrieb Schmidt (2010), allerdings ohne jede Erwähnung des tschechischsprachigen Umfelds. Auch der Name Fischers wird in seinem Buch nicht genannt. 61  In Fischers Nachlass haben sich einige Blätter von Tagebuch-Beobachtungen aus der Zeit seiner Tätigkeit als Angestellter im Ausleihprotokoll erhalten, in denen er das kritische Beginnen A. Krauses und A. Beers mokant kommentiert, die Anwesenheit der Professoren glossiert: „v prvním sále celá č. lit. Prach učenosti, mystika národa“ [Im ersten Saal die ganze tsch. Lit. Staub der Gelehrsamkeit, Mystik der Nation], und Kukulas Verhalten als „pštrosí politiku“ [Vogel-Strauß-Politik] bzw. „postupující blbnutí“ [voranschreitende Verblödung] darstellt. (LA PNP, Nachlass O. Fischer, eigene Handschriften, Tagebuchaufzeichnungen 1914–1919). In seinen Erinnerungen spricht sich Kukula (1925: 175f.) über Fischer mit einer gewissen, allerdings recht wohlwollend-überheblichen Anerkennung aus: „Jedenfalls steht Fischer noch am Beginne seiner Entwicklung, und es hat sein Volk noch manche wissenschaftliche Gabe und manche erfolgreiche Dichtung aus seiner Feder zu erwarten.“ Auf der anderen Seite gesteht Jaromír Borecký (1928: 168) Kukula dann doch trotz der „četných protikladech zvláštní jeho povahy“ [zahlreichen Widersprüche seines seltsamen Charakters] gewisse Verdienste um den Schutz vor Kriegsanleihen „sebe i úřadu, na

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dlouhodobý tajemník Kukuly“ [der fleißigste Angestellte der Bibliothek und langjährige Sekretär Kukulas] (Borecký 1928: 170) im Jahre 1919. Er wechselte direkt an die Philologische Fakultät ans Germanische Seminar, wo er sich bereits 1909 als Privatdozent habilitiert hatte und acht Jahre später außerordentlicher Professor geworden war. Die vielfach verwickelt motivierte, zeitlich und proportional ungleiche sprachliche Positionierung „im Grenzgebiet“ ist aus Fischers Leben und Werk nicht wegzudenken. Dabei handelte es sich um eine wandlungsfähige und dynamische Beziehung, die spätestens ab Anfang der 20er-Jahre und der Sammlung Hlasy [Stimmen] (1923) immer stärker auch von dem zunächst uneindeutig begriffenen jüdischen Aspekt aufgewühlt wurde („Prvek a příjmí židovství neznamená veličinu konstantní a samu v sobě jasnou; při vší kvantitativní omezenosti výběru není hned tak příkrých rozdílů jakostních a mravních jako v tomto oboru“ [Das Element und der Beiname des Jüdischen ist keine konstante und in sich klare Größe; bei aller quantitativen Begrenztheit der Auswahl gibt es nicht gleich so schroffe qualitative und moralische Unterschiede wie in diesem Fach]; Fischer 1923b: 9).62 Wie Arne Novák in einer Rezension von Fischers Heine-Monographie und der im Pasionál [Passional] versammelten Übersetzungen bemerkt, zápasilo-li v  něm již předtím vzpurné prométhejství s  olympickou rovnováhou, divoký dynamismus kleistovský s  harmonickou moudrostí Goethovou, nazarénská záliba pro rozklad, revoluci, vzpouru s  hellenismem a klasičností, zaujal nyní stanovisko docela zřetelné na straně temně kvasících živlů, přetvářejících svět i za cenu dočasné anarchie a rozbití jeho stávajících forem. [rang in ihm bereits zuvor das Aufrührerisch-Prometheische mit olympischem Gleichgewicht, der wilde Dynamismus Kleists mit der harmonischen Weisheit Goethes, die nazarenische Vorliebe für das Zersetzende, die Revolution und den Widerstand mit Hellenismus und Klassizität miteinander, so bezog er nun recht deutlich seinen Standpunkt auf der dunklen Seite der gärenden Elemente, die dabei waren, die Welt auch um den Preis zeitweiser Anarchie und der Zerschlagung ihrer bestehenden Formen umzuformen.] (Novák 1925/26: 456)

Auch wenn man Nováks Worte als Ausdruck der Verwunderung eines Freundes sehen muss, der dabei ist, sich in seinem weltanschaulichen und politischen Standpunkt von einem einstigen Weggefährten zu entfernen, aber upisování ve svém personálu – buď pravdě dán průchod – nenaléhal a od vojenské služby vyreklamoval, koho mohl.“ [seiner selbst und seines Amtes, er bestand nicht – der Wahrheit sei freie Bahn gegeben – auf der freiwilligen Verpflichtung seines Personals und reklamierte vom Militärdienst, wen er konnte.] 62  Vgl. hier den Beitrag von Kateřina Čapková.

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auch als eine Art von Urteil, das am Ende zu einer gewissen Entfremdung der beiden Freunde führte, treffen sie Fischers zunehmend dynamische ästhetische und politische – jedoch nicht kulturelle – Präferenzen genau. Wir können uns aber auch die bekennerischen Verse des gereiften Dichters und Wissenschaftlers aus dem Gedicht Řeč [Sprache/Rede] aus der Sammlung Peřeje [Stromschnellen] ins Gedächtnis rufen, wo er konstatiert: můj život je zasvěcen tajemství slova […] mladinká řeko, jak vidím tě plout, spojením vzniklá dvou ramen, dvou toků [Mein Leben ist dem Geheimnis des Wortes geweiht […] junger Fluss, wie sehe ich dich fließen entstanden aus der Verbindung zweier Arme, zweier Läufe] (Fischer 1931b: 64)

So wird deutlich, dass der Autor auch weiterhin in der kulturellen Vermittlung die Versöhnung des tschechisch-deutschen (scheinbaren) Widerspruchs suchte und auch fand, und zwar sowohl im Übersetzen,63 als auch im Feld der Wissenschaft,64 der Publizistik und zuletzt auch der Dramaturgie. Man könnte sogar sagen, dass ab der zweiten Hälfte der 20er-Jahre hinter seinem sich intensivierenden Interesse an der literaturhistorischen Problematik des tschechisch-deutschen Kulturaustauschs im 19. Jahrhundert die wiederholte Bemühung um eine kritische Neubewertung der traditionellen, nationalistischen Interpretation der Grundlagen der neuzeitlichen tschechischen Kultur und Literatur stand. Nach Ricoeur ist es nämlich „sehr wichtig, die Geschichte im Sinne der Geschichtsschreibung – die nur den vergangenen Abschnitt der Zeit kennt – wieder mit der Geschichte in einen Zusammenhang zu bringen, die man erlebt, die sich vollzieht und die eine Zukunft hat“

63  Diese „Grenzbetätigung“ sollte jedoch, wie Fischer bemerkte, nicht bedeuten „wie man in deutsch sagt, ‚bissel böhmisch, bissel deutsch‘, sondern gerade umgekehrt, durchaus in einem einzigen Sprachbewußtsein, nämlich im tschechischen, eingewurzelt zu sein und aus diesem die Bildung und Kunst des anderen Volkes zu rezipieren.“ (Karlach 1995: 126) Fischers übersetzerische Bemühungen richteten sich deshalb ausschließlich – im Unterschied zu dem in dieser Zeit und auch weiterhin beiderseitig aktiven Pavel Eisner – auf Übersetzungen ins Tschechische. Zu Fischers Bilingualität im Zusammenhang mit dem Übersetzen s. Čermák (1984: 3f.), mit der Bewertung seiner ersten Übersetzungen ins Tschechische (erotische Lyrik J. W. Goethes, das Gedicht An den Mond und Brief an Frau von Stein in Novina 1909). 64  Siehe die programmatische Studie Deutsche Slavistik und tschechische Germanistik (Fischer 1929a, resp. 1929b), mit der er auf ein entgegenkommendes Manifest der deutschen Slawisten H. F. Schmidt und R. Trautmann (1927) reagierte.

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(Ricœur 2009: 171)65. Indem Fischer die tschechische Literatur mit den zeitgenössischen Methoden der formalen Literaturwissenschaft in den weiteren Kontext der europäischen Kultur einordnete (ohne dabei die „Methode” der künstlerischen Einfühlung und des Erlebens aufzugeben), unternahm er sicherlich eine Art von Rehabilitierung dieser Bemühungen, stellte sich aber auch die von diesem Zeitpunkt an wiederholt aktualisierte Frage nach seiner eigenen Rolle im wissenschaftlichen und pädagogischen Leben und der Welt der Kunst. Durch sein persönliches Engagement bestätigte er quasi vorab eine weitere Aussage Ricoeurs, seine prospektive Überlegung zum Gedächtnis, das „immer das Gedächtnis von jemandem [ist], der Pläne hat“ (Ricœur 2009: 171)66. Dabei wollte er sich aber auch weiterhin das Privileg der „Vogelperspektive“, des „Grenzgebiets“ bewahren. Albert Pražák zufolge připodobnil […] sice českému prostředí, kolínský rodák cítil se Čechem, ale někdy ne cele. Nechtěl býti jenom synem ‚středohor‘, toužil po větší a širší vlasti, jakou měli právě židé v celém světě. […] Umělecké sensace země jako by mu byly bližší než její znaky kmenové, duchové a dějinné. [glich er sich […] zwar dem tschechischen Umfeld an, aus Kolín stammend fühlte er sich als Tscheche, aber nicht immer ganz. Er wollte nicht nur ein Sohn des ‚Mittelgebirges’ sein, er sehnte sich nach einem größeren und weiteren Heimatland, wie es gerade die Juden in der ganzen Welt hatten. […] Die künstlerischen Sensationen der Erde waren ihm gewissermaßen näher als ihre Stammeszeichen, die geistigen und die historischen.] (Pražák 1948: 6)

Entsprechend charakterisierte auch er selbst seine „übernationale“ Position im Gedicht Starozákoníkům [Den Alttestamentarischen]: Ctím každý národ. Ale tím, co tak slove Bůh zavrh strom, jenž z pýchy tlí. Národa není, jsou národové, do sebe vrostlí, v sebe zahryzlí. Též z nenávisti kus družnosti zbývá. I vojna je útvar soužití. I vraždou se míza do mízy vlívá, že nelze těch kmenů již roztíti. Jen jedním jazykem zpívá vždy Musa, však tiše ji provází čtyřhlasý sbor;

65  „Il est très important de replacer l’histoire au sens de l’historiographie – laquelle ne connaît que la tranche passée du temps – dans l’histoire que l’on vit, qui se fait, et qui a du futur.“ (Ricoeur 1995: 189). 66  „Car la mémoire est toujours la mémoire de quelqu’un qui a des projets.“ (Ricoeur 1995: 189).

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Václav Petrbok a národa vrchol hraje v slunci jak druza, z ní probleskují žilky zámořských hor [Ich ehre jedes Volk. Aber mit dem, was sich so nennt, verwarf Gott einen Baum, der vor Stolz vermodert. Es gibt kein Volk, es sind Völker, ineinander verwachsen, ineinander verbissen. Auch im Hass bleibt ein Stück Geselligkeit übrig. Auch der Krieg ist eine Formation des Zusammenlebens. Auch durch Mord ergießt sich Saft in Saft, sodass man diese Stämme nicht mehr auseinanderhauen kann. In einer einzigen Sprache nur singt stets die Muse, leise jedoch begleitet sie ein vierstimmiger Chor; und der Gipfel des Volkes funkelt in der Sonne wie eine Druse aus der die Äderchen von Bergen jenseits des Meeres hervorblitzen.] (Fischer 1934: 29)

Die persönliche Note, die die Eindringlichkeit der wissenschaftlichen Mitteilung verstärkt, die sicherlich auch von der Verschärfung der politischen Situation in Mitteleuropa und der Tschechoslowakei weiter angeregt wurde, war dennoch schon mit Fischers ursprünglichem Wirken verbunden, dessen familiäre und persönliche Voraussetzungen ich im ersten Teil dieses Beitrags zu skizzieren versucht habe. Wie sein begabtester Schüler Vojtěch Jirát äußerst genau konstatierte, [Fischerovo] vědomí komplexnosti, podporované romantickým odporem k přesným hranicím a posilované ještě vědomím, že on sám, vědec a spolu básník, stojí na pomezí vědy a umění, že on sám, filolog a spolu psycholog, stojí na pomezí dvou věd, že je tedy cosi nezařaditelného a cosi na přechodu, vzbudilo ve Fischerovi hlubokou nedůvěru k přesným hranicím mezi lidskými typy, literárními směry a estetickými kategoriemi. [weckte [Fischers] Bewusstsein für Komplexität, getragen von einem romantischen Abscheu gegenüber präzisen Grenzen und noch verstärkt durch das Wissen, dass er selbst als Wissenschaftler und Dichter zugleich im Grenzgebiet von Wissenschaft und Kunst stand, dass er sich als Philologe und Psychologe zwischen zwei Wissenschaften bewegte, dass es also etwas Nicht-Einordenbares und Im-Übergang-Begriffenes gibt, in ihm ein tiefes Misstrauen gegenüber genau definierten Grenzen zwischen Menschentypen, Literaturrichtungen und ästhetischen Kategorien.]67 (Jirát 1933: 13) 67  Zu Fischers doppelter Beheimatung als Wissenschaftler und Dichter mit einem Verweis auf das Genre des Essays vgl. Goldstücker (1965) und auch Preisner (2003: 213-224); auf (selbst-)reflexive Weise beschäftigte sich der Autor mit diesem Problem u. a. in der Studie Über den Anteil des künstlerischen Instinkts an literarhistorischer Forschung (vorgetragen am 07.10.1913 in Berlin auf dem 1. Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft; s. Fischer 1914, tschechisch Fischer 1913/14). Die Studie kürzte Fischer später unter dem Titel Na rozhraní [Im Grenzgebiet] für die Sammlung Duše a slovo [Seele und Wort] (1929).

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Das Gruppenfoto aus dem Besuch Heinrich Manns in Prag (Prager Presse 21.10.1934). Von links nach rechts sitzend: Leonie Mann, Heinrich Mann, A. M. Tilschová, Marie Majerová. Von links stehend: ein Unbekannter, Max Brod, Rudolf Fuchs, Karel Čapek, eine Unbekannte, ein Unbekannter, Otto Pick, ein Unbekannter (Vincy Schwarz?), Hanuš Jelínek, Arnošt Kraus, Otokar Fischer, Ludwig Winder, Jan Grmela, ein Unbekannter, Alfred Fuchs, ein Unbekannter (Paul Eisner?).

Die von Pražák erwähnte „Sehnsucht nach einem größeren und weiteren Heimatland” benennt Fischer selbst in dem Gedicht Po dokončení překladu Goethova Fausta [Nach Vollendung der tschechischen Faust-Übersetzung], einer dichterischen Anspielung auf ein berühmtes Gedicht Jaroslav Vrchlickýs, mit dem er oft verglichen wurde:68 jsem s prací hotov, která není moje jsem hotov s prací, jež je víc než má, v ní tajemství je ztělesněno dvoje, a sama k čemus třetímu se zná jak světla pruh, jenž, nad národy stoje, co protilehlé, kruhem objímá. [...] [Bin fertig mit dem Werk, nicht mir entsprungen, bin fertig mit dem Werk, das mehr als mein; 68  Eine lehrreiche komparative Analyse dieser vielfach effekthascherischen und nichtssagenden journalistischen Phrase unternahm am Beispiel des Faust Karel Polák, ein weiterer Schüler Fischers (1929/30).

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Václav Petrbok drin wert Geheimnis zwiegestalt umschlungen, und selbst bekennt es sich zu Drittem Sein, wie Licht, das steht ob Völkerniederungen, was gegenwendig strebt, im Kreis fängt ein. [...]] (Fischer 1931b: 66-67)69

Entsprechend erwähnt Fischer in der Broschüre Šaldovo češství [Šaldas Tschechentum] beifällig Šaldas polemischen Ausspruch an die Adresse Viktor Dyks, eines Autors, der ihm selbst persönlich und literarisch einst sehr nahegestanden hatte: „Byl jsem a jsem sám nacionalista v  tom smyslu, že národ jest mi veliká hodnota nadosobní, která vede k hodnotám ještě vyšším: k  lidství a naposledy k  Bohu.“ [Ich war und bin selbst Nationalist in dem Sinne, dass für mich das Volk ein großer überpersönlicher Wert ist, der zu noch höheren Werten hinführt: zur Menschlichkeit und zuletzt zu Gott.]70 Fischer (1937a: 34) Und endlich findet in Fischers Gedicht Má vlast [Mein Heimatland] aus dem dämmrigen Herbst des „Jahres der Toten“ [roku mrtvých] 1937 das ungestüme, vielleicht auch großtuerisch Dionysische – verbunden mit dem Vater – und das besonnene, sicher maßvolle Apollinische der Mutter bei ihm zu Einheit und Versöhnung in einer Vision der Landschaft, die geistigideal und auch konkret materiell gezeichnet ist: Já nad hradem zřím tě [vlasti, pozn. VP] v tvé tragice plát, jsi svítivý úběl, jenž na Špičák pad, a Kolín a Radim, zde sad a tam dům ten ostrov a ty stromy, to ticho a šum to všechno je pravda, však spolu ti duch svůj kouzelný opsal, ty pohádko, kruh.

69  Erstabdruck in Lidové noviny vom 23.09.1928; Zit. nach Eisner (1928). 70  Erwähnenswert ist auch die Übersetzung der Poesie Rudyard Kiplings (1949: 65; gemeinsam mit René Wellek), „básníka velmi naléhavého a časového: pro vážnost, s níž zdůrazňuje úkoly osobní i národní; pro neohroženost, s níž dívá se do tváře nebezpečí; pro melodii a rytmus, jimiž mu zvučí svět exotický i všední“ [eines sehr eindringlichen und zeitgemäßen Dichters: wegen der Ernsthaftigkeit, mit der er die persönlichen und nationalen Aufgaben betont; wegen der Unerschrockenheit, mit der er der Gefahr ins Auge sieht; wegen der Melodie und des Rhythmus, in denen ihm die exotische und die alltägliche Welt erklingt], und besonders des berühmten Gedichts If … (in Fischers Übersetzung Když… [Wenn…]); dazu Weil (1948: 98). Ein Echo von Fischers Übersetzung registriert Halamová (2010: 43f.) in dem Gedichtzyklus Když [Wenn] (1938) von Fischers spätem Freund Viktor Fischl wirklich in den nachdenklichen Intentionen des Übersetzers als einer „transponování subjektu do nadosobních souvislostí“ [Transponierung des Subjekts in überpersönliche Zusammenhänge.]

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[Über der Burg sehe ich Dich, [Heimat, Anm. VP] lodern in deiner Tragik leuchtender Alabaster bist du, der auf den Špičák herabgefallen ist, und Kolin und Radim, hier ein Obstgarten und dort ein Haus die Insel und die Bäume, die Ruhe und das Rauschen das alles ist die Wahrheit, jedoch gemeinsam beschrieb dir der Geist, du Märchen, seinen Zauberkreis.] (Fischer 1938: 27)

Wohin und worauf hätten all diese Affinitäten doch am Ende hinauslaufen sollen? (Übersetzt von Kathrin Janka)

Archivbestände LA PNP Praha, Nachlass Josef Brambora, eigene Manuskripte, Otokar Fischer a Viktor Dyk [Otokar Fischer und Viktor Dyk]. LA PNP Praha, Nachlass Josef Brambora, eigene Manuskripte, Proslov při otevření výstavy Otokara Fischera v Kolíně 31. května 1953 [Eröffnungsrede zur OtokarFischer-Ausstellung in Kolin, 31. Mai 1953]. LA PNP Praha, Nachlass Otokar Fischer, erhaltene Korrespondenz, Hermína Fischerová an O. Fischer; Arnošt Kraus an O. Fischer; Josef Podvinec an O. Fischer; Milan Svoboda an O. Fischer. LA PNP Praha, Nachlass Otokar Fischer, gesendete Korrespondenz, O. Fischer an Hermína Fischerová. LA PNP Praha, Nachlass Otokar Fischer, eigene Manuskripte, deutschsprachige Literaturversuche. LA PNP Praha, Nachlass Otokar Fischer, eigene Manuskripte, Tagebücher 1914– 1919. LA PNP Praha, Nachlass Otokar Fischer, eigene Manuskripte, Prolog. LA PNP Praha, Nachlass Otokar Fischer, eigene Manuskripte, Otokar Fischer při sjezdu maturantů v r. 1931 [O. Fischers Rede zum Abituriententag 1931]. RMK Kolín, LUSK, Otokar Fischer, aus dem Artikel Prvotiny, Dvaadvacetiletý Otokar Fischer [Erstlinge. Zweiundzwanzigjähriger O. F.]. RMK Kolín, LUSK, Zápisky Pavla Fischera [Pavel Fischers Aufzeichnungen].

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Literatur Anonym (1898): Úmrtí. – In: Českožidovské listy [Tschechojüdische Blätter] 4, Nr. 4 (15.02.), 5. Anonym (1929): Úmrtí. – In: Národní listy [Nationalblätter] 69, Nr. 51 (20.02.), Abendausgabe, 2. Anonym (1938): O Otokaru Fischerovi [Über Otokar Fischer]. – In: Rozvoj [Aufstieg] 45, Nr. 13 (01.04.), 5. Anonym (1939): Pohřeb Aloise Pokorného [Begräbnis von Alois Pokorný]. – In: Národní listy 79, Nr. 135 (17.05.), 3. Borecký, Jaromír (1928): Veřejná a universitní knihovna v Praze za prvních desíti let ČSR [Öffentliche und universitäre Bibliothek in Prag während der ersten Dekade der Tschechoslowakei]. – In: Časopis československých knihovníků [Zeitschrift der tschechoslowakischen Bibliothekare] 7, 162-187. Brambora, Josef (1948): Češství Otokara Fischera [Otokar Fischers Tschechentum]. – In: Památce Otokara Fischera [Dem Andenken Otokar Fischers]. Praha: Práce, 73-78. Cohen, Gary B. (2000): Němci v Praze 1861–1914 [engl. Orig.: The Politics of Ethnic Survival: Germans in Prague 1861–1914]. Übs. Jana Mandlerová. Praha: Karolinum. Čapková, Kateřina (2010): Raum und Zeit als Faktoren der nationalen Identifikation der Prager Juden. – In: Peter Becher/Anna Knechtel (Hg.), Praha – Prag 1900– 1945. Literaturstadt zweier Sprachen, vieler Mittler. Passau: Stutz, 21-30. Čáslav 1880–1975–2010 (2010): To je let… 1880–1975–2010. 130 let gymnázia a 35 let Střední odborné školy pedagogické Čáslav [So viele Jahre… 1880–1975–2010. 130 Jahre des Gymnasiums und 35 Jahre der Pädagogischen Fachmittelschule in Čáslav]. Čáslav – Praha: Gymnázium a Střední odborná škola pedagogická – Helma Beta. Čermák, Josef (1984): Otokar Fischer. – In: Etapy českého uměleckého překladu. Referáty přednesené na semináři konaném u příležitosti 100. výročí narození Otokara Fischera [Etappen der tschechischen Literaturübersetzung. Referate des Seminars zum 100. Geburtstag von O. F.]. Praha: Sdružení českých překladatelů při Českém literárním fondu, 1-21. Eisner, Pavel (1928): Otokar Fischer, Nach Vollendung der tschechischen FaustÜbersetzung, – In: Prager Presse 7, Nr. 341 (08.12.), Beilage Dichtung und Welt, Nr. 50, I. Eisner, Pavel (1938): Otokar Fischer gestorben. – In: Prager Presse 18, Nr. 71 (13.03.), 10. Eisner, Pavel (1938/39): Host Otokar Fischer [Der Gast O. F.]. – In: Kalendář českožidovský [Tschecho-jüdischer Kalender] 58, 70-72. Erikson, Erik H. (2005 [1950]): Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Michal Topor

Otokar Fischer in Berlin (1903/1904)1 Die Beziehungen und Angelegenheiten des typischen Großstädters pflegen so mannigfaltige und komplizierte zu sein, vor allem: durch die Anhäufung so vieler ­ Menschen mit so differenzierten Interessen greifen ihre Beziehungen und Betätigungen zu einem so vielgliedrigen Organismus ineinander, dass ohne die genaueste Pünktlichkeit in Versprechungen und Leistungen das Ganze zu einem unentwirrbaren Chaos zusammenbrechen würde. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben (1995: 119f.) „Mit Mantel u. Havelock angetan, Stock u. Schirm in der Hand, wanderte ich in Roethes Kolleg, wurde von den böhm. Kollegen warm bewillkommt.“2

Am 18. August 1903 fragt Fischers Onkel und Vormund Josef Podvinec Otokar nach seinen und seiner Schwester Plänen: „Jak jste se rozhodli ohledně dalších studií? […] Víš, jak mne vše zajímá, co se vás týče, a proto přál bych si zevrubnou zprávu. Na mne v každém ohledu počítejte, chci vám vždy radou i ­skutkem na  ruku jít.“ [Wie habt ihr euch bezüglich eurer weiteren Studien ­entschieden? […] Du weißt, wie sehr mich alles euch Betreffende interessiert, deshalb hätte ich gern einen ausführlichen ­Bericht. Auf mich könnt ihr in jeder Hinsicht zählen, ich will euch immer mit Rat und Tat zur Seite stehen.]3 Es ist unklar, wann genau die Geschwister Fischer beschlossen, (ausgerechnet) nach Berlin zu gehen. Am 15. September 1  Dieser Text entstand mit Unterstützung der Förderagentur der Tschechischen Republik (Grantová agentura ČR) im Rahmen des Postdoktorandenprojekts Nr. GPP406/12/ P309 Berlínské epizody. Čeští filologové v  Berlíně (1882–1914) [Berliner Episoden. Tschechische Philologen in Berlin (1882–1914)]. Eine Variante dieses Textes ist als Passage in dem Buch Berlínské epizody [Berliner Episoden] (Topor 2015: 178-201) enthalten. 2  O. Fischer an Hermine Fischerová, 04.05.1904, NA, Nachlass Josef Fischer. Es sind ca. hundert Briefe erhalten geblieben, die Hermine Fischerová an ihren Sohn in Berlin adressierte (LA PNP, Nachlass O. Fischer). Otokars Briefe aus der Berliner Zeit ­konnten im Nachlass seines Bruders Josef Fischer ausfindig gemacht werden, der unlängst als Schenkung an das Prager Nationalarchiv übergeben wurde. Ich danke Zora Machková für die Bereitstellung des Materials aus diesem bislang ungeordneten Fonds. Die beiden Konvolute bilden zusammen eine einzigartige Dokumentation, die zahlreiche Ereignisse und Zusammenhänge des Fischer’schen Familienlebens wie auch des öffentlichen Lebens in Böhmen und Berlin beleuchtet. Eine Gesamtausgabe der genannten Materialien wird vom Autor dieses Artikels vorbereitet. 3  Josef Podvinec an O. Fischer, 11.08.1903, LA PNP, Nachlass O. Fischer.

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Michal Topor

1903 jedenfalls wünscht J. V. Černý Otokar aus Genf „von Herzen einen sehr angenehmen Aufenthalt in Berlin“, und am 1. Oktober 1903 freut sich František Drtina „auf Ihre Nachrichten aus Berlin“.4 Mag sein, dass sich Fischer zum Teil auch deshalb für Berlin entschied, weil es dort eine Reihe familiärer Bande gab. So erwähnt er in einem seiner Briefe die Familie Conrad und „Tantchen Mathilde“ (die Schwester seiner Mutter, geb. Krásová).5 Mehrmals ist in Briefen aus Berlin auch von seiner Cousine Helena/Helene Turnau (geb. 1879 in Wien) die Rede: Sie hatte ­Otokar eine Wohnung besorgt und pflegte die Geschwister oft zu ­begleiten. So schreibt Fischer zum Beispiel im Oktober 1903 an die Mutter: „[M]nohem častěji se vídáme s Helene, včera jsme byli společně na výborném uvedení Nory v  Deutsches Theater, potom v  Café Victoria.“ [(V)iel öfter treffen wir uns mit Helene, gestern waren wir zusammen in einer hervorragenden ,Nora‘-Aufführung im Deutschen Theater, danach im Café Victoria].6 In Berlin lebte zudem auch Otto Podvinec, ein Cousin der Geschwister Fischer, mit dem sich Otokar oft traf.7 Die Fischers betraten also keinen fremden Boden. Und sie hatten auch nicht mit Sprachbarrieren zu kämpfen – im Gegenteil: Schon in Böhmen waren sie gewohnt gewesen, sich zwischen beiden Landes- und Familiensprachen bzw. zwischen beiden Milieus – dem deutschen und dem tschechischen – zu bewegen.8 Am 16. Oktober 1903 immatrikulierte sich Fischer an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin.9 Anna bewohnte eine Wohnung in der Bayreuther Straße 37 in Berlin-Schöneberg,10 Otokar unweit davon in der Wormser Straße. 4  LA PNP, Nachlass O. Fischer. 5  O. Fischer an Josef Fischer, 25.05.1904, LA PNP, Nachlass O. Fischer; vgl. die Todesanzeige für Mathildes und Hermines Mutter Anna Krásová, geb. Turnau (Národní listy, 08.10.1873). 6  O. Fischer an Hermine Fischerová, 23.10.1903, NA, Nachlass Josef Fischer. 7  Es sind einige an Fischer adressierte Nachrichten aus der Berliner Zeit erhalten geblieben: eine Einladung zu einem Besuch, zum Mittagessen u.Ä. (LA PNP, Nachlass O. Fischer). Eine Nachricht vom 07.05.1904 ist auf einem Blatt Papier mit dem Kopf „Genossenschaft Elektrowacht, Eing. Genoss. m. beschr. Haftpfl.“ verfasst – mit zwei Firmenadressen: einer Wiener und einer Berliner. 8  Mehr dazu in dem hier veröffentlichten Beitrag Václav Petrboks. 9  Acta der Königl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Abgangs-Zeugnisse vom 16.08. bis 23.08.1904, Universitäts-Registratur. Littr. A No. 6 Vol. 1442, Ordner Nr. 9. 10  Vgl.: „Ich wohne in einem Hause, wo uns Helene gestern gleich zu Beginn hinführte – Berlin W.62 (eigentlich schon Charlottenburg) Wormserstr. 10 (Gartenhaus Hochparterre) bei Frau Helle, recht weit von der Univers., aber 200 Schritte von Annies Logis: W.62

Otokar Fischer in Berlin (1903/1904)

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Die Gegend meiner Wohnung wirst du schwerlich kennen, es ist aber in nächster Nähe von sehr belebten Strassen – z. B. der Kurfürsten- und Kleiststrasse, an der Grenze zwischen Charlottenburg und Berlin, etwa 10 Minuten vom Zoologischen Garten und Tiergarten (wo ich gestern nebst anderem die geschmacklose Siegessäule, die prosaische ­Siegesallee und das neue problematische Wagnerdenkmal anstaunte); nicht weit vom Kurfürstendamm, wo wir heut abends Conrads aufsuchen wollen; endlich ziemlich nahe von der Wohnung unseres Heroen Professor Dr. Erich Schmidt,

schreibt Fischer einige Tage nach seiner Ankunft an die Mutter.11 Anna, die in Prag wie Otokar vor allem germanistische Lehrveranstaltungen ­besucht hatte,12 konnte sich an der Berliner Universität im Gegensatz zu ihrem Bruder nicht offiziell in Vorlesungen und Übungen einschreiben. So soll z. B. der Germanistikprofessor Gustav Roethe imstande gewesen sein, „v  době, kdy  ženské studium v  Prusku bylo závislé na  individuálním rozhodování jednotlivých profesorů, vykázat prostřed čtení dámu, krčící se za  sloupem auditoria maxima“ [in einer Zeit, in der das Frauenstudium in Preußen von der individuellen Entscheidung der einzelnen Professoren abhing, mitten in der Vorlesung eine hinter einer Säule des Auditorium Maximum kauernde Dame des Saales zu verweisen] (Fischer 1926: 83). Die sechs dicht formulierten Briefe, die Anna aus Berlin an Miloš Marten schrieb, sind sparsam in Bezug auf Alltagsspuren. Nur in Ausnahmefällen tritt Berlin als konkreter Raum in Erscheinung und selbst dann höchstens in verwandelter, ornamentaler Form wie z. B. in folgender Passage: „Někdy z večera se mi Berlín líbí, když se naň dívám z oken Bibliotéky, jak se po širé rozloze strou lehké stříbrné mlhy.“ [Manchmal am Abend gefällt mir Berlin, wenn ich aus den Fenstern der Bibliothek schaue, wie sich über die weite Fläche leichte silberne Nebel breiten.]13 In den ersten Tagen ihres Berlin-Aufenthalts besuchte Anna jedoch, wie es damals üblich war, gemeinsam mit dem Bruder Universitätsdozenten:

Bayreutherstr. 37“ (O. Fischer an Hermine Fischerová, 10.10.1903, NA, Nachlass Josef Fischer). 11  O. Fischer an Hermine Fischerová, 13.10.1903, NA, Nachlass Josef Fischer. 12  Wie Otokar hatte sich auch Anna neben ihrem regulären Studium an der Prager t­schechischen Universität als Gasthörerin in Lehrveranstaltungen der Prager deutschen philosophischen Fakultät eingeschrieben. So absolvierte sie z.  B. im Sommersemester 1902 (gemeinsam mit ihrem Bruder) zwei Seminare bei August Sauer, im Wintersemester 1902/1903 besuchte sie Sauers Vorlesungen zur Geschichte der ­deutschen Literatur sowie „Friedrich Hebbels Leben u. Werke“ (A UK, NU [=Archiv der Karlsuniversität, Deutsche Universität], Katalog der ausserordentlichen Hörer und Hörerinnen an der philosophischen Facultät – betreffende Semester). 13  Anna Fischerová an Miloš Marten, 05.11.1903, LA PNP, F. Miloš Marten.

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Michal Topor Ein anderer Besuch, den ich mit Anni zugleich absolvierte, galt dem Prof. Roediger, der den Typus eines Gymnasiallehrers vertritt – shoking [sic!]! Er sagte nicht A, und nicht B zu meiner Empfehlung und sein grammatisches Genie scheint in überweltlichen Regionen zu schweben, aufrichtig gesagt, ich atmete auf, nachdem sich d. Tür hinter mir schloss, nun brauche ich doch nicht sein fades Kolleg zu belegen!14

Auch aus einigen anderen im Briefwechsel zwischen Berlin und Prag verstreuten Erwähnungen geht hervor, dass Anna dennoch mehrere Vorlesungen besuchte und an einigen Seminarübungen teilnahm. Am 15. Februar 1904 schreibt sie an ihren Bruder Josef: Odevzdala jsem seminární práci, u  prof. Herrmanna jsem odříkala svůj referát,  – teď pilně překládám, – a hledám – byt. Dala jsem výpověď. Semestrální prázdniny zde vůbec neexistují. Mám na moc věcí velkou zlost. [Ich habe meine Seminararbeit abgegeben und bei Prof. Herrmann mein Referat ­hergesagt, – jetzt übersetze ich fleißig, – und suche – eine Wohnung. Ich habe gekündigt. Semesterferien existieren hier überhaupt nicht. Auf viele Sachen habe ich große Wut.]15

Im März 1904 teilt Fischer der Mutter mit: „Meine Arbeit ist sehr gut ­ausgefallen, auch Annie wurde von Erich Schmidt öffentlich sehr gelobt“.16 Von großem Wert ist diesbezüglich ein Brief Annas an den Bruder Josef von Mitte November 1903. In diesem kann man u. a. lesen: V přednáškách jsem se seznámila s několika studentkami, – většinou Ruskami, – jedna je z Odessy, zná prof. Karbulku i jeho paní (dle jména a od vidění), studuje práva, je moc hezká, elegantní, – chytrá a bohatá, mluví špatně německy, je židovka, – někdy mluví rusky, já česky a jde to. […] při přednášce prof. Simmela (filozofie) pořád zpívají a hučí elektrické lampy – nebo zhasínají, takže celá přednáška je tím rušena. [In den Vorlesungen habe ich einige Studentinnen kennengelernt, – größtenteils Russinnen. Eine ist aus Odessa, sie kennt Prof. Karbulka und seine Frau (vom Namen und vom Sehen her), sie studiert Jura, ist sehr schön, elegant, – klug und reich, sie spricht schlecht Deutsch, ist Jüdin, – manchmal spricht sie russisch, ich tschechisch und es funktioniert. […] bei der Vorlesung Prof. Simmels (Philosophie) summen und brummen ständig die elektrischen Lampen – oder sie gehen aus, wodurch die gesamte Vorlesung gestört wird].17

Bevor Fischer in Berlin neue Kontakte knüpfte, war seine dortige Existenz zunächst durch die Bindungen und die Perspektive geprägt, die er aus Böhmen mitbrachte. Anna und Otokar ließen sich aus Prag Bücher schicken, die 14  O. Fischer an Hermine Fischerová, 25.10.1903, NA, Nachlass Josef Fischer. 15  Anna Fischerová an Josef Fischer, 15.02.1904, NA, Nachlass Josef Fischer. 16  O. Fischer an Hermine Fischerová, 05.03.1904, NA, Nachlass Josef Fischer. 17  Anna Fischerová an Josef Fischer, 17.11.1903, NA, Nachlass Josef Fischer. Josef ­Karbulka (1866–1920), Musikpädagoge, u. a. Lehrer Pjotr Stoljarskis, eines Mitbegründers der berühmten Odessaer Violinenschule.

Otokar Fischer in Berlin (1903/1904)

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Mutter sandte ihnen Zeitungsausschnitte, insbesondere aus Prager deutschen Tageszeitungen, und informierte sie ausführlich über die neuesten Ereignisse.18 Neben familiären Bindungen und verschiedenen anderweitigen Bekanntschaften handelte es sich dabei jedoch auch um Beziehungen aus Fischers Prager Universitätsstudium. Ein prominenter Korrespondenzpartner und (­mitunter recht sarkastischer) Berichterstatter über das Geschehen in den Prager germanistischen Lehrveranstaltungen war in dieser Zeit Fischers Kommilitone Břetislav Vyskočil.19 Auch Jan Gillmett, Ladislav Schlücksbier und Prokop Maxa, die sich ebenfalls im Herbst 1903 nach Berlin begeben hatten, kannte Fischer wohl bereits aus Prager Vorlesungen und Seminaren. Der aus Klatovy stammende Gillmett (geb. 1882) war in den Semestern vor seiner Abreise nach Berlin an der Prager tschechischen wie auch deutschen philosophischen Fakultät eingeschrieben (an letzterer als Gasthörer). In Berlin begegnete er Fischer regelmäßig unter der pädagogischen Obhut Roethes. Neben weiteren Germanistikvorlesungen befasste er sich mit romanistischen Themen (Tobler, Haguenin, Geiger) und hörte zudem Orientalistik und Sinologie ­ amentlich bei Prof. Grube.20 In Fischers Briefen ist er seltsamerweise nicht n ­erwähnt (ähnlich wie der aus Brünn stammende Otto Czihaczek, der im Herbst 1903 aus Wien nach Berlin gekommen war).21 Schlücksbier, Sohn eines Bürgerschullehrers aus Libochovice, studierte seit Herbst 1901 an der Prager tschechischen philosophischen Fakultät. Im Wintersemester 1902/1903 war er Fischer u. a. in einem Germanistik-Seminar bei Václav Emanuel Mourek (Interpretation von Goethes und Schillers Dramen) bege18  Vgl. z.  B.: „Bitte, liebe Mama, sende mir gelegentlich Die Lessinglegende (von Mehring) und bes. Otfrieds Evangelienbuch, herausgegeben von Erdmann (beides auf meinem Büchergestell.) Annies Wunschzettel ist reicher, sie ersucht Dich um: die Reklambändchen von Ibsen, Multatulis Liebesbriefe, d. engl. Grammatik von Gesenius (ich glaube im 2. Fach von unten im Bücherschrank)“ (O. Fischer an Hermine Fischerová, 23.10.1903, NA, Nachlass Josef Fischer); oder: „Dann öffnete ich Deinen Brief und Drucksachensendung: Goldmanns Feuilleton über Rose Bernd find ich in manchen Punkten sehr dumm und unglaublich parteiisch-beschränkt, in der Hauptsache hat der gute Mann doch Recht; ­H(einrich) T(eweles)’ Aufsatz über das neue Buch von Salus hat mich auf die Novellen begierig gemacht, umsomehr, da ich die ‚Novelle eines Lyrikers‘ und die ‚Schwalbe‘ bereits aus dem Prager Tagblatt und der Neuen Freien Presse kenne“ (O. Fischer an Hermine Fischerová, 21.11.1903, NA, Nachlass Josef Fischer). 19  Vgl. die Briefe Břetislav Vyskočils an O. Fischer, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 20  Acta der Königl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Abgangs-Zeugnisse vom 15.09.1904 bis 30.09.1904, Universitäts-Registratur. Littr. A No. 6 Vol. 1444, Ordner Nr. 2. 21  Acta der Königl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Abgangs-Zeugnisse vom 02.08.1904, Universitäts-Registratur. Littr. A No. 6, Ordner Nr. 63.

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Michal Topor

gnet, im Sommersemester 1903 hatten beide unter anderem an Kraus’ Interpretationskurs zu Goethes Faust teilgenommen. An der Berliner Universität teilte ­Schlücksbier mit Fischer – ähnlich wie Gillmett – vor allem das Interesse an den ­Kursen Roethes. Anders als Fischer besuchte er jedoch in beiden Semestern auch Brückners Slawistik-Übungen.22 Der aus Manětín stammende Prokop Maxa (1883–1961) war von der juristischen an die philosophische Fakultät ­gewechselt. Auch er kannte Fischer (und dessen Schwester) wohl bereits aus Prager Vorlesungen. Die Vorlesungen und Übungen, in die sich Maxa in Berlin einschrieb, deckten sich bis auf wenige Ausnahmen mit dem Stundenplan Fischers, Gillmetts, Schlücksbiers und Czihaczeks.23

Ladislav Schlücksbier an Otokar Fischer (Berlin 21.04.1904; unterzeichnet auch von Prokop Maxa und Bedřich Herschmann). 22  Siehe Acta der Königl Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Abgangs-Zeugnisse 06.08.1904 O – Sch, Universitäts-Registratur. Littr. A No. 6 Vol. 1437, Ordner Nr. 54. 23  Acta der Königl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Abgangs-Zeugnisse vom 19.10.1904 bis 24.10.1904, Universitäts-Registratur. Littr. A No. 6 Vol. 1467, Ordner Nr. 71. Ebenda ist auch Maxas Berliner Index erhalten geblieben.

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Zu Fischers Berliner Gefährten zählte zudem der Prager Germanist Ferdinand Josef Schneider (geb. 1879 im nordböhmischen ­ Bohosudov, dt. Mariaschein). Dieser hatte 1901 in Berlin eine Arbeit mit dem Titel Jean Pauls Altersdichtung. Fibel und Komet. Ein Beitrag zur literaturhistorischen Würdigung des Dichters herausgegeben – versehen mit einer Widmung für August Sauer und die „geehrte[ ] Verwaltung der kgl. Bibliothek in Berlin, ­besonders Herrn Bibliothekar Dr. Arthur Kopp, welcher mir durch sein freundliches Entgegenkommen das Studium des Nachlasses wesentlich erleichterte“ (Schneider 1901: IX; das Vorwort entstand im Juli 1901 in Prag). Anfang Dezember 1903 berichtet Fischer der Mutter: „Über unsere Freitags-gesellschaft im Pschorrbrän hatte sie [= Anna] Dir berichtet – Dr. Schneider hat mich eingeladen, ihn und seinen Freund, den Dichter Hadwiger, mal zu besuchen“.24 Auch mit Victor Hadwiger, der im Sommer 1903 im Berliner Verlag Georg Heinrich Meyer das Buch Ich bin publizierte, war Fischer bereits von Prag her bekannt: Im Wintersemester 1901/1902 hatten sich Fischer, Schneider und Hadwiger (wie z. B. auch Paul Kisch oder Wilhelm Kosch) in August Sauers Vorlesung „Geschichte der deutschen Literatur im Zeitalter der Aufklärung“ eingeschrieben, und auch im Sommersemester 1902 hatten Otokar und Anna Fischer regelmäßig Gelegenheit gehabt, Hadwiger zu treffen (so z. B. in Sauers Stilübungen, an denen u. a. Franz Kafka ­teilnahm). Im Herbst 1902 besuchten Fischer und Hadwiger Sauers Vorlesung „Geschichte der deutschen Literatur in der klass. Periode I.“ und das „Seminar f. Vorgeschrittene (öst. Schriftsteller d. 19. Jhs.)“, im Sommersemester 1903 hörten beide die Fortsetzung von Sauers Vorlesung zur deutschen Literatur der Klassik.25 Fischer kam bereits mit einer gewissen Aura und vielleicht auch mit einem gewissen Selbstbewusstsein nach Berlin: Er hatte Beiträge für Sauers Blatt Euphorion verfasst und war mit der Druckvorbereitung seiner Dissertation zu Gerstenberg (Fischer 1904) beschäftigt.26 Die Dissertation wurde offiziell von V. E. Mourek betreut, im Hintergrund wirkte jedoch auch Sauer mit: „Prof. 24  O. Fischer an Hermine Fischerová, 01.12.1903, NA, Nachlass Josef Fischer. 25  Ich gehe hier von den systematischen Notizen bzw. Auflistungen August Sauers aus (Wien Bibliothek im Rathaus, Nachlass August Sauer); für deren Vermittlung danke ich Václav Petrbok. 26  Der tschechischen wie auch internationalen Germanistenszene hatte sich Fischer im Juli 1903 mit seiner Studie Gerstenberg als Rezensent der Hamburgischen Neuen Zeitung 1767–1771 (Fischer 1903a) vorgestellt. Er publizierte damit in derselben Ausgabe wie einige seiner späteren Berliner Kollegen (Ernst Consentius, Otto Pniower, Georg Ellinger und Richard M. Meyer).

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Mourek hab ich ohne besondern Anlass geschrieben, bloß mein Verspechen eingelöst, gestern einen 6½ Seiten langen Brief an Prof. S., in dem ich die Art u. Weise der hiesigen Dozenten ein wenig ironisierte“.27 Offenbar war es auch ein von Sauer verfasstes Gutachten, das Fischer in Berlin die Büro- und Wohnungstüren von Dozenten und Professoren öffnete: Im November 1903 schrieb Sauer aus Prag an Fischer: „Jacoby entschuldigt sich bei mir, dass er Sie noch nicht eingeladen hat, weil er krank ist“.28 Am 26. Oktober 1903 berichtet Fischer (in einem Brief an die Mutter) über den Mischmasch an Vorlesungen, die er an diesem Tag besucht hatte: [I]ch habe im Laufe des heutigen Tages weitauseinander liegende Gebiete des ­Wissens besucht, ich war nämlich nicht weniger als bei sieben Vorlesungen mir natürlich persönlich vollkommen fremder Professoren […] und der bunte Mischmasch hat mich nicht klüger gemacht; ich habe blos [sic!] neue Gesichter u. Manieren kennengelernt, vielleicht kommt dass [sic!] davon, weil keiner der Docenten über die erste Einleitung zum eigentlichen Thema hinausgekommen, und so schwirrt es mir im Kopfe von allgemeinen Theorien und Phrasen. Den Reigen eröffnete ich mit Prof. Tobler (franz. Syntax); der ist ein hübscher alter Herr und hat viel geplauscht, über die Lautlehre und Biegungen und wie wissenschaftlich die Wörterbücher angelegt sind u. a., man hätte seinen Vortrag in 10 Sätze zusammenpressen können. Dann kam Logik u. Erkenntnistheorie bei Prof. Lasson, e. alten zahnlosen Fanatiker, der wohl Prediger gewesen ist; merkwürdig, dass der ­salbungsvolle u. lebendige Ton oft mit einem andern zusammenfällt, der so wenig arisch anmutet […]. Viel mehr hat mir Prof. Brandl imponiert (Shakespeare)29, er citiert viel englisch und ich verstand anfangs nicht […]. Echten Gelehrtentypus, durchaus nicht in komischem Sinne, weist Prof. Stumpf auf, der sein Thema – Geschichte der Philosophie – auch in völlig sachlicher u. ernster Weise erörterte. […] Dann folgte e. Kapacität ersten Ranges, Prof. Wagner, über Nationalökonomie, von weitem sieht er aus wie Bismarck – und man merkt dass man es mit e. bedeutenden Mann zu tun hat. Den Abschluss bildete für heute e. Kurs über Kant vom Docenten Paul Menzer, der mich wahrhaft erquickte. Meine eigentlichen Vorlesungen nehmen erst morgen ihren Anfang.30

Er schrieb sich in vier Vorlesungen und Übungen ein, die Gustav Roethe in diesem Semester halten wollte: 1) „Allgemeine Geschichte der deutschen Literatur“, 2) „Geschichte der deutschen Literatur von der ­ mittelhochdeutschen Blütezeit bis zur Reformation (1200–1520)“, 3) germanistisches Proseminar – „a) althochdeutsche Übungen für Anfänger (Otfried); b) Lek27  O. Fischer an Hermine Fischerová, 16.12.1903, NA, Nachlass Josef Fischer. 28  August Sauer an O. Fischer, 13.12.1903, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 29  Im Mai 1904 schreibt Fischer hingegen: „Das engl. Seminar hat mich heute wohl zum ersten –  und letztenmal gesehen, ich werde selbst auf die schöne Bibliothek Verzicht leisten und die Stunde nicht belegen: Brandls gemütliche Bäuerlichkeit ist mir unerträglich“ (O. Fischer an Hermine Fischerová, 06.05.1904, NA, Nachlass Josef Fischer). 30  O. Fischer an Hermine Fischerová, 26.10.1903, NK, Nachlass Josef Fischer.

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türe des Reineke Vos im Vergleich mit dem mittelniederländischen Reinaert“, 4) germanistisches Seminar – „‚Des Minnesangs Frühling‘ und Besprechung der Arbeiten der Mitglieder“.31 Neuere deutsche Literatur studierte Fischer im Wintersemester bei Erich Schmidt in der modernen Abteilung des germanistischen Seminars (wo er u. a. Schmidts Vorlesung „Deutsche Dramatiker des 19. Jahrhunderts“ besuchte).32 Des Weiteren schrieb er sich in R. M. Meyers Vorlesung „Lessings Leben und Werke“, in ein Anglistik-Seminar A. Brandls zur englischen Ballade und in die Vorlesung „Über denkwürdige Stätten Griechenlands“ bei dem berühmten Altphilologen Ulrich von WilamowitzMoellendorff ein. Ergänzt wurde sein Stundenplan durch Ignaz Jastrows Vorlesung „Die soziale Frage in Vergangenheit und Gegenwart“, den Vorlesungszyklus „Gotik und Mystik“ sowie durch Seminarübungen bei Kurt Breysig. Am 31. Oktober 1903 informiert er die Mutter u. a. über seine ersten Verpflichtungen: Meine Hauptseminare haben bereits begonnen, sie sind recht anregend und sehr streng geleitet, manchmal komm ich mir mit meinem ganzen Wissen und Können wie ein Nichts vor […] von ganz bestimmten Plänen will ich nun eine in Erich Schmidts Seminar übernommene Arbeit über den Don-Juanstoff ausführen. Du erinnerst Dich wohl, dass ich bereits in Prag bei Gelegenheit von Grabbes Drama ähnliche Interessen verfolgte.33

Anfang November 1903 schreibt Fischer erfreut an seinen Bruder: „Včera jsem se velmi dobře bavil v gramatickém semináři u prof. Roetheho, kde jsem poznal dosud neznámé pro mne končiny mluvnice z velmi vábné ­stránky.“ [Gestern unterhielt ich mich sehr gut im Grammatikseminar bei Prof. Roethe, wo ich mir bislang unbekannte Gefilde der Grammatik von einer sehr reizvollen Seite kennenlernte.]34 Worin dieses Unbekannte bzw. der Reiz bestand, erklärt Fischer dem Bruder leider nicht. Gustav Roethe war 1902 aus Göttingen nach Berlin gekommen, um Karl Weinhold zu ersetzen. Fischers Sympathie für Roethe, die mit der Zeit zu einer gegenseitigen 31  Vgl. auch Fischers an die Mutter gerichtete Beschreibung: „Jetzt fahre ich in Roethes Seminar – ich benutze täglich die Stadtbahn, steige in der Friedrichstrasse aus, von dort ist es 5 Min. zur Univers. u. den Seminaren u. Bibliotheken“ (O. Fischer an Hermine Fischerová, 21.11.1903, NA, Nachlass Josef Fischer). 32  Die erste Begegnung zwischen Schmidt und Fischer fand am 12.10.1903 statt: „Der Herr Professor, ein schöner, älterer, grosser, wie ein Oberst aussehender Mann, entliess mich gnädig“ (O. Fischer an Hermine Fischerová, 13.10.1903, NA, Fond Josef Fischer). 33  O. Fischer, 31.10.1903, NK, Nachlass Josef Fischer; die Resultate dieser Arbeit publizierte Fischer später in der Zeitschrift Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte (Fischer 1905b). 34  O. Fischer an Josef Fischer, 08.11.1903, LA PNP, Nachlass O. Fischer.

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wurde, war für die fachlichen Kontakte, die Fischer während seines BerlinAufenthalts knüpfte, von entscheidender Bedeutung. Greifbarstes Ergebnis seiner Arbeit bei Roethe ist sicherlich ein Text, den Fischer im Laufe des Wintersemesters verfasste: eine sorgfältige philologische Interpretation eines handschriftlichen Versfragments, die sich kritisch mit dessen bisheriger Deutung ­auseinandersetzt. Diesen Text bot Roethe Anfang des Jahres 1904 Edward Schröder an, mit dem er damals die Zeitschrift für deutsches Altertum redigierte. Schröder war einverstanden – unter der Voraussetzung, dass Roethe „die Ausführung überwacht“ (Ruprecht/Stackmann 2000: 241; zu Roethe vgl. Judersleben 2000). Die Arbeit wurde tatsächlich – wenngleich erst 1907 –  unter dem Titel Die sogenannten ‚Ratschläge für Liebende‘ in der Zeitschrift für deutsches Altertum publiziert: Die fünfzig aus einer Münchner hs. bei Docen Miscellaneen II 306f mitgeteilten reimpaare werden allgemein für ratschläge gehalten, die, in form eines briefes gekleidet, sich im ersten teil (I) an die frauen, im zweiten (II) an die männer wenden. diese ansicht hat ein einheitliches gedicht zur voraussetzung. ich hoffe nun zeigen zu können, dass I und II gar nicht zusammen gehören, sondern nur durch den zufall aneinandergereiht sind […] (Fischer 1906).35

Ende Oktober schreibt Fischer an die Mutter: [M]it dem Prager Zionisten Kobler, e. sehr gebildeten Menschen, bin ich zusammengekommen, gesprochen, disputiert; er hat mich um 11 Uhr nachts nachhause begleitet, kam noch zu mir, ass [sic!] mit mir Butterbrot und blieb bis halb zwei.36

In der Zeit, als Fischer sich mit ihm zu treffen begann, war Kobler unter anderem in Georg Simmels Vorlesungszyklus „Soziologie“ und seine ­daran anknüpfenden Soziologieübungen eingeschrieben, weiterhin besuchte er Onckens historiografische Übungen wie auch Statistik- und Ökonomievorlesungen bei August Meitzen und Ludwig Bernhard.37 Am 14. November berichtet Fischer detaillierter:

35  Vgl. eine Nachricht Roethes vom Mai 1907 bezüglich der Korrekturen des Artikels ­(Gustav Roethe an O. Fischer, 06.05.1907, LA PNP, Nachlass O. Fischer). Im ­September des ­folgenden Jahres bedankt sich Roethe in einem Schreiben bei Fischer für einen ­Hinweis auf den Artikel „Von Farbe und Klang bei den Romantikern“, den er bereits gelesen habe – er habe dort eine Reihe von Berührungspunkten mit Problemen gefunden, die auch ihn beschäftigten (Gustav Roethe an O. Fischer, 15.09.1908, LA PNP, Nachlass O. Fischer). 36  O. Fischer an Hermine Fischerová, 31.10.1903, NA, Nachlass Josef Fischer. 37  Acta der Königl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Abgangs-Zeugnisse, 05.06.1905, Universitäts-Registratur. Littr. A No. 6, Ordner Nr. 74.

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Vorgestern abend [sic!] bei Helene, gestern nachts bei Kollege Kobler. Beide haben mich mit Thee bewirtet, Kobler gar mit Zuckerwerk und Butterbrot. Er las mir einen Vortrag vor, den er in Wien gehalten hatte, ‚Der Dionysische Mensch‘, in Anschluss an ­Nietzsche, vielmehr ein Weiterdenken der Voraussetzungen, die in der ‚Geburt der ­Tragödie‘ ­gegeben sind – welch letzteres Buch mich in der Universitätsbibliothek in helle ­ Verzückung ­versetzt. Es ist zu staunen, wie gut wir uns bei der grundsätzlichen Verschiedenheit unserer Anschauungen verstehen – K. ist nämlich moderner Zionist. Durch ihn hab ich einen russischen Studenten kennengelernt und wir alle drei zählen nun zu den Mitgliedern eines geschichtlichen Seminars bei Kurt Breysig.38 Ich bin dort gestern zum erstenmal gewesen, habe mich an der Debatte beteiligt, ich habe da über die anderen Kollegen einen grossen Vorteil, nämlich den, mit Dr. Podv[inec]. zu reden, dass mein Urteil nicht durch Fachkenntnisse getrübt ist. Bei demselben Breysig werd ich ein Kolleg über Gothik und Mystik belegen, das durch die Vortragsweise, Auffassung und durch Skioptikonbilder höchst anziehend wirkt. Der Winter kommt.39

Neben seinen Passagen durch die Berliner Universitäts- und Gelehrtenwelt frönte Fischer ausgiebig den Attraktionen der dortigen Kunst- und insbesondere Theaterszene. Einige Tage zuvor hatte er an die Mutter ­ geschrieben: „[I]ch [bin], um meinem Einsiedlerleben ein Ende zum machen, gestern abend im Deutschen Theater bei Gerhart Hauptmanns Rose Bernd gewesen […] und [begebe] mich jetzt ins Roethe-Proseminar […], ohne, nebenbei gesagt, eine blasse Ahnung von dem verlangten Pensum zu haben“.40 Zwei Tage später resümiert er seine Theatererlebnisse detaillierter: Dienstag war ich bei Hauptmanns Rose Bernd im Deutschen Theater; Mittwoch im Kleinen Theater bei Hofmannsthals Elektra, ,Tragödie in einem Akt; frei nach Sophokles‘ (dies dir bekannt [sic!], wenn ich nicht irre); und Donnerstag im Neueren Theater bei  Oscar Wildes Salome und Frank Wedekinds Kammersänger (mit Helene und Anni, aber wir sassen [sic!] nicht nebeneinander). Das waren drei schöne Abende. Ich lebte wie in einem Schönheitsrausch. Hofmannsthal hat mich einfach hingerissen, heute hab ich mir seine sonstigen Dichtungen ausgeborgt (die Du wohl auch kennst: die Frau am Fenster, Hochzeit der Sobeide, Abenteurer u. Sängerin) und sie gleich verschlungen, die Elektra hab ich mir angeschafft.41 38  In Vzpomínka na Berlín [Erinnerung an Berlin] schreibt Fischer über einen „ekstatischen und ästhetischen Kreis um den Kulturhistoriker Breysig“ (Fischer 1905a: 44). 39  O. Fischer an Hermine Fischerová, 14.11.1903, NA, Nachlass Josef Fischer. Einige Tage später reflektiert Fischer abermals seine Andersartigkeit gegenüber der übrigen Belegschaft von Breysigs Seminar: „Es war von 5–6 Breysigs Seminar und ich muss gestehen, dass die Herren Historiker (die Kollegen nämlich) par distance einen ganz respektablen Eindruck machen, erstens sind sie hübsch und liebenswürdig, nicht gar so borniert und nicht solche verrückte wiederkäuende Büffel wie wir Philologen“ (O. Fischer an Hermine Fischerová, 25.11.1903, NA, Nachlass Josef Fischer). 40  O. Fischer an Hermine Fischerová, 11.11.1903, NA, Nachlass Josef Fischer. 41  O. Fischer an Hermine Fischerová, 13.11.1903, NA, Nachlass Josef Fischer.

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Kurz darauf berichtet Fischer über ein weiteres aktuelles Phänomen der Berliner Kunstszene: Auf seinem Tisch liege ein Buch, „die Lebensbeschreibung des Malers Ludwig Richter“, dessen Ausstellung er besucht habe: [I]ch will das Buch lesen, um über den Maler u. Schriftsteller gerechter zu urteilen. Ganz in unserer Nähe ist die Ausstellung der Berliner Secession, die wir natürlich nicht versäumen dürfen. Aber mit Schrecken bemerke ich, dass ich von den Berliner Sehenswürdigkeiten noch gar nichts kenne, nicht die Bildergallerie [sic!] und nicht das Pergamonmuseum.42

Am 1. Dezember 1903 „übergab“ Fischer „seinem Freund Kobler“ das Manuskript des Zweiakters Dämonen – mit dem Zusatz: „Entworfen zu Berlin in der letzten Novemberwoche des Jahres 1903 von Ottokar Fischer“.43 Einen Tag später konstatiert er in einem Brief an seinen Bruder: „Jako každé úterý, strávil jsem i včerejší večer u kolegy Koblera.“ [Wie jeden Dienstag habe ich auch den gestrigen Abend bei meinem Kollegen Kobler verbracht.]44 Anfang Dezember besuchte Fischer im Deutschen Theater eine Aufführung von Sudermanns Tragödie Johannes (1898), im Kleinen Theater eine Inszenierung von Gorkis Stück Nachtasyl (Am Boden, 1902), im Lessingtheater den Zapfenstreich (1903) von Franz Adam Beyerlein.45 Am 11. Dezember schreibt er der Mutter: „[V]orgestern [war ich] bei einem mittelmässigen [sic!] Vortrag über Giordano Bruno – mit Kobler“.46 In seinem Text Tři berlínské premiéry [Drei Berliner Premieren], erschienen am 20. Dezember 1903 in der Zeitschrift Naše doba, beschreibt Fischer die Faszination, die er bei einer Aufführung von Hofmannsthals Elektra empfand: Sotva, že se setmí v sále a z jeviště tonoucího ve světle zvláštní intenzity se ozvou prvá slova, vládne pocit, jako by neviditelná ruka obtočila smyčkou hrdlo divákovo, stále těsněji ji zadrhujíc, až se zatajuje dech. [Kaum ist es im Saal dunkel geworden und von der Bühne, die in ein Licht besonderer Intensität getaucht ist, tönen die ersten Worte, herrscht ein Gefühl, als werde von unsicht-

42  O. Fischer an Hermine Fischerová, 14.11.1903, NA, Nachlass Josef Fischer. Im Jahr 1903 waren im Frankfurter Verlag J. Alt einige Bände der Ludwig-Richter-Biografie Aus einem Künstlerleben von Johann Friedrich Hoff erschienen. Möglicherweise hatte Fischer einige davon gelesen. Vgl. auch Ludwig Richter. Gedächtnisausstellung. Oktober – November 1903. Berlin: Keller & Reiner 1903. 43  LA PNP, Nachlass O. Fischer – rukopisy vlastní [eigene Manuskripte]. 44  O. Fischer an Josef Fischer, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 45  O. Fischer an Hermine Fischerová, 05.12.1903, NA, Nachlass Josef Fischer. 46  O. Fischer an Hermine Fischerová, 11.12.1903, NA, Nachlass Josef Fischer.

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barer Hand eine Schlinge um des Zuschauers Kehle gelegt und immer enger gezogen, bis einem der Atem stockt.] (Fischer 1903b: 237)47

Ende des Jahres erhielt Fischer, der kurzzeitig in Prag weilte, eine Ansichtskarte – einen Neujahrsgruß mit der Anrede: „Lieber Freund und Bruder!“48 Verfasser der Karte war Paul Diels, Sohn des Berliner Universitätsprofessors, Altphilologen und Philosophiehistorikers Hermann Diels, der 1903 den ersten Band eines seiner wichtigsten Werke herausgegeben hatte: Die ­Fragmente der Vorsokratiker (mit einem Vorwort vom Februar 1903 und einer Widmung für Wilhelm Dilthey). Diels studierte seit Frühjahr 1901 an der Berliner Universität und widmete sich größtenteils germanistischen, am Rande auch romanistischen Themen. Spter etablierte er sich als anerkannter Indogermanist und Slawist, vor dem Ersten Weltkrieg war er sogar eine Zeit langan der Prager deutschen Universität tätig.49 Zurück in Berlin, beteiligte sich Fischer auch zu Beginn des neuen ­Jahres an gemeinschaftlichen Unternehmungen. So fand z. B. in der zweiten Februarhälfte 1904 in der Kommandantenstraße eine Feier zu Ehren des 40. Geburtstags von J. S. Machar statt, auf der Fischer mit Kobler, Schlücksbier und dem aus Mladá Boleslav stammenden (und bis Sommer 1906 in Berlin studierenden) Chemiker Bedřich Herschmann zusammentraf. Einen Tag zuvor – so schreibt er der Mutter – lumpten wir noch mehr. Da war nämlich bei Kobler ein Pick-nick, ich ass [sic!] natürlich sehr viel; es waren 6 Herren, 5 Damen; wir hatten Obst gebracht, sonst gabs Aufschnitt, Käse, ital. Salat, Thee, Torte, Bonbons etc. etc., gottseidank kein Klavierspiel. Die pièce de resistance war ein Dr. Buber, sehr agiler Zionist-Sozialist, sieht im Mantel aus wie ein galizischer Jude; stark aufgeblasen u. von sich erzählend, unternehmungslustig, geistreich, paradox; eine noch grössere pièce (ausser der Torte) aber war eine Münchner Dame, Bekannte des Vorigen, Frau Winkler, keine Jüdin, schreibt Essais, sehr klug und mit selten reifem Urteil begabt; ich sass zwar nicht neben ihr, doch sprach ich mit ihr am meisten. Die anderen fremden Damen waren mies. – Am Abend kam ich einmal in Charlottenburg mit Dr. Schneider zusammen, er begleitete mich fast bis nachhause, wir haspelten allen Philologenklatsch ab u. machten uns über unsere künftigen Kollegen lustig. […] Ja, richtig, nach dem Picknick bei Kobler ging Herschmann mit Anni u. mir in ein Café; dort nahmen mich beide in furchtbarer Weise ins Gebet, wegen meines Nicht-Judentums; ich lachte sie

47  Mehr über Fischers Beziehung zu Hofmannsthal bzw. zur Wiener Moderne siehe hier im Text Lucie Merhautovás. 48  Paul Diels an O. Fischer, s. d., LA PNP, Nachlass O. Fischer. 49  Im Oktober 1904, als Fischer bereits wieder in Prag war, richtete ihm P. Maxa aus Berlin einen Gruß „von Herrn Diels“ aus (Prokop Maxa an O. Fischer, 19.10.1904, LA PNP, Nachlass O. Fischer), im November 1905 gratuliert Diels Fischer zur Promotion.

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Michal Topor tüchtig aus, hielt sie beide zum Narren kam um 5 Uhr früh nachhause, da ich Herschmann noch begleitet habe.50

Eine Woche später schreibt er: [Ich] weiss [nicht,] wo mir der Kopf steht, da gestern Sonntag war, ich spät aufstand, bei einer Häckel-Feier im Zoolog. Garten anwesend war, nachm. für kurze Zeit bei Frau Prof. Breysig geladen war, mich mit ihrer Schwester vorzüglich unterhalten (m. einer andern als im Dezember) und mit Schneebällen beworfen haben [sic!], dann mit einem Kollegen in ein Tanzlokal ging […] heute um 3 Uhr muss ich meine Arbeit bei Erich Schmidt abgeben – jetzt um 9 Uhr hab ich nichts mehr geschrieben als den Titel!! Es wird wohl Krach geben, ich bin gefasst, dagegen hat Roethe meine Arbeit öffentlich, im Gespräch mit d. Amanuensi sehr gerühmt.51

Im März 1904 reiste Fischers Schwester definitiv aus Berlin ab. Im darauffolgenden Semester besuchte sie an der Prager tschechischen ­philosophischen Fakultät Vorlesungen in Germanistik (V. E. Mourek, A. Kraus) und Klassischer Philologie (F.  Groh, R.  Novák) sowie Zubatýs Vorlesung zur „Deklination in den indoeuropäischen Sprachen“.52 1907 verteidigte Anna ihre Dissertation Stilistische Untersuchungen über Rudolfs von Ems „Willehalm von Orleans“ (Zur Charakteristik der Schule Gottfrieds von Straßburg). Was genau sie bewogen hatte, Berlin zu verlassen (während Otokar nur vorübergehend abreiste und im April nach Berlin zurückkehrte), darüber lässt sich nur spekulieren. In der zweiten Maihälfte schreibt sie an den Bruder: ­„Roethemu může znít v uších, – každému, kdo mne potká a ptá se, jak to, že nejsem v Berlíně, řeknu, že tam je jeden profesor, který etc.“ [Roethe werden die Ohren klingeln, – jedem, der mir begegnet und fragt, wieso ich nicht in ­Berlin bin, sage ich, dass dort ein Professor ist, der etc.]53 Von Diskrepanzen in Annas Verhältnis zu Roethe zeugt auch Otokars Schilderung eines Traums vom Sommer 1904: „Zdálo se mi, že u nás pan profesor Roethe byl návštěvou, ale od Anninky nemilostivě přijat, což ho velmi rozladilo.“ [Ich träumte, Herr Professor Roethe war bei uns zu Besuch, wurde aber von Anninka ungnädig empfangen, was ihn sehr verstimmte.]54 Das Sommersemester in Berlin begann am 16. April. Am 21. April ­schickten Schlücksbier, Herschmann und Maxa (bereits aus Berlin) an Fischers Prager Adresse eine Ansichtskarte mit folgendem Text: „Milý příteli! Na 50  O. Fischer an Hermine Fischerová, 22.02.1903, NA, Nachlass Josef Fischer. 51  O. Fischer an Hermine Fischerová, 29.02.1904, NA, Nachlass Josef Fischer. 52  A  UK, ČU [= Archiv der Karlsuniversität, Tschechische Universität], Filosofové řádní, letní běh [Ordentliche Philosophiestudenten, Sommersemester] 1904. 53  Anna Fischerová an O. Fischer, 19.05.1904, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 54  O. Fischer an Josef Fischer, s. d., LA PNP, Nachlass O. Fischer.

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dotaz Váš stran přednášek: Roethe začíná 30. 4., Schmidt 5. 5. Těšíme se na Vás […] Poručení sl. sestře a pozdrav Praze a známým!“ [Lieber Freund! Auf Ihre Frage hinsichtlich der Vorlesungen: Roethe beginnt am 30. 4., Schmidt am 5. 5. Wir freuen uns auf Sie […] Empfehlung an das Frl. Schwester und herzliche Grüße an Prag und die Bekannten!]55 Nach seiner Ankunft in Berlin schrieb Fischer sich abermals in sämtliche Lehrveranstaltungen Roethes ein: in die Vorlesungen „Erklärung der Gedichte Walthers von der Vogelweide“ und „Deutsche Wortbildungslehre“, die germanistischen Proseminare „a) mittelhochdeutsche Übungen für Anfänger (Meier Helmbrecht), b) ­ Lektüre von Murners Schelmenzunft“ sowie in ein germanistisches Seminar („altsächsische Übungen und Besprechung der Arbeiten der Mitglieder“). Er überwand seine anfängliche Abneigung gegen Max Roediger und ergänzte seine Studien des älteren deutschen Schrifttums um dessen Vorlesung „Erklärung kleinerer deutscher Denkmäler des 8. – 12. Jahrhunderts“. Im Zentrum der von Fischer besuchten ­Vorlesungen und Übungen zur „modernen“ deutschen Literaturgeschichte standen abermals die Lehrveranstaltungen Erich Schmidts, und zwar zum einen die Vorlesungen „Das deutsche Volkslied. Einleitung und I­nterpretation“ und „Geschichte der deutschen Literatur von der romantischen S­chule bis zu Heine“, zum anderen Übungen in der modernen Abteilung des germanistischen Seminars. Außerdem beschloss er, R. M. Meyers Vorlesung zur Geschichte des deutschen Romans sowie zwei Romanistik-Vorlesungen (Ludwig Geiger: „Rousseaus Leben und Werke“, Émile Haguenin: „Der realistische Roman in Frankreich von 1850–1900“) zu hören. Am Anfang des neuen Semesters besuchte Fischer zudem noch ­Brückners Collegium zur polnischen Literatur der Gegenwart, das er der Mutter gegenüber mit einem lakonischen „ekelhaft“ kommentiert. Er fährt fort: Heute bei Diltheys System der Philosophie – es ist doch der erste Berliner Philosoph, den man ernst nehmen könnte, wenn einem Univers. Professor überhaupt zu trauen wär, sobald er anfängt von Weltanschauung zu reden. Dann in 4 Seminaren: in Roethes Proseminar hatte ich heute den Anfängern den mhd. Versbau zu erklären; persönlich überbrachte ich ihm heut nachm. mein Buch [Fischer 1904a, MT], er freute sich u. staunte ob meiner „Vielseitigk[ei]t“. Erich Schmidt kam erst gestern von Strassbg. – dankte mir vorläufig für das Exemplar, obzwar er nicht zu wissen scheint, was drin steht; in seinem Seminar übernahm ich eine Arbeit über die Überarbeitungen der lyrischen G ­ edichte ­Gottfried Kellers. Einfach entsetzlich sind die Übungen Hermanns; zum Glück hab ich mich bei ihm nicht angemeldet, werde sie auch nie mehr besuchen; ich würde zu arg

55  Ladislav Schlücksbier [unterzeichnet auch von Bedřich Herschmann und Prokop Maxa] an O. Fischer, 21.04.1904, LA PNP, Nachlass O. Fischer.

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Michal Topor schimpfen, darum sag ich blos [sic!], daß die Üb[un]gen für Frauenzimmer, ästhet. Pöbel und des H. Prof. Familie berechnet sind und daß in der Philologie der Antisemitismus volle Berechtig[un]g hat. Die böhm. Kollegen hat H. sehr freundlich empfangen, von Arne Novák geschwärmt und Anni als sehr gebildetes u. überaus gescheites Mädchen ­bezeichnet, welches so gut Deutsch spreche, daß es schwer sei, sie zu verstehn und daß er sich nach den nationalen Verhältnissen unserer Familie zu fragen bemüssigt fand.56

Prokop Maxa an Otokar Fischer (Berlin 19.10.1904, unterzeichnet auch von Paul Diels).

Zwei Tage später berichtet Fischer: „Heut liess ich mir in einem langweiligen Kolleg von Dessoir (e. Juden) zum x-tenmal die Lehren Kants erklären, er spricht ganz frei aber auch flach, gemein-verständlich, etwa für das V ­ erständnis der hospitierenden Damen berechnet“.57 „[N]ichts weniger als entzückt“ war Fischer von Schmidts Collegium zur „Romantik“: 56  O. Fischer an Hermine Fischerová, 04.05.1904, NA, Nachlass Josef Fischer. Im Mai waren die an Fischer gerichteten Briefe bereits an eine neue Anschrift adressiert: „bei Frau Schneidler  /  Pritzwalkerstrasse 10, III. Stock“; vgl.: „Durch den Tiergarten aber wander ich zur Universität, 20 Minuten lang, könnte auch e. 5 Pf. Omnibus benützen; meine Wohn[un]g ist ungefähr 7 Minuten vom Bahnhof Bellevue entfernt“ (O. Fischer an Hermine Fischerová, 04.05.1904, NA, Nachlass Josef Fischer). 57  O. Fischer an Hermine Fischerová, 06.05.1904, NA, Nachlass Josef Fischer. Diese Distanz behielt Fischer jedoch in den darauffolgenden Jahren nicht bei, vgl. eine erhalten gebliebene Sammlung von Briefen Dessoirs aus den Jahren 1907–1921 (LA PNP, Nachlass O. Fischer), insbesondere jedoch aus dem Jahr 1913, als Fischer mit einer V ­ orlesung über den „Anteil der künstlerischen Instinkte an literaturhistorischer Forschung“ (Fischer 1914) an dem von Dessoir mitorganisierten Berliner Kongress für Ästhetik und

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[S]eine klare scharfe Art ist eben so unromantisch als möglich. Wie sich das Seminar gestalten wird, darauf bin ich begierig, zum erstenmal ward ein Referat zum besten gegeben über die Vorgeschichte einer Kellerschen Legende, die denselben Stoff behandelt wie ‚Schwester Beatrice‘; meine Keller-Arbeit hat mich bisher belehrt, dass Keller bei aller Liebe zu seiner Mutter von dieser niemals das Sparen erlernt hat.58

Einen positiven Eindruck gewann Fischer von Harnacks Vorlesung „Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte“, zu der er konstatiert: „[J]etzt fängt eben das Interesse um Religion wieder modern zu werden an“. Seine „Kapazitätenschau“ setzt er mit Bemerkungen zu Heuslers Vorlesung über das germanische Altertum, vor allem aber zu Max Lenz und dessen Vorlesung fort: „Lenz trägt Weltgeschichte im Zeitalter Bismarcks vor mit viel Feuer und grossem Aufwand persönlicher Rhetorik, auch er geht wies ja in Preussen heute zumal schöne Sitte ist, immer von der starken Individualität eines Einzelnen aus“. Als einen Verfechter des aktuellen „Geniekultus“ stellt er Lenz neben Roethe und Breysig. Im selben Brief schildert Fischer auch d­ etaillierter die Schwierigkeiten bei seinen Verpflichtungen für das neue Semester: „Ich habe nämlich in der älteren Seminarabtlg. Din Mâze zu interpretieren, ein Gedicht wahrscheinlich des 12. Jh., dessen Handschrift in Heidelberg bewahrt wird, sich aber momentan zufällig in Berlin befindet“ – dennoch habe man zunächst die Heidelberger Universitätsbibliothek um Erlaubnis zum Studium des „Kodexes“ ersuchen müssen. „Die Arbeit bei E. Schmidt“, fährt er fort, „hat auch seine [sic!] Schwierigkeit, die erste Ausgabe von Kellers Gedichten ist nicht zu ermitteln, ich werde mich leider an den Professor selbst wenden müssen“. In der Bibliothek habe er mit F. J. Schneider gesprochen, der vollkommen von der „geistigen Welt“ Jean Pauls in Anspruch genommen sei – „seine Arbeit ist mehr als eine philologische Grübelei, ist ihm ans Herz gewachsen, Jean Paul für ihn das allergrösste Genie und er glaubt durch seine Biographie der heutigen Kultur einen grossen Dienst zu tun“. Gemeinsam mit Prokop Maxa unternahm Fischer einen Ausflug „nach Grünau, machte allgemeine Kunstwissenschaft teilnahm (vgl. auch Fischer 1913b). Am 08.10.1913 schreibt Blažena Fischerová (einstige Studentin und spätere Gattin Fischers) aus Berlin an Hermine Fischerová: „Drahá matinko, tak první den kongresu je odbyt. Otoušek přednášel moc pěkně, bylo tam hodně lidí, Společnost je znamenitá, u Meyera bylo úžasné soirée, znamenití lidé! Mluvili jsme také s Richardem Dehmelem!!! Zítra jdeme na oběd k Podvincům.“ [Liebes Mütterlein, so, der erste Kongresstag ist geschafft. Otoušek hat sehr schön vorgetragen, es waren viele Leute da, die Gesellschaft ist großartig, bei Meyer war eine grandiose Soirée, hervorragende Leute! Wir haben auch mit Richard Dehmel gesprochen!!! Morgen gehen wir zum Mittagessen zu den Podvinecens.] Blažena Fischerová an Hermine Fischerová, 08.10.1913, NA, Nachlass Josef Fischer. 58  O. Fischer an Hermine Fischerová, 06.05.1904, NA, Nachlass Josef Fischer.

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mit ihm einen weiten Bogen um den Müggelsee“. Erfreut äußert er sich auch über ein Treffen mit „einem deutschen Kollegen aus Prag, H. Effenberger“: „[E]r scheint recht interessant, künstlerisch angehaucht, schwadroniert wohl etwas zu viel – hatte in Prag mit Moisy verkehrt“.59 „Nešťastníče!“ [Unglücklicher!], schreibt Bedřich Herschmann am 21. Mai an Fischer – Okamžitě sdělte svým ztraceným druhům, v jakém stavu jste se ráno nalezl. Všechno odpuštěno, vrať se milý synu! Nevíme, jste-li ještě mezi živoucími, my ano. Není-li Vám možno, oznámiti někomu z nás osobně, jaké další osudy Vás v oné Schreckensnacht potkaly, napište lístek – nejlépe Všem třem. / Jménem Maxy i Schlücksbiera i mne samého […]. [teilen Sie Ihren verlorenen Gefährten augenblicklich mit, in welchem Zustand Sie sich am Morgen befunden haben. Alles vergeben, kehr zurück lieber Sohn! Wir wissen nicht, ob Sie noch unter den Lebenden weilen – wir schon. Sollte es Ihnen nicht möglich sein, einem von uns persönlich mitzuteilen, welches weitere Schicksal Sie in jener Schreckensnacht ereilt hat, so schreiben Sie uns einen Brief  – am besten allen dreien. / Im Namen Maxas und Schlücksbiers wie auch meiner eigenen Person […].]60

Fischer scheute sich keineswegs, an wilden Gelagen teilzunehmen. Viel über die Beziehung zwischen ihm und seiner Mutter sagt u. a. die Tatsache, dass er ihr von seinen Exzessen berichtete, siehe z. B. folgende amüsant-reumütige Schilderung: Mittwoch trug ich bei E. Schmidt in einem Zustand vor wie noch nie zuvor. Ein Kollege kam früh zu mir u. beschwor mich bei allen Heiligen mich krank melden zu dürfen. Was ich gesprochen habe, weiss ich wahrhaftig nicht, aber es soll famos ausgefallen sein. Ich erinnere mich blos dem Professor gar nichts geglaubt haben zu wollen und dass ich beweisen wollte, die Worte ‚aus hohler Hand‘ klingen schaurig erhaben. Der Rausch war aber ganz wissenschaftlich gewesen, ich soll nachts zuvor allen Germanisten nach einer Version furchtbare Grobheiten, nach einer andren grosse und unerhörte ­Schmeicheleien gesagt haben. Sicher ist, dass ich eingeschlafen bin. […] Richtig, seit gestern ist Otto hier,

59  O. Fischer an Hermine Fischerová, 11.05.1904, NA, Nachlass Josef Fischer. Alexander Moissi war 1901–1903 am Prager Neuen deutschen Theater engagiert und ging 1903 nach Berlin, wo er Mitglied des Max-Reinhardt-Ensembles wurde. Einer seiner Prager Kollegen war zweifellos Hans Effenberger (1884 Wien–1950 Warschau), der in Prag das Abitur abgelegt hatte und dort später Germanistik, Anglistik und Romanistik studierte. 1908 verteidigte er seine Dissertation Lenau und die Musik, in psychologischer, ästhetischer und historischer Beziehung. Effenberger war später – wie auch Fischer – als „Bibliothekspraktikant“ an der Prager Universitätsbibliothek tätig, bevor er Ende des Jahres 1909 nach Wien ging und eine Stelle an der dortigen Hofbibliothek antrat. 60  Friedrich Herschmann an O. Fischer, 21.05.1904, LA PNP, Nachlass O. Fischer.

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ein gänzlich uninteressanter Mensch, wie ich finde. Er hat sich sicher sehr verändert, d.h. er wird eine schöne Karriere machen und auch heiraten.]61

Die gastlichen Gelage verwischten zum Teil die Grenzen zwischen Studenten und Professoren bzw. Dozenten und eröffneten ein neues Feld kollegialer Bekanntschaften. Nicht zufällig erinnert sich Fischer, als er nach Prag zurückgekehrt war, gerade an diese mit Dankbarkeit: Aspoň jednou do semestru uspořádá každý ředitel semináře seminární knajpu, nebo pozve několik svých žáků k sobě do bytu […]. Jen co byla překonána počáteční ceremonielní nálada, zavládne pak zcela volný, krásný akademický tón, a hostitel vykládá o věcech, které nechtěl či nemohl veřejně přetřásati. [[M]indestens einmal im Semester veranstaltet jeder Seminarleiter eine Seminarkneipe oder lädt einige seiner Schüler zu sich in die Wohnung ein […]. Ist die anfängliche zeremonielle Stimmung überwunden, herrscht ein ganz freier, schöner akademischer Ton, und der Gastgeber spricht über Sachen, die er öffentlich nicht erörtern wollte oder konnte.] (Fischer 1905a: 42).62

Im Mai 1904 sah Fischer im Deutschen Theater eine Aufführung von Hartlebens Drama Rosenmontag (1900),63 im Kleinen Theater Strindbergs Fräulein Julie in einer Inszenierung Max Reinhardts – wobei ihm die Schauspielerin Gertrud Eysoldt „zuwider“ war.64 Im Juni trat ein Ereignis in sein Berliner Leben, das auch einige seiner – insbesondere weiblichen – Landsleute nach Berlin lockte: der internationale Frauenkongress. Fischer beteiligte sich an einem Großteil der Versammlungen, u. a. als Begleiter der tschechischen Pädagogin und Frauenrechtlerin Zdenka Wiedermannová (vgl. ihr Referat über die Veranstaltung; Wiedermannová 1904): Ach, das ist aber eine Tour mit dem Fräulein Wiedermann! Ganz unfassbar, wie man so ohne alle Information und Vorbereitung zu einem Kongress fahren kann. Sie war nicht angemeldet, daher ist es fraglich, ob sie sich auch nur an der Diskussion wird beteiligen können, mit ihrer haarsträubenden Unbeholfenheit kann sie auch durch ein event. Auftreten eher schaden als nützen. Dabei verlangte sie am liebsten ganztätigen Ritterdienst all ihrer Landsleute, ich habe mich bereits aus der Affäre gezogen, an den Kollegen ist heute die Reihe sie ins Theater zu begleiten. […] Sehr feierlich und imposant war der erste Tag, der riesige Saal gesteckt voll, lauter Damen und etwa 40 Herren, davon die Hälfte Journalisten. Herschmann und Řehořovský wollen nicht glauben, ob ich blos aus Interesse und nicht als Referent hingehe, und mir ist alles Referieren so verhasst! […] Von Bekannten sah ich Schapire und Neurath, Tante und Frau Conrad, Frau Professor Meyer und Breysig, von 61  O. Fischer an Hermine Fischerová, s. d., NA, Nachlass Josef Fischer. 62  Zum Phänomen der „Germanistenkneipen“ vgl. Nottscheid/Müller (2011). 63  O. Fischer an Hermine Fischerová, 11.05.1904, NA, Nachlass Josef Fischer. 64  O. Fischer an Hermine Fischerová, 28.05.1904, NA, Nachlass Josef Fischer.

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Michal Topor den Rednerinnen kannte ich par distance Gertrud Bäumer und Helene Stöcker – letzte war in geschmackloser violetter Toilette, ihre Arbeit ist in der Palaestra erschienen.65

Von seinen „Bekannten“ nennt Fischer hier u. a. „Schapire und Neurath“: In Berlin hielten sich damals die Schwestern Anna (geb. 1877) und Rosa ­Schapire (geb. 1874) auf, die ursprünglich aus dem galizischen Brody stammten und aus Wien angereist waren. Rosa, eine Feministin, Kunsthistorikerin und -sammlerin, sollte in den nachfolgenden Jahren durch ihre Verbindungen zur Hamburger Kunstszene und der Dresdner Künstlergruppe „Die Brücke“ berühmt werden (vgl. z. B. Schulze 2009).66 Anna arbeitete spätestens ab 1900 mit Karl Kautskys Blatt Die  Neue  Zeit zusammen und hatte zudem in der Wiener Zeitschrift Die Wage publiziert (einen Artikel über Gorki). Auf Anna Schapire und deren übersetzerische Ambitionen (in Verbindung mit dem Projekt Slavische Roman-Bibliothek des Prager Verlags J. Otto) bezog sich offenbar auch eine Bemerkung Anna Fischerovás in einem ihrer Briefe an den Bruder (von Mitte Mai 1904): Slč.  Schapire vyřiď, že  jsem u  Otty byla,  – mají prý v  Slav. Bibl. na  dlouho vystaráno, prozatím! Nepřijmou její překlad, chce-li, pošlou jí manuskript zpět. – Napíšu jí sama, – ale zapomněla jsem adresu. Prosím, napiš mi ji. – Měj se dobře, neutop se ve vědě a v lyrismu. [Frl. Schapire kannst du ausrichten, dass ich bei Otto war, – sie hätten in der Slav. Bibl. auf lange Zeit ausgesorgt, vorerst zumindest! Sie nehmen ihre Übersetzung daher nicht an, wenn sie möchte, schicken sie ihr das Manuskript zurück. – Ich werde ihr selbst schreiben, – habe aber die Adresse vergessen. Bitte schick sie mir. – Machs gut, und ertrink nicht in Wissenschaft und Lyrismus.]67

Zum intimeren Berliner Freundes- und Bekanntenkreis der Schapire-­ Schwestern gehörte auch Otto Neurath, den Anna Schapire einige Jahre darauf heiratete und der später einer der wichtigsten Akteure des sog. Wiener Kreises war. In Fischers Nachlass (LA PNP) ist eine Sammlung von

65  O. Fischer an Hermine Fischerová, 15.06.1904, NA, Nachlass Josef Fischer. In einem der folgenden Briefe erwähnt Fischer noch die Vorträge Helene Langes und Clara Zetkins (O. Fischer an Hermine Fischerová, 22.06.1904, NA, Nachlass Josef Fischer). 66  Ein Beleg dafür, dass ihre Bekanntheit über die Grenzen Berlins hinausreichte, sind einige Briefe Rosas an Fischer aus den Jahren 1907–1911 (LA PNP, Nachlass O. Fischer). 67  Anna Fischerová an O. Fischer, s. d., LA PNP, Nachlass O. Fischer. Mit Anna Schapire teilte Fischers Schwester die germanistischen Interessen (1909 gab sie in Buchform eine Monografie zum Werk Friedrich Hebbels heraus). Wahrscheinlich sahen sich beide auch regelmäßig in einer der für sie zugänglichen universitären Lehrveranstaltungen.

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Nachrichten erhalten geblieben, mit denen Neurath Fischer in seinen Berliner Monaten kontaktierte.68 Während des Kongresses machte Fischer jedoch noch eine weitere neue Bekanntschaft. So fragt Anna ihn im Laufe des Junis aus: Tak co dělá kongres? Jakpak se jmenuje Tvá zbožňovaná, a o čem mluvila? Hledaly jsme ji v referátech, ale nic jsme nenalezly […] Jak se Ti líbila přednáška slč. Wiedermannové? […] To je zajímavá metamorfóza, že se z Tebe stal ‚Frauenrechtler‘. / Co čteš nefilologického? Nevíš něco o Lou Salomé? Napiš mi něco o ní, – nevím, proč mě tolik zajímá. [Was macht der Kongress? Wie heißt denn Deine Angebetete, und worüber hat sie gesprochen? Wir haben sie in den Referaten gesucht, aber nichts gefunden […] Wie hat Dir der Vortrag von Frl. Wiedermann gefallen? […] Das ist ja eine interessante ­Metamorphose, dass aus Dir ein ‚Frauenrechtler‘ geworden ist. / Was liest Du an Nichtphilologischem? Weißt Du etwas über Lou Salomé? Schreib mir was über sie, – ich weiß nicht, warum sie mich so interessiert.]69

Jene „Angebetete“ war Eugenie Schwarzwald (vgl. Holmes 2012). Am 16. Juni 1904 trat sie die Rückreise nach Wien an, wo sie ein Mädchenlyzeum leitete. An Fischer schreibt sie: „Sehr geehrter Herr, lange hat mich nichts so gefreut als Ihre Güte, die meine letzte Erinnerung an Berlin ist, da ich in einer Stunde abreise“. Anbei übermittelte sie ihm ihre Wiener Adresse.70 Einen Tag zuvor hatte Fischer seiner Mutter über sie berichtet als über „eine temperamentvolle Wienerin, die sich als alte Züricher Studentin vorstellte und mit entzückend naiver Freudigkeit erklärte, sie erwarte von der Koedukation alles Heil der Welt“.71 Anna ermahnt den Bruder: Buď rád, že jsi v Berlíně! Nevím, jak se vpravíš do české kultury. A přitom jsou na ni zdejší lidé tak hrdi […] Nejmenuje se Tvá Frau Direktor ,Schwarzwald‘? O  té mně Helenka vyprávěla. Odpusť, jsem-li indiskrétní, ale konečně psals o té lásce na korespondenčním lístku a to mě k tomu opravňuje.

68  Diesem Kreis nachweislich zugeneigt war auch Max Wischnitzer aus dem galizischen Rowna, der später ein bedeutender Historiker des Judentums werden sollte. B. Herschmann gratulierte Fischer 1905 zur Promotion; „Schlücksbier psal o prázdninách, že nastoupí supplentum, kde, že neví. Maxa se mi ztratil. / Mluvil jste s Koblerem? Je teď asi ve Vídni se svojí rodinou a skládá nesčetné státnice a rigoróza. Wischnitzer hodlá složiti zkoušku na konci zimy.“ [Schlücksbier schrieb in den Ferien, dass er das Supplentum antritt, wo, weiß er nicht. Maxa habe ich aus den Augen verloren. Haben Sie mit Kobler gesprochen? Er ist jetzt wahrscheinlich mit seiner Familie in Wien und legt unzählige S­ taatsprüfungen und Rigorosa ab. Wischnitzer will die Prüfung zum Winterende ablegen.] (Friedrich Herschmann an O. Fischer, s. d., LA PNP, Nachlass O. Fischer). 69  Anna Fischerová an O. Fischer, s. d., LA PNP, Nachlass O. Fischer. 70 Anna Fischerová an O. Fischer, s. d., LA PNP, Nachlass O. Fischer. 71  O. Fischer an Hermine Fischerová, 15.06.1904, NA, Nachlass Josef Fischer.

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Michal Topor [Sei froh, dass Du in Berlin bist! Ich weiß nicht, wie du Dich in die tschechische Kultur fügen wirst. Und dabei sind die hiesigen Menschen so stolz auf sie […] Heißt Deine Frau Direktor nicht ,Schwarzwald‘? Von der hat mir Helenka erzählt. Verzeih, wenn ich indiskret bin, aber schließlich hast Du auf der Postkarte über diese Liebe geschrieben und das berechtigt mich dazu.]72

Einige Tage darauf kommt Fischer noch einmal ausführlicher auf den Frauenkongress zurück, so schreibt er z. B. der Mutter: „Vom Frauenkongress bracht [sic!] ich das Bewusstsein mit, dass das andere Geschlecht nicht schlechter ist als die Durchschnittsmänner, dass sie ihnen vieles abgeguckt haben, sehr eingebildet und sehr phrasenhaft sind, zum Schluss jedes Referates begann der Rednerin die Stimme zu zittern und es begann ein Traum von Zukunftsglück, ein Ellen Key-artiges seliges Hinschmelzen in den Visionen der schönen Möglichkeiten“.

Im selben Brief teilt er mit: Gestern war ich bei der Germanistenkneipe […] Erich nicht anwesend, dafür R ­ ichard Moses [offenbar = R. M. Meyer, MT], Professor Weissenfels und Pniower, etwa 8 Doktoren und 4 Kollegen. Was wollte der Zufall? Ich kam zu sitzen neben einen H. Dr. Jacobs, der vor 5 Jahren (er ist ein Dreissiger) eine Arbeit veröffentlicht hatte über Gerstenbergs Ugolino, da kam bald ein animiertes wissensch. Gespräch in Fluss, ich versprach ihm ein Exemplar zu senden, vielleicht rezensiert ers.73

Eine Woche später berichtet er: Tags darauf war ich in einer wiederum exotischen Gesellschaft bei Meyer, Frau Estella war verreist, der Professor empfing uns im Garten, gespeist wurde in einem kleinen Saal neben der Veranda, besondere Bewunderung erregte ein altdeutsches Zimmerchen. Es  waren von Herren anwesend u. a. ein Brüsseler, ein Amerikaner, ein italienischer Doktor, ein Basler Jurist, ein Sohn eines hiesigen Universitätsprofessors, mit diesen letzten drei bin ich nachher noch im Kafé gewesen. Meyer erkundigte sich wiederholt und angelegentlich nach Anni, ihrem Studium, und nach Sauer […]. Da waren grosse Männer erschienen, natürlich Erich Schmidt, sehr liebenswürdig, leichtverständliche Anekdoten von Reisen und Literaturgeschichte erzählend, dann der Musik… Dozent Friedländer, dann einer, den du dem Namen nach als Berliner Referenten des Prager Tagblatt kennst, nämlich Kunstund Literaturhistoriker Dr. Max Osborn, natürlich auch wieder Professor Weissenfels, dessen Leben interessanter zu sein scheint als sein Gesicht (für Anni: einmal war auch 72  Anna Fischerová an O. Fischer, 19.06.1904, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 73  O. Fischer an Hermine Fischerová, 22.06.1904, NA, Nachlass Josef Fischer. M. Jacobs hatte 1898 in Buchform eine Arbeit mit dem Titel Gerstenbergs Ugolino, ein Vorläufer des Geniedramas herausgegeben. Vgl. auch: „Sehr geehrter Herr! / Bei der Rückkehr von einer kleinen Reise an die See finde ich Ihre liebenswürdige Sendung vor. Nehmen Sie meinen herzlichsten Dank dafür! Ich hoffe, bald Zeit zum Studium wie Gelegenheit zu einem Gerstenberg-Colloquium mit Ihnen zu finden“ (Monty Jacobs an O. Fischer, 29.06.1904, LA PNP, Nachlass O. Fischer).

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Dr. Pniower da, der Goetheforscher; leider nicht Dr. [Max] Morris, der von abschreckender Hässlichkeit und der allerinteressanteste Mensch sein soll). Es war sehr lustig, die 3 Semiten Meyer, Friedländer74 (der einzige Sympathische, früher Konzertsänger), Osborn machten in Literatur, einige Kollegen gestanden mir, sie fühlen sich zwischen so vielen Feuern recht ungemütlich […]. Nachhause ging dann um Mitternacht ein Trupp von 6 Philologen durch den Tiergarten nach dem Moabit, und mit einem köstlichen Menschen blieb ich längere Zeit noch auf.75

Mitte Juli 1904 bilanziert Fischer seine verbleibenden Aufgaben 1.) Turteltauben in mittelalterlichen Folianten zu jagen, 2.) der Geschichte des Harlekin nachzugehn. Meinen Kellervortrag hab ich nicht beendet, er ging bis jetzt, glaub ich, sehr glänzend vonstatten, die Hauptsache erst am nächsten Mittwoch (ich sprach blos 20 Minuten, hübsche philologische Spielereien).76

Widerwillig blickt er (in einem Brief an seinen Bruder) auf die Welt, in die er bald zurückkehren sollte, um gleich darauf die verschlungenen Pfade einer sonntäglichen Wanderung durch die Berliner Umgebung ­heraufzubeschwören: To vím: až přijdu do vlasti, buď se budu musit stranit všech veřejných žvastů, zvláště realistickoslavistických, anebo se s našimi výtečníky dostanu v politováníhodný konflikt. V neděli se nám vedlo nadmíru znamenitě, či abych mluvil se svým společníkem na výletě, báječně. Maxu mám ze všech berlínských známých nejradši. Viděli jsme celý Potsdam, Sanssouci, tři zámky, mauzoleum císaře Friedricha, parky, trasy, vodotrysky, modré nebe, jeli jsme do Wannsee, tam jsem navštívil Kleistův hrob, líbily se nám par distance dvě slečinky, uřízli jsme několik dlouhých rákosů, dělali píšťalky, šermovali, kopím házeli, šli bez cíle asi půl třetí hodiny, přišli jsme do Nieder-Babelsberge, na venkovský hřbitov, k nějakému ostrovu, k nějaké rozhledně, k jezeru, a podivným způsobem zpět do Wannsee, kde na nás čekalo při západu slunce pohádkové osvětlení na obloze nad vodou, jaké mohou viděti jenom nedělní děti, když je jim jednadvacet let. / Vyřiďte slečně Šnajdrové, že se do ní napřesrok zamiluji. [Eines weiß ich: Wenn ich in die Heimat zurückkehre, werde ich entweder alles ­öffentliche Geschwätz, insbesondere das realistisch-slawistische, meiden müssen oder ich gerate mit unseren Kapazitäten in einen bedauerlichen Konflikt. Am Sonntag ging es uns ganz ­hervorragend, oder  –  um mit meinem Ausflugspartner zu sprechen  –  fabelhaft. Maxa habe ich von allen Berliner Bekannten am liebsten. Wir haben ganz Potsdam gesehen,

74  Für Friedländer war Fischer evtl. auch als Autor einer Gerstenberg-Studie (Fischer 1904b) interessant, die im Februar 1904 in Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft gedruckt worden war. 75  O. Fischer an Hermine Fischerová, 30.06.1904, NA, Nachlass Josef Fischer. 76  O. Fischer an Hermine Fischerová, 15.07.1904, NA, Nachlass Josef Fischer. Kurz darauf teilt er mit: „Heute als am Sonntag will ich mit einigen Herren bei Meyer Verdauungsvisite machen […] Abend [sic!] geh ich vielleicht zu Schapires, dann, weniger leicht, zu einer böhmischen Husfeier“ (O. Fischer an Hermine Fischerová, 03.07.1904, NA, Nachlass Josef Fischer.).

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Michal Topor S­ anssouci, drei Schlösser, das Mausoleum Kaiser Friedrichs, Parks, Wege, Springbrunnen, blauen Himmel, wir sind nach Wannsee gefahren, dort habe ich Kleists Grab besucht, par distance gefielen uns zwei Fräuleins, wir haben ein paar lange Schilfrohre geschnitten, daraus Pfeifen gemacht, gefochten, Lanzen geworfen, gingen ca. zweieinhalb Stunden ziellos umher, kamen nach Nieder-Babelsberg, auf einen Dorffriedhof, zu irgendeiner Insel, zu irgendeinem Aussichtsturm, zu einem See, und auf seltsame Weise zurück nach Wannsee, wo uns bei Sonnenuntergang eine märchenhafte Beleuchtung am Himmel über dem Wasser erwartete, wie nur Sonntagskinder sie sehen können, wenn sie ­einundzwanzig Jahre alt sind. / Richten Sie Fräulein Šnajdrová aus, dass ich mich nächstes Jahr in sie verliebe.]77

Er besuchte das Kleine Theater, wo gerade Max Dreyers Liebesträume gespielt wurden: Nach dem Theater tranken wir ein wenig mit Ehepaar Kobler,78 schickten sie nachhause und gingen spazieren, so daß dem lieben Herrn Maxa der letzte Zug (um Mitternacht) vor der Nase wegfuhr, so fuhren wir denn zum Görlitzer Bahnhof und da dort noch 40 Minuten Zeit war, machten wir es uns gemütlich und standen von einer ­philosophischen Alkoholdebatte […] erst auf, als alle Lichter am Bahnhof gelöscht waren.79

Er besuchte die Ausstellungssäle der Berliner Secession: [V]erliebt hab ich mich 1.) in eine herrliche elegant gekleidete Frauengestalt (‚Venus‘ von dem Engländer Lavery), 2.) in Brandenburgs ‚Sommertag‘, wo auf die Leinwand ein rauschender Baum hingehaucht ist; in den Wipfeln sitzen Engel und Amoretten und ­werden von einem Mädchen gejagt, 3) in die ‚Eichen‘, ich weiss nicht von wem, deren Farbenpracht und verschlungene Linien alle bösen Gedanken aus dem Kopf treiben, 4.) in Ferdinand Hodlers ‚Waldlied‘, wo der Titel mit zum schönsten gehört.80

Ende Juli schreibt Fischer an die Mutter: „Der Doktor Consentius wird mein Buch wohl ziemlich ungünstig besprechen, er ist ein sehr gescheiter und 77  O. Fischer an Josef Fischer, 16.07.1904, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 78  Kobler hatte sich im Frühjahr 1904 mit seiner späteren Gattin Dora Feigenbaum verlobt. „Gestern abend war ich bei Herrn und Frau Kobler: letzter ist ganz gekränkt von Anni auf 2 Karten keine Antwort erhalten zu haben (Dr. Dora Feigenbaum, N., Krausnickstrasse 23!!)“, schreibt Fischer Mitte Juli 1904 nach Hause (O. Fischer an Hermine Fischerová, 15.07.1904, NA, Nachlass Josef Fischer). Kobler studierte bis zum Frühjahr 1905 in ­Berlin, danach siedelte er nach Wien über. Fischers Berliner Begegnung mit Kobler begründete eine Freundschaft, die de facto bis zu seinem Tod währte. Ein Beleg dieser Freundschaft ist unter anderem eine Sammlung von Briefen Koblers in Fischers Nachlass (LA PNP, Nachlass O. Fischer). 79  O. Fischer an Hermine Fischerová, 18.07.1904, NA, Nachlass Josef Fischer. 80  O. Fischer an Hermine Fischerová, 25.07.1904, NA, Nachlass Josef Fischer. Sowohl Martin Brandenburgs Sommertag als auch Ferdinand Hodlers Waldlied sind im Katalog der neunten Kunstausstellung der Berliner Secession als Reproduktionen abgedruckt (Berlin, Paul Cassirer Kunst-Verlag 1904), Strathmanns Eichen und John Laverys Venus hingegen nicht.

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pedantischer Herr, scheint mich ganz gern zu haben“.81 Ernst Consentius rezensierte Fischers Gerstenberg-Monografie tatsächlich (Consentius 1904). In einem auf den 1. August datierten Gedicht mit dem Titel Berlin widmet Fischer der Stadt schließlich einen beklommenen lyrischen „Abschiedgruss / Bevor zurück nach meiner stillen, trauten / Heimat ich wandern muss“.82 Kurz darauf reist er nach Prag zurück. Am 23. August 1904 sendet ­Schlücksbier ihm eine Ansichtskarte (nach Nové Město nad Metují, er selbst schreibt aus Libochovice): Můj milý, prosím Tě, odpusť mi; víš, stihla mne prázdninová lenora. Po  Berlíně se mi dosud nestýská, žiju blaze a bez filologie. Maxa je se sestrou na Šumavě, takto se mu píše do Manetína. Co robíš tam u Vás? Poručení slečně! Tebe líbá Tvůj až do hrobu zeleného / L. Schlücksbier. [Mein Lieber, ich bitte Dich, verzeih mir; weißt du, mich hat die Ferienfaulheit erwischt. Nach Berlin habe ich bislang keine Sehnsucht, ich lebe selig und ohne Philologie. Maxa ist mit der Schwester im Böhmerwald, man muss ihm also nach Manetín schreiben. Was machst Du dort bei Euch? Empfehlung an das Fräulein! Es küsst Dich der Deine bis ans grüne Grab / L. Schlücksbier.]83

Fischer hatte in Prag den Ruf eines Berlin-Kenners inne und konnte seinen Nachfolgern hier tatsächlich den Weg ebnen. So schreibt ihm z. B. Jaroslav Novák (den er von seinen Prager Studien her kannte) am 23. August 1904 aus Olomouc: Přijměte srdečné díky za zprávy. Učiním dle Vaší rady. Přijedu do Prahy a tam ještě si o té dobývačné cestě promluvíme. […] Vy mne ještě děláte více zvědavým na Berlín. Těším se na nové věci. [Seien Sie herzlich bedankt für die Nachrichten. Ich werde Ihren Rat befolgen. Ich komme nach Prag, dort können wir noch über diese Eroberungsreise sprechen. […] Sie machen mich immer gespannter auf Berlin. Ich freue mich auf Neues.]84 81  O. Fischer an Hermine Fischerová, 28.07.1904, NA, Nachlass Josef Fischer. 82  LA PNP, Nachlass O. Fischer, rukopisy vlastní, literární začátky německé ­[eigene Manuskripte, literarische Anfänge in deutscher Sprache]. Ein Leser von Fischers ­ deutschen Gedichten war nachweislich der in Kolín geborene Leo Bondy (Lev Borský). Anfang Februar 1904 übermittelte er dem in Berlin weilenden Fischer seinen Dank für die „[…] Zvláště mě zajímaly verše. Chtěl jste prchnouti ‚aus dem traurigen Lande‘ jinam, kde slunce svítí, kde radost sídlí. Podařilo se Vám to?“ [Zusendung dieser einigen wenigen Blätter mit Ihren Gedanken […] Besonders interessiert haben mich die Verse. Sie wollten fliehen ‚aus dem traurigen Lande‘ anderswohin, wo die Sonne scheint und die Freude wohnt. Ist Ihnen dies gelungen?“ (Leo Bondy an O. Fischer, 03.02.1904, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 83  Ladislav Schlücksbier an O. Fischer, 23.08.1904, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 84  Jaroslav Novák an O. Fischer, 23.08.1904, LA PNP, Nachlass O. Fischer.

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Im Oktober desselben Jahres schreibt Novák bereits aus Berlin an Fischer: První dojem z města mne velice zklamal, nemohl jsem nijak pochopit, jak jste se mohli pro tohle město tak nadchnout. Hluk a řev ulic mne v tom utvrzoval. Když jsem ale poznal vnitřní život, každým dnem více, tu jsem se stal stále smířlivějším, nyní jsem spokojen. P. Diels Vám vzkazuje srdečný pozdrav. [Der erste Eindruck von der Stadt hat mich sehr enttäuscht,85 ich konnte überhaupt nicht verstehen, wie Sie sich für diese Stadt so begeistern konnten. Der Lärm und das Geschrei der Straßen haben mich darin bestärkt. Als ich aber das innere Leben erkannte, mit jedem Tag mehr, da wurde ich immer versöhnlicher, jetzt bin ich zufrieden. P. Diels lässt Sie herzlich grüßen.]86

Weiter berichtet er: P. Diels mne zasvětil již do všech tajů germ. semináře, je to velice milý člověk. Děkuji Vám, že jste mne na něho upozornil. [P. Diels hat mich schon in alle Geheimnisse des germ. Seminars eingeweiht, er ist ein sehr lieber Mensch. Ich danke Ihnen, dass Sie mich auf ihn aufmerksam gemacht haben.]87 Diels Vám vzkazuje pozdrav. Stojím s  ním ve velmi srdečném poměru. U  Schmidta a Roethe jsem si už odbyl svoje věci, včera jsem odevzdal seminárku svoji u Roethe. Nového nic zvláštního: Ellen Key čte a chodí k ní všechny slečny nosící sukně na kšandách a též několik lidí mužského rodu a též generis utriusque [obojí rodu, MT]. Pěkně přednáší, ale ač už stříbrní, přece je ještě mladistvá koketa. [Diels lässt Sie grüßen. Ich stehe mit ihm in einem sehr herzlichen Verhältnis. Bei Schmidt und Roethe habe ich meine Sachen schon hinter mich gebracht, gestern habe ich meine 85  Vgl.: „Když jsem přijel sem, tu se Berolina ošklivě mračila a večer se dala dokonce do brekotu nad svojí vadnoucí krásou podzimní. První dojmy byly pro mne zdrcující. Podle Vaší horoucí chvály Berlína a fotografií jsem si představoval Berlin jako ráj umění a masu krásných budov a krásných ulic. Ale jak víte, Berlin vypadá při polomlze příšerně, k tomu únava z cesty; tak jsem se zlobil na Berlin, že mne oklamal, Vás jsem litoval, že se Vám mohla tahle šedá hromada kamení, řvoucí a hučící elektrickou a automobily vůbec líbit, a na sebe jsem se mrzel, že jsem sem vůbec jel. To byl zase můj ‚kurzimpres‘ […]“ [Als ich hier ankam, schaute Berolina hässlich finster drein, am Abend begann sie ob ihrer welkenden herbstlichen Schönheit sogar zu weinen. Die ersten Eindrücke waren ­niederschmetternd. Nach Ihrem glühenden Lob Berlins und nach den Fotografien hatte ich mir die Stadt als ein Paradies der Künste voller schöner Gebäude und Straßen vorgestellt. Doch wie Sie wissen, sieht Berlin im Halbnebel gespenstisch aus, hinzu kam die Müdigkeit von der Fahrt; und so ärgerte ich mich über Berlin, weil es mich getäuscht hatte, Sie ­bemitleidete ich, dass Ihnen dieser von Automobilen und von der Elektrischen kreischende und dröhnende graue Steinhaufen gefallen konnte, und mir nahm ich übel, dass ich hergekommen war. Soweit meine kurzen Impressionen […]]. Jaroslav Novák an O. Fischer, 14.11.1904, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 86 Jaroslav Novák an O. Fischer, 23.10.1904, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 87  Jaroslav Novák an O. Fischer, 10.11.1904, LA PNP, Nachlass O. Fischer.

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Seminararbeit bei Roethe abgegeben. An Neuem gibt es nichts Besonderes: Ellen Key liest und es gehen zu ihr alle Fräuleins, die Röcke an Hosenträgern tragen, und auch einige Menschen männlichen Geschlechts sowie generis utriusque [beiderlei Geschlechts, MT]. Sie trägt gut vor und ist – wenngleich schon grau – noch jugendlich kokett.]88

Novák pflegte in Berlin unter anderem ausgiebig Kontakt zu dem Germanisten Ladislav Drůbek: Krajany tu znám studující ještě tři; jeden stud. agric. bydlí se mnou, druhého znáte kg. Drůbek a třetí je také filozof, studující obzvlášť psychologii, jmenuje se Hoppe. S Drůbkem se mnoho stýkám. [Ich kenne noch drei Landsleute, die hier studieren; ein stud. agric. wohnt mit mir zusammen, den Zweiten, Koll. Drůbek, kennen Sie, und der Dritte, auch ein Philosoph, der insbesondere Psychologie studiert, heißt Hoppe. Mit Drůbek treffe ich mich oft]89,

teilt er Fischer am 10. November 1904 mit. Übrigens informierte auch Drůbek Fischer über seinen Berliner Lebenswandel: „Milý p. kolego! / Děkuji Vám ještě jednou odtud za všecky informace a praktické pokyny, které jste mi laskavě dal a které se mi tu velmi osvědčily.“ [Lieber Hr. Kollege! / Ich ­danke Ihnen noch einmal von hier aus für alle Informationen und praktischen Hinweise, die Sie mir freundlicherweise gegeben und die sich hier für mich sehr bewährt haben.]90 Drůbek blieb bis 1905 in Berlin. Im Mai des genannten Jahres schreibt er Fischer z. B.: Na univerzitě jsou některá výborná čísla – Dilthey začal svůj systém fil., Simmel ­sociologii, Wilam. antickou komedii, Schmidt poetiku  atd. U  Schmidta je v  semináři Goethe  – Klopstock, interpretace lyrických básní. [An der Universität gibt es einige ausgezeichnete Veranstaltungen – Dilthey hat mit seinem System der Phil. begonnen, Simmel mit Soziologie, Wilam. mit der antiken Komödie, Schmidt mit Poetik etc. In Schmidts Seminar haben wir Goethe – Klopstock, Interpretation lyrischer Gedichte.]91

Fischers Empfehlungen befolgte in Berlin auch sein Cousin Richard Turnau, der im Herbst 1905 als Chemiker herkam.92 Am 24. Oktober 1905 berichtet Turnau dankbar von seiner Begeisterung über die erste Vorlesung, die 88   Jaroslav Novák an O. Fischer, 24.02.1905, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 89  Jaroslav Novák an O. Fischer, 10.11.1904, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 90  Ladislav Drůbek an O. Fischer, 16.02.1904, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 91  Ladislav Drůbek an O. Fischer, 06.05.1905, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 92  Vgl.: „Vypravoval mi kol. Ascher v laboratoři, že tu studuje Váš bratranec Dr. Turnau, a ­slíbil, že mne s  ním seznámí“ [Koll. Ascher hat mir im Laboratorium erzählt, dass Ihr Cousin Dr. Turnau hier studiert, und er versprach mir, mich mit ihm bekannt zu machen]. Bedřich Herschmann an O. Fischer, s. d., 1905, LA PNP, Nachlass O. Fischer.

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er in Berlin gehört habe: Schmidts „Goethe-und-Schiller“-Collegien. – Am liebsten hätte er sich in diese Vorlesung eingeschrieben, doch leider sei er kein Philologe.93 1905 publizierte Fischer in der Zeitschrift Studentský almanach den Text Vzpomínka na  Berlín [Erinnerung an Berlin]. Darin schildert er Roethe als eine problematische Figur (einen sozialen und nationalen Dogmatiker), ­nichtsdestotrotz aber als mitreißend und zum Widerstand zwingend: „Po jeho přednášce však počne krev prouditi divějším tryskem, jako by tělo bylo bývalo bičováno ledovou sprchou.“ [(N)ach seiner Vorlesung beginnt jedoch das Blut in wilderem Galopp zu strömen, als wäre der Körper von einer eiskalten Dusche gepeitscht worden] (Fischer 1905a: 43).94 Erich Schmidt wird von Fischer als bezaubernder Gastgeber und Erzähler beschrieben (Fi93  Richard Turnau an O. Fischer, 24.10.1905, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 94  In einem Nekrolog von 1926 konstatiert Fischer unumwunden: „Pedagogický význam ­Roethův byl úzce spjat s jeho šovinismem [...] předmět horoucí lásky nalézal v ­humanistech, s nimiž se cítil spřízněn svým názorem na aristokratickou exkluzivnost učeneckého stavu a svým ‚späthumanistischer Nationalstolz‘“. [Vedle E. Schmidta představoval Roethe, pozn. MT] ­„typus odlišný, ne co do východiska zkoumání, ale co do badatelského habitu a nazírání. Proti myšlenkové eleganci – vyzývavost. Proti toleranci – urputnost. Proti světaznalé hladkosti obratného a liberálního uomo universale – hranatost a buršikóznost. Skočit na pódium s invektivou proti egalitářství a humanitářství […] takové byly alury, taková ­gesta ­temperamentního muže, jenž si zakládal na poznatcích o hierarchii a ­diferencovanosti ­lidské společnosti a jehož dráždivý zjev je tak příznačný pro psychologii učeného ­Německa. Se stejnou neústupností hájil filologického základu své disciplíny a brojil proti těm, kdož do ní vnášeli jinou orientaci“. [Roethes pädagogische Bedeutung war eng mit seinem Chauvinismus verknüpft […] den Gegenstand seiner innigen Liebe fand er in den Humanisten, mit denen er sich in ­seiner Meinung zur aristokratischen Exklusivität des Gelehrtenstandes und in seinem ‚späthumanistische[n] Nationalstolz‘ verwandt fühlte“. [Im Unterschied zu E. Schmidt, Anm. MT] verkörperte Roethe für Fischer einen „anderen Typus, nicht bezüglich des Ausgangspunkts seiner Forschung, sondern bezüglich des wissenschaftlichen Habitus und der w ­ issenschaftlichen Anschauung. Gegen gedankliche Eleganz stand hier Provokation. ­Gegen Toleranz – Starrköpfigkeit. Gegen die weltgewandte Glattheit des wendigen und ­liberalen uomo ­universale – Kantigkeit und Burschikosität. Auf das Podium zu springen mit einer I­nvektive gegen Egalitarismus und Humanitarismus […] dies waren die Allüren, dies die Gesten des temperamentvollen Mannes, der große Stücke hielt auf die ­Erkenntnisse über Hierarchie und Differenziertheit der menschlichen Gesellschaft und dessen aufreizende Erscheinung so bezeichnend ist für die Psychologie des ­gelehrten Deutschland. Mit derselben Unnachgiebigkeit verteidigte er das philologische ­Fundament seiner Disziplin und ereiferte sich gegen jene, die eine andere Orientierung in diese hineintrugen”] (Fischer 1926: 82f.). 1934 charakterisierte Fischer Roethe kurz im Rahmen einer Reihe von Scherer-Schülern – als einen „ostpreußischen bürgerlichen Junker, Lobredner Bismarcks“ (Fischer 1933/1934: 144).

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scher 1905a: 42). Eine nuanciertere Charakteristik seines Verhältnisses zu Schmidt findet sich in dem 1913 entstandenen Text In memoriam. Hier erinnert er sich an Schmidts konsolidovanou, světlou povahu, […] jeho klidné, nikterak ne násilnické, ani ne zbytečně zdůrazňované němectví s  nádechem kosmopolitismu, jako jeho důstojný postoj ve výšinách života. Tak jsem ho poznal před devíti roky, okouzlujícího, krásného muže, jenž bezprostředně před tím slavil padesáté narozeniny a mluvíval s roztomilou ironií o svém ‚zeleném mládí‘, ale již s rezignací a s bolestným porozuměním rozbíral Goethovu novelu Der Mann von fünfzig Jahren. [konsolidiertes, lichtes Wesen […] sein ruhiges, in keiner Weise gewaltsames oder überbetontes, eher kosmopolitisch angehauchtes Deutschtum wie auch seine würdevolle Haltung auf der Höhe des Lebens. So habe ich ihn vor neun Jahren kennengelernt, einen bezaubernden, schönen Mann, der unmittelbar zuvor seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte und mit liebenswerter Ironie von seiner ‚grünen Jugend‘ sprach, doch bereits mit Resignation und schmerzvollem Verständnis Goethes Novelle Der Mann von fünfzig Jahren analysierte.]

„[W]ir empfanden für ihn Liebe und Achtung“, konstatiert Fischer, analysiert jedoch daraufhin (rückblickend) den problematischen Ort ihrer damaligen Beziehung: kladu si otázku: nesužovaly nás tenkrát ony pocity obdivu a oddanosti? Byli jsme vyznavači radostnými? / Naše radost byla tlumena především národnostní depresí, která se zmocňuje tak mnohého, kdo poprvé je z našich užších a stísněnějších poměrů přesazen do hlučného, bezohledného berlínského života. […] my jsme instinktivně trpěli tak ucelenou a harmonickou osobností, jako byl Erich Schmidt, my jsme záviděli těm, kdo bez starosti o národnostní a filozofické problémy, bez otázek po tzv. ‚smyslu života‘ – ať národního či osobního – mají dosti odbornického klidu, aby se uzavřeli ve svou speciální vědu. [(I)ch frage mich: Quälten sie uns damals nicht, jene Gefühle der Bewunderung und Ergebenheit? Waren wir fröhliche Anhänger? / Unsere Freude wurde vor allem von der nationalen Depression gedämpft, welche sich so vieler bemächtigt, die erstmals aus unseren engeren und beklommeneren Verhältnissen in das laute, rücksichtslose Berliner Leben verpflanzt wurden. […] wir litten instinktiv unter einer so runden und ­harmonischen Persönlichkeit, wie Erich Schmidt es war, wir beneideten jene, die ohne Sorgen über nationale und philosophische Probleme, ohne Fragen nach dem sog. ‚Sinn des Lebens‘ – sei es ein nationaler oder persönlicher – genug fachmännische Ruhe hatten, sich in ihr Spezialgebiet zurückzuziehen.] (Fischer 1913a)

(Übersetzt von Ilka Giertz)

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Archivquellen A UK: Archiv Univerzity Karlovy [Archiv der Karls-Universität], Prag. A HU: Archiv der Humboldt-Universität, Berlin. LA PNP: Literární archiv Památníku národního písemnictví [Literaturarchiv des Museums für nationales Schrifttum], Prag, Nachlass Otokar Fischer u. a. NA: Národní archiv [Nationalarchiv], Prag, Nachlass Josef Fischer.

Literatur Consentius, Ernst (1904): H. W. v. Gerstenbergs Rezensionen in der Hamburgischen Neuen Zeitung 1767–1771. Herausgegeben von O. Fischer. – In: Deutsche Literaturzeitung 25, 42, (22.10.), 2549-2551. Fischer, Otokar (1903a): Gerstenberg als Rezensent der Hamburgischen Neuen Zeitung 1767–1771. – In: Euphorion 10, 1/2 (Juli 1903), 56-76. Fischer, Otokar (1903b): Tři berlínské premiéry [Drei Berliner Premieren]. – In: Naše doba [Unser Zeitalter] 11, Nr. 3 (20.12.), 236-238. Fischer, Otokar (1904a): H. W. v. Gerstenbergs Rezensionen in der Hamburgischen Neuen Zeitung 1767–1771. Berlin: Behr. Fischer, Otokar (1904b): Zum musikalischen Standpunkt des nordischen Dichterkreises. – In: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 5, Nr. 2 (01.02.), 245-252. Fischer, Otokar (1905a): Vzpomínka na Berlín [Erinnerung an Berlin]. – In: Studentský almanach 1, Bd. 2. Praha, Pořadatelstvo všestudentské slavnosti, Mai 1905, 41-46. Fischer, Otokar (1905b): Don Juan und Leontius. – In: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte 5, 226-242. Fischer, Otokar (1906): Die sogenannten ‚Ratschläge für Liebende‘. – In: Zeitschrift für deutsches Altertum 48, H. 3-4, 421-425. Fischer, Otokar (1913a): In memoriam. – In: Národní listy [Nationale Blätter] 53, Nr. 137 (21.05.), 1. Fischer, Otokar (1913b): Prvý kongres pro estetiku a všeobecnou vědu o umění [Der erste Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft]. – In: Volné směry [Freie Richtungen] 18, Nr. 2 (Dezember 1913), 93f. Fischer, Otokar (1914): Über den Anteil der künstlerischen Instinkte an literaturhistorischer Forschung. – In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 9, Nr. 1 (Januar), 96-108.

Otokar Fischer in Berlin (1903/1904)

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Fischer, Otokar (1926): Nekrology germanistické I [Germanistische Nekrologe I]. – In: Časopis pro moderní filologii a literatury [Zeitschrift für moderne Philologie und Literaturen] 13, Nr. 1 (Dezember 1926), 77-83. Fischer, Otokar (1933/34): Nové směry v  literární vědě [Neue Richtungen in der Literaturwissenschaft]. – In: Časopis pro moderní filologii [Zeitschrift für moderne Philologie] 20, Nr. 1, 40-53; Nr. 2, 139-152; Nr. 3/4, 283-293. Holmes, Deborah (2012): Langeweile ist Gift. Das Leben der Eugenie Schwarzwald. St. Pölten/Salzburg/Wien: Residenz Verlag. Judersleben, Jörg (2000): Philologie als Nationalpädagogik. Gustav Roethe zwischen Wissenschaft und Politik. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang. Nottscheid, Mirko/Müller, Hans-Harald (2011): „Ordnung“ und „Gesellschaft“ – Seminar und Kneipe. Neue Dokumente zur Topographie der Berliner Germanistik. – In: Brigitte Peters/Erhard Schütz (Hg.): 200 Jahre Berliner Universität. 200 Jahre Berliner Germanistik 1810–2010 (Teil III). Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang, 105-120. Ruprecht, Dorothea/Stackmann, Karl (2000): Regesten zum Briefwechsel zwischen Gustav Roethe und Edward Schröder. Zweiter Teilband. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schneider, Ferdinand Josef (1901): Jean Pauls Altersdichtung. Fibel und Komet. Ein Beitrag zur literaturhistorischen Würdigung des Dichters. Berlin: Behr. Schulze, Sabine (2009): Rosa. Eigenartig grün: Rosa Schapire und die Expressionisten. Ostfildern: Hatje Cantz. Simmel, Georg (1995): Die Großstädte und das Geistesleben. – In: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Band I (GA Bd. 7). Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 116-131. Topor, Michal (2015): Berlínské epizody. Příspěvek k dějinám filologie v Čechách a na Moravě. 1878–1914 [Berliner Episoden. Beitrag zur Geschichte der Philologie in Böhmen und Mähren]. Praha, Institut pro studium literatury. Wiedermannová, Zdenka (1904): Ze ženského kongresu berlínského [Vom Berliner Frauenkongress]. – In: Ženský obzor [Horizont der Frauen] 4, Nr. 9-10, 138f.

Michala Frank Barnová

In Wort und Bild: Otokar Fischer und Vlasta Vostřebalová1 Von gleichem „künstlerischem Antrieb“ Den Literaten, Dramatiker und Übersetzer Otokar Fischer trifft die junge Zeichnerin und Malerin Vlasta Vostřebalová2 im Jahre 1921, als sie, von ihrem Interesse zur Literatur getrieben, dessen Vorlesungen an der Philosophischen Fakultät der Prager Karlsuniversität besucht. An die Vorlesungen des charismatischen Fischer erinnert im Gentleman, einer Revue für den modernen Mann der Ersten Tschechoslowakischen Republik, auch der Journalist Franta Kocourek: 1  Der Artikel basiert frei auf einer archivarischen Diplomarbeit über Vlasta Vostřebalová Fischerová (Barnová 2009) und geht ebenso von einem Katalogbeitrag zur Ausstellung Vlasta Vostřebalová Fischerová: Mezi sociálním uměním a magickým realismem [V.V.F.: Zwischen sozialer Kunst und magischem Realismus] aus (Pachmanová/Frank Barnová 2013). 2  Vlasta Vostřebalová Fischerová (1898–1963) war eine der ersten Künstlerinnen, denen die neugegründete Tschechoslowakei 1918 ein Studium an einer Kunsthochschule sowie einen Diplomabschluss ermöglichte, welcher Bedingung für die Mitgliedschaft in Künstlervereinigungen und für die regelmäßige Teilnahme an öffentlichen Ausstellungen war. Die Anfänge von Vostřebalovás professioneller Laufbahn stehen in Verbindung mit der Prager Akademie der Bildenden Künste in den Ateliers von Vojtěch Hynais und Jan Štursa, die ihre plastische Sicht der Wirklichkeit maßgeblich beeinflussten. Die Künstlerin entwickelte bald eine eigene künstlerische Sprache. In Tuscheporträts verwahrloster Frauen, Männer und schmutziger Kinder aus der Peripherie äußert sich nicht nur ein tiefes Eingenommensein für menschliche Psyche und menschliches Schicksal, sondern auch ein Sinn für das Groteske, wie es sich in der damaligen Strömung der deutschen Neuen Sachlichkeit äußerte. Ihr Werk wurde erstmals 1925 im Topič-Salon und zweimal im Laufe des Jahres 1934 in der Prager Stadtbibliothek ausgestellt. Obwohl der Anklang in der damaligen Presse im Durchschnitt positiv ausfiel, blieb die Originalität der Zeichnungen und magischen Ölmalereien in ihrer Andersartigkeit doch unverstanden. Es war definitiv der Zweite Weltkrieg, der ihre Arbeit unterbrach; erst nach ihrem Tod erinnerten retrospektive Ausstellungen im Laufe der 70er- und 80er-Jahre an Vostřebalovás Schaffen. Leider kam es wegen fehlender Monographien zu keiner komplexeren Bewertung ihres Werks, wodurch dieses einzigartige künstlerische Vermächtnis erneut auf weitere Jahre fast in Vergessenheit geriet.

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Michala Frank Barnová Vyznačuje se v  poměru k  posluchačům pozorností, která může i zmásti. To platí v  míře ještě zvýšené o poměru k  posluchačkám: Lze směle hovořit o náklonnosti, a to oboustranné […]. Jeden z  nejlepších našich překladatelů německých klasiků, význačný essayista, literární kritik a konečně také dramatik, je jako universitní profesor velmi sympatický: Vzácná erudice zvládnutá formou dobře ukutou a podávaná sugestivně. Lidská svěžest z něho umí zaproudit do škamen. [Im Verhältnis zu seinen Zuhörern zeichnet er sich durch eine Aufmerksamkeit aus, die auch verwirren kann. Das gilt in gesteigertem Maße für das Verhältnis zu seinen Zuhörerinnen: Getrost kann man von Zuneigung sprechen, und das beidseitig […]. Einer unserer besten Übersetzer deutscher Klassiker, bedeutender Essayist, Literaturkritiker und zuletzt auch Dramatiker, ist als Universitätsprofessor überaus sympathisch: Kostbare Gelehrsamkeit, beherrscht in einer gut geschmiedeten und suggestiv dargebotenen Form. Eine menschliche Frische vermag es, aus ihm heraus in die Bänke zu strömen.] (Kocourek 1926: 228f.)

Gleichermaßen war auch Vlasta Vostřebalová von Otokar Fischer verzaubert, und bereits im Frühjahr 1922 verwandelt sich ihre freundschaftliche Beziehung in eine Partnerschaft. „Miluju Vás, co mi odpovíte, ale rychle, hlava nehlava; za dobrou ránu mějte dík“ [Ich liebe Sie, was antworten Sie mir, schnell jetzt, Hals über Kopf; für einen guten Hieb sei Ihnen gedankt], schreibt Vlasta fiebrig Anfang Februar 1922 auf einen Zettel.3 „Můj milý, budu v pátek v 5 hodin na Vás čekat u mne. Ráda bych s Vámi promluvila. Nejste-li již v Praze, napište mi do Senohrab, přijela bych některý jiný den“ [Mein Lieber, am Freitag um 5 Uhr werde ich bei mir auf Sie warten. Gerne tauschte ich mich mit Ihnen aus. Sollten Sie noch nicht in Prag sein, schreiben Sie mir nach Senohraby, ich käme an einem anderen Tag]4, schrieb sie in einem der Folgemonate. Vlasta Vostřebalová stürzt sich kopfüber in die Beziehung mit Otokar, obwohl jener zumindest anfangs zurückhaltend bleibt angesichts der elfjährigen Ehe mit der Übersetzerin und Germanistin Blažena Baušová.5 Seinen 3  Brief vom 13.02.1922, Literarisches Archiv des Museums für tschechische Literatur (Fond Otokar Fischer, Vostřebalová-Fischerová Vlasta Fischerovi Otokaru, Briefe u. a. Materialien aus den Jahren 1922–1923, Inv.-Nr. LA 57/81/3650). Die Briefe Vlasta Vostřebalovás haben sich im Rahmen des Fonds Otokar Fischer erhalten, der im LA PNP Praha aufbewahrt wird. Otokar Fischers Antworten an Vlasta Vostřebalová sind leider nicht überliefert. Eine Auswahl der Briefe Vlasta Vostřebalovás an Otokar Fischer ist auch Bestandteil einer Monographie, die sich in Vorbereitung befindet. 4  Der Brief ist nicht näher datiert; infrage kommen März oder April 1922. LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, Vostřebalová-Fischerová Vlasta an Fischer Otokar, Briefe u. a. Materialien aus den Jahren 1922–1923, Inv.-Nr. 57/81/3666). 5  Ihre kinderlose Ehe wurde erst im November 1923 geschieden, in gegenseitigem Einvernehmen. Mit Blažena Baušová blieb Otokar Fischer auch über die Trennung hinaus

In Wort und Bild: Otokar Fischer und Vlasta Vostřebalová

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Schmerz drückte er damals seinem engen Freund Rudolf Pannwitz gegenüber aus: Über mein verworren verknotetes Innenleben, das jetzt einer äusserlichen Entwirrung entgegengeht, will ich wenigstens so viel andeuten: es ist sehr schmerzhaft, wenn ein aus Liebe geschlungenes Band in grösster Freundschaft – ja aus dem Gefühl dieser Freundschaft heraus – gelöst wird: eben die Überfülle von beiderseitiger, [drei]seitiger Rücksichtnahme, Schonung und Gutsein macht die in aller Stille und ganz innerlichst fliessenden Wunden doppelt, dreifach leidvoll. Sie mit ihrem intuitiven Blick, lieber Freund, wissen ja, was ich damit gesagt haben will. (Brief vom 17. Oktober 1922; Thirouin 2002: 140f.)

So kam es, dass Otokar Fischer zu Anfang auch quälende Gefühle der Vermessenheit durchlebte. „Tak byla mladičká. Tak z očí žhla. / Jak jsem ji v ústa zlíbal, zestárla“ [So jung war sie. Und glühte so sehr aus den Augen. / Als ich sie küsste auf den Mund, / vergreiste sie], offenbarte er im Gedicht Svatokrádce [Frevler] aus dem Jahre 1923 (Fischer 1926: 258). Vlasta Vostřebalová selbst distanziert sich durch die Beziehung zu Otokar von den konservativen Vorstellungen, die sich ihre Eltern über ihre Existenz gemacht hatten, und vollendet damit insbesondere ihre Wandlung hin zur unabhängigen, emanzipierten Frau und Künstlerin (vgl. Pachmanová/Frank Barnová 2013: 195-220). Mit der Bindung erfüllt sie zudem ihre Ideale von einer inspirierenden, intellektuell-schöpferischen Partnerschaft. Die Ergebenheit eigenen künstlerischen Welten gegenüber und leidenschaftliche Diskussionen über Literatur und Gesellschaft verbinden die beiden; es trennt sie streckenweise der deutliche Altersunterschied von fünfzehn Jahren. Milovník života a melancholik, vyznavač smyslů a duchovní aristokrat, snílek a skeptik, muž touhy a muž činu, adorující bolest jako vůdčí sílu vlastního života, přísný analytik nikdy neopomíjející celek, [Liebhaber des Lebens und Melancholiker, Anhänger der Sinne und Aristokrat des Geistes, Träumer und Skeptiker, ein Mann der Sehnsucht und ein Mann der Tat, der den Schmerz als führende Kraft des eigenen Lebens anbetete, ein strenger Analytiker, der nie das Ganze aus dem Auge verlor],

so beschrieb ihn die Bohemistin Nikola Homolová Richtrová (2011: 12) anhand von Fischers eigenen Auslegungen seiner bevorzugten Autoren Heinrich von Kleist, Friedrich Nietzsche und Heinrich Heine. freundschaftlich verbunden – bis zu seinem Tode im Jahre 1938. Dr. Otokar Fischer, 01.07.1925, Scheidungsklage – In: LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, Scheidungsverfahren zwischen Otokar Fischer und Vlasta Vostřebalová, Inv.-Nr. 57/81/0338). LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, Baušová-Fischerová-Bassová Blažena an Fischer Otokar, Briefe u. a. Materialien aus den Jahren 1922–1923, Inv.-Nr. 57/81/2859-2963).

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Zwar sind keine näheren6 Meinungen Vlasta Vostřebalovás zu Otokar Fischers reichem literarischen, dramatischen und übersetzerischen Schaffen bekannt, sie wusste aber zweifellos darum. Bei einer näheren Kenntnis der Persönlichkeit Fischers zeigt sich, was ihn mit Vostřebalová verband. In dieser einen Beziehung treffen sich zwei „umělci-vědci“ [Künstler-Wissenschaftler] von gleichem „uměleckého pudu“ [künstlerischen Antrieb] und gemeinsamer Anschauung vom künstlerischen Stoff, zu dem sie neben der rationalen Wahl durch ein persönliches, geradezu intimes Eingenommensein gelangen. Auch die „umělecká vis“ [künstlerische Kraft] einer gemeinsamen Mündung künstlerischer wie intellektueller Fähigkeiten des Individuums, zwischen denen es keine Grenze gebe (Fischer 1917: 11), steht damit in Verbindung. Otokar Fischer beschrieb sie u. a. im Essay Na rozhraní [Am Scheidepunkt]: Umělecké pudy literárního badatele mívají význam jak pro osvětlení tak pro volbu vědeckého předmětu. Mají následkem, že přednost se dává autoru, s nímž se historik cítí z povzdálí duševně spřízněn, bývají tudíž pohnutkou k silnému zdůrazňování osobního momentu, k  subjektivnímu zabarvení jednotlivých úsudků i úhrnného hodnocení; i přibližují badateli zvláště takové postavy a doby, které nejsou v sobě uzavřeny a hotovy jednou pro vždy, jejichž pravému chápání je nutno přimísiti něco z vlastního ducha. Záhadný šerostvit, problematické charaktery, vábně neurčité pozadí básně, zvlášť pestře mihotavý svět romantiky jsou jakoby stvořeny k tomu, aby na se obracely pozornost badatele takto uzpůsobeného; […]. [Die künstlerischen Antriebe des literarischen Forschers haben sowohl für die Erhellung als auch für die Wahl des wissenschaftlichen Objekts eine Bedeutung. Sie haben zur Folge, dass demjenigen Autor der Vorrang gegeben wird, mit dem sich der Historiker aus geringer Entfernung geistig verwandt fühlt, sie sind daher oft Motiv einer starken Betonung des persönlichen Moments, einer subjektiven Einfärbung der einzelnen Schlussfolgerungen sowie der Gesamtbewertung; und sie bringen dem Forscher insbesondere solche Figuren und Zeiten nahe, die nicht in sich verschlossen und ein für allemal fertig sind, sondern zu deren wahrem Verständnis etwas aus dem eigenen Geiste notwendig beizumischen ist. Ein rätselhaftes Halbdunkel, problematische Charaktere, der verlockend ungewisse Hintergrund eines Gedichts, besonders die bunt lockende Welt der Romantik sind wie

6  Die Briefe Vlasta Vostřebalovás sprechen über Otokars Werk nur in Andeutungen, wenn sie ihm für Gedichte dankt oder in einer scherzhaften Erwähnung die Lesung eines seiner Theaterstücke beschreibt: „Miláčku, tak jsem přemýšlela, co se to s tebou stalo včera odpoledne. A myslím že to je tak: byl jsi rozmrzen od té chvilky, co jsem řekla jakousi pitomost o tvém hrdinovi a nechtěla jsem vědět, jak to bude v třetím jednání.“ [Liebling, ich habe also darüber nachgedacht, was da gestern Nachmittag mit dir geschehen ist. Und ich denk mir, es war so: du warst von dem Moment ab frostig, als ich irgendeine Dummheit über deinen Helden gesagt habe und nicht wissen wollte, was im dritten Akt passiert.] Brief vom Oktober 1923 – In: LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, Vostřebalová-Fischerová Vlasta an Otokar Fischer, Briefe u. a. Materialien aus den Jahren 1922–1923, Inv.-Nr. 57/81/3595).

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geschaffen dafür, die Aufmerksamkeit des derart geeigneten Forschers auf sich zu ziehen]; [...] (Fischer 1929: 215f.).

Das tiefe Mitgefühl für (verletzte) Menschen brachte die Zeichnerin nicht nur dazu, während des Ersten Weltkriegs in Lazaretten Hilfe zu leisten und sich zu sozialen Fragen im Allgemeinen zu äußern, sondern regte sie zur Entstehung ihrer herausragenden Zyklen Typy z naší vesnice [Typen aus unserem Dorf] und Studie dětí z okolí Prahy [Kinderstudien aus der Umgebung Prags] (1927–29) an, zu Zeichnungen armer, abgearbeiteter Frauen und Männer mit ihren an der Peripherie aufwachsenden Kindern;7 analog wendete sich Otokar Fischer aufgrund eines durchdringenden Gefühls persönlicher Verwandtschaft „výrazným, tajemným, rozeklaným, nejednoznačným osobnostem“ [markanten, geheimnisvollen, gespaltenen, uneindeutigen Persönlichkeiten] zu: den bereits erwähnten Autoren Kleist, Nietzsche sowie Goethe und insbesondere Heine.8 Es besteht kein Zweifel, dass Otokar Fischer Vlasta Vostřebalová auch mit den Themen seiner Essays bekannt machte und sie dadurch inspirierte: mit der Analyse sinnlicher Gefühle, mit der Beziehung von Traum und Imagination, mit dem Problem von Erinnerung und Déjà-Vu, dem Problem des Doppelgängers u. a. Gerade der Essay Spektrum a řeč [Spektrum und Rede] mag ihr besonders anregend gewesen sein für die Frage, auf welche Art und Weise Farbempfindungen und -zustände durch Worte ausgedrückt werden können. Mit Fischers Worten ging es dabei um die dem Künstler eigene „vnímání barevného, projadřovaného slovy a nikoli barvami“ [Wahrnehmung des Farbigen, ausgedrückt durch Wörter, nicht durch Farben]; Fischer fragte sich u. a., „zdali slovo má s dostatek výrazové schopnosti, aby sdělovalo přerozmanité odstíny a přechody barevného spektra“ [ob das Wort ausreichend Ausdrucksmöglichkeiten hat, die mehr als mannigfaltigen Schattierungen und Übergänge des Farbspektrums mitzuteilen].9 7  Die Zeichnungen der beiden Zyklen (1927–29) befinden sich im Besitz der Nationalgalerie Prag, der Kunstgalerie Karlovy Vary (Karlsbad) sowie der Galerie der bildenden Künste Cheb (Eger). 8  Heinrich Heine zog Otokar Fischer „komplikovaným vztahem k  vlastnímu rasovému původu i částečně vynucenou oscilací mezi Německem a Francií.“ [durch seine komplizierte Beziehung zur eigenen Rassenherkunft und das teils erzwungene Oszillieren zwischen Deutschland und Frankreich] an. Er widmete sich auch dem Werk von Hölderlin, Wedekind, Hofmannsthal, Villon, Corneille, Molière, Marlowe, Shakespeare, Lope de Vega, Puschkin und Timmermans. Vgl. Homolová Richtrová (2011: 13f. u. 20). 9  Fischer, Otokar (1929: 27). Im Essay Spektrum a řeč beschäftigt sich Otokar Fischer anhand einer Auswahl von Denkern des 19. Jahrhunderts mit Farbsymbolik, mit der Verwendung von Worten zum Ausdruck eines Farbtons und rührt nicht zuletzt auch an Fragen der

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„Das Flüstern erblühten Glücks“ Die schicksalshafte Beziehung zu Otokar klingt auch auf der Palette der Künstlerin an. Im Übrigen verleitete die reiche Lockenmähne und das ausdrucksstarke Gesicht mit den gesenkten Augenlidern, die lange Nase und die vollen Lippen auch den Zeichner Adolf Hoffmeister zu grotesken Karikaturen, die er dem Literaten in der Kunstzeitschrift Rozpravy Aventina [Gespräche des Aventinums; Hg. von O. Štorch-Marien] widmete.10 Auch die Farbperzeption. Dabei referiert er besipielsweise über die Studies on Homer and the Homeric Age (1858) von William Ewart Gladstone, die zu den Vorurteilen über die mutmaßliche Blindheit der alten Griechen beigetragen haben: „Homér neznal tolik barev, co jich dnes patrno i necvičenému oku, stejným výrazem označoval nejen různé odstíny téže barvy, nýbrž i barvy odchylné, stejné je prý jeho epiteton pro rudost krve, barvu moře, pestrost duhy i šeď mračna, stejný je přívlastek barvy moře, fialek i vlny. V příměrech mu barva takřka úplně chybí, nezná jí ani při popisu zvířat, ani v charakteristikách lidské postavy, kde si všímá leda zbarvení vlasů. Znalost barev omezovala se na odstíny a lesky kovů a několik úkazů přírodních, zato tu byl celý systém počitků vyvolaných jasem a šerem. Tak jako jsou živočichové, jejichž ústrojům jsou přístupny imprese světla a temnoty, nikoli však vjemy barevné, tak tomu prý i u Homéra.“ [Homer kannte demnach nicht so viele Farben, wie sie heute auch für das ungeübte Auge sichtbar sind, mit demselben Ausdruck bezeichnete er nicht nur verschiedene Abstufungen ein und derselben Farbe, sondern auch abweichende Farben, gleich ist angeblich sein Epitheton für die Röte des Bluts, die Farbe des Meers, die Farbigkeit des Regenbogens und das Grau einer Wolke, gleich das Farbattribut für Meer, Veilchen und Welle. In seinen Vergleichen fehlt die Farbe fast ganz, er kennt sie weder bei der Beschreibung von Tieren, noch in der Charakterisierung menschlicher Figuren, wo er lediglich die Färbung der Haare wahrnimmt. Die Farbkenntnis beschränkte sich auf Schattierungen und den Glanz von Metall und einigen Naturerscheinungen, wohingegen es ein ganzes System von Empfindungen gab, die durch Helligkeit und Dunkelheit hervorgerufen wurden. Es gibt Lebewesen, deren Apparate für Impressionen von Licht und Dunkelheit zugänglich sind, keineswegs jedoch für Farbwahrnehmung; so war es angeblich auch bei Homer.] Fischer (1929: 33). 10  Beispielsweise Hoffmeisters karikaturistische Federzeichnung, die J. L. Budíns Text Z kandidátních řečí klubu PEN [Aus den Kandidatenreden des PEN-Klubs] begleitete (Fischer war Mitgründer des Klubs), oder der bereits erwähnte Text des Journalisten František Kocourek in der Revue Gentleman, in der er leidenschaftlich Fischers Gesicht mit „negerskými rysy“ [den Negerzügen] beschrieb. Hoffmeisters Federzeichnung in der „Revue für den modernen Mann“ wurde schließlich von einem legeren Fotoporträt Fischers von František Drtikol flankiert. Auf Fischers Antlitz gingen in den Gespräche des Aventinums auch der Prager Zeichner Hugo Boettinger alias Dr. Desiderius oder Štefan Bednár ein, der Fischers Ringen mit Goethes Faust humorvoll glossierte. Vgl. Budín (1925/26: 49), Kocourek (1926: 228-229), Boettinger (1925/26: 2), Eisner (1928/29: 272). Die Bildhauerin Mary Duras kehrte zu dem Literaten in den 50er-Jahren mit einem lebens-

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Malerin selbst widmet sich Otokars auffallendem Gesicht erstmals in einer Ölskizze mit losem Strich, die in Ocker und Braun gehalten ist.11 Sein grüblerisches Gemüt fängt sie in einer nicht weniger leicht dahingeworfenen psychologischen Kohlezeichnung ein – dem Portrét Otokara Fischera [Porträt Otokar Fischers] (1922).12 Melancholisch, poetisch nähert sie sich Otokar wiederum im späteren Ölgemälde Letná roku 1922 [Der Letnáberg im Jahre 1922] (1926), welches zugleich eine idyllische Erinnerung an die Anfänge ihrer Beziehung ist.13 „Je bezvětří. Jen v korunách / cos táhle šumí jako v snách / a tichou písní věstí. / To jara stesk nám v duši sáh / šept rozkvetlého štěstí.“ [Windstille. Nur in den Wipfeln / rauscht es gedehnt wie in den Träumen / und weissagt ein stilles Lied. / Des Frühlings Wehmut griff uns in die Seele, / das Flüstern erblühten Glücks.] – die Verse aus Fischers (1926: 48) Gedicht Stromy [Bäume] aus seiner früheren Gedichtsammlung Ozářená okna [Erleuchtete Fenster] (1916) können den glücklichen Zeitraum der Malerin illustrieren, den sie auf Leinwand mit der melancholischen Landschaft des Letná-Parks (der unweit ihres Ateliers in der Malířská-Straße lag) in feinen Lehm- und Grautönen eingefangen hat. Die traumartige Atmosphäre der Szene verstärkt die zwischen dem van Gogh’schen, kaligraphischen Geäst der Bäume schwebende Figur Otokars. Die Künstlerin malte ihren Partner als zusammengekauertes, in der Luft gleitendes Kleinkind, womit auch die liebevolle Anrede ihrer Briefe14 und großen Bronzeporträt zurück, das vermutlich für das Foyer des Prager Nationaltheaters bestimmt war. Vgl. Habán (2014: 156, 234), Plichta (1961: Nr. 87). Mary Duras, Portrét Otokara Fischera (1953), Bronze, 34 x 21 x 28 cm, Marmorsockel 15 x 15 x 15 cm, Nationalgalerie Prag, Inv.-Nr. P 4432. Mary Duras, Otokar Fischer (1950er Jahre), Gips patiniert, H. 48 cm, PNP, Inv. Nr. 188/62-1. Mary Duras, Otokar Fischer (1950er Jahre), Terrakotta, H. 30 cm, PNP, Inv.-Nr. 166/64-1. Mary Duras, Otokar Fischer (1950er Jahre), Gips patiniert, H. 54 cm, Sockel, H. 54 cm, PNP, Inv.-Nr. 128/64-4. 11  Vlasta Vostřebalová, Ölskizze Otokar Fischers (1921–1922), Öl auf Sperrholz, 62,8 x 45,5 cm, Privatsammlung. 12  Vlasta Vostřebalová, Porträt Otokar Fischers (1922), Kohlezeichnung auf Papier, 620 x 450 mm, Privatsammlung. Reproduktion in Pachmanová/Frank Barnová (2013: 45). 13  Nicht uninteressant ist die Tatsache, dass sich Vlasta Vostřebalová Fischerová zu diesem Gemälde mit dem ganz und gar harmonischen Sujet auch nach der schwierigen, erschöpfenden Zeit der späteren Scheidung zurückflüchtet, was die Bedeutung der schicksalsvollen Beziehung für sie sowie die emotionale Beruhigung und Ausgeglichenheit in Bezug auf die an ein Ende gekommene Ehe betont. Vgl. Vlasta Vostřebalová Fischerová, Letná roku 1922 (1926), Öl auf Leinwand, 62 x 82 cm, Nationalgalerie Prag. 14  Aus den Briefen geht zuweilen eine geradezu mütterliche Beziehung Vlastas zu Otokar hervor, wenn sie zu ihm wie zu einem Kind spricht, das aufgrund seiner Wehrlosigkeit

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die autobiographische Notiz der Malerin korrespondiert, nach der Otokar Fischer schicksalhaft und plötzlich aus dem Himmel in ihr Leben herabgestiegen sei als ein Baby – ähnlich wie der spätere gemeinsame Sohn Jan Otokar. Die Poetik der Erinnerung in Öl wird ergänzt durch die ätherische Gebärde der Schwester Věra Vostřebalová, die beim Atelier ebenso plötzlich und ungewöhnlich auftaucht wie Otokar. Durch ‚Traumergebenheit‘ und die vorherrschenden Blautöne in der Kleidung Otokars und Věras unterstreicht die Malerin ihre eigene innere Verbundenheit gegenüber den realistischer gestalteten Figuren der Malerinnenfreunde Milada Marešová und Václav Tille. Letzterer wird von Marešová in ähnlich erdfarbenen Kleidern mit einem Hündchen auf dem Arm vom Atelierfenster aus beobachtet. Václav Tille, der es war, der Vlasta Vostřebalová ein Stipendium in Paris verschaffte, schließt, den Rücken dem Betrachter zugewandt, das intime Zusammentreffen der in ihre eigenen Welten versunkenen Figuren mit seinen Schritten ab.15

behütet werden muss. „Já se toliko bojím, děťátko, vy jste tak neopatrný, jistě jste neměl ani jodovou tinkturu, a ten Váš bratr taky by zasloužil, to jste nemohl hned něco dělat. A máte-li horečku, zbytečně nechoďte a obklady nikdy neuškodí, a buďte hodně hodně moudrý, a smutný taky snad nejste, poslala jsem Vám moc hezký obrázek“ [Ich fürcht mich so, Kindchen, Sie sind so unvorsichtig, sicher haben Sie nicht einmal Jodtinktur bekommen, und Ihr Bruder hätte auch was verdient; dass Sie nicht gleich etwas tun konnten. Wenn Sie Fieber haben, dann gehen sie nicht unnötig, und Umschläge sind nie verkehrt, und seien Sie richtig, richtig klug, traurig werden Sie wohl nicht sein, bei dem schönen Bildchen, das ich Ihnen geschickt habe], schrieb sie am 29.08.1923 aus Paris. LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, Vostřebalová-Fischerová Vlasta an Fischer Otokar, Briefe u. a. Materialien aus den Jahren 1922–1923, Inv.-Nr. 57/81/3562). „Broučku, drobečku, bobečku, miláčku, mazlíčku, zlato. Malinký, milounký, hloupounký, milý, milý, malý, smutný“ [Käferchen, Krümelchen, Klümpchen, Liebling, Zärtling, Goldstück. Kleiner, Lieblicher, Dümmlicher, Lieber, Lieber, Kleiner, Trauriger], wandte sie sich im Sommer 1924 an ihren Mann. LA PNP Praha (ebd., Inv.-Nr. 57/81/3544). 15  Obgleich sich Vlasta Vostřebalová Fischerová in diesem Gemälde dem magischen Realismus und seinem balladenhaften Wesen zuneigte, verzichtete sie nicht auf karikatureske Elemente, die zur Strömung der Neuen Sachlichkeit weisen und die ihr zu größerer psychologischer Wirkkraft verhalfen. Daher kontrastiert Otokars erwachsener Kopf mit der Kinderfigur; Václav Tille wird wiederum über seine geradezu grotesken Greisenbeinchen definiert. Zu den durch Neue Sachlichkeit beeinflussten Gemälden von Vostřebalová Fischerová vgl. auch rezente Ausstellungskataloge, die ihr Schaffen in einen internationalen Kontext verorten: Barron/ Eckmann (2015) sowie Tieze (2015).

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Stimmen Auch Otokar bekannte sich in seinem Werk zu Gefühlen und Beziehungen – durch das dichterische Wort,16 und so spiegeln sich auch in den mythologischen Liebesgedichten, die er während der Beziehung zu Vlasta in der Sammlung Hlasy [Stimmen] (1923) herausgab, die verwickelten Bande zur jüngeren Zeichnerin.17 Die Bande einer inneren Übereinstimmung, einer zerbrechlichen 16  Dass sich Otokar Fischer in Gedichten zu seinen Beziehungen bekannte, bestätigen insbesondere die Briefe seiner vorigen Frau Blažena Baušová: „Víš, jak jsem srostla s Tvými básněmi a jak jsou mi drahé, proto je soudím tak přísně i krutě a nediv se, že zvlášť dnes, je mi zatěžko, vědět, že se dostanou do ruky každému“ [Du weißt, wie ich mit Deinen Gedichten verwachsen bin und wie teuer sie mir sind, daher beurteile ich sie so streng und hart, wunder Dich auch nicht, dass gerade heute, mir ist so schwer zumute, zu wissen, dass sie jedem in die Hände geraten können], so Blažena Baušová am 07.01.1923 an Otokar. LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, Baušová-Fischerová-Bassová Blažena an Fischer Otokar, Inv.-Nr. 57/81/2859). „Věřím, že Tě má, a že Ty ji máš rád. Zas tedy budeš nebo už píšeš snad cykly básniček zas s trošku jinou notou“ [Ich glaube, sie hat Dich gern, und Du sie. Du wirst also nun Gedichtzyklen mit einer etwas anderen Note schreiben – oder schreibst sie schon], schrieb Blažena Baušová noch am 07.12.1923, unmittelbar vor Otokars Vermählung mit Vlasta Vostřebalová. LA PNP Praha (ebd., Inv.-Nr. 57/81/2859). 17  Die Gedichtbände der Jahre 1911 bis 1923 gab Otokar Fischer gesammelt 1926 im Verlag Aventinum heraus. In einem Buch stehen damit nebeneinander Gedichte, die Fischer wohl Blažena Baušová widmete (bis einschließlich 1921), und andere an Vlasta Vostřebalová (1923). Für Blažena Baušová schrieb Otokar Fischer, als romantischer Liebhaber voller Sehnsucht und Schmerz, vermutlich auch die Gedichte Tichá láska [Stille Liebe] und Nevěrný věrný [Der untreue Treue] aus dem Band Kruhy [Ringe] (1921): „Je tolik soužení v těch čtyřech zdech, / teď, před úsvitem rána – / Nechť o tom ví tvůj každý krok a dech: / žes milovaná. // Já o tolika ještě tajemstvích / ti šeptat umím // a tolikrát se vedle tebe, tich, / v svůj smutek ztlumím... // Či přijde den a půjdeš zase dál, / kde jiné hvězdy svítí? / Já, který mnoho v tomto světě znal, /znám z cesty jíti. // A jestli vášeň, setkání či cit // mi tebe vezmou, drahá, / ty zbudeš ve mně, pokud bude žít / v mém zraku vláha.“ [Soviel Qual in diesen vier Wänden, / jetzt vor Tagesanbruch – / jeder deiner Schritte, jeder Atemzug möge wissen: / du wirst geliebt. // Ich kann dir von so vielen Geheimnissen / noch flüstern // und so viele Male, still, / sinke ich sanfter in meinen Kummer... // Kommt denn der Tag, an dem du wieder weiterziehst, / dorthin, wo andere Sterne scheinen? / Ich, der ich viel auf dieser Welt gekannt, / weiß, wie man abkommt vom Weg. // Und wenn Leidenschaft, Begegnung und Gefühl // mir dich wegnehmen, Teure, / so bleibst du doch in mir, solang in meinem Auge / jene Feuchte lebt.] (Tichá láska; Fischer 1926: 225). „Já poznal svět jak tuláci a ptáci / a mnoho viděl žen, / a přec má touha bouřlivě se vrací / vždy k tobě jen. // Znáš, lehkonohá, dotančit se výší / ty jediná, / znáš opojnou mne ducha svého číší / spít bez vína. // [...] A já, jenž závrať, pokání a zmatky /

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Liebe, aber auch der übergroßen Erwartungen zweier komplexer Persönlichkeiten. Já slyším, slyším slova tvá, však srdce nepochopí. Co ruka tvá to tká a tká v tu práci Penelopí? Je plán to? Sen? K dnům budoucím se přivíjíš svou přízí? Já na to zřím – Co bylo, vím, vše odplývá, vše mizí. [Ich höre, höre deine Worte, doch unverständig bleibt das Herz. Was webt dort deine Hand und webt in dieses Penelopewerk hinein? Ist dies ein Plan? Ein Traum? Und webst du zukünftigen Tagen dich hinzu mit deinem Garn? Ich gebe acht darauf – ich weiß, was war, alles zerfließt, alles verschwindet.] (Křídla [Flügel]; Fischer 1926: 239) Jsi beze jména a máš tisíc jmen. Tvůj původ na věky je utajen. Jsi závoj doteků. Jsi nahá rána, jíž mužné lásky čest je rozežrána. Mluv, nevinně ty vinná Kressido mám z dobrodružných cest, / zas rozběhnu se v dál, neb cesta zpátky / tak sladká jest. // Tak znovu zřím tě vášní plát, vždy v kole / a nad všedností vždy, / zas v překrvené tonou hyperbole / tvé útlé rty, // a jasně vím to: tebe-li kdy, ztratím / i sebe sám, / a k tobě-li se jednou nenavrátím, / je zář i moc ta ta tam. // Neb ten, kdo nehmotně je vzhůru veden, / všech devět vzývej Mús: / leč každému z nás v ochranu jen jeden / dán genius – // a mně jsi dána ty. Jen tam, kde změna, / má slast se počíná: / mně neklidem, mně jiskrou svatá žena / tys jediná!“ [Wie die Landstreicher und Vögel hab ich die Welt gekannt / und viele Frauen gesehen, / und doch kehrt meine Sehnsucht ungestüm / immer nur zu dir zurück. // Du Leichtfüßige weißt aus der Höhe herabzutanzen, / du einzig weißt / mit dem rauschenden Kelch deines Geistes ganz ohne Wein zu berauschen. // [...] Und ich, der ich Taumel, Buße und Wirrnis / von abenteuerlichen Reisen bringe, / lauf wieder weg, da doch der Weg zurück / so süß ist. // So seh ich wieder dich vor Leidenschaften lodern, immer im Kreis / und immer über jedem Alltag, / wieder ertrinken in blutvoller Hyperbel / deine schmalen Lippen, // und klar weiß ich dies: wenn ich dich je, / verlier ich mich selbst damit, / und wenn ich einmal nicht zu dir zurückkehre, / bleibt Glanz, auch jene Macht, noch dort. // Der aber, der ohne Körper hinaus geführt wird, / der flehe alle neun Musen an: / doch jedem von uns ist in Obhut / nur ein Genius gegeben – // und mir gab man dich. Nur dort, wo Veränderung, / beginnt meine Wonne: / mir in der Unruhe, mir im Funken die heilige Frau / bist nur du allein!] (Nevěrný věrný; Fischer 1926: 222f.)

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jsi chtivý hřích a vzhled máš jako panna -, mluv, zázraku, mluv, sfingo: Kdo jsi? Kdo? Buď prokleta! A přec - - Buď požehnána! [Namenlos bist du und hast doch tausend Namen. Deine Herkunft bleibt auf immer verborgen. Ein Schleier aus Berührung bist du. Bist die nackte Wunde, die männlicher Liebe Ehre zerfrisst. Sprich, du unschuldig schuldige Kressida – du bist gierige Sünde, und scheinst doch eine Jungfrau –, sprich, Wunder, sprich, Sphinx: Wer bist du? Wer? Verflucht sei! Und doch – – sei gesegnet!] (Troilus; Fischer 1926: 254) Když rukou, jež chce laskat, píšu list, já cítím, tvůj že stvořitel jen já jsem; a srdcem tvým, jak državou, jsem jist, když chvěješ se a choulíš pod mým hlasem. Když v duši pochyba se probudí, tvůj vlhne pohled, jenž mne ukonejší... a když mi spočíváš hruď na hrudi, vím, že tě ztratím, vím, žes nejzrádnější. [Wenn ich mit der Hand, die liebkosen will, den Brief schreibe, spüre ich, dass dein Schöpfer nur ich bin; und deines Herzens, wie einer Habe, bin ich sicher, wenn du dich duckst und unter meiner Stimme bebst. Wenn in der Seele der Zweifel erwacht, dein Blick feucht wird, der mich besänftigt... und wenn du deine Brust auf meiner Brust bettest, weiß ich, ich verliere dich, weiß, du bist von allen die Verräterischste.] (Stvořitel [Der Schöpfer]; Fischer 1926: 257)

Prag – Paris Die Beziehung von Otokar und Vlasta verändert sich merklich durch einen Stipendienaufenthalt in Paris, zu dem die Künstlerin kurz nach ihrem Studienabschluss an der Akademie der bildenden Künste im Juni 1923 für fast sechs Monate aufbricht. In dieser Zeit ist sie bereits schwanger, und auch wenn die anderen Umstände für sie kein Hindernis für ihre künstlerischen Pläne oder das bisherige harmonische partnerschaftliche Zusammenleben

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bedeuten, verstärkt sich von Seiten Otokars der Drang nach einer Veränderung, nach einer Heirat, damit das Kind nicht außerehelich zur Welt komme. Otokar fordert Vlasta auch zur Aussöhnung mit ihrer Familie auf, wodurch er jedoch in ihre Beziehung einen andauernden Dorn des Verrats treibt, denn von nun an steht er zwischen ihr und ihrer Familie, und ihre Partnerschaft wird eher zur familiären Allianz als zur Beziehung zweier Erwachsener. In ihren Briefen aus Paris wehrt sich Vlasta verbissen gegen eine Ehe, die sie von Anfang an als ungleiche Beziehung empfindet, als ein die weibliche Identität und ihre öffentlichen Aktivitäten beschneidendes Zugeständnis, bei dem die gewonnene ‚passive Rolle‘ der Ehefrau nicht selten die bisherige ‚schöpferische Rolle‘ der Künstlerin (d.h. der berufstätigen Frau) verschlingt.18 In einem der Briefe schreibt sie hierzu erbost: že bych se vdala a přestala být malířkou, je sakramentský, když já právě teprv chci začít. [...] Nabádáte mne ke statečnosti, ale k takové divné statečnosti, zalézt a být zticha, a nazýváte mne za to moudrou holčičkou, což zní vlastně ironicky. [dass ich verheiraten und aufhören sollte, Malerin zu sein, ist vertrackt, wo ich doch gerade eben erst loslegen will. […] Sie mahnen mir gegenüber zu Tapferkeit, aber zu so einer seltsamen Tapferkeit, mich zu verkriechen und hübsch still zu sein, und nennen mich dafür ein kluges Mädchen, was genau genommen ironisch klingt.]19

Sie sträubt sich gegen die Gewohnheiten ihrer Zeit, nach denen sie ihre Profession opfern und sich nur in die Rolle, die ihre Dokumente ihr nahelegen, einfügen sollte: „zaměstnání: manželka univ. prof. a red. [Anstellung: Ehefrau eines Univ. Prof. und Red.]; profession: femme de …“, schreibt sie an Otokar und fügt knapp hinzu: „To je tak asi názor vás všech [mužů] na 18  Vlasta Vostřebalová nähert sich damit den Gedanken aus der Feder der linksorientierten Feministin Marie Majerová an, auf die unlängst die Literaturhistorikerin Dana Nývltová hingewiesen hat. Die Schriftstellerin stellte die Mutter-Kind-Beziehung über die Mann-Frau-Beziehung und kanzelte die Ehe als falsche, ungleiche Verbindung ab; sie kritisierte zwar das Konzept der Mutterschaft, lehnte es aber nicht gänzlich ab. Nach Majerovás Auffassung „[se] žena dítětem potvrzuje, mateřství je její integrální součástí, naplňuje jednu ze základních dimenzí jejího života, přitom ale [...] nesmí ztratit samu sebe; Majerová důsledně odděluje biologické naplnění ženina života a její samostatný život, pracovní realizaci a společenské zařazení.“ [bestätigt sich die Frau durch das Kind, Mutterschaft ist ihr integraler Bestandteil, erfüllt eine der grundlegenden Dimensionen ihres Lebens, sie darf dabei […] jedoch nicht sich selbst verlieren; Majerová trennt folgerichtig zwischen biologischer Erfüllung eines Frauenlebens und ihrem selbständigen Leben, zwischen der Realisierung ihrer Arbeit und ihrer Einordnung in die Gesellschaft.] (Nývltová 2011: 90). 19  Brief aus Paris, 19.10.1923 – In: LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, Vostřebalová-Fischerová Vlasta an Fischer Otokar, Briefe u. a. Materialien aus den Jahren 1922–1923, Inv.-Nr. 57/81/3689).

In Wort und Bild: Otokar Fischer und Vlasta Vostřebalová

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ženu.“ [Das ist wohl die Meinung von euch allen [Männern] über die Frau.]20 Anderswo fährt sie in etwas humorvollerem Tonfall fort: Podívej se jenom oč bude svět lepší, až se ženské nebudou vdávat, nebudou taky nikoho poslouchat, pomaloučku dostanou rozum, už to bude veliká výhoda. Zatím je to ještě smutná podívaná, takováhle collège se snad ani neudrží, protože je to collège féminin (13 Rue du Four). [Schau nur, um was die Welt besser wird, wenn sich Frauen nicht mehr verheiraten werden, sie werden auch niemanden anhören, allmählich werden sie Verstand entwickeln – was für ein großer Vorteil. Fürs erste ist der Anblick noch ein trauriger, so ein collège kann sich wohl gar nicht erst halten, denn es ist ein collège féminin (13 Rue du Four)].21

Die anstehende Mutterschaft empfindet Vlasta Vostřebalová nicht als Schwächung. Im Gegenteil bekräftigt sie dadurch ihre existentielle und geistige Selbständigkeit. Und während ihres Nachsinnens über ihr persönliches Leben nimmt sie an dem reichen Kulturleben von Paris22 teil – besucht Galerien, Museen, studiert in Bibliotheken und schreibt sich darüber hinaus für private Zeichenstunden an der École Colarossi in der 10 Rue de la Grande-Chaumière ein. Die emotional aufgeladene Situation verstärkt sich zum Herbst, als sie als Reaktion auf die Einmischung ihrer nahen Familie mit dem rasanten Vorschlag kommt, Otokar und sie könnten sich als unvermähltes Paar mit Kind auf längere Zeit in Paris niederlassen: Dobře si ještě rozmyslete můj návrh: listopad – pět let Paříže. Protože, vrátím-li se, na to se musíte připravit, až budou velké mrazy, vlastně, ani ne velké, bude děťátko na noc u Vás. Něco Vám prozradím, odstěhujte se ke mně, není to švanda a není to tak zlý nápad, jak se Vám zdá. Nemusili bychom od nikoho nic chtít, a čaj bych Vám ráno určitě dovedla uvařit. Koupím tlustou závěsovou látku, aby Vám tam nebylo zima a budíčka budu pouštět až o půl deváté. [Überdenken Sie weiter gut meinen Vorschlag: November – fünf Jahre in Paris. Denn wenn ich zurückkehre, darauf müssen Sie sich einstellen, sobald der große Frost kommt, 20  Aus einem späteren Brief, 13.08.1924 – In: LA PNP Praha (ebd., Inv.-Nr. 57/81/3694). 21  Brief aus Paris, 22.09.1923 – In: LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, VostřebalováFischerová Vlasta an Fischer Otokar, Briefe u. a. Materialien aus den Jahren 1922–1923, Inv.-Nr. 57/81/3557). Mit dem Collège féminin meint Vlasta Vostřebalová den Ort, an dem sie während ihres Parisaufenthalts mit ihrer Freundin, der Künstlerin Milada Marešová, wohnte. 22  Aus Vlasta Vostřebalovás Postkarten geht ebenfalls hervor, dass die Künstlerin ab Mitte August 1923 mit Otokar kurz St. Anton, Landeck und Innsbruck in Tirol besuchte. Aus den österreichischen Alpen fuhren sie gemeinsam nach Paris, wo sich Otokar wohl bis Anfang September aufhielt. Es ist wahrscheinlich, dass er Vostřebalová in Paris ein weiteres Mal im Oktober besuchte, um ihr mit der Rückkehr in die damalige Tschechoslowakei zu helfen. LA PNP Praha (ebd., Inv.-Nr. 57/81/3620-57/81/3637).

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eigentlich noch nicht mal ein großer, wird das Kind für die Nacht bei Ihnen sein. Etwas verrate ich Ihnen: ziehen Sie zu mir, das ist nicht aus Jux und außerdem keine so schlechte Idee, wie es Ihnen scheint. Wir müssten von niemandem nichts verlangen, und Ihnen morgens den Tee zu kochen, bekäme ich sicher noch hin. Ich kaufe dicken Vorhangstoff, damit Ihnen nicht kalt wird, und den Wecker würde ich erst auf halb neun stellen.]23

Schließlich behalten die Partner versöhnlich ihre künstlerischen Reviere – Vlasta ihr Letná-Atelier und Otokar seine Wohnung in Dejvice, wenngleich Vlastas Zugeständnis ihre Einwilligung in die Vermählung bei ihrer Rückkehr in die Tschechoslowakei im Oktober ist. Bis zur nahenden Geburt residiert sie im Sanatorium des Familienfreundes Dr. Říha in Budweis. Von dort schickt sie einen Monat vor ihrer Niederkunft einen Ehevertrag, in dem sie sich ein letztes Mal kategorisch von einem traditionellen Eheverständnis abgrenzt und dem sie einen eigenen Entwurf beifügt: Svoluji porodit Ti děťátko, které ponese Tvoje jméno, to znamená, svoluji se státi se Tvojí ženou. Ne však podle běžného manželského práva, které nepřipouští škrtů, ani změn, kdežto já nežádám, abys mne živil, ty nežádáš ode mne poslušnosti ani jakéhokoliv omezení dosavadní mojí svobody. Péči děcku věnujeme stejným dílem.24

23  Brief aus Paris, 17.09.1923 – In: LA PNP Praha (ebd., Inv.-Nr. 57/81/3546). Die zweite Variante, die Vlasta Otokar anbietet, ist der Bau eines neuen gemeinsamen Hauses. „Já skutečně poctivě a hluboce nesouhlasím s Dejvicemi, poněvadž vjedem okamžitě do starých kolejí. Já jsem vůbec pro život na stromě, ale odpusť, vážně, až uvidíš moji novostavbu, na kterou mi stačí moje peníze, budeš kliden a nadšen a vůbec. Nezlob se, já tě nechci rozčilovat a popíšu ti to nové, naše, chceš-li, bydliště. Bude to, jak nejlíp dovedu, hygienicky a jednoduše, ložnice, kuchyňka, s tou moc neudělám, koupelna, pracovna, obývací pokoj, ložnice bílá sanatorní, podlaha linoleová […]“ [Ich bin wirklich ehrlich und zutiefst nicht einverstanden mit Dejvice, da gelangen wir augenblicklich wieder in die alten Gleisen. Ich bin überhaupt für ein Leben auf dem Baum, aber verzeih, im Ernst, wenn du meinen Neubau siehst, zu dem mir mein Geld reicht, wirst du beruhigt und begeistert sein und überhaupt. Sei mir nicht böse, ich will dich nicht aufregen und beschreibe dir jenes neue und, wenn du willst, unser Heim. Es wird so, wie ich es am besten zustande bringe, hygienisch und einfach, ein Schlafzimmer, eine kleine Küche, mit der mach ich nicht viel, Bad, Arbeitszimmer, Wohnzimmer, das Schlafzimmer sanatoriumsweiß, mit Linoleumboden […]]. Brief vom Herbst 1923, nicht näher datiert – In: LA PNP Praha (ebd., LA 57/81/3545). Den Traum von einem Neubau realisiert Vlasta erst viel später im Jahre 1930. Damals lässt sie sich nach einem eigenen Entwurf in PragMotol ein funktionalistisches Haus mit Atelier und Mobiliar ebenfalls nach ihren Entwürfen bauen. Mehr dazu im Kapitel Architektkou a návrhářkou [Die Architektin und Designerin], in: Pachmanová/Frank Barnová (2013: 161-174). 24  Brief aus dem Sanatorium in České Budějovice, 26.10.1923 – In: LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, Vostřebalová-Fischerová Vlasta an Fischer Otokar, Briefe u. a. Materialien aus den Jahren 1924–1937, Inv.-Nr. 57/81/3735).

In Wort und Bild: Otokar Fischer und Vlasta Vostřebalová

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[Ich willige darin ein, Dir ein Kind zu gebären, das Deinen Namen trägt, das bedeutet, ich willige ein, Deine Frau zu werden. Nicht jedoch nach üblichem Eherecht, das keine Abstriche, keine Änderungen zulässt, während ich nicht von dir verlange, dass du mich ernährst, und du von mir keinen Gehorsam und keine wie auch immer geartete Einschränkung meiner bisherigen Freiheit verlangen sollst. Der Pflege unseres Kindes widmen wir uns zu gleichen Teilen.]

Jan Otokar Fischer erblickt am 30. November 1923 das Licht der Welt. Und nur zwei Wochen später, am 14. Dezember, schließen die beiden, ebenfalls in Budweis, den Bund der Ehe.25

Jan Otokar Der Sohn Jan Otokar gibt den Partnern eine zerbrechliche Stabilität zurück und ermöglicht einen festeren Zusammenhalt, freilich nur für relativ kurze Zeit. Die Beziehung wird nun von der übertriebenen Aufmerksamkeit von Seiten der weitverzweigten Familie untergraben, für die Jan Otokar auf beiden Seiten der einzige Enkel ist;26 sobald die Kritik am nonkonformistischen Zusammenleben Vlastas und Otokars zwischen der Wohnung in Dejvice und dem Atelier auf der Letná zur Ruhe kommt, erstarken die Meinungen der anderen zur Erziehung des Kindes. Die Briefe, die Vlasta an Otokar schreibt, wenn sie sich zufällig außerhalb Prags aufhält, enden nicht selten mit einem kämpferisch scherzhaften Ausruf: „Zmocnit se znova Jendy!“ „Kde kdo už si dovoluje uvažovat a kombinovat jeho chody, ku příkladu, o jeho garderobě rozhoduje publikum, otázka má-li se koupat ráno či večer bylo přetřásáno veřejně, každý ho naučí nějakou švandu a my ho málem nepoznáme,“

25  Vlasta Vostřebalová verwendet nach der Vermählung den Doppelnamen Vostřebalová Fischerová, mit dem sie ihre eigene (nicht nur künstlerische) Identität auch über die Eheschließung hinaus proklamiert; durch den zweiten Nachnamen grenzt sie sich auch von dem Status „der bloßen Professorenehefrau“ ab. LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, Trauschein Otokar Fischers u. Vlasta Vostřebalovás, Inv.-Nr. 57/81/1). 26  Vlastas Schwester Věra Vostřebalová blieb, auch während der kurzen Ehe mit dem Sportler Vratislav Tahal, kinderlos. Ihr restliches Leben widmete sie sich ihrer eigenen sozialen Arbeit, der Literaturgeschichte sowie ihrem Neffen. Otokar Fischer selbst hatte nach der Scheidung von Vlasta Vostřebalová Fischerová weitere Kinder mit seiner dritten Ehefrau Blažena Plecháčková, die drei Töchter Eva, Jitka und Ruth.

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[„Den kleinen Jan zurückerobern!“ „Wo erlaubt sich wer, seine Gänge zu bewerten und zu kombinieren, zum Beispiel entscheidet ein Publikum über seine Garderobe, die Frage, ob er morgens oder abends gebadet werden soll, wurde öffentlich durchgekaut, jeder bringt ihm irgendeinen Jux bei und wir lernen ihn kaum kennen],

kommentiert Vlasta in einem Brief die Situation zu Hause.27 Otokar und Vlasta führen ihre Arbeit fort, die einzige zeitweilige Flucht vor den Ansprüchen der anderen. Doch durch diese Ausbrüche entfernen sie sich28 allmählich auch voneinander: […] samota [je] tak krásná, mužná, přirozená, samozřejmá. Každý přijde na svět sám a ne v páru, dva lidi, to je marné, k sobě nepatří, třebas tu a tam někteří jsou si více méně podobní; neskrývám, že samota se mi stává zrovna snem a to jen pro tu nedosažitelnost. [… die Einsamkeit ist so schön, männlich, natürlich, selbstverständlich. Jeder kommt allein auf die Welt, nicht als Paar, zwei Menschen, das ist vergeblich, sie gehören nicht zueinander, vielleicht sind sich hier und da mal ein paar mehr oder weniger ähnlich; ich verberge es nicht, dass die Einsamkeit mir gerade zum Traum wird und das nur durch ihre Unerreichbarkeit.]29

Dies schreibt die Künstlerin im Sommer aus Südböhmen. Letztlich wählen sie beide die Einsamkeit und leben ab Herbst 1924 getrennt. Während der Zeit der Trennung klammert sich Vlasta noch mehr an ihre schöpferische Tätigkeit. Die gezeichneten Porträts ihres einjährigen Sohnes sind ihr Meditation und Rückkehr zum Thema der Figurenpsychologie. Sie zeichnet eine Vielzahl von Studien, die sie im kommenden Jahr als Gemälde realisiert.30 27  Brief vom Sommer 1924, nicht näher datiert. – In: LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, Vostřebalová-Fischerová Vlasta an Fischer Otokar, Briefe und andere Materialien aus den Jahren 1922–1923, Inv.-Nr. 57/81/3544). 28  Zur Trennung und Entfremdung trug merklich auch die allzu innige Freundschaft zwischen Otokar Fischer und Blažena Plecháčková bei, die sich bereits seit 1921 kannten. Otokar Fischer wird die Übersetzerin und Germanistin 1926 heiraten. LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, Plecháčková-Fischerová Blažena an Fischer Otokar, Briefe u. a. Materialien aus den Jahren 1924–1925, Inv.-Nr. 57/81/3274-57/81/3346); LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, Fischer Otokar an Fischerová-Plecháčková Blažena, Briefe u. a. Materialien aus den Jahren 1921–1926, Inv.-Nr. 57/81/3866-57/81/3956); LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, Fischer Otokar an Fischerová-Plecháčková Blažena, Briefe u. a. Materialien aus den Jahren 1923–1935, Inv.-Nr. 57/81/3957-57/81/4030.) 29  Briefe aus Hluboká nad Vltavou vom 17. 7. 1924 und 19. 7. 1924a – In: LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, Vostřebalová-Fischerová Vlasta an Fischer Otokar, Briefe u. a. Materialien aus den Jahren 1924–1937, Inv.-Nr. 57/81/3675 u. 57/81/3678). 30  Die Malerin fing ihren Son Jan Otokar Fischer in einigen magischen, ja fantastischen Gemälden ein: Dětský svět [Kinderwelt] (1925), Öl auf Leinwand, 52 x 68 cm, Privatsammlung; Dítě v parku [Kind im Park] (1925), Öl auf Leinwand, 57 x 74 cm, Privatsammlung; Jenda po zápase [Jenda (Jan) nach dem Spiel] (1935), Öl auf Leinwand, 80 x

In Wort und Bild: Otokar Fischer und Vlasta Vostřebalová

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„Mit dem Vulkan in dir“ Die anstrengende Zeit des stürmischen Jahres 1925 wird von Gerichtsterminen begleitet; geschieden wird die Ehe Otokars und Vlastas erst im Oktober. Auch malerisch schließt die Künstlerin ihre Beziehung zu Otokar ab. Die Ölgemälde Kateřinky, zlý sen [Kateřinky, böser Traum]31 und Vražda [Mord]32 sind Bilder des Kampfes, auf denen die Urheberin böse Geister wie auch Akteure des Scheidungsverfahrens zu Wort kommen ließ. Im Kateřinky-Gemälde konkretisiert sie einen eigenen Traum, den Alp ihrer gewaltigen Angst, den fast zweijährigen Sohn durch Intrigen und Lügen zu verlieren.33 Sich selbst bildete sie als nackte Frau mit einem Kind auf dem Arm ab, wie ein gefangenes Tier mit seinem Jungen in die Krone eines Baums gejagt, im Park der ältesten Nervenheilanstalt des Landes, genannt Kateřinky,

60 cm, Privatsammlung. Vostřebalová Fischerovás Verewigung von Vater und Sohn im Gemälde kann uns in Erinnerung rufen, dass im Hintergrund ihrer Karriereerfolge, von denen Fachpublikationen ein Bild vermitteln, sich durchweg ein intimes Leben abspielte, das die Vorworte der von ihnen übersetzten Bücher für gewöhnlich verschweigen. Die erwähnten Gemälde sind in Reproduktionen aufgenommen bei Pachmanová/Frank Barnová 2013: 66-69, 82). 31  Vlasta Vostřebalová Fischerová, Kateřinky, zlý sen (1926) [Kateřinky, böser Traum], Öl auf Leinwand, 75 x 96 cm, Nationalgalerie Prag. 32  Vlasta Vostřebalová Fischerová, Vražda (1925) [Mord], Öl auf Leinwand, 51 x 67 cm, Privatsammlung. Während des Symposiums wurde dieses Bild aus Gründen der Pietätswahrung nicht erwähnt. Reproduktion in Pachmanová/Frank Barnová (2013: 50f.), wie auch im Katalog der Ausstellungen im Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg und der Landesgalerie Linz des Oberösterreichischen Landesmuseums (Tieze 2015). 33  Während der Gerichtstermine sollte Vladimír Vondráček, Familienfreund der Vostřebals, die seelische Krankheit Vlasta Vostřebalovás feststellen, um dem Vorhaben, das Kind der Pflege der Mutter zu entreißen, nachzuhelfen. Vondráček (1978: 148f.) äußert sich nach Jahren zur gesamten Situation in seinen Memoiren: „Manželství nebylo šťastné a Vlasta se brzy rozvedla. Otokar Fischer prý u rozvodového soudu tvrdil, že ode mne může předložit vysvědčení o duševní chorobě své ženy a že mě může uvést za svědka jako psychiatra a člověka, který ji od dětství znal. Nic z toho nebyla pravda, žádné vysvědčení jsem nevystavoval a žádné svědectví nepodával, ani jsem o to nebyl požádán a ani bych to nikdy neučinil.“ [Die Ehe war nicht glücklich, Vlasta ließ sich bald scheiden. Es heißt, Otokar Fischer habe vor dem Scheidungsgericht ausgesagt, er könne ein Gutachten über die seelische Krankheit seiner Frau von meiner Seite vorlegen, dass er mich, der ich sie als Mensch und Psychiater seit ihrer Kindheit kannte, als Zeugen anführen könne. Nichts davon entsprach der Wahrheit, kein Gutachten habe ich ausgestellt, keine Zeugenaussage getätigt, ich wurde auch nicht dazu aufgefordert und würde das niemals tun.]

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die bereits in den 1820er-Jahren in einem ehemaligen Augustinerkloster bei der Kirche der heiligen Katharina in der Prag-Neustadt eingerichtet wurde. Die höchst merkwürdige, stickige Atmosphäre steigert nicht nur die in einer Baumkrone flatternde, zerrissene Krankenhausmontur, sondern vor allem die längliche Figur des Familienfreunds und Psychiaters Vladimír Vondráček, der direkt hinter Otokar Fischer selbst herläuft. Ihn hat die Malerin erneut in einer bizarren und grotesken Weise dargestellt, wie man sie beispielsweise von den Malern der Neuen Sachlichkeit Otto Dix oder George Grosz kennt, mit krampfhafter Grimasse, hervorstehendem Bauch, auf unsicheren Beinchen trippelnd, die Arme nach dem Baby ausgestreckt. Obwohl der psychotische Traum, der auf Kateřinky abgebildet ist, seine Wurzeln in dem persönlichen Schicksalsumschwung der Malerin hat, inspirierte sie zweifellos ein älteres Gedicht Otokar Fischers – Park bláznů [Der Park der Verrückten].34 Die eigenen peinigenden Gefühle identifizierte sie mit „poutníkem, s nitrem sopečným“ [dem Pilger, mit dem Vulkan in dir], mit einem Inneren, das die Umstände der Trennung so viele Male verwundet haben, dass es „shoří“ [niederbrennt] und in einen „park bláznů“ [Park der Verrückten] gerät, in die abgeschlossene Welt einer Nervenheilanstalt. Im Gemälde erscheint auch abseits der finstere „císař“ [Kaiser] (mit der kennzeichnenden Krone auf dem Kopf), den Bauch gebläht, mit dem karikaturesken Äußeren eines Affen; es handelt sich um den Psychiater Antonín Heveroch, den Leiter der Anstalt. „Císař horuje se spasitelem“ [Der Kaiser lechzt nach dem Heiland]; im Gemälde ist dies Otokar selbst, der die Tierpfoten salbungsvoll streckt, um seinen Sohn in die Hände zu bekommen und so zu „retten“. Es fehlt auch die mächtige Mauer nicht – das „Tor“, mit dem die Malerin den gesamten Raum des Anstaltsgartens, in dem „sládne vše, co bolívalo prudce“ [alles süß wird, was jäh zu schmerzen pflegte], deutlich von den anderen, nicht internierten Passanten abtrennt. „Kdo vkročí sem, za tím se zavře brána – / za kým se zavře, na věky můj“ [Wer hier eintritt, hinter dem schließt sich das Tor – / hinter wem es sich schließt, der ist für immer mein], endet Otokar Fischers Gedicht wie auch die fantastische Halluzination der Malerin.

34  In seinen Básnických spisech (Dichterischen Schriften) reihte er das Gedicht vom Park der Verrückten in die Sammlung Království světa [Das Königreich der Welt] ein, die er mit 1911 datierte (Fischer 1926: 26f.).

In Wort und Bild: Otokar Fischer und Vlasta Vostřebalová Poutníče s nitrem sopečným, ó slyš: až v popel strávíš mozek svůj a míchu, pak - shořelý - se ke mně navrátíš. Mnou vchází se k pobloudilému smíchu, k svěšeným hlavám, k prázdným posunkům, k prokletým vinou otcovského hříchu. Mnou v blahoslavený se vzchází dům, kde císař horuje se spasitelem, v pláč němých duší, v starců nerozum. Rozšumím křídla nad živým tvým tělem, až setlelé tvé city klesnou v rov, až vědomí tvé zvadne... V koutku stmělém sám budeš sedati a beze slov a prohlížet své bílé tenké ruce a zrakem bodati v mých listů krov... Mnou sládne vše, co bolívalo prudce, dám chorým lék, dám nuzným blahobyt, mnou tam se vchází, kde je konec muce, kde bez křečí lze oči zatlačit, kde chladne hlava, jež je ohněm štvána, kde ďábel bez viny, kde Kain je skryt... Poutníče, na slova hleď, jež jsou psána, nevcházej posud, hleď a čti a stůj: Kdo vkročí sem, za tím se zavře brána za kým se zavře, na věky můj. [Pilger mit dem Vulkan in dir, o höre: wenn du einst dein Hirn und dein Mark in Asche zersetzt, dann kehrst du – niedergebrannt – zu mir zurück. Durch mich kehrt man ein zu verirrtem Lachen, zu gesenkten Köpfen, leeren Gebärden, zu den Verfluchten, schuldig an der Sünde ihrer Väter. Durch mich kehrt man ein in das selige Haus, wo der Kaiser nach dem Heiland lechzt, ins Klagen stummer Seelen, der Greise Unverstand. Ich lasse brausen die Flügel über deinem lebenden Körper, bis deine Gefühle verwest ins Grab zerfallen, bis dein Bewusstsein verwelkt... in dämmrigem Winkel wirst selbst du sitzen, und ohne Worte und dir auf die feinen Hände schauen und mit den Augen stechen in mein Blätterdach...

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Michala Frank Barnová Durch mich wird alles süß, was jäh zu schmerzen pflegte, den Kranken gebe ich Arznei, den Armen bring ich Wohl, durch mich kehrt man dort ein, wo keine Marter mehr, wo sich die Augen ohne Krampf zudrücken lassen, wo kühl der Kopf wird, der vom Feuer gehetzt, wo der Teufel ohne Schuld, wo Kain versteckt bleibt... Pilger, schau auf das Wort, das geschrieben steht, geh noch nicht hinein, schau und steh: Wer hier eintritt, hinter dem schließt sich das Tor – hinter wem es sich schließt, der ist für immer mein.] (Park bláznů; Fischer 1926: 26f.)

In der Zeit der zahlreichen Scheidungstermine entsteht auch das Gemälde mit dem recht morbiden Titel Vražda [Mord] (1925). „Květem oranžů vystláno lože“ [Das Lager mit Orangenblüten bestreut],35 lautete der romantische Wunsch in einem Gedicht Otokar Fischers. Die Malerin hingegen bereitet ihm hier erbarmungslos ein letztes Lager. In beklemmender, entpersönlichter Atmosphäre lässt sie diesmal Otokars Kinderkörper mit dem Erwachsenengesicht von den Pflanzentrieben eines Teppichs „prorůst, polapit“ [zuwachsen, einfangen].36 Otokar, höhnisch in einen gewöhnlichen, an ihm schlackernden Sack gekleidet, sieht aus, als schlafe er genüsslich. Die bekannte liebliche Grimasse der Lippen und Augen wird jedoch zunichte gemacht durch das blutige Kissen unter seinem Kopf. Vlasta Vostřebalová Fischerová hat sich dabei nicht direkt selbst gemalt. Ihre eigene Anwesenheit als ‚Mörderin‘ vor dem Bild deutete sie durch die ungewöhnliche Perspektive an, die unter anderem auch den Betrachter als Zeugen mit ins Geschehen holt. Mit diesem Gemälde findet sie für ihre Gefühle Otokar gegenüber einen Schlusspunkt – und damit für einen Lebensabschnitt, nach dem er sich aus dem Leben wie von den Bildern

35  Es handelt sich um eine Paraphrase des Verses „Chci květem oranžů si vystlat lože“ [Ich will mit Orangenblüten das Lager bestreuen] aus dem späteren Gedicht L’Amorosa. Vgl. Fischer (1956: 95) 36  Die Gestaltung des Blumenteppichs verweist neben der Inspiration durch die veristische Neue Sachlichkeit auch auf die pedantisch genauen Aquarelle mit floralen Motiven, die während ihrer Ornamentstudien an der Prager Kunsthochschule in den Jahren 1916–1919 entstanden. Ihr ganzes Leben interessierte sich Vlasta Vostřebalová Fischerová für Bäume und Blumen; auf dem Teppich sind Stiefmütterchen zu sehen, worauf mich meine Kollegin Martina Pachmanová aufmerksam gemacht hat. Mit ihrer Symbolsprache – sie stehen für Einsamkeit und Verwaisung – erweitern sie noch die Dimensionen des Bildes.

In Wort und Bild: Otokar Fischer und Vlasta Vostřebalová

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der Künstlerin endgültig verabschiedet. Seinen Sohn Jan Otokar wird Fischer jedoch bis zu seinem Tod im Jahre 1938 regelmäßig sehen.37 (Übersetzt von Martin Mutschler)

Literatur Barnová, Michala (2009): Život a dílo Vlasty Vostřebalové Fischerové (1898–1963) [Leben und Werk V.V.F.s; Magisterarbeit]. Brno: Seminář dějin umění FF MU; (https:// is.muni.cz/th/74223/ff_m/, aufgerufen: 20.12.2016). Barron, Stephanie/Eckmann, Sabine (2015): New Objectivity: Modern German Art in the Weimar Republic 1919-1933. Munich/London/New York: DelMonico Book/ Prestel. Dr. Desiderius (=Boettinger, Hugo) (1925/26): Otokar Fischer (1917). – In: Rozpravy Aventina 1 [Gespräche des Aventinums], Nr. 1, 2. Budín, J. L. (1925/26): Z kandidátních řečí klubu PEN [Aus den Reden der Kandidaten des P.E.N.]. – In: Rozpravy Aventina 1 [Gespräche des Aventinums], Nr. 4, 49. Eisner, Paul (1928/29): Fischerův Faust [Fischers Faust]. – In: Rozpravy Aventina 4 [Gespräche des Aventinums], Nr. 27-28, 271-272. Fischer, Otokar (1917): Otázky literární psychologie [Fragen der literarischen Psychologie]. Praha: F. Topič. Fischer, Otokar (1926): Básnické spisy. Definitivní vydání [Dichterische Schriften. Definitive Ausgabe]. Praha: Aventinum. Fischer, Otokar (1929): Duše a slovo. Essaie [Seele und Wort. Essays]. Praha: Melantrich. Fischer, Otokar (1956): Básně. Výbor z básnického díla [Gedichte. Auswahl aus dem dichterischen Werk]. Hg. v. Antonín Matěj Píša. Praha: Československý spisovatel. Habán, Ivo (2014): Mary Duras. Řevnice: Arbor vitae. Homolová Richtrová, Nikola (2011): Otokar Fischer, osobnost a dílo [O.F., Persönlichkeit und Werk]. Diss. Olomouc: Katedra bohemistiky FF UP. (https://theses.cz/id/ mklg57/Disertan_prce_Homolov_Richtrov.docx; aufgerufen: 07.11.2019). 37  Nach den amtlichen Dokumenten des Rechtsstreits um Unterhaltspflichten sah Otokar seinen Sohn regelmäßig und sorgte sich um seine Ausbildung und seine schulischen Leistungen. Wie aus einigen privaten Postkarten hervorgeht, sah Jan Otokar auch seine Großmutter Hermína Fischerová sowie seine Tante Anna Fischerová, Otokars Schwester. LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, Scheidungsverfahren zwischen Otokar Fischer und Vlasta Vostřebalová). LA PNP Praha (Fonds Otokar Fischer, Anna Fischerová an Jan Otokar Fischer, Inv.-Nr. 57/81/3756).

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Kocourek, Franta (1926): Z galerie universitních profesorů, Otokar Fischer [Aus der Galerie von Universitätsprofessoren: O.F.]. – In: Gentleman 3, 228-229. Nývltová, Dana (2011): Femme fatale české avantgardy / Marie Majerová – česká komunistka ve víru feminismu [Die Femme fatale der tschechischen Avantgarde / Marie Majerová – eine tschechische Kommunistin im Strudel des Feminismus]. Praha: Akropolis. Pachmanová, Martina/ Barnová, Michala Frank (2013): Vlasta Vostřebalová Fischerová (1898–1963). Mezi sociálním uměním a magickým realismem [Zwischen sozialer Kunst und magischem Realismus]. Brno / Praha: Moravská galerie Brno / Arbor vitae / Galerie hlavního města Prahy. Plichta, Dalibor (1961): Mary Durasová. Praha: Nakladatelství československých výtvarných umělců Tieze, Agnes (2015): Messerscharf und detailverliebt. Werke der Neuen Sachlichkeit. Köln/ Regensburg: Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg / Wienand Verlag. Thirouin, Marie-Odile (Hg.) (2002): Briefwechsel Rudolf Pannwitz / Otokar Fischer / Pavel Eisner. Stuttgart: Cotta. Vondráček, Vladimír (1978): Lékař vzpomíná [Ein Arzt erinnert sich] 1895–1920. Praha: Avicenum.

In Wort und Bild: Otokar Fischer und Vlasta Vostřebalová

Vlasta Vostřebalová Fischerová: Letná roku 1922 [Der Letnáberg im Jahre 1922] (1926), Öl auf Leinwand, 62 x 82 cm, Nationalgalerie Prag.

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Vlasta Vostřebalová Fischerová: Kateřinky, zlý sen [Kateřinky, böser Traum] (1926), Öl auf Leinwand, 75 x 96 cm, Nationalgalerie Prag.

Kateřina Čapková

Zu Judentum und Nationalismus in Otokar Fischers Korrespondenz Die vielen hundert Briefe im Nachlass Otokar Fischers, die ihn als Kollegen, Verwandten, ehemaligen Mitschüler und Freund aus Kinderjahren zeigen, erlauben nicht nur Einblick in das weit gespannte und dicht gewebte Netz seiner gesellschaftlichen Kontakte, sondern, so viel ist gewiss, auch eine Rekonstruktion seiner Standpunkte und Anschauungen.1 Doch damit nicht genug. Die Korrespondenz als ganz eigene Form des Dialogs, bildet diese Anschauungen nicht nur ab, sie formt sie oft auch erst aus. Meist sind es sehr persönliche Fragen, durch die Fischer zu einer neuen Perspektive auf sein Leben und Werk gelangt; dann wieder ist es die Interpretation eines seiner Texte, die ihn zu einer Verteidigung oder zu einer Revision seines bisherigen Standpunkts veranlasst.2 Überwiegend haben sich die an Fischer adressierten Briefe erhalten, nicht die von ihm verfassten; das ist ein gewisses Manko. Zwar finden sich in den Antwortschreiben seine Ansichten, die wir im Übrigen auch seinen Publikationen und Manuskripten entnehmen können, nicht selten referiert. Dennoch müssen Fischers Briefe an André Spire, die 1  An dieser Stelle gilt mein Dank Daniel Vojtěch für die zahlreichen wertvollen Anmerkungen zu meinem Typoskript. Großer Dank gebührt ebenso Michal Topor, der mich auf die in Fischers Nachlass erhaltenen Briefe Hans Kohns aufmerksam gemacht hat. Ihm und Václav Petrbok verdanke ich zahlreiche Hinweise auf weitere Texte Fischers. Eine erste Fassung dieses Aufsatzes wurde auf Tschechisch und Französisch im Zusammenhang mit der Herausgabe der Korrespondenz zwischen Otokar Fischer und André Spire veröffentlicht (Thirouin 2016a, 2016b). Die Forschungsarbeiten für diesen Aufsatz wurden durch das Projekt Nr. 16-01775Y der Grantagentur der Tschechischen Republik ermöglicht. 2  Manchmal verrät uns die Korrespondenz die Informationsquellen, aus denen Fischer für seine Texte geschöpft hat. So erfuhr er 1923 durch Hans Kohn von den hebräischsprachigen Autoren Samuel Tschernichowski und Chaim Nachman Bialik, die er in seinem 1933 in der Zeitschrift Čin abgedruckten Aufsatz Židé a literatura [Die Juden und die Literatur] erwähnt. Dabei freilich unterläuft ihm ein Versehen, das schmunzeln lässt: statt Tschernichowski schreibt er Tschernyschewski. N. G. Tschernyschewski war jedoch ein bedeutender russischer Revolutionär, dessen Schriften Marx und Lenin beeinflusst haben. Mit dem Judentum und dem Hebräischen hatte er nichts zu tun. Auf die beiden oben genannten hebräischen Autoren kam Fischer kurz vor seinem viel zu frühen Tod noch einmal zurück. Damals bat er Viktor Fischl und František Gottlieb um weitere Informationen. Zu welchem Zweck lässt sich heute nicht mehr sagen.

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Marie-Odile Thirouin kürzlich bei der Tochter des Adressaten fand, als besonders wertvolle Quelle gelten. Der vorliegende Beitrag fragt auf der Grundlage von Fischers Korrespondenz nach dessen Verhältnis zur Nationalitätenfrage und zum Judentum. Nationale Identität, Nationalismus und Judentum werden in Fischers Korrespondenz allerdings so häufig thematisiert, dass hier nur einige Aspekte zur Sprache gebracht werden können. Unter anderem lässt sich anhand dieser Korrespondenz sehr gut darlegen, wie sehr das Verhältnis zu einer oder auch mehreren Nationalgesellschaften vom Spektrum der jeweiligen gesellschaftlichen Kontakte bestimmt ist. Das Bekenntnis zu einer nationalen Identität geht, ob bewusst oder unbewusst, immer auch mit einer bestimmten Interpretation der Geschichte einher, mit anderen Worten: Wer sich zu einer Nationalität bekennt, übernimmt auch deren Narrativ. In Böhmen haben verschiedene Ethnien über Jahrhunderte hin zusammengelebt und somit eine gemeinsame Geschichte geteilt. Hier also überschneiden sich die Gruppen, deren Mitglieder sich im späteren Kampf um die politische Macht und unter dem Druck der nationalistischen Rhetorik für eine der Nationalitäten entschieden oder aber in ihrem nationalen Fühlen Offenheit bewahrten.3 In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, so legt auch Ines Koeltzsch dar, waren die verschiedenen nationalen Affinitäten im Bewusstsein der Prager durchaus verwoben – mochten die staatlichen Behörden und die Nationalisten sich auch noch so sehr um eine Entflechtung bemühen. Daher unterscheidet Koeltzsch (2012) zwischen geteilten und getrennten Kulturen. Für die These, dass der soziale Kontext über die nationalen Affinitäten des Einzelnen entscheidet, lassen sich in Fischers Korrespondenz zahlreiche Belege finden. Überlegungen zur nationalen Identität sind immer vom jeweiligen Gesprächspartner, vom zeitlichen und anderen Kontexten abhängig. In Fischers Korrespondenz mit Rudolf Pannwitz beispielsweise spielt sein Verhältnis zum Judentum nur eine sehr marginale Rolle. Gerade in den Jahren des Ersten Weltkriegs ist die Korrespondenz mit Fischer für Pannwitz ein wichtiges Korrektiv, was seine Ansichten über die politischen Problemlösungen für Europa betrifft. Fischer eröffnet ihm die Perspektive der Tschechen, der tschechischen Nation und des werdenden Staates, er verteidigt das Programm der tschechischen Politiker und schlägt sich für die Sache der tschechischen Nation. So spricht er sich deutlich gegen den Vorschlag aus, den Pannwitz Anfang 1918 in seiner Schrift Der Geist der Tschechen macht, 3  Genaueres vgl. Čapková (2013: 7-15); englische Ausgabe Čapková (2012: 1-13).

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nämlich dass an tschechischen Schulen der Unterricht in den höheren Klassen auf Deutsch erfolgen solle, weil das Deutsche, anders als das Tschechische, eine Weltsprache sei. Fischer schreibt: Das hiesse unsere Sprache und Kultur doch wieder herabsetzen. Das hiesse einem Volk sein kulturelles „Selbstbestimmungsrecht“ (verzeihen Sie das Modewort) nehmen, denn ich kann mir eine Volkskultur durch nichts prägnanter ausgedrückt vorstellen, als eben dadurch, dass es nichts hohes, nichts ideelles, nichts weltbeherrschendes gibt, das ich nicht mittels meiner Muttersprache mir aneignen könnte. Man muss ein Sohn eines Volkes sein, dem das Recht auf die Volkssprache jahrzehntelang streitig gemacht wurde, um diese Forderung, die mit der Muttersprache zusammenhängt, voll zu begreifen. (Thirouin 2002: 49; Hervorhebung K.Č.)

Auch in der Korrespondenz mit Anna Auředníčková, die für das Kulturprogramm der tschechischen Minderheit in Wien zuständig war, zeigt sich Fischer vor allem als ein Fürsprecher der tschechischen Nation und des tschechischen Staates. In einem Brief von 1924 schildert Auředníčková die Aufregung, die Fischer mit einer Bemerkung über das Leiden des tschechischen Volkes zu Zeiten der Habsburger Monarchie hervorgerufen hat, und referiert einen Kommentar des damals führenden Wiener Theatertheoretikers Joseph Gregor: „Vaše přednáška byla výtečná až na tu poznámku, že Rakousko prý potlačovalo Čechy.“ [Ihr Vortrag war ausgezeichnet bis auf die Bemerkung, dass Österreich die Tschechen unterdrückt habe]. Selbst fügt sie dem hinzu: „Patrně má pan Dr. Gregor krátkou paměť, ale zdá se, že divadlu dobře rozumí.“ [Offensichtlich hat Herr Dr. Gregor ein kurzes Gedächtnis, vom Theater hat er aber durchaus viel Ahnung.]4 Auředníčková fragt Fischer immer wieder nach Empfehlungen, was aus der zeitgenössischen tschechischen Literatur ins Deutsche übersetzt werden sollte.5 Zu ungefähr gleicher Zeit bittet André Spire Fischer für die Revue Juive um Aufsätze, Gedichte und Rezensionen „sur les écrivains Juifs de Tchéchoslovaquie et aussi sur les œuvres des non-Juifs qui traitent de sujets Juifs“ [zu jüdischen Schriftstellern in der Tschechoslowakei, aber auch zu Werken nichtjüdischer Autoren, die jüdische Themen bearbeiten] (16. Dezember 1923; Thirouin 2016a: 140). Gerade in der Korrespondenz mit zahlreichen Literaten, die in irgendeiner Weise in der tschechojüdischen oder zionistischen Bewegung engagiert sind, entfaltet sich das gesamte Spektrum von Fischers Auseinandersetzung 4  Literární archiv Památníku národního písemnictví [Literaturarchiv des Museums für tschechische Literatur, weiterhin LA PNP], Nachlass Otokar Fischer, Anna Auředníčková an O. Fischer, 13.03.1924. 5  Ebd., sowie in den Briefen vom 24.12.1924, 29.12.1924 und 21.01.1925.

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mit seinen jüdischen und zugleich auch tschechischen, deutschen und französischen Wurzeln. Hier wird deutlich, wie sehr ihn das Spannungsverhältnis zwischen der jüdischen Kultur und den anderen Kulturen und Nationalgesellschaften interessierte, und nicht selten nötigte er durch äußerst direkte Fragen seinen Adressaten ein persönliches Bekenntnis ab. Er selbst legte in dieser Frage eine erstaunliche Offenheit an den Tag: An den Veranstaltungen der tschechojüdischen Studentenbewegung6 beteiligte er sich ebenso wie an denen des Bar Kochba7, eines Vereins der Prager Zionisten. Er war Beiträger der Zeitschriften Kalendář česko-židovský, Rozvoj, Tribuna sowie des zionistischen Židovský kalendář und hat zumindest eine der Vorstellungen der 1909 in Prag gastierenden jiddischen Laienspielgruppe aus Lemberg besucht. Diese Bandbreite an Aktivitäten und Interessen verdeutlicht Fischers Respekt vor den verschiedenen Wegen zu einer jüdischen Identität; zugleich dürfte sie aber auch seiner eigenen Suche geschuldet sein. Die folgende Analyse, die auf der Korrespondenz Fischers beruht, konzentriert sich auf drei Aspekte, die in engem Wechselverhältnis stehen und für seine Überlegungen zu Judentum und Nationalismus als wesentlich gelten können. Fischers Briefwechsel mit André Spire wird sich dabei als zentrale Quelle für sein Verhältnis zum Judentum erweisen.

1. Bei aller Offenheit Fischers gegenüber den verschiedenen Entwürfen jüdischer Identität findet sich bei ihm doch eine gewisse Bissigkeit oder Skepsis, wenn er den Verdacht hegt, dass der andere seine Wahl als beste betrachtet und damit gleichsam ein Rezept für die Juden in ihrer Gesamtheit gefunden zu haben glaubt. Das störte Fischer an der tschechojüdischen Bewegung ebenso wie am Zionismus. Dies steht auch im Hintergrund eines größeren Missverständnisses zwischen Fischer und seinem ehemaligen Mitschüler und Studienkollegen Viktor Teytz im Jahre 1902. Teytz, späterer Chefredakteur der Wochenschrift 6  So wurde sein Vortrag über Ahasver, den er am 07.02.1903 beim Verein der tschechojüdischen Akademiker hielt, im Kalendář česko-židovský na rok 1903–1904 abgedruckt (Fischer 1903); in anderem Kontext schrieb er für den Kalendář česko-židovský na rok 1906–1907 ein weiteres Mal zur Ahasver-Thematik (Fischer 1906). 7  Vgl. z. B. LA PNP, Nachlass Otokar Fischer, Oskar Epstein an O. Fischer, 17.01.1910.

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Rozvoj, war eine der Schlüsselfiguren des Spolek českých akademiků židů, der studentischen Organisation der tschechojüdischen Bewegung (Kieval 1988: 23-30, 37-40, 154-156). Gerade Teytz’ Engagement in dieser Studentenvereinigung sowie der Versuch, Fischer und seine Schwester Anna für die tschechojüdische Bewegung zu gewinnen, hatten Fischers Missfallen erregt. Teytz hingegen setzt Fischers in einem Brief auseinander, dass ein Missverständnis vorliege: „velice mně hnětlo, že jste v mém nešťastném českožidovství viděl cosi jako attribut arenního politika-agitátora.“ [Es hat mich sehr bedrückt, dass Sie in meinem unglücklichen Tschechojudentum nichts als das Beiwerk eines politischen Agitators in der Arena sehen.]8 Fischer erkundigt sich daraufhin in einem weiteren Brief sehr direkt, warum ausgerechnet er, Teytz, sich eigentlich für einen Juden halte. Teytz antwortet mit einem Bekenntnis, aus dem hervorgeht, dass nationale Identität nicht etwa vorrangig eine Frage der Sprache oder eines politischen Programm sein muss, sondern in erster Linie aus zwischenmenschlichen Beziehungen erwächst. Teytz schreibt: Hlavní, co Vás v mém židovství překvapilo, byl asi můj poloarijský původ. Nuže pokusím se Vám věc vyložiti tak, jak si ji sám vysvětluji. Mé židovství má podivný ráz. Schází mně nejen čistokrevnost raçy, nýbrž také kontinuita tradice. Byl jsem vychován bez židovského náboženství, mimo židovské prostředí. Své mládí jsem prožil ve styku s arijským okolím, k němuž jsem se tak akklimatisoval, že židovství jsem vůbec nechápal, že mně bylo přímo protivné […] Představte si nyní: že v tomto stavu prožil jsem osm let gymnasia a tak také vstoupil na univerzitu. Byla to náhoda, že na první rok mého studia vpadly bouře Masarykovské. Slepá nenávist, instinktivní opovržení, jež s vehemencí dlouho spoutaného živlu se na mne vrhly i se stran, kde jsem byl zvyklý na sympatie – to byla těžká rána pro mne, jež způsobila palčivou bolest, ale neomámila, naopak osvětlila, příšerně osvětlila. […] Jsem člověk příliš sociální – proto otázka antisemitismu, otázka židovská stala se mně otázkou životní. Osobní moje příhoda musela na mně jako intelligenta působiti, abych ujasnil si své postavení jako žid k societé – můj sklon k socialismu nutil mne otázku tu řešiti kollektivně, to jest pojmouti v úvahu židy jako celek. Tedy víte, proč jsem židem, a z toho můžete také viděti, jakým jsem židem. Nejsem židem raçy, tradice, mé židovství je negativní, je plodem společenských poměrů […] jsem židem z hrdosti, ze vzdoru [podtržení v originálu, K.Č.]. [Was Sie an meinem Judentum wohl vor allem überrascht haben dürfte, ist mein halbarischer Ursprung. Nun, ich werde Ihnen die Sache so erklären, wie ich sie mir selber erkläre. Mein Judentum ist merkwürdiger Natur. Mir fehlt nicht nur das reinrassige Blut, sondern auch die kontinuierliche Tradition. Ich bin nicht nach der jüdischen Religion erzogen worden, sondern außerhalb des jüdischen Milieus. Meine Jugend habe ich in arischem Umfeld verbracht, an das ich mich derart akklimatisierte, dass mir jegliches Verständnis für das Judentum fehlte, ja dass es mich abstieß [...]. Und nun stellen Sie sich vor: In diesem Zustand verbrachte ich meine Gymnasiastenzeit und ging an die Universität. Es war Zufall, 8  LA PNP, Nachlass Otokar Fischer, Viktor Teytz an O. Fischer, 30.08.1902.

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dass die Stürme gegen Masaryk9 in mein erstes Studienjahr fielen. Der blinde Hass, die instinktive Verachtung, die mich mit der Vehemenz eines lange gebändigten Elements auch von jener Seite trafen, deren Sympathie ich mir bisher sicher schien – das war für mich ein schwerer Schlag, der mir zwar einen brennenden Schmerz zufügte, mich aber nicht betäubte, im Gegenteil, er verhalf mir zur Erleuchtung, zu einer schrecklichen Erleuchtung. [...] Ich bin ein viel zu sozial angelegter Mensch – deshalb ist die Antisemitismus-Frage, die jüdische Frage für mich eine existenzielle Frage. Meine eigenen Erfahrungen mussten mich als intelligenten Menschen dazu veranlassen, mir Klarheit darüber zu verschaffen, wie ich als Jude zu dieser Gesellschaft stehe – aufgrund meiner Neigung zum Sozialismus stellte ich diese Frage kollektiv, das heißt ich betrachtete dabei die Juden in ihrer Gesamtheit. Jetzt wissen Sie also, warum ich ein Jude bin, und daraus wiederum können Sie auch ersehen, was für ein Jude ich bin. Ich bin kein Jude nach Rasse oder Tradition, mein Judentum ist sozusagen ein negatives, es ist die Frucht der gesellschaftlichen Verhältnisse [...] ich bin ein Jude aus Stolz, aus Trotz [Unterstreichung im Orig., K.Č.]].10

Ganz ähnlich sah sich auch der um eine Generation jüngere František Gottlieb genötigt, seine Haltung zum Judentum gegenüber Fischer zu verteidigen. Er war offenbar der erste tschechischsprachige Dichter, der sich offen zum Zionismus bekannte. Gottlieb schreibt Fischer noch als Student der Rechte 1923 aus dem Sommerlager der jüdischen Pfadfinder des Techelet Lavan begeistert von seiner Erfahrung jüdischer Gemeinschaft und von der beglückenden Vorstellung einer jüdischen Heimat in Palästina. Otokar Fischer zügelt ihn in seiner Euphorie, und Gottlieb erwidert: […] k Vaší poznámce o žid. nacionalismu jako contradictio in adiecto měl [bych] jenom výkřik: ‚Vždyť je víc než samozřejmé, že pravý žid si neudělá z  nějakého vlastenčení ‚životní program!‘ Při tom však stejně popřu osudovou rovnici: Žid = kosmopolita. K  někomu přece patřit musím, člověk je sociabilis, lidskou jeho povinností je, aby se nachýlil k  prostředí, kde rozkvět jeho sociability je nejzaručenější. Je tomu pro mne v českém, německém nebo francouzském prostředí? Je tam nerušenost projevu? Nikoliv. Jdu proto za svým pólem, magnetkou je má krev. Cesta vede ad nationem iudaicam. Odtud má jméno můj židovský nacionalismus, o němž, došed, se vyjádřím s  obměnou jako [Stanislav Kostka] Neumann: ‚Jsem Čech! Toť samozřejmost pouze, Nikoliv zásluha, nikoliv ctnost – ‚ 9  Teytz meint hier die Studentenproteste gegen Masaryk, nachdem dieser in Zusammenhang mit der Hilsner-Affäre von 1899 den Ritualmord im Judentum ins Reich der Legenden verwiesen hatte. 10  LA PNP, Nachlass Otokar Fischer, Viktor Teytz an O. Fischer, 30.08.1902. Ganz ähnlich beschreibt auch André Spire seine Hinwendung zum Judentum und schließlich zum Zionismus. Sein Verhältnis zum Judentum wandelte sich, genau wie bei Teytz, infolge antijüdischer Propaganda. In Frankreich war es die Dreyfus-Affäre, die – fast zur selben Zeit wie die Hilsneriade in Böhmen – die Gemüter erhitzte. LA PNP, Nachlass Otokar Fischer, André Spire an O. Fischer, 25.09.1927.

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A v zápětí jsem pamětliv: ‚Jsem nejryzeji vlastenecký, Když dílo své dobře jsem udělal‘11 Nejsem tím zároveň všelidský? Beze sporu, jakože je všelidského významu naše chaluciut, jít do Palestýny a budovat nový společenský řád, pro nějž bahno dnešní Evropy nemá pochopení. Tato kosmopolitská práce předpokládá však tvorbu uprostřed sourodé společnosti. Tou jest národ. Není vrcholem, je základem. [[...] zu Ihrer Bemerkung über den jüdischen Nationalismus als contradictio in adjecto möchte ich lediglich ausrufen: Schließlich ist es mehr als selbstverständlich, dass kein echter Jude irgendeinen Patriotismus zum ‚Lebensprogramm!‘ erhebt. Dennoch bestreite ich die unselige Gleichung: Jude = Kosmopolit. Zu irgendwem muss ich schließlich gehören, der Mensch ist ein sociabilis, seine menschliche Verpflichtung ist es, sich jenem Milieu zuzuneigen, in dem die Entfaltung seiner Sociabilität am besten garantiert ist. Ist das für mich das tschechische, deutsche, französische Milieu? Gäbe es da Freiheit des Ausdrucks? Nein. Ich folge also meinem Pol, mein Blut ist mir die Magnetnadel. Mein Weg führt ad nationem iudaicam. Von daher rührt der Name meines jüdischen Nationalismus, von dem ich, dereinst angekommen, in entsprechender Abwandlung mit [Stanislav Kostka] Neumann sagen werde: Ich bin Tscheche! Eine bloße Tatsache ist´s, kein Verdienst, keine Tugend – Und zugleich bin ich mir bewusst: Am reinsten bin ich Patriot, Wenn ich mein Werk gut mache. Bin ich damit nicht auch allgemein menschlich? Ohne Zweifel, wie es auch von allgemein menschlicher Bedeutung ist, dass unsere chalciut12 entschlossen ist, nach Palästina zu gehen und eine neue Gesellschaftsordnung zu errichten, für die der Sumpf des heutigen Europa kein Verständnis hat. Diese kosmopolitische Arbeit setzt freilich ein Tätigsein im Schoße einer homogenen Gesellschaft voraus. Diese Gesellschaft ist die Nation. Die Nation ist nicht das höchste Ziel, sondern das Fundament.]13

Fischers Widerwillen gegenüber organisierten Bewegungen und deren strikte Kategorisierung von Menschen zeigt sich auch in seiner Korrespondenz mit Arne Novák und Hans Kohn. In einem Brief vom November 1922 bekennt Fischer gegenüber dem Schriftsteller Arne Novák: „Nedivím se, že si Tě oblíbili sionisté. Že poznáváš povrchnost asimilantů (těch běžných), je mi ještě sympatičtější. Ale já ovšem nejsem ani to, ani ono – ‚jmenuji se ani ani‘.“ [Kein Wunder, dass die Zionisten solchen Gefallen an Dir finden. Dass Du 11  Gedicht Moje Vlastenectví [Mein Patriotismus] von Neumann (1918). Den Hinweis auf dieses Gedicht verdanke ich Michal Topor. 12  Name für die linksgerichtete Jugend, die nach Palästina auswandern und im Kibbuz arbeiten wollte. 13  LA PNP, Nachlass Otokar Fischer, František Gottlieb an O. Fischer, 20.08.1923.

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die Oberflächlichkeit der Assimilanten erkennst (der gängigen), ist mir noch sympathischer. Aber ich bin im Übrigen weder das eine noch das andere – ‚ich heiße weder noch‘.]14 Hans Kohn, heute vor allem bekannt als führender Historiker auf dem Gebiet der Nationalismustheorie,15 bewegte sich in der Zwischenkriegszeit zwischen Jerusalem, London, Prag und Massachusetts; er war als Professor tätig, aber auch freischaffend als unabhängiger Intellektueller. Sehr engagiert war er in der Brit Schalom-Bewegung, die, um den jüdisch-arabischen Konflikt friedlich und im Sinne der Gleichberechtigung beizulegen, in Palästina die Errichtung eines binationalen Staates anstrebte (Shumsky 2013; Čapková 2010). In der Internationale der Kriegsdienstgegner vertrat Hans Kohn Palästina, Přemysl Pitter die Tschechoslowakei. Die umfangreiche Korrespondenz zwischen Kohn und Fischer belegt, wie sehr beide militanten Nationalismus, Krieg und Xenophobie ablehnten. Dennoch fühlte Fischer sich durch Publikationen Kohns irritiert, in denen dieser sich mit der Rolle und Zukunft von Nationalismus, Zionismus und anderer -ismen befasst. Kohn antwortet Fischer: Ihre Angst vor dem notwendigerweise schematisierenden -ismus teile ich nicht ganz – es ist oft nötig, sich einem -ismus anzuschließen, um über das Individuum hinausgehender Ziele willen, von denen doch die Befreiung des Individuums abhängt. Ich denke hier viel mehr noch an andere Bewegungen als an den Zionismus. Unser Weg geht weder zu den Wurzeln, noch zu den Sternen, sondern mitten dazwischen, wo die Stimme für das, was wir als recht empfinden, uns treibt, wenn sie stark genug ist gegen die Herzensträgheit der Angst und die Gedankenträgheit überkommener Lehren anzukämpfen.16

Die Briefe Otokar Fischers an André Spire weisen eine ganz andere Diktion auf. Auch hier ist Fischers distanzierte Haltung gegenüber einem organisierten Zionismus deutlich herauszuspüren. Doch während er gegenüber seinen Prager Kollegen, Freunden und Verwandten einen kritischen, bisweilen geradezu heftigen Ton anschlägt, respektiert er das zionistische Denken Spires voll und ganz und sieht sich offenbar eher selbst in der Pflicht, seine skeptische Position zu erklären. Und fast ist es, als schwänge darin ein Bedauern mit, dass er die zionistischen Überzeugungen nicht teilen kann.

14  Den Hinweis auf die aufschlussreiche Stelle in Fischers Briefwechsel mit Novák verdanke ich Michal Topor. 15  Sein einflussreichstes und meist diskutiertes Buch ist The Idea of Nationalism. A Study in its Origins and Background (Kohn 1944). Zu Kohns Theorie und seiner Bedeutung siehe Wolf (1976). 16  LA PNP, Nachlass Otokar Fischer, Hans Kohn an O. Fischer, 08.11.1923.

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Zugleich thematisiert er seine grundsätzliche Distanz gegenüber allem „allzu Jüdischen“: Jamais, pour dire vrai, je n’ai été sioniste; jamais je n’ai pu partager (et j’en suis triste de ne l’avoir pas eue) cette fo[i] mystique, cette croyance qu’il y a une terre de promission ou qu’il y a un Messie à venir. Et pourtant, quoique je me sois gardé une sorte de réserve ou de polémique contre tout ce qui me semblait être trop juif  ; je n’ai jamais cessé de sentir que dans les traditions et dans les légendes juives il y a quelque chose de très profond et quelque chose d’inépuisable. [Um die Wahrheit zu sagen, ich war nie Zionist, ich konnte diesen mystischen Glauben, diese Überzeugung, dass ein gelobtes Land existiert oder ein Messias kommen wird, nie teilen (und bin traurig darüber, dass ich es nicht konnte). Aber auch wenn ich mir eine gewissermaßen distanzierte, vielleicht auch polemische Haltung gegenüber allem bewahrt habe, was in mir den Anschein des allzu Jüdischen weckte, so habe ich dennoch nie zu empfinden aufgehört, dass in den jüdischen Traditionen und Legenden etwas sehr Tiefes und Unausschöpfliches liegt.] (9. Mai 1922; Thirouin 2016a: 78f.)

2. Fischer legte zwar kein Bekenntnis zum Judentum als einem politischen oder nationalen Programm ab, doch lässt sich in seinen Texten insofern eine gewisse Entwicklung beobachten, als er immer öfter einräumt, dass das Judentum sein Leben und Werk beeinflusst habe. Wodurch diese Veränderung seiner Sichtweise bewirkt wurde, ist nicht eindeutig zu sagen. Fischer selbst führt gegenüber Spire gleich mehrere Gründe an. Sein wachsendes Interesse am Judentum ist sicher auch daraus zu erklären, dass die xenophoben Attacken, die keineswegs marginale Literaten und Journalisten nach dem Ersten Weltkrieg gegen ihn ritten, eine vollständige Integration Fischers in die tschechische akademische und künstlerische Elite unmöglich machten. Nach Erscheinen seines Dramas Přemyslovci [Die Přemysliden] zogen einige Stimmen gar in Zweifel, ob ein Jude überhaupt das Recht habe, sich mit Themen der tschechischen Nation auseinanderzusetzen. In dieser Richtung äußerten sich beispielweise Jarmil Krecar und Bohumil Mathesius (Frankl/Szabó 2016: 131f.). 1931 war es dann Jakub Demls Schrift Mé svědectví o Otokaru Březinovi [Mein Zeugnis von Otokar Březina], durch die Fischer sich schwer getroffen fühlte. Deml hatte darin geäußert, dass die Juden und namentlich Fischer für die tschechische Kultur,

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die sie sowieso nie verstehen könnten, schädlich seien. Der Abgrund zwischen einem tschechischen Christen und einem Juden sei, als Abgrund zwischen „dvěma cizími plemeny“ [zwei fremden Stämmen] (Deml 1931:484), unüberwindlich. Auch sollte laut Deml Otokar Březina über Fischer geäußert haben, dass „jeho čeština je jako hlas mouchy v uzavřené sklenici“ [dessen Tschechisch sich ausnehme wie die Stimme einer Fliege in einem verschlossenen Glas] (Deml 1931: 454).17 Das alles verstimmte Fischer umso mehr, als er seinerseits, wie aus der Korrespondenz mit Rudolf Pannwitz hervorgeht, Březina hoch schätzte (z. B. Fischer 1929) und überzeugt war, dies beruhe auf Gegenseitigkeit. Mehrfach behauptet Deml in seiner Schrift, die Juden wollten die Weltherrschaft an sich reißen, indem sie andere Nationen auf sophistische Weise untergrüben: Sie würden ihnen „namlouva[t], že není národů“ [einreden, dass es keine Nationen gibt] (Deml 1931: 405). So würdigten sie herab und brächten zu Fall, was den Menschen heilig sei, nämlich nicht nur die Nation, sondern die mit ihr aufs Engste verbundene christliche Kultur. Für die Juden – so legt Deml es Březina in den Mund – sei Kunst nur ein „obchodní artikl“ [Verkaufsartikel] (Deml 1931: 437). Nicht wenig Kritik musste Fischer aushalten, als er zum Chefdramaturgen des Nationaltheaters berufen wurde. Dass es dazu kam, betrachtete er selbst keineswegs als Selbstverständlichkeit. An Pannwitz schreibt er, dass er diese Funktion, obgleich sie mit einer hohen Arbeitsbelastung verbunden sei, als Herausforderung annehme, „da die Berufung eines Germanisten jüdischer Abstammung an das tschechische Nationaltheater in der heutigen Zeit immerhin als etwas Nicht-Alltägliches anzusehen war.“ (Thirouin 2002: 238) Eine wertvolle Quelle für die nach dem Ersten Weltkrieg sich verändernde Einstellung Fischers zum Judentum sind seine Briefe an André Spire, allen voran der Brief vom 15. September 1927 mit seiner einzigartigen Beichte. Hat Fischer sonst seine Briefpartner aus dem tschechischen Milieu dazu provoziert, ihr Verhältnis zum Judentum darzulegen und zu verteidigen, stellt es sich nun in der Korrespondenz mit André Spire geradezu umgekehrt dar. Fischer war von Spires Gedichten zweifellos fasziniert. Sie hatten zwar einen unverkennbar jüdischen Charakter, war ihr Verfasser ja auch Zionist, dennoch lässt sich in ihnen, wie bei Fischer auch, eher eine tastende Suche erkennen und keine einfachen, unumstößlichen Antworten. Auch scheint es, als habe 17  Deml (1931: 454f.) wiederholt diese spöttische Wendung in seinem Text noch mehrmals und setzt sie in Klammern hinter Fischers Namen „(moucha v uzavřené sklenici)“ [(die Fliege im verschlossenen Glas)].

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sowohl die geographische Entfernung als auch die sprachliche Barriere – Spire konnte kein Tschechisch und zu Fischers Überraschung auch kein Deutsch – die Annäherung der beiden eher befördert. Spire stand außerhalb des komplizierten und oft auch konfliktgeladenen Milieus in Prag bzw. Böhmen, in dem Fischer sich kulturell, künstlerisch, akademisch und mitunter auch politisch engagierte. Dank dieser Umstände finden sich gerade in Fischers Korrespondenz mit Spire einzigartige Dokumente, in denen er sich mit seinem Verhältnis zum Judentum auseinandersetzt. In seinem Brief vom September 1927 schildert Fischer einerseits das atheistische Umfeld, in dem er aufwuchs, das Engagement seines Vaters in den Belangen der tschechischen Kultur und Gesellschaft, seine eigene Abkehr vom Judentum und seine Taufe. Bis ins kleinste Detail aber beschreibt er auch seine Kehrtwendung nach dem Ersten Weltkrieg, als er, veranlasst durch das Zusammenspiel vieler Faktoren, insbesondere aber durch die Scheidung von seiner ersten Frau, nach seinen „Wurzeln“ zu suchen begann. Bemerkenswert ist hier die Gegenüberstellung: einerseits die Kindheit, in der er von seiner Mutter „dans un esprit de sans-foi et sans-race“ [in einem freien Geist ohne Glauben und Rasse] erzogen wurde, andererseits die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der er nach seinen Wurzeln sucht und sich bewusst wird, dass er „des frères lointains“ [ferne Brüder] hat, die er bisher nicht zur Kenntnis nahm. Im Dezember 1923 schreibt er noch expliziter: „Et ce n’était qu’après la guerre que je suis revenu […] à mes traditions de naissance; à mes réminiscences d’une race mystique.“ [Und erst nach dem Krieg kehrte ich zurück zu den Familientraditionen, den Reminiszenzen an eine mystische Rasse.] (28. Dezember 1923; Thirouin 2016a: 145). Diese Formulierung, die derart unmissverständlich auf eine, sei es reale oder potentielle jüdische Blutsgemeinschaft verweist, ist zugleich ein Beleg dafür, dass Fischer, indem er seine Position überdenkt, nicht nur auf Veränderungen im Privatleben reagiert, sondern auch auf die aufgeheizte nationalistische Rhetorik und die Diffamierung seiner Person kurz nach Gründung der Tschechoslowakischen Republik. Zugleich verweist Fischer zu Beginn seines Briefes auf die Verflechtung von bewusstem Judentum und Antisemitismus, nämlich wenn er schreibt, dass aus Spires Texten eine „tradition juive qui vous rattache, mon ami, à Heine et à tous ses autres fils, petits-fils, parents – c’est ce ton judéo-antisémite“ [jüdische Tradition zu ihm spricht, die Sie, lieber Freund, mit Heine und allen seinen Söhnen, Enkeln und Vorfahren gemein haben – jenen jüdisch-antisemitischen Ton] (28. Dezember 1923; Thirouin 2016a: 143).

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Als 1923 Fischers Gedichtband Hlasy erschien, machten seine zionistischen Freunde Anzeichen eines spezifisch jüdischen Erbes darin aus. Immer wieder sahen sie in den Hlasy ihre eigenen Belange thematisiert und hielten Fischer daher für einen der ihren. Hans Kohn schreibt: Gestatten Sie mir noch die persönliche Bemerkung, dass mich in dem Bändchen auch das Problem wieder berührt hat, dem ich selbst auf manchen Wegen schon nachgegangen bin, das Problem der Juden in der europäischen Kultur, des Heimatlosen, der zugleich doppelt und mehrfach beheimatet ist. Sie wurzeln ja doch mehr als ich, Kind böhmischer Erde und tschechischer Kultur, die Sie mitgestalten, in Prag lebend, Beamter des tschech. Staats (vermute ich recht, sind Sie mit dem Professor der deutschen Sprache an der tschech. Universität identisch […] haben Sie doch, irre ich nicht, einen Diensteid der Treue ablegen müssen!) – und doch dabei Kenner und Kunde deutscher und französischer und englischer Seelenwelt – und doch scheint über all dieser Verwurzlung und vielfältiger Verflechtung auch bei Ihnen der Schatten des ewigen Volkes, seiner unvergleichlichen Berufung und seines immer erneuten Abfalls zu schweben. Ich, der ich schon in rein örtlichem Sinne weniger verwurzelt bin wie Sie, im Alltäglichen selbst heimloser Wanderer, Bürger der Erde, erschauere immer wieder, wie über alles Wissen und Un-Wissen von Rasse und Volk und Milieu hinweg ‚to zpívá něco ve mně. Plémě těch, kdož jsou ve světě z dob stvoření a jimž je žít až do skonání země‘ [da singt etwas in mir. Das Geschlecht derer, die in der Welt sind seit den Zeiten ihrer Erschaffung und denen zu leben bestimmt ist bis zu deren Ende].18

André Spire erfuhr durch Kohn von Fischers Gedichtband und sah sich durch ihn ebenfalls sogleich zu einem Bekenntnis veranlasst. 1927 schreibt er an Fischer, sie beide trügen, wie viel sie auch einer universellen Kultur verdankten, dennoch tief wurzelnde Instinkte, Neigungen und Regungen in sich: Et puis; au fur et à mesure que nous regardions plus attentivement en nous-mêmes, nous nous sommes aperçus que si nous devions beaucoup à la culture universelle, à celle du milieu où le sort nous avait plongés, il y avait en nous des instincts, des affinités, des mouvements obscurs qui remontaient plus haut et plus loin ; que notre tréfonds, nos moelles, le meilleur et le pire, car le bien et le mal ne sont que l’avers et le revers de la même médaille – étaient un héritage : celui des nombreuses générations de parents juifs qui nous ont donné la vie ; de la vieille culture juive méconnue, broyée, dégradée par les paganismes ou des caricatures de chrétienté. Et quand nous avons découvert cela, puisque la poésie c’est l’expression de ce qu’il y a de plus lointain, de plus instinctif, de plus profond dans nos âmes ; nous avons essayé de le dire, de le chanter. C’est pourquoi vous avez écrit ces Voix admirables où s’entrelacent, comme dans un contrepoint, les grands thèmes lyriques éternels, les énigmes de l’amour, de la femme, les émotions cosmiques ou métaphysiques avec ceux de la race et de la personnalité. Moi j’ai donné mes Poè[mes] juifs. C’est pourquoi vous Tchèque, et moi Français, et descendants de familles fixé[e]s dans nos parties depuis des années bien plus nombreuses que les parents de plus d’un de nos nationalistesxénophobes, nous sommes devenus des poètes juifs. 18  LA PNP, Nachlass Otokar Fischer, Hans Kohn an O. Fischer, 26.05.1923.

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[Und dann ganz plötzlich, als wir aufmerksamer in uns hineinsahen, bemerkten wir, dass wir unsere Urgründe, unsere Wurzeln, das Beste und Schlechteste, denn Gutes und Schlechtes sind nur zwei Seiten ein und derselben Münze, als Erbe mitbekommen haben: über viele Generationen jüdischer Eltern hin, die uns das Leben schenkten; das Erbe der alten jüdischen Kultur, der nicht anerkannten, zermalmten, durch die Beleidigungen und den Hohn des Christentums erniedrigten. Und als wir das entdeckten, versuchten wir, es zu bekennen, es hervorzusingen, denn die Poesie ist der Ausdruck des Fernsten, Tiefsten und Instinktivsten in unseren Seelen. Deswegen haben Sie Ihre wunderbaren Hlasy geschrieben, in denen sich die ewigen lyrischen Themen, die Rätsel der Liebe, der Frau, kosmische und metaphysische Gefühle kontrapunktisch mit den rassischen und persönlichen verflechten. Und ich habe meine Poémes juifs geschrieben. Und so sind wir, Sie als Tscheche, ich als Franzose und beide Nachfahren von Familien, die in unseren Ländern wesentlich länger siedeln als die Eltern von mehr als einem xenophoben Nationalisten, jüdische Dichter geworden.] (6. September 1927; Thirouin 2016a: 228)

Auf die Hlasy reagierte auch Fischers Freund Richard Weiner mit einem bemerkenswerten Brief. Bewunderung für Fischers angebliches Bekenntnis zum Judentum verbindet sich hier mit der Überzeugung, dass die tschechische Gesellschaft für eine Literatur, deren Verfasser sich bewusst zu anderen Wurzeln bekennt, noch nicht reif sei und sie nicht zu schätzen wissen werde: Protože české či československé (chcete-li) obecenstvo nemá ještě dosti zkušeností se svými židovskými spisovateli, aby mohlo správně, plně odhadnouti drahocenný přínos židovstva do jeho, české, literatury, a děsiti se ho jak náleží jakožto rozleptávače autochtonní estetiky, ne-li také jiných hodnot. Tím ovšem nepersifluji hodnotnost tohoto přínosu. Je velké, reelní; ale je nebezpečné, protože je antidotem proti národnímu sobectví. A Československo, má-li býti, může býti jen sobeckým. […] Všichni čeští spisovatelé židovští budou ještě velmi dlouho pokládáni za cosi in margine písemnictví, za curiosity. Až dojde k intimnějšímu poměru, bude jeho jméno: kletba, zlost, pokus o obranu, ale marný. Židovské vědomí bylo podrobeno u nás – r. 1919 počínajíc – těžké zkoušce. Málokterý z židů se dnes, tuším, tají, že jeho ‚asimilace‘ bývala optickým klamem. Její pravé jméno bylo ‚sympatie s nesvobodnými‘. Židům bude v Československu dobře teprve tehdy (ale dojde k tomu, kdy?), až pojem státu splyne s pojmem národa, tak jako tomu ve Francii na příklad. Jenom že se obávám, že té chvíle by bylo českosl. státu v jeho nynější geografické podobě odzvoněno. Je to těžký problém. [Denn das tschechische bzw. (wenn Sie so wollen) tschechoslowakische Publikum hat noch nicht genügend Erfahrung mit seinen jüdischen Schriftstellern, um den unschätzbaren Beitrag des Judentums zu seiner, der tschechischen Literatur, voll und ganz würdigen zu können und um ihn gehörig zu fürchten – als Zersetzungsmittel einer autochthonen Ästhetik, wenn nicht noch anderer Werte. Damit will ich den Wert dieses Beitrags keineswegs persiflieren. Er ist groß, real; aber er ist gefährlich, denn er ist ein Antidot gegen den nationalen Egoismus. Die Tschechoslowakei aber, wenn sie existieren will, kann nicht anders als egoistisch sein. [...] alle tschechojüdischen Schriftsteller werden noch sehr lange als marginale Literatur angesehen werden, als Kuriosum. Sollte es zu einer intimeren Beziehung kommen, so wird ihr Name sein: Fluch, Zorn, vergebliche Verteidigung.

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Das jüdische Bewusstsein wird bei uns – seit 191919 – einer schweren Prüfung unterzogen. Kaum ein Jude, denke ich, macht heute einen Hehl daraus, dass seine Assimilation eine optische Täuschung war. Ihr wahrer Name lautet ‚Sympathie mit den Unfreien‘. Den Juden wird es in der Tschechoslowakei erst dann gut gehen (aber wird es je soweit kommen und wann?), wenn der Begriff Staat und der Begriff Nation ein und dasselbe meinen, wie etwa in Frankreich. Doch ich fürchte, noch im selben Augenblick wäre auch das Ende des tschechoslowakischen Staates in seiner jetzigen geographischen Gestalt eingeläutet. Das ist ein schwieriges Problem.]20

Weiner formuliert hier sehr genau, ja geradezu prophetisch, das fundamentale Dilemma des neuen tschechoslowakischen Staates. Eines der Hauptargumente für dessen Entstehung war das Recht der tschechischen bzw. tschechoslowakischen Nation auf Selbstbestimmung gewesen. Der Staat formierte sich jedoch im Westen in den historischen Grenzen der böhmischen Länder, im slowakischen Teil erklärte man die Donau zur Grenze, die freilich nie Grenze eines eher slowakischsprachigen Territoriums gewesen war. So wurden drei Millionen deutschsprachige Einwohner im böhmischen Grenzland und über eine halbe Million vor allem in der Südslowakei ansässige Ungarn zu Bürgern des neu gegründeten Staates, die sich auf das gleiche Recht berufen konnten. In der Tschechoslowakei konnte sich daher das französische Modell eines Staatsvolkes, das von den Bürgern nicht nur Loyalität gegenüber dem Staat als Institution, sondern auch gegenüber der französischen Nation forderte, schwerlich durchsetzen. Überdies spielte in Frankreich aufgrund der strikten Trennung von Kirche und Staat die Religionszugehörigkeit (zumindest theoretisch) keinerlei Rolle. Da in der Tschechoslowakei lediglich Tschechisch und Slowakisch als Staatssprachen galten, war das französische Modell in der Ersten Republik undenkbar. Die Staatsangehörigkeit hat in der Tschechoslowakei nie die Begriffe Nationalität und Sprache ersetzt; diese dienten im öffentlichen Diskurs gerade zur Differenzierung der Staatsangehörigkeit. Politische Vertretung und Öffentlichkeit machten bei den tschechoslowakischen Bürgern Unterschiede, und zwar je nach Zugehörigkeit zu Mehr- oder einer der Minderheiten. Die Minderheiten wurden zwar toleriert, doch ihre Loyalität, und das heißt die Frage, ob sie für die tschechische und slowakische Nation bzw. deren Staat nicht zur Bedrohung werden könnten, wurde anhaltend diskutiert. Die Interpretation der Hlasy aus der Feder seiner Freunde Kohn, Spire und Weiner unterscheidet sich jedoch in manchem von Fischers eigenem 19  Weiner spielt hier an auf die antijüdischen Ausschreitungen 1919 in den verschiedensten Teilen der Republik; dazu Frankl/Szabó (2016). 20  LA PNP, Nachlass Otokar Fischer, Richard Weiner an O. Fischer, 14.05.1923.

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Verständnis. Noch bevor Kohn für Martin Bubers Zeitschrift Der Jude eine Rezension schrieb, fragte er bei Fischer nach, ob diesem seine Lesart der Sammlung, nämlich dass sie das innere Dilemma eines jüdischen Dichters zeige, nicht widerstrebe. Fischer verwahrte sich tatsächlich dagegen, wenn auch nicht in jeder Hinsicht. Im Januar 1925 schreibt er an Kohn, dass im vergangenen Jahr der tschechische Literaturkritiker und langjährige Dramaturg des Nationaltheaters František Götz die Hlasy rezensiert und dabei hervorgehoben habe, dass es ihm, Fischer, gelungen sei, etwas von der Metaphysik der Gegenwart zu fassen und die Gedichte durch und durch philosophischen Charakter hätten. Diese Interpretation von Götz, so Fischer, halte er für treffend und könne dafür auch Belege aus den Gedichten Orloj světa [Die Weltuhr] oder Čas [Zeit] anführen. Dennoch lässt er einen Ausruf folgen: „Also auch das – jüdisch? Vielleicht haben Sie recht. Und doch, mich graut, als ob ich wieder einen Blick in den Abgrund von Jahrhunderten werfen müsste.“21 Andererseits behauptet Fischer bereits drei Jahre zuvor Spire gegenüber etwas ganz Ähnliches, was er Kohn nun abstreitet. Im Mai 1922 nämlich schreibt er an Spire – und offenbar bezieht er sich dabei auf die Hlasy –, dass darin „beaucoup d’éléments qu’on pourrait nommer « analyse involontaire de l’âme d’un juif moderne »“ [etliche Elemente enthalten sind, die man als ‚unwillkürliche Seelenanalyse eines modernen Juden‘ bezeichnen könnte] (9. Mai 1922; Thirouin 2016a: 101). Freilich distanziert er sich auch in seinen Briefen an Spire vom Zionismus und schreibt 1927 sogar „je suis moins juif que je n’aie pensé au moment où j’ai rédigé mes Voix.“ [vielleicht bin ich noch weniger jüdisch, als ich damals, während ich die Hlasy schrieb, dachte.] (15. September 1927; Thirouin 2016a: 232) Auch andernorts in seinem Briefwechsel mit Spire wehrt sich Fischer gegen eine allzu eindeutige Auslegung als (jüdischer) Dichter, der über jüdische Themen schreibe. Als Spire in seiner Übersetzung von Fischers Gedicht Mystika krve [Mystik des Blutes] für das tschechische Wort bytosti [Wesen] Juifs [Juden] setzte, gab er dem Gedicht eine eindeutige Stoßrichtung, gegen die Fischer Einspruch erhob.22 Anlass zu diesem Missverständnis hatte er allerdings selbst gegeben: Er hatte für Spire bei diesem Gedicht in Klammern ‚Juden‘ hinzugefügt, was dieser als Inter-

21  Leo Baeck Institute, DigiBaeck, Hans Kohn Collection, series III.1, box 3, folder 2, Political and personal correspondence 1912–1935, O. Fischer an H. Kohn, 28.01.1925. Den Hinweis auf diesen Brief verdanke ich Michal Topor. 22  Eine Übersetzung des Gedichts von René Wellek erschien in: Prager Presse 3, Nr. 192 (15.07.1923), Beilage Dichtung und Welt, Nr. 26, 1.

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pretationshinweis verstand, der explizit in die Übersetzung einzuarbeiten sei. Fischer schreibt ihm jedoch: […] corrigez, je vous en prie, l’avant-dernier vers de « Mystique du sang » et ne dites pas « Juifs ». Ce n’est pas dans mon poème recevrait quelque chose de tend[a]ncieux qui est éloigné de mon intention – quelque chose qui n’est pas symbolique ou mythique. [S]i c’est un peu ambigu, ça ne fait rien ; mais de dire « Juifs », ce serait trop, ce serait de la politique, ce serait du sionisme... [Korrigieren Sie bitte den vorletzten Vers in der Mystik des Blutes und sagen Sie nicht ‚Juden‘. Das ist nicht in meinem Gedicht, es war nur meine Erklärung, eine Paraphrase. Mit diesem Wort würde mein Gedicht etwas Tendenziöses bekommen, was meinen Absichten fern liegt – etwas, was weder symbolisch noch mythisch ist. Es macht nichts, dass das etwas mehrdeutig ist, aber hier ‚Juden‘ zu sagen, wäre etwas zu viel, das wäre Politik, das wäre Zionismus...] (21. Dezember 1923; Thirouin 2016a: 141)

Fischer deutet selbst Spires ursprünglich explizit jüdisches Drama Samaël im Kontext einer nicht-zionistischen Philosophie (12. September 1922; Thirouin 2016a: 108-110)23 und Spire ist einverstanden (6. November 1922; Thirouin 2016a: 114-116). In seinem Brief vom September 1927 bekennt er außerdem, dass seine Entwicklung in eine neue Phase eingetreten sei und seine tschechische und seine jüdische Identität sich nun miteinander verbinden würden: Maintenant, après mes Voix, mon point de vue a changé un peu : [j]e suis persuadé que tout ce que j’entreprends, tout ce que j’ai écrit, est basé sur une synthèse entre l’esprit de la langue tchèque et le [génie] d’un peuple grand et maudit, et qu’il y a quelque chose de « juif  » dans mes travaux philologiques, dans mes traductions et dans mes poèmes. [Mais je suis, et je veux être, poète tchèque.] Jetzt, nach den Hlasy, habe ich meinen Standpunkt ein wenig geändert: ich bin überzeugt, das alles, was ich unternehme, alles, was ich geschrieben habe, aus einer Synthese des Geistes der tschechischen Sprache und [dem Genius]24 eines großen und verdammten Volkes hervorgeht, und dass etwas ‚Jüdisches‘ in meinen sprachlichen Arbeiten ist, in meinen Übersetzungen und Gedichten. [Aber ich bin und will ein tschechischer Dichter sein].25 (15. September 1927; Thirouin 2016a: 235)

1933 verfasste Fischer für die Zeitschrift Čin einen bemerkenswerten Aufsatz zum Thema Židé a literatura [Die Juden und die Literatur]. Hier vermeidet er zunächst jede Pauschalisierung und betont, dass der Beitrag der Juden zur europäischen oder auch einer nationalen Kultur von dieser in keiner Weise 23  Fischers Interpretation erschien unter dem Titel „Samaël“ – In: Prager Presse 2, Nr. 248 (10.09.1922), Beilage Dichtung und Welt, Nr. 37, 1f. 24  Nach dem Kontext ergänzt, da die Ecke der Seite abgerissen ist und ein Wort fehlt. 25  Handschriftliche Ergänzung.

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gesondert werden könne. Er schreibt: „Je to jen abstrakce, chceme-li si představit: čím by bylo evropské písemnictví bez židovské ingredience.“ [Das ist nur ein abstraktes Gedankenspiel, wenn wir uns vorzustellen versuchten: was wäre die europäische Literatur ohne die jüdische Ingredienz.] (Fischer 1933a: 750) Und dennoch zählt er nur ein paar Seiten weiter die angeblichen Charakteristika jüdischer Literaten mutig auf. Typisch für sie seien vciťování; schopnost obnažování duševních pohnutek […] radikalismus; odklízení pověr a předsudků, spolu postavení dogmatu nového; nahrazení národnostního ideálu orientací zcela novou: zde stůjž heslo a pojem marxismu jako pars pro toto […] fluktuace; věčný neklid; chvějný výraz, nervosa, nepokoj až k hysterii, dynamismus; s tím snad spojená vloha převážně auditivní, citlivý smysl pro všechno rytmické […] náladovost; víra v koloběh životní; odvaha k improvizacím, láska k nehotovému; romantismus a bergsonism […], také úcta k tradicionalismu [Einfühlung; die Fähigkeit seelische Regungen aufzudecken […] Radikalität; Beseitigung allen Aberglaubens und aller Vorurteile, zugleich die Installation eines neuen Dogmas; die Ersetzung des nationalen Ideals durch eine völlige Neuausrichtung: hier möge das Schlagwort und der Begriff Marxismus als pars pro toto stehen […] Fluktuation; ewige Unruhe; angespannter Ausdruck, Nervosität, Unruhe bis zur Hysterie, Dynamismus; in Zusammenhang damit eine überwiegend auditive Begabung, ein empfänglicher Sinn für alles Rhythmische […] Launenhaftigkeit; Glaube an den Kreislauf des Lebens; Mut zur Improvisation, Liebe zum Unfertigen, Romantik und Bergsonismus […], Respekt vor den Traditionen]

sowie ferner das (Danaer-)Geschenk des Bilinguismus und vor allem die „virtuosita slovního projadřování: kultivování jazyka toho kmene, mezi nímž spisovatel žije a s nímž se nesdílí o stejnou krev, o stejné plémě“ [Virtuosität in der literarischen Durchdringung: die Kultivierung der Sprache desjenigen Stammes, unter dem der Schriftsteller lebt, mit dem er aber nicht dasselbe Blut und dieselbe Rasse teilt.] (Fischer 1933a: 755f.) Bei Fischer, der alles Schubladendenken und jede Ideologie so vehement ablehnt, überrascht hier die unkritische Übernahme der zeitgenössischen rassistischen Terminologie, die ihn bei Jakub Deml ganz gewiss irritierte.

3. Trotz der überraschenden Auflistung angeblicher Charakteristika jüdischer Schriftsteller wird Fischers innerer Bezug zur tschechischen Nation nicht schwächer; zugleich betont er immer mehr allgemeine menschliche Rechte

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und Werte. Im benachbarten Deutschland hatte Hitler die Macht übernommen und mit der brutalen Verfolgung seiner Gegner begonnen, mit deren Schicksal Fischer, der sich in der Flüchtlingshilfe engagierte,26 direkt konfrontiert war. Die Frage nach der tschechischen Nation ist damit für ihn nicht mehr nur die Frage nach der tschechischen Sprache, auch nicht die Frage nach nationaler Autonomie, wie noch während des Ersten Weltkriegs. Vielmehr geht es nun um die Rettung von Bildung und Demokratie vor verblendeten Nationalismen (deutschen wie tschechischen). Lesen wir Fischers Brief an Karel Čapek aus dem Jahr 1934, in dem er sich aus gesundheitlichen Gründen für die nächste Sitzung des tschechischen PEN-Clubs, dem Čapek vorstand, entschuldigt, sehen wir, mit welch hellsichtiger Angst und Akribie Fischer das Geschehen in der deutschen und tschechischen Gesellschaft verfolgte: Já se přiznám k tomu, že bych se cítil velmi dotčen, kdyby mi někdo upíral národní cítění. Ale běží o to, co tím pojmem národ cítíme. U nás je to dnes, jako kdysi, spjato s otázkou germanofilie: a kdo jí propadl – my, kdož ctíme německé básníky, anebo ti, kdož mechanicky přejímají německé metody a chtěli by zavést německou brutalitu? Luxus býti ‚nenárodní‘ nedovoluje si dnes nikdo; už dokonce ne sovětské Rusko! Právě my, znovu a znovu vinění z ‚internacionálnosti‘, měli bychom ukázat, že naše mezinárodnost je hlouběji národní než fráse těch, kdo se tucetkrát za hodinu ohánějí svým nacionalismem.[…] Dnes tu jsou přec jen krvavé události, které nás, nás, kdož věci ducha bereme krvavě vážně, srážejí do jednoho šiku. Ať už přijde něco z toho nejhoršího, anebo ať to zůstane při tomto předstupni toho nejhoršího: analogie se světovou válkou je tu již! A proto bych si přál, aby se utvořil kádr těch, kdo by bděli nad nejvyšším prospěchem osvěty i ve dnech nejkrušnějších – tak jako 1914: nenechat ani na chvilku vychladnout ohýnek. Promiňte, píši-li nadneseně, mám trochu horečku. Hlavní by bylo, aby ten kádr byl dodán námi – - a ne těmi druhými, kdož křičí národ a míní násilí. [Ich gestehe, dass ich sehr getroffen wäre, wenn man mir ein nationales Fühlen abspräche. Aber worum es geht, ist, was wir mit dem Begriff Nation meinen. Bei uns hängt daran heute wie früher die Frage der Germanophilie: Und wer ist ihr verfallen – wir, die wir die deutschen Gedichte so hoch schätzen, oder die, die mechanisch die deutschen Methoden übernehmen und hier die deutsche Brutalität einführen wollen? Den Luxus, nicht national zu sein, erlaubt sich heute keiner; nicht einmal das sowjetische Russland!27 Gerade wir, die wir immer und immer wieder des Internationalismus beschuldigt werden, sollten zeigen, dass unsere Internationalität in tieferer Weise national ist als die Phrasen derer, die dutzendmal in der Stunde mit ihrem Nationalismus um sich fuchteln. [...] Heute handelt es sich eben doch um blutige Geschehnisse, die uns, uns, die wir die geistigen Dinge blutig 26  Eine zentrale Rolle spielte er vor allem bei der Errichtung des sogenannten Šalda-Komitees (Čapková/Frankl 2012). Vgl. auch den Beitrag von Zuzana Duchková in diesem Band. 27  Über die Stellung der ethnischen Minderheiten und die Rolle des Nationalismus in Sowjetrussland war Fischer durch Hans Kohn informiert. Fischer rezensierte Kohns 1932 im Societäts-Verlag in Frankfurt a. M. veröffentlichte Schrift Der Nationalismus in der Sowjetunion. – Siehe LA PNP, Nachlass Otokar Fischer, Maschinenschriftl. Rezension.

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ernst nehmen, in eine geschlossene Reihe treiben. Ob das Allerschlimmste nun eintrifft oder es bei der Vorstufe des Allerschlimmsten bleiben wird: die Parallele zum Weltkrieg ist schon gegeben! Und daher würde ich mir wünschen, dass sich ein Kader derer bildet, die auch in den härtesten Zeiten über das höchste Ziel der Aufklärung wachen – wie 1914; nicht auch nur einen einzigen Augenblick das Feuer erkalten lassen. Verzeihen Sie, falls ich begeistert schreibe, ich habe etwas Fieber. Vor allem muss dieser Kader von uns gestellt werden... und nicht von denen, die Nation schreien und Gewalt meinen.]28

Fischers Abscheu gegenüber jeder im Namen eines Volkes begangenen Gewalt bekräftigt nicht zuletzt sein Tod an ebenjenem Tag, an dem Österreichs Anschluss an Deutschland erfolgte. Pavel Eisner schrieb noch im selben Jahr für den Kalendář česko-židovský einen Nekrolog mit der Überschrift Host Otokar Fischer [Der Gast Otokar Fischer]. Eisner polemisiert hier gleichsam mit Fischer und behauptet, dass vieles, was Fischer gegen Ende seines Lebens als Einfluss seines jüdisch geprägten Geistes verstand, im Grunde tschechisch war. Fischers Empfinden, dass er beim tschechischen Volk nur zu Gast gewesen sei, müsse als subjektive Wahrnehmung jedoch respektiert werden. Eisner schließt mit den Sätzen: „A zde tedy třeba říci: nežil v českém národě žid, jenž by byl hostiteli dal tolik jako tento host. Hostitelce především: té mateřídouškové hroudě a prsti českého slova.“ [Und an dieser Stelle muss gesagt werden: Im tschechischen Volk hat kein Jude gelebt, der seinem Gastgeber so viel geschenkt hätte wie dieser Gast: und insbesondere der Gastgeberin, der quendelbewachsenen lockeren Scholle des tschechischen Wortes.] (Eisner 1938: 72) Das sind ergreifende Worte, mit Liebe geschrieben, doch das Leben und das Werk Otokar Fischers verstehen sie nicht recht. Fischers Gedichtband Host (1937), auf den der Nekrolog anspielt, thematisiert einen versöhnlichen Abschied vom Leben, ein ausgewogenes Bilanzieren. Obgleich es in der Sammlung kein eigenes Gedicht mit dem Titel Host [Gast] gibt, ist völlig klar, dass der Gedichtband mit dem Gast den Menschen an sich meint, den Einzelnen, der in diese Welt eintritt und sie wieder verlassen muss, der nur kurz zu Gast ist. Fischer will sich nicht als Gast beim tschechischen Volk verstanden wissen, wie Eisner unterstellt. Eisners Versuch, in Fischers Schaffen zwischen Jüdischem und Tschechischem zu unterscheiden, ist letztlich ein zu beschmunzelndes Spiegelbild seiner eigenen, durchaus voreingenommenen Überlegungen zum Charakter der Nationen.29 28  LA PNP, Nachlass Karel Čapek, Otokar Fischers an K. Čapek, 12.11.1934. Vgl. auch Fischers Vortrag Dvojí Německo [Zweierlei Deutschland] (Fischer 1933b). 29  Der 2011 erschienene Sammelband zu Pavel Eisner belegt in mehrfacher Hinsicht Eisners nationalistisch-rassistisch geprägte Kulturanschauung, vgl. vor allem Mareček (2011:

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Eine scharfsinnige Analyse der Sammlung Host lesen wir hingegen in František Gottliebs Brief an Otokar Fischer vom September 1937: Vrátil jsem se po přečtení ‚Hosta‘ k Vašemu ‚Poledni‘ a ‚Roku‘. Ty závěrečné básně obou sbírek, jak vyústily, jaký to čistý sloh na stránkách ‚Hosta‘! A připomeňme si Vaše první knížky, a dráha je jasná: od subjektivismu – po lidský hlas. Lhostejno, že zpívá v  první osobě. V této době, jež zbičovala člověka v tupnou, bezbarvou, poslušnou masu, objevujete a nastolujete zase jeho krásu v lásce, utrpení, životě a smrti. Ukazujete nepřímo, že neztratil svou diferenciaci, že nutno s ním počítat. Avšak nebolestníte, jste prost sentimentality – zpíváte a zpěvem otužujete. Provádíte ‚Obrozování‘. Myslím, že stojí kdesi ve Werflovi ‚Die Welt fängt erst im Menschen an -‘. Od člověka ‚vlastního okruhu‘ po člověka života a světa – tak bych chtěl jinak vyjádřit, co jsem výše nazval cestou od subjektivismu po lidský hlas. – ‚a stvořit z trpné zbrojnou duši.‘ [Ich habe mir nach der Lektüre von Host noch einmal Poledne und Rok vorgenommen. Die Schlussgedichte beider Sammlungen, wie diese ausklingen, was für ein reiner Stil auf den Seiten von Host! Denken wir da an Ihre ersten Bändchen, dann ist der Weg klar: von Subjektivismus – zur menschlichen Stimme. Es tut nichts zur Sache, dass diese in der ersten Person singt. In der jetzigen Zeit, die den Menschen zu einer stumpfen, farblosen, gehorsamen Masse niederpeitscht, entdecken und inthronisieren Sie seine Schönheit in der Liebe, im Leiden, im Leben und im Tod neu. Indirekt zeigen Sie, dass der Mensch seine Differenziertheit nicht verloren hat, dass man mit ihm rechnen muss. Und doch stimmen Sie keine Klage an, sind frei von jeder Sentimentalität – Sie singen und im Singen werden Sie stark. Sie leisten eine „Erneuerung“. Irgendwo bei Werfel, glaube ich, steht ‚Die Welt fängt erst im Menschen an –‘.30 Vom Menschen ‚in seiner eigenen Sphäre‘ zum Menschen des Lebens und der Welt – so würde ich sagen wollen für das, was ich oben als Weg vom Subjektivismus zur menschlichen Stimme bezeichnete. – ‚und aus einer erleidenden eine wehrhafte Seele schaffen.‘]31

In seinem Beitrag zum Sammelband anlässlich des 10. Todestages von Otokar Fischer bezieht František Gottlieb gegen Eisner, aber auch andere Interpreten unumwunden Position. Auch wenn er Eisners Namen nicht nennt, ist unverkennbar, dass seine Ironie dessen Ausführungen zu Fischers doppelter Seele gilt: Je mlčení o díle Otokara Fischera, ale bylo nedorozumění o básníku Otokaru Fischerovi, když žil. Jeho smrt na prahu strašné války […] neposkytla už příležitost, aby byla zhodnocena celá lyrikova dráha, a tím opraven soud. I zůstal zaklet v prvotních formulkách, k nimž dal sám příležitost knihami, jež se zvou: Království světa, Ozářená okna, Hořící keř, Léto, Kruhy a Hlasy. – Kdo změřil a porovnal s nimi sbírky, jež následovaly: Peřeje, Poledne, Rok, Host a Poslední básně? Dvojdomý! Muž křižovatek! Opakovalo se do omrzení

129-135, 139-140). Siehe aber auch Kosák (2010). 30  Das Zitat entstammt Werfels Gedicht Lächeln, Atmen, Sprechen aus der Sammlung Einander (1915). Für diesen Hinweis danke ich Michal Topor. 31  LA PNP, Nachlass Otokar Fischer, František Gottlieb an O. Fischer, 28.09.1937.

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z básní prvního údobí. Proč nikdy nebylo zmínky o dvou ramenech vahadla, na nichž byla vyvážena, z hlubin vynesena vědra živé, čiré vody? […] ‚Dvojdomost‘, ‚křižovatky‘, ‚severojižní směr‘, ‚rouhavě bezbožný tvor‘, ‚mé duši somnambulní – jedinou milost přej: Nechceš-li mému pádu, - jménem jí nevolej!‘ Nebo: ‚Zas rozchod. Návrat. Smír… Skon – Loučení – Ó kruhy! Jen příchozí. Jen host. Jen míšenec.‘ A potom, zajisté: vyvrácený z kořenů, déraçiné [sic, správně déraciné, KČ], Ahasver. Téměř ‚ideální‘ popis typu. Přidej postřeh o ‚orientální smyslnosti‘, abys hluboce prozřel k jeho prapůvodu, nezapomeň v téže souvislosti upozornit na ‚intelektuálnost‘, vsuň rychle teploměr pod paždí jeho Musy a vyčti na stupnici své omezenosti cosi o chladu poesie, pak se smiluj nad ‚synem štvané rasy‘, a pro větší zdání objektivity zvol citát z básně řeckého námětu o Orestovi: ‚Náš rod je božstvím proklet‘ […] [Man schweigt zum Werk Otokar Fischers, doch es bestand ein Missverständnis hinsichtlich des Dichters Otokar Fischer, solange dieser noch lebte. Sein Tod kurz vor Ausbruch eines schrecklichen Krieges [...] ließ keine Gelegenheit mehr, seine gesamte lyrische Bahn zu würdigen und das einmal gesprochene Urteil zu korrigieren. Er blieb unter dem Zauberbann jener ersten für ihn gefundenen Formeln, zu denen er freilich selbst Anlass geboten hatte mit Büchern wie Království světa [Das Königreich der Welt], Ozářená okna [Beleuchtete Fenster], Hořící keř [Der brennende Busch], Léto [Sommer], Kruhy [Kreise] und Hlasy [Stimmen].32 – Wer aber hat sie gemessen, verglichen mit den Bänden, die später folgten: Peřeje [Stromschnellen], Poledne [Mittag], Rok [Jahr], Host [Der Gast] und Poslední básně [Letzte Gedichte]? Zwiebehauster! Mann der Kreuzungen! All das hat man bis zum Überdruss aus den Gedichten der ersten Zeit wiederholt. Warum hat man nie den Wiegebalken erwähnt, dessen Eimer beidseits reines lebendiges Wasser schöpfen, herauftragen aus den Tiefen. [...] ‚Zwiehäusigkeit‘, ‚Kreuzungen‘, ‚nordsüdliche Richtung‘, ‚gottlos lästerliches Geschöpf‘, ‚der somnambulen Seele mein gönn diese eine Gnade: Willst du nicht meinen Fall – so ruf sie nicht beim Namen!‘ Oder: ‚Erneute Trennung. Rückkehr. Und Versöhnung... Tod – Abschied – Ach, ihr Kreise! Nur Ankömmling. Nur Gast. Ein Mischling nur.‘ Und dann, natürlich: entwurzelt, déraçiné [sic!, statt déraciné, KČ], Ahasver. Eine geradezu idealtypische Beschreibung. Entdecke dazu noch ‚orientalische Sinnlichkeit‘, damit du deinen Blick tief hinabsenkst bis zu des Dichters Urherkunft, und just an dieser Stelle versäume nicht den Hinweis auf seine ‚Intellektualität‘, schieb flugs ein Fieberthermometer unter die Achsel seiner Muse und lies von der Skala deiner Beschränktheit etwas über die Kälte dieser Poesie ab, sodann erbarm dich über den ‚Sohn der verfolgten Rasse‘, und um den Anschein der Objektivität zu erhöhen, zitiere aus einem Gedicht, das sich auf die griechische Orestie bezieht: ‚Von der Gottheit verflucht ist unser Geschlecht‘ [...]]. (Gottlieb 1948: 54)

Gottlieb, der selbst ein überzeugter Zionist war, konnte eines nicht hinnehmen: die vereinfachende Darstellung Fischers als eines Menschen, der zwar bestrebt ist, sich in das tschechische Volk zu integrieren, zugleich aber weiß, dass er seine jüdische Herkunft nie wird verleugnen können. Auch Josef Brambora stößt bei Gottlieb auf Widerspruch, hatte er doch in seinem Beitrag zu 32  Auf genau diese und zwar nur diese Werke bezieht sich Eisner (1948) in seinem Beitrag Židovství Otokara Fischera [Das Judentum Otokar Fischers].

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Fischers Tschechentum behauptet, dass gerade das Verhältnis zum Tschechentum „je […] jeden z ústředních fischerovských problémů, ne-li vůbec problém centrální“ [eines der zentralen, wenn nicht sogar das Zentralproblem Fischers ist] (Brambora 1948: 73). Gottlieb störte sich an der geradezu obsessiven Manier, den großen Dichter stets aus nationalisierender Perspektive zu betrachten und sein Werk damit zur Projektionsfläche für eigene Probleme zu degradieren. Gottliebs Beitrag zum Jubiläumsband stellt daher gerade die Komplexität von Fischers dichterischem Vermächtnis heraus. In seinen Augen wurde der Dichter in der Arbeit mit Wort und Vers immer genauer, in seinen Themen immer allgemein menschlicher, „až po onu reflexi před smrtí: ‚Kdo vydumá, zda vinu má -‘.“ [bis hin zu jener Reflexion kurz vor seinem Tod: ‚Wer würd’s erklügeln, ob er Schuld hat –‘] (Gottlieb 1948: 59). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Otokar Fischer jedes Bekenntnis zu einer Gruppe oder einem nationalen Programm innerhalb der jüdischen Kommunität verweigert hat. Der tschechojüdischen Bewegung stand er genauso kritisch gegenüber wie dem Zionismus. Während des Ersten Weltkriegs engagierte er sich vehement für das Recht der tschechischen Nation auf einen eigenen Staat, ein eigenes Bildungswesen und ein eigenes kulturelles Leben. In den 1930er-Jahren musste er um das Schicksal dieser Nation fürchten: nicht nur das nationalsozialistische Deutschland erstarkte, auch in der tschechischen Gesellschaft machten sich nationalistische und rechtsgerichtete Tendenzen breit. Seine Bereitschaft, einen Einfluss des Judentums auf sein oder auch das Werk anderer Autoren jüdischer Herkunft einzuräumen, lässt sich nicht so eindeutig fassen. In dieser Frage stehen seine Korrespondenz und die theoretischen Texte in einem gewissen Spannungsverhältnis zu seinem lyrischen Werk. In der Zeit der Hlasy, in denen nicht nur seine zionistischen Freunde einen Beleg für seine ‚Zwiebehaustheit‘ erkennen, setzt er sich gegen eine solche Lesart zur Wehr; in seiner Korrespondenz mit André Spire aber lässt er sie durchaus gelten. In den Jahren der späten Gedichtsammlungen mit eher allgemein menschlicher Thematik (Peřeje, Host, Poslední básně) überrascht Fischer dann in seinen Texten zur Literatur durch die Auflistung typischer Charakteristika jüdischer Schriftsteller. Ein näherer Blick auf diese typischen Charakteristika zeigt, dass wir es hier mit einer Autoprojektion Fischers in das Schaffen anderer jüdischer Schriftsteller zu tun haben. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Einfühlungsvermögen, Bilinguismus, ewige Unrast, Abkehr von Aberglauben und Vorurteilen in Verbindung mit Respekt vor der Tradition sowie ein sprachlich virtuoser Geist für jüdische Autoren typischer sein sollte als für andere. Umgekehrt ließen sich auch Künstler jüdischer Abkunft anführen, auf

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die diese Charakteristika nicht zutreffen. Die hier von Fischer entworfene Typisierung entspricht seiner Selbststilisierung. Vor allem aber gilt, was auch František Gottlieb so sehr betont hat: Fischer war – oft im Gegensatz zu anderen jüdischen und nichtjüdischen Autoren seiner Zeit – darum bemüht, das Ideal der Nation durch einen ganz neuen Entwurf zu ersetzen, bei dem nicht die Nation im Zentrum stand, sondern der Mensch. (Übersetzt von Kristina Kallert)

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Kalender auf das Jahr 1906/07 (5667)]. Praha: Spolek českých akademiků židů, 104-109. Fischer, Otokar (1922): Samaël. – In: Prager Presse 2, Nr. 248 (10.09.), Beilage Dichtung und Welt, Nr. 37, 1f. Fischer, Otokar (1923): Mystik des Blutes. Berechtigte Uebertragung aus dem Tschechischen von René Wellek. – In: Prager Presse 3, Nr. 192 (15.07.), Beilage Dichtung und Welt, Nr. 26, 1. Fischer, Otokar (1929): Březinův rým [Březinas Reim]. – In: Ders.: Duše a slovo. Essaie [Seele und Wort. Essays], Praha: Melantrich, 219-237. Fischer, Otokar (1933a): Židé a literatura [Die Juden und die Literatur]. – In: Čin [Die Tat] 4, Nr. 32, 745-768. Fischer, Otokar (1933b): Dvojí Německo [Zweierlei Deutschland]. – In: Listy pro umění a kritiku [Blätter für Kunst und Kritik] 1, Nr. 6 (11.05), 177-185. Abgedruckt in: Otokar Fischer (1947); Slovo o kritice [Ein Wort über die Kritik]. Hg. v. Josef Brambora. Praha: Václav Petr, 257-275. Frankl, Michal/Szabó, Miloslav (2016): Budování státu bez antisemitismu? Násilí, diskurz loajality a vznik Československa [Staat ohne Antisemitismus? Gewalt, Loyalitätsdiskurs und die Entstehung der Tschechoslowakei]. Praha: Nakladatelství Lidové noviny. Gottlieb, František (1948): Svět básníkův [Des Dichters Welt]. – In: Polák, Karel (Hg.): Památce Otokara Fischera [Dem Andenken Otokar Fischers]. Praha: Práce, 53-59. Kieval, Hillel J. (1988): The Making of Czech Jewry. National Conflict and Jewish Society in Bohemia, 1870–1918. New York/Oxford: Oxford Univ. Press. Koeltzsch, Ines (2012): Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag (1918–1938). München: Oldenbourg. Kohn, Hans (1944): The Idea of Nationalism. A Study in its Origins and Background. New York: MacMillan. Kosák, Michal (2010): Pavel Eisner o svém židovství [Paul Eisner über sein Judentum]. – In: Veronika Dudková/Kristina Kaiserová/Václav Petrbok (Hgg.): Paul/Pavel Eisner. Na rozhraní kultur [Paul/Pavel Eisner. An der Schwelle der Kulturen]. Ústí nad Labem: Albis International, 123-135. Mareček, Zdeněk (2011): Im Banne des Heimat-Diskurses. Zum terminologischen und ideologischen Vegleich der tschechisch- und deutschsprachigen Literaturbetrachtung in der Zwischenkriegszeit. – In: Ines Koeltzsch/Michaela Kuklová/Michael Wögerbauer (Hgg.): Übersetzer zwischen den Kulturen. Der Prager Publizist Paul/Pavel Eisner. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 125-140. Neumann, Stanislav Kostka (1918): Moje vlastenectví [Mein Patriotismus]. – In: Maják [Leuchtturm] 1, Nr. 1 (20.06.), 1 Shumsky, Dmitry (2013): Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900–1930. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Thirouin, Marie-Odile (Hg.) (2002): Briefwechsel. Rudolf Pannwitz / Otokar Fischer /Pavel Eisner. Stuttgart: Cotta.

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Thirouin, Marie-Odile (Hg.) (2016a): „À vous de coeur...“: André Spire et Otokar Fischer 1922–1938 [„Vom Herzen Ihr...“: André Spire und Otokar Fischer 1922–1938]. Praha: PNP. Thirouin, Marie-Odile (Hg.) (2016b), „Ze srdce váš…“: André Spire a Otokar Fischer 1922–1938 [„Vom Herzen Ihr...“: André Spire und Otokar Fischer 1922–1938]. Praha: PNP. Wolf, Ken (1976): Hans Kohn’s Liberal Nationalism: The Historian As Prophet. – In: Journal of the History of Ideas 37, Nr. 4, 651-672.

Marie-Odile Thirouin

Otokar Fischers Verhältnis zu Frankreich und Belgien An Frau Dr. Naděžda Macurová Wenn man sich vornimmt, Otokar Fischers Verhältnis zu Frankreich und Belgien zu isolieren und an und für sich zu charakterisieren, läuft man Gefahr, etwas gekünstelt zu wirken. Und tatsächlich ist es Teil eines komplexen Ganzen, in dem persönliche wie überpersönliche Fragen mit im Spiel sind und das sich überhaupt nur schwer zerlegen lässt. Deshalb möchten die hier angestellten Überlegungen auf der Grundlage von Fischers Nachlass und der bei den stets hilfsbereiten Prager Kollegen1 gesammelten Informationen nur als Akzentsetzung innerhalb eines Ganzen verstanden werden. Otokar Fischers Interesse für die französischsprachige Welt speist sich hauptsächlich aus zwei Quellen – aus kulturpolitischen Überlegungen im Kontext der Entstehung des Tschechoslowakischen Staates, wozu Frankreich einen entscheidenden Beitrag leistete, sowie aus persönlichen Beziehungen zu Literaten, Übersetzern, Dichtern, ob Tschechen, Franzosen oder Belgiern, die in der Zwischenkriegszeit zwischen Prag und Paris (bzw. Brüssel) Brücken schlugen. Ein viel früheres, intimeres Band setzt allerdings Vojtěch Jirát voraus, indem er 1938 in seinem Nachruf auf den eben verstorbenen Otokar Fischer schreibt, Fischer habe neben seinem „überzeugten Tschechentum“ und seiner „perfekten Kenntnis der deutschen Sprache“ auch „die Liebe zur französischen Kultur“ von seinen Eltern „geerbt“ (Jirát 1938: 5f.).2 Obwohl 1  Für Quellenhinweise, Gespräche, Hilfe und freundliche Unterstützung möchte ich mich hier bei Václav Petrbok, Daniel Řehák, Michal Topor, Jakub Češka, Michala FrankBarnová, Petra Ježková, Kateřina Čapková und Regina Weber ausdrücklich und herzlich bedanken. Auch dem Personal des Literaturarchivs (LA PNP) – an erster Stelle Naděžda  Macurová – und der Bibliothek des Instituts für Tschechische Literatur der Tschechischen Akademie der Wissenschaften (Ústav pro českou literaturu AV ČR) in Prag bin ich besonders dankbar für Hilfe und Geduld. 2  „Od svých rodičů zdědil jak přesvědčené češství a lásku k francouzské kultuře, tak dokonalou znalost němčiny.“ (Jirát 1938: 5f.) Bemerkenswert ist dabei, dass hier die französische Kultur mit dem Tschechentum zusammengehört und somit dem deutschen, auf die Sprache begrenzten Element gegenübersteht – eine Konstellation, die sicherlich auf die politischen Verhältnisse im damaligen Europa zurückzuführen ist. Auf die Kindheit ist

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Jirát nicht näher auf das Spezifikum dieser Liebe eingeht, so ist eine solche Aussage insofern aufschlussreich, als das französische Element dabei nicht nur als emotional aufgeladener Teil der elterlichen Erbschaft charakterisiert wird, sondern auch die Rolle eines Mittelglieds zwischen Tschechentum (češství), also Nationalgefühl und -zugehörigkeit einerseits, und deutscher Sprache (němčina) andererseits übernimmt, und zwar in Gestalt von ‚Kultur‘. Diese Konstellation könnte man etwas übertreibend als Chiffre oder Losung betrachten und sagen, Fischers Zuneigung zur französischen Kulturwelt gehöre als ‚Tertium comparationis‘ in ein Dreieck mit dem Bekenntnis zur tschechischen Nation und der vollkommenen Beherrschung der deutschen Sprache. Es bliebe dann aber noch dahingestellt, wie diese Konstellation überhaupt zustande kommen konnte. Daran knüpft sich bei Jirát allerdings das Studium der Romanistik an der Karlsuniversität, das Fischer – wie auch in der Germanistik – um weitere Veranstaltungen an der Karl-Ferdinands-Universität ergänzte (Jirát 1938: 6).3 Wie Michal Topor und Václav Petrbok nachgewiesen haben, hörte Otokar Fischer zwischen Wintersemester 1901/1902 und Sommersemester 1905 Vorlesungen hauptsächlich bei dem Philologen und Gründer der Romanistik an der Karl-Ferdinands-Universität Jan Urban Jarník (1848–1928)4. Zudem nahm Fischer im Sommersemester 1905 an Václav Tilles Unterricht über den modernen Roman teil: der Romanist und künftige Kollege Fischers, der sich 1903 habilitiert hatte und 1912 die Nachfolge von Jaroslav Vrchlický als Komparatist antrat, hatte in Paris studiert und wurde zum wichtigen Vermittler zwischen Frankreich und Otokar Fischer. Er sorgte auch 1926 für die ebenfalls eine besondere Vorliebe für Jules Verne zurückzuführen, dessen Dva roky prázdnin [Zwei Jahre Ferien; orig. Deux ans de vacances] Otokar Fischer in einer Umfrage aus dem Jahre 1927 als das Buch nennt, das auf ihn den größten Eindruck machte (Fischer 1927c). Die Sympathie für Verne dokumentieren Otokar Fischers Bretonské zápisky [Bretonische Aufzeichnungen], die mit einer „Einführung à la Jules Verne“ beginnen (Fischer 1930a). 3  In seiner Studienzeit besuchte Fischer ebenfalls Vorlesungen, Seminare und Übungen an der Prager deutschen Universität bei den Professoren für romanische Philologie Gustav Rolin (1863–1937) und Émile (Emil) Freymond (1855–1918), bei denen sich ein paar Jahre später auch Paul Eisner einschrieb. An der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität hörte Fischer im Sommersemester 1904 noch eine Vorlesung über Rousseau bei Ludwig Geiger (1848–1919) und eine weitere über den realistischen Roman in Frankreich bei dem französischen ausgebildeten Germanisten Émile Haguenin (1872–1925). 4  Bei Professor Jarník, einem Spezialisten der rumänischen Kultur und der vergleichenden Linguistik romanischer Sprachen, hatte Fischer hauptsächlich altfranzösische Philologie und Literatur belegt; beim Schweizer Louis Feller (1856–1919) hörte er dafür im Wintersemester 1902–1903 ein Seminar in Französisch über französische Romantik. Diese Informationen verdanke ich Michal Topor.

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Anstellung Fischers als Gastprofessor in Belgien, wo er selber zuvor gelesen hatte, ebenfalls in Gent.5 Im Nachlass von Otokar Fischer befindet sich ein besonders interessantes Dokument, das Germanistik und Romanistik assoziiert und schon in die Richtung von Fischers künftiger Entwicklung weist, nämlich eine Seminararbeit, die Fischer im Wintersemester 1901/1902 beim Germanisten August Sauer schrieb: Goethes Übersetzung des ‚Essai sur les fictions‘ der Mme de Staël.6 Neben dem 32-seitigen Heft mit der eigentlichen Arbeit hat Fischer auch 14 Seiten Notizen aufbewahrt, worauf Ausdrücke aus dem französischen Original aufgelistet sind mit den entsprechenden Stellen aus Goethes Übersetzung Versuch über die Dichtungen, die von Fischer jeweils einem besonderen Fehlertyp zugeordnet werden (Unbestimmtheit, Gallicismen, Unachtsamkeitsfehler, Nuancen, Missverständnisse, Goethes Individualität, usw…). Diese Listen sind zum Teil mit kritischen Kommentaren versehen, die dokumentieren, wie der Übersetzer Fischer eigentlich bei Goethe in die Schule ging und von vornherein komparatistisch vorging, indem er gleich die ihm verhältnismäßig fremdeste Sprache in den Prozess der Übersetztung miteinbezog: das Französische. Dabei zeichnet sich schon die Rolle ab, die dem Französischen dann immer wieder in Fischers Weltbild zugeteilt wird: die der Distanznahme, die ihm überhaupt die Kritik ermöglicht. Mit dem Ersten Weltkrieg und der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik trat eine radikale Wende in Fischers Verhältnis zur französischsprachigen Kulturwelt ein, das in diesem Kontext eine deutlich politische Färbung annahm und eine öffentliche Form gewann. Denn in Prag galt Frankreich jetzt nicht nur (wenn auch immer noch) als Gegengewicht zur deutschsprachigen Kulturwelt, sondern auch als Verbündeter und Garant des neuen Staates sowie als Vorbild für eine demokratische Staatsordnung. Dabei war Frankreich politisch im Rückgang begriffen und wandte sich schon Anfang der 30er-Jahre von Prag ab, das ihm letzten Endes nur ein willkommener Alliierter zur Durchsetzung seiner Kriegsziele (u. a. bei der Zerlegung Österreich-Ungarns) und zur Abschottung von Deutschland und Sowjetrussland gewesen war (Marès 1988: 714f.). Immerhin instrumentalisierte Frankreich bewusst die französische Kultur und die französische Sprache 5  Im Prager Literaturarchiv (LA PNP) werden 34 Briefe von Václav Tille (1867–1937) an Otokar Fischer aus den Jahren 1907–1935 aufbewahrt. Im Nachlass von Fischer befinden sich übrigens das Typoskript einer Studie Fischers über Tille sowie der Durchschlag zweier Briefe Fischers an Tille aus den Jahren 1914 und 1925. 6  Der Essay von Germaine de Staël erschien 1795 und wurde 1796 von Goethe für Die Horen unter dem Titel Versuch über die Dichtungen übertragen. Vgl. Voisine (1999: 241-250).

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vor allem in den 20er-Jahren, um seinen politischen Einfluss in Mitteleuropa zu fördern und zu festigen (Marès 2004). Solche Bestrebungen stimmten weitgehend mit denen der neu entstandenen Tschechoslowakei überein und gaben gegenseitig Anlass zu pathetischen, damals zwar nicht ungewöhnlichen, jedoch stark befremdlichen Äußerungen: Jiří Pelán erinnert zum Beispiel in seinem Nachwort zu Charles Baudelaires Fleurs du mal (tsch. Květy zla) daran, dass es den tschechischen Übersetzern Baudelaires aus dieser Zeit – darunter Otokar Fischer mit dem Gedicht Don Juan aux enfers (tsch. Don Juan v podsvětí) – darum ging, mit ihrer Arbeit „die Nation, die ihr Blut für uns in Verdun vergoss, zu würdigen“ (Pelán 1997: 138). Kultur und Politik waren in diesem Kontext besonders eng miteinander vermengt, und Otokar Fischer gehörte zu denen, die sich unablässig bemühten, zwischen Frankreich und der Tschechoslowakei kulturell zu vermitteln und somit politisch zu wirken. Damit übernahm er bewusst eine repräsentative Rolle ein: einerseits trat er im französischsprachigen Ausland als Vertreter der tschechischen Kultur auf; andererseits wurde er auch in Prag als Professor an der Karlsuniversität und als Kenner der französischen Kultur zum beliebten Ansprechpartner der französischen Dienststellen, die nach 1918 in der Tschechoslowakei Fuß fassten. Diese Rolle gleichsam als Propagandist mag etwas nebensächlich erscheinen, darf jedoch nicht unterschätzt werden, denn sie kostete Otokar Fischer viel Zeit und Mühe, obwohl sie ihm offenbar immer mehr zur Last fiel, da er sich deren Grenzen bewusst war.7 Darüber hinaus deckte sie sich teilweise mit seinen weiteren persönlichen und geistigen Interessen und gehörte somit natürlich in seine publizistischen Tätigkeiten: Wenn Fischer in zahlreichen Feuilletons, Aufsätzen, Glossen, Berichten und Rezensionen über Vertreter der französischsprachigen Kulturszene, über Inszenierungen, Übersetzungen und Adaptionen ihrer Werke oder auch über kulturpolitische Angelegenheiten referierte, wenn er vereinzelte Übersetzungen aus dem Französischen in tschechischen Zeitschriften und Zeitungen veröffentlichte oder auch Vorträge über französische Themen hielt, wirkte er sicher nicht in erster Linie 7  Brief von Otokar Fischer an Rudolf Pannwitz vom 12.08.1922: „auch Sie, verehrter Freund, Sie selbst sind es, der sich bewusst wird, dass es Verrat an Geist wäre die höhre Welt um eine niedre zu opfern. Auch Sie mögen Gefahren und Versuchungen ausgesetzt sein, die Sie aus Ihrer Ferne und Abgeschiedenheit locken wollen, um Sie einer anderen Welt, der sogenannt praktischen, dienstbar zu machen […]. Ich glaube mit Ihnen, es gibt keinen ärgeren Verrat als denjenigen, der am Geist verübt wird; dies ist aber der Verrat, dessen sich unsere Zeit tagaus tagein schuldig macht; immer schlimmer und stets törichter.“ (Thirouin 2002: 122f.)

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als Propagandist, sondern als Kenner der französischen Kultur, auch wenn er damit mittelbar den Interessen seiner Nation dienen und im Sinne einer übernationalen, europäischen Kultur wirken wollte – in diesem Sinne kann man wohl von einer Art Propagandaarbeit sprechen. Das etwas utopisch anmutende Ziel dieses doppelten, patriotischen Engagements nach außen und nach innen war es, die Franzosen mit der tschechischen Kultur vertraut zu machen und, umgekehrt, zur Verbreitung der französischsprachigen Kultur in der Tschechoslowakei beizutragen. Dazu gehören vor allem zwei Dienstreisen in Frankreich und die schon erwähnte Gastprofessur in Gent. Am 22. Dezember 1921 traf nämlich ein Brief der französischen Botschaft in Prag an Otokar Fischer ein, der ihn vom 14. bis zum 18. Januar 1922 nach Paris anlässlich des 300-jährigen Jubiläums von Molière einlud.8 So vertrat Fischer neben Hanuš Jelínek die Tschechoslowakei bei den verschiedenen Feierlichkeiten, über deren Verlauf er in den Národní listy [Nationalen Blättern] detailgetreu berichtete (Fischer 1922a, 1922b, 1922c).9 Erhalten hat sich übrigens der Entwurf einer Rede, in der Otokar Fischer sich an den französischen Kulturminister wendet und Molière als Schöpfer der ‚echten‘ Komödie würdigt, von der die Tschechen bisher nur geträumt hätten10 – eine Aussage, die für seine damalige Auffassung der kulturellen Beziehungen mit Frankreich charakteristisch ist (Fischer 1920). Der Besuch in Paris gibt Fischer ferner die Möglichkeit, die Vertreter der ganz

8  Die offizielle, von André François-Poncet unterzeichnete Einladung vom 22.12.1921 befindet sich im Nachlass (LA PNP). Darüber hinaus liegen dort Dokumente vor, nach denen Otokar Fischer über die französische militärische Mission in der Tschechoslowakei im Juli 1922 zum Chevalier des Palmes Académiques, einer der höchsten Auszeichnungen in Frankreich für Verdienste um das französische Bildungswesen, ernannt wurde. Auch von Belgien kam 1927 eine Auszeichnung nach der Gastprofessur in Gent (LA PNP). 9  Otokar Fischer nahm an den Feierlichkeiten an der Sorbonne, in der Oper, in der Comédie Française, im Lycée Louis-le-Grand sowie im Palais du Louvre teil. Siehe z. B. die persönliche Einladung vom 09.01.1922, die Fischer vom Lycée Louis-le-Grand erhielt (LA PNP). 10  Manuskript im Nachlass Otokar Fischer (LA PNP): „[…] entre la littérature française et les lettres tchèques que nous avons l’honneur de représenter, il y a beaucoup de différences dont la principale, à mon avis, c’est que votre nation a produit une quantité de comédies très gaies et très spirituelles, tandis que pour nous autres, écrire une comédie, écrire une vraie comédie, c’est un rêve, c’est une ambition.“ Die französischsprachigen Texte von Fischers Hand verfaßte er offenkundig selber; wenn es ging, ließ er sie von Frankophonen überprüfen, wie die handschriftlichen Korrekturen zwischen den Zeilen zeigen – hier zum Beispiel vermutlich von Hanuš Jelínek, dem die französische Sprache geläufiger war als Fischer.

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offiziellen Association française d’expansion et d’échanges artistiques11 persönlich zu treffen – einer Vereinigung zur Förderung der französischen Kultur in der Welt unter der Obhut des Außen- sowie des Kultusministeriums. Im Nachlass befinden sich 14 Briefe an Otokar Fischer, die entweder vom Abteilungsleiter der Association française im Kultusministerium, Robert Brussel, stammen oder von einem seiner Mitarbeiter.12 Laut Vereinbarung sollte Otokar Fischer – neben Václav Štěpán für die Musik und Josef Čapek für die bildenden Künste – das französische Ministerium wenigstens einmal im Monat über die Programme der tschechischen Bühnen benachrichtigen. Wahrscheinlich hatte Fischer nicht die Möglichkeit, sich an diese strenge Ordnung zu halten, aber 1938 war er immer noch offizieller Auslandskorrespondent für die Association française d’action artistique in Prag.13

11  Ab 1934 Association française d’action artistique. Robert Brussel lud Otokar Fischer am 20.01.1922 in den Service des Études vom französischen Kultusministerium ein, dann am 21.01.1922 zusammen mit Paul Léon, dem Leiter der École des Beaux-Arts in Paris, zum Mittagessen ins berühmte Restaurant Bœuf à la mode, 8 rue de Valois. Brussel verweist Fischer weiterhin im März 1924 auf das Kommen von Alfred Cortot, dem Vorsitzenden der Association française d‘expansion et d‘échanges artistiques, nach Prag; ebenfalls empfiehlt er ihm im September 1924 den jungen Musikologen Marc Pincherle (1888–1974), einen Schüler von Romain Rolland, und bittet Fischer, Pincherle mit den Musikkreisen in Prag bekannt zu machen (LA PNP). 12  Robert Brussel, Louis Bouchet (LA PNP): „Quel est à votre avis celui des journaux de Prague que le Service d’Études devrait recevoir et dépouiller [?] Je pose la même question à M. [Václav] Stepan [1889–1944] qui veut bien être notre correspondant pour la musique, et à M. [Josef] Capek [1887–1945], qui veut bien remplir le même office pour les arts plastiques. / J’aimerais bien que vous puissiez vous entendre avec eux afin d’établir en commun une liste comportant le titre d’un ou deux journaux quotidiens et des principales revues de théâtre, de musique et d’art plastique, y compris les arts décoratifs.“ [September 1920] 13  Ausweis im LA PNP. Darüber hinaus wurde Otokar Fischer wenigstens zweimal von Mitgliedern der 1838 auf Anregung von Balzac zum Schutz der Interessen der französischen Autoren gegründeten Société des gens de lettres de France um seine Hilfe angesprochen (Brief von Alexandre Mercereau vom Januar 1922; Briefe von Henri Corbière vom Juni und Dezember 1928, LA PNP).

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Ernennungsdekret von Association française d’Action artistique für Otokar Fischer, Paris 24.01.1938.

Die wichtigsten Kontakte, die Otokar Fischer im damaligen Paris hatte, sind jedoch die mit dem fast gleichaltrigen Charles Vildrac und dessen Schwager Georges Duhamel.14 Beide Dichter hatte Fischer schon im Jahr zuvor in 14  Otokar Fischer war am 19.01.1922 beim Ehepaar Duhamel, 18 rue Vauquelin, Gast – Vildracs waren an dem Abend nicht in Paris (Visitenkarte von Blanche Albane [Duhamel] vom 18.01.1922, LA PNP).

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Prag kennengelernt: Vildrac hatte am 11. April 1921 im Prager Gemeindehaus [Obecní dům] einen Vortrag über die moderne Malerei gehalten, in dem er den Kubismus als überholte Kunstrichtung charakterisierte und die Rückkehr zum Figurativen, zur Psychologie, zum Gefühl in der Kunst verkündete15 – ein Thema, das Fischer, der kein Avantgardist war und ein Verständnis der Kunst vertrat, an dem die Psychologie großen Anteil hatte, sicher naheging.16 Darüber hinaus findet man in Fischers Nachlass den handschriftlichen Entwurf eines Trinkspruchs, den er am 21. Oktober 1921 im Prager Pen-Klub auf Georges Duhamel gehalten und in dem er ein anschauliches Bild von Duhamels Karriere in der Tschechoslowakei vermittelt hatte.17 Fischer wusste, dass Vildrac und Duhamel vor dem Krieg Mitbegründer einer Künstlerkommune nach dem Vorbild von Rabelais’ Abbaye de Thélème gewesen waren. Ziel der Abbaye de Créteil, auch Groupe de l’Abbaye [Abtei-Gruppe] genannt, war es gewesen, sich der Kunst zu widmen in Distanz zur bürgerlichen Gesellschaft, die nicht bereit sei, die führende Rolle von Künstlern anzuerkennen. Damals gehörten Vildrac und Duhamel also noch zur Avantgarde; nach dem Krieg und dem traumatischen Fronterlebnis (Duhamel war vier Jahre als Arzt an der Front) vertraten sie jedoch eine weniger radikale Kunstrichtung, 15  Revue Française de Prague, 30.03.1922, 35f.; auch Brief von Vildrac an Fischer vom 06.05.1921 (LA PNP): „Mais je n’ai cessé de penser à Prague depuis mon retour et notre meilleur plaisir, à Duhamel et à moi, est de parler de vous et de tous nos chers amis de Prague, quand nous sommes ensemble, c’est-à-dire presque chaque jour. / Je n’oublierai pas ces joyeuses heures passées dans votre logis si clair et où l’on setrouve si bien, entre vous deux, à regarder les beaux livres et les jolies plantes ! Et ces soupers qui nous ont réunis, dans une atmosphère si bonne d’amitié, de vieille amitié, semblait-il ! / Est-il besoin de vous dire que je souhaite de tout mon cœur retourner à Prague et que j’y retournerai, mais cette fois avec ma femme [Rose Vildrac-Duhamel] à qui mes récits ont donné un grand désir de voyage.“ 16  Siehe in diesem Band die Beiträge von Daniel Řehák, Filip Charvát und Steffen Höhne (zu Fischer und Dilthey). 17  Otokar Fischer (1921): „dans la Géographie cordiale de la Tchécoslovaquie il y a, parmi les Scènes de la vie d’après-guerre, un chapitre bien cher à nous tous, intitulé ‚Georges Duhamel à Prague‘, et je vous prie de vous en rappeler quelques pages exquises, par exemple celle sur l’auteur de La Lumière [1911], introduit dans notre littérature par Mlle [Josefa] Hrdinová [1888–1949] [Světlo. Hra o 4 děj. Praha Aventinum 1921] et assistant à la première représentation tchèque de sa belle pièce ; ou cette autre : deux écrivains français, hôtes de Mme [Anna] Lauermannová [1852–1932], deux brillants conférenciers acclamés par un public enthousiasmé : Georges Duhamel, assis à côté de Charles Vildrac, les deux poètes accompagnés par notre ami [Hanuš] Jelínek, ou renseignés sur notre théâtre par notre ami [Karel Hugo] Hilar, etc. etc. – souvenez-vous en somme, je vous en prie, de tout cet art qu’a su exercer l’auteur de La possession du monde [1919], en prenant, il y a plus d’une dizaine d’années, possession de nos cœurs.“ (Nachlass, LA PNP).

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die in der Form klassisch war und ideell mit einem Humanismus einherging, der sich als Glaube an den Menschen und an dessen Wert definieren lässt. Politisch waren es Demokraten und überzeugte Europäer im Sinne eines Bundes aller „Menschen guten Willens“ oder – in Abgrenzung zum verwandten Unanimismus von Jules Romains18 – als informelle und brüderliche Vereinigung einzelner Intellektueller guten Willens. Es ist kein Zufall, dass Otokar Fischer gerade Vildrac und Duhamel nahekam, deren Weltbild sich zum Teil mit dem seinen deckte. Von dieser Kunstrichtung ist allerdings heute in Frankreich wenig übrig geblieben: als Dramatiker, aber auch als Dichter sind sowohl Vildrac als auch Duhamel in Vergessenheit geraten, obwohl sie in der Zwischenkriegszeit die offizielle Kulturszene in Frankreich beherrscht hatten. Was Vildrac und Duhamel 1922 Fischer brachten, ist der Zugang zu den damals modernen Pariser Bühnen, die bemüht waren, im Gegensatz zur Comédie-Française und zum Boulevardtheater die Dramaturgie zu erneuern im Sinne einer natürlicheren Spieltechnik und einer textnahen Interpretation von zeitgenössischen Dramen. So wurde Fischer anlässlich seines Besuchs in Paris mit dem Théâtre du Vieux-Colombier von Jacques Copeau bekannt gemacht,19 wahrscheinlich auch mit dem Théâtre de l’Œuvre von Aurélien 18  Im Nachlass von Otokar Fischer (LA PNP) befindet sich das 29-seitige Typoskript seiner tschechischen Übersetzung eines langen Gedichts von Jules Romains mit dem Titel Janovská óda (Ode génoise, 1925), sowie dessen Korrekturfahnen mit dem Datum 07.09.1925. Jules Romains’ Philosophie darf nicht mit der der in der Abteigruppe zusammengefassten Künstler gleichgesetzt werden: Für den Autor der Vie unanime (1908) ist nämlich die Gruppe wichtiger als das Individuum, und es hat sich ihr unterzuordnen. Vildracs und Duhamels Konzeption einer Vereinigung der europäischen Intellektuellen erinnert eigentlich viel mehr an Rudolf Pannwitz’ Europäismus, mit dem sich auch Otokar Fischer im Einklang fühlte (Thirouin 2002: 14f.). 19  Brief von Blanche Albane [Duhamel] an Fischer vom 28.01.1922 (LA PNP): „Je regrette aussi de ne pas vous avoir vu le soir de la Nuit des Rois. On m’a remis votre carte avant le spectacle et j’ai fait dire à la personne qui l’apportait que je pourrais vous voir après le 2ème acte ou à la fin du spectacle. J’espère qu’on vous a rapporté cette réponse. Je souhaite aussi que vous n’ayez pas eu une mauvaise impression du spectacle, j’étais si fatiguée encore ce soir-là. Notre maison commence à reprendre vie, les Vildrac sont de retour et ensemble nous déplorons que vous soyez venu dans un si mauvais moment. Mon mari vous envoie ses amitiés et son souvenir respectueux pour Madame Fischerová.“ Blanche Albane war Schauspielerin und trat seit 1913 unter der Regie von Copeau im Théâtre du Vieux-Colombier auf die Bühne. Fischer sah sie in Shakespeares Nuit des rois [Was Ihr Wollt], der Wiederaufnahme einer erfolgreichen Inszenierung aus dem Jahre 1914. Schließlich kam es zu keinem persönlichen Treffen mit Copeau, wie Frau Duhamel in ihrem Brief vom 28.01. zu verstehen gibt.

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Lugné-Poë, dem Meister des symbolistischen Dramas, und dem Théâtre National Populaire von Firmin Gémier, der dieses neue ‚Volkstheater’ 1920 in Anlehnung an Romain Rolland gegründet hatte.20 So kam Fischer mit Theaterformen in Kontakt, die wegweisende Entwicklungen anstießen, wie er das schon 1920 in einem Leitartikel für die von ihm mitredigierte Wochenzeitschrift Jeviště [Die Bühne] beschrieb.21 Darüber hinaus ist Vildrac für Fischer insofern wichtig, als er Otokar Fischer mit André Spire bekannt machte: Vildrac ließ ihm nämlich im Februar 1922 Spires Gedicht – oder eher Dramengedicht – Samaël zukommen, das Otokar Fischer gleich, wenn auch erfolglos, im Nationaltheater unterzubringen suchte.22 Zwar kam es im Januar 1922 20  Gimier übernahm allerdings 1922 bis 1933 die Leitung des zweiten Hauses der ComédieFrançaise, des Théâtre de l’Odéon. Entwurf einer dreiseitigen Ansprache Otokar Fischers vom Juni 1930 anlässlich des Prager Besuchs von [Firmin] Gémier, LA PNP (der Besuch fiel aus, Fischer schrieb auf der Rückseite mit dem Bleistift: „předvedéno??, přesto Gémier nepřišel“ [vorgetragen, obwohl Gémier nicht kam]): „C’est au nom de l’Association tchécoslovaque des auteurs et critiques dramatiques que j’ai le grand honneur de saluer, avec un sentiment de profond respect, l’illustre hôte du Théâtre National de Prague, M. Firmin Gémier, et de saluer son célèbre ensemble, Mesdames les actrices et Messieurs les acteurs de l’Odéon de Paris, vous ces artistes dont nous venons d’applaudir l’admirable interprétation de Molière. […] Car, pour paraphraser le mot d’un de vos grands écrivains [Victor Hugo], qu’est-ce que l’ambition de nous tous, auteurs ou critiques dramatiques ? Nous voulons apercevoir un coin de la vie actuelle ou passée, à travers le théâtre, nous voulons, nous aussi, parvenir à une synthèse, à une fraternité, à une réunion mondiale. […] Il s’agit de ce que le théâtre devienne une sorte de miroir magique qui a la puissance de refléter les [rayons] de demain et d’après-demain.“ 21  In seinem Leitartikel geht Fischer (1920) von der Feststellung aus, dass französische Werke auf allen Prager Bühnen aufgeführt werden – zum Teil aus politischen Gründen (um die Zensur im Krieg auszugleichen und der Dankbarkeit der Tschechen für Frankreichs Kriegseinsatz Ausdruck zu verleihen), zum Teil auch aus ästhetischen Gründen (man bedürfe in Prag der präzisen und reinen Formen französischer Kunst neben Deutschlands und Russlands Einflüssen); darüber hinaus setzt Fischer das konservative Frankreich dem ‚jungen‘ gegenüber, das mit der Tradition kämpfen muss, um ihre Innovationen durchzusetzen. Dass Fischer die Spannungen in Frankreichs Theaterleben richtig beurteilt, zeigt der relative Misserfolg der Tournee der Comédie-Française 1936 in Prag, auf welcher das tschechische Publikum durch die als veraltet und gekünstelt empfundene Spieltechnik enttäuscht wurde (Letty 1936: 171-177). 22  Brief von Charles Vildrac an Otokar Fischer vom 25.02.1922 (LA PNP): „Cher Monsieur Fischer, J’ai bien vivement regretté mon absence de Paris lors de votre séjour ici ! Mais j’espère que vous reviendrez et que Madame Fischer vous accompagnera. Vous avez dû recevoir de ma part le Samaël d’André Spire. N’est-ce pas que c’est une belle chose ?“ Am 10.09.1922 referiert Fischer in der Prager Presse über den Samaël von Spire, den er mit folgenden Worten vorstellt: „kein Jüngling mehr [Spire war damals 54], doch einer jungen literarischen Schule zugehörig, Mitglied jener feinen und ehrlich ringenden Lyriker-

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noch zu keinem persönlichen Treffen mit Spire, sondern erst im September 1923, als Otokar Fischer, der nach Basel und Wien fuhr, einen Umweg über Paris machte;23 jedoch kann die Vermittlung durch Vildrac als Ausgangspunkt einer Freundschaft betrachtet werden, die das wichtigste Kapitel im Verhältnis Fischers zu Frankreich bildet. Durch Vildrac und Spire entstand auch die Verbindung mit Europe, einer Literaturzeitschrift, die Romain Rolland 1923 zusammen mit Vertretern der ehemaligen Abtei-Gruppe gründete und die bis heute besteht. Die Zeitschrift wollte die französische Leserschaft mit Dichtern des Auslands bekannt machen und literarische Themen behandeln im Zusammenhang mit zeitgenössischen Sozialproblemen. Von Spire erscheinen dort von Oktober 1923 bis Oktober 1973 zahlreiche Aufsätze, darunter im September 1924 ein Porträt von Otokar Fischer neben der französischen Übertragung dreier Gedichte aus Hlasy [Stimmen] mit der Überschrift Poèmes

gruppe, die uns durch Duhamel und Vildrac menschlich so nahe getreten ist.“ (Fischer 1922) Die Rezension knüpft an den Brief von Spire vom 09.02.1922 (Thirouin 2016: 96-98) an: „Cher Monsieur, merci de ce que vous voulez bien me dire de mon ‚Samaël‘. Non certes je n’avais pas écrit ce poème pour le théâtre. Je voulais seulement exprimer sous une forme dialoguée (qui permet d’exprimer diverses attitudes de l’esprit) ce que je pensais du péché originel. Pendant la Guerre, pendant cette grande faillite de la Conférence de la Paix, j’ai été hanté par le ‚péché originel‘ et j’ai voulu dire aux hommes que le vrai péché puni par l’éternel malheur, le vrai triomphe de Satan, était non pas leur désir de goûter un fruit défendu, mais celui de retrouver le Paradis perdu. […] / Je n’ai donc pas essayé de faire représenter ‚Samaël‘. Mais, un jour, Vildrac m’a écrit qu’il pensait que cependant ce poème était représentable et que je devrais l’envoyer à Copeau, et à vous, ainsi qu’au Directeur artistique du Théâtre National de Prague. Copeau croit qu’avec les moyens dont il dispose le premier acte est difficilement représentable. Je le pense aussi. Je lui ai écrit que je pensais tout à fait comme lui et que je croyais que cet acte ne pourrait être joué qu’après un remaniement où l’on emploierait le cinéma ou la lanterne magique [ou des marionnettes] ou un autre moyen qui permettrait d’éviter de mettre sur scène les animaux en carton qui font si souvent un effet ridicule. Les choses en sont restées là, car je suis depuis cette époque malade, obligé, à la suite de surmenage, de vivre dans un isolement absolu et dans une quasi oisiveté.“ Die im Brief unterstrichenen, hier kursiv gedruckten Stellen gehen auf Fischer zurück und bilden den Leitfaden für seine Rezension in der Prager Presse. 23  Fischer und Spire trafen sich zum ersten Mal am Samstag, den 8. September 1923, im Hôtel de Strasbourg in der Nähe der Gare de l’Est (Thirouin 2016: 120-122; 492). Wie mir Michala Frank Barnová freundlich mitteilte, besuchte Fischer damals seine zweite Ehefrau, die Malerin Vlasta Vostřebalová (1898–1963), die sich seit Juni 1923 in Paris aufhielt und die berühmte und beliebte École Colarossi, 10 rue de la Grande-Chaumière, besuchte. Fischer und Spire trafen sich noch einmal 1925 in Prag, dann 1926 in Paris. Als Fischer 1930 in Paris seine Reise in die Bretagne unterbrach, war Spire krank und konnte mit Fischer nur telefonieren (Thirouin 2016: 294f).

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juifs [Jüdische Gedichte]: Mystique du sang, Mille neuf cent seize und Norderney24 [Mystik des Blutes, Neunzehnhundertsechzehn, Norderney]. Spire konnte allerdings nicht Tschechisch und arbeitete mit der deutschen Übersetzung derselben Gedichte durch Rudolf Fuchs und die Brüder Wellek (Thirouin 2016: 125; 131f.).25 Mit Spire gelangt man aber in einen Kreis, der schon an die Privatsphäre und die intimere Frage des Judentums rührt. Doch wollen wir noch einen Augenblick bei der öffentlichen Rolle Fischers verweilen und die zweite offizielle Reise nach Frankreich erwähnen, die 1936 stattfand.26 Diesmal handelte es sich um eine Vortragsreise – die Einladung kam von den französischen Germanisten, mit denen Otokar Fischer im Laufe der Jahre Kontakte geknüpft hatte, denn er war stets am alternativen Standpunkt der heute sogenannten ‚Auslandsgermanistik‘ über die deutsche Literatur interessiert.27 Otokar Fischer war Gast an drei französischen Universitäten und hielt 24  „Il [Fischer] est un de ces médiateurs enthousiastes par qui les chefs-d’œuvre de la littérature universelle ont pénétré la littérature tchécoslovaque […]. Il appartient au groupe des collaborateurs de ce théâtre national tchèque qui a joué, avec d’audacieuses recherches de mise en scène, les meilleures pièces du théâtre français contemporain. […] c’est un poète juif qui ajoute la note tchèque aux multiples accents de cette moderne poésie juive qui […] sonne sur trois continents, dans les langues et les littératures de vingt pays.“ (Spire 1924: 15f.) In seiner Anthologie Quelques juifs et demi-juifs (1928) nimmt Spire die Gedichte von Fischer wieder auf mit einigen Veränderungen (Thirouin 2016: 438-443). Neben Spires Anthologie ist Fischer auch in den damaligen französischsprachigen Anthologien tschechischer Dichtung vertreten, und zwar bei Jitka Utlerová (1928: 58-61) mit den Gedichten L’Envoi und Oreste und bei Hanuš Jelínek (1930: 214-216) in der Einleitung von Jelínek, die auf Spires Porträt von Fischer fußt, sowie mit den Gedichten Mystique du sang und Norderney. 25  In deutscher Übersetzung ist Norderney erschienen in der Prager Presse (Fischer 1923a, 1923b). 26  Petra Ježková bin ich ganz besonders dankbar für den Hinweis auf die im Archiv des Nationaltheaters erhaltenen Dokumente (Einladungen, Zeitungsausschnitte, Fotos…) zur Reise Otokar Fischers nach Frankreich, aus denen sich alle Details dieses Aufenthalts ermitteln lassen. 27  Gemeint sind der Gründer der französischen Germanistik Charles Andler (1866–1933), über dessen Nietzsche-Monographie Fischer (1926d, 1931a) in der Prager Presse  schrieb und dem er ebenda (Fischer 1933) einen Nachruf widmete, dessen Schüler Félix Bertaux (1881–1947) – Vojtěch Jirát erzählte 1928 in einem Brief an Fischer von Bertaux’ eben erschienenem Panorama de la littérature allemande contemporaine de 1882 à 1928 (LA PNP) – sowie Henri Lichtenberger (1864–1941) und Edmond Vermeil (1878–1964), die beide an der Sorbonne lehrten; im Nachlass (LA PNP) befinden sich des Weiteren ein Brief von Jules Legras (1867–1939), einem Germanisten aus Dijon, der sich bei Fischer für einen Hinweis auf sein Werk in der Prager Presse (Fischer 1923) bedankte und ein Brief von Félix

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insgesamt sechs Vorträge, einen am 9. März in Straßburg, dann am 11., 13. und 16. März in Paris und schließlich am 18. und 19. März in Lyon (Anonym 1936). Am Germanistischen Institut der Sorbonne sprach Fischer über Le mystère de la maternité dans le Faust de Goethe [Das Geheimnis der Mutterschaft in Goethes Faust] (eine Abwandlung des 1932 im Jahrbuch der Prager Schule Travaux du Cercle Linguistique de Prague erschienenen Aufsatzes über die Mütter in Goethes Faust (Fischer 1932d: 1-15)), nachdem er ein paar Tage früher im Amphithéâtre Michelet der Sorbonne über L’Idée et les destinées du Théâtre National de Prague [Idee und Schicksale des Prager Nationaltheaters] referiert hatte (der Text dieses Vortrags wurde in der Revue Française de Prague abgedruckt28). Höhepunkt der Reise war jedoch der Vortrag (ebenfalls im Amphithéâtre Michelet) in Anwesenheit des gleichsam als offizieller Dichter geltenden, weltweit bekannten Paul Valéry. Bei diesem besonders feierlichen Anlass referierte Otokar Fischer über De la traduction des œuvres poétiques [Von der Übersetzung von Dichtkunst], ein Thema, das ihm am Herzen lag und das er schon früher auf Tschechisch und Deutsch aufgegriffen hatte. Das französische, im Nachlass befindliche Typoskript des Vortrags29 zeigt jedoch, dass es sich keineswegs um eine einfache Wiederholung handelte: Fischer stellt sich auf sein Publikum ein und geht von zwei Zeilen aus Valérys Gedicht Palme [Palm] aus, die er mit deren deutschen Übersetzung durch Rainer Maria Rilke und mit der tschechischen Übersetzung durch Josef Palivec konfrontiert. Seine These der Neuschaffung des Originals im Geist der Zielsprache illustriert er dann anhand vieler Beispiele aus der französischen Literatur, aber auch aus der deutschen und russischen Dichtkunst, wobei er stets seine französischen Zuhörer an die ‚lebenswichtige Bedeutung’ der Übersetzung für die Tschechen erinnert.30 So tritt Otokar Fischer 1936 in Paris programmatisch als Germanist, als Dramaturg und Dramatiker und auch als Dichter auf – selbstbewusst und elegant. Der Kontrast ist groß zu

Piquet (1855–1942 aus Lille, dem Onkel von Félix Bertaux und Herausgeber der Revue Germanique von 1903 bis 1939, in der er 1927 eine Glosse über Fischers Belgie a Německo [Belgien und Deutschland] veröffentlichte. Vgl. auch Fischer 1934, 1935. Siehe auch in diesem Band für weitere Informationen zu Andler und Lichtenberger den Beitrag von Claus Zittel. 28  Fischer (1936). Der tschechische Text liegt im Nachlass vor (LA PNP). 29  O. F.: „Sur l’art de traduire les œuvres poétiques“, Typoskript im Nachlass (LA PNP), 30 Seiten. Zum Vergleich mit der tschechischen Fassung, siehe Fischer 1929a. 30  Zu Fischer und der Kunst der Übersetzung siehe in diesem Band den Beitrag von Steffen Höhne.

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den ersten Jahren der Nachkriegszeit: Jetzt spricht er die Vertreter der französischen Literatur zwar immer noch respektvoll, aber auf gleicher Stufe an. Es bleibt noch die Gastprofessur Otokar Fischers in Flandern zu erwähnen. Dort hielt er sich mit seiner Familie von Anfang Januar bis Anfang Juli 1926 auf.31 Er war beauftragt worden, die Germanisten Professor Fabrice Polderman, der zum chef de cabinet im Ministerium für Wissenschaft und Kunst in Brüssel befördert worden war, und Dr. Robert Foncke32 im Sommersemester 1926 im Unterricht der Literatur und der Übersetzung zu vertreten. Die Universität Gent war damals Mittelpunkt einer schwierigen Debatte: Seit 1830 war Französisch dort die alleinige Unterrichtssprache. Im Ersten Weltkrieg setzte sich die Flämisierung der Universität unter anderem mit Unterstützung der deutschen Besatzer durch, wurde dann aber wieder rückgängig gemacht (Fischer 1926). 1930 wurde die Universität Gent endgültig flämischsprachig, also nur vier Jahre nach der Gastprofessur von Otokar Fischer, der bei diesem Anlass mit der Flämischen Bewegung näher bekannt wurde. Er nutzte die Zeit seines Aufenthalts, um viel zum Thema Flandern und Belgien zu lesen;33 er führte vor allem mit den belgischen 31  Im Nachlass (LA PNP) befindet sich die Kopie einer behördlichen Anordnung des belgischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst vom 10.02.1926. Demzufolge wird Otokar Fischer als „titulaire de la bourse instituée par l’arrêté royal du 15 décembre 1925 […] chargé de suppléer pendant la présente année académique 1°/ Mr. Polderman, F[abrice], professeur ordinaire, dans son enseignement de l’histoire approfondie de la littérature allemande et d’explication d’auteurs allemands modernes (doctorat) 2°/ Mr. Le Chargé de cours Foncke, r. [Robert], dans son enseignement de traduction à livre ouvert de textes allemands et explication d’auteurs allemands (candidature).“ Auf der Rückseite: „Vu à la Légation de la République tchécoslovaque à Bruxelles pour la légalisation de la copie conforme à l’original Bruxelles le 7 juin 1926.“ In einem Brief vom 09.07.1926 an den Minister für Wissenschaft und Kunst Camille Huysmans (LA PNP) schreibt Fischer: „Monsieur le Ministre, empêché de venir prendre congé, je vous prie de bien vouloir permettre que je vous présente mes remerciements respectueux. Grâce à votre aimable initiative qui m’a fait appeler, pour l’année 1925/26, à l’Université de Gand, j’ai pu nouer mainte relation scientifique entre la Belgique et mon pays, et j’ai eu l’occasion d’étudier, surtout à Gand, à Bruges et à Anvers, les questions qui se rattachent à une jeune nation d’une vieille culture.“ 32  Dr. Robert Foncke (1889–1975) vertrat seinerseits Otokar Fischer an der Karlsuniversität vom Mai bis Juli 1926. Im Nachlass sind acht Briefe und Karten von Foncke an Fischer aus dem Jahre 1926 erhalten sowie zwei Briefe von Fabrice Polderman aus den Jahren 1925–1926 (LA PNP). 33  Die Notizen, die sich Fischer dabei machte, sind im Nachlass erhalten (LA PNP). Sie bestehen einerseits aus einem Konvolut von 113 Seiten und andererseits aus einem Heft mit 169 Seiten, die nicht alle von der Hand Fischers sind (vielleicht von der Hand seiner Frau Blažena Plecháčková, der er sie diktiert hat?). Darunter findet man Hinweise auf

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Kollegen Diskussionen, die manchmal auch zu einer regen Korrespondenz Anlass gaben – gemeint sind der Altphilologe Joseph Bidez (1867–1945), der Romanist Albert Counson (1880–1933), der Historiker Henri Pirenne (1862–1935), der pensionierte Germanist André Bley (1849–1936), die Niederlandisten Jozef-Jan Vercoullie (1857–1937) und Edgard Blancquaert (1894–1964) sowie der Literaturhistoriker Frank Baur (1887–1969), deren Briefe im Nachlass von Otokar Fischer erhalten sind.34 Daraus und aus vielen anderen Anregungen, etwa durch Vojtěch Jirát und František Kalda, entstand 1927 auf Tschechisch der Essay Belgie a Německo [Belgien und Deutschland], in dem Fischer die sprachliche, nationale und religiöse Lage Belgiens zwischen Deutschland und Frankreich darstellte, und ein schöner, auf Französisch verfasster Aufsatz über den Widerhall der flämischen Literatur in Böhmen in der Professor Vercoullie zu seinem 70. Geburtstag gewidmeten Festschrift (Fischer 1927: 125-129). Vieles in Flandern, dessen Kultur und Sprache Fischer mit Begeisterung kennenlernte, erinnerte ihn an Böhmen, wenn auch in umgekehrter Symmetrie: Auch hier erlebt eine kleine Nation ihre (Wieder-)Geburt, muss sich jedoch nicht gegenüber der folgende Werke, die den Umfang von Fischers Lektüren erkennen lassen: F. Daumont, Le Mouvement flamand, 1911; O. Grosjean, La Belgique et le pangermanisme, 1906; H. Pirenne, Le pangermanisme et la Belgique, 1919; H. Pirenne, La formation de la nation belge, 1913; G. Kurth, La frontière linguistique en Belgique et dans le nord de la France, 1895–1898; C. Andler, Le pangermanisme philosophique (1800 à 1914), 1917; H. Vandenhoven, La langue flamande, son passé et son avenir. Projet d’une orthographe commune aux peuples des Pays-Bas et de la Basse-Allemagne, 1844; P. Vermeire, Question belge. La guerre des langues, 1860; M. Kunel, Baudelaire en Belgique, 1912; ein Gedicht von A. Clesse in Chansons, Bruxelles, 1866: 109: Le nom de famille. Réponse d’un Belge aux Journaux Allemands. Août 1847 (air de la „Sentinelle“); M. Wilmotte, La Culture française en Belgique, 1912; A. Counson, De Babel à Paris ou l’universalité de la langue française: „lecture faite à l’Académie Royale à Bruxelles“ (1925). 34  Im Nachlass (LA PNP) sind Briefe, Briefkarten und Postkarten in Französisch oder Deutsch erhalten von Joseph Bidez (13 Stücke, 1926 bis 1935), Albert Counson (6 Stücke, 1926), Henri Pirenne (12 Stücke, 1926 bis 1934), André Bley (45 Stücke, 1926 bis 1936), Jozef-Jan Vercoullie (4 Stücke, 1926 bis 1927), Edgard Blancquaert (5 Stücke, 1926 bis 1927) und Frank Baur (10 Stücke, 1926 bis 1936). Letzterer lobt Fischers Einsatz für die belgische Literatur am 04.09.1926 mit folgenden Worten: „Car ce qui nous fait vibrer plus que la fibre nationaliste, dans ces questions d’interrelations entre peuples de cultures différentes, c’est la conviction qu’il nous faut revenir à la conception Goethéenne de la ‚Weltliteratur‘ selon laquelle le génie littéraire n’est l’apanage exclusif ni des grandes ni des petites nationalités ; et le culte de la beauté, qu’il se soit manifesté dans une langue de grande ou de petite extension, mérite de rayonner par delà les mers et les diasporas linguistiques ! Et voilà pourquoi je vous remercie et je vous félicite bien vivement de ce que vous faites pour la diffusion de notre littérature.“ Fischer redigierte 1930 den Artikel über die belgische Literatur in der tschechischen Enzyklopädie Ottův slovník naučný nové doby.

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verwandten deutschen Kultur und Sprache behaupten, sondern gegenüber der französischen, und dabei der Anziehungskraft Deutschlands bzw. der Niederlande widerstehen. So schreibt Fischer etwas ratlos in der deutschen Übersetzung von Belgie a Německo: Mit der Abhaltung von Vorlesungen an der Universität Gent beauftragt, hatte ich vom Januar bis an den Sommer 1926 die Gelegenheit, aus der Nähe das Nationalitätsverhältnis des zweisprachigen Landes zu beobachten; das Interesse des tschechischen Germanisten daran wurde durch einige Tatsachen erregt, teils durch das Problem des Landes gelagert zwischen grossen Nationen teils und an erster Stelle durch die kulturellen deutschen und belgischen Berührungspunkte, wie auch durch die lebhaften Erinnerungen an die neuerliche Besatzung ; […] überall dasselbe nicht Ruhe lassende Rätsel, das sich dem Psychologen und Historiker aufdrängt, wie es möglich war, dass es zu dem Ereignis des Jahres 1914 [dem deutschen Einmarsch in Belgien] kam und wodurch es zu erklären ist, dass es dazu kommen musste. (Fischer 1927: 1)

Der belgische Fall dient Fischer offensichtlich zur Erforschung nationaler Zustände, die er zwar mit Sympathie beobachtet, jedoch nicht ganz mit denen in Böhmen gleichsetzen könne.35 Denn er müsse feststellen, Flamen vermögen dem Genie ihrer Nation so gut flämisch wie auch französisch Ausdruck zu verleihen, wie er das bei den großen, von ihm bewunderten, jedoch französisch schreibenden Flamen Charles De Coster, Maurice Maeterlinck und Émile Verhaeren beobachten könne (Fischer 1927: 3f.).36 Ähnlich muss Otokar Fischer, der sich im Sommer 1930 in der Bretagne aufhält, feststellen, wie grausam die von ihm so sehr bewunderte Französische Republik mit ihrem revolutionären, egalitären Erbe die bretonische Sprache unterdrückt hat.37 35  Für Fischer decken sich die Interessen von Flamen und Tschechen nur in der erwünschten Entwicklung in Richtung auf ein etwas vages, universelles Nationalgefühl, das nicht mit einer engen, materiellen Auffassung der Nation zusammenhänge: So spricht er im Écho de la littérature flamande en Bohême, von einem „caractère national dans un sens cosmopolite, basé sur des principes artistiques“ (Fischer 1927a: 129). Solche unklaren und allgemeinen Formulierungen geben jedoch ein gewisses Unbehagen zu erkennen, wenn es um die nationale Frage geht. Vgl. dazu verschiedene Artikel in der Prager Presse (Fischer 1926c), 1929 (zu H. Schreiber, Die niederländische Sprache im deutschen Urteil), 1931b (zu M. J. van der Meer, Deutsch-Unterricht und Deutsch-Studium in Holland und H. Bischoff, Die deutsche Sprache in Belgien, ihre Geschichte und ihre Rechte), sowie tschechisch aus derselben Zeit und zum selben Thema (Fischer 1926a, 1926b). 36  Auch in der Prager Presse (Fischer 1927d, 1927e), zu Costers deutscher Übersetzung Fischer (1927f). Zu Verhaeren siehe Fischer (1927b). 37  Vgl. Fischer 1930b, auch als Typoskript (LA PNP), 18 Seiten – hier 1. Folge: 6: „Revoluce, pařížštější a centralističtější než kterýkoli absolutistický panovník, měla heslem, povýšiti svůj francouzský jazyk nad všechny řeči světa, chtěla doslova zničiti „barbarské dialekty“, jež se ve Francii samé stavěly na odpor pokroku. Byla-li tato snaha namířena i proti ital-

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Mit großer Akribie geht Fischer also anhand seiner scharfen Beobachtung der belgischen und bretonischen Fälle weiter an das Rätsel der ‚kleinen Nation‘ heran. Dabei kommt er nicht über eine herdersche Auffassung der Kulturzusammenhänge hinaus und arbeitet mit zeitbedingten Begriffen wie etwa ‚germanische‘, ‚romanische‘ und ‚keltische Rasse[n]‘ oder ‚Welt[en]‘ und ‚Blut[e]‘, die miteinander rivalisieren würden. Diese Art und Weise, von nationalen Kollektiven zu sprechen, findet sich etwa auch bei Spire und vielen anderen Zeitgenossen noch, verhindert jedoch, dass man rein nationalen Denkschemen entkommt, wie das Hans Kohn schon früh erkannte.38 Nichtsdestoweniger versucht Fischer stets – auch am Beispiel Belgiens und der Bretagne –, den Gegensatz zu verstehen zwischen einerseits fruchtbaren geistigen Kontakten und andererseits nationalistischen Gewaltausbrüchen, der ein Rätsel für den Intellektuellen und ein Leiden für den Menschen bildet. Nicht nur im Ausland, auch in Prag übernimmt Fischer eine repräsentative Rolle gegenüber Frankreich und der französischsprachigen Kultur überhaupt. 1920 hatte der Slawist und Historiker Ernest Denis das französische Institut in Prag eingeweiht, das als Dachverband der verschiedenen Komitees der Alliance française39 zur Förderung der französischen Sprache und Kultur in štině a němčině, oč víc proti provinčnímu výrazu krajů, jež beztoho měly pověst církevnického a royalistického zpátečnictví.“ [Die Revolution, Pariserischer und zentralistischer als jeder absolutistische Herrscher, machte es sich zur Losung, ihre französische Sprache über alle Sprachen der Welt zu erheben, sie wollte buchstäblich die „barbarischen Dialekte“ vernichten, die sich in Frankreich selbst dem Fortschritt entgegenstellten. Wenn sich dieses Bestreben auch gegen das Italienische und gegen das Deutsche richtet, um wieviel mehr dann gegen den provinziellen Ausdruck von Regionen, die ohnehin den Ruf einer kirchenhörigen und royalistischen Rückschrittlichkeit hatten.] Siehe auch Fischer (1930c) (zu Margarete Zur, Der bretonische Regionalismus in Frankreich, 1930). 38  „Unser sittliches Einzelgewissen steht über jedem Nationalinteresse, muss und hat daher mit ihm in Konflikt zu geraten, die humanitäre Wahrheit ist die alle Nationalismen richtende Norm. Daneben noch eins: der Nationalstaat, einst sicher ein Faktor der menschlichen Entwicklung, ist heute ihre grösste Gefahr: der Nationalitäten – womöglich der europäische Bundesstaat ist anzustreben. […] mich drückt die heutige Gesellschaft, aber ich weiss keinen Weg, ich sehe die zermalmende Walze herankommen, sehe, dass es kein Entrinnen gibt, und kann nur schreien, dass auch andere sie sehen mögen.“ Brief von Hans Kohn an Otokar Fischer vom 08.06.1923 (LA PNP). 39  Das war die letzte Reise von Ernest Denis (1849–1921) ins Ausland, der wenige Monate später in Paris starb. Er hatte sich mit seinem Werk über die Geschichte Böhmens (vor allem Fin de l’indépendance bohême, 1890, und La Bohême depuis la Montagne blanche, 1903) um die Gründung der Tschechoslowakei verdient gemacht und wird deswegen in Prag bis heute in Ehren gehalten. Zwischen 1925 und 1940 befand sich ein Denkmal auf dem Kleinseitner Ring, das an ihn erinnerte, jedoch 1940 zerstört wurde. 2003 sind dort eine Büste und eine Gedenktafel enthüllt worden.

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der Tschechoslowakei gegründet worden war.40 Es bildete das Pendant zum Institut d’Études Slaves [Institut für slawische Studien] in Paris, das – ebenfalls nach Ernest Denis benannt – 1919 als Dachorganisation der französischen Institute im slawischen Ausland ins Leben gerufen worden war.41 Das französische Institut in Prag entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit zu einer wichtigen Anstalt für wissenschaftliche Ausbildung, die nicht nur Sprachkurse, sondern auch vollständige Studiengänge im Fach Literaturwissenschaft, Jura, Medizin und dergleichen mehr anbot – eine Institution „zwischen Unterricht und Propaganda“, so urteilt Jiří Hnilica mit Recht in seinem Buch über das Französische Institut (Hnilica 2009). Prag stand also an vorrangiger Stelle in der ausländischen Kulturpolitik Frankreichs, und wahrscheinlich verkehrte Fischer regelmäßig im Französischen Institut. Dementsprechend wandten sich dessen Leiter42 unter Umständen auch gern an Otokar Fischer als frankophile und frankophone Persönlichkeit, wenn es darum ging, Prominenzen aus Frankreich oder Belgien mit einer Rede zu ehren oder ihnen eine Auskunft, einen Kontakt zu vermitteln. Über das Französische Institut kam Fischer also mit etlichen französischen Akademikern43 wie auch mit Philosophen (Lucien Lévy-Bruhl), Schriftstellern (Romain Rolland44, Jean Cassou) und Künstlern in Berührung, wenn er nicht direkt von Bittstellern aus Frank40  1938 gab es insgesamt 72 Komitees der Alliance française in der Tschechoslowakei. Als Dachverband war die Alliance 1883 in Paris gegründet worden und schon 1886 in Prag vertreten. Das Institut Français de Prague, das ähnliche Ziele verfolgt wie die Alliance française, jedoch als Außenstelle des französischen Außenministeriums der französischen Botschaft in Prag untersteht, war zunächst in der Resslova ulice (Státní gymnasium) und in der Ostrovní ulice untergebracht; seit 1930 steht es Štěpánská ulice 35. Erste Leiter des Institut Français waren André Tibal (1920–1925) und Louis Eisenmann (1925–1937). Am Institut unterrichteten u. a. Hubert Beuve-Méry Jura und Vladimir Jankélévitch Philosophie. Das Institut wurde 1939–1945, dann 1951–1967 geschlossen und 1993 von François Mitterrand und Václav Havel feierlich neu gegründet. Siehe Hnilica (2009). 41  Von 1919 bis 1948 betreute das Institut d’Études Slaves die Stipendiaten der französischen Regierung aus dem slawischen Ausland; seit 1922 ist es Teil der Université de Paris und wird heute von der Sorbonne verwaltet. 42  Briefe von André Tibal an Fischer sind im Nachlass (LA PNP) erhalten. 43  Hier sind zu nennen: der Germanist Jules Legras aus Dijon (1867–1939), der Pariser Slawist André Mazon (1881–1967), der belgische Byzantinist Henri Grégoire (1881–1964) sowie der Kulturhistoriker Victor-Lucien Tapié (1900–1974), der sich 1921–1922, dann 1931–1932 in Prag aufhielt. 44  Romain Rolland wurde am Montag, den 26. Mai 1924, in den Salons des Café Louvre feierlich empfangen (Einführung von F. X. Šalda, Rede von Otokar Fischer, Vorlesung aus Jean-Christophe und Liluli durch Schauspieler des Nationaltheaters). Plakat zu dieser Aufführung im Nachlass (LA PNP) erhalten.

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reich und Belgien angesprochen wurde, denen er weiterempfohlen worden war.45 Er lieferte auch Beiträge für die Vierteljahresschrift des Instituts, die hochinteressante Revue française de Prague.46 Somit stand Fischer im Mittelpunkt eines großen Netzes von Brief- und Ansprechpartnern, zu denen noch die Freunde und Bekannten zu zählen sind, die in diesen Jahren zwischen Prag und Paris bzw. Belgien hin- und herfuhren, beider Sprachen mächtig waren, ob Franzosen oder Tschechen, und die als weitere Vermittler zwischen den Kulturszenen wirkten: Genannt wurden schon Václav Tille, Hanuš Jelínek47, František Kalda; aber zu nennen wären noch Stanislav Hanuš, Otokar Šimek, Jindřich Hořejší, René Wellek, der tschechische Gesandte in Brüssel Vladimír Slavík, vor allem aber der tschechische Kulturattaché in Paris Miloš Šafránek, Richard Weiner und František Gottlieb, sowie die Lehrbeauftragten am Französischen Institut Fred Bérence und Daniel Essertier.48 45  Briefe an Fischer von Paul Colin, Alexandre Mercereau, Raymond Escholier, Raymond Rouleau, Marcel Pobé, Jean de Menasce, Jean-Jacques Bernard, Albert Cohen im Nachlass (LA PNP). 46  Fischer 1930; Fischer 1931; Fischer 1936. La Revue Française de Prague. Organe de la Fédération des Sections de l’Alliance Française en Tchécoslovaquie erschien vierteljährlich zwischen dem 30.03.1922 und 1938 (Herausgeber: Daniel Essertier, Redakteur: Jean Pasquier). Fischer verfasste außerdem Beiträge für das tschechische französischsprachige Organ, das von 1920 bis 1926 mittwochs und samstags unter dem Namen La Gazette de Prague erschien (Fischer war zwei Jahre lang Theaterreferent für La Gazette de Prague [1921–1923 – Kopie des Vertrags vom 05.03.1921 im Nachlass, LA PNP], dann von 1926 bis 1938 und vom 01.12.1939 bis Juni 1940 wöchentlich unter dem Namen L’Europe centrale (herausgegeben von Rodolphe Vonka, Oskar Butter, Jules Pichon), mit dem Ziel, die Franzosen mit der Tschechoslowakei bekannt zu machen und die Tschechen über die öffentliche Meinung in Frankreich zu mitteleuropäischen Angelegenheiten zu informieren (siehe Fischer 1928, 1932a). Es gab in Prag noch eine weitere französischsprachige monatliche Publikation: Le Petit Journal de Prague (1914–1952, Redakteur: Ferdinand Špíšek (1877–1970) [František Drtina]). 47  Jelínek vermittelt u. a. zwischen Fischer und der Zeitschrift Les Nouvelles littéraires von Maurice Martin du Gard, für die Fischer drei Folgen Tschechischer Briefe 1928–1929 nach dem Vorbild von William Ritter verfasste (Les Nouvelles littéraires, 05.05.1928, 19.01.1929, 05.10.1929); weitere wurden schließlich abgelehnt, weil sie zu lang seien (Korrespondenz im Nachlass, LA PNP). 48  Briefe an Fischer im Nachlass (LA PNP) von Václav Tille (1867–1937), Hanuš Jelínek (1878–1944), František Kalda (1888–1986), Stanislav Hanuš (1885–1943), Otokar Šimek (1878–1950), Jindřich Hořejší (1886–1941), René Wellek (1903–1995), Vladimír Slavík (1884–1952), Richard Weiner (1884–1937), František Gottlieb (1903–1974), dem Schweizer Fred Bérence [eigentlich Frédéric Behrens] (1889–1977) und Daniel Essertier (1888–1931), bei dem sich Jitka Utlerová (1875–1948), Recueil de poèmes tchèques, 1928, für seine Hilfe bei der Übersetzung tschechischer Dichtung ins Französische bedankt (vgl. auch die Rezension Fischers (1925) zu einem Werk von Bérence Le Parricide (tsch.

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Die meisten der hier aufgezählten Namen sind Namen von Übersetzern. Auch Otokar Fischer machte sich auf diesem Gebiet verdient, indem er insgesamt acht Werke aus dem Französischen ins Tschechische übersetzte bzw. aus dem Flämischen mithilfe der französischen und/oder deutschen Übersetzung neben dem flämischen Original. Die getroffene Auswahl von Texten ist an sich vielsagend wie auch die meist schön gestalteten, illustrierten Ausgaben derselben: Es werden damit den Tschechen wertvolle Werke, „Gipfel“ (Fischer 1911: 5)49 der Weltliteratur vermittelt zur Ergänzung der ihnen verfügbaren Texte. „Ich will wohl“, so Otokar Fischer 1921 an Rudolf Pannwitz, „so weit es in meiner Macht steht, dafür Sorge tragen, dass uns die hohen Sterne der deutschen Dichtung auf unserer bewegten Seefahrt nicht verloren gehen!“ (Thirouin 2002: 115) – das gilt wohl auch für die Sterne der französischen und flämischen Dichtung. Aus der belgischen Literatur liegen das poetische Versdrama Émile Verhaerens aus dem Jahre 1901, Filip II.50, vor (Verhaeren 1921), eine dem Genter Kollegen von Fischer, August Vermeylen, zu verdankende Variation auf das Thema des Ewigen Juden (orig. De wandelende Jood, 1906; tsch. Věčný žid, 1926) – eine Brücke zum Samaël von André Spire, aber auch zu Goethe und Apollinaire, immerhin ein literarisches Motiv, das Otokar Fischer faszinierte.51 Da ist weiterhin das mittelalterliche, anonyme Lehrstück in Versen aus dem 14. Jahrhundert Lantsloot vander Haghedochte (tsch. Lancelot a Alexandrina, 1929), und schließlich ein modernes Märchen in mittelalterlichem Stil von Felix Timmermans (Het kindeke Jezus in Vlaanderen, 1917; tsch. Vánoce ve Flandřích, 1931).52 Aus Román o rodičích a dětech). Auch der Journalist und Übersetzer Jules Chopin [eigentlich Jules-Eugène Pichon] (1880–1939), den Otokar Fischer wahrscheinlich schon 1922 in Paris traf, dann in Prag, wandte sich schriftlich an ihn (LA PNP). Nur von Miloš Šafránek (1894–1982) sind keine Briefe im Nachlass erhalten nach dem, was ich feststellen konnte. 49  Der Text eines Vortrags über Corneilles Cid am Vinohradské divadlo (22.09.1920) ist im Nachlass (LA PNP) erhalten. 50  Das Stück ist eine Variation zu Schillers Don Carlos, in der der Akzent auf dem Vater-SohnKonflikt liegt sowie auf dem Aufstand der niederländischen Provinzen als ‚kleine Nation’ gegen Spanien. Brief vom 03.05.1921 von Marthe Massin-Verhaeren, die sich bei Otokar Fischer für die Übersetzung des Stückes ins Tschechische bedankt (LA PNP). 51  Siehe auch: August Vermeylens Ewiger Jude  (Geleitwort zur tschechischen Übersetzung) (Fischer 1926e) und eine Rezension der Gedenkschrift zum 60. Geburtstag des Dichters (Fischer 1932c), an der sich Fischer mit dem Text Hommage à Vermeylen beteiligte (Fischer 1932). 52  An diesem Text gefiel Otokar Fischer wahrscheinlich das fingiert Mittelalterliche und Volkstümliche. In dem Zusammenhang von Fischers Einsatz für die belgische Literatur ist die Affäre Henr[y] Soumagne (1891–1951) zu erwähnen, mit dem er von 1925 bis 1933 korrespondierte (11 Briefe von Soumagne an Fischer im Nachlass, LA PNP): Der junge

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der französischen Literatur übersetzte Otokar Fischer schon 1911 in Anlehnung an Vrchlickýs Übersetzung des Cid eine weitere Tragödie von Corneille (Polyeucte, 1642; Polyeuktos. Tragedie o pěti dějstvích, 1911) mit einer Widmung an seinen Freund Otakar Theer. Mit diesem Werk berührt Fischer das Problem der christlichen Tragödie als Gattung und knüpft damit an eine langjährige Debatte an, die er 1919 in einem Aufsatz mit der Überschrift La tragédie sainte zusammenfasst. 1922 erscheint im Rahmen des erwähnten Molière-Jubiläums Fischers Übersetzung des Lustspiels – oder eher der Farce – Sganarelle ou le cocu imaginaire (tsch. Sganarelle, komedie o jednom dějství). Uraufgeführt wurde sie am 13. Januar 1922 im Ständetheater in der Regie von Jan Bor, Karel Čapeks Bearbeitung derselben im Theater in den Weinbergen am Tag darauf.53 belgische Dramatiker hatte ein Stück verfasst mit dem Titel Příští Mesiáš: dramatický pamflet o pěti obrazech [Der nächste Messias. Ein dramatisches Pamphlet in 5 Bildern; frz. Originaltitel: L’Autre Messie, 1923, von Lugné-Poë in Paris aufgeführt], das 1925 in einer Übersetzung aus dem Französischen von V. Říha [Václav Tille] in Pardubice erschien mit einem Vorwort von F. X. Šalda und einem Nachwort von Otokar Fischer. Das Stück, das Anfang 1925 im Prager Nationaltheater in der Regie von Karel Dostal aufgeführt worden war, hatte Anstoß und Protest erregt und musste schon nach der ersten Aufführung wieder eingestellt werden. Otokar Fischer setzte sich im Januar 1925 im Právo lidu für das Stück ein: Damit fing die Beziehung beider Dramatiker an, die sich im Februar 1925 in Prag kennenlernten. Otokar Fischer vermittelte den Verlag für die tschechische Übersetzung vom Nächsten Messias und ließ noch ein Stück des jungen Autors, Ultimo [Requiem], im April 1928 im Ständetheater in einer Inszenierung von Karel Dostal aufführen. Ultimo übersetzte Fischer ins Tschechische zusammen mit seiner Frau, die als alleinige Übersetzerin angegeben wurde. Über Soumagnes Madame Marie (ebenfalls 1928) referierte Otokar Fischer am 27. Mai 1928 in Právo lidu unter dem Titel Hra o vzniku náboženství [Ein Stück über das Entstehen von Religion]. Eine neue Zusammenarbeit von Fischer und Soumagne an einem Villon-Projekt scheiterte 1933. 53  Unter dem Namen Večer malých veseloher Molierových [Abend kleiner Komödien von Molière] wurden im Ständetheater folgende Stücke aufgeführt: Versailleské impromptu [L’Impromptu de Versailles, dt. Das Impromptu von Versailles], in der Übersetzung von Zdeněk Gintl; Domnělý paroháč [Le Cocu imaginaire, dt. Sganarelle oder Der vermeintliche Hahnrei] in der Übersetzung von Otokar Fischer [Neuübersetzung 1929 durch Bohdan Kaminský]; Sicilián (Malířem z lásky) [Le Sicilien ou l’Amour peintre, dt. Der Sizilier oder Die Liebe als Maler] in der Überseztung von Stanislav Kolár. Die Premiere fand am 13.01.1922 statt. Das Schauspiel erlebte 11 Aufführungen bis zum 11.03.1922. Parallel dazu liefen im Vinohradské divadlo [Theater in den Weinbergen] Sganarelle čili Domnělý paroháč in der von Karel Čapek überarbeiteten Übersetzung von Otokar Fischer, Lékařem proti své vůli [Le Médecin malgré lui, dt. Der Arzt wider Willen] in der Übersetzung von Antonín Bernášek, Vynucený sňatek [Le Mariage forcé, dt. Die Zwangsheirat] in der Übersetzung von Jan Berka, alle in der Regie von Karel Čapek. Für den ursprünglichen Text von Fischer vgl. Fischer (1921). Als Buch erschien der Text von Fischer und Čapek unter dem Titel Sganarelle. Komedie o jednom dějství, 1922 [Sganarelle. Komödie in einem Akt; mit einer editorischen Bemerkung auf Seite 51].

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Auf den Streit zwischen Fischer und Čapek zur Übersetzung des französischen Alexandriners will ich hier nicht eingehen,54 aber doch auf die Bedeutung von Molière (1622–1673) für Fischer hin weisen, der dem französischen Dramatiker mehrere Aufsätze widmete und sich stets mit ihm beschäftigte: Grob gesagt machte er Molière zum Vorläufer der Ideale der großen Französischen Revolution und damit zum Opfer der absolutistischen Macht in Frankreich.55 Genauso idealisierend verfuhr Otokar Fischer mit dem Dichter, den er als nächsten übersetzte und der neben Molière in sein persönliches Pantheon Eingang fand, nämlich François Villon (1927). Den Dichter aus dem Spätmittelalter sieht er ebenfalls durch die romantische Brille und stilisiert ihn zum Opfer der sozialen Zustände seiner Zeit und zum „poète maudit“ (Veselý 1984: 263-268)56. Somit lässt sich Villon höchst subjektiv Heine anschließen: Beide Dichter, der französische und der deutsche, sind 54  Fischer hielt sich streng an eine Übersetzung des Alexandriners mit zwölf regelmäßig betonten Silben und Zäsur in der Mitte, was Čapek im Falle der tschechischen Sprache für besonders unpassend und für die Bühne unangebracht fand (dazu Kučera 2006). 55  Ein Nachspiel zu Molières Amfitryon verfasste Fischer 1918 als modernes Pendant und Beitrag zum Kampf gegen Gewaltherrschaft: das Stück mit dem Titel Jupiter. Veselohra o dvou obrazech. Beide Werke wurden gemeinsam am 15.01.1919 im Městské Komorní divadlo (Städtisches Kammertheater), Hybernská ulice 10, in Prag aufgeführt; ein Programmheft zu diesem Abend ist in der Nationalbibliothek in Prag erhalten; der Text des Nachspiels ist im Nachlass (LA PNP) als Typoskript erhalten. Zum Bild Molières bei Otokar Fischer siehe auch Fischer (1918/19, 1922c, 1922b), den Leitartikel Molière a Čechy (Fischer 1922a) und Molière (Fischer 1922d). 56  Vgl. auch den Brief von Richard Weiner an Otokar Fischer (LA PNP) vom 11.01.1928 aus Paris: „Il faut que je vous remercie pour votre Villon – notre Villon – par une simple lettre à la place de vers. […] – Jeho beznáročnost lépe se hodí než atačli bezděčná pompa knižní zásilky veršů, které se před Vaším přebásněním Villona mají proč krčit. – A ostatně snad slovo přebásnění nic tady nevystihuje. Jde možná spíše o vytoužené setkání, o exteriorizaci blaženého zmámení z toho setkání a jak by byla možnou jinak než řečí mateřskou? – Tulák s tulákem. – A je to pořád Villon, jen jakoby – stává se tak prý opravdu – v nějakém stavu trans začal básnit česky.“ [Dessen Anspruchslosigkeit schickt sich besser als der wiewohl unwillkürliche Pomp einer Sendung von Versen, die vor Ihrer Nachdichtung Villons klein werden müssten. Womöglich ist es vielmehr eine ersehnte Begegnung, eine Extreriorisierung der seligen Verzauberung durch diese Begegnung und wie anders wäre diese möglich als durch die Muttersprache? – Vagabund mit Vagabund – Und es ist weiterhin Villon, bloß als ob er – dies soll in der Tat möglich sein – in einer Art Transe-Zustand auf Tschechisch zu dichten begonnen.] Im Nachlass sind Typoskripte und eine Handschrift zu Villon erhalten, die das große Interesse Fischers für den französischen Dichter dokumentieren (Text eines Aufsatzes: Fischer 1927/28; Text eines Vortrags im Smíchovské divadlo am 13.05.1928; Text einer Ansprache im Rahmen eines Villon-Abends in der Stadtbibliothek am 16.10.1931); siehe auch Fischer (1931c, 1932b). Darüber hinaus ist Fischers Urteil über das von Voskovec und Werich zu Ehren Villons inszenierte Schauspiel Balada z

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für den tschechischen Dichter widerspruchsvolle und gespaltene Figuren, mit denen er sich über Zeit und Raum hinweg identifiziert zur Heilung der eigenen intimen Wunden.57 Noch ein Dichter gehört zu diesem Pantheon. Bei André Spire (1868–1966), dem letzten der französischsprachigen Dichter, die Otokar Fischer ins Tschechische übersetzte, geht es ebenfalls um emotionale Gleichsetzung, aber auch um Freundschaft und Begegnung zweier Dichterseelen vor dem Hintergrund des Judentums ihrer Zeit.58 1928 veröffentlicht Fischer in einem bibliophil ausgestatteten Privatdruck vier Gedichte von Spire mit dem Titel Hebrejské melodie [Hebräische Melodien59]. Dort sind drei Gedichte hadrů [Lumpenballade] aus dem Jahre 1935 nicht ermittelt (Daniel Řehák machte mich auf eine mögliche Verbindung mit Fischer aufmerksam). 57  Brief von Fischer an Rudolf Pannwitz vom 02.10.1922 (Thirouin 2002: 133: „Ihre Worte über Heine haben mich ganz wundervoll bewegt, ich glaube, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, auch ich sehe in Heine dies bunte Gemisch von Erhabenheit und Gemeinheit, von intuitivem Erfassen einer Volksseele (mehr: zweier Volksseelen, ja dreier Volksseelen) und zugleich aller-allerfeinster Differenzierung, die der décadence präludiert; Meer und Judentum, Fragen und der fliegende Ahasver, Undank der Nation und französische Trikolore, Sehnsüchtelei und herbste Philosophie des Schmerzes, Calembours und befreiender Zynismus – ach, was geht mir nicht alles durcheinander, wenn ich an dieses Gewirr von Problemen denke, die mir, fast alle, bis ins Fleisch schneiden!“ Diese Zeilen sind gleichsam als Selbstporträt zu lesen. 58  Brief von André Spire an Otokar Fischer vom 07.10.1928 (Thirouin 2016: 272): František Laichter habe Spire mitgeteilt, die Übersetzung seiner Gedichte Hebrejské melodie [Hebräische Melodien] durch Fischer sei kongenial. Spire kommentiert die Nachricht mit folgenden Worten: „Quel bonheur, pour un poète, de trouver un autre poète qui le comprend, dont le cœur bat à l’unisson du mien, et qui au lieu de le traduire, repense ses poèmes, et en fait, dans sa langue, un poème équivalent très supérieur à une traduction.“ Was ihr gemeinsames Judentum angeht, so schreibt Spire im Porträt von Fischer, das er 1924 in der Zeitschrift Europe veröffentlichte: „Chantons seuls, sans espoir que notre solitude cesse tant que nous aurons en nous une parcelle d’âme juive, cette âme juive à laquelle il nous est impossible, même si nous en avions le bas désir, de renoncer.“ (Spire 1924: 17) 59  André Spire, Hebrejské melodie, mit 2 Radierungen und einem Umschlag von Jan Konůpek, in der Gestaltung von Karel Dyrynk, 2. Privatdruck von M. U. Dr. Otto Stern, der ihn „svým přátelům“ [seinen Freunden] widmet, Státní tiskárna, 1928, 20 Seiten, 100 Exemplare. Dem Gedicht Vlny [Wellen] ist ein Zitat von Charles Renouvier (1815–1903) vorangestellt, dem Philosophen der französischen, laizistischen Republik und Gegner von Napoleon II., den Spire stets bewundert hat („národ, jenž má myšlenku spravedlivosti a činí z ní vlastnost boží“ [die Nation, die nach Gerechtigkeit sinnt und daraus eine wahre göttliche Eigenschaft schöpft]. Abizag [Abischag] ist eine Gestalt aus dem Alten Testament (1 Kön 1, 4), eine Jungfrau, die für den alten König David tanzt und ihn pflegt. Am 06.02.1928 reagiert Spire auf Fischers Sendung mit folgenden Worten (Thirouin 2016: 254): „Mon cher ami, J’ai reçu les livres et les [exemplaires]. Je vous les retourne, ou plutôt je les retourne au

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aus Spires Poèmes Juifs [Jüdische Gedichte] von 1919 zu finden, nämlich Gärten, Wellen, Zwischen uns, und ein kurz davor in der Zeitschrift Europe erschienenes längeres Poem (Abischag) – ein Pendant zu der ebenda erschienenen Übersetzung von Fischers Gedichten durch Spire.60 Im Nachlass von Otokar Fischer befinden sich übrigens 79 Briefe und Postkarten André Spires an ihn. Sie wurden 2016 zusammen mit den 55 Gegenbriefen Fischers im Verlag des Museums der tschechischen Literatur (PNP) in Prag veröffentlicht (Thirouin 2016). An den vielen, in Spires Briefen angeführten Namen (Max Lazard, František Gottlieb, František Laichter, Hanuš Jelínek, Jean Cassou, Henri Hertz, Jan Alda, Charles Vildrac, Otto Pick, Hans Kohn, Jean-Richard Bloch, Albert Cohen, Marcel Pobé, Alfred Wolfenstein u. a.) kann man erkennen, dass die Verbindung der beiden Dichter Ausgangspunkt eines großen übernationalen, geistigen Netzes und Beziehungsgeflechtes war, dessen Einheit – neben dem Thema Dichtung – die Reflexionen über das Thema Judentum ausmachen (Thirouin 2016: 74-88). Mit Spire begegnete Fischer nämlich eine wichtige Figur des französischen Judentums, das sich seit der Jahrhundertwende und noch mehr nach dem Dr Stern, à qui j’écris par ce courrier. / C’est vraiment un joli livre qui fait honneur aux bibliophiles de votre pays. C’est celui de mes livres (si j’ai le droit de considérer comme mien un livre où vous avez mis tant de vous) qui est de beaucoup le plus magnifiquement édité. – Puissé-je trouver dans mon pays un Otokar Fischer et un Otto Stern, qui daignent donner à mes poèmes un aussi beau vêtement!“ Von Otto Stern sind in Fischers Nachlass 7 Briefe erhalten. Die von Fischer vorgeschlagene Überschrift für seine Übersetzung der Gedichte von Spire, Hebräische Melodien, verweist schon wieder auf Heine und bezieht sich auf die drei Gedichte mit hebräischer Thematik aus dem 3. Teil des Romanzero: Prinzessin Sabbath, Jehuda ben Halevy, Disputation (1851). Heine ist ein weiteres Bindeglied zwischen Fischer und Spire. 60  Über die schon angeführte Publikation Spires über Fischer in der Zeitschrift Europe hinaus werden noch in den Briefen Spires (LA PNP) mehrere Pläne erwähnt: die Veröffentlichung von Fischers Gedichten in der Zeitschrift Menorah am 1. November 1924 mit einem Bild und einer Einführung durch Spire; Spire lehnte 1924 die vermutlich über Fischer angebotene Stelle des ständigen Korrespondenten in Frankreich für die Prager Presse ab; in der Prager Presse wollte Fischer 1927 über Spire berichten, aber erst 1934 kam es dort zu einer Beilage über ihn (Thirouin 2016: 338); Otokar Fischer vermittelte die Veröffentlichung von Possession [Besitz], einem Gedicht von Spire in der deutschen Übersetzung von Marcel Pobé, in der Prager Welt im Wort vom Oktober 1933; vor allem aber setzt Spire Fischer in Kontakt mit dem großen Schriftsteller Albert Cohen, mit dem Fischer 1923–1925 korrespondiert wegen seiner möglichen Teilnahme am Projekt der Revue Juive in Paris, von der schließlich nur sechs Hefte 1925 erschienen (Albert Einstein und Sigmund Freud waren mit André Spire Mitglieder des Redaktionskomitees). Noch zu erwähnen ist die deutsche Übersetzung des Briefes von Spire an Alfred Wolfenstein anläßlich des Todes von Otokar Fischer, der in der Prager Presse (Spire 1938) erschien.

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Ersten Weltkrieg im Umbruch befand. Neben der Tradition eines Judentums, das als religiöse Minderheit seinen Platz in Frankreich zu suchen habe, setzte sich eine Definition der Juden als ethnisch und kulturell selbstständige Gruppe durch, getragen von nichtreligiösen Zionisten, die nach dem Krieg in den vielen, für ihre Zwecke gegründeten Zeitschriften zu Wort kamen (Malinovich 2004: 86-96).61 Spire gehört in diese sogenannte ‚jüdische Renaissance-Bewegung‘ in Frankreich und bietet daher das Pendant zum sozial gerichteten Humanismus eines Vildrac oder Duhamel, mit denen er sich übrigens sehr gut verstand.62 Den ‚Typus Spire‘, das heißt den Typus des ‚modernen Juden‘, beschreibt Hans Kohn in einem Brief an Otokar Fischer im September 1922 ganz zutreffend als „Charakte[r] des wissenden, des nichtgläubigen, des gütigen Skeptikers“63 – eine Definition, die sich auch auf Fischer anwenden lässt. Zwar missversteht Spire zum Teil Fischers kompliziertes Verhältnis zum eigenen Judentum (Fischer war nie Zionist und scheint das Judentum, zu dem er nur schwer und unter schmerzvollen Verhältnissen Zugang fand, eher als schwere Bürde erlebt zu haben), hilft ihm jedoch vor dem Hintergrund ihrer freundschaftlichen Beziehungen mit diesem Teil der eigenen Identität umzugehen (Thirouin 2016: 20-53). 61  Während vor dem Ersten Weltkrieg L’Écho sioniste die einzige zionistische Zeitschrift in französischer Sprache war, gelang es den Zeitschriften der 20er-Jahre wie Menorah (1922–1933), Chalom (1926–1934), La Revue juive (1925), La Revue littéraire juive (1927–1931) und Palestine (1927–1931), Menschen in Frankreich zusammenzuschließen, die die zionistische Bewegung als Juden oder Nicht-Juden unterstützten. Vgl. auch den wichtigen Brief von Hans Kohn an Fischer vom 08.11.1923 über das Thema Zionismus (LA PNP): „Unser Weg geht weder zu den Wurzeln, noch zu den Sternen, sondern mitten dazwischen, wo die Stimme für das, was wir als recht empfinden, uns treibt, wenn sie stark genug ist gegen die Herzensträgheit der Angst und die Gedankenträgheit überkommener Lehren anzukämpfen.“ Siehe auch in diesem Zusammenhang den Brief von Richard Weiner an Otokar Fischer vom 10.06.1918 aus Písek über das Thema Judentum (LA, PNP). 62   Brief von Hans Kohn an Otokar Fischer vom 08.06.1923 (LA PNP) 63  Handschriftlicher Brief von Hans Kohn an Fischer (Nachlass, LA PNP) vom 18.09.1922: „Den Samaël habe ich, als ich die Studie im ‚Juden‘ [Jg. 9, 559-572] schrieb, gekannt, aber die Studie ging auf andere Ziele aus: den Typus Spire festzuhalten. Samaël ist nur eine Konsequenz des in meiner Studie genügend betonten Charakters des wissenden, des nichtgläubigen, des gütigen Skeptikers.“ Auch seine französische Studie über Spire (Kohn 1931) schickte er Otokar Fischer. In seinem schon zitierten Brief an Fischer vom 08.11.1923 spricht Kohn von den Juden als den „Heimatlosen und Wissenden“. Demgegenüber spricht Paul Eisner in einem Brief an Otokar Fischer vom 16.09.1929, wo er sich als NichtZionist definiert, von „Heimatfindung durch sprachgeistige Eroberung“ (LA PNP). Spire, Kohn und Eisner bilden um Fischer herum verschiedene Varianten der jüdischen Identität, deren Synthese eigentlich in seinem Essay Židé a literatura (1932–1933) formuliert wird (Fischer 1965).

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Ganz in diesem Sinne eines säkularisierten Messianismus schildert André Spire in einem Brief an Otokar Fischer vom 6. September 1927 das Band, das sie als Dichter über die Grenzen hinaus heimlich verbindet: Deshalb sind wir – Sie als Tscheche, ich als Franzose und beide als Nachkommen von Familien, die sich in unseren Heimaten vor viel mehr Jahren niedergelassen haben als die Vorfahren etlicher unserer xenophoben Nationalisten – zu jüdischen Dichtern geworden. Zu jüdischen Dichtern, nicht etwa weil wir uns in biblischen Themen geübt hätten, die ja seit Langem Teil der gemeinsamen Erbschaft aller Menschen sind, sondern durch das Gefühl. Wir haben uns bemüht, der Reaktion auf die moderne Welt Ausdruck zu verleihen von Menschen, die womöglich über keinen einzigen, wirklich jüdischen Glaubenssatz mehr verfügen, jedoch ihre Kindheit und ihre Jugend in Ländern verbracht haben, wo ein genügend festes jüdisches Milieu, eine genügend starke jüdische Tradition bestanden, dann aber in einem nichtjüdischen Milieu unterkommen mussten, als sie das Studium ihrer Familie entriss. Auf dieser Analogie, diesem parallelen Verlauf unserer beider Leben beruht eben die Freundschaft, die uns schon seit Langem verbindet. Denn sie ist nicht etwa entstanden aus zwei zufällig ausgetauschten Blicken oder aus beruflich oder räumlich bedingten Beziehungen. Was konnte uns, Sie in Prag und mich in Paris, zueinander führen, wenn nicht das wunderbare Mittel des Buches, das es zwei Seelen erlaubt, sich über große Entfernungen hinweg zu berühren, einander wiederzuerkennen, und nachdem sie festgestellt haben, dass sie mitschwingen, einander zu lieben?64

Quellen LA PNP Praha (Nachlass Otokar Fischer: Empfangene Korrespondenz, Hans Kohn an Fischer vom 08.06.1923). LA PNP Praha (Nachlass Otokar Fischer: Revue Française de Prague, 30.3.1922: 35f.) LA PNP Praha (Nachlass Otokar Fischer: Empfangene Korrespondenz, Charles Vildrac an Otokar Fischer vom 06.05.1921). LA PNP Praha (Nachlass Otokar Fischer: Empfangene Korrespondenz, Blanche Albane an Otokar Fischer vom 28.01.1922). LA PNP Praha (Nachlass Otokar Fischer: Revue Française de Prague, 15.03.1936:  171-177). LA PNP Praha (Nachlass Otokar Fischer: Empfangene Korrespondenz, Charles Vildrac an Otokar Fischer vom 25.02.1922).

64  Übersetzt nach dem Brief von André Spire an Otokar Fischer vom 06.09.1927 (Thirouin 2016: 228f.).

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LA PNP Praha (Nachlass Otokar Fischer: 166-seitiges Typoskript Belgien und Deutschland, mit handschriftlichen Korrekturen Fischers).  LA PNP Praha (Nachlass Otokar Fischer: Typoskript Sur l’art de traduire les œuvres poétiques, 30 Seiten).  LA PNP Praha (Nachlass Otokar Fischer: Kopie einer behördlichen Anordnung des belgischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst vom 10.02.1926). LA PNP Praha (Nachlass Otokar Fischer: Gesendete Korrespondenz, Otokar Fischer an den Minister für Wissenschaft und Kunst Camille Huysmans vom 09.07.1926). LA PNP Praha (Nachlass Otokar Fischer: Typoskript 1927: Posmrtný osud Ch. De Costera. K stému výročí jeho narozenin, 3f.).

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Barbora Šrámková

Otokar Fischer und die Prager deutsche Literatur Max Brod, Paul/Pavel Eisner, František Langer – das sind die Namen der ‚üblichen Verdächtigen‘, wenn wir nach denen fragen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit größter Selbstverständlichkeit in beiden sprachlichen und kulturellen Sphären Prags, der tschechischen und der deutschen, bewegt haben. Doch genannt werden muss auch Otokar Fischer, eine Persönlichkeit, die für sich genommen ein großes Thema ist. Zwar mögen seine Kontakte im Vergleich mit den Mittleraktivitäten eines Max Brod nicht ganz so zahlreich gewesen sein; dafür waren sie oft sehr viel dauerhafter und intensiver, wie etwa sein Kontakt mit Pavel Eisner, den ich der deutschen Seite zurechne, auch wenn er sich selbst im Laufe der Jahre zunehmend dem Tschechentum verbunden fühlte. Fischers Kontakte mit den herausragenden Vertretern der Prager Germanistik, etwa mit August Sauer oder Josef Körner, wird die vorliegende Arbeit nicht in den Blick nehmen. Sie verlangen eine eigene Untersuchung, die andere Beiträge dieses Sammelbandes leisten. Hier wird vielmehr Fischers Rezeption der deutschsprachigen Prager Literatur im Mittelpunkt stehen, mitunter auch seine persönlichen Beziehungen zu einzelnen deutschsprachigen Prager Autoren. Unter Fischers germanistischen Arbeiten ist die Zahl der Rezensionen und Aufsätze, die sich mit deutschsprachigen Autoren aus Prag bzw. Böhmen beschäftigen, überraschend gering. Wiederholt rezensierte er Werke Max Brods und vereinzelt finden auch Franz Werfel, Rudolf Fuchs, Egon Erwin Kisch und Paul Leppin Beachtung, ebenso ein Vortrag von Pavel Eisner; von der älteren Autorenriege erwähnt Fischer u. a. Gustav Meyrink, Hugo Salus, Rainer Maria Rilke und Anton Ohorn (Fischer 1903a: 702-705; ders. 1903b: 67-69). Am aufschlussreichsten ist Fischers Auseinandersetzung mit Max Brod, ­ dessen Werk er zwar nicht systematisch verfolgte, für das er sich aber dennoch mehr als nur beiläufig interessierte. Das Verhältnis der beiden Autoren war, so kann man sagen, freundschaftlich-kollegial und geprägt von gegenseitigem ­persönlichen und fachlichen Respekt. Das geben die Rezensionen zu ­erkennen, auch aber die Korrespondenz, wenngleich sie uns nur von einer Seite vorliegt: Erhalten haben sich etwa 10 Briefe bzw. Postkarten Brods an Fischer aus den Jahren 1908–1934. Sie belegen eine für Autoren tyische K ­ orrespondenz: Man sendet sich seine Werke zu oder setzt von deren Erscheinen in Kenntnis und gratuliert sich zu den Erfolgen. Brod ist dabei immer wieder bemüht

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– auch das ist typisch –, den Adressaten zu einer Rezension zu bewegen, ­insbesondere in der ersten Phase ihres Kontakts (1908/09), als beide etwa 25 Jahre waren. Brod war sehr darauf bedacht, seinen Werken Aufmerksamkeit zu verschaffen, z. B. seinem 1909 erschienenen Roman Ein tschechisches Dienstmädchen (1909). Zugleich zollt er auch dem Germanisten Fischer Respekt; in einem Brief vom September 1908 geht er auf dessen Überlegungen zu Kleist ein. Vermutlich reagiert Brod hier auf den ersten Teil von Fischers Mimische Studien zu Heinrich von Kleist, einen Aufsatz, der in der germanistischen Zeitschrift Euphorion erschien (Fischer 1908/09). Fischer war für Brod auch insofern wichtig, als er über ihn weitere ­Kontakte knüpfen konnte; so bat er Fischer um die Adresse des Literaturhistorikers und Übersetzers Zdeněk Záhoř, mit dem er das Interesse für den ­französischen Lyriker Jules Laforgue teilte.1 Fischer öffnete Brod aber auch die Tür zur tschechischen Literaturszene. Immer wieder bezieht sich Brod in seinen Briefen auf die gegenseitigen Besuche; die Gespräche fanden also keineswegs nur auf dem Papier statt. Und auch Fischer erwähnt einen ­Besuch Brods in einem Brief vom Juli 1908, der an seinen Bruder in München ­adressiert ist: „Včera byl u mě dr. Brod, byl jsem s ním a s Alfredem na procházce – ale nikoli na Petřín, jemuž se po nás dvou prý stýská.“ [Gestern war Dr. Brod bei mir, ich war mit ihm und Alfred spazieren – aber auf den Laurenziberg, der sich angeblich so sehr nach uns beiden sehnt, sind wir nicht.]2 Ausführlicher, freilich in eher scherzhaftem Ton lesen wir über Brod in einem Brief Fischers an Arne Novák aus dem Jahr 1907: Milý Arne, měl jsem v noci vidění dlouhého haveloku, v jeho kapse bochník chleba, ráno se mi rozbřesklo, že havelok souvisí s Tebou, obsah kapsy s nově objeveným erotikem, a že „latentní myšlenka“ snu znamená: mám psáti dopis Arnemu, který chodí vycpán Brody. Co tedy soudíš o pražských německých básnících? Já Experimente jsem nečetl, jenom Tod den Toten, z nichž se mi velmi líbila poslední povídka o indifferentismu. [Lieber Arne, in der Nacht erschien mir ein langer Havelock, in seiner Tasche war ein Laib Brot, am Morgen ging mir ein Licht auf, dass nämlich der Havelock mit Dir zusammenhängt, der Inhalt seiner Tasche mit dem neu entdeckten Erotiker, und dass der ­„latente Traumgedanke“ wohl sei: Ich soll einen Brief an Arne schreiben, der ganz mit Brod ­ausgestopft herumläuft. Was also hälst du von den Prager deutschen Dichtern? Die ­Experimente habe ich nicht gelesen, nur Tod den Toten, von denen mir die letzte Erzählung über den ­Indifferentismus sehr gefiel.]3 1  LA PNP Praha (Fond Otokar Fischer: Korrespondenz, Postkarte Max Brods an Otokar Fischer vom 30.03.1908). 2  LA PNP Praha (Fond Otokar Fischer: Familienkorrespondenz). Alfred ist Alfred Basch, der Onkel von Otokar und Josef Fischer. 3  LA PNP Praha (Fond Otokar Fischer: Korrespondenz).

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Der neu entdeckte Erotiker ist natürlich Max Brod, der damals erst eine ­Gedichtsammlung, verschiedene ambitiöse Kritiken und Aufsätze sowie die beiden Erzählbände Experimente und Tod den Toten veröffentlicht hatte. Was Arne Novák zu jener Zeit über die Prager deutschen Autoren dachte, ist leider nicht überliefert. Aber wir wissen sehr genau, wie sein Urteil zehn Jahre später ausfiel: nicht allzu günstig, wie seine Aufsätze Pražský román? [Ein Prager ­Roman?] und Duch německé literatury v  Čechách [Der Geist der deutschen ­Literatur in Böhmen] belegen, von denen später noch die Rede sein wird ­(Novák 1922: 170-178; 179-183). Allerdings äußert sich Novák in diesen Texten nicht abwertend über Brod, den er überhaupt in den 1920er-Jahren durchweg positiv rezensierte. Mit den beiden zitierten Stellen – wobei gerade der Brief an Novák ­zeigt, wie gut Fischer über das Schaffen der deutschsprachigen Prager Autoren im Bilde war – erschöpfen sich die bisher bekannten Äußerungen Fischers zu Brod; wollen wir mehr erfahren, müssen wir uns Fischers Aufsätze über Brods Werk vornehmen. Der erste erschien im Juni 1914 in den Národní ­listy unter dem Titel Neznámá Praha [Unbekanntes Prag]. Fischer ­thematisiert hier das ­Interesse, besser gesagt: das Desinteresse eines ­„průměrného ­inteligenta, pohybujícího se výhradně v  české společnosti“ [Durchschnittsgebildeten, der sich ausschließlich in der tschechischen Gesellschaft ­bewegt], an der ­Prager d­ eutschen Kultur (Fischer 1914: 1f.). Das „unbekannte Prag“ ist das Prag, wie es in den literarischen Werken ­deutscher Autoren ­entworfen wird. ­Fischer spricht in dem Zusammenhang von „sympaticky míněných pokusech našich ­německých spoluobčanů, zachycujících český život do ­románových, ­novelistických i jiných prací“ [sympathisch gemeinten Versuchen ­unserer deutschen Mitbürger, die das tschechische Leben in ihren Romanen, ­ ­Erzählungen und anderen ­Arbeiten darstellen]. Fischers ­umfangreiche Studie bemüht sich um eine gründliche Analyse der verschiedenen Böhmen- und Prag-Bilder, die aus deutscher bzw. österreichischer Perspektive, ­insbesondere aber aus der ­Perspektive der Prager ­Deutschen entworfen wurden. Dabei ­zeigt er vor allem „jisté sbližovací tendence“ [gewisse ­Annäherungstendenzen] auf, die seit den 1890er-Jahren „je v uměleckých kruzích obou táborů ­pozorovati“ [in den künstlerischen Kreisen auf ­deutscher und ­tschechischer Seite zu ­beobachten sind]. ­Rückblickend erkennt er t­schechische Motive in den ­Gedichten von Hugo Salus, hebt die übersetzerischen Leistungen Friedrich Adlers hervor und erinnert an das Frühwerk Rilkes, das g­ eprägt sei ­„cituplnými vzpomínkami z dětství, a snad i příbuzným naladěním ­duševním“ [von ­empfindsamen Erinnerungen an die Kindheit und wohl auch einer ­verwandten Seelenstimmung].

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Fischer betont, dass es nicht richtig wäre, „pražské Němce nebo i pražskou německou literaturu si jako jednolitou vrstvu“ [sich die Prager Deutschen oder auch die Prager deutsche Literatur als eine homogene Schicht v­ orzustellen]. Und er fährt fort: „Židovští literáti (…) seskupení kolem ­časopisu vydávaného Herderovým sdružením chovají poměrně nejvřelejší sympathie k Čechům“ [Eine vergleichsweise große Sympathie gegenüber den Tschechen hegen die sich um die Zeitschrift der Herder-Gesellschaft gruppierenden jüdischen Literaten.] – gemeint sind die von April 1911 bis Oktober 1912 heraugegebenen Herder-Blätter.4 Fischer gebraucht hier völlig selbstverständlich den Begriff „Prager deutsche Literatur“ – und wie Georg Escher (2010: 202) in seinen ­Überlegungen zu diesem Thema anmerkt, tut er dies wohl als erster. Allem Anschein nach stand dahinter nicht die Absicht, einen Terminus technicus zu kreieren; für Fischer war es einfach eine sachlich richtige und naheliegende ­Bezeichnung für das Schaffen der deutschsprachigen Prager ­Autoren; gerade deshalb hat sich der Begriff wohl auch später gegenüber anderen durchgesetzt. Im letzten Teil seines Aufsatzes geht Fischer auf drei Romane ein, in denen sich „kletb[a] kulturní i rodové staroby a mdloby“ [der Fluch der ­V­ergreisung und Ermattung einer Kultur und eines Stammes] geradezu e­xemplarisch ­darstelle, ein Phänomen, für das Eduard Goldstücker später (1960: 92-96) den Ausdruck „Předtucha zániku“ [Vorahnung des ­Untergangs] prägte. Bei diesen drei Romanen handelt es sich um Severins Gang in die ­Finsternis von Paul Leppin, Egon Erwin Kischs Der Mädchenhirt, beide aus dem Jahr 1914, sowie Max Brods Ein tschechisches Dienstmädchen (1909). Brods ­Tschechisches ­Dienstmädchen schneidet, was wohl nicht ü­berraschen dürfte, bei diesem ­ Vergleich am ­besten ab. Fischer ­charakterisiert den Roman treffend als fein gesponnenen „duševní monolog sensitivního ­bezvýznamného ­mladíka“ [Seelenmonolog eines ­sensiblen, jedoch unbedeutenden jungen Mannes], der sich von der ­Einfachheit und Sinnlichkeit der t­schechischen ­Volkslieder gleichermaßen bezaubern lässt wie von einem einfachen ­tschechischen ­Dienstmädchen. Bei Leppin entdeckt Fischer eher Bezüge zu den Romanen Jiří Karáseks ze ­Lvovic und rückt den Autor, ohne es explizit zu sagen, in eine Nähe zur ­tschechischen ­literarischen Dekadenz. Mit dem Aufzeigen ­derartiger Bezüge hat Fischer ­höchstwahrscheinlich den ersten Anstoß zu der Debatte über die gegenseitige Beeinflussung ­tschechischer und ­deutscher Autoren gegeben. Klar formuliert 4  Zu diesen Literaten zählten: Willy Haas, Max Brod, Franz Werfel, Hugo Bergmann, Oskar Baum, Franz Janowitz und auf Brods Betreiben hin auch Franz Kafka mit dem gemeinsam verfassten, jedoch Fragment gebliebenen Text Richard und Samuel.

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hat er diese Notwendigkeit selbst aber erst fünfzehn Jahre später, und zwar mit der Forderung nach dem ­gezielten Aufbau einer „­Grenzwissenschaft“, die sich dem Überschneidungsbereich beider Literaturen, den Germanoslavica, widmen solle (Fischer 1929: 9). Für den Naturalismus in Kischs Mädchenhirt bringt Fischer nicht allzu viel ­Verständnis auf. Der Autor bleibe hier ­„pouhým reportérem“ [bloßer ­ Reporter], doch ­ paradoxerweise zeige ausgerechnet sein Prag, trotz aller topographischen ­Details und der vielen tschechischen Ausdrücke, „nejméně lokálního koloritu“ [am wenigstens Lokalkolorit] und „působí dojmem lhostejného, neznámého města“ [macht den Eindruck einer beliebigen, unbekannten Stadt]. Fischer schließt mit dem Verweis auf seinen Aufsatz Neznámá Praha [Das unbekannte Prag]. Mit der hier besprochenen Studie hat Fischer, mag er sonst auch nur sporadisch zu dieser Thematik veröffentlicht haben, einmal mehr seine enorme Kenntnis der Prager deutschen Literatur unter Beweis gestellt. Zugleich zeichnet er hier ein weiteres künftiges Thema vor: den Prager Roman deutscher Provenienz. Die Debatte darüber sollte erst drei Jahre später (1917/18) einsetzen; geführt wurde sie vor allem von Arne Novák und F. X. Šalda, die beide zu den ­sogenannten Alt-Prager Romanen deutscher Autoren aus Böhmen, vor allem zu Meyrinks Golem, sehr kritisch Stellung bezogen. So hatte die tschechische Übersetzung von Meyrinks Golem Arne Novák zu einem Kommentar in der Tageszeitung Venkov veranlasst (Novák 1922b). Mit der Debatte über den „Prager Roman“ hat sich unlängst Kurt Krolop (2010) eingehend befasst; ­daher möchte ich mich in diesem Zusammenhang auf eine Darstellung der unterschiedlichen Positionen Fischers und Šaldas ­beschränken. Einer der heute bekanntesten Texte Šaldas beginnt mit den Worten: V Praze není německé literatury, avšak jest zde několik německých literátů […]; literatura jest vyšší útvar, odpovídající svým životem zákonnou odpovědí národnímu celku, asi tak, jako květ odpovídá stromu. A toho nemůže ovšem být pro Němce v Praze, a snad ani ne v Čechách; není zde vůbec jejich stromu sahajícího svými kořeny do tmy věků. Do prsti minulých státně-národních dějů; není zde národa připoutaného osudným a jedinečným poutem k této půdě a právě k ní. […] U nás jsou buď kulturními kolonisty – ale kolonisté, řekl jeden vtipný člověk, nemají literatury, mají jen noviny a novináře – buď, pokud jsou opravdu básníky nebo umělci, exotickou rostlinou, zanesenou sem větrem náhody a rozmachem soukromého určení. [In Prag gibt es keine deutsche Literatur, jedoch einige deutsche Literaten […]; die Literatur ist eine höhere Form, deren Leben gleichsam eine gesetzmäßige Antwort auf das nationale Ganze ist und diesem entspricht sie wie eine Blüte dem Baum. Und das kann es für Deutsche in Prag und wohl auch in Böhmen nicht geben; sie haben hier keinen Stamm, der mit seinen Wurzeln ins Dunkel der Jahrhunderte zurückreichen würde. In die Scholle staatlich-nationaler Geschehnisse früherer Zeiten; da ist kein Volk, dass durch eine schicksalhafte und ausschließliche Bindung an diesen Boden gebunden wäre und gerade an ihn.

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[…] Hier bei uns sind entweder Kulturkolonisten – doch Kolonisten haben, wie einst ein witziger Geist bemerkte, keine Literatur, sie haben nur Zeitungen und Journalisten – oder aber, sofern sie wahre Dichter und Künstler sind, exotische Gewächse, die der Wind des Zufalls und eine individuelle Bestimmung hierher verweht hat.] (Šalda 1936: 494)

Šalda stellt hier Fischers Begriff einer Prager deutschen Literatur de facto in Abrede, mochte dieser auch ad hoc und keineswegs programmatisch formuliert worden sein, ohne sich jedoch auf Fischer zu beziehen, zumindest nicht explizit. Trotzdem darf man annehmen, dass Šalda die Národní listy las und Fischers Text kannte. Ob Fischer und Šalda dieses Thema direkt miteinander diskutierten, ist nicht bekannt. Vergleicht man jedoch Šaldas und Fischers Feuilletons, so wird nur allzu deutlich, wie sehr der eine in volkstümelnden Vorurteilen befangen blieb, während das unvoreingenommene literarische Urteil des anderen auch 106 Jahre später noch standhält. Zwei Arbeiten Fischers, in denen er sich ausschließlich mit Max Brod beschäftigt, seien hier noch angesprochen: zunächst die Rezension zu Brods Sammelband Sternenhimmel (Fischer 1924): Fischer vermittelt hier dem deutschen Prager Publikum Zugang zu Brods Musik- und Theatererlebnissen, über die dieser zwischen 1907–1923 für verschiedene Periodika berichtet hatte, insbesondere 1921–1923 für das Prager Abendblatt. Brods Buch war bei der tschechischen Kritik auf reges Interesse gestoßen, denn die tschechische kulturelle Szene, betrachtet mit Prager deutschen Augen, war keineswegs etwas Alltägliches. Unter den Musikkritikern fiel das Echo jedoch eher negativ aus. Als repräsentativ kann hier die Stimme Josef Hutters (1924) in der Zeitschrift Tribuna gelten. Otokar Fischer hingegen äußerte sich positiv; seine Rezension erschien einen Tag nach Hutters Kritik und nimmt sich daher fast wie eine Verteidigung Brods aus. Eines abschließenden Urteils jedoch enthält sich der Autor: Den Hauptanteil der Sammlung geben Berichte über tschechische und deutsche Musikereignisse ab, so dass das entscheidende Urteil über des Verfassers Kunsteinstellung nicht dem Literatur-, sondern dem Musikkritiker vorbehalten bleiben muß. (Fischer 1924: 6)

Die tschechische Musikkritik warf Brod (vermutlich nicht ganz zu Unrecht) eine allzu subjektive Perspektive vor. Fischer hingegen sieht in dieser Subjektivität eine künstlerische Art der Wahrnehmung: Der Kritiker Brod ist nicht vom Stamme Lessings; schroffe Analyse, genetische Einreihungen, erzieherische oder abwehrende Tendenz ist seine Sache nicht. [...] Brod sucht in der Dichtung vor allem Bekenntnisdichtung, alle wahre Poesie nähert sich, seiner Auffassung nach, notwendigerweise der Autobiographie, der Memoirenform. Auch seine Dichtungen, aber auch seine Kritiken sind Kapitel aus seiner Lebensbeichte. Daher das

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impressionistische in Stil und Wertung. Daher das dichterische seiner Kritik. (Fischer 1924: 6)

Ähnlich wohlwollend, trotz gewisser Vorbehalte, liest sich auch Fischers wichtigster Text zu Max Brod, und zwar zu dessen umfangreichem Renaissance-Roman Rëubeni, Fürst der Juden (Fischer 1925: 7). Fischer spricht von einem „polopražském románu básníka, z jehož tvorby k nám promlouvá cos jako básnický odkaz pražského ghetta“ [halbpragerischen Roman des Dichters, aus dessen Werk eine Art Vermächtnis des Prager Ghettos zu uns spricht]. „Halbpragerisch“ deshalb, weil nur der erste Teil des Romans in Prag spielt, die übrigen hingegen in Italien, Portugal und Deutschland – doch ganz sicher ist auch diese Studie ein Beitrag zur oben erwähnten Debatte über den Prager Roman. Fischer zögert zwar nicht, in manch allzu lang geratener Beschreibung „jakýsi sadistický sklon Brodova spisovatelství“ [eine gewisse sadistische Neigung der Schriftstellerei Brods] zu sehen, doch insgesamt beurteilt er das Werk sehr positiv, insbesondere „myšlenkovou závažnost“ [den gedanklichen Ernst] und „důslednou prokomponovanost celého díla“ [die stringente Komposition des gesamten Werks]. Auch geht er auf die Aspekte ein, die sich aus dem zentralen Konflikt des Buches ergeben, dem Konflikt zwischen geistlicher und weltlicher Sendung des Judentums, und stellt den Bezug zu den damals gerade aktuellen Divergenzen zwischen Zionisten und Assimilanten her, ein Problem, das Fischer persönlich betraf. Die Frage nach Otokar Fischers Judentum führt uns zu Pavel Eisner. Gerade diese Frage nach einer eigenen jüdischen Identität wird in der Korrespondenz der beiden, insbesondere von Eisner, häufig thematisiert. Wenn später ausgerechnet Pavel Eisner Überlegungen zum Judentum Otokar Fischers anstellt, und zwar in seinem Beitrag Židovství Otokara Fischera [Das Judentum Otokar Fischers] für den anlässlich von Fischers 10. Todestag herausgegebenen Sammelband Památce Otokara Fischers [Otokar Fischer zum Gedenken] (Eisner 1948), so ist das kein Zufall. Hier aber sollen nur einige Aspekte dieser wichtigen Beziehung zur Sprache kommen. Für Fischer war der Dialog mit Eisner vermutlich der intensivste Kontakt mit einem Vertreter des deutschen Prag. Dass dabei die Einreihung Eisners unter die deutschsprachigen Prager Autoren problematisch ist, sei nicht verschwiegen.5 In ihrer Korrespondenz finden sich viele Themen, die sie auch in eigenständigen Beiträgen bearbeitet haben, u. a. die Frage nach einer jüdi5  Jarmila Mourková bringt es auf den Punkt, wenn sie ihren Überlegungen zur Korrespondenz P. Eisners mit O. Fischer den Titel Od Paula Eisnera k Pavlovi Eisnerovi gibt (Mourková 1990). Auf Deutsch erschien ihre Studie Von Paul Eisner zu Pavel Eisner. Einige von der Kor-

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schen Identität oder die von beiden geteilte Berufung zum Übersetzen. Für den sechs Jahre jüngeren Eisner war Fischer eine unantastbare Autorität. Er blickte zu ihm auf, fühlte sich, um es mit den Worten Jarmila Mourkovás zu sagen, als dessen Lehrling und erlaubte sich erst in späteren Jahren einen vertraulicheren Ton. Auch dieser Briefwechsel liegt uns nur von einer Seite vor, denn Eisner hat Fischers Briefe, angeblich auf dessen Wunsch hin, vernichtet (Mourková 1990: 4). Fischer äußert sich aber an anderer Stelle über Eisner, nämlich in seinem Aufsatz Německá kytice [Deutscher Strauß]. Hier befasst er sich mit der von Rudolf Fuchs besorgten Anthologie tschechischer Lyrik – sie reicht von František Ladislav Čelakovský und Karel Jaromír Erben bis hin zu Jiří Wolker –, und geht dabei auf die übersetzerischen und editorischen Aktivitäten der Prager Deutschen ein. Ausdrücklich betont er „mimořádnou důležitost [...], jakou pro české písemnictví mají převody do němčiny, jež naše domácí spisovatele začasté uvádějí do širšího světa a s nimiž se, co do kvantity, nemohou měřiti překlady v jiných jazycích“ [die ungeheure Bedeutung [...], welche die Übersetzungen ins Deutsche für die tschechische Literatur haben, denn nicht selten ebnen sie tschechischen Autoren den Weg in einen größeren internationalen Kontext, und auch zahlenmäßig können sich Übersetzungen in andere Sprachen mit ihnen nicht messen] (Fischer 1927: 22). Schließlich stellt Fischer Pavel Eisner und Rudolf Fuchs als zwei geradezu konträre Übersetzer-Typen dar: „Z překladů Pavla Eisnera mluví filosofická tendence, interes vědecký, odbornost filologa a ethnografa. Rudolf Fuchs je básník. Bez vědeckého zaostření, leč se souzněním citu.“ [Aus den Übersetzungen Pavel Eisners spricht ein Hang zum Philosophischen, ein wissenschaftliches Interesse, die Fachkenntnis des Philologen und Ethnographen. Rudolf Fuchs ist ein Dichter. Ohne wissenschaftliche Schärfe, doch mit dem Gleichklang des Gefühls.] (Fischer 1927: 4). Kein Wunder, wenn Eisner sich durch diesen Vergleich nicht gerade geschmeichelt fühlte, denn er verstand seine Übersetzungen durchaus als dichterische Übertragungen und daher als poetische Leistung. Große Anerkennung hingegen zollt Fischer (1930) in den Lidové noviny Eisners Vortrag über die slawische Frau im Werk deutschböhmischer Romanautoren. Kurz danach veröffentlichte Eisner zu diesem Thema sein Buch Milenky [Die Geliebten]. Spricht man im Kontext der Prager deutschen Literatur von Eisner und Fischer, so darf nicht unerwähnt bleiben, wie nachdrücklich Eisner Otokar Fischer immer wieder auf das Werk Franz Kafkas aufmerksam machte. Ein respondenz Pavel Eisners mit Otokar Fischer inspirierte Gedanken bereits 1989. Vgl. Mourková (1989).

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erster Beleg hierfür stammt offensichtlich aus dem Jahr 1927. Eisner schreibt Fischer zum „problém [...] odpovědnosti ve smyslu Franze Kafky. […] To je OBR, deset Nobelových cen málo na tu hlavu, a u českých lidí dosud nikdo nekláp.“ [Problem der Verantwortung im Sinne Franz Kafkas. [...] Das ist ein RIESE, zehn Nobelpreise sind für diesen Kopf zu wenig, aber seitens der Tschechen bisher kein Mucks.]6 Josef Čermák (1991: 12) rückte diese Behauptung zurecht, denn sie entspricht nicht völlig der Wahrheit. Zu jener Zeit nämlich existierten bereits tschechische Übersetzungen einiger kürzerer Prosatexte. Und nicht nur Milena Jesenská übersetzte Kafka zu seinen Lebzeiten, sondern auch Milena Illová, die Frau von Kafkas Mitschüler Rudolf Illový, Otto F. Babler, Jan Grmela und Jitka Skaláková, Schülerin Otokar Fischers und spätere Frau des Übersetzers Bedřich Fučík. Wie sehr Eisner an Kafka lag, verdeutlicht ein Brief aus dem darauffolgenden Jahr: Každý z nás potřebuje tu a tam porodní bábu. Prosím Vás velice, čtěte přec jednou toho Franze Kafku, jeho Prozess, jeho Das Schloss, jeho Verwandlung a to ostatní. Je to nutné. [Jeder von uns braucht hie und da einen Geburtshelfer. Ich bitte Sie sehr, lesen Sie doch einmal diesen Franz Kafka, seinen Prozess, sein Schloss, seine Verwandlung und das übrige. Das ist nötig.]7

Das klingt fast schon, als vermute Eisner bei Fischer Vorbehalte gegen Kafka, die er ausräumen müsse. Fischer erwähnt Kafka in der Tat nur sehr selten. In seinem Vortrag Židé a literatura [Die Juden und die Literatur] spricht er von einem „metafyzické zahledění Franze Kafky“ [metaphysischen Horizont Franz Kafkas]8; der bereits erwähnte Aufsatz Germanoslavica enthält eine Liste von Themen, mit denen sich das vorgeschlagene Fach beschäftigen müsste und nennt unter anderem „výklad Rilkeho nebo F. Kafky z prostředí pražského“ [eine Interpretation Rilkes oder F. Kafkas aus dem Prager Milieu heraus] (Fischer 1929: 9). Bemerkenswert und beinah so kryptisch wie Kafka liest sich eine Tagebuchnotiz Fischers, die womöglich den frühen 1930er-Jahren zuzuordnen ist. Unter dem Stichwort „doba chaosu po 1918“ [chaotische Zeit nach 1918] finden sich ohne Kommentar folgende Namen aufgelistet: Stefan Zweig, Hermann Hesse, Georg Trakl, Franz Kafka, am unteren Rand des Blattes folgt „a zvl. Karl Kraus“ [und bes. Karl Kraus], darunter, abge6  LA PNP Praha (Fond Otokar Fischer: Korrespondenz: Pavel Eisner an Otokar Fischer, 1927). 7  LA PNP Praha (Fond Otokar Fischer: Korrespondenz: Pavel Eisner an Otokar Fischer, Dezember 1928). 8  Fischer (1937: 238). Der Vortrag wurde am 20.02.1933 gehalten und dann in der Zeitschrift Čin [Die Tat] abgedruckt.

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setzt, der Vermerk „reakční???“ [reaktionär???].9 Was immer Fischer damit gemeint hat, nicht von der Hand zu weisen ist, dass ihm Kafkas Werk sehr wohl bekannt war, und sicher sah er auch dessen Bedeutung für die moderne Literatur. Das bestätigt ebenso Fischers offensichtlich letzte Erwähnung Kafkas. Es handelt sich um einen kurzen Kommentar zu einem Sammelband, der anlässlich des fünfzigsten Geburtstags von Max Brod erschien. Fischer spricht hier von den „dojemné dopisy […] Fr. Kafky, velkého prozaika Brodem kdys objeveného“ [ergreifenden Briefen aus dem Nachlass Fr. Kafkas, des großen einst von Brod entdeckten Prosaikers] (Fischer 1934: 9). Zweifellos ist es bedauerlich, dass Fischer sich nicht systematisch und ausführlich mit Kafkas Werk beschäftigt hat. Sonst würde sich heute zu Pavel Eisners Sicht die Perspektive der tschechischen Literaturwissenschaft gesellen. Fast vor dreißig Jahren bereits konstatierte Josef Čermák, dass „největší český germanista té doby“ [der damals bedeutendste tschechische Germanist] erstaunlich wenig Interesse an Kafka zeigte (Čermák 1991: 2). Doch sei die erste Dissertation zu Franz Kafka wohl aus einem Seminar Otokar Fischers hervorgegangen und so habe Fischer seine geistigen Schulden gegenüber diesem Autor indirekt doch beglichen.10 Auch wenn er anderen deutschen Autoren Prags mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat, so muss doch auch gesagt werden, dass ihr Werk nicht im Zentrum seiner kritischen Reflexionen stand. Nichtsdestoweniger war er mit dem literarischen Schaffen der Prager Deutschen bestens vertraut und hatte von ihnen eine höhere Meinung als viele seiner Altersgenossen und Kollegen. Das bezeugt die freilich nicht allzu umfängliche Sammlung an Rezensionen, Texten und Erwähnungen, die hier, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, vorgestellt wurde. (Übersetzt von Kristina Kallert)

9  LA PNP (Fond Otokar Fischer, Tagebuchnotizen 1914–1919). 10  Laut Čermák handelt es sich dabei um die von Matylda Sladká in deutscher Sprache vorgelegte Arbeit zum Thema Problém samoty a společenství u Franze Kafky [Das Problem von Einsamkeit und Gemeinschaft bei F.K.]. Zur frühen Kafka-Rezeption in der ČSR vgl. außerdem die Untersuchung von Anne Hultsch (2014: 13-60).

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Lenka Vodrážková

Otokar Fischer und Arnošt Vilém Kraus. Begegnungen von zwei Generationen der Prager tschechischen Germanisten in den Jahren 1901–1938 1. Einleitung Ein Rückblick auf die Geschichte der Prager tschechischen literaturwissenschaftlichen Germanistik zeigt, dass dieses Fach von seinen Anfängen in den Achtzigerjahren des 19. bis in die Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts mit drei Generationen seiner Repräsentanten verbunden war: Der Begründer der Prager tschechischen literaturwissenschaftlichen Germanistik Arnošt Vilém Kraus (1859–1943) studierte an der Prager Universität vor ihrer Teilung 1882 bei den deutschen Germanisten Johann Kelle (1828–1909) und Hans Lambel (1842–1921) und legte zusammen mit Václav Emanuel Mourek (1846–1911) die Grundlagen des wissenschaftlichen Profils des an der tschechischen Universität neu gegründeten Faches; sein Schwerpunkt lag in der Betrachtung der deutsch-tschechischen wechselseitigen Kultur- und Literaturbeziehungen und deren Interpretation vom tschechischen Gesichtspunkt aus. Arnošt Kraus folgten dann im Bereich der Literaturwissenschaft die Absolventen der Prager tschechischen Universität Jan Krejčí (1868–1942), der 1919 als Professor für Deutsche Literaturgeschichte nach Brno/Brünn berufen wurde, und Otokar Fischer (1883–1938); mit Arnošt Kraus hat gerade der letztgenannte die tiefsten Spuren in der tschechischen literaturwissenschaftlichen Germanistik der Zwischenkriegszeit hinterlassen. So bemerkte auch der tschechische Literaturhistoriker, Kritiker und Übersetzer Vítězslav Tichý (1904–1962): „Hovořit o Fischerovi-germanistovi, akademickém učiteli německé literatury, znamená hovořit o české germanistice vůbec.“ [Über Fischer als Germanisten zu sprechen, den akademischen Lehrer der deutschen Literatur, bedeutet über die tschechische Germanistik überhaupt zu sprechen.]1 (Tichý 1948: 83). Von der mehr als fünfzigjährigen Geschichte des Faches gehören fast vier Jahrzehnte 1  Alle Zitat-Übersetzungen in diesem Beitrag stammen, wenn nicht anders angegeben, von Lenka Vodrážková.

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den Begegnungen dieser zwei Vertreter der literaturwissenschaftlichen Germanistik – Arnošt Vilém Kraus und Otokar Fischer.

2. Begegnung eines Hochschullehrers und seines Studenten Als sich am 20. Mai 1933 der Nestor der Prager tschechischen Germanistik Arnošt Kraus an seinen Nachfolger und den damaligen Dekan der Philosophischen Fakultät Otokar Fischer2 anlässlich von dessen 50. Geburtstag mit dem Hinweis auf Ciceros Glückwünsche an den römischen Politiker und Soldaten Lucius Minucius Basilus (ca. 85–43 v. Chr.)3 – „Tibi gratulor, mihi gaudeo, domine spectabilis“4 – wandte, erinnerte sich A. Kraus bei dieser Gelegenheit an die ersten Begegnungen mit dem begabten Studenten: Vaše jméno nalézám ve svých zápiscích v létě r. 1903, když jste mne předtím jeden semestr poslouchal a vykládáte tam [...] Gretchen Stube. Vracíte se v  zimě 1904/5 po návratu z Berlína, kdy mne posloucháte, aspoň podle indexu, a referujete o Creizenachovi. Nevím, jestli zápisky něco nezamlčují, pamatuji se na Vaši účast ve velmi zajímavé a živé diskusi [...]. [Ihren Namen finde ich in meinen Notizen vom Sommersemester 1903, als Sie ein Semester zuvor zu meinen Vorlesungen zu kommen pflegten, und Sie präsentieren dort [...] die Gretchen Stube. Sie kehren im Wintersemester 1904/5 aus Berlin zurück, als Sie mindestens nach dem Studienbuch meine Lehrveranstaltungen hören und über Creizenach referieren. Ich weiß nicht, ob die Notizen etwas verschweigen, aber ich erinnere mich an Ihre Teilnahme an einer sehr interessanten und regen Diskussion [...]].5

Die Geschichte der mehr als dreißigjährigen Bekanntschaft zwischen zwei Repräsentanten der Prager tschechischen Germanistik begann also mit Otokar Fischers Studium, der im Jahr 1901 für die Fächer Germanistik und Romanistik an der Prager tschechischen Universität immatrikuliert wurde,

2  Otokar Fischer war Dekan der Philosophischen Fakultät im akademischen Jahr 1933/1934. 3  Marcus Tullius Cicero: Epistulae. Ad Familiares. Buch 6, Brief 15: an Lucius Minucius Basilus: „Ich wünsche dir Glück – freue mich an meinem Teil [...]“ (Cicero 1913: 4). 4  LA PNP Praha (Nachlass O. Fischer, Sign. 19/H/30: Korrespondenz – Arnošt Kraus an O. Fischer /1905–1937/: 20.05.1933). 5  LA PNP Praha (Nachlass O. Fischer, Sign. 19/H/30: Korrespondenz – Arnošt Kraus an O. Fischer /1905–1937/: 20.05.1933).

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wobei er gleichzeitig als außerordentlicher Student6 die Lehrveranstaltungen in Germanistik an der Prager deutschen Universität besuchte, und zwar vor allem bei dem Literaturwissenschaftler August Sauer (1855–1926); die Vorlesungen und Seminare dieses Prager deutschen Germanisten zeichneten sich durch ein hohes Niveau und umfangreiche Kenntnisse der Fachliteratur aus.7 Im Unterschied zu den deutschen Spezialkollegien, die einen begabten Studenten mehr anzogen und sein literaturwissenschaftliches Interesse vertieften, war O. Fischers Teilnahme an literaturwissenschaftlichen Obligatfächern der tschechischen Germanistik sporadisch: Von den Lehrveranstaltungen, die A. Kraus in den Jahren 1901–1905 leitete, besuchte O. Fischer nach Notizen seines Hochschullehrers zwei Vorlesungen zur Geschichte der deutschen Literatur und zwei Seminare zur neueren deutschen Literatur, unter denen sich die Interpretation von Goethes Faust (Výklad Goethova Fausta, SoSe 1903) befand.8 Der Nachteile des germanistischen Studienprogrammes war sich auch A. Kraus bewusst, der sich später über die „ermüdende Reihe“9 von Vorlesungen zur Geschichte der deutschen Literatur, die auf elf Semester aufgeteilt worden war, beschwerte. Im Unterschied zur tschechischen Germanistik etablierte sich nämlich seit den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts die deutsche Germanistik, die an das Erbe des Seminars für Deutsche Sprache und Literatur vor 1882 anknüpfte, schon in vollem Maße und sie wurde mit spezialisierten Fachkräften und Absolventen der österreichischen und deutschen Universitäten, die im Bereich der Literaturwissenschaft ein breites Spektrum von Lehrveranstaltungen anboten,10 besetzt. 6  Laut Universitätsgesetz durften die Studenten nach der Teilung der Prager Universität im Jahr 1882 nur an einer der Prager Universitäten immatrikuliert sein. Sie konnten aber an der anderen Universität als außerordentliche Hörer Vorlesungen besuchen. Die Pflicht-fächer hörten sie dann immer nur an der tschechischen Universität (VodrážkováPokorná 2007: 72). 7  „[...] čtení Aug. Sauera [...] vábila vysokou úrovní a překvapující [...] znalostí odborné literatury“ [[...] die Vorlesungen Aug. Sauers [...] zogen durch ein hohes Niveau und durch überraschende [...] Kenntnisse der Fachliteratur an] (Janko 1939: 309f.). 8  AUK (Seznam přednášek na c. k. české Karlo–Ferdinandské universitě v Praze 1901–1905). 9  „Dvě zapsané přednášky – z únavné řady, v níž literatura byla rozdělena na 11 semestrů!“ [Zwei ausgewählte Vorlesungen – aus einer ermüdenden Reihe, in der die Literatur auf 11 Semester verteilt war!]. LA PNP Praha (Personalfonds Otokar Fischers, Sign. 19/H/30: Korrespondenz – Arnošt Kraus an O. Fischer /1905–1937/: 20.05.1933). 10  In den Jahren 1901–1905 leitete August Sauer neben Vorlesungen über die Geschichte der neueren deutschen Literatur z. B. das Seminar Gerstenbergs Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur 1766/7 (Deutsche Litteraturdenkmale Nr. 29/30), in dem die Mitglieder ihre Beiträge zum Thema des Seminars präsentierten (SoSe 1902), die Vorlesung über Friedrich

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Die bescheidenen Kontakte Otokar Fischers zu seinem tschechischen Hochschullehrer während seines Studiums an der Prager Universität hatten zur Folge, dass Arnošt Kraus, der immer literaturwissenschaftlich talentierte Studenten aussuchte und unterstützte (wie z. B. Arne Novák), zwar die literaturwissenschaftliche Begabung O. Fischers beachtete, in dieser Hinsicht aber keinen wesentlichen Einfluss auf diesen Germanisten während seiner Studienzeit ausübte:11 [...] nevím, mám-li vůbec právo nazývat se Vaším učitelem. Jak jinak působil na Vás Sauer, v jehož slohových cvičeních o Gerstenbergovi klíčila Vaše podivuhodně zralá první kniha, v cvičeních o Kleistovi Váš největší spis! [[...] ich weiß nicht, ob ich überhaupt das Recht habe, mich Ihr Lehrer zu nennen. Wie anders hat auf Sie Sauer gewirkt, aus dessen Aufgaben über Gerstenberg Ihr beachtenswert reifes erstes Buch und aus Übungen über Kleist Ihre größte Schrift entstanden sind!]12

Auch in seiner Besprechung in Listy filologické, in der Prof. Kraus die Dissertation O. Fischers als „eine sehr glückliche Publikation“ (Kraus 1904: 479) bewertete, führte er an: Nebylo téměř možná, v  nové literatuře německé nalézti zajímavější nové země, než se podařilo autoru, jdoucímu za pokynem svého učitele, profesora A. Sauera [...] [K]niha vynesla znamenitý pramen pro poznání literárních proudův osmnáctého století. [Es war fast nicht möglich, in der neuen deutschen Literatur ein interessanteres Forschungsgebiet zu finden, als es diesem Autor, der der Leitung seines Lehrers Prof. A. Sauer gefolgt war, gelungen ist. [...] [D]as (vorliegende) Buch wies auf eine hervorragende Quelle für die Erforschung der literarischen Strömungen des 18. Jahrhunderts hin.] (Kraus 1904: 479f.)

Hebbels Leben und Werke (WS 1902/03), Gottfried Keller (SoSe 1903) und Kleist und Grillparzer (WS 1904/1905). AUK (Ordnung der Vorlesungen der k. k. deutschen Universität zu Prag 1901–1905). 11  Neben August Sauer beeinflussten Otokar Fischer wissenschaftlich die Professoren Gustav Roethe (1859–1926), Erich Schmidt (1853–1913), Richard M. Meyer (1860–1914) und Max Roediger (1850–1918), deren Lehrveranstaltungen er während seines Berliner Studienaufenthaltes 1903–1904 besuchte. Aufgrund der im Wesentlichen in Berlin verfassten Dissertation zum Thema H. W. von Gerstenbergs Rezensionen in der Hamburgischen Neuen Zeitung 1767–1771 erlangte O. Fischer am 16. November 1905 die Doktorwürde an der Prager tschechischen Universität. Vgl. Topor 2015: 178-206. 12  LA PNP Praha (Nachlass O. Fischer, Sign. 19/H/30: Korrespondenz – Arnošt Kraus an O. Fischer /1905–1937/: 20.05.1933).

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3. Begegnung der Fachkollegen an der Prager tschechischen Universität Eine neue Etappe der Beziehungen zwischen Otokar Fischer und Arnošt Kraus eröffnete sich im Jahr 1909 mit der Habilitation und dem Lektorat O. Fischers an der tschechischen Philosophischen Fakultät, mit dem seine akademische Tätigkeit angefangen hat. Diese Phase der Beziehungen zwischen zwei Fachkollegen umfasst die Unterstützung der germanistischen Karriere O. Fischers sowie das wissenschaftliche Unternehmen der beiden tschechischen Germanisten auf dem Gebiet der Germanobohemica.

3.1 Otokar Fischers germanistische Laufbahn und Arnošt Kraus Die Anfänge der germanistischen Laufbahn Otokar Fischers sind durch pragmatische Lösung der komplizierten personellen Lage des tschechischen Seminars für Deutsche Sprache und Literatur gekennzeichnet: So förderte Arnošt Kraus die Besetzung des Lektorats durch den jungen, literaturwissenschaftlich begabten Germanisten nach der Ernennung Josef Jankos (1869–1947) zum außerordentlichen Professor im Jahr 1908.13 Nachdem Otokar Fischer am 21. Februar 1909 als Lektor und Leiter der deutschen Konversationsübungen bestätigt worden war,14 habilitierte er sich am 28. September 1909 mit seiner Schrift Die Träume des grünen Heinrich und der Vorlesung Goethe jako překladatel [Goethe als Übersetzer] zum Privatdozenten für Deutsche Literaturgeschichte:15 Zur Habilitationsschrift wurde er – wie zur Dissertation – von dem Prager deutschen Germanisten A. Sauer angeregt: O. Fischer war ein tschechischer Germanist, „jehož první kniha vyšla německy, jehož disertační i habilitační práce jsou psány německy a vzešly z popudů daných mu na německé universitě [...]“ [dessen erstes Buch auf Deutsch erschienen ist, dessen Dissertation und Habilitationsschrift auf Deutsch geschrieben und dank den an der deutschen Universität erhaltenen 13  AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 18, Inv. Nr. 203, Professoren: Otokar Fischer /1908– 1938/: 13.11.1908). 14  AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 18, Inv. Nr. 203, Professoren: Otokar Fischer /1908– 1938/: 18.03.1909). 15  AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 18, Inv. Nr. 203, Professoren: Otokar Fischer /1908– 1938/: 22.07.1909).

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Anregungen entstanden sind [...]] (Brambora 1948: 74).16 Seine Arbeit veröffentlichte er dann in den von August Sauer und Carl von Kraus (1868–1952) herausgegebenen Prager Deutschen Studien (Fischer 1908); es handelte sich um eine Festschrift, die die Prager deutschen und tschechischen Germanisten – Kollegen und Schüler – auf Veranlassung A. Sauers und C. von Kraus’ dem Begründer der Prager Germanistik Prof. Johann Kelle zu seinem 80. Geburtstag widmeten.17 Vor der Habilitation stammten wichtige Empfehlungen für Otokar Fischer von einem der Kommissionsmitglieder, Arnošt Kraus: Práce, které, jako Vaše o Tieckovi a Kellerovi vyjímají jediný zjev z tvorby, jsou, rozumí se velmi cenné pro poznání dotyčného básníka i zjevu, ale nejsou tím, co bych nazval díly [sic!], nejsou tím, dokud se nedostanou do celku, který snad je zase na habilitační práci příliš velký [...] Je mi velmi trapno, že po Vaší dissertaci, která vyváží leckterou habilitaci, nastávají Vám takové rozpaky, ale nezbude asi nic jiného než shrnouti studie své v několikaarchové dílo nebo první díl jeho. Je to osudné, že pracuje-li kdo na takovém rozhraní dvou věd, že nelze z různých těch prací udělat kapitoly jednoho díla [...], a přece jsme vázáni předpisy habilitačního řádu, že se má referovati především a hlavně o předloženém habilitačním spise [sic!]. [Die Arbeiten, die, wie Ihre über Tieck und Keller ein einziges Werk in Betracht ziehen, sind selbstverständlich sehr wertvoll für die Betrachtung des jeweiligen Autors und seines Werks, aber sie stellen nicht dasjenige dar, was ich als Monographie [sic!] bezeichnen würde, sie sind kein Werk, bis sie Bestandteil einer Monographie werden, die aber für eine Habilitation vielleicht zu umfangreich ist [...]. Es ist mir sehr peinlich, dass nach Ihrer Dissertation, die einer beliebigen Habilitation entspricht, solche Verlegenheit bei Ihnen entsteht, aber es bleibt wohl nichts anderes übrig, als Ihre Studien in eine einige Bogen umfassende Monographie oder ihren ersten Teil zusammenzufassen. Es ist problematisch, dass es, wenn sich jemand mit einem solchem Grenzgebiet von zwei Wissenschaften beschäftigt, nicht möglich ist, aus diesen Arbeiten die einzelnen Kapitel zusammenzustellen [...] und doch sind wir den Habilitationsvorschriften verpflichtet, dass man vor allem über die vorliegende Habilitationsschrift [sic!] referieren soll.]18

16  Für seine ersten deutsch geschriebenen Arbeiten wurde Otokar Fischer auch tschechischerseits, z. B. vom tschechischen Literatur- und Theaterkritiker Antonín Veselý (1888–1945), kritisiert. Diese Stellungnahme hängt u. a. mit den Bestrebungen nach einer selbstständigen tschechischen Wissenschaft und mit der Rolle des Tschechischen als einer etablierten Wissenschaftssprache zusammen (Brambora 1948: 74). 17  Die Festschrift erschien unter dem Titel Untersuchungen und Quellen zur germanischen und romanischen Philologie. Johann von Kelle dargebracht von seinen Kollegen und Schülern (Prager Deutsche Studien, Heft 8-9, 1908). 18  LA PNP Praha (Personalfonds Otokar Fischers, Sign. 19/H/30: Korrespondenz – Arnošt Kraus an O. Fischer /1905–1937/: 08.03.1908).

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Arnošt Kraus, der methodologisch vom Positivismus Wilhelm Scherers (1841–1886) beeinflusst war, bearbeitete literarhistorische Themen aufgrund einer eingehenden textlichen und auf die Kenntnis von Fakten gestützten Forschung und blieb so von den neuen literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts entfernt. So schrieb er auch später an O. Fischer: Vy jste tomu bližší a sledujete literaturu jako Kleistovec [...] systematičtěji: co říkáte těm Nadlerům a Ungrům [sic!]? A co Körnerovi [sic!]? Je to tak špatné, jak to činí Sauer? A co je do Stefanského? Kdekoli ho otevru, nerozumím mu. Vyčítá-li se Schererovcům, že nemáme buňku filosofickou, přiznávám se k tomu [...]. [Sie stehen dieser Problematik näher und Sie betrachten die Literatur als Kleist-Forscher [...] systematischer: Was sagen Sie zu den Nadlers und Ungers [sic!]? Und was zu Körner [sic!]? Ist das so schlecht, wie es Sauer glauben machen will? Und wie ist das mit Stefansky? Wenn ich etwas von ihm auf einer beliebigen Seite öffne, verstehe ich es nicht. Wenn man den Scherer-Anhängern vorwirft, dass wir keine philosophische Begabung haben, so gebe ich das zu [...]].19

In der Kommission waren nach dem Habilitationsverfahren die Repräsentanten der Prager tschechischen Germanistik, die O. Fischers Gesuch am 6. Mai 1909 einstimmig empfohlen haben – Arnošt Kraus, Václav Emanuel Mourek und Josef Janko. In ihrem Gutachten hat die Kommission die umfangreiche literaturhistorische Vorbereitung des Kandidaten, seine Kenntnisse sowie seine ästhetische Betrachtungsweise der behandelten Problematik betont.20 Nach seiner Habilitation setzte Otokar Fischer in den Jahren 1910–1919 (bis zu seiner Ernennung zum außerordentlichen Professor) sein Lektorat fort und in den Jahren 1912/13–1919/20 leitete er mit Jan Krejčí einen deutschen Sprachkurs mit Berücksichtigung der Interpretation der deutschen literarischen Texte (Petráň 1983: 252 u. 270). Auch seine weitere akademische Laufbahn, nämlich die Erlangung des Titels außerordentlicher Professor vom 6. Juli 191721 und seine Ernennung zum außerordentlichen Professor vom

19  LA PNP Praha (Personalfonds Otokar Fischers, Sign. 19/H/30: Korrespondenz – Arnošt Kraus an O. Fischer /1905–1937/: 25.04.1926). 20  AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 18, Inv. Nr. 203, Professoren: Otokar Fischer /1908– 1938/: 30.04.1909). 21  Das dazu notwendige Verfahren begann am 16. Oktober 1912 mit dem Vorschlag zur Ernennung der Kommission, den Arnošt Kraus, Josef Janko, Jaroslav Vlček (1860–1930) und Václav Tille (1867–1937) vorlegten. AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 18, Inv. Nr. 203, Professoren: Otokar Fischer /1908–1938/: 16.10.1912).

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27. Mai 1919,22 betreute Prof. Arnošt Kraus, der dadurch die personelle Lage des Seminars nach dem Tode des Begründers der tschechischen Germanistik Václav Emanuel Mourek zu verbessern versuchte. Es ging darum, [...] [o] vyplnění mezery, nastalé tím, že smrtí prof. Mourka ubylo jedné síly germanistické. [...] dr. Otakar [sic!] Fischer v mladých letech a za dobu poměrně krátkou své činnosti na naší universitě, vytvořil řadu stkvělých [sic!] prací, uznaných jednohlasně odborníky nejvíce na slovo vzatými a že se postavil v přední řadu mladších literárních historiků. [[...] eine Lücke zu füllen, die dadurch entstanden ist, dass mit dem Tod Prof. Moureks eine germanistische Arbeitskraft fehlte [...] Dr. Otakar [sic!] Fischer schuf in seinen jungen Jahren und in der verhältnismäßig kurzen Zeit seiner Tätigkeit an unserer Universität eine Reihe hervorragender Arbeiten, die einstimmig von den bedeutendsten Fachleuten anerkannt wurden, und er stellte sich dadurch in die erste Reihe der jüngeren Literarhistoriker.]23

Seit der zweiten Hälfte des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts änderte sich allmählich auch die Beziehung von Arnošt Kraus zu Otokar Fischer: Die Gründe lagen darin, dass Arne Novák (1880–1939) auf die germanistische Laufbahn an der Prager tschechischen Universität verzichtete, sich der Bohemistik zuwandte und schließlich 1919 der Berufung an die Universität Brno/Brünn folgte: Jelikož o druhém soukromém docentu, dru Arnoštu Novákovi, který se narodil 2. března 1880 a habilitoval se dne 8. prosince 1906 pro dějiny literatury německé, r. 1911 též pro dějiny literatury české a je profesorem na c. k. reálce v Praze 1, nelze uvažovati, – dr. Novák prohlásil, že se germanistické činnosti na universitě vzdává, a také od letního běhu 1913 přestal konat přednášky germanistické – zbývá jednati o třetím a nejmladším germanistovi [Otokar Fischer; Anm. L. V.]. [Da man den anderen Privatdozenten, Dr. Arne Novák, der am 2. März 1880 geboren wurde und der sich am 8. Dezember 1906 für Deutsche Literaturgeschichte, im Jahr 1911 auch für Tschechische Literaturgeschichte habilitierte und der Professor an der k. k. Realschule in Prag 1 ist, nicht in Betracht ziehen kann – Dr. Novák teilte mit, dass er auf die germanistische Tätigkeit an der Universität verzichtet, und er hörte auch seit dem Sommersemester 1913 auf, germanistische Vorlesungen zu halten – bleibt es nur übrig, über den dritten und jüngsten Germanisten [Otokar Fischer; Anm. L. V.] zu verhandeln].24

Bei O. Fischer beobachtete A. Kraus in dieser Zeit eine tiefere Verankerung im germanistischen Seminar und gleichzeitig sein steigendes Forschungsinteresse 22  AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 18, Inv. Nr. 203, Professoren: Otokar Fischer /1908– 1938/: 27.03.1918, 17.10.1918 u. 07.07.1919). 23  AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 18, Inv. Nr. 203, Professoren: Otokar Fischer /1908– 1938/: 02.07.1913). 24  AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 18, Inv. Nr. 203, Professoren: Otokar Fischer /1908– 1938/: 02.07.1913).

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für die Germanobohemica, denen sich Prof. Kraus lebenslang widmete. Die persönlicheren und freundschaftlicheren Beziehungen von A. Kraus zu seinem Fachkollegen spiegeln sich u. a. auch in privaten Briefen wider, in denen er seitdem konsequent die Anrede „Teuerer Freund“! oder „Lieber Freund!“ statt der vorherigen Anredeform „Teuerer Kollege!“ (bis 1918) verwendet.25 In den Jahren 1921/22–1930/31 war Otokar Fischer aufgrund der Empfehlung von Arnošt Kraus Leiter des Proseminars für Germanische Philologie.26 Im Jahr 1924 wurde von A. Kraus die Gründung einer neuen literaturwissenschaftlichen Abteilung des Seminars für Deutsche Sprache und Literatur initiiert, deren Leitung dann O. Fischer anvertraut wurde:27 Myslím, že až převezmu seminář, mohli bychom mysliti velmi vážně na to, abych navrhl oddělení pro Vás; proč bychom byli o tolik skromnější než historikové a slavisté, kteří mají pro každého profesora také oddělení ve svých seminářích? Přemýšlejte, prosím Vás, jaký bychom tomu dali titul, jaká by to byla specialita, pro kterou by ten seminář byl zřízen. Má-li to býti časově [...] nebo odborově (drama bych si ovšem nemohl nechat vzíti) [...]. [Ich denke, dass wir, wenn ich das Seminar übernehme, sehr ernsthaft daran denken könnten, dass ich eine Abteilung für Sie vorschlage; warum sollten wir um so viel bescheidener sein als Historiker und Slawisten, die für jeden Professor eine Seminarabteilung haben? Denken Sie bitte darüber nach, wie wir diese Abteilung benennen würden, wie sie sich im Rahmen des Seminars, für welches sie errichtet wäre, spezialisieren würde. Soll es nach zeitlichem [...] oder gattungsspezifischem Kriterium sein? (das Drama könnte ich aber nicht abgeben) [...]].28

Am 31. Dezember 1927 erreichte die akademische Laufbahn O. Fischers ihren Höhepunkt, als er mit Unterstützung seiner Kollegen Arnošt Kraus, Josef Janko und der Bohemisten Jaroslav Vlček und Jan Jakubec (1862–1936) nach drei Jahren endlich vom Ministerium für Schulwesen und Kultur zum ordentlichen Professor für Deutsche Literaturgeschichte ernannt wurde.29 In 25  LA PNP Praha (Nachlass O. Fischer, Sign. 19/H/30: Korrespondenz – Arnošt Kraus an O. Fischer /1905–1937/). Für zahlreiche Anregungen hinsichtlich der Korrespondenz zwischen A. Kraus und O. Fischer bedanke ich mich an dieser Stelle bei Dr. Václav Petrbok. 26  In den akademischen Jahren 1919–1920 leitete das Proseminar für Deutsche Sprache und Literatur Jan Krejčí. AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 18, Inv. Nr. 203, Professoren: Otokar Fischer /1908–1938/: 10.11.1919). 27  AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 18, Inv. Nr. 203, Professoren: Otokar Fischer: 31.10.1924 und 13.01.1925). 28  LA PNP Praha (Nachlass O. Fischer, Sign. 19/H/30: Korrespondenz – Arnošt Kraus an O. Fischer /1905–1937/: 10.12.1920). 29  AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 18, Inv. Nr. 203, Professoren: Otokar Fischer: 08.06.1927). Der erste Vorschlag des Professorenkollegiums der Philosophischen Fakultät zur Ernennung O. Fischers zum ordentlichen Professor stammt vom 6. März 1924

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den Jahren 1925/26–1929/30 gehörte er mit Arnošt Kraus und Josef Janko zu den Leitern des Seminars für Germanische Philologie.30

3.2 Otokar Fischer, Arnošt Kraus und ihr gemeinsames germanobohemistisches Betätigungsfeld In Bezug auf die Forschungsschwerpunkte verliehen schon die tschechischen Germanisten seit der ersten Generation, die mit komplizierten deutschtschechischen Beziehungen konfrontiert war, dem Fach sein spezifisch germano-slawisches bzw. germano-bohemistisches Gepräge: Sie beleuchteten die raison d’être des Faches Deutsche Sprache und Literatur an der Prager tschechischen Universität durch Erforschung der wechselseitigen deutschtschechischen Beziehungen im Bereich der Kultur, Literatur und Geschichte; darum machte sich in wesentlichem Maße Arnošt Kraus mit zahlreichen, auf reiche Stoffsammlungen gestützten Werken verdient, von denen z. B. Stará historie česká v německé literatuře (1902) [dt. Alte Geschichte Böhmens in der deutschen Literatur, 1999] und die dreibändige Monographie Husitství v literatuře, zejména německé [Das Hussitentum in der Literatur, besonders in der deutschen] (1917–1924) zu nennen sind. Mit seinen Beiträgen hat Prof. Kraus nach Otokar Fischers Meinung „das Eingehen auf eine Fülle von Spezialfragen geschichtlichen, geschichtsphilosophischen, kulturpolitischen Inhalts ermöglicht“ (Fischer 1929b: 5). Das germanobohemistische Engagement des Begründers der Prager literaturwissenschaftlichen Germanistik zeigte sich auch in der Herausgabe der Čechischen Revue (1906–1912). Zur Zusammenarbeit an dieser deutsch geschriebenen Zeitschrift über das tschechische Geistesleben in den böhmischen Ländern, die für Deutschböhmen und für das Ausland bestimmt war, wurde damals unter zahlreichen Repräsentanten des tschechischen gesellschaftlichen Lebens auch Otokar Fischer eingeladen, der im Medaillon anlässlich des 70. Geburtstags von A. Kraus die Zeitschrift „als einen wichtigen Vorposten von Geschehnissen [...], als einen Vorläufer, dessen (aufgrund der Empfehlung der vom Professorenkollegium ernannten Kommission vom 28. Februar 1924) – AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 18, Inv. Nr. 203, Professoren: Otokar Fischer: 12.03.1924 u. 01.06.1925). 30  Petráň (1983: 330f.). Arnošt Kraus befürwortete auch die Ernennung Otokar Fischers zum Mitglied der Tschechischen Akademie der Wissenschaften – LA PNP Praha (Nachlass Otokar Fischer, Sign. 19/H/30: Korrespondenz – Arnošt Kraus an O. Fischer /1905–1937/: 29.10.1924).

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Verdienst und dessen Nachteil darin besteht, zu früh gekommen zu sein“ (Fischer 1929b: 5) bezeichnete. O. Fischer lieferte Beiträge über die ins Tschechische übersetzte deutsche Literatur sowie über das tschechische Theater,31 mit dem er gerade im letzten Erscheinungsjahr der Čechischen Revue 1912 als Dramaturg des Nationaltheaters32 eng verknüpft war (Fischer 1912a u. 1912b). Die Ziele der Zeitschrift entsprachen der Philosophie Tomáš Garrigue Masaryks (1850–1937), die A. Kraus mit großem Nachdruck betonte und in die Praxis umsetzte: Es war die Philosophie der kleinen Völker, welche – wie es im Vorwort zum ersten Band der Čechischen Revue steht – „gewaltige Summen von Energie der bloßen Erhaltung ihres Volkstums widmen müssen [...]“ (Kraus [?] 1906). Nach mehr als zwanzig Jahren schrieb dazu O. Fischer an A. Kraus: „Nechápal jsem, proč se staráte o ‚malé národy‘ a teď vidím, že v tom byl jeden z Vašich činů průkopnických.“ [Ich habe nicht verstanden, warum Sie sich um ‚kleine Völker‘ kümmern, und jetzt sehe ich, dass darin eine Ihrer bahnbrechenden Taten lag.].33 Innerhalb der deutsch-tschechischen Literaturbeziehungen wurde die Aufmerksamkeit der tschechischen Germanisten traditionell Johann Wolfgang von Goethe in seiner Beziehung zu Böhmen und zu bekannten Persönlichkeiten der böhmischen Wissenschaft, Kunst, Kultur und Literatur gewidmet; in den Jahren 1893 und 1896 erschien die Monographie Goethe a Čechy [Goethe und Böhmen], in der sich der erste tschechische Goethologe Arnošt Kraus mit den Fragen nach der Bedeutung Goethes für Böhmen et vice versa beschäftigte. „Es ist [...] berechtigt, das Thema Goethe und Böhmen als eines der Leitmotive von Kraus’ gelehrter Forschung hinzustellen“ (Fischer 1929b: 5), schrieb Otokar Fischer, der sich nach dem Ersten Weltkrieg der germanobohemistischen Forschung zuwandte,34 an die Goethe31  Auch Arnošt Kraus interessierte sich lebenslang für das Theater; er war 1894–1919 u. a. Theater-Referent für Politik und Union. Hier propagierte er mit seinen Aufsätzen das tschechische Theater (vom März bis September 1909 war er Redakteur der Feuilleton-Rubrik in Union). Fischer (1919: 5); Heger (1929: 463 u. 465). 32  Otokar Fischer war Dramaturg des Nationaltheaters vom September 1911 bis Anfang Juni 1912. 33  MÚ AAV, ČAVU, Nachlass A. V. Kraus, Karton 1, Sign. IIb: Korrespondenz (Zlatá kniha): Otokar Fischer (25.03.1933). 34  „Nakonec zabočil Fischer na dráhu, kterou se před ním ubírali Mourek i Kraus – po 1. světové válce začíná se zajímat o problémy literatury české, mj. styčné body obou literatur, jejich vzájemné působení.“. [Endlich lenkte Fischer sein Forschungsinteresse auf die Thematik, mit der sich vor ihm Mourek und Kraus befassten – nach dem 1. Weltkrieg beginnt er, sich für die Probleme der tschechischen Literatur, u. a. für die Berührungspunkte der beiden Literaturen, für ihre Wechselbeziehung zu interessieren]. (Tichý 1948: 85).

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Forschung seines Vorläufers anknüpfte und die tschechische GoethePhilologie vor allem mit seiner hervorragenden Faust-Übersetzung (1928) bereicherte. Die beiden Germanisten beteiligten sich dann an der Herausgabe der Gedenkschrift Goethův sborník [Goethe-Festschrift, 1932], die Prager Germanisten tschechischer Sprache anlässlich der 100. Wiederkehr von Goethes Todestag initiierten und zum größten Teil verfassten. Diese Gedenkschrift stellt gleichzeitig einen Höhepunkt der tschechischen Goethe-Forschung dar: Čeští germanisté přistupují k úkolu nad jiné čestnému a odpovědnému, splácejíce za svůj národ i za svůj naukový obor část dluhu, jakým jsou [...] příslušníci Slovanstva povinováni největšímu německému tvůrci slovesnému, universálnímu představiteli novodobého myšlení. [Die tschechischen Germanisten übernehmen eine überaus ehren- und verantwortungsvolle Aufgabe, mit der sie für ihr Volk und auch für ihr Fach zum Teil den Tribut zahlen, den [...] die Angehörigen des Slawentums dem größten deutschen Dichter, dem universellen Vertreter der neuzeitlichen Denkweise, schulden.]35

In der Gedenkschrift veröffentlichte dann A. Kraus seine Aufsätze České překlady Goethových děl [Tschechische Übersetzungen der Werke Goethes, 303-309] und Marie Pospíšilové výklad Fausta [Marie Pospíšilovás Faust-Interpretation, 346-360] und O. Fischer schrieb den Beitrag Mladý Čelakovský a Goethe [Der junge Čelakovský und Goethe, 38-65]. Auf die Verdienste von Arnošt Kraus um die tschechische GoetheForschung wies Otokar Fischer auch im Sammelband Xenia Pragensia. Ernesto Kraus septuagenario et Josepho Janko sexagenario. Ab amicis collegis discipulis oblata (1929) hin, mit dem sich die Universitätskollegen von Prof. Kraus anlässlich seines 70. Geburtstags und seiner Pensionierung verabschiedeten. Zu den Mitherausgebern und Redakteuren des Sammelbandes gehörte neben den Anglisten Vilém Mathesius (1882–1945) und Bohumil Trnka (1895–1984) auch O. Fischer als Repräsentant der Germanistik: Vorliegende Festschrift, zwei verehrten Gelehrten [Arnošt Kraus und Josef Janko; Anm. L. V.] dargebracht, bedeutet nebst persönlicher Ehrenbezeugung den ersten Versuch, vor einem internationalen Forum durch einen Sammelband auf Wege und Ziele der čechischen Germanistik (dies Wort im weitesten Sinn genommen) aufmerksam zu machen.36

Auf den germanobohemischen Forschungsbereich als einen der Forschungsschwerpunkte der tschechischen Germanistik bezieht sich im Sammelband 35  Goethův sborník, 1932, o. S. [Vorwort]. 36  Xenia Pragensia, 1929, S. III [Vorwort].

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der Beitrag O. Fischers K. H. Máchas deutsche Anfänge und der Kreis um Alois Klar (233-259). Nesmiřoval jsem se v době své zpupnosti s tím, že se zaměstnáváte okrajovými otázkami česko-německými, a dnes Vás slavím jako zakladatele germanoslavic [...] ani já nevím, mohu-li býti nazýván Vaším „žákem“, ale to jedno je jisté, že jsem šel ve Vašich šlépějích! [Ich versöhnte mich in der Zeit meines Hochmuts nicht damit, dass Sie sich mit den tschechisch-deutschen Randfragen beschäftigen, und heute huldige ich Ihnen als Gründer der Germanoslavica [...] ja, ich weiß nicht einmal, ob ich als Ihr „Schüler“ genannt werden könnte, aber das eine ist sicher, und zwar, dass ich in Ihre Fußstapfen trat!]37

So charakterisierte O. Fischer später seine Beziehung zum Doyen der Prager tschechischen literaturwissenschaftlichen Germanistik, an den er auf dem Gebiet der deutsch-tschechischen Literaturbeziehungen wissenschaftlich anknüpfte.

4. Begegnung von zwei Germanisten nach 1929 Nach der Pensionierung von Arnošt Kraus,38 in dem Otokar Fischer immer wieder „einen väterlichen Freund zu verehren [hatte]“ (Fischer 1929b: 5),39 wurde der jüngere Fachkollege zum institutionellen Nachfolger des Vertreters der ersten Generation der Prager tschechischen Germanisten; seit dem akademischen Jahr 1930/31 leitete Otokar Fischer zusammen mit Josef Janko das Seminar für Deutsche Philologie. Gleichzeitig übernahm er im Januar 1930 zusätzlich zur Leitung der literaturwissenschaftlichen auch die der literarhistorischen Abteilung,40 die vorher Prof. Kraus innehatte. Filozofická fakulta Karlovy univerzity byla tehdy [ve 30. letech 20. století; pozn. L. V.] kulturní institucí svým významem daleko přesahující nejen rámec vysokého učení, ale i hranice státu. Mnozí její učitelé byli kapacity ve svém oboru a nadto směrodatné osobnosti 37  MÚ AAV (ČAVU, Nachlass A. V. Kraus, Karton 1, Sign. IIb: Korrespondenz (Zlatá kniha): Otokar Fischer (25.05.1933). 38  Prof. Arnošt Kraus wirkte bis zum 15. Februar 1930 an der Prager Philosophischen Fakultät. AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 34, Inv. Nr. 407, Professoren: Arnošt Kraus /1884–1930/). 39  Weiter dazu AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 18, Inv. Nr. 203, Professoren: Otokar Fischer /1908–1938/: 20.03.1934). 40  AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 18, Inv. Nr. 203, Professoren: Otokar Fischer /1908– 1938/: 17.01.1930 u. 08.04.1930).

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národního, ba i evropského kulturního života. Mým profesorem obzvlášť ctěný byl Otokar Fischer, germanista a literární vědec širokého záběru, básník, dramatik a kongeniální překladatel, fascinující osobnost, jehož každá přednáška a každá hodina semináře působila jako povznášející kulturní zážitek [...], [Die Philosophische Fakultät der Karls-Universität war damals (in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts; Anm. L. V.) eine kulturelle Institution, die mit ihrer Bedeutung nicht nur den Rahmen einer gängigen Universität, sondern auch die Grenzen des Staates sprengte. Viele ihrer Lehrer waren Kapazitäten in ihrem Fach und darüber hinaus maßgebende Persönlichkeiten des nationalen, ja sogar des europäischen Kulturlebens. Mein besonders verehrter Professor war Otokar Fischer, Germanist und Literaturwissenschaftler im weitesten Sinn, Dichter, Dramatiker und kongenialer Übersetzer, eine faszinierende Persönlichkeit, deren jede Vorlesung und jede Seminarsitzung als ein erhebendes Kulturerlebnis wirkte [...]], (Goldstücker 2003: 59) 41

erinnerte sich an sein Studium an der Prager Universität der Prager Germanist Eduard Goldstücker (1913–2000). In Bezug auf die Forschungsinteressen, denen sich Otokar Fischer und Arnošt Kraus in den Dreißigerjahren, die durch eine verschärfte Problematik in den deutsch-tschechischen Beziehungen und durch komplizierte Nationalitätenpolitik in der Tschechoslowakei gekennzeichnet waren, intensiv widmeten, standen im Vordergrund ihrer Aufmerksamkeit die germanoslawischen Studien. Damals schlug Otokar Fischer, der auch in dieser Hinsicht das wissenschaftliche Unternehmen seines germanistischen Vorläufers fortsetzte und gleichzeitig mit Rücksicht auf die historischen Umstände modifizierte (Brambora 1948: 77), vor, eine Grenz- und Hilfswissenschaft mit der kreuzweisen Verbindung von nationaler und disziplinärer Zugehörigkeit der Mitarbeiter zu gründen, die auch der germanisch-slawischen Annäherung mit Unterstützung der tschechoslowakischen Kulturpolitik dienen sollte.42 Zu diesem Zweck wurde die Zeitschrift Germanoslavica gegründet und in den Jahren 1931–1937 herausgegeben; hier haben auch O. Fischer und A. Kraus ihre Aufsätze und Besprechungen zu germanoslawischen Themen veröffent41  Weiter dazu Goldstücker (1989: 55f.). 42  Schon in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts nahmen die beiden Prager tschechischen Germanisten Arnošt Kraus und Otokar Fischer an den tschechisch-deutschen Debattenabenden zur Besprechung aktueller kulturpolitischer Themen der tschechischdeutschen Beziehungen teil. Es ging z. B. um die Austausch-Professoren für Deutsch und Tschechisch (1928), wobei Arnošt Kraus und Otokar Fischer die Rolle der deutschen Slawisten und der tschechischen Germanisten im Prozess der Annäherung der Deutschen und Tschechen betonten. MÚ AAV (ČAVU, Nachlass A. V. Kraus, Karton 2, Sign. Vc: Zeitungsartikel zu deutsch–tschechischen Debattenabenden). Weiter vgl. VodrážkováPokorná (2007: 185-187). Tichý (1948: 83-85).

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licht.43 Otokar Fischer beteiligte sich auch am Konzept des Programms der Zeitschrift und gehörte zum Redaktionskollegium. Diese Revue versammelte Studien, in denen die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Slawen und ihren germanischen Nachbarvölkern im Bereich der Geschichte, Kultur, Philologie, Kunstgeschichte, Philosophie, Recht, Musik, Wirtschaft, Volkskunde usw. untersucht wurden. In dieser Hinsicht betonte O. Fischer die Bedeutung der Zusammenarbeit deutscher und tschechischer Wissenschaftler, denn in gewisser Beziehung sind ja sowohl die deutschen Slavisten als die slavischen Germanisten den Vertretern der Vermittlungs- oder Grenzwissenschaften zuzuzählen, und so verschiedenartig die hier und dort aufzusteckenden Forschungsziele sein mögen, so ist doch, gefühlsmäßig, eine Analogie hervorzuheben: die besteht darin, daß Muttersprache und Milieu des Forschers gegen das Objekt seiner Untersuchungen scharf abgegrenzt erscheinen, daß er also einen gewissermaßen fremden Gegenstand zu behandeln sich berufen fühlt (Fischer 1929a: 7).

In Folge der politisch zugespitzten Verhältnisse in der Tschechoslowakei wurde im Jahr 1938 die Herausgabe der Zeitschrift und die wechselseitige tschechisch-deutsche Zusammenarbeit eingestellt und die Hoffnung auf eine Zusammenarbeit zwischen deutschen und tschechischen Wissenschaftlern endgültig aufgegeben.

5. Fazit Die sich über fast vier Jahrzehnte erstreckenden Begegnungen von zwei Repräsentanten der Prager tschechischen Germanistik, Otokar Fischer und 43  Zu Fischer, Otokar vgl. z. B.: Zur Ideengeschichte des „Konrad Wallenrod“. – In: Germanoslavica 1 (1931/1932), 55-76 – F. L. Čelakovskýs Übersetzungen für Goethe. – In: Germanoslavica 1 (1931/1932), 408-431 – H. Cysarz: Goethe und das geschichtliche Weltbild. – In: Germanoslavica 2 (1932/33), 113-114 – Kusá Máchova znělka. – In: Germanoslavica 4 (1936), 227 (volle Fassung in: Naše řeč 19, 1935, 184-187). Zu Arnošt Kraus vgl. z. B.: Der Prager Leis. – In: Germanoslavica 1 (1931/1932), 83-93 – Konrad Bittner: Herders Geschichtsphilosophie. – In: Germanoslavica 1 (1931/1932), 145-146 – Johannes Urzidil: Goethe in Böhmen. Wien und Leipzig 1932. Verlag Dr. Hans Epstein. 245 S., 40 Tiefdruckbilder. – In: Germanoslavica 1 (1931/1932), 505-508 – Kleinere Beiträge. Textkritisches: 1. Das große Turnier von Paris. 2. Die Nonne mit dem Psalter. – In: Germanoslavica 2 (1932/33), 544, 546 – P. M. Hebbe, Svenskarna i Böhmen och Mähren. – In: Germanoslavica 3 (1935), 195. Zur Beziehung zwischen Johannes Urzidil und Arnošt Kraus vgl. Vodrážková (2013: 189-201).

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Arnošt Vilém Kraus, stellen durchaus einen Spiegel des Faches dar; die von ihnen überlieferten Zeugnisse geben aber auch einen Einblick in die Geschichte einer Freundschaft, die A. Kraus in seinem Brief vom 20. Mai 1933 wie folgt zusammenfasste: Ale [...] ne-li učitelem, Vaším přítelem jsem byl od první, rodinnými styky připravené chvíle, a těšil jsem se z Vašich krásných zkoušek, z habilitace, [...] z titulu, a konečně! dosažení mimořádné [profesury; Anm. L. V.] [...] r. 1919! Prošel jsem kdysi týmiž stupni, a byl jsem také lektor a dokonce také referent, jinak se však dráhy větším dílem rozcházejí. A prodělali jsme podobné boje a nesnáze, smělý sen Váš (můj nikdy!) o povolání na některou ze slavných stolic germanistických se nevyplnil, na štěstí, [...], ale jinak jste dostoupil výše a postavení, jaké si lze přáti [...]. Půl století sleduji, jak vidíte [sic!] Vaši dráhu a jak mohu ujistit, s neutuchající sympatií. [...] Padesát let růstu a plodnosti leží za Vámi; [...] nedožiju se bezpečně druhých padesáti, ani snad těch dvacíti, po které budete plniti těžký a odpovědný úkol literárního historika německého (doufám, že ne věčně jediného) [sic!] naší alma mater [...] [Aber [...] wenn nicht Ihr Lehrer, so war ich doch Ihr Freund seit dem ersten, durch Familienkontakte vorbereiteten Augenblick, und ich freute mich über Ihre schönen Prüfungen, über Ihre Habilitation, über Ihren Titel [des a. o. Professors; Anm. L. V.] und endlich über die Erreichung der außerordentlichen [Professur; Anm. L. V.] [...] im Jahr 1919! Ich absolvierte einst den gleichen Weg, und ich war auch Lektor und sogar auch Referent, sonst gehen aber unsere Karrieren größtenteils in unterschiedliche Richtungen. Und wir überstanden ähnliche Kämpfe und Schwierigkeiten, Ihr mutiger Traum (so einen Traum hatte ich nie!) von einer Berufung an einen der berühmten germanistischen Lehrstühle erfüllte sich zum Glück nicht, [...], aber sonst erreichten Sie ein so hohes Ansehen und eine Stellung, wie man es sich nur wünschen kann [...]. Ein halbes Jahrhundert beobachte ich, wie Sie sehen, Ihre Laufbahn und wie ich beteuern kann, tue ich es mit unverminderter Sympathie. [...] Fünfzig Jahre Wachstum und Fruchtbarkeit liegen hinter Ihnen [...] ich erlebe sicher nicht die nächsten fünfzig Jahre, und vielleicht auch nicht die nächsten zwanzig Jahre, in denen Sie eine schwere und verantwortungsvolle Aufgabe eines germanistischen (hoffentlich nicht ewig eines einzigen) [sic!] Literaturhistorikers an unserer Alma Mater erfüllen werden].44

Obwohl zehn Jahre nach diesem Schreiben sowohl der Adressat als auch der Autor, dessen Schicksal sich in Terezín/Theresienstadt traurig vollendete,45 nicht mehr lebten, ging der Wunsch, den Arnošt Kraus mit seinen Geburtstagsglückwünschen an Otokar Fischer aussprach, in Erfüllung, nämlich, „dass der Sohn dem Vater nicht gleich sei, sondern ein bessrer [sic!]“.46 44  LA PNP Praha (Nachlass O. Fischer, Sign. 19/H/30: Korrespondenz – Arnošt Kraus an O. Fischer /1905–1937/: 20.05.1933). 45  Arnošt Kraus wurde am 20. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und ist dort am 16. April 1943 im Alter von 84 Jahren an Unterernährung und Entkräftung gestorben. Vodrážková-Pokorná (2004: 137 u. 142). 46  LA PNP Praha (Nachlass O. Fischer, Sign. 19/H/30: Korrespondenz – Arnošt Kraus an O. Fischer /1905–1937/: 20.05.1933).

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Abkürzungsverzeichnis AUK = Archiv Univerzity Karlovy Praha [Archiv der Karls-Universität Prag] ČAVU = Česká akademie věd a umění [Tschechische Akademie der Wissenschaften und Künste] FF UK = Filozofická fakulta Univerzity Karlovy [Philosophische Fakultät der KarlsUniversität] LA = Literární archiv [Literarisches Archiv] MÚ AAV = Masarykův ústav a Archiv Akademie věd ČR [Masaryk-Institut und Archiv der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik] PNP = Památník národního písemnictví [Gedenkstätte für nationales Schrifttum]

Archivdokumente AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 99, Inv. Nr. 1209, Seminar für Deutsche Sprache und Literatur /1919–1940/). AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 34, Inv. Nr. 407, Professoren: Arnošt Kraus /1884– 1930/). AUK (FF UK /1882–1939/, Karton 18, Inv. Nr. 203, Professoren: Otokar Fischer /1908–1938/). AUK (Ordnung der Vorlesungen der k. k. deutschen Universität zu Prag 1901–1905). AUK (Seznam přednášek na c. k. české Karlo-Ferdinandské universitě v Praze 1901–1905) [Katalog der Vorlesungen an der k.u.k tschechischen Karl-FerdinandUniversität in Prag 1901–1905]. LA PNP Praha (Nachlass Otokar Fischer, Sign. 19/H/30: Korrespondenz – Arnošt Kraus an Otokar Fischer /1905–1937/). MÚ AAV (ČAVU, Nachlass A. V. Kraus, Karton 1, Sign. IIb: Korrespondenz /Zlatá kniha/). MÚ AAV (ČAVU, Nachlass A. V. Kraus, Karton 2, Sign. IIb: Korrespondenz). MÚ AAV (ČAVU, Nachlass A. V. Kraus, Karton 2, Sign. Vc: Zeitungsartikel zu deutsch-tschechischen Debattenabenden).

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Literatur Brambora, Josef (1933): Dílo Otokara Fischera. Studie bibliografická [Das Werk Otokar Fischers. Eine bibliographische Studie]. – In: Otokar Fischer. Kniha o jeho díle [Otokar Fischer. Ein Buch über sein Werk]. Praha: Alois Srdce, 95-131. Brambora, Josef (1948): Češství Otokara Fischera [Otokar Fischers Tschechentum]. – In: Památce Otokara Fischera [In memoriam Otokar Fischers]. Praha: Práce, 73-79. Cicero (1913): Briefe. Nach der Übersetzung von C. M. Wieland neu hg., IV. Bd., München/Leipzig: Georg Müller. Fischer, Otokar (1908): Die Träume des Grünen Heinrich. – In: Prager deutsche Studien. Band 9. Untersuchungen und Quellen zur germanischen und romanischen Philologie. Johann von Kelle. Dargebracht von seinen Kollegen und Schülern. 2. Teil. Prag: C. Bellmann, 289-344. Fischer, Otokar (1912a): Übersetzerglosse. – In: Čechische Revue, Bd. 5, Praha, 30-34. Fischer, Otokar (1912b): Die Saison 1911/1912 im Nationaltheater. – In: Čechische Revue, Bd. 5, Praha, 277-279. Fischer, Otokar (1919): Prof. Arnošt Kraus šedesátníkem [Prof. Arnošt Kraus, ein Sechzigjähriger]. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] 27, Nr. 305 (04.11.), 5. Fischer, Otokar (1929a): Deutsche Slavistik und tschechische Germanistik [Německá slavistika a česká germanistika]. – In: Prager Presse 9, Nr. 88 (29.03.), 7. Fischer, Otokar (1929b): Arnošt Kraus. Zu seinem siebzigsten Geburtstag am 4. November. – In: Prager Presse 9, Nr. 298 (03.11.), 5. Goldstücker, Eduard (1989): Prozesse. Erfahrungen eines Mitteleuropäers. München und Hamburg: Albrecht Knaus. Goldstücker, Eduard (2003): Vzpomínky (1913–1945) [Erinnerungen (1913–1945)]. Praha: G plus G. Havránek, Jan (Hg.) (1997): Dějiny Univerzity Karlovy 1802–1918 (III) [Geschichte der Karls-Universität 1802–1918 (III)]. Praha: Univerzita Karlova. Havránek, Jan/Pousta, Zdeněk (Hgg.) (1998): Dějiny Univerzity Karlovy 1918–1990 (IV) [Geschichte der Karls-Universität 1918–1990 (IV)]. Praha: Univerzita Karlova. Heger, Ladislav (1929): Zur Bibliographie der čechischen Germanistik. I. Arbeiten von Arnošt Kraus. – In: Xenia Pragensia. Ernesto Kraus septuagenario et Josepho Janko sexagenario. Ab amicis collegis discipulis oblata. Pragae: Sumptibus Societatis Neophilologorum, Societatis Mathematicorum et Physicorum, 459-465. Janko, Josef (1939): Ze studijních vzpomínek [Von den Studienerinnerungen]. – In: Časopis pro moderní filologii [Zeitschrift für moderne Philologie] 25, 160-165, 307-312, 355-357. Jirát, Vojtěch (1933): O. Fischer jako literární historik [O. Fischer als Literarhistoriker]. – In: Otokar Fischer. Kniha o jeho díle [Otokar Fischer. Ein Buch über sein Werk]. Praha: Alois Srdce, 5-19.

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Kraus, Arnošt (1904): O. Fischer: H. W. v. Gerstenbergs Rezensionen in der Hamburgischen Neuen Zeitung 1767–1771. (t.p.t.: Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jh., Hg. v. A. Sauer, Nr. 128) Berlin 1904, XCVIII. a 415 stran [und 415 S.]. – In: Listy filologické [Philologische Blätter] 31, 479-480. Kraus, Arnošt (?) (1906): Was unsere Zeitschrift will. – In: Čechische Revue, Bd. 1, 1906–1907, 1-4. Petráň, Josef (1983): Nástin dějin Filozofické fakulty Univerzity Karlovy v Praze /do roku 1948/ [Ein Abriss der Geschichte der Philosophischen Fakultät der KarlsUniversität Prag /bis zum Jahre 1948/]. Praha: Univerzita Karlova. Pokorná, Lenka (2001): Die Anfänge der tschechischen Germanistik und ihre herausragenden Vertreter (bis 1945) [Počátky české germanistiky a její významní představitelé do roku 1945]. – In: Koschmal, Walter/Nekula, Marek/Rogall, Joachim (Hgg.): Deutsche und Tschechen. Geschichte – Kultur – Politik. München: C.H. Beck, 651-662. Tichý, Vítězslav (1948): Otokar Fischer – germanista [Otokar Fischer – Germanist]. – In: Památce Otokara Fischera [In memoriam Otokar Fischers]. Praha: Práce, 83-85. Topor, Michal (2015): Berlínské epizody. Příspěvek k dějinám filologie v Čechách a na Moravě 1878–1914 [Berliner Episoden. Ein Beitrag zur Geschichte der Philologie in Böhmen und Mähren 1878–1914]. Praha: Institut pro studium literatury. Vodrážková, Lenka (2013): Johannes Urzidils Goethe in Böhmen und Arnošt Vilém Kraus. Eine Fallstudie zu den deutsch-tschechischen Beziehungen in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. – In: brücken 21, Nr. 1-2, 189-201. Vodrážková-Pokorná, Lenka (2004): Arnošt Vilém Kraus (1859–1943). Zum tragischen Schicksal eines Prager tschechischen Germanisten während der Protektoratszeit. – In: Germanoslavica 15, Nr. 2, 121-144. Vodrážková-Pokorná, Lenka (2007): Die Prager Germanistik nach 1882. Mit besonderer Berücksichtigung des Lebenswerkes der bis 1900 an die Universität berufenen Persönlichkeiten. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang. Xenia Pragensia (1929). Ernesto Kraus septuagenario et Josepho Janko sexagenario. Ab amicis collegis discipulis oblata. Pragae: Sumptibus Societatis Neophilologorum, Societatis Mathematicorum et Physicorum.

Ralf Klausnitzer

Wechselseitige Beobachtungen. Die Philologen Otokar Fischer und Josef Körner im Dialog1 Die Philologen Otokar Fischer und Josef Körner waren auf vielfältige Weise miteinander verbunden: Ihre wissenschaftliche Sozialisation erlebten sie in der bewegten Zeit nach der Jahrhundertwende in universitären Metropolen Mitteleuropas (Prag, Berlin, Wien); sie waren aktiv beteiligte Beobachter der weitreichenden Transformationen der Literaturwissenschaft beim Übergang von historistisch-positivistischen Textumgangsformen zu geistes- und ideengeschichtlichen Synthesen; und sie erlebten intensive Momente des wissenschaftlichen und persönlichen Austauschs in der Moldaustadt. Der 1883 in Kolín geborene Otokar Fischer schätzte den 1888 in Rohatetz bei Göding/Rohatec u Hodonína zur Welt gekommenen Josef Körner als ausgewiesenen Romantikforscher und scheute sich nicht, ihn öffentlich als „einen der führenden und meist beachteten Literaturhistoriker Prags“ (Fischer 1926) anzuerkennen. Für Körner war der tschechische Fachkollege ein „guter, echter, lieber Freund“,2 dem er nicht nur zahlreiche interne Informationen über seine glücklose Karriere anvertraute, sondern auch wichtige Einsichten in sein philologisches Ethos vermittelte. Besondere Bedeutung gewinnt diese freundschaftliche Beziehung der beiden Literaturforscher angesichts der komplizierten und spannungsreichen Verhältnisse im wissenschaftlichen und im literarisch-kulturellen Feld seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts: Konkurrenzverhältnisse bestanden nicht nur zwischen dem deutschen und dem tschechischen Teil der Karl-Ferdinands-Universität in Prag, sondern auch zwischen unterschiedlichen Richtungen und Schulen der Literaturwissenschaft. Der vorliegende Beitrag soll die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Literaturwissenschaftlern rekonstruieren und dabei vor allem auch auf divergierende Optionen des philologischen Wissens sowie auf verschiedene Modelle der literaturwissenschaft1  Michal Topor hat mit der Digitalisierung der Briefe Josef Körners an Otokar Fischer sowie publizistischer Texte von Otokar Fischer in Prager Tageszeitungen wesentlich dazu beigetragen, dass der Beitrag in dieser Form geschrieben werden konnte. Vielen herzlichen Dank! Den umsichtigen Organisatoren der Konferenz danke ich ebenso wie den Diskussionsteilnehmern für wichtige Hinweise. 2  LA PNP Praha, Nachlass Otokar Fischer, Empfangene Korrespondenz, Josef Körner an Otokar Fischer, 21.04.1937.

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lichen Erkenntnisproduktion eingehen. Besondere Aufmerksamkeit gilt den wissenschaftlichen Praktiken, die von den beiden Germanisten in den Prozessen ihrer universitären Sozialisation erworben wurden und die sie auf je eigene Weise in spezifische epistemische Haltungen überführten.

I. Freundschaftsbeweise Am 3. Januar 1937 erscheint in der Zeitung Prager Presse ein Artikel von Otokar Fischer mit dem Titel Gelehrtentypen. Eigentlich hat der bedeutendste tschechische Germanist der Zwischenkriegszeit wenig Zeit für publizistische Äußerungen: Der Lehrstuhlinhaber an der Karls-Universität und Intendant des Prager Nationaltheaters ist viel beschäftigt; zugleich verdichten sich die Anzeichen drohenden politischen Unheils immer mehr. Dennoch nimmt er sich die Zeit, um das neue Werk eines Freundes anzuzeigen: Gerade ist der erste Band von Josef Körners bedeutsamer Quellenedition Krisenjahre der Frühromantik erschienen, der wichtige Briefwechsel romantischer Autoren und vor allem die Korrespondenzen von August Wilhelm Schlegel und Madame de Staël versammelt.3 Der in Prag lebende und seit 1913 mit Fischer befreundete Körner hatte diese bis dahin verloren geglaubten Schriftstücke im Sommer 1929 auf Schloss Coppet am Genfer See entdeckt und mustergültig ediert.4 3  Die Editionsgeschichte dieser verdienstvollen Quellensammlung ist verwickelt: Nachdem die Cotta’sche Verlagsbuchhandlung im Frühjahr 1930 eine Ausgabe des Coppeter Fundes abgelehnt hatte und die danach unternommenen Bemühungen beim Augsburger Verleger Benno Filser gleichfalls gescheitert waren, gelang es Körner erst nach langwierigen Bemühungen, den in Brünn ansässigen Verlag Rohrer für die Veröffentlichung der wertvollen Coppeter-Korrespondenzen zu gewinnen. Unter dem Titel „Krisenjahre der Frühromantik“ erschien das zweibändige Werk 1936 und fand in ganz Europa intensive Resonanz. Der 1938 im Manuskript vorliegende voluminöse Erläuterungsband konnte infolge der politischen Ereignisse nicht mehr gedruckt werden und erschien erst nach Körners Tod im Jahre 1958. 4  Der Fund der verloren geglaubten Korrespondenzen August Wilhelm Schlegels aus den Jahren zwischen 1804 und 1812, die Josef Körner im Nachlass der Madame de Staël auf Schloss Coppet am Genfer See entdeckt hatte, kann in seinen literatur- und kulturgeschichtlichen Dimensionen hier nicht einmal ansatzweise skizziert werden. An dieser Stelle ist nur darauf hinzuweisen, dass mit der Entdeckung und der umsichtigen Veröffentlichung dieser Briefsammlung die schmerzlichen Lücken in der Kenntnis des literarischen Lebens jener Zeit aufgefüllt und die durch mangelnde Zeugnisse bedingten Spekulationen über Auflösung und Neubildung der romantischen Zirkel zwischen Jena, Berlin, Heidel-

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Als einer der ersten von vielen Rezensenten erkennt Fischer die Dimensionen dieser Quellensammlung und würdigt ihren Editor mit emphatischen Worten. Für ihn ist Körner einer der „berufensten Kenner“ der „Epistologie“, also der Lehre von Briefen und brieflicher Kommunikation, und zugleich einer der bedeutendsten Erforscher der deutschen Romantik. Entsprechend deutlich stellt Fischer die Leistungen Körners mit besonderen Attributen heraus: „Seine Forschungstätigkeit auf diesem Gebiete war von Zufällen, von unerhörtem Finderglück und von einem geschärften Spürsinn begleitet, dem nur der an mühsamem Entziffern und Deuten der Texte verwendete Eifer zur Seite gestellt werden kann.“ (Fischer 1937: 10) Doch Fischer bleibt nicht bei einer begeisterten Besprechung der verdienstvollen Edition. Er nutzt seinen Artikel mit dem mehrdeutigen Titel Gelehrtentypen,5 um prinzipielle Fragen nach den Umgangsformen mit berg und Dresden auf sicheren Boden gestellt werden konnten. Auf die gewaltige Lücke in der Überlieferung war Körner bei seinen Recherchen zur zweibändigen Ausgabe der Briefe von und an August Wilhelm Schlegel gestoßen: Weder in der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden noch in anderen Archiven und Bibliotheken, die Körner zur Zusammenstellung des reichhaltigen Quellenwerks konsultiert hatte, fanden sich Briefe August Wilhelm Schlegels und Madame de Staëls aus der Zeit nach der Auflösung des Jenaer Kreises und der Berliner Vorlesungstätigkeit 1803/04. Nachdem briefliche Erkundigungen bei den Nachlassverwaltern der französischen Schriftstellerin auf Schloss Coppet nur negativen Bescheid ergeben hatten, reiste Körner im August 1929 persönlich an den Genfer See – und barg hier dank der entgegenkommenden Hilfe von Gräfin Le Marois zwei Kartons mit rund 3500 in Päckchen geordneten Briefen, die August Wilhelm Schlegel nicht mit sich genommen hatte, als er 1812 gemeinsam mit Madame de Staël vor Napoleon durch Russland und Schweden nach England floh. Über die näheren Umstände des Coppeter Fundes s. Körner (1929). 5  Die Typologisierung von Gelehrten bzw. Wissenschaftlern hat eine lange Tradition, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann. Erste Reflexionen zu Eigenschaften, Einstellungen und handlungsleitenden Überzeugungen epistemischer Akteure finden sich bereits in der Antike, so in Platons Dialogen Sophistes und Politeia sowie in Aristoteles’ Metaphysik. In der Frühen Neuzeit vermehren sich Überlegungen zum Status des Gelehrten, die nun auch mit ironischen bzw. satirischen Stellungnahmen zu einer überbordenden Wissensproduktion verbunden werden können; dazu u. a. Karl A. E. Enenkel (2008); Gunter E. Grimm (1998); Wilhelm Kühlmann (1982); Alexander Košenina (2003). Diese Reflexionen gewinnen einen veränderten Status, als sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert jene Prozesse verdichten, die zur Ausbildung moderner Wissenskulturen im Rahmen modernisierter Universitäten führen und den wissenschaftlich forschenden Universitätslehrer modellieren; exemplarisch dafür sind die Schriften von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, 1803), Johann Gottlieb Fichte (Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, 1807), Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn, 1808) sowie Wilhelm von Humboldt (Über die innere und äußere Organisation der höheren

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literarischen Texten zu stellen. Diese grundlegenden Überlegungen zum Umgang mit Literatur exemplifiziert er am Verhältnis von zwei Wissenschaftlern, die beide aus Böhmen und Mähren stammen und inzwischen an der deutschen Universität der Moldaustadt lehrten. Über diese Worte des Freundes Otokar Fischer hat sich Josef Körner gefreut. Doch noch am selben Tag schreibt er einen dreiseitigen Brief, der nach einigen Floskeln des Dankes direkt zur Sache kommt und den Autor des Artikels für zahlreiche Äußerungen kritisiert. Auch wenn Körner vorgibt, dass er nur „ein wenig“ gegen diese „Gesamtcharakteristik“ rebelliere,6 sind seine Einwände in der Tat massiv: Er wendet sich nicht nur gegen Fischers Verzeichnung seines Werkes und die Rubrizierung als übervorsichtiger Material-Akkumulator und Belege-Sammler, sondern protestiert auch gegen die Verwendung eines „Philologie“-Begriffs, der hier mit intellektueller Einschränkung verbunden wird und seinen Akteur zu einem „wurzelgrabenden Einsiedler“ degradiert. Auf diese Interventionen gegen Otokar Fischers Gelehrtentypologie wird später detailliert zurückzukommen sein. Zunächst ist ein weiterer Artikel von Otokar Fischer über Körner zu erwähnen, der nur wenige Wochen nach der ambivalenten Würdigung erscheint. Am 21. April 1937 veröffentlicht die Zeitschrift Lidové noviny [Volkszeitung] eine Rezension von Körners Buch Wortkunst ohne Namen, die das gerade publizierte Werk nachwissenschaftlichen Anstalten in Berlin, 1809/10); dazu umfassend Clark (2006). Gelehrtentypologien finden sich seitdem vor allem auch in Zeugnissen einer epideiktischen Rhetorik im Rahmen von Rektorats-, Gedenk- und Festreden; kanonisch aus dem Bereich der Germanistik sind etwa Moriz Haupts Festrede am Geburtstage des Königs (1848) und seine Gedächtnisrede auf Jacob Grimm (1864) oder auch Wilhelm Scherers Gedenkrede auf Jacob Grimm (1865). Seit den 1910er-Jahren erfolgen soziologisch fundierte Untersuchungen zu Normen und Einstellungen von Wissenschaftsakteuren, so durch Max Weber (Wissenschaft als Beruf, 1919) und Karl Mannheim (Wissenssoziologie, Hg. von K. H. Wolff, 1964). Einen nachhaltigen Theoretisierungsschub hinsichtlich der Reflexion des wissenschaftlichen Ethos löst Robert K. Merton aus: In dezidierter Abgrenzung von partikularistischen Wissenschaftskonzeptionen (wie sie etwa im Rahmen nationalsozialistischer Wissenschaftsprogramme projektiert wurden) charakterisiert er das wissenschaftliche Ethos als Verpflichtung von Wissenschaftlern auf Standards wie Universalismus (Wahrheitsansprüche werden vorab aufgestellten, unpersönlichen Kriterien unterworfen), des Kommunismus (wissenschaftlich erzeugte Wissensansprüche sind öffentliches Eigentum), der Uneigennützigkeit und des „organisierten Skeptizismus“; so Robert K. Merton (1985); weiterführend Merton (1980) und Stehr/Meja (1978, 1982). Zum Thema gleichfalls einschlägig sind u. a. Bourdieu (1988), Daston/Sibun (2003), Klausnitzer/Spoerhase/Werle (2015). 6  LA PNP Praha, Nachlass Otokar Fischer, Empfangene Korrespondenz, Josef Körner an Otokar Fischer, 03.01.1937.

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haltig lobt. Umgehend schreibt Josef Körner dem tschechischen Kollegen – den er mit „Mein lieber, mein sehr verehrter Professor Fischer“ anredet – und kündigt ihm an, sein nächstes Buch werde „eine umfängliche phänomenologische Abhandlung sein, betitelt: ‚Was ist ein Freund?‘ und als Titelbild Ihre Photographie bringen“.7 Josef Körner stattet dem Freund aber nicht nur seinen Dank für eine positive Besprechung ab, sondern weiht ihn ebenfalls in seine prekäre Situation angesichts der politischen Verhältnisse im übermächtigen Nachbarland ein. Seitdem in Deutschland die Nationalsozialisten die Macht übernommen und sukzessiv ausschließende Maßnahmen gegen jüdische Wissenschaftler ergriffen haben, sind seine Publikationsmöglichkeiten nachhaltig bedroht. Körner schreibt – wohl auch sich selbst Mut zusprechend – an den kollegialen Freund: Verzweifelt ist meine Situation in dieser Hinsicht noch keineswegs. Ende Mai wird der II. Band der „Krisenjahre [der Frühromantik]“ herauskommen, dann hab ich noch mindestens ein volles Jahr mit Ausarbeitung und Drucklegung des Kommentars zu tun, und inzwischen muß und wird es endgültig klar werden, ob das Dritte Reich ein Bluff und innerer Wiedersinn war oder wir, seine Gegner, wirklichkeitsblinde Doktrinäre, wir die politischen Bankrotteure. Selbst solchem Ende würde ich gefaßt entgegensehen. Im nächsten Jahre werde ich fünfzig. Der größere Teil des Lebens und vielleicht auch meines Werks (nicht der bessere) liegt hinter mir. Wie viele mußten schon früher von dieser Bühne abtreten! Verzeihen Sie den sentimentalen Schluß. Er sei die dunkle Folie, von der sich umso strahlender die Freude abheben darf, mit der ein guter, lieber, echter Freund mich beglückt.8

Nur ein knappes Jahr später, am 18. März 1938 wird Josef Körner an die Witwe von Otokar Fischer schreiben und ihr sein tief empfundenes Beileid über den unerwarteten Tod ihres Mannes und seines Freundes übermitteln. Am 25. April 1938 nutzt er den Dank für Glückwünsche zu seinem 50. Geburtstag, um an den verstorbenen Freund zu erinnern und angesichts des heraufziehenden Unheils für die Tschechoslowakei zu prophezeien: Fast fürcht ich, die Tränen des schmerzlichen Bedauerns, die wir seinem allzufrühen Hingang weihten, werden sich bald in ein Gefühl der Gewißheit und der Genugtuung wandeln, daß ihm gegönnt war, im rechten Augenblick aus einer Welt und einer Nation zu scheiden, 7  Weiter heißt es hier: „Im Ernst zu reden: Sie haben mir mit den liebenswürdigen, eindrucksstarken, geistreichen und witzigen Zeilen in der L.N. nicht nur viel Freude, sondern auch einen großen Dienst getan, denn der Verleger ist entzückt, und das ist sehr wichtig, da mein literarisches Schicksal völlig von dieser neuen Handlung abhängt; mindestens so lange, als ein weiteres Publizieren in Deutschland ausgeschlossen ist.“ (LA PNP Praha, Nachlass Otokar Fischer, Empfangene Korrespondenz, Josef Körner an Otokar Fischer, 21.04.1937). 8  Ebd.

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die schon tragisches Düster umnachtet. Er wird nicht mehr mit dem Leibe mitkämpfen und mitleiden. Er ist eingegangen in das reine Reich des Geistes, das erhaben ist über alle Siege und Niederlagen, entnommen dem Streit des Tages.9

Die wechselseitigen Äußerungen der Literaturwissenschaftler Otokar Fischer und Josef Körner sind aufschlussreiche Belege für das freundschaftliche und spannungsreiche Verhältnis zwischen Forschern, die sich auf je eigene Weise mit der literarischen Überlieferung befassten. Doch verdienen sie weitergehende Aufmerksamkeit. Denn sie zeugen einerseits von genauen Beobachtungen der komplizierten Verhältnisse in wissenschaftlichen und literarischkulturellen Zusammenhängen seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich in den personalen Konkurrenzverhältnissen an der deutschen Universität in Prag in besonderer Weise niederschlugen. Die Beziehungen zwischen dem tschechisch sozialisierten Otokar Fischer und dem deutschsprachig erzogenen Josef Körner – die beide jüdische Wurzeln hatten – spiegeln andererseits in sehr persönlicher Weise die komplexen kulturellen Beziehungen in einer Metropole wieder, in der unterschiedliche Nationalitäten und Konfessionen spannungsvoll neben- und miteinander lebten. Die Zeugnisse ihrer Freundschaft demonstrieren schließlich eindrucksvoll auch die variierenden Möglichkeiten philologischer Erkenntnisproduktion und damit ein Reflexionswissen, dessen Potential auch für gegenwärtige Umgangsformen mit literaturwissenschaftlichem Wissen relevant sein kann. Wenn im Folgenden die Beziehungen zwischen den beiden Literaturwissenschaftlern Otokar Fischer und Josef Körner skizziert werden und unterschiedliche Varianten der literaturwissenschaftlichen Wissensproduktion dargestellt werden sollen, sind Beschränkungen unumgänglich. Selbstverständlich ist an dieser Stelle keine umfassende Geschichte der Prager Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert zu schreiben. Auch die grundlegenden Optionen im Umgang mit der kulturellen Überlieferung, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten und die Otokar Fischer in den Traditionslinien „Dilthey“ und „Scherer“ zusammenfasste, können hier nicht rekonstruiert werden. Konzentriert auf zwei wesentliche personale Protagonisten soll vielmehr eine exemplarische Konstellation des Austauschs und der philologischen Selbst-Beobachtung konturiert werden – um so einen weiteren Baustein für die historische Selbstreflexion unserer Disziplin zu gewinnen. Zuvor aber ist knapp auf biographische Parallelen und Unterschiede hinzuweisen. 9  LA PNP Praha, Nachlass Otokar Fischer, Empfangene Korrespondenz, Josef Körner an Frau Fischer, 25.04.1938.

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II. Gemeinsamkeiten und Unterschiede „Josef Körner, aus der Geburtsstadt T. G. Masaryks stammend – und Herbert Cysarz, ein Nachkomme wohl nichtdeutscher Vorfahren aus dem Ostrauer Bezirk: diese zwei Namen können geradezu als Nenner zweier entgegengesetzter Tendenzen bezeichnet werden, durch welche die Deutschkunde von heute gekennzeichnet erscheint.“ (Fischer 1937: 10) So beginnt Otokar Fischer seine eindringliche Würdigung des Philologen Josef Körner, der am 15. April 1888 als jüngster Sohn eines jüdischen Gutsverwalters im südmährischen Rohatetz bei Göding geboren wurde. Otokar Fischer war 1883 in Kolín in einer jüdischen Familie geboren worden und konvertierte später zum christlichen Glauben.10 Die Herkunft aus jüdischen Familien prägte Lebenswege vor, in denen die problematischen Beziehungen zwischen Deutschen, Juden und Tschechen im kulturellen Schmelztiegel Böhmen und Mähren am eigenen Leibe erfahren und ausgetragen werden sollten. Denn als „dritte Nationalität der böhmischen Länder“ geltend,11 gerieten die in Böhmen und Mähren ansässigen Juden im Zuge der ethnisch-nationalen Dissoziation des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn nach 1867 in eine schwierige Lage: Hatte sich die jüdische Bevölkerung im 19. Jahrhundert im Wesentlichen zur deutschen Kultur bekannt, scheint sie sich mit dem Schwinden von deren Assimilationskraft immer stärker der tschechischen Sprache – und damit zumeist auch der tschechischen Nation – zugewandt zu haben.12 Diesem Weg folgte die Familie von 10  Anders dagegen Josef Körner: Auch wenn er kein orthodoxer Jude war, verleugnete er den Glauben seiner Vorfahren nicht und war entsprechend bekannt – im 1935 erschienenen Sammelwerk Juden im deutschen Kulturbetrieb wurde Körner in der Rubrik „Philologie“ als „jüngerer Literaturhistoriker aus dem Bereich der Germanistik“ aufgeführt und als sein Hauptarbeitsgebiet die Romantik genannt. (Goldschmidt 1962: 347f.) – Deutlich auch Körners Bekenntnis gegenüber Käte Hamburger im Brief vom 14.01.1946: „Niemals habe ich aus meiner Abstammung ein Hehl gemacht, auch keinerlei Korrekturversuch unternommen, und wer in Universitätsverhältnisse Einblick hat, mußte schon aus dem Mißverhältnis zwischen meinem Werk und einer akademischen Zwergstellung auf die störende Herkunft schließen.“ (Körner 2001: 189) 11  Vgl. Luft (1996: 47). 12  Als exemplarisch dafür kann der Umstand gelten, daß zur Volkszählung von 1890 fast 75% der insgesamt über 17.800 jüdischen Einwohner Prags deutsch als ihre Umgangssprache angaben, während es 10 Jahre später nur noch 45% dieser Bevölkerungsgruppe waren (Cohen 1996: 57f.). Gleichwohl ist dieser Umstand umstritten. Für den Hinweis darauf danke ich Václav Petrbok.

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Otokar Fischer: Er legte die Matura am tschechischen Gymnasium Hálkova in Prag ab. Der Gutsverwalter Karl Körner blieb der deutschen Sprache und Kultur verbunden und sicherte seinen Kindern Erna, Max und Josef eine entsprechende Kindheit und Jugend in der Doppelmonarchie: Nachdem Josef Körner in einer auf dem Gute seines Geburtsortes eingerichteten deutschen Privat-Volksschule mit Öffentlichkeitsrecht den ersten Unterricht erhalten hatte, besuchte er ab dem Schuljahr 1898/99 das deutsche Staatsgymnasium zu Ungarisch Hradisch/Uherské Hradiště und bestand im Juli 1906 die Maturitätsprüfung mit Auszeichnung. Im Herbst 1906 immatrikulierte er sich an der Universität Wien, um germanische und romanische Philologie zu studieren (Körner o.J.). – Diesem Studiengang widmete sich auch Otokar Fischer: Er studierte Germanistik und Romanistik in Prag und Berlin. Diese Weichenstellungen sollten bedeutsam werden. Während Otokar Fischer in der Stadt an der Moldau vor allem durch Arnošt Kraus und August Sauer akademisch sozialisiert wurde, sowie in Berlin eindrucksvolle Repräsentanten der Scherer-Schule wie Richard Moritz Meyer erleben konnte, führte Josef Körners Weg nach Wien, deren Universität – besonders nach dem Umzug aus den engen Räumen der Innenstadt in das großzügige Gebäude am Ring 1884/85 – einen immensen Zustrom deutschsprachiger Studenten aus Böhmen und Mähren verzeichnete.13 Körner immatrikulierte sich zum Wintersemester 1906/07 und absolvierte rasch und zielstrebig das Studium der Germanistik und Romanistik; nach acht Semestern erfolgte die Promotion. Seine wichtigsten akademischen Lehrer wurden die Germanisten Jakob Minor und Robert F. Arnold sowie der Romanist Wilhelm Meyer-Lübke. Nicht allein der Umgang mit dem immens produktiven Jakob Minor, der durch seine Arnim-, Schlegel- und Novalis-Editionen die Grundlagen für eine erneuerte Beschäftigung mit der Romantik gelegt hatte, sondern auch die nähere Bekanntschaft mit dem als Bibliograph hervorgetretenen Robert F. Arnold und dessen Kreis machten diese Zeit zu einer glückvoller Erfahrungen. Noch im Oktober 1944 schrieb Körner an den Historiker Edmund Groag: An die Abende im Arnoldkreis freilich, wo ich Sie kennenlernte, und unsere damaligen Gespräche erinnere ich mich noch so lebhaft – ich könnte das Lokal beschreiben, und

13  Während nur etwa 5% der Tschechen und ca. 20% der Deutschen aus Böhmen in Wien ihr Studium aufnahmen, zog die Universität dagegen fast alle Deutschen und deutschsprachigen Juden aus Mähren und Schlesien und ungefähr ein Fünftel der Tschechen aus diesen Provinzen an (Pešek 1996: 101-113).

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Nase, Gaumen spüren noch Duft und Schmack des Eierpunsches in jenem Ring-Café –, als wärs gestern gewesen.14

Doch auch wenn die Orte der akademischen Ausbildung unterschiedlich waren, erfuhren Otokar Fischer und Josef Körner eine in weiten Teilen übereinstimmende Sozialisation in die Normen und Werte einer philologischen Praxis. Garant dafür waren die universitären Lehrer, die sie in Prag, Wien und Berlin erlebten. Otokar Fischer konnte bei August Sauer lernen, was es hieß, philologische Exaktheit und öffentliche Repräsentanz zu verbinden. Alfred Rosenbaum, der seit 1894 Mitarbeiter und später alleiniger Herausgeber von Karl Goedekes Grundriß der Geschichte der Deutschen Dichtung war, hat die bedeutsamen Leistungen dieses Hochschullehrers an der KarlFerdinands-Universität nachhaltig unterstrichen: „Sauer ist kein einsam für sich Arbeitender. Der temperament- und lebensvolle Mann braucht Resonanz, strebt nach Wirkung ins Weite. Er ist der geborene Hochschullehrer, richtungweisend, anfeuernd; der prädestinierte ideen- und anregungsreiche Leiter wissenschaftlicher Sammelwerke und Zeitschriften. So erzieht er sich Schüler, wirbt Mitarbeiter und Helfer bei Ausführung seiner Pläne, sammelt Freunde und Verehrer um sich.“ (Rosenbaum 1925). Die Leistungsbilanz des so gelobten Literaturwissenschaftlers ist in der Tat beeindruckend: Zu den von August Sauer in Lemberg, Graz und Prag ausgebildeten Philologen, die eine wissenschaftliche Laufbahn einschlugen, zählen fachhistorisch bedeutsame Akteure wie der Erforscher der Tiroler Literaturgeschichte Moritz Enzinger, der Frühneuzeit-Forscher und Volkskundler Adolf Hauffen, der Stifter-Forscher Franz Hüller, der EichendorffEditor und Lexikograph Wilhelm Kosch, der Literaturkritiker Otto Eduard Lessing, der Verfasser der vierbändigen Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften und spätere Wiener Ordinarius Josef Nadler, der Aufklärungsforscher und seit 1921 an der Hallenser Universität wirkende Ferdinand Josef Schneider, der Romantik-Forscher und Euphorion-Herausgeber Georg Stefansky und der Komparatist Josef Wihan. – Zu Sauers Schülern, die im Kultur- und Literatursystem tätig wurden, gehören der Bibliothekar und Schriftsteller Karl Wilhelm Gawalowski, der Heimaterzähler und Mundartdichter Rudolf Greinz, der Dramatiker Rudolf Christoph Jenny, der Bohemia-Redakteur Paul Kisch, der Gymnasiallehrer Friedrich Thieberger und nicht zuletzt der Dichter Rainer Maria Rilke, den Sauer seit Beginn seiner Prager Lehrtätigkeit gefördert hatte und der noch lange Zeit seine Bücher 14  Josef Körner an Edmund Groag. Brief vom 08.10.1944. Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Nachlass Josef Körner S 2913 , XVII.

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mit schmeichelnden Widmungen in die Moldaustadt senden sollte.15 Diesen bedeutsamen Einfluss hat der Hochschullehrer und Wissenschaftsmanager August Sauer aus Gründen ausüben können, die auch für die wissenschaftliche Sozialisation von Otokar Fischer wichtig werden sollten: (1) Sauer vermittelte nicht nur ein umfangreiches kultur- und literaturgeschichtliches Wissen, sondern vor allem Normen und Werte. Diese sollten die Textumgangsformen ebenso konditionieren und regulieren wie die Formate der kulturellen Bedeutungs- und Wissensproduktion. (2) Die von Sauer vermittelten Normen und Werte korrespondierten weniger einem engstirnigen Nationalismus oder gar Chauvinismus (wie es eine ältere ideologiekritische Fachgeschichtsschreibung behauptet hatte). Bei genauerer Beobachtung zeigt sich die besondere Wirksamkeit des Hochschullehrers und Erziehers August Sauer vielmehr in einer Kombination von philologischem Ethos und sinnstiftenden Orientierungsangeboten, deren Implikationen und Konsequenzen nur vor dem Hintergrund der Umbrüche im Kulturund Wissenschaftssystem nach 1900 verständlich werden. Diese Verknüpfung von philologischem Ethos und persönlichem Engagement versucht Hedda Sauer zu bestimmen, wenn sie im Vorwort des ersten Bandes seiner Gesammelten Studien über ihren Ehemann mit etwas schiefer Metaphorik feststellt: „Mensch und Beruf waren eins; sein Ethos rann als Blut in den Adern seiner Wissenschaft, von der Nietzsche sagte, daß sie eine Beschäftigung für Aristokraten, für Mandarinen des Geistes sei; was Elemente seiner Persönlichkeit waren, Treue, Ehrlichkeit, Liebe, Geduld, das sind Elemente der Philologie.“ (Sauer 1933: VII)16 Der in München wirkende Franz Muncker 15  Rilke studierte nur kurzzeitig bei Sauer: Im Juli 1895 immatrikulierte er sich an der Prager Universität zum Studium der Philosophie und der Kunst- und Literaturgeschichte; wechselte aber schon im Sommersemester 1896 zum Studium der Rechtswissenschaften und ging dann nach München, um dort Kunstgeschichte und Ästhetik zu studieren. Dennoch verkehrte er weiterhin im berühmten Salon der Sauers, der eine wichtige Rolle im literarisch-akademischen Leben Prags zur Jahrhundertwende spielte. Der Briefwechsel zwischen Sauer und Rilke dokumentiert die tiefe Verehrung des jungen Dichters für den erfahrenen Philologen, der seinerzeit schon zeitig von Rilkes Begabung überzeugt war. Als der Autor im Januar 1916 die Einberufung fürchtete, schrieb er eilige Briefe an Förderer und Gönner und ersuchte um Unterstützung bei seiner Befreiung vom Armee-Dienst; die Unterstützung von August Sauer aus Prag erfolgte umgehend. 16  Die im Frühjahr 1933 bei Metzler in Kommission veröffentlichten Gesammelten Studien wurden mit Unterstützung des Ministeriums für Schulwesen und Volkskultur in der ČSR gedruckt und sind dem „Minister Professor Dr. Franz Spina in herzlicher Dankbarkeit gewidmet“ – was wiederum auf mehrfach dimensionierte Verbindungen schließen lässt. Denn Franz Spina (1868–1938) hatte nicht nur das Studium der Germanistik und der Philosophie in Prag und Wien mit Promotion zum Dr. phil. abgeschlossen und als

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wird in seinem Beitrag zur Sauer-Festschrift von 1925 von einer „hingebenden Liebe“ sprechen und konstatieren, kein anderer der Fachgenossen habe wie Sauer seinen Gegenständen einen „solchen mühsam suchenden, geradezu unheimlichen, aber auch scharfsinnig findigen, Verborgenes aufhellenden Fleiß gewidmet“ (Muncker 1925: 166). (3) Die Verknüpfung von Wissen und Werten, die in der Rede vom „philologischen Ethos“ umrissen wird, hat historische Wurzeln, die sich in der universitären Sozialisation Sauers auffinden lassen. Und sie hat Konsequenzen, die auf drei Ebenen sichtbar und folgenreich werden: einerseits in der Gestaltung seiner Lehrtätigkeit an der Prager Universität und in seinen Wirkungen auf die universitäre und außeruniversitäre Öffentlichkeit; andererseits in der Ausbildung eines Schülerkreises, dessen Angehörige nicht nur in der akademischen Literaturwissenschaft, sondern auch im kulturellen und politischen Leben wirken werden. Die Verbindung von Wissen und Werten schlägt sich aber nicht zuletzt auch in Auseinandersetzungen mit anderen Literatur- und Wissenschaftsauffassungen nieder. Davon wird ebenfalls noch zu reden sein – denn eines der ‚Opfer‘ von August Sauer war Josef Körner, der in Wien bei Jakob Minor ganz ähnliche Prägungen erfahren hatte. Während Otokar Fischer in Prag und in Berlin mit August Sauer und Gustav Roethe bedeutsame Vertreter der Scherer-Schule kennenlernte, traf Körner in Wien auf den außergewöhnlich produktiven Literarhistoriker Jakob Minor, der in Wien sein Studium begonnen und 1878/79 bei Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer in Berlin gearbeitet hatte, bevor er in Mailand, Prag und endlich in der Heimatstadt Wien lehrte. Minor war neben zahlreichen germanistischen Studien und Rezensionen für die ersten kritischen Ausgaben von Romantikern verantwortlich; er veröffentlichte Friedrich Schlegels Jugendschriften (2 Bände, Wien 1882) und gab eine vierbändige Novalis-Ausgabe heraus (Jena 1907). Seine zahlreichen Briefe an den Freund und Kollegen August Sauer vermitteln nicht nur ein plastisches Bild von der akademischen Sozialisation im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, sondern gestatten auch Einblicke in das ungeheure Arbeitspensum dieser Gymnasiallehrer gearbeitet; er veröffentlichte seine Qualifikationsschrift Beiträge zu den Deutsch-slawischen Literaturbeziehungen. Die alt-tschechische Schelmenzunft ‚Frantova práva‘ von 1909 auch in Sauers Reihe Prager Deutsche Studien und war dem Ordinarius also schon frühzeitig verbunden. Nach Habilitation an der Deutschen Universität Prag für slawische Philologie lehrte er hier als a. o., später als ordentlicher Professor der tschechischen Sprache und Literatur; wurde 1920 als Abgeordneter des Bundes der Landwirte in das Prager Parlament gewählt und 1926 Minister für öffentliche Angelegenheiten. Dazu umfassend Höhne/Udolph (2012).

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Philologen, die aufgrund der gemeinsamen Prägung durch Wilhelm Scherer zu ähnlichen Einstellungen gelangt waren (Faerber 2004). Bei Jakob Minor reichte Körner schon 1910 seine Dissertation Nibelungenhypothesen der Romantiker ein, die 1911 als Buch unter dem Titel Nibelungenforschungen der deutschen Romantik im Leipziger Verlag Haessel erschien; 1968 hat die Wissenschaftliche Buchgesellschaft einen reprographischen Nachdruck veranstaltet. Den sich seit der Jahrhundertwende abzeichnenden Veränderungen in der Wissenschaftslandschaft entsprechend, wollte die Arbeit nach eigener Aussage „weniger ein Kapitel aus der Geschichte der germanischen Philologie als ein Beitrag zur Geschichte des romantischen Geistes sein” (Körner 1911: VII). Das Thema hatte Minor selbst bestimmt, dessen Verdienste um die Wiederentdeckung der Romantik das Vorwort ausdrücklich hervorhob.17 Zugleich galt der Dank des Autors dem in der Romantikforschung engagierten Oskar Walzel, der als Herausgeber der Buch-reihe Untersuchungen zur neueren Sprach- und Literaturgeschichte die Drucklegung der Promotionsschrift ermöglicht und dem Nachwuchswissenschaftler „die liebevollste Unterstützung“ gewährt hatte (Körner 1911: VIII). Die Lebenswege der beiden Philologen Otokar Fischer und Josef Körner schneiden sich wohl erstmals im bedeutsamen Vorkriegsjahr 1913. Der fünf Jahre ältere Otokar Fischer hatte sein Studium in Prag und Berlin mit der Promotion abgeschlossen und wirkt u. a. als Lektor des Deutschen an der tschechischen Philosophischen Fakultät der Karls FerdinandeischenUniversität, als ihn im August 1913 ein Schreiben des gerade in Wien promovierten Philologen Josef Körner erreicht. Körner dankt dem in Prag lehrenden Otokar Fischer (den er als „verehrter Herr Dozent“ anschreibt) für freundliche Zeilen, teilt aber mit, dass er mit dem erbetenen Buch von Oskar Walzel – die „methodische Abhandlung“ über analytische und synthetische Literaturforschung – leider nicht dienen könne. Sehr wahrscheinlich hat Fischers Interesse für innovative Bewegungen innerhalb der Disziplin – die von Oskar Walzel seismographisch registriert und produktiv entfaltet werden – zu diesem Kontakt geführt. Denn der zu diesem Zeitpunkt 25-jährige Körner ist ein enger Vertrauter des in Dresden lehrenden Professors und plant eine wissenschaftliche Karriere. Der Ausbruch des Weltkriegs aber wird 17  „Das Thema wurde mir von Jakob Minor gestellt, dem ich nicht nur den Hinweis darauf verdanke; aus seinen geistvollen Vorlesungen über die deutsche Romantik habe ich so viele Anregung und Belehrung gewonnen, daß es mir unmöglich wäre, das eigene Gut von dem so Empfangenen zu sondern.“ Vgl. auch Minor (1910): „Unter diesem nicht glücklich gewählten Titel behandelt der Kandidat auf Empfehlung des Referenten die Nibelungenfrage bis Lachmann.“

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ihn nach Wien führen, wo er im Auftrag des k.u.k. Kriegsministeriums die Zeitschrift Donauland redigiert (und in einem Aufsatz über Dichter und Dichtung im deutschen Prag die „adelige helle Sprache“ Kafkas (Körner 2001: 64) so emphatisch lobt, dass der Autor nach brieflichem Zeugnis eine „Orgie von Eitelkeit“18 erlebt). Die Kontakte zwischen Otokar Fischer und Josef Körner intensivieren sich nach dem Ende des Krieges. Aus den beiden Gelehrten werden Freunde, auch wenn ihre individuellen Wege auseinandergehen: Otokar Fischer macht Karriere an der tschechischen Karls-Universität; Josef Körners wissenschaftlicher Werdegang stockt. Nach der Demobilisierung kehrt Körner im Frühjahr 1919 nach Prag zurück und unterrichtet als Gymnasialprofessor deutsche und französische Sprache und Literatur an der III. Deutschen Staatsrealschule in Prag. Mit verstärktem Eifer – und unterstützt durch die Schulleitung, die ihm mehrfach Gelegenheit zu längeren Studienreisen gibt – widmet er sich wieder seinen literaturgeschichtlichen Forschungen und entfaltet eine beeindruckende Rezensententätigkeit. In den zwei Jahrzehnten zwischen 1919 und 1939 produziert er mit unermüdlichem Fleiß jene Text- und Briefausgaben, die noch heute eine Grundlage für die Beschäftigung mit der romantischen Literaturepoche bilden. Nach umfänglichen Ausgaben von Korrespondenzen der Schlegels gelingt im Sommer 1929 der aufsehenerregende ›Coppeter Fund‹. Die 1936/37 endlich realisierte Drucklegung der beeindruckenden Briefsammlung findet in ganz Europa begeisterte Aufnahme. Dennoch wird Josef Körner nicht Professor. Im Gegenteil: Sein Versuch, sich zu habilitieren und damit die formale Voraussetzung für eine Berufung zu erlangen, scheitert beim ersten Mal – und zwar auf eine Weise, die in der Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft wohl singulären Status beanspruchen kann. In diesem bedrückenden Kapitel seines Lebens spielt der Freund Otokar Fischer eine besondere Rolle. Josef Körner weiht Otokar Fischer in seine Pläne ein, als Privatdozent an die Universität nach Freiburg/Breisgau zu gehen und dort ein Extraordinariat zu übernehmen. Er informiert ihn – wohl als ersten seiner Freunde und Bekannten – über das schmähliche Gutachten, das der Prager Ordinarius August Sauer angefertigt und in der Zeitschrift Euphorion veröffentlicht hatte. Otokar Fischer ist derjenige Germanist aus 18  Kafka (1966: 210) schreibt an Körner in seinem Brief vom 17.12.1917: „Dann erschien Ihr Aufsatz im D[onauland], in der mich betreffenden Stelle über alle erdenkbaren Grenzen Lob häufend, was mir eine Orgie der Eitelkeit verursachte und außerdem ein ängstliches Gefühl, Sie so verführt zu haben.“

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Prag, der in zahlreichen Rezensionen und Besprechungen immer wieder auf Körners verdienstvolle Editionstätigkeit hinweist.

III. Bewährungsproben Mit den seit der Promotion erschienenen Publikationen hatte Josef Körner eine stattliche Reihe von Veröffentlichungen zusammengetragen, als Mitglied wissenschaftlicher Gesellschaften Prags zudem mehrfach seine Fähigkeit zu öffentlichem Vortrag und Disput unter Beweis gestellt. So war es nur verständlich, dass er im Frühjahr 1924 den Schritt wagte, der ihn seit der Rückkehr aus dem Krieg beschäftigt hatte: Er reichte an der Philosophischen Fakultät der Prager Deutschen Universität die Monographie Romantiker und Klassiker als Habilitationsschrift ein – sie erschien zur gleichen Zeit im Askanischen Verlag von Albert Kindle in Berlin – und bewarb sich um die Verleihung der venia docendi, also der Lehrbefugnis. Mit der monographischen Darstellung des Verhältnisses der Brüder Schlegel zu Goethe und Schiller glaubte er den Forderungen des Prager Ordinarius August Sauer genügen zu können – hatte dieser doch 1919, als Körner unmittelbar nach der Rückkehr aus dem Militärdienst wegen der Habilitation an ihn herangetreten war, unmissverständlich eine große Schrift gefordert und zugleich seine Haltung gegenüber Körner in einer Form signalisiert, die bittere Verwicklungen bereits erwarten ließ. Den Ratschlag des befreundeten Physikers Philipp Frank, es mit der Habilitation in Deutschland zu versuchen, befolgte Körner nicht und beschwor so einen Konflikt herauf, der die Zunftgenossen beschäftigen und im Gedächtnis der Disziplin als „in der Geschichte der Germanistik wohl einmaliger Fall“ (Petra Boden) noch lange fortwirken sollte.19 19  Eine erste fachhistorische Darstellung der Querelen um Körners Habilitationversuche gab René Wellek in seinem durch Robert L. Kahn veröffentlichten Brief (Wellek 1965: 21); August Sauer als der „dominating man“ an der Deutschen Universität hätte in Georg Stefansky bereits seinen Favoriten gefunden und gewusst, „that under the circumstances of the time he could not possibly have two Jewish Privatdozenten“ – deshalb habe er Körners Habilitationsschrift abgelehnt und im ›Euphorion‹ die verheerende Rezension, „this astonishing piece of piddling destructive criticism“ veröffentlicht. Auf diese Quelle stützt sich Rüdiger Wilkenings Artikel in der Neuen Deutschen Biographie, in dem behauptet wird, dass Sauer das Habilitationsgesuch Körners ablehnte, „[d]a er fürchten mußte, sich zwei jüdische Privatdozenten politisch nicht leisten zu können“ (Wilkening 1980: 386f.). Petra

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Denn August Sauer dachte gar nicht daran, gerecht über Körners Habilitationsgesuch zu entscheiden – vielmehr sah er nun die Möglichkeit gekommen, dem aus mehreren Gründen missliebigen Josef Körner die wissenschaftliche Karriere zu verbauen. Seinen Einfluss innerhalb der Fakultät und die publizistischen Möglichkeiten der von ihm 1890 begründeten Zeitschrift Euphorion nutzend, ging er dabei ebenso rasch wie radikal vor: Nachdem am 30. April 1924 in der Sitzung des Professorenkollegiums die aus August Sauer, Adolf Hauffen, Erich Gierach, Gerhard Gesemann und Josef Wihan bestehende Habilitationskommission gewählt wurde, legte Sauer schon zu Pfingsten 1924 ein umfassendes Gutachten zur Habilitationsschrift und den wissenschaftlichen Leistungen Körners vor. Diese Expertise bildete die Grundlage für Sauers im Euphorion veröffentlichte Rezension, die sich mit scharfen Worten sowohl gegen Körners Monographie als auch gegen die inzwischen erschienenen positiven Besprechungen wandte. „Dieses Buch ist in der Germanisch-Romanischen Monatsschrift XII, 312 eine ‚ausgezeichnete Schrift‘ genannt worden, merkwürdigerweise in einem Zusammenhange, worin dem Verfasser ein grober Schnitzer nachgewiesen wurde“, begann Sauer mit einem Seitenhieb auf den Jenaer Ordinarius Albert Leitzmann, der Körners irrtümliche Zuschreibung eines Schlegel-Textes korrigiert hatte, und setzte fort: „Amtlich gezwungen, mich mit dem Buche ausführlicher zu beschäftigen als seit langem mit einem anderen, fühle ich mich verpflichtet, das ganz entgegengesetzte Urteil, zu dem ich gelangt bin, auch der Öffentlichkeit vorzulegen.“ (Sauer 1925a: 142f.). Bis hin zur akribischen Verzeichnung von „verfehlten Bildern und anderen Geschmacklosigkeiten“, von „Nachlässigkeiten und Fehlern“ und der kleinlichen Aufrechnung der benutzten Fremdwörter machte Sauer im Frühjahr 1925 die Ausführungen seines Gutachtens publik, obwohl er im Herbst des Vorjahres den Antrag Körners auf Einsicht in die Akten des Habilitationsverfahrens noch hatte Boden macht in ihrer auf Quellen aus dem Deutschen Literaturarchiv Marbach zurückgreifenden Darstellung der Position Petersens in der Germanistik der 1920er-Jahre dagegen Sauers betont nationale Haltung für die Abweisung Körners verantwortlich (Boden 1994: 82-102). Der hier auf S. 91 abgedruckte Brief Sauers an Petersen vom 3. Februar 1925 mit der Bitte, beim Gutachten für Körners Habilitationsgesuch „den nationalen Gesichtspunkt in den Vordergrund“ zu stellen, da es sich bei Körner um ein „übelbeleumdetes anationales Individuum“ handele, vermittelt im Verbund mit der im selben Schriftstück geführten Klage über die „Herren, die den Zionisten und Sozialisten nahestehen“ den Eindruck, in diesem Konflikt spielten außerdem politische und antisemitische Attitüden eine Rolle – einen Eindruck, den Konstanze Fliedls Erläuterung zum „Fall Josef Körner“ in der Formulierung von der „kaum noch verhüllten antisemitischen Prager Institutspolitik“ zementiert (Fliedl 1997: 479).

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ablehnen lassen. Mit der rhetorischen Frage „Wirklich also: eine ‚ausgezeichnete Schrift‘?“ schließend (Sauer 1925a: 150), überließ er dem Leser eine Entscheidung, welche die unter seiner Leitung stehende Kommission bereits vollzogen hatte: „dass diese Arbeit unmöglich zur Grundlage einer Habilitation dienen könne.“ (Sauer et al. o. J.: 18) Die verwickelten Vorgänge um das Habilitationsgesuch von Josef Körner sind an dieser Stelle nicht noch einmal auszubreiten. Doch lässt sich mit historischer Distanz eine veränderte Perspektive auf Josef Körners gescheiterten Habilitationsversuch an der Prager Universität gewinnen. Schaut man mit begründeter Anteilnahme für das Geschick des unterlegenen RomantikForschers auf diese Geschehnisse, die in einem mehrfach abgelehnten Habilitationsversuch kulminieren, scheint die Rollenverteilung klar zu sein: Der institutionell schwache Josef Körner agiert als „Opfer“ und der etablierte Ordinarius August Sauer als „Täter“ in einem Drama, in dem es nicht nur um die Bewertung von Wissensansprüchen geht, sondern vor allem auch um die Durchsetzung von personal- und wissenschaftspolitischen Entscheidungen, die gerade Sauer nicht hinreichend offen visibilisierte. Knapp und zugespitzt formuliert lautet die daraus folgende These, dass August Sauer das Habilitationsgesuch des Gymnasiallehrers Josef Körner und dessen Habilitationsschrift Romantiker und Klassiker aus vorwiegend „politischen“ Gründen abgewiesen habe (auch wenn die Dinge weitaus komplizierter liegen als es etwa ideologiekritische Darstellungen mit Antisemitismus-Verdacht suggerierten). Konsultiert man dagegen Körners Buch über das Verhältnis von August Wilhelm und Friedrich Schlegel zu Schiller und Goethe und zieht Sauers internes Gutachten sowie seine harsche Euphorion-Rezension als Indikatoren evaluativer Prinzipien heran, dann zeigt sich, dass es hier ebenfalls und in weitaus stärkerem Maße als bislang angenommen um die Inkompatibilität von Wertmaßstäben geht, die philologische Textumgangsformen regulieren. Denn schon als Körner sich 1919 zum ersten Mal bei August Sauer erkundigt, ob dieser ihn mit einer Ausgabe romantischer Texte habilitieren würde, weist dieser ihn zurück. „Indessen habe ich mich, von ein paar Freunden an der hiesigen Universität gedrängt, leider zu einem bedauerlichen Schritt bewegen lassen, einem umso törichteren, als ich den Ausgang doch voraussehen mußte“, berichtet Körner am 4. April 1919 an Oskar Walzel nach Dresden: Ich bin nämlich Sauer mit der Frage angegangen, ob er mich habilitieren möchte. Seine Antwort war, nachdem er mich zunächst mit allerhand, z.T. der Wahrheit nicht entsprechenden, aus den politischen Verhältnissen bezogenen Scheingründen abzuspeisen vergebens versucht hatte, ungefähr die folgende: er anerkenne den Wert einzelner meiner Arbeiten, müßte aber, da ich mich in der letzten Zeit vollkommen zersplittert hätte, eine

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neue große Arbeit fordern. Auf meine Entgegnung, daß er mir mit dem Vorwurf der Zersplitterung höchst unverdientes Unrecht zufüge, da ich in den letzten vier Jahren das Soldatenkleid trug, aus meiner wissenschaftlichen Tätigkeit gewaltsam herausgerissen war, u. daß man es mir also nur als Verdienst anrechnen dürfe, wenn ich trotzdem während dieser Zeit der Wissenschaft treu u. – sei’s nur um ein geringes nützlich blieb – darauf erwiderte er mit jenem billigen, jeden Kriegsteilnehmer bis ins Knochenmark erbitternden Achselzucken: ‚Ja, das ist ein Unglück, das viele befallen hat.‘ Ich schied darauf von ihm, keineswegs in offener Feindschaft, aber doch nicht ohne ihm zu sagen, daß ich seine Worte als Abweisung betrachte. Er suchte sie freilich auch zu deuteln u. verwies mich – mit mündlichem Ratschlag! – nach Österreich. Daß mich mein Amt nach Prag fesselt, wußte er sehr wohl. Nun ist es natürlich sein, des Ordinarius, gutes Recht, Petenten meiner Art abzulehnen, wenn er dieselben als Gelehrter geringschätzt. Daß er das, ehbevor ich zum erstenmal die Feder gegen Nadler richtete, nicht tat, weiß ich genau. (Körner 2001: 424)

Eine angemessene Rekonstruktion dieser wissenschaftshistorischen Episode fällt eben auch deshalb schwer, weil sich hier unterschiedliche Intentionen und Maßstäbe überlagern. Den Hintergrund von Sauers Forderung nach einer „neuen großen Arbeit“ bildet ein Leistungsethos, das nicht kodifiziert und auch nicht justiziabel ist, doch starke Bindungskräfte und Exklusionspotentiale enthält. Mit ihm können einerseits professionelle Qualitäten gesichert und erhöht werden; andererseits lassen sich damit auch Ausschlussmechanismen begründen bzw. rechtfertigen. Als Körner diese Forderung erfüllt und seine Untersuchung des Verhältnisses der Schlegel-Brüder zu Goethe und Schiller im Frühjahr 1924 als Habilitationsschrift einreicht, reagiert Sauer mit einer Doppelstrategie, in der sich offene Zurückweisung und invisible Kabinettspolitik vermengen: Zum einen verfasst er ein amtliches Gutachten (das dem Kandidaten nicht ausgehändigt wird); zum anderen publiziert er eine Rezension von Körners Buch in seiner Zeitschrift Euphorion, die auf seiner internen (und dem Kandidaten Körner verweigerten) Expertise beruht. Und auch hier greifen Werte in die Evaluierung von Wissen ein. So heißt es über Körners Vorgehen, aus umfassender Detailkenntnis des historischen Geschehens heraus das literarische Leben als komplexes Konstellationsgefüge personaler Akteure zu rekonstruieren: Alles Geistige verschwindet überhaupt hinter dem aufgebauschten Menschlichen, Allzumenschlichen – Überzeugungen gibt es nicht. Jedes fachliche Urteil wird als Ergebnis von persönlicher Stimmung und Laune, gekränktem Ehrgeiz, verletzter Eitelkeit u.s.w. aufgefasst. Der Augenblick regiert, die Ewigkeit ist verschwunden. Es gibt nur gegenseitigen Neid und Hass, Charakterlosigkeit und Tücke, Treulosigkeit und Hinterlist [...] Gesin-

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nungslosigkeit ist die Gesinnung unserer Schriftsteller, Charakterlosigkeit der Charakter unserer Literatur. (Sauer et al. o. J.: 4)20

Die mit Körners intimer Materialkenntnis einhergehende Profanisierung des literarischen Schaffens trifft Sauer besonders, denn weitere Einwände richteten sich gegen die Markierung gegenseitiger Konkurrenzverhältnisse: Die vier misshandelten Opfer erscheinen als vier Wildkatzen, die man in einen Käfig gesperrt hat und die sich gegenseitig kratzen und beissen oder als klägliche Pantoffelhelden, die ihre literarischen Neigungen und Abneigungen nach dem Ton der Gardinenpredigten stimmen, die ihnen von ihren Frauen gehalten werden [...]. Aus allen Ecken und Enden wird Schmutz und Klatsch zusammengefegt; auch vom Niedrigsten und Unbedeutendsten wird der Leser nicht verschont. (Sauer et al. o. J.: 4, verstärkt in Sauer 1925a: 145f.)

Die Ablehnung der Habilitationsschrift wurzelt also nicht nur in konzeptuellen und methodischen Divergenzen, sondern auch und vor allem in unterschiedlichen Wertmaßstäben, mit denen Körner und Sauer den historischen Protagonisten gerecht zu werden suchten. Der seit seiner frühzeitigen Beschäftigung mit der Romantik einer literaturgeschichtlichen Rehabilitierung der Brüder Schlegel verpflichtete Josef Körner bewertet die Romantiker entschieden positiver als die Weimarer Dioskuren; Sauers Appellation, in der schwierigen „Beurteilung der rein menschlichen Verhältnisse [...] nur an die Wahrheitsliebe der Menschen zu glauben“ (Sauer et al. o. J.: 8) und Goethes Äußerungen über sein rein „literarisches“ Verhältnis zu den Schlegels als sicheres Indiz für eine unveränderte Haltung aufzufassen, musste mit den Nachweisen einer ambivalenten und uneindeutigen Haltung kollidieren. In dieser Situation findet Josef Körner in Otokar Fischer einen wirklichen Freund. Ihn informiert er – wahrscheinlich als ersten – über die Argumente von August Sauer, der seine Habilitationsschrift aus den oben skizzierten Gründen zurückgewiesen hatte. Die Bitte an Fischer vom 24. März 1925, ihn anzurufen, verrät Aufregung und Eile: „Lieber Herr Prof., die Sauersche Rezension (ein perfides, unsachliches Geschimpfe) ist in meinem Besitz; rufen Sie mich bitte morgen zwischen 9 u[nd] 10 h an.“ Fischer setzt sich aber nicht nur mit zahlreichen lobenden Rezensionen für Körner ein. Als aufmerksamer und genauer Beobachter der unterschiedlichen Textumgangsformen seit der „geistesgeschichtlichen Wende“ gehört er zu den ersten Vertretern der Disziplin, welche die Leistungen des Philo20  Das Gutachten ist abgedruckt in Körner (2001: 429). Nahezu identisch kehren diese Sätze wieder in Sauer (1925: 145). Das Urteil wird durch Steigerung noch verschärft, denn nun heißt es: „Gesinnungslosigkeit ist die Gesinnung unserer größten Schriftsteller, Charakterlosigkeit der Charakter unserer Literatur der zweiten Blütezeit.“

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logen Josef Körner in einen historischen Kontext stellen – und damit auch die Konditionen und Konsequenzen nennen, die mit diesen Optionen verbunden sind.

IV. Teilnehmende Beobachtungen. Otokar Fischer und Josef Körner über wissenschaftliche Umgangsformen mit Literatur Im Januar 1937 erscheint der bereits erwähnte Zeitungsartikel von Otokar Fischer, Gelehrtentypen, in der Zeitung Prager Presse. Fischer bespricht hier den ersten Band von Josef Körners Quellensammlung Krisenjahre der Frühromantik und liefert zugleich eine Analyse der wissenschaftlichen Antipoden an der Prager Deutschen Universität. Denn er erfasst die hier lehrenden Wissenschaftler Josef Körner und Herbert Cysarz typologisch und stellt sie als Verkörperungen unterschiedlicher Konzepte des Umgangs mit Texten einander gegenüber. In dieser Perspektive erscheint Körner als Prototyp des auf den Text zentrierten „Philologen“: Bei dem einen der genannten Forscher ist Text, Textgestaltung, Texterklärung das Grundlegende; er ist und bleibt Philologe, er geht vom Dokumentarischen aus, sammelt Belege, bereichert das Wissen, häuft Berge von Materialien an, ist äußerst vorsichtig in allem, was über das tatsächlich Gegebene hinausreicht: daher seine Scheu vor übereilter Synthese, daher seine Ueberbetonung des Biographischen, daher sein Augenmerk für Zufälliges und Einmaldagewesenes. (Fischer 1937: 10)

Die hier aufgeführten Attribute eines philologischen Aufmerksamkeitsverhaltens verdienen nähere Beachtung. Denn sie zeigen einmal mehr, wie komplex und voraussetzungsreich jene Umgangsformen mit der literarischen Überlieferung beschaffen sind, die als „Andacht zum Unbedeutenden“ zunächst pejorativ verzeichnet und abgelehnt wurden, bevor sie später zum Ideal avancierten.21 Zunächst benennt Otokar Fischer den mehrfach dimensionierten Gegenstand eines philologischen Aufmerksamkeitsverhaltens. Auffällig ist dabei zum einen, dass die Aufmerksamkeit des Philologen einer Trias gilt: „Text, Textgestaltung, Texterklärung“ bilden die grundlegenden Bezugsgegenstände – also der Text in seiner konkreten materialen Erscheinungsform und ästhetischen Organisation („Textgestaltung“) im Verbund mit 21  Zur „Andacht zum Unbedeutenden“ vgl. Kany (1987) und Kolk (1989, 1990).

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seinen ideellen Gehalten und entsprechenden interpretativen Umgangsweisen („Texterklärung“). Diesem komplexen Gegenstandsbereich entspricht ein Verfahren, das ebenfalls voraussetzungsreicher operiert, als es die Rede vom „dokumentarischen“ und Belege sammelnden Vorgehen erscheinen lässt. Pars construens dieser philologischen Textumgangsformen ist eine zielgerichtete und dabei tendenziell selektionslose Aufmerksamkeit, die empirisches Material („Belege“) sammelt und dabei jene Vollständigkeit anstrebt, deren Implikationen von reflektierenden Philologen wie Richard Moritz Meyer bereits um 1900 diskutiert und problematisiert wurden (Meyer 1907: 1–17). Pars destruens ist der (bewusste) Verzicht auf integrative Synthesen und die Formulierung ‚allgemeiner’ bzw. nomologischer Aussagen. Die Pointe dieser komplementären Praktiken im Umgang mit Texten ist jene Exponierung der Singularität, die der genaue Beobachter Otokar Fischer als „Augenmerk für Zufälliges und Einmaldagewesenes“ umschreibt. Denn mit der Erhebung der kontingenten und unwiederholbaren Werk-Gestalt zum Dreh- und Angelpunkt philologischer Bemühungen verbindet sich ein Beobachtungsprogramm, das eben nicht auf die Herausarbeitung eines textüberschreitenden Regel- oder gar Gesetzeswissens zielt, sondern die je eigenen Qualitäten von Schriftzeugnissen und deren Verbindungen zu erfassen sucht. Dass es hier nicht um die Alternative von „Wort-Philologie“ und/oder „Sachphilologie“ geht, die Jakob Grimm zur Bezeichnung der eigenen Position (im Unterschied zu Karl Lachmann) verwendet hatte, liegt wohl auf der Hand – denn die Herkunft dieses philologischen Aufmerksamkeitsverhaltens ist wesentlich älter: Es wurzelt in der Tätigkeit der akkumulierenden Sammlung und kritischen Behandlung von Texten, die sich bis zur Arbeit der „wortliebenden Männer“ an den Bibliotheken von Alexandria, Athen und Pergamon zurückverfolgen lässt. Die sozialen Voraussetzungen wie die epistemologischen Basisannahmen dieser Praxis sind bekannt und müssen an dieser Stelle nicht näher erläutert werden: Gebunden an die Investition von Zeit für rekursive Operationen und investigative Recherchen (denn diese Forschungstätigkeit bedarf und verbraucht viel Zeit) entsteht die philologische Praxis in den Zusammenhängen einer hellenistischen Wissenskultur, in deren Rahmen soziale Ressourcen für die Akkumulation und Archivierung der kulturellen Überlieferung bereitgestellt und in neuartigen Verbundsystemen genutzt werden (vgl. Pfeiffer 1970); zu ihren epistemologischen Grundlagen gehören die unter anderem von Aristoteles entwickelten bzw. kategorial präzisierten Begriffe, die es erlauben, distanzierte Beobachtungen an schriftlich fixierten Zeugnissen einer von (wissenschaftlichen bzw. historischen) Wissensansprüchen entlasteten Poesie anzustellen und festzu-

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halten.22 Zu den epistemologischen Basisannahmen einer solchen philologischen Praxis gehört zugleich die ebenfalls bereits im Hellenismus entwickelte Überzeugung von der Priorität des Details, die vom Verfasser der βίοι παράλληλοι [bíoi parálleloi, dt.: Parallelbiographien] deutlich ausgesprochen wird.23 Der von Otokar Fischer beobachtete und als „Philologe“ rubrizierte Josef Körner stellt aber nicht nur einen Erben historisch langfristig entwickelter Textumgangsformen dar. Er ist zugleich auch Nutznießer weiterreichender Entwicklungen philologischer Paradigmata, deren Beobachtungsverfahren seit der Frühen Neuzeit unterschiedlichen Aspekten der schriftsprachlichen Überlieferung galten und die im Anschluss an bereits in der Antike unternommene Bemühungen in eine universell konzipierte Philologie mündeten. Zugleich profitiert er von einer modernisierten Philologie, die seit ihrer disziplinären Institutionalisierung im ausgehenden 18. Jahrhundert und in der modernen Forschungsuniversität des 19. Jahrhunderts eine neue Qualität gewinnen sollte: Nun bilden nicht mehr nur antike und sakrale Texte den Gegenstand editorischer Sicherung und Untersuchung, sondern nationalsprachliche Überlieferungen; zugleich etabliert sich – nach den singulären Einsätzen genialer Gelehrter wie Bentley oder Wolf – eine philologische Wissenskultur, in der Texte im Rahmen autonomer Strukturen regelgeleitet 22  Die Bedingungen der folgenschweren Trennungsgeschichte, die sich in der griechischen Kultur zwischen dem achten und dem dritten vorchristlichen Jahrhundert vollzieht und sowohl den Status als auch die Behandlung jenes heute als „Literatur“ bezeichneten Gegenstandsbereichs radikal verändert, sind komplex und können hier nur in Ansätzen nachgezeichnet werden. Aus medienhistorischer Perspektive haben dazu vor allem auch die Vertreter der sogenannten Toronto-Schule gearbeitet, etwa Goody (1981, 1990), Ong (1987) sowie Havelock (1963, 1982, 1992); instruktiv auch Rösler (1980) und umfassend Schlaffer (2005). Übereinstimmendes Ergebnis dieser Untersuchungen ist die Rekonstruktion einer folgenreichen Separationsgeschichte: Eine ursprünglich mündlich tradierte ‚Kunde’, die als sprachliche ‚Form‘ des kollektiven Gedächtnisses fungierte, wird im neuen Medium der Schrift aufgezeichnet und unter dem Druck von empirischen Beobachtungen und historiographischen Recherchen von Gewissheitsansprüchen entbunden; sie muss als Dichtung moralisch und epistemisch begründete Vorwürfe der „Täuschung“ und „Lüge“ in Kauf nehmen, bevor Aristoteles die folgenreiche Separation der Bereiche „Wissen“ und „Poesie“ legitimiert und damit autonome Sektoren sichert, von deren nun eigenständiger Bearbeitung die professionalisierte Liebe zum Wort noch heute profitiert. 23  Plutarch (2004: 3): „Denn ich bin nicht Geschichtsschreiber, sondern Biograph, und es sind durchaus nicht immer die großen Heldentaten, in denen sich die Tüchtigkeit oder die Verworfenheit offenbart. Oft sagt ein unbedeutender Vorfall, ein Ausspruch oder ein Scherz mehr über den Charakter eines Menschen aus als die blutigsten Schlachten, die größten Heeresaufgebote und die Belagerungen von Städten.“

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erforscht werden.24 Als Bestandteil der sich im 19. Jahrhundert durchsetzenden modernen Wissenskulturen erfüllt ein solcher universitär professionalisierter Umgang mit Literatur die (von anderen kulturellen Bereichen nicht ersetzbare) Funktion der Produktion, Distribution und Diskussion eines Wissens, das sich durch Investition von Zeit und Aufmerksamkeit zur wiederholten Bearbeitung spezialisierter Problemstellungen von anderen Wissensformen unterscheidet. Durch fortwährend hergestellten Selbstbezug – etwa in Form von programmatischen Äußerungen und Polemik – institutionell und disziplinär stabilisiert, macht diese Beobachtung von Literatur etwas sichtbar und kommunikativ verhandelbar, was andere Beobachtungsverfahren übersehen: Zielt etwa das Aufmerksamkeitsverhalten der zumeist rasch reagierenden Literaturkritik in der Regel auf qualitative Urteile und Lektüreempfehlungen, entwickelt die Literaturwissenschaft eine tendenziell selektionslose Sensitivität, die noch kleinste Details eines Textes und abgelegene Kontextelemente wahrnimmt und wertungsresistent auswertet. Eine auf lang anhaltenden Kontakt mit dem Beobachtungsgegenstand angelegte Perspektive vermag Eigenschaften zu entdecken, die anderen Textumgangsformen verschlossen bleiben; sie kann historische (Vor-)Urteile überwinden und Grenzen des Horizonts erweitern. Aufgrund dieser Funktionsbestimmungen sind wissenschaftliche Bearbeitungsweisen von Literatur aber stets abhängig von Ressourcenzuteilungen und öffentlicher Akzeptanz. Zugleich erbringen sie für ihre gesellschaftliche Umwelt – wie auch für die als Umwelt erscheinenden anderen wissenschaftlichen Disziplinen – spezifische Leistungen, die von Bildungs- und Ausbildungsaufgaben über Stiftung von Sinn- und Orientierungskompetenzen bis zur Stabilisierung des Literatursystems reichen. Damit wird deutlich, welche groß angelegte wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungslinie Otokar Fischer in seinem knappen Zeitungsartikel Gelehrtentypen entwirft. Der danach aufgerufene Herbert Cysarz verkörpert als Prototyp des anderen Gelehrten demgegenüber das Kontrastprogramm: In direktem Gegensatz hiezu die anspruchsvollere Methode und die stürmische Persönlichkeit des zweiten, jüngeren und berühmteren Fachgenossen, der, vom Singulären sich abkehrend, geistesgeschichtliche Zusammenhänge nachweist und die Wissenschaft nicht 24  Die Verfahren einer modernen philologischen Wissenskultur unterscheiden sich von anderen Textumgangsformen, indem ihre argumentativ begründeten Äußerungen (a) durch regelgeleitete Verfahren systematisch strukturierte Lösungsangebote für rekursiv bearbeitete Problemstellungen anbieten, (b) den Geltungsanspruch erheben, „wahr“ bzw. intersubjektiv nachvollziehbar zu sein und (c) an eine durch Interessen und Zugangsvoraussetzungen homogenisierte gelehrte bzw. wissenschaftliche Gemeinschaft – die später sog. scientific community – adressiert sind.

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nur als Erforschung des Vergangenen auffaßt; vielmehr als Waffe im aktuellen Ringen um ein neu sich formendes Weltbild handhabt. (Fischer 1937: 10)

Auch hier sind wesentliche Konditionen eines neuen, sich erst seit der Jahrhundertwende formierenden Aufmerksamkeitsverhaltens klar bezeichnet. Der von Otokar Fischer als „stürmische Persönlichkeit“ apostrophierte Herbert Cysarz vertritt in diesem Tableau die „Geistesgeschichte“ – und damit jenes großangelegte Integrationsprogramm der historischen Wissenschaften, das sich durch Konstruktion von Synthesen und zum Teil hochgradig spekulative Konstruktionen hervortat. Die Entstehung und Ausbreitung dieser geistesgeschichtlichen Literaturforschung sind inzwischen gut erforscht, sodass an dieser Stelle nicht weiter darauf einzugehen ist. Doch die radikale Rhetorik des Herbert Cysarz – dessen Umgang mit literarischen Texten nicht grundlos mit martialischer Metaphorik als „Waffe im aktuellen Ringen“ umschrieben wurde – verdient einige Aufmerksamkeit; nicht zuletzt weil Josef Körner eine eindrucksvolle und von Otokar Fischer sicherlich zur Kenntnis genommene Philippika gegen dessen „Barocke Barockforschung“ geritten hatte. Körner eröffnete seine in der renommierten Historischen Zeitschrift veröffentlichte Besprechung von Herbert Cysarz’ Monographie Deutsche Barockdichtung mit einem fachhistorischen Rückblick: Das Jahr 1911 ist denkwürdig in der Geschichte neuerer Literaturwissenschaft; es brachte uns Gundolfs Buch ‚Shakespeare und der deutsche Geist’, den ersten gelungenen Versuch, an Stelle der toten Chronik literarischer Fakta eine wahre Geschichte lebendiger Wirkungen und Gegenwirkungen zu setzen, die Vorarbeit der bloßen Stoffsammlung durch geistige Durchdringung, sinnbildliche Deutung, kurz: durch Gestaltung zu höherem – auch schwererem – Werke zu nutzen und zu adeln. Das Vorwort, in dem Gundolf solche bislang unerhörte Absicht und Methode anmeldete, unterließ freilich nicht die sehr nötige Warnung, daß eine Methode, bei der es sich darum handelt, darzustellen, nicht bloß zu sammeln, nicht erlernbar und nicht übertragbar sei. Aber wer hörte die Warnung? Das jüngste Geschlecht der Literaturforscher, mit allem Recht begeistert von dem neuen Führer, war sofort entschlossen, künftig nur diesen Meister anzuerkennen und das eigne Werk nach dem seinen zu modeln; um so mehr als ihm auf dem einmal bebauten Felde auch fernerhin die reichsten und herrlichsten Früchte gediehen. Die Gundolf-Epigonen traten an. (Körner 1926: 455)

Zu diesen „Gundolf-Epigonen“ rechnete Körner auch den damals noch als Privatdozenten in Wien wirkenden Herbert Cysarz, der ein Jahrzehnt später Ordinarius an der Prager deutschen Universität und also sein Vorgesetzter werden sollte. Davon ahnte der Prager Romantik-Forscher aber noch nichts, als er mit den Barock-Untersuchungen von Cysarz ins Gericht ging. Denn mit seiner Meinung über das schlechte Werk des hochtönenden Newcomers hielt er sich nicht zurück. Auch wenn Cysarz „Denkkraft, Sprachgewalt,

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Gelehrsamkeit und profunde Bildung“ nicht abzusprechen seien, habe man „nach beendeter Lektüre das Gefühl, als hätten wieder einmal kreisende Berge ein armseliges Mäuslein geboren“: Es wird ein ungeheures Thema gesetzt, aber es wird im geringsten nicht gelöst, es wird bestenfalls umschrieben. Etwas wie eine Entwicklungsgeschichte des deutschen Idealismus schwebte dem Verfasser vor; was er zustande gebracht hat, sind doch nur einzelne, mehr oder minder gelungene, mehr oder minder originelle Skizzen zu einer kritischen Geschichte der deutschen Ästhetik im Zeitalter des Idealismus. Was aber Geduld und Nerven des Lesers auf die härteste Probe stellt, ist des Buches eigenwillige, übertrieben barocke Sprache, die eher danach angetan ist, den Gedanken zu verbergen oder doch zu verdunkeln, als ihn zu offenbaren. (Körner 1926: 455f.)

Nicht reflektiert wurden dagegen die Ursachen der „geistesgeschichtlichen Wende“, die allein vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden Wandels im Kunst- und Wissenschaftssystem nach 1900 verständlich werden. Die neuen Textbehandlungsformen partizipierten einerseits an einer Kulturkritik, die im Protest gegen platten Fortschrittsglauben und Rationalismus ihren Ausgang nahm und in ästhetizistische Hermetik und mystifizierende „Lebens“Ideologien münden sollte. Sie beteiligten sich andererseits an der unter dem Signum einer „verstehenden“ Geisteswissenschaft vollzogenen Lösung von einem Methodenideal, das mikrologische Detailforschung und kausalgenetische Erklärung favorisiert hatte und nun als „positivistisch“ disqualifiziert wurde. Zu einer „Revolution in der Wissenschaft“ exponiert, sollte der Bruch mit „Historismus“, „Relativismus“ und fachwissenschaftlichem „Spezialistentum“ sowie mit „Intellektualismus“ und „Mechanismus“ zum Wiedergewinn einer verlorenen „Ganzheit“ führen (Troeltsch 1921: 65-94). – Profitieren konnte die neue geistesgeschichtliche Literaturforschung von der wachsenden Selbstreflexivität des Kunst- und Literatursystems: Die mit der Neuromantik einsetzende Umkehr „zu Symbol und Metaphysik, zu Intuition und Kosmologie, zu Geheimnis und Mythos, zu Geist und Überpersonalität“ (Mahrholz 1930: 92), die wie die zeitgenössische Bildungskritik an unterschiedlichen Projekten einer „geistigen Revolution“ laborierte (Kahler 1920: 5 und 8),25 beförderte nicht nur eine Renaissance lebensphilosophischer Konzepte, die bis zur politischen Zäsur des Jahres 1933 (und darüber hinaus) anhielt und einer problem- wie ideengeschichtlich interessierten Literaturforschung leitende Begriffe zur Verfügung stellte. In den Berührungen zeitgenössischer Poeten mit der universitären Literaturwissenschaft entstanden zugleich fruchtbare Austauschbeziehungen, die von privat25  Ähnlich Curtius (1932: 51-78, hier: 51f.), der den Beginn der „geistigen Revolution“ auf die Zeit um 1910 datiert.

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freundschaftlichen Verbindungen (wie etwa zwischen dem philologisch promovierten Hugo von Hofmannsthal und Konrad Burdach, Walter Brecht oder Josef Nadler) bis zur Konstitution eines Künstler und Wissenschaftler integrierenden Kreises um Stefan George reichten (Kolk 1998, 2001). Die heterogenen und sich rasch entfaltenden Konzepte der sog. Geistesgeschichte repräsentierten und katalysierten eine fortschreitende Binnendifferenzierung innerhalb der universitären Literaturwissenschaft, die in der Lösung von philologischer wie literaturhistoriographischer Beschränkung seit den 1890er-Jahren ihren Ausgang genommen hatte. Mit ihr begann eine folgenschwere Dissoziation des Methoden- und Wertekanons des Faches, die seit 1913 fachintern und öffentlich diskutiert wurde.26 Die Auseinandersetzungen um die Neubesetzung des Lehrstuhls von Erich Schmidt am Berliner Germanischen Seminar – die sich jahrelang hinzogen und erst durch die Berufung von Julius Petersen im Jahre 1920 entschieden werden sollten – und die 1926/27 zu klärende Nachfolge für Franz Muncker in München zeigten, welche Komplikationen die zunehmende Vervielfältigung von Wissensansprüchen hervorriefen. Als der Wiener Landesschulinspektor Oskar Benda 1928 seine „Einführung“ Der gegenwärtige Stand der Literaturwissenschaft veröffentlichte, musste er als Ergebnis der „um 1910 offenkundig gewordenen Götterdämmerung des literaturwissenschaftlichen Positivismus“ insgesamt zwölf konkurrierende Methoden konstatieren (Benda 1928: 7). Die konzeptuelle und methodische Differenzierung der Literaturwissenschaft war nicht mehr zu übersehen. Otokar Fischers 1937 veröffentlichter Zeitungsartikel brachte sie in Form einer Gegenüberstellung der diametralen „Gelehrtentypen“ Körner versus Cysarz auf den Punkt. Wie aber wurde diese punktgenaue Bezeichnung der wissenschaftlichen Positionen durch den Prager Literaturwissenschaftler Fischer möglich? Immerhin bildeten die Repräsentanten einer geistesgeschichtlichen Literaturforschung keineswegs eine homogene Bewegung. Im Gegenteil: Innerhalb 26  Nachdem Erich Schmidt, prominenter Nachfolger Wilhelm Scherers auf dem Berliner Lehrstuhl, und kurz zuvor der Wiener Ordinarius Jakob Minor verstorben waren und der breite Erfolg von Goethe-Biographien der „fachfremden“ Gelehrten Georg Simmel und Houston Stewart Chamberlain die Grenzen der disziplinären Literaturforschung demonstriert hatte, setzten Schuldzuweisungen an die vormals gerühmten Repräsentanten und ihren vermeintlichen „Positivismus“ ein. Symptomatische Nekrologe kamen von Nadler (1913/14) und Schultz (1913). In der Kulturzeitschrift Der Kunstwart konstatierte man eine „Krisis in der Literaturwissenschaft“ und den „Bankrott der Literaturgeschichte“; in der Schaubühne berichtete Julius Bab über den „Germanistenkrach“; so Nidden (1912/13a, 1912/13b); Bab (1913); ähnlich Alafberg (1913, 1914).

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des Integrationsprogramms „Geistesgeschichte“ existierte vielmehr ein breites Spektrum unterschiedlicher literaturwissenschaftlicher Positionen. Konzeptuelle Übereinstimmung bestand jedoch in der von Wilhelm Dilthey übernommenen Überzeugung, einen in literarischen Werken inhärenten, transpersonal und zumeist epochenspezifisch bestimmten „Geist“ in kulturhistorischen Zusammenhängen aufzufinden und darzustellen – ob im Ausgang von Grundformen der Welterfahrung („Erlebnissen“ bzw. „elementaren Problemen des Menschenlebens“), von „Ideen“ bzw. Bewusstseinseinstellungen („Typen der Weltanschauung“) oder altersgemeinschaftlichen „Generationserfahrungen“. Den Abstand zu mikrologischer Quellenerschließung und philologischer Textkritik markierten vor allem die neuen Arbeitsfelder: Im Zentrum der Bemühungen standen nicht länger die Edition, die als „Prüfstein des Philologen“ (Roethe 1913: 623) gegolten hatte, und die Biographie, deren Lückenlosigkeit durch Detailforschung und Induktion zu sichern war, sondern die „synthetische“ Rekonstruktion grundlegender Beziehungen und Strukturen des literatur- und kulturgeschichtlichen Prozesses – ohne dazu direkte Einflussbeziehungen zwischen Einzelzeugnissen nachweisen zu müssen. Ermittlung und Deutung eines in der literarischen Überlieferung objektivierten „Geistes“ eröffneten unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten, die methodisch gleichwohl dem Prinzip der „typologischen Generalisierung“ verpflichtet blieben. Diese Dispositive im Umgang mit der kulturellen Überlieferung begründeten je eigene Arbeitsformen, die zugleich Darstellungsverfahren korrespondieren. Und auch diese differierenden Arbeits- und Darstellungsformen wurden von Otokar Fischer prägnant erfasst: Gegenständlich, ja im Stofflichen verhaftet der eine, geistreich, ja überscharf pointierend der andere; geduldig, fast schwerfällig der erste, dem das Wunschbild eines Forschers mit einem wurzelgrabenden Einsiedler oder aber mit einem tragsamen Riesenatlas zusammenfällt – proteusartig der andere, auf Nietzsches Wort ‚Nur wer sich wandelt...’ eingeschworen, barock in seiner bestechenden Barockforschung, Expressionist unter den Expressionisten, helltönend dort, wo es helle Töne anzustimmen gilt... Diametral entgegengesetzt auch die Schreib- und Sprechweisen der beiden Germanisten: eigenbrötelnd und archaisierend drückt sich derjenige aus, der es schon bei Lebzeiten des Altmeisters August Sauer so vorzüglich verstand, sich unbeliebt zu machen und gegen verheißungsvoll aufstrebende Richtungen sich in unpopuläre Opposition zu verbeißen – schwer verständlich der andere im Ekstatisch-Methodologischen, im Rhetorischen jedoch suggestiv, ja berückend und mit der Ueberredungskunst eines Rattenfängers von Hameln begabt. (Fischer 1937: 10)

Die hier versammelten Argumentationen ad personam bedürften einer eingehenderen rhetorischen Analyse, die an dieser Stelle jedoch nicht zu leisten ist. Denn mit ihnen berührt Otokar Fischer das brisante Thema des wissen-

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schaftlichen Ethos, dessen Beziehungen zu (nicht selten pathetischen) Akten der Selbstwahrnehmung und Selbststilisierung von Wissenschaftsakteuren noch weitergehend zu klären sind. Vorerst sei nur der Hinweis erlaubt, dass Ethos und Pathos im Prozess der Erzeugung und Weitergabe wissenschaftlichen Wissens zentrale, wenn auch häufig nicht sichtbare bzw. sogar invisibilisierte Funktionen übernehmen: Überzeugungen und Werte begründen oder legitimieren das Handeln von Wissenschaftsakteuren, indem sie den – unter Umständen mit hohen Risiken verbundenen – Investitionen von Zeit und Aufmerksamkeit eine vorrationale bzw. nicht vollständig rationalisierbare Grundlage geben. Pathetische Redeweisen und Pathetisierungsstrategien können Theoriegebäude und Forschungsprogramme stärken oder schwächen, indem sie Untersuchungsgegenstände und methodische Umgangsformen rhetorisch auszeichnen oder unterminieren. Spezifizierte Individual- und Gruppennormen, die sich in unterschiedlicher Weise auf ethische Einstellungen beziehen und in ihrer performativen Gestalt durchaus auch die Lizenz zum Pathos in Anspruch nehmen können, leiten die Sozialisation nachwachsender Wissenschaftlergenerationen und tragen so zum Fortbestand von Wissenschaft bei.27 Denn es sind in erster Linie forschende und lehrende Menschen, die als Wissenschaftler gesicherte Erkenntnisse formulieren und weitergeben, diskutieren und modifizieren, kanonisieren und verwerfen. In ihren kommunikativen Interaktionen spielen die auf spezifischen Regeln und Normen beruhenden Verfahren der Beglaubigung und Vermittlung von Geltungs27  Wissenschaftliches Ethos und Pathos in der Wissenschaft treten in variierenden, historisch und kulturell konditionierten Figurationen auf. Und sie haben nicht ohne Grund heterogene Beschreibungen und Stellungnahmen hervorgerufen. Denn Berufungen auf personale Eigenschaften und ethische Einstellungen – ob vorgängiger Autoritäten oder aktuell handelnder Instanzen – stellen ebenso wie rhetorische Darstellungsstrategien und pathetische Redeweisen spezifische Überbrückungsleistungen dar, die den Zugang zu bzw. den Glauben an leitende Ideale, Methoden und Theorien der Wissenschaft erleichtern und ihre bessere Vermittlung ermöglichen sollen. Als mehrfach dimensionierte Überbrückungsleistungen partizipieren wissenschaftliches Ethos und Pathos in der Wissenschaft am Erbe einer bereits in der Antike problematisierten Rhetorik. Angesichts nicht hinreichender bzw. unsicherer Beweismittel sucht diese nach Möglichkeiten der Überzeugung. Die rhetorische Herkunft pathetischer Rede hat denn auch zu entsprechender Skepsis – etwa gegenüber ‚hohlem Pathos’ als Element eines abusus rhetorischer Mittel – geführt und die sachlich-schmucklose Rede der Wissenschaft privilegiert; gleichwohl dokumentieren genauere wissenschaftshistorische Observationen eine kaum zu übersehende Diskrepanz zwischen postulierter pathosfreier Klarheit und tatsächlich rhetorischer Verfasstheit. Auch die verschiedenen Ausprägungen eines wissenschaftlichen Ethos schließen an bereits seit der Antike implizit entwickelte Habitusformen an, die historisch divergierende Ausgestaltungen und heterogene Bewertungen erfahren haben.

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ansprüchen eine ebenso wichtige Rolle wie ihre Behauptung und Begründung. Mit anderen Worten: Die theoretisch angeleitete und methodisch regulierte Suche nach gerechtfertigter Erkenntnis wird durch Personen vollzogen, die – aus durchaus unterschiedlichen Gründen – wissen wollen und neben Prozeduren und Techniken vor allem Einstellungen und Überzeugungen entwickeln, die zumindest dem Anspruch nach Universalismus, Uneigennützigkeit und „organisierten Skeptizismus“ (so Robert K. Merton) vereinen. Zu vermuten bleibt an dieser Stelle, dass Otokar Fischer sehr genau beobachtet hat, wie sich disziplin- und gruppenspezifische Ethos-Formen bzw. Ethiken ausbilden. So weisen spezifische kommunikative Protokolle zur Konstruktion von Vertrauenswürdigkeit, die etwa in einem Ethos der „Genauigkeit“ wurzeln und durch explizit thematisierte Unsicherheit eine bestimmte Vorsicht indizieren (die als Zuverlässigkeit des Autors interpretiert werden kann), die Zugehörigkeit einer Person zu einer bestimmten ‚Expertengruppe’ aus. In der Geschichte der deutschen Philologie ist es etwa die immer wieder beschworene „genaue critische Sorgfalt“ (Benecke 1810: X),28 die einer anfänglich kleinen Gruppe von Gelehrten – ihr Kern besteht zunächst nur aus Georg Friedrich Benecke, dessen Schüler Karl Lachmann und den mit ihnen befreundeten Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm – zur Abgrenzung von anderen, in der Zeit nach 1800 ebenso möglichen Textumgangsformen dient.29 Ebenso genau beobachtet hat Otokar Fischer auch die 28  „So ausgemacht es auch ist, daß die allgemeinen Grundsätze der Critik, wie sie bey den classischen Sprachen in der höchsten Periode ihrer Bildung angewandt werden, bey ihrer Anwendung auf die alte Deutsche Sprache, und die darin geschriebenen und von den Abschreibern und Umarbeitern oft so willkürlich behandelten Werke, gar manche besondere und eigenthümliche Bestimmung erfordern: so wahr bleibt es doch auf der anderen Seite, daß für das gründliche unserer alten vaterländischen Litteratur nichts ersprießlicher seyn kann, als wenn wir uns die genaue critische Sorgfalt zum Muster nehmen, die man mit so vielem Scharfsinn und unermütlich fortgesetztem Fleiße auf die Schriften der Griechen und Römer verwandt hat.“ (Benecke 1810: X) 29  Wie genau die ethosbasierte Zugehörigkeit zu einer Disziplin erworben wird, lässt sich allerdings nicht einfach beantworten. Da es sich beim Ethoswissen im Normalfall nicht um ein explizites (propositionales) Wissen handelt, sondern um ein ‚tacit knowing’ im Sinne Michael Polanyis, und da dieses ‚implizite’ Wissen auch im Rahmen der Enkulturation in Disziplinen weniger durch direkte Wissensvermittlung als durch Imitation und Übung erworben wird, lässt sich das wissenschaftliche Ethos gemeinhin nicht einfach identifizieren und der entsprechende Lernvorgang nur mit großen Schwierigkeiten (retrospektiv) explizieren. Die Fragen, ob die indirekte Vermittlung von disziplinärem Ethos auf charismatische Lehrerpersönlichkeiten oder, mit weiterem Wirkungsradius, auf akademische „Kultfiguren“ angewiesen ist, oder ob sie von spezifischen, Imitation und Übung fördernden Lehrformen abhängig ist, sind hier ebenso zu stellen wie die Frage nach

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wichtigen Funktionen, die verschiedene Formen des Ethos für die wissenschaftliche Forschung übernehmen. Denn ohne Zweifel verfügen Wissenschaftler zumeist über ein klar konturiertes Leitideal (Wahrheit), über ein Set von Regeln, wie man es erreichen kann (Methode), sowie über eine Reihe allgemeiner Annahmen, wie Weg und Ziel aussehen könnten (Theorie). Gleichwohl ist es eine verbreitete Erfahrung von Wissenschaftlern, die auch durch die Ergebnisse der Wissenschaftstheorie der letzten Jahrzehnte gestützt wird, dass der Methodologisierung und Theoretisierung der Forschung bestimmte Grenzen gesetzt sind. Ausdrücke wie „Takt“ und „Gefühl“, „Urteilskraft“ und „Intuition“ verweisen darauf, dass das angemessene Verhalten innerhalb von Disziplinen immer eine Ethos-Komponente aufweist, die sich nicht auf Methoden und Theorien reduzieren lässt. Besonders weitreichend verfährt Fischers abschließende Konstruktion von Traditionslinien. Denn er erkennt in diesen prototypischen Gelehrten die Konsequenzen von zwei Weichenstellungen, die er mit den Namen Wilhelm Dilthey und Wilhelm Scherer verknüpft: So und ähnlich könnte die Antithese Körner – Cysarz noch weiter und gründlicher verfolgt werden, wobei sich Belehrendes ergeben würde auch im Hinblick auf Lebensund Lehrgang der beiden Gelehrten, deren einer, der schillernde Ideologe, seinen geistigen Stammbaum über Gundolf auf Dilthey zurückführen dürfte, während der andere, der Beharrende, stolz auf seine nicht weniger deutsche Ahnenreihe im Geistigen, über Minor zurück auf die Editionspraxis der Schererschule sich berufen kann und auf die Vertreter eines entsagungsvollen „Dienstes am Wort“. (Fischer 1937: 10)

Ob diese Opposition tatsächlich zutrifft oder nicht vielmehr ein Stereotyp der wirkungsmächtigen Geistesgeschichte ist, soll hier nicht weiter diskutiert werden.30 Denn wichtiger sind andere Einsichten, die niemand anderes formuliert als der hier charakterisierte Josef Körner. Am Tag der Publikation dieses Zeitungsartikels schreibt er einen dreiseitigen Brief an Otokar Fischer, in dem er – nach einigen knappen Worten des Danks – den Autor des Artikels für zahlreiche Äußerungen kritisiert. Auch wenn Körner vorgibt, dass er nur wenig einzuwenden habe, sind seine Interventionen in der Tat massiv: Der Einfall war kurios und befriedigt mein witzsüchtiges Gemüt außerordentlich – weitaus mehr als meine Eitelkeit und Ruhmsucht. Seien Sie in jedem Sinne schönstens, bestens, rechtens bedankt! Aber da Sie – als mein erster Biograph! – über mein Wesen und Unweder Funktion von Schulzusammenhängen, die einen übergreifenden Wissenschaftsstil prägen, der Handlungsmuster, Wahrnehmungsmuster und Akteurmodelle tradiert und diese mit einem übergreifenden Ethos verknüpft. 30  Genauere historische Rekonstruktionen der geistesgeschichtlichen Berufungen haben die Problematik dieses Traditionsbezugs deutlich gemacht, so nachhaltig Kindt/Müller (2000).

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sen so genau Bescheid wissen, so werden Sie ohne Verwunderung feststellen, dass ich mein bestes, von Ihnen mit Recht gerühmtes Talent: die Gabe, mich unbeliebt zu machen, auch bei diesem Anlaß bewähre: indem ich nämlich ein wenig gegen Ihre Gesamtcharakteristik rebelliere. Dass ich in erster Linie Philologe bin und sein will, trifft wirklich zu. Aber Philologe in diesem sehr hohen Sinn, wie ihn doch auch Nietzsche verfochten hat und der mit Symbologie, ja Philosophie (aber streng wissenschaftlicher, nicht metaphysisch-theologischer) eng verwandt ist. Ein bloßer „Sammler und Ordner“, als welchen Sie mich hinstellen, war und bin ich nicht. Selbst die paar Briefbände, in denen Sie sehr zu Unrecht meine Hauptleistung sehen, wollen, wie die Einleitung zu ‚Briefen von und an Fr. Schlegel’ grundsätzlich feststellt, durchaus kein Selbstzweck sein, sondern Bereit[...]stellung des objektiven Materials für eine geistige Geschichte der Brüder Schlegel. Wär ich ein Cysarz, so hätte ich die Schlegel-Biographie längst geschrieben, die Lücken unseres Wissens mit Phantasmen und willkürlichen Deutungen füllend; als verantwortungsbewußter Wahrheitsforscher sah ich früh, daß die Grundlagen für ein solches Unternehmen noch fehlen; u[nd] ging daran, sie zu suchen, zu errichten. Dabei hatte ich – das Unglück garstigen Finderglücks, das mich zwang, Jahre, Jahrzehnte diesen Vorarbeiten zu widmen. Aber sehen Sie bitte einmal ab von meinen Briefeditionen, ab auch von allem, was ich sonst zur Frühromantik beitrug [...]: es bleiben meine Arbeiten über Motivanalyse, das Tragische, den Witz, das Nibelungenlied, über das dichterische Werk von Goethe, Kleist, Arnim, Z. Werner, Hebbel, Keller, Schnitzler, Werfel. In der Tat hat die Encyclopedia EuropeaAmericana im Apendice VI, I, 852 über mich einen Artikel gebracht, der von den Schriften jenseits 1926 (in welchem Jahre meine Briefeditionen erst einsetzten) nichts weiß, ich muß also das Anrecht auf einen Lexikon-Artikel mit anderen Leistungen erworben haben. Aber selbstverständlich kann ein einziger Mann, noch dazu ein durch die Last des Schulamtes lange Zeit gehemmter und durch schmähliche Behauptungen gedrückter, neben zeit- und kraftzehrenden Riesenpublikationen editorischer Art nicht minder umfängliche ästhetische Arbeiten, die, wie Sie selber wissen, seit langem geplant und weitgehend vorbereitet sind, zum Abschluß bringen. Übrigens scheinen Sie mir auch die Originalität und Besonderheit meiner Briefeditionen zu unterschätzen. Walzels Friedrich Schlegel-Briefe taten doch nichts mehr, als daß sie einen längst bekannten, von Haym u. a. längst verwerteten, jedermann zugänglichen Briefstock in Druck legten u[nd] recht mäßig kommentierten. Reiters Wolf-Briefe waren zur größeren Hälfte schon veröffentlicht, die Herausgabe aber ist ein sklavischer Abklatsch der von mir eingeführten Editionsmethode – was der Editor freilich nicht ausplaudert. In der Hinsicht bin ich ja wenig verwöhnt; man hat bei mir auch sonst schon mehr Anleihen gemacht, als in den öffentlichen Schuldbüchern steht. [...] Dass Sie aber das heikle Thema Cysarz so vorsichtig angetastet und jede ernstere Kritik zurückgehalten haben, ist mir sehr lieb. Sonst hätten gewisse Leute den ganzen Artikel und Sie und mich gar übel verdächtigt. In diesem Leben, ich weiß es, wird Herr C[ysarz] das Spiel gewinnen. Spätere Zeiten werden mir gerechter sein und anerkennen, daß die Belange der Wissenschaft bei mir

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besser bewahrt und dauerhafter gemehrt wurden. Ein Modegelehrter zu sein, scheint mir, im Doppelsinne des Wortes, eitler Ruhm; ich bange durchaus nicht nach ihm.31

Diesen Worten ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Ihre Offenheit zeigt einmal mehr, wie tief die beiden Philologen Otokar Fischer und Josef Körner verbunden waren. **** Am 25. April 1938 – Otokar Fischer war bereits verstorben und Josef Körner hatte gerade seinen 50. Geburtstag begangen – dankt er der Witwe Blažena Fischerová für ihre Glückwünsche zu seinem Ehrentag. Und er verwirklicht endlich sein Vorhaben, über den toten Freund zu sprechen. Nun, da der Tod alle Verwirrungen gelöst hat, bleiben nur noch Schmerz und Trauer: Ich selbst kann es noch kaum begreifen, daß es einen O. Fischer nicht mehr geben soll, daß nie mehr die schrille Glocke des Fernsprechers mich rufen wird, seine dunkle Stimme zu vernehmen, die mit solcher drängenden Leidenschaft sich aussprach, daß der ­Partner immer nur schwer zum Worte kam. In meinen Jahren gewinnt man nicht mehr neue Freunde, und so muss ich diese – vielleicht meines Lebens schönste – Freundschaft als den unwiederbringlichsten Besitzentgang buchen.32

Uns aber bleibt die Aufgabe, die Erinnerung an diese besondere Freundschaft zwischen dem deutschen und dem tschechischen Literaturwissenschaftler wachzuhalten. Denn hier lässt sich viel lernen; für die Wissenschaft wie für das Leben. Und das ist nicht wenig.

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31  LA PNP Praha, Nachlass Otokar Fischer, Empfangene Korrespondenz, Josef Körner an Otokar Fischer 03.01.1937. 32  LA PNP Praha, Nachlass Otokar Fischer, Empfangene Korrespondenz, Josef Körner an Frau Fischer, 25. April 1938.

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Ralf Klausnitzer

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Daniel Vojtěch

„Nicht so leicht in die Augen springend …“ Grenzen der Methode wechselseitiger Bereicherung und ihre bedenklichen Schösslinge In den vergangenen zwei Jahrhunderten herrschten in den historisch orientierten Disziplinen, die Philologie inbegriffen, Methoden vor, die nach einem Geschichtsbegriff als organischer Vereinheitlichung von Vielfalt und Einzigartigkeit zugunsten von Dominanten, Tendenzen, höheren geistigen Konstrukten, Entwicklung sowie äußerer und innerer Faktoren strebten. Die Art dieses axiologischen Geschichtsverständnisses (Veyne 1996: 94-99)1 wurde ebenfalls durch die Bemühung bestimmt, diese Einheitlichkeit ­allgemeinen Prinzipien, historischen Gesetzmäßigkeiten, die die Richtung der geschichtlichen Entwicklung und den Sinn der Begebenheiten festlegen, oder dem Gedanken historischer Zyklen unterzuordnen. Otokar Fischer wählte zu Beginn seiner Laufbahn als Wissenschaftler und Kritiker einen anderen Weg als seine Zeitgenossen. Sein bedeutendes Renommee erlangte er nicht nur dank seiner philologischen Gelehrtheit und übersetzerischen Leistung, es wurde auch seine aktive dichterische, dramatische und kritische Teilnahme an den damaligen Bemühungen um eine Reform von Sprache, Drama und Theater gewürdigt. Kniha o jeho díle [Ein Buch über sein Werk] (Jirát et al. 1933), eine Festschrift zu seinem fünfzigsten Geburtstag, sowie seine Ernennung zum Leiter des Prager Nationaltheaters im November 1935 kurz nach dem Tode Hilars manifestierten eine Bestätigung der „osobnosti obecné závažnosti kulturní“ [Persönlichkeit allgemeinkulturellen Ansehens] (Píša 1948: 12), dieses kritischen Schriftstellers, der 1912 im Zusammenhang mit seinem Buch über Kleist dem Vorwurf des germanistischen Akademismus und der Zugehörigkeit zu fremden Kulturen die Stirn bot: „Ten kdo tíhne celým svým cítěním v oblast kultury cizí, nemůže býti organickým činitelem v kultuře naší.“

1  Die Finalisierung des Aufsatzes wurde vom European Regional Development Fund-Project „Creativity and Adaptability as conditions of the Success of Europe in an Interrelated World“ (No. CZ.02.1.01/0.0/0.0/16_019/0000734) unterstützt.

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[Wer mit seinem ganzen Fühlen zum Bereich einer fremden Kultur neigt, kann kein organischer Vertreter unserer Kultur sein.] (Veselý 1912: 119).2 Das schöpferische, im wahrsten Sinne musische Wesen der Tätigkeit Fischers sperrte sich jedoch zugleich gegen Versuche, seine Methode zu charakterisieren und sein Denken im Ganzen zu bewerten. In der Regel begnügten sich seine Zeitgenossen damit, auf das Spannungsfeld zwischen dem analytischen und dem künstlerischen oder intuitiven Pol hinzuweisen. 1933 charakterisierte Vojtěch Jirát die literaturgeschichtliche Laufbahn des Jubilars mit Hochachtung, aber auch impliziertem Vorbehalt als Weg der Synthese von künstlerischer und wissenschaftlicher Begabung, verbunden mit einem sogenannten psychologischen Impressionismus: 2  Antonín Veselý gelangte in seiner Doppelrezension zu Fischers Monographie über Kleist (Fischer 1912a) und dessen Übersetzung der Penthesilea zur widersprüchlichen Meinung, sich gegen das Fehlen „asimilační látky“ [assimillierenden Stoffes] und den u­ npersönlichen, germanistischen fachkundlichen Stil der Kleist-Abhandlung abzugrenzen und zugleich begeistert den dichterischen Stil der Dramenübersetzung Fischers zu loben. Fischer wehrte sich mit einem Widerspruch gegen die chauvinistische Übertragung „vědeckého ­postupu na pole patriotismu“ [der wissenschaftlichen Methode auf das Feld des Patriotismus]: „Vylučuje [Veselý] český spis z  naší literatury proto, že z  čehosi, co pro Kleista je sekundární, neučinil jsem prius: moje metoda je mu důvodem k podezření [...] že ­náležím k  badatelům, ztrácejícím v  cizí kultuře své národní vědomí‘. Osobuje si dokonce právo napsat nekvalifikovatelnou větu: ,I kdybychom předpokládali autorovo češství, musili bychom (jeho spis) opatrně bráti do ruky‘. Upozorňuji na tento anachronistický ­projev ustrašeného vlastenčení, který zabloudil – do České kultury“ [[Veselý] schließt das tschechische Schriftstück aus unserer Literatur deshalb aus, weil ich etwas, für Kleist Sekundäres, nicht in den Vordergrund gestellt habe: Meine Methode ist ihm Grund zum Verdacht, [...] dass ich zu jenen Forschern gehöre, ‚die in der fremden Kultur ihr n ­ ationales Bewusstsein verlieren‘. Er nimmt sich gar das Recht, den unqualifizierbaren Satz zu schreiben: ‚Selbst wenn wir das Tschechentum des Autors annähmen, müssten wir ­(seine Schrift) mit Vorsicht zur Hand nehmen.‘ Ich weise auf diese anachronistische ­Äußerung von verschrecktem Patriotismus hin, der sich verirrt hat – in die Tschechische Kultur] (Fischer 1912b, vgl. die weitere polemische Reaktion Veselý 1912a). Auf die Premiere von ­Fischers Drama Přemyslovci (Die Přemysliden, 1918) folgte eine Polemik über die ­Beziehung des jüdischen Autors zu einem tschechisch nationalen Thema, in der sich der Antisemitismus einiger zeitgenössischer Meinungen zum Charakter des neuen Nationalstaats zeigte (u. a. Bohumil Mathesius), wie auch in der Polemik über die politische Loyalität der tschechisch-jüdischen Bewegung (vgl. Čapková 2013: 135f. und Málek 2013: 339-343). Fischers persönliche, im Archiv der Karlsuniversität aufbewahrte Akte belegt Verzögerungen durch das Ministerium bei seiner außerordentlichen Professur (Antrag eingereicht im Juli 1913, berufen wurde er jedoch erst Ende Mai 1919), von seiner ordentlichen Professur ganz zu schweigen: Den Antrag reichte das Rektorat dem Ministerium seit 1924 wiederholt ein. Die Berufung wurde verschoben, und erst Ende 1927 wurde Fischer ordentlicher Professor (vgl. die persönliche Akte Otokar Fischers, Inventarnummer 203).

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[...] co bychom mohli nazvat Fischerovou metodou, je metodou pro autorovu vlastní potřebu, udělanou na vlastní pěst, bez historické souvislosti s vývojem literárněhistorické disciplíny, něco nesdělitelného a pro jiné neosvojitelného. Nemůžeme tedy při ní mluvit o metodě vědecké, nýbrž umělecké. [[...] Als Fischers Methode könnte man eine Methode für den Eigenbedarf des ­Autors bezeichnen, auf eigene Faust gemacht, ohne historische Zusammenhänge mit der Entwicklung der literaturgeschichtlichen Disziplin, etwas nicht Mitteilbares und von anderen nicht Adaptierbares. Wir können von ihr also nicht als einer wissenschaftlichen, sodern als einer künstlerischen Methode sprechen.] (Jirát et al. 1933: 7)

Die Bedeutung des Impressionismus-Attributs erklärte er mit Verweis auf Fischers Inspiration durch Dilthey – es bedeutet hier etwa so viel wie „nesoustavný“ [willkürlich] (Jirát et al. 1933: 11). Arne Novák, dessen Denken sich mit dem Fischers an vielen problematischen Stellen kreuzte, von wo aus es jedoch in vielen Dingen die Gegenrichtung einschlug, lobte in seiner Kritik zu Otázky literární psychologie [Fragen der Literaturpsychologie] das Bemühen vytknouti na každém díle co nejpřesněji osobní a osobnostní znaky tvůrcovy a odlišiti je vymezením pokud možno subtilním od příbuzných výtvorů myšlenkových a slovesných. [in jedem Werk so genau wie möglich die persönlichen und individuellen Zeichen des Autors hervorzuheben und sie durch, wenn möglich, subtile Abgrenzung von verwandten gedanklichen und sprachlichen Schöpfungen zu unterscheiden.] (Novák 1917: 428)

Im Unterschied zu den historisch orientierten Theoretikern, also auch zu Novák selbst, všímal si tento kritický individualista právě toho, co básníka vyjímá ze souvislosti dobové a společenské [...], co jeho zjevu dodává jedinečnosti, a proto se vzpírá jakékoli klasifikaci. [bemerkte dieser kritische Individualist gerade das, was den Dichter aus dem zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext heraushebt [...], was seinem Wesen die Einzigartigkeit verleiht, und deshalb sträubt er sich gegen jede Klassifikation]. (Novák 1917: 428)

Schüler wie Wegbegleiter Fischers sind in dem Maße genau, wie sie die Sache selbst aber gleichzeitig verfehlen.3 Von dieser Verfehlung zeugt die abweichende Meinung Josef Jankos, deren feierlicher Stilisierung ihr Anlass, die Trauerfeier im Nationaltheater im März 1938, zugerechnet werden muss. Der um fast eine Generation ältere Germanist und Philologe spricht hier eine andere Meinung an, die Fischer schon seit seinen monographischen Studien der Vorkriegszeit begleitete: 3  Vgl. dagegen Fischers Portrait von Arne Novák in der Rezension der Bücher Kritika literární I, II [Literarische Kritik I, II] und Zvony domova [Glocken der Heimat] (Fischer 1916), die die Einzigartigkeit der historischen Ereignisse und deren Nichtreduzierbarkeit auf mit dem Entwicklungsganzen konvergierende Eigenschaften betonen.

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[...] on byl pravým dějepiscem literatury, jenž hledal a nalézal vývojovou linii někdy dosti skrytou – on dále viděl s  podivuhodnou lehkostí a bystrostí hned všude problémy, jež nechávaly chladným suchého registrátora, ale otevíraly se Fischerovi, nadanému přímo jasnovidectvím toho druhu [...]. [[...] er war ein wahrer Literaturhistoriker, der eine zuweilen recht verborgene Entwicklungslinie suchte und fand – er kannte mit bewundernswerter Leichtigkeit und Scharfsinnigkeit im Voraus sofort und überall die Probleme, die einen trockenen Registrator kaltließen; Fischer aber, der bei derlei Dingen geradezu hellseherisch begabt war, eröffneten sie sich [...]]. (Janko 1938: 10f.)

Die Verbreitung der philologischen Analyse zugunsten der psychologischen Interpretation ästhetischer Erscheinungen entsprach der ­Gesamtveränderung der Literaturgeschichte und -kritik nach 1900 und freilich auch der sich verändernden Situation in der Psychologie, wobei sich der Fokus – zumindest in der Psychoanalyse – zunehmend vom physiologischen in den sprachlichen bzw. interpretatorischen Bereich verschob. Die Aktualisierung von Taines Modell und dessen Revision in der Konzeption von Brunetière einerseits, die Begriffe der Lebensphilosophie, Psychologie und Croces Ästhetik des Ausdrucks (vgl. Cosentino 1996) andererseits brachten ein neues ­theoretisches Gerüst, problematisierten und differenzierten zentrale Erkenntniskategorien von Persönlichkeit, Individualität, Stil und Kultur. Das Beispiel der intellektuellen und produktiven Laufbahn Otokar Fischers zeugt – so auch die parallelen, abweichenden Wege seiner ­Zeitgenossen – von Quellen, Motivation und Impulsen des historischen Denkens, die wesentlich der Gegenwart des Forschers gehören (von der Gegenwart aus ausgelegt werden), und die er als Germanist und Bohemist versuchte systematisch zu verstehen. Vereinfacht gesagt: Fischers Denken zeichnet eine ­differenzierende historische Vorstellungskraft aus, die durch Unterscheidung übereinander gelagerter Bedeutungen von Diskontinuität und Singularität in der Interpretation über einzelne Bereiche der Wissenschaft hinweg eine historische Reihe bildet. Die Heuristik passte er den Aspekten des ­künstlerischen Ausdrucks an, deren Unterschiedlichkeit oder ­Andersartigkeit für ihn die primäre Bedeutungsverbindung, die integrative ­Sinnkomponente darstellte. Mehrfach thematisierte er seinen Ansatz programmatisch: O ­ tázky ­ ethode literární psychologie leitete er mit der Passage über das Fehlen einer M in der Literaturwissenschaft ein, die aus den Verfahren verschiedener Fachrichtungen schöpfe, und endete mit einer kurzen Charakteristik des psychologischen Impulses, der helfe „vyrozuměti ze slyšené mluvy více, než napoprvé slyšeti se dalo [...], zmocniti se toho tajemství“ [aus dem Gesprochenen mehr herauszuhören als man es beim ersten Hören vermag [...],

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sich dieses Geheimnisses zu bemächtigen] (Fischer 1917: 79).4 Der Schluss der Broschüre kehrt kurz zurück zum Gedanken des Unnennbaren, des Unaussprechlichen aus dem 1909 in der Zeitschrift Novina sowie ein Jahr ­später in Das Literarische Echo abgedruckten Essay: dem offenen Sinn sprachlicher Bedeutung oder – wie es Otakar Zich ausdrückte – „významové představy“ [der Bedeutungsvorstellung]. Der Essay über die Beschränktheit des Artikulierbaren und die Grenzen der Kunst brachte eine eigene Variante der sogenannten Sprachskepsis oder – mit den Worten Jiráts – des „nedůvěry“ [Misstrauens] in das Wort (Jirát et al. 1933: 9) mit sich. Im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen dem Unnennbaren und dem sprachlich ­befreienden Aspekt beinhaltet die tschechische Version in ihrem Goethe’schen Kernpunkt, im Unterschied zur deutschen, wo es überflüssig wäre, eine Bemerkung zum „nepřeložitelnost“ [Unübersetzbaren]. Hier erkennen wir einen neuen Impuls der Übersetzungstheorie als kontextuelle Übertragung der Bedeutung, welche die Klippen der sogenannten Unübersetzbarkeit überwinden kann: Bezprostředně po prvém nárazu dostavoval se v Goethově mysli chaos [...], jejž [...] nazývával ,Dumpfheit‘. Nepřeložitelné slovo ,dumpf‘ neoznačuje pošetilost nebo ­zoufalství, nýbrž složitou náladu duševní, která v sobě už chová zárodek a slib něčeho velkého. Bezejmenná, bezradná a tápavá ,Dumptheit‘ [sic!] předcházela, nežli pronesl osvobozující slovo, před nímž couvaly stíny. [Unmittelbar nach der ersten Erschütterung begann sich in Goethes Inneren ein Chaos auszubreiten, […] den er als ,Dumpfheit‘ zu bezeichnen pflegte. Das unübersetzbare Wort ,dumpf‘ steht nicht für Albernheit oder Verzweiflung, sondern für eine komplexe Gemütsstimmung, die bereits den Keim und das Versprechen von etwas Großem in sich birgt. Die namen- und ratlose, tastende ‚Dumpfheit‘ ging dem befreienden Wort voran, das die Schatten weichen machte.] (Fischer 1909: 277)5

In dieser Zeit verteidigte er in der unveröffentlichten Polemik gegen Nováks Vorbehalte6 bei seiner Übersetzung von Hofmannsthals Der Tor und der Tod 4  Zu Fischers Otázky literární psychologie vgl. weiterhin vor allem Cosentino (1999: 130-149). 5  Vgl. Fischers deutsche Fassung der entsprechenden Passage: „Unmittelbar nach der ­ersten Erschütterung begann sich in Goethes Inneren ein Chaos auszubreiten, jener Zustand, der fast seine ganze Jugendzeit beherrscht hat, und den er mit seinen ­Lieblingsausdrücken als ,Verworrenheit‘, als ,Dumpfheit‘ zu bezeichnen pflegte. Die ,dumpfe‘ Gemütsstimmung birgt schon den Keim von etwas Großem in sich. Die rat- und namenlose, tastende Dumpfheit ging dem beschwörenden Worte voran, das die Schatten weichen machte“ (Fischer 1910: 1506-1507). 6  „Páně Fischerovo přebásnění Hofmannsthalova dramoletu ukazuje plnou měrou, že překladatel ovládá básnické slovo i v  jeho hudebních, i v  jeho malebných ­možnostech: nelze nepřiznati, že p. O. Fischer nalezl skutečnou českou poetickou obdobu Hofmannsthalova úlisného a svůdného, zženštilého a neodolatelného lyrického ­výrazu.

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seine Variante Člověk a smrt [Der Mensch und der Tod] mit der Notwendigkeit, die sprachlich-semantischen Klippen des Originals „obeplout“ [zu u­ mschiffen] und wandelte den Vorwurf des Rezensenten wieder mit dem Verweis auf Goethe zur Forderung ab, „každý překlad má býti travestií“ [jede Übersetzung müsse Travestie sein] (Polák 1933: 65). Bereits 1905 distanzierte sich Fischer in seiner Rezension zu Bahrs Dialog o tragičnosti [Dialog vom Tragischen] von einem dilettantischen Umgang mit der Literaturgeschichte bzw. mit Fachbegriffsbezeichnungen und grenzte sich gegen ein willkürliches, aus einer ungeklärten, unsystematischen Meinung abgeleitetes Psychologisieren auf dem vielschichtigen Wesen des modernen Bewusstseins ab: Nepřehledná řada vrstev jest nakupena v já vedle sebe a nad sebou. Odtud dá se pochopiti sled depresí a extází [...]. Bohužel není dost jasno, co si Bahr pod slovy extáze a deprese představuje; odporuje si přímo: o přílišném bohatství představ a výrazů beztoho tyto eseje nesvědčí, a je-li dost trapné, že na různých místech tytéž myšlénky doslovně se opakují, působí ještě trapněji, že Bahrovy ,extáze‘ mění barvu a smysl.

A přece právě tuto ukázalo se mi, že každý, byť sebedokonalejší překlad zůstane ­pouhou travestií. V  titulu porušení myšlenky originálu stalo se dojista schválně, neboť ani slovo ‚bloud‘, ani ‚blázen‘ nezdálo se případným; avšak zde aspoň změna byla v moci překladatelově. Avšak zda si uvědomil překladatel (a co by bylo platno uvědomiti si něco, čeho změniti nelze?), že představa kostrouna-hudce (der Tod) nijak se nedá nahraditi představou ženské smrti-houslistky, cizí úplně našemu nazírání? Toť případ přímo ­klasický: vždyť přece latiníci octli se v  podobné nesnázi, překládajíce mužské Thanatos ženským Mors, a právě tak vznikly četné nejen jazykové, ale i představové zmatky, když za ­francouzské femininum la Mort kladla němčina masculinum der Tod.“ [Herr Fischers Umdichtung des Dramoletts von Hofmannsthal zeigt in vollem Umfang, dass der Übersetzer das dichterische Wort sowohl in seinen musikalischen als auch seinen malerischen Möglichkeiten beherrscht: Man kann nicht abstreiten, dass Hr. O. Fischer ein w ­ ahrhaftiges tschechisches poetisches Ebenbild des geschmeidigen, verführerischen, verweiblichten und unwiderstehlichen lyrischen Ausdrucks Hofmannsthals gefunden hat. Und dennoch zeigte sich mir gerade hier, dass jede noch so vollkommene Übersetzung bloße T ­ ravestie bleibt. Im Titel wurde der Gedanke des Originals sicher absichtlich gestört, denn w ­ eder das Wort ‚bloud‘ (Narr) noch ‚blázen‘ (Tor) schienen zutreffend; hier jedoch war die Änderung in der Macht des Übersetzers. Machte sich aber der Übersetzer bewusst (und was nützte es, sich etwas klarzumachen, was sich nicht ändern lässt?), dass sich das Bild des Knochenmannes als Musikant (der Tod) von jenem des Geige spielenden Mädchens, unser tschechischen Vorstellung völlig fremd, in keiner Weise ersetzen lässt? Das ist ein geradezu klassischer Fall: Befanden sich die Lateiner doch in einer ähnlich misslichen Lage, als sie den männlichen Thantalos mit der weiblichen Mors übersetzten, genauso entstand viel, nicht nur sprachliche, Verwirrung. Es entstand ebenso Verwirrung in der Vorstellung, wenn für das französische weibliche Femininum la Mort das deutsche Maskulinum der Tod eingesetzt wurde.] (Novák 1910: 513f.)

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[Eine unübersehbare Anzahl von Schichten ist im Ich neben- und übereinander angehäuft. Von da aus kann man die Folge von Depressionen und Ekstasen begreifen [...]. Leider ist nicht recht klar, was sich Bahr unter den Begriffen Ekstase und Depression vorstellt; er widerspricht sich geradezu: Von einem besonderen Reichtum an Vorstellung und Ausdrücken zeugen diese Essays ohnehin nicht, und es ist peinlich genug, dass sich dieselben Gedanken an verschiedenen Stellen wortgetreu wiederholen. Noch peinlicher wirkt allerdings, dass Bahrs ‚Ekstasen‘ Farbe und Sinn wechseln.] (Fischer 1905: 136)

Fischer selbst begann gerade in dieser Zeit, seine eigene romanistische und germanistische philologische Schulung den Impulsen psychologischer Theorien im Sinne von heuristischen Anregungen der literarischen Ästhetik zu öffnen. Er konzentrierte sich vor allem auf Grenzphänomene der Sinne und ihren symbolischen Ausdruck. Die zeitgenössische Arbeit im Bereich der Psychologie und der psychologischen empirischen Ästhetik kommentierte er regelmäßig in Fachzeitschriften, vor allem ausländischen Blättern, aber auch in einem populären Zyklus für die Zeitschrift Hlídka Času [Wache der Zeit] unter dem bezeichnenden Titel Z pomezí vědy literární [Aus dem Grenzbereich der Literaturwissenschaft] oder im Feuilleton der Národní listy [Nationale Blätter]. Den Großteil seiner umfangreicheren Analysen ließ er in tschechischer und deutscher Version abdrucken, offenbar, um den doppelten Kommunikationskreis zu verbinden – somit beteiligte er sich an der internationalen Debatte und ­manifestierte gleichzeitig seine tschechische kulturelle Identität als meinungsoffenen, systematisch aufgebauten Standpunkt gegenüber der Geschichte der Weltliteratur. Mit seiner breiten Quellenkenntnis, die von der Antike bis zur Gegenwart reichte, sowie seinem Schwerpunkt in der deutschen Romantik kultivierte er eine Komparatistik der Traum-, Erinnerungs- und Phantasievorstellungen, wie auch déjà-vu-artiger Vorstellungen, verbunden mit farbenfrohen, akustischen und gestischen Ausdrucksmustern. Diese Muster sind für ihn Bausteine eines modernen Mythos; dem antiken und mittelalterlichen Mythos (dem Todesbaum) hatte er sich in seinen streng philologischen Analysen gewidmet (Fischer 1910a). 1906 reflektierte er im Feuilleton O žluté závisti [Vom gelben Neid] in den  Národní listy über das mechanische kulturhistorische Verständnis der komplementären Funktion des Gelben und des Blauen bzw. des warmen und kalten Farbspektrums bei Arnold Ewald. Er formulierte dabei einen Einwand gegen Theorien und Entwicklungsmodelle, die a priori auf die Geschichte appliziert würden: Je vždycky náramně podezřelé, dojde-li historie k  rovnosti, jež se dá hladce řešiti, ještě podezřelejší, redukuje-li se úžasně pestrá směsice lidského cítění na prajednoduchou formulku ‚matematické přesnosti‘.

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[Es ist immer äußerst verdächtig, wenn Geschichte zu einer Gleichheit gelangt, die glatt aufzulösen ist, und noch verdächtiger ist es, wenn die erstaunlich bunte Mischung menschlichen Fühlens auf die einfachste Formel ‚mathematischer Genauigkeit‘ reduziert wird.]

Nach seinen Belegungen ähnlicher Funktionen bei anderen Farben in verschiedenen historischen Situationen und dem Verweis auf die ­ Kritik an Ewald seitens Anton Martys betonte er zum Schluss eine alternative historische „pohyb“ [Bewegung] des Gelben: [...] pohyb tento jest nám prozatím nedostižitelný a nevyjadřitelný pouhou formulkou, pokud nebudeme bedlivě všímati si jejích pohybů codenních, pokud nevezmeme v úvahu tisíce subtilních vlivů, jimž podléhá. [[...] Diese Bewegung ist durch bloße Formel für uns einstweilen unfassbar, ­unartikulierbar, solange wir sie nicht in ihren täglichen Bewegungen beachten, solange wir nicht tausenderlei subtile Einflüsse bedenken, denen sie unterliegt]. (Fischer 1906b)

Mit anderen Worten – Fischer legt Wert auf die expressive und funktionale Differenzierung einer Erscheinung, die er als Problem, Frage, ­Kontroverse versteht, wie im Übrigen bereits aus der Frequenz dieser Begriffe in den Überschriften seiner Artikel hervorgeht. Die Schwerpunkte seiner Analysen in Bezug auf die genannten Phänomene, zu denen auch die sogenannte Synästhesie hinzukam, waren zunächst Gottfried Keller, später vor allem Heinrich von Kleist. Das Verhältnis der Traumpassagen in der ersten und zweiten Fassung des Grünen Heinrich bot Fischer einen Ausgangspunkt für den Traumbegriff als strukturelles Element der Imagination Kellers – in der Typologie der im Roman geschilderten Träume und ihrem Vergleich mit den Aufzeichnungen von Kellers eigenen Träumen ging es u. a. um Antworten auf die Frage, ob und wie der Künstler „die Illusion eines tatsächlich g­ eträumten Traums“ hervorrufe (Fischer 1908: 295). Er zog dabei Freuds Begriffe der sogenannten Traumarbeit und des Traumgedankens heran, besonders im Falle von Heinrichs unterbrochenem Traum, der die Funktion des Liedes thematisiert, das ihm seine Mutter singt, der Traum vom Heimweh: [...] um die Ausdrucksweise der Freudschen Traumdeutung anzuwenden – der manifeste Trauminhalt deckte sich nicht mit den latenten Traumgedanken. Die Bilder und Worte hatten doppelte Bedeutung: einmal als solche[,] die sie waren, als Töne, als belanglose Reime, als anmutige Szenen aus dem Familienleben, zugleich jedoch hoben sie sich von dem dunklen Hintergrund ungestillten Sehnens ab. Das Traumbild bedeutete: ich bin daheim unter lieben Verwandten; die Kehrseite, die Nachtseite des Bewusstseins sagte dazu: o wie bin ich doch einsam und fern von der Heimat! (Fischer 1908: 309).

Die Psychoanalyse stellte für Fischer immer ein offenes Problem, aber auch eine Quelle dar (vgl. besonders die Arbeiten von Rank, später Adler),

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mitnichten ein interpretatorisches System7 – vor allem wohl wegen Freuds Libido-Begriff (Fischer 1929a: 107). Später, gegen Ende der 1920er-Jahre, betonte er in der finalen Fassung seines Artikels über die Beziehung von Psychoanalyse und Literatur für das Buch Duše a slovo [Seele und Wort] drei Momente: 1. Wechselseitige Bereicherung der modernen, und hier vor allem der Wiener Literatur und der psychoanalytischen Methode, eine ­grundlegende Symbiose nicht nur für die Methode selbst, sondern auch für die Kunst, die ihrer Quelle um ein Vielfaches verschlüsselt entspringt; 2. ­Interpretatorische Möglichkeiten, die die Psychoanalyse für einen kritischen Blick in die bedeutungstragende Quelle des dichterischen Wortes für denjenigen bietet, der auf die Methode selbst „nepřisahá“ [nicht schwört]8; und schließlich 3. Die „povážlivé výhonky“ [bedenklichen Schösslinge] der Methode (Fischer 1929a: 101), d.h. ihre Absolution und Überbewertung. Sehr vereinfacht kann man sagen, dass diese drei Momente immer die Hauptachse des kritischen Denkens Fischers bildeten. Als Philologe ging er vor allem von der Identifizierung des differenzierenden Elements im Text aus, von der abweichenden Stimme dort, wo ideographische Methoden ­einen gemeinsamen Nenner finden wollten. Gerstenbergs Stimme trat im Kontext der Äußerungen Lessings besonders durch seine leidenschaftliche Unruhe zutage – „sie [die Leidenschaftlichkeit] drückte seiner Schreibart den Stempel einer fieberhaften Hast, einer unruhigen Lebhaftigkeit auf, die von Gegenstand zu Gegenstand schweifend, untersucht und tadelt, bewundert und höhnt“ (Fischer 1904: X). Die Identifizierung dieses Stils, einer ­anderen Sprache, bildete Fischers analytischen Ausgangspunkt: „Nicht so leicht in die Augen springend, nicht so offen, positiv und energisch, aber tiefer, mächtiger und anhaltender war der Einfluß, der auf die [Hamburgische Neue] Zeitung von Kopenhagen aus ausgeübt wurde“ (Fischer 1903: 57). Seine Monographien zu Nietzsche und Kleist beinhalten ähnliche C ­ harakteristiken. 7  In der Einführung zum Traumhaften in Kellers Roman betonte er, dass er nicht die theoretische Systematik des Traumprinzips vorlege, sondern am konkreten Beispiel aufzeige, wie die Traumdarstellungen im dichterischen Werk modifiziert würden, in welcher Beziehung sie zur Traumerfahrung des Künstlers selbst stünden und mit welcher Art Überbewertung des Traumes wir in der Literatur konfrontiert würden (vgl. Fischer 1908: 290). 8  „Výraz umělcův není čímsi, co by existovalo odloučeně od jeho duše [tzn. souhrnu ­vědomí i podvědomí], od jeho života, prostředí, doby; je ukazovatelem a důkazem čehosi hlubšího, jakéhosi proudu tekoucího někde pod osvětleným oknem básnického slova.“ [Der Ausdruck des Künstlers ist nichts, was getrennt von seiner Seele [d.h. der Gesamtheit von Bewusstsein und Unbewusstsein] existiert, von seinem Leben, seinem Umfeld, seiner Zeit; er ist Indikator und Beweis für etwas Tieferes, für einen Strom, der irgendwo unter dem beleuchteten Fenster des dichterischen Wortes fließt.] (Fischer 1929a: 107f.)

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Die Einführung zu Kleists Studie thematisiert „pregnantní znaky vnitřního neklidu“ [prägnante Zeichen einer inneren Unruhe] (Fischer 1912a: 5). Kleists Dramatik, Kampfgeist und Angriffslust, verkörpert in der ­strengen Form und in sich geschlossenen, aus dem französischen Klassizismus stammenden Einheiten unterscheide ihn von der Unsicherheit, Zersplittertheit, Überforderung, vom Chaotischen der deutschen Denker des 18. Jahrhunderts, wie Hamann, Herder, Jean Paul, aber ebenso von den Vertretern der Romantik. In der Interpretation des kurfürstlichen Urteils im Namen des Gesetzes von Prinz Friedrich von Homburg verwies Fischer darauf, dass „protivou zákona není tu jmenován cit, nýbrž: náhoda. Neběží jen o boj rozumu s vášní, nýbrž o více: o zápas proti náhodě“ [als Gegenspieler zum Gesetz hier nicht das Gefühl genannt wird, sondern: der Zufall. Es geht nicht nur um den Kampf des Verstandes gegen die Leidenschaft, sondern um mehr: um den Wettstreit gegen den Zufall.] (Fischer 1912a: 315). Wie in den Darlegungen zu den Phänomenen der Sinnes-Körperlichkeit, des schicksal­ ramatik haften Konflikts, der Strömung des Lebens9 und im Begriff der D des künstlerischen Ausdrucks thematisiert Fischer hier seinen eigenen ­modernen Standpunkt, die Situation des gegenwärtigen, wenn wir so wollen, „expressionistischen“ Jahrzehnts. In ähnlicher Weise wie in der ­Charakteristik des Ungestümen und der Skepsis Nietzsches als Schwimmen „gegen den Strom“ (Fischer 1913: 1, 7) eröffnet Fischer mit seiner Kleist-Lektüre vor allem in den Fragen seines Guiskard-Torsos zum einen das Problem der Konstruktion des literaturgeschichtlichen Ganzen,10 zum anderen die hermeneutische Situation der modernen Literatur (Sinneinschätzung auf Basis einer diskontinuierlichen Spur von Bedeutungen):11 […] vždyť zde, na základě toho, co se zachovalo, lze si alespoň dohadem utvořiti představu o nenahraditelnosti ztráty […] Tušíme všichni my, komu je drahý Kleistův zjev, že v ­tomto tajuplném dramatu se skrývá cosi, co rozhoduje o celkovém pojímání básníka i jeho díla; zabýváme se tou otázkou v temné předtuše, že, podaří-li se nám ji zdolat, ­nabudeme k celému komplexu kleistovských záhad nového stanoviska, které nám snad umožní pohlédnouti tváří v tvář jednomu z nejtěžších tajemství moderní literatury, že přinutíme

9  „Er liebt, wie es scheint, von allen Naturerscheinungen am meisten den lebendigen Fluss, dem seine Beschreibungen gelten, die charakteristische Bewegung und Fluktuation und den Kampf gegen die Hindernisse des freien Fließens “ (Fischer 1912a: 8). 10  „Obtížněji […] než kdekoli jinde utváří se zde definice či alespoň parafráze matoucího pojmu romantiky“ [Schwieriger […] als anderswo gestaltet sich hier die Definition oder wenigstens die Paraphrasierung des verwirrenden Begriffs der Romantik] (Fischer 1912a: 10). 11  Zu Fischers Konfrontation von Kleist und Nietzsche vgl. Fischer (1911).

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onoho nevyzpytatelného, ‚nevyslovitelného‘, ,nechápaného‘ člověka […], aby uspokojil badatelskou zvídavost. [… hier, auf Grundlage dessen, was erhalten ist, kann man sich doch wenigstens vermutungsweise eine Vorstellung von der Unersetzbarkeit des Verlustes machen […]. Wir alle, denen Kleists Phänomen teuer ist, spüren, dass in diesem geheimnisvollen Drama etwas steckt, das über die Gesamtauffassung des Dichters und seines Werks entscheidet; wir beschäftigen uns mit dieser Frage in der dunklen Vorahnung, dass wir, gelingt es uns ihr beizukommen, einen ganzen Komplex der Rätsel Kleists aus einem neuen Standpunkt betrachten werden, die es uns wohl ermöglichen, von Angesicht zu Angesicht ein schwierigstes Geheimnis der modernen Literatur zu beschauen, dass wir diesen unerforschbaren, ,unaussprechbaren‘, ,unverstandenen‘ Menschen dazu nötigen […], die Neugier der Forscher zu befriedigen.] (Fischer 1913: 9f.)

Als Kritiker widmete Fischer u. a. der Wiener Moderne, vor allem Hofmannsthal und Schnitzler – im Kontext der tschechischen Drucklandschaft die einzige – beständige Aufmerksamkeit (Merhautová 2014: 486-488). Bereits 1906 in der ersten Rezension der Einakter mit Motiven des Puppen- und Marionettenspiels erkannte er die Ambivalenz der dramatischen Zufallssituation und der Unausweichlichkeit als Quellen der Beklommenheit: Schnitzler zná plynulost všech lidských pojmů a úsudkův, a tomuto poznání relativnosti děkuje za svůj původ ta schnitzlerovská ,filosofie gracií‘ [...] Hlavní věcí jest, ze kterého stanoviska na svět se dívati, zda s  hlediska komedie či s  hlediska komediantova, hlavní věcí jest zaujmouti někde pevný bod či vlastně být přesvědčenu, že pevný bod jest nalezen. Hle, básnický pendant k vídeňské škole filosoficko-přírodovědecké: vedle houpačky psychofysické kolísání mezi [...] bděním a snem. [...] Přiznává silným osobnostem [...] schopnost hráti si na strůjce osudu, ale upírá jim k  tomu právo: zahrávání si s  tak nebezpečnou veličinou jako je fatum zle vytrestá obmyslného a odvážného strůjce. [...] Třikráte běda, zpozoruje-li zavěšená figurina nad svou hlavou drát: pak se dostavuje úzkost v duši, pocit odvislosti, hněv a vztek, rebelské zatínání pěstí a bezmocné škubání kolem rtů. [Schnitzler kennt das Fließen aller menschlichen Begriffe und Beurteilungen, und dieser Erkenntnis der Relativität verdankt Schitzlers ‚Grazienphilosophie‘ ihren Ursprung [...]. Das Wichtigste ist, von welchem Standpunkt man die Welt betrachtet, vom Standpunkt der Komödie oder dem des Komödianten, das Wichtigste ist, irgendwo einen festen Punkt auszumachen oder vielmehr davon überzeugt zu sein, einen festen Punkt gefunden zu haben. Siehe, ein dichterisches Pendant zur Wiener philosophisch-naturwissenschaftlichen Schule: neben der psychophysischen Schaukel das Schwanken zwischen [...] Wachen und Träumen. [...] Es gesteht starken Persönlichkeiten [...] die Möglichkeit ein, Erbauer des Schicksals zu spielen, enthält ihm aber das Recht dazu vor: Das Spiel mit einem solch gefährlichen Parameter wie dem Fatum straft den arglistigen und kühnen Erbauer hart. [...] Dreifaches Weh, wenn die an Fäden befestigte Figur dann über ihrem Kopf das Lenkkreuz erblickt: Dann macht sich Beklemmung in der Seele breit, das Gefühl von Abhängigkeit, Ärger und Wut, rebellisches Ballen der Fäuste und ohnmächtiges Zucken der Mundwinkel.] (Fischer 1906a)

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Der Historiker Fischer begann immer wieder von vorn, und seine Vorgehensweise belegt nur, dass die Geschichte keine Methode im üblichen Sinn hat – sein Ansatz ist die unterscheidende Hermeneutik der Individualität des Ausdrucks, durch systematisches Sortieren des Kontextes problematisierte er Modellsituationen, Entwicklungstendenzen, wissenschaftliche ­ Überzeugungen, gegen die wir oft genauso machtlos sind wie die Marionette gegen ihr Lenkkreuz, das sie über sich erblickt hat. Seine historische Vorstellung war eine Vorstellung der Differenz und der dialogischen Partizipation („vzájemné obohacování“ [gegenseitige Bereicherung] von Wissenschaft und ­Literatur zeichnet die Grenze oder das „rozhraní“ [Grenzgebiet], das durch das Spannungsfeld verschiedenartiger Ansichten, Beurteilungen und V ­orstellungen abgesteckt ist; Fischer 1929b). Dort, wo die Historiker seiner Generation Kontinuität vorlegten, bemühte er sich darum, die Bedeutung der Unter-brechung zu verstehen; etwas, das nach Foucault eine Schwelle, einen Bruch, aber ebenso Zufälligkeit und Kontingenz darstellt. Wie waren die „bedenk-lichen Schösslinge“ seines eigenen Ansatzes? Scheinbar am ehesten gerade ein psychologischer, irrationalistischer, allgegenwärtiger Verweis auf den unteren Strom der Seele. Das kann ebenso wie der Bereich des konkreten Sinns in bislang nicht unterschiedenen Bedeutungen verstanden werden. Seine historische Reihe der Ungleichheit formte er im Geist der Verse von Goethe, dem Dichter „unserer“, also seiner eigenen Seele, mit denen er seine Otázky literární psychologie beschloss: „Wär nicht das Auge sonnenhaft / Die Sonne könnt es nie erblicken“ (Fischer 1917: 80, Goethe 1960: 666). Wohl gerade deshalb sind seine Texte immer noch unruhig und in ihrer Kompliziertheit lebendig im Vergleich zu vielen Arbeiten seiner Zeitgenossen, die heute oft eher dokumentarischen Wert haben. (Übersetzt von Daniela Pusch)

Literatur: Cosentino, Annalisa (1996): Ohlasy estetiky Benedetta Croceho v Čechách na počátku 20. století [Resonanzen der Ästhetik Benedetto Croces in Böhmen zu Beginn des 20. Jahrhunderts]. – In: Merhaut, Luboš (Hg.): Světová literárněvědná bohemistika II. Úvahy a studie o české literatuře [Internationale bohemistische Literaturwissenschaft II. Überlegungen und Studien zur tschechischen Literatur]. Praha: Ústav pro českou literaturu AV ČR, 607-613.

„Nicht so leicht in die Augen springend …“

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Cosentino, Annalisa (1999): Realismo scientifico e letteratura. Teoria, critica e storia letteraria ceca /1883–1885/. Roma: Bulzoni Editore. Čapková, Kateřina (2013): Češi, Němci, Židé? Národní identita v Čechách 1918 až 1938 [Tschechen, Deutsche, Juden? Die nationale Identität in Böhmen 1918 bis 1938]. 2. Ausgabe, Praha/Litomyšl: Paseka. Fischer, Otokar (1903): Gerstenberg als Rezensent der Hamburgischen neuen Zeitung 1767–1771. – In: Euphorion 10, Nr. 1-2 (September), 56-76. Fischer, Otokar (1904): Einleitung. – In: H. W. von Gerstenbergs Rezensionen in der Hamburgischen neuen Zeitung 1776–1771, hg. von Otokar Fischer. Berlin: В. Behr, IX-XIV. Fischer, Otokar (1905): Hermann Bahr, Dialog vom Tragischen. – In: Česká mysl [Tschechischer Geist] 6, Nr. 2 (01.03.), 135-137. Fischer, Otokar (1906a): Marionety [Marionetten]. – In: Národní listy 46, Nr. 115 (27.04.), 1 [unterschrieben O–r]. Fischer, Otokar (1906b): O žluté závisti [Vom gelben Neid]. – In: Národní listy [Nationale Blätter] 46, Nr. 274 (05.10.), 1. Fischer, Otokar (1908): Die Träume des Grünen Heinrichs. – In: Prager deutsche Studien. Band 9. Untersuchungen und Quellen zur germanischen und romanischen Philologie. Johann von Kelle. Dargebracht von seinen Kollegen und Schülern. 2. Teil. Prag: C. Bellmann, 289-344. Fischer, Otokar (1909): O nevyslovitelném [Das Unnennbare]. – In: Novina [Der neue Boden] 2, Nr. 8 (26.03.), 229-232; Nr. 9 (09.04.), 275-278; Nr. 10 (23.04.), 308311; Nr. 11 (10.05.), 334-338. Fischer, Otokar (1910a): Déađbéam. – In: Sborník filologický [Philologischer Sammelband] 1, 228-234. Fischer, Otokar (1910b): Das Unnennbare. – In: Das Literarische Echo 12, Nr. 21/22 (01.08.), Sp. 1502-1515. Fischer, Otokar (1911): Nietzsche und Kleist. – In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für die Pädagogik 14, Bd. 37, Nr. 7, August, 506-519. Fischer, Otokar (1912a): Kleist a jeho dílo. [Kleist und sein Werk]. Praha: F. Řivnáč. Fischer, Otokar (1912b): Šovinismus a věda. [Chauvinismus und Wissenschaft]. – In: Přehled [Die Überschau] 11, Nr. 9 (22.11.), 162 [unsigniert]. Fischer, Otokar (1913): Friedrich Nietzsche. (Kurs šestipřednáškový). Literární studie. [Friedrich Nietzsche. Kurs in sechs Vorträgen. Literarische Studien.] Praha: J. Otto. Fischer, Otokar (1916): Kritika [Kritik]. – In: Lumír 44, Nr. 11 (20.10.), 484-490. Fischer, Otokar (1917): Otázky literární psychologie [Fragen der Literaturpsychologie]. Praha: F. Topič.

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Daniel Vojtěch

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Myriam Isabell Richter und Hans-Harald Müller

Der (farben-)blinde Fleck in der Wissenschaftsgeschichte: Otokar Fischer und sein deutsches Werk im germanistischen Kontext1 Wir werden uns im Folgenden auf einen sehr kleinen Ausschnitt des – im Internationalen Germanistenlexikon bedauerlicherweise nicht berücksichtigten – germanistischen Werks von dem bedeutenden Schriftsteller, Dramaturgen, Übersetzer und last, but not least Germanisten Otokar Fischer beschränken. Und wir müssen sogleich hinzufügen: sofern es in deutscher Sprache veröffentlicht ist. Diese Beschränkung bedarf von Seiten der s­päteren Forschung selbstverständlich der Ergänzung und sie ist umso ­bedenklicher, als Fischer über germanistische Themen bekanntlich in deutscher und tschechischer Sprache geschrieben hat. Unser Beitrag besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil werden wir die Korrespondenz zwischen Fischer und August Sauer in wissenschaftshistorischer Hinsicht untersuchen, im zweiten Teil die wissenschaftsgeschichtliche Stellung Fischers in der Germanistik bis zum Ende des ­Ersten Weltkriegs zu bestimmen versuchen, wobei wir uns auch hier auf den Kontext der deutschsprachigen Germanistik der Zeit beschränken – Fischers Stellung in der tschechischen Germanistik hat Milan Tvrdík (2011: 142f.) bereits umrissen. Im dritten Teil werden wir der Korrespondenz oder vielmehr den Korrespondenzen zwischen Fischer und Richard M. M ­ eyer nachgehen und ihre Arbeiten auf dem Gebiet von moderner Ästhetik und Kunstwissenschaft charakterisieren. In diesem Zusammenhang gilt es ­ schließlich, mit der künstlerischen Wahrnehmungsforschung ein Forschungsgebiet zumindest knapp zu skizzieren, das sich – gleichsam hinter dem Rücken unserer Protagonisten und mit einem Höhepunkt in den­ 1920er-Jahren – mit Gesellschaften, Zeitschriften, internationalen Kongressen und im Austausch sowohl zwischen den Disziplinen als auch zwischen Wissenschaft und Kunst einerseits, Wissenschaft und Praxis andererseits zu entwickeln begann.

1  Michal Topor und Štěpán Zbytovský danken wir für die Großzügigkeit, mit der sie unsere Wünsche nach Quellen erfüllt haben. Ohne ihre Hilfe wäre dieser Beitrag nicht entstanden.

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Myriam Isabell Richter und Hans-Harald Müller

1. Otokar Fischers Korrespondenz mit August Sauer Seine Beziehung zu Sauer hat Fischer in einer Grußadresse zu dessen 70. Geburtstag umfassend und genau in einem Satz charakterisiert: Es sei einem in jeglicher Hinsicht abseitsstehenden, wenn nicht der Schule ­entlaufenen Schüler gestattet, seinem weiten Blick und minuziöse Genauigkeit verbindenden hochverehrten Lehrer einen Teil seines tiefgefühlten Dankes abzustatten für die in Kolleg und Seminar, in persönlichem Verkehr und in stilkritischen Übungen empfangenen, unvergesslich reichen und tiefdringenden Anregungen. (Fischer 1925: 9)

Anhand der Korrespondenz mit Sauer lassen sich die entscheidenden Elemente der „Schule“ recht genau umreißen, die Fischer nach seinem Studium an der tschechischen Karl-Ferdinands-Universität bei Sauer durchlief, bevor er ihr entlief: Sie umfasst spiegelbildlich recht getreu das, was Sauer in Scherers ,Schule‘ lernte (Nottscheid 2011) – kognitive Unterweisung in Theorie und Methode der Philologie, eine ethische Auffassung von Wissenschaft und wissenschaftlichem Verhalten sowie der Regelung von Beziehungen zwischen Wissenschaftlern im Allgemeinen und Lehrern und Schülern im Besonderen. Von Bedeutung dürften für Fischer weniger die Lehrveranstaltungen gewesen sein, die er als externer Hörer zwischen dem Wintersemester 1901/02 und 1904/05 bei Sauer besuchte, als vielmehr der persönliche Kontakt, der sich in Sauers Seminar anbahnte und im Zuge der Arbeit an der Dissertation vertiefte. Diese begann vermutlich um 1902,2 wurde während des von Sauer empfohlenen Berliner Studienaufenthalts fortgeführt und 1904 ­abgeschlossen. Von den etwa 70 Korrespondenzstücken3 Sauers an Fischer, von denen viele kurze Stücke rein formeller Natur sind (Glückwünsche, Dankschreiben, vorgedruckte Rezensionsangebote etc.), bezieht sich weit über ein Drittel auf Fischers Dissertation. Sauers Betreuung der Doktorarbeit umfasste vor allem die folgenden Gebiete: 1. Die Vermittlung des Themas. 2. Die Einführung in die Theorie und Methodologie der Arbeit.

2  Im Sommersemester 1902 nahm Fischer an Sauers Seminar „Gerstenbergs Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur 1766/7 (Deutsche Litteraturdenkmale Nr. 29/30)“ teil, aus dem die Dissertation hervorgegangen sein dürfte. Mitteilung von Michal Topor. 3  Das Konvolut der Briefe und Karten stammt aus dem Fonds Otokar Fischer im Literární archiv Památníku národního písemnictví v Praze (LA PNP). Alle im Folgenden nur mit Datum zitierten Briefe stammen aus dieser Quelle.

Der (farben-)blinde Fleck in der Wissenschaftsgeschichte

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3. Die praktische Hilfe bei der Anfertigung der Arbeit, die von der Vermittlung von Bibliothekskontakten bis zu minutiae bei der Einrichtung des Manuskripts reichte, das Sauer mehrfach Kapitel für Kapitel redigierte. 4. Die Vermittlung eines Verlegers und die Hilfe bei der Drucklegung. 5. Die Publikation eines Aufsatzes über das Dissertationsthema in Euphorion (Fischer 1903) mit dem Hinweis auf die bevorstehende Veröffentlichung.4

Wir gehen kurz auf den zweiten Punkt ein, die Unterstützung bei der theoretischen und methodischen Konzeption der Dissertation. Fischer verfolgte mit ihr im Wesentlichen zwei Ziele: Das ehrgeizige Ziel war die ­Bestimmung der literarhistorischen Position Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs als Literaturkritiker in der Epoche zwischen Lessing und Herder; das zweite Ziel, dessen Verfolgung in der Arbeit den bei Weitem größten Umfang einnimmt und mit dessen Hilfe das erste erst recht erreicht werden konnte, war die ­Bestimmung der Autorschaft Gerstenbergs als Verfasser von anonym erschienenen Rezensionen in der Hamburgischen Neuen Zeitung zwischen 1767 bis 1771. Für die Autorschaftsbestimmung gab und gibt es bekanntlich zahlreiche mehr oder minder subtile Verfahren, über die Sauer mit Fischer korrespondierte und für die er Fischer als konzeptionelles Vorbild Wilhelm Scherers Edition der Frankfurter Gelehrten Anzeigen empfahl.5 Die Phase der Betreuung der Arbeit schloss eine Postkarte ab, auf der S­ auer bedauerte, dass Fischer mit seiner Dissertation einem recht ­unangenehmen Rezensenten verfallen sei.6 Die Intensität, die sie während der Dissertation besessen hatte, erreichte die Korrespondenz zwischen Sauer und Fischer nie wieder; bis zu Sauers Tod hielten die beiden ihren Austausch aber aufrecht und bewahrten den sehr freundlichen und persönlichen Ton, den er in dieser Zeit angenommen hatte. Der größte Teil der Briefe Sauers an Fischer bezieht sich auf dessen germanistische Publikationstätigkeit, die Sauer nach Kräften förderte. Das beginnt mit der Aufforderung zur Beteiligung an der KelleFestschrift 19077 und der Öffnung des Euphorion für Fischers Beiträge, die 4  Am 27.03.1903 schrieb Sauer an Fischer: „Mit Ihrem Aufsatz können Sie als mit einer Anfängerarbeit ganz wohl zufrieden sein; jedoch macht Ihnen der nachträgliche Katzenjammer alle Ehre. Es geht einem aber durchs ganze Leben so.“ 5  Sauer an Fischer, Brief o. D. (Poststempel 03.08.1903) aus Weimar. 6  Sauer an Fischer, Karte o. D. (Poststempel 20.08.1904): „Dass Sie dem Silbenklauber Consentius verfallen sind, tut mir leid.“ – Vgl. Consentius (1904) und Fischers Entgegnung in der Deutschen Litteraturzeitung (Fischer 1904; ebd. auch Consentius Duplik). 7  Die von Sauer und Carl von Kraus unterzeichnete, gedruckte Einladung zur Teilnahme an der Kelle-Festschrift versah Sauer mit dem handschriftlichen Zusatz: „Sehr geehrter Herr Dr.! Ich weiß zwar nicht, ob Sie bei Kelle auch gehört haben; aber da auch andere Kollegen

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Myriam Isabell Richter und Hans-Harald Müller

bis zum Ersten Weltkrieg zwölf Rezensionen und vier Aufsätze umfassten, darunter den großen vierteiligen über Mimische Studien zu Heinrich von Kleist (Fischer 1908/09); Sauer setzte sich aber auch bei anderen Zeitschriften8 und Verlagen9 für Fischers Publikationen ein. Er nahm Anteil an Fischers Berliner Aufenthalt, dem er „eine erfreuliche innere und äussere Ausdehnung Ihrer Studien“10 entnehmen zu können glaubte, und er bemühte sich seinerseits, Fischer zu versichern, dass er den modernen Entwicklungen der Literaturwissenschaft aufgeschlossen gegenüberstehe: Ich selbst kann aus meiner Haut nicht mehr heraus; aber von den jungen Leuten verlange ich heute noch ganz anderes als zu Ihrer Zeit. Freilich die philologischen Grundlagen dürfen wir nicht preisgeben; aber erheben muss sich auf ihnen noch ganz Anderes. Ich erlebe jetzt, dass meine gegenwärtigen Ansichten von Lit. Gesch. durch Nadlers grossartiges Buch sich weite Kreise erobern.11

Beim Erscheinen von Fischers Büchern über Kleist (Fischer 1912a)12 und Nietzsche (Fischer 1913) drückte Sauer sein Bedauern darüber aus, dass er tschechische Publikationen nicht lesen könne. Er nahm wahr, dass Fischer sich intellektuell von ihm entfernte, und begrüßte dies anlässlich von Fischers Glückwunsch zu seinem 60. Geburtstag mit den Worten (nicht zuletzt Zarathustras): Ich kann Sie versichern, dass ich Ihre Entwicklung auch dort mit Liebe und Freude verfolge, wo Sie andere Wege betreten als sie uns Angehörigen der älteren Generation gewiesen wurden, eingedenk des Wortes von Nietzsche: Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur sein Schüler bleibt.13

Unseren Überblick über die Briefe an Fischer möchten wir nicht abschließen, ohne auf eine Stellungnahme Sauers hinzuweisen, die nicht allein für seine Beziehung zu Fischer charakteristisch ist, sondern vielleicht auch für seine Einstellung zum ‚Nationalitätenstreit‘. Sauers Schüler Wilhelm Kosch hatte mitarbeiten, die in keinem näheren Verhältnis zu K. stehen, so würde es uns sehr freuen, wenn Sie mit von der Partie wären.“ Diese Einladung ist einer der Belege dafür, dass Sauer seinen deutschnationalen Standpunkt nicht auf den Umgang mit seinen Schülern und Kollegen übertrug; vgl. dazu Krolop (2011: 310). 8  Auf einer Karte vom 02.10.1911 teilte Sauer Fischer mit: „Ich habe [Karl] Glossy geraten, er möchte Sie um einen Kleistaufsatz für die Öst[erreichische] R[undschau] angehen.“ 9  Unter den Briefen Sauers an Fischer finden sich mehrere Empfehlungen an reichsdeutsche Verlage. 10  Sauer an Fischer: 20.08.1904. 11  Sauer an Fischer, Karte o. D. (Poststempel 22.12.1913). 12  Dazu Sauer an Fischer: 05.11.1912. 13  Sauer an Fischer: Oktober 1915.

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im Eichendorff-Kalender für das Jahr 1913 eine heftige Polemik gegen Fischer gerichtet, weil dieser auf dem Titelblatt seiner Guiskard-Studie (Fischer 1912c) seine Herkunft mit der – offiziell korrekten – Bezeichnung „Böhmische Universität“ angegeben hatte. Es gebe, so Kosch, bekanntlich zwei böhmische Universitäten in Prag, eine deutsche und eine tschechische, und Fischer wolle mit seiner Bezeichnung „augenscheinlich andeuten, daß die deutsche Hochschule ein Fremdkörper sei und seine tschechische die bodenständige böhmische darstelle“ (Kosch 1912: 102). Der Brief, in dem Fischer gegenüber Sauer zu dieser Polemik Stellung nahm, ist nicht erhalten, aber Sauer schrieb Fischer am 16. Dezember 1912: Ich hatte den diesjährigen Eichendorffkalender bis jetzt noch nicht angesehen und b ­ edaure wirklich, dass Kosch ganz überflüssiger Weise hier einen Streit vom Zaun gebrochen hat, der auf seiner Seite wohl nur auf ein Missverständnis zurückgeht; denn wenn wir auch die offizielle Bezeichnung bekämpfen, so können wir doch nicht daran rütteln, so lange sie in Geltung ist. Was mich selbst betrifft, so kennen Sie mich zu lange und zu gut, als dass Sie meinen könnten, ich würde dergleichen billigen. Wenn ich auch nur zu oft in die traurigen nationalen Kämpfe mit hineingezogen worden bin, so habe ich doch immer gestrebt, das höhere wissenschaftliche und kulturelle Ziel nie aus dem Aug zu verlieren und habe das Gute überall anerkannt und gefördert, wo es mir entgegengetreten ist, ohne Unterschied der Nationalität. Ihnen aber halte ich mich durch langjähriges freundnachbarliches Zusammenwirken allzu innig verbunden, als dass ich fürchten müsste, unsere Beziehungen könnten durch dergleichen Unüberlegtheiten eines dritten irgendwie getrübt werden.14

2. Otokar Fischers germanistisches Werk in deutscher Sprache bis zum Ersten Weltkrieg Otokar Fischer erhielt bei August Sauer und – während des Berliner Aufenthalts auch bei Erich Schmidt und Gustav Roethe15 – eine ­ausgezeichnete Ausbildung zu einem Germanisten der ‚Scherer-Schule‘. Gustav Roethe, von dem eine Reihe von Korrespondenzstücken an Fischer überliefert sind, erwähnen wir, um darauf hinzuweisen, dass Fischer in Prag und Berlin auch ein intensives altgermanistisches Studium absolvierte, das ihn immerhin 14  Sauer an Fischer: 16.12.1912. 15  Um vorerst nur diese beiden zu nennen; vgl. zu Richard M. Meyer und Otokar Fischer Teil 3 unseres Aufsatzes und zu dem Berlin-Aufenthalt allgemein: Topor (2015).

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dazu befähigte, zwei Aufsätze in den angesehensten Fachzeitschriften zu veröffentlichen, in der Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur (Fischer 1906/07; der Aufsatz ist datiert: Berlin im März 1904) und im Archiv für das Studium der neuen Sprachen und Literaturen (Fischer 1910b) – zweifellos auch ein Indiz dafür, dass er sehr ernsthaft das Ziel verfolgte, die Universitätslaufbahn einzuschlagen. Recht früh aber dürfte Fischer vorgehabt haben, sich gegenüber dem literaturwissenschaftlichen Positivismus neu zu positionieren, wozu aller Anlass schon deshalb bestand, weil der Beginn des 20. Jahrhunderts die Zeit der heftigen Angriffe gegen die – meist allerdings missverstandene – Scherer-Schule im Zeichen der sich herausbildenden Geistes- und Formgeschichte war (Kindt/Müller 2000). Fischer folgte in seiner Loslösung nicht diesen beiden Richtungen des Hauptstroms der Opposition, sondern ging seine eigenen Wege. Ihn lockte es, die innere Entstehungsgeschichte literarischer Werke zu erforschen, die poetische Phantasie, die Einbildungskraft, die Inspiration durch Träume, die spezifisch poetische Wahrnehmung und Verarbeitung visueller, akustischer und ­olfaktorischer Eindrücke. Das Programm, das er in den Arbeiten nach s­ einer Dissertation verfolgte, lässt sich in einem Satz Fischers zusammenfassen: „Ich sehe eine Aufgabe der L ­ iteraturwissenschaft in der Aufdeckung jener psychischen Einflüsse, durch die ein Kunstwerk determiniert wird.“ (Fischer 1911a: 495) Seine Stellung zur als herkömmlich apostrophierten literarhistorischen Methode formulierte er so: Die literarhistorische Methode kommt durch ihre stark ausgeprägten stoffgeschichtlichen, bibliographischen, äussere Einflüsse aufdeckenden Tendenzen dieser Anschauung bereitwillig entgegen. Viele Forscher gehen den dichterischen Erzeugnissen mit biologischen Gesichtspunkten zu Leibe und neigen einer mechanisierenden Auffassung zu. Meiner Meinung nach ist die philologische Methode zwar unerlässlich für den Unterbau der Forschung, einseitig jedoch und unfruchtbar, wenn sie zur Alleinherrscherin wird. Es gilt, heute mehr denn je, die psychologischen Bedingungen der künstlerischen Tätigkeit zu ergründen und die Schöpferkraft von innen heraus zu erfassen. (Fischer 1911a: 496)

Wir berücksichtigen im Folgenden nur die Arbeiten, in denen Fischer sich bemühte, das skizzierte Forschungsprogramm einzulösen; die vereinzelten rein motiv- oder geistesgeschichtlichen (Fischer 1905 bzw. Fischer 1909b) lassen wir außer Betracht. Der erste Hinweis auf Fischers Interesse an der poetischen Funktion von Träumen findet sich in seiner Untersuchung der Träume des Grünen Heinrich in der Kelle-Festschrift (Fischer 1908). Mit der Lyrik Gottfried Kellers hatte Fischer sich schon im Seminar von Erich Schmidt in Berlin beschäftigt (Fischer 1910c: 152); in der Kelle-Festschrift ging er auf die Beziehungen

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von dichterischer Einbildungskraft und Träumen im Allgemeinen und auf die Träume des Grünen Heinrich im Besonderen ein, wobei er ausführlich Sigmund Freuds Traumdeutung heranzog, die, wie er schrieb, „in ihren Grundgedanken und vielen feinen Hinweisen auch für poetische Fragen höchst ersprießlich ist“, wenngleich er die „Verschiedenheit der Interessen der Psychiatrie und der Literaturgeschichte“ (Fischer 1908: 305, Anm. 1) betonte. Auch in dem großen Kleist-Aufsatz, der, sieben Kapitel umfassend, in vier Teilen im Euphorion 1908/09 unter dem Titel Mimische Studien zu Heinrich von Kleist (Fischer 1908/09) erschien, ging es Fischer um eine mit der Wahrnehmung verknüpfte spezifische Art der poetischen Phantasietätigkeit. An zahlreichen Beispielen, insbesondere aus der Familie Schroffenstein und der Penthesilea, zeigte Fischer, dass Kleists Einbildungskraft durchgängig von Situationen ausging, die durch eine charakteristische Mimik bestimmt sind, und stellte die Frage, ob diese Beobachtung „Folgerungen auf die Beschaffenheit seiner schöpferischen Phantasie und seiner dichterischen Wahrnehmungsart überhaupt zulasse“ (Fischer 1908/09: 507). Von d­ ieser Frage schlug Fischer einen Bogen zu Kleists Theorie der Gebärden, deren Kern er im Aufsatz Über das Marionettentheater zu erfassen suchte. Kleist blieb eines der Lebensthemen Fischers, auf das er in seinem Guiskard-Buch (Fischer 1912c), in Übersetzungen16, Aufsätzen und zahlreichen ­Rezensionen immer wieder zurückkam. Die Verbindung zu einem weiteren Lebensthema Fischers, dem Werk Friedrich Nietzsches, dem er als Übersetzer und Literaturwissenschaftler verpflichtet blieb, stellte der Aufsatz Nietzsche und Kleist her, in dem Fischer auf den engen Zusammenhang der Erzählung Über das Marionettentheater und Nietzsches zweiter ‚Unzeitgemäßen ­Betrachtung‘ hinwies, der in der Ablehnung des reflexiven, des historischen Wissens bestehe (Fischer 1911e: 514-517).17 Ein anderes großes Forschungsgebiet, zu dem ihn sein vornehmlich literaturpsychologisches Interesse an der Poetik hinzog, war die „Verbindung 16  Zu Fischers Übersetzung der Penthesilea (Prag 1912) vgl. auch die Hinweise von Novák (1913): „[…] der auch in Deutschland geschätzte Germanist und Kleistforscher Ottokar Fischer hat eifrig für den preußischen […] Dramatiker geworben. Seine beiden Kleistbücher, die vorzügliche Übersetzung der Penthesilea und die großzügige Monographie wurden im Literarischen Echo bereits gestreift“. 17  Kennzeichnend für Fischers Arbeitsweise ist, dass er es nicht bei dem geistes- und ideengeschichtlichen Hinweis bewenden lässt, sondern philologisch wahrscheinlich machen möchte, dass Nietzsche in Schulpforta durch seinen Lehrer, den bedeutenden Literaturhistoriker August Koberstein (der selbst über Kleist publizierte), mit dem Werk Kleists vertraut gemacht worden sei (Fischer 1911e: 509).

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von Farbe und Klang“ (Fischer 1907) in der romantischen Literatur, die im Zuge der Neuromantik auf eine breite Resonanz stieß.18 Dieses Gebiet, das der letzte Teil unseres Beitrags behandelt, steht im Hinblick auf Fischers Konzeption von Poetik in einem systematischen Zusammenhang zu den umrissenen Forschungen zur poetischen Wahrnehmung einerseits und zur Erinnerung andererseits, auf die wir unten zu sprechen kommen.

3. Korrespondenz und Korrespondenzen: Moderne Ästhetik und Kunstforschung bei Otokar Fischer und Richard M. Meyer Unsere zweite Spurenlese anhand der im Fischer-Nachlass befindlichen Korrespondenz erfolgt entlang der zwischen 1903 und 1914 überlieferten Stücke eines Berliner Germanisten: Der 1860 geborene Richard M. Meyer zählt zu den Absendern, die Fischer in der Zeit seines Berliner Aufenthaltes persönlich kennengelernt und als Universitätslehrer erlebt hat. Zu den germanistischen Veranstaltungen, die der Prager Student besuchte,19 gehörten im Wintersemester 1903/04 aus der altgermanistischen Abteilung ­Seminar, Übung und Vorlesung bei Gustav Roethe und aus der n ­ eugermanistischen Vorlesung und Seminar bei Erich Schmidt; ein donnerstags zwischen 17 und 18 Uhr stattfindendes, aufgrund der Beteiligung spektakuläres ­Publikum bei Richard M. Meyer trat hinzu: Dessen Einführung in Lessings Leben und Werke sorgte für über 400 Testate und wurde damit zu einer Veranstaltung

18  Damit lässt sich der Literaturwissenschaftler einordnen in eine diskursiv durch ­Wahrnehmungsforschung einerseits und synästhetisch-künstlerische Praktiken andererseits erzeugte Konzeptualisierung des Synästhetischen seit Ende des 19. Jahrhunderts (Gruß 2017: 110-114; hier: 116): „Sowohl wissenschaftliche Synästhesieforschung wie symbolistische Poetik reanimierten romantische Ideen und speisten sie in den Synästhesiediskurs ein. Vergleiche zwischen Malerei und Dichtung und im Weiteren der ästhetische Diskurs einer Verwandtschaft aller Künste fanden auf diese Weise rückwirkend Eingang in eine Geschichte des Synästhetischen und verknüpften sich mit ihm, so dass die Romantik bis heute als Brutstätte künstlerisch-synästhetischer Entwürfe deklariert wird, die jedoch eigentlich erst die Symbolisten in Auseinandersetzung mit den medizinischphysiologischen Beschreibungen der audition colorée ausarbeiteten.“ 19  Vgl. den Beitrag von Michal Topor.

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mit geradezu „ungewöhnlichen Hörerzahlen“, wie der vortragende Professor selbst in seinen privaten Aufzeichnungen vermerkte.20 Zum Programm eines in Berlin neu angekommenen Studenten der deutschen Philologie gehörten freilich nicht nur universitätsinterne ­Veranstaltungen, sondern Antrittsbesuche genauso wie die Annahme von persönlichen Einladungen im akademischen Umfeld – zur legendären Germanistenkneipe21 etwa oder in die Häuser der Professoren.22 Das Haus in der Voßstraße 16 war eines davon: Hier lud seit 1899 in halbjährigem Abstand der wohlhabende, wenn auch unbesoldete Extraordinarius Richard M. Meyer mit Vorliebe ausländische Studierende zu einer ‚studentisch-­ kosmopolitischen‘ Gesellschaft (Richter 2011: 169). In unmittelbarer Nähe zum Potsdamer Platz führte Meyer hier gemeinsam mit seiner Frau Estella ein ‚offenes Haus‘, in dem die zeitgenössisch durchaus üblichen ‚Formate‘ geselliger Zusammenkünfte arrangiert wurden, die von der ­nahezu täglich stattfindenden Kaffee-Stunde über kleinere Mittag- oder Abendessen und Musikalische Abende bis hin zu Diner- oder Tanz-Gesellschaften mit bis zu 100 Personen reichten. Schrieb Meyer noch im Dezember 1903 an den ihm sicherlich von August Sauer angekündigten Studenten aus Prag: „Ihrem mir in Aussicht gestellten Besuch seh ich, geehrter Herr Fischer, immer noch entgegen“23, erfolgte wenig später schon die Einladung an Fischer und sein „Frl. Schwester“ zum Abendessen „pünctlich um 8 Uhr in kleinem Kreise“24. In seiner Hauschronik vermerkte Meyer zu diesem Abend: „Am 29 Jan. [1904] luden wir auch wieder akademische Jugend, besonders wieder Ausländer; neben Amerikanerinnen, einem Norweger, einem Franzosen glänzte ein Armenier!“25 Dass Fischer dieser Einladung Folge leistete, ist dem Dankschreiben Meyers auf eine Zusendung Fischers während der Semesterferien und den später erneut auszurichtenden Grüßen an Anna Fischer zu entnehmen.26

20  Deutsches Literaturarchiv (DLA) Marbach, Meyer: Hauschronik (Eintrag vom 07.12.1903, Bl. 37r.). 21  Ein komprimierter Überblick zur traditionsreichen Berliner ‚Germanistenkneipe‘ bei Nottscheid/Müller (2011: 117-120). 22  Unter dem Konvolut der Schriftstücke von Gustav Roethe an Fischer beispielsweise befinden sich etliche solcher Einladungen. 23  Meyer an Fischer: 09.12.1903. 24  Meyer an Fischer: 25.01.1904 (Unterstreichung im Original). 25   Meyer: Hauschronik (Eintrag vom 04.02.1904, Bl. 38r.). 26  Meyer an Fischer: 22.04.1904.

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Auch im Sommersemester 1904, in dem Fischer neben Roethe, Schmidt und Max Roediger wiederum bei Meyer hörte, und zwar – abgesehen vom Mittwoch – sogar täglich zwischen 11 und 12 Uhr die Veranstaltung über die Geschichte des deutschen Romans, wurde Fischer für Ende Juni erneut in die Voßstraße gebeten, wieder zu einem Abendessen in „kleinem Kreise“.27 Undatierten Dankschreiben und einer Gratulation vom 17. November 1905 zur bestandenen Promotion folgen in weiten Abständen Karten Meyers, die sich in der Hauptsache auf die gedruckten Schriften Fischers beziehen. Das Korrespondenzverhalten einerseits (soweit der Überlieferung zu trauen ist) wie auch der Umstand, dass Fischer en gros ähnliche Themen, Frage- und Problemstellungen bearbeitete wie Meyer, außerdem die zeitgleiche Publikation wichtiger Aufsätze in denselben Zeitschriften – neben dem literaturgeschichtlichen ,Hausblatt‘ Euphorion u. a. in der seit 1906 erscheinenden Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft – lassen darauf schließen, dass sich die Wissenschaftler weder in einem besonders engen, noch irgendwie erzwungenen und auch nicht in einem abhängigen Lehrer-Schüler-Verhältnis, sondern eher im lockeren Austausch miteinander befanden – kurzum, in einem entspannten Modus eines grundsätzlichen‚ „Verständigtseins“. Hin und wieder zeigt sich ein gewisser Vorsprung oder weiterer Überblick des Älteren, der, schon zeitlich bedingt, auf ­entsprechend breiterer Erfahrung, einer auf verschiedenen Gebieten immensen, kontinuierlich und intensiv betriebenen Sammeltätigkeit28 und längerer ­ Auseinandersetzung mit entsprechenden Themenkomplexen b ­eruhte. So etwa im Jahre 1907, als Meyer nach Erhalt der Studie von Farbe und Klang (Fischer 1907) bekundete, die Ausführungen zum Phänomen des „Doppelempfindens“ hätten ihn „lebhaft interessiert“29. Fischers selbstbewusste Aufforderung an die Zunft, endlich „den Doppelempfindungen in poetischer Hinsicht einen hohen Rang zu[zu]gestehen, der schon längst verdient hätte, auch von seiten der Literaturgeschichte ­eingeschätzt zu werden“ (Fischer 1907: 502), quittierte Meyer jedoch noch im selben Brief mit: „hätte ich davon gewusst, so hätte ich Ihnen noch mancherlei Literatur nachweisen können“. Anlässlich einer im Archiv für das Studium der neuen Sprachen und Literaturen abgedruckten größeren Studie Fischers über ‚Doppelempfindungen‘, diesmal bei E.T.A. Hoffmann (Fischer 1909a), die er später noch bis in die zweite 27  Meyer an Fischer: 23.06.1904. 28   Zu Meyers ‚Sammelwut‘ vgl. Richter (2011: 109-113). 29  Meyer an Fischer: 18.10.1907.

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Hälfte des 19. Jahrhunderts erweitern sollte, sowie seines schon erwähnten Beitrags Die Träume des Grünen Heinrich (Fischer 1908) antwortete Meyer im November 1909: „Ihre Arbeit interessirt mich dreifach: wegen des ­Verfassers, der Person und des Gegenstandes. Auch Ihr Beitrag zur Kelle Festschrift hat mich lebhaft interessirt; ich sandte Ihnen meine Besprech[un]g aus der DLZ, erhielt sie aber wegen mangelnder Adresse zurück.“30 Bei dem Irrläufer handelte es sich um seine in zwei Teilen erschienene Rezension der hochkarätig besetzten Festschrift-Bände in der Deutschen Literaturzeitung. Meyer hatte darin aus dem zweiten, nach seiner Meinung „nicht so bedeutend[en]“ Teil, die „geistreiche Studie“ von Fischer als „bedeutendste“ des Buches hervorgehoben, als deren hervorstechendsten Vorzug er die psychologische Behandlung des Traums im Roman benannte.31 Auch auf die Ausgabe des Litterarischen Echo vom 1. August 1910, die Fischers neuen Artikel Das Unnennbare (Fischer 1910a) mit einer expliziten Bezugnahme auf Meyer brachte,32 reagierte selbiger postwendend und wie in späteren Fällen entwaffnend direkt: „G.[eehrter] H.[err] K[ollege], sehr schön (ich bekomme doch wieder den Sonderabdruck?)“.33 Im Jahre 1911 knüpfte Fischer wieder mit einem Aufsatz im Litterarischen Echo an seine früheren ‚Farbenstudien‘ an. Die einleitenden Worte kommen daher wie ein programmatischer Tusch: „Grau ist alle T ­ heorie. Um so grauer, als eine Anzahl von Fachgelehrten eine Gleichgültigkeit gegen das Gesichtsorgan, eine Art von Farbenblindheit bekundet.“ (Fischer 1911d) Nicht nur das nicht weiter gekennzeichnete Faust-Zitat ruft in diesem Umfeld ­unwillkürlich Goethe auf und dessen Studien Zur Farbenlehre – ein 30  Meyer an Fischer: 19.11.1909. 31  Meyer (1909a: 2844): „Ottokar Fischer handelt (S. 289 f.) über die Träume des Grünen Heinrich mit eindringender Psychologie und kommt dabei über den Traum im Roman überhaupt (S. 300), über die Ironie und den ,Wahltraum‘ d.h. den von dem Dichter beförderten Traum (S. 334) zu wertvollen Ergebnissen. Im Sinne Freuds und seiner Schule (S. 305) versucht er, uns Kellers Träume zu deuten und macht Begriffe, wie den der Traumprüfung (S. 332), Erfahrungen, wie die der Umsetzung von Metaphern in Leben (S. 323 f.) für seine Aufgabe fruchtbar. […]. Sie schliesst die grosse Festgabe würdig ab, deren Darbringung der Nestor der deutschen Philologie in der ältesten deutschen ­Universität nur noch kurze Zeit überleben sollte.“ – Johann von Kelle starb am 30.01.1909. 32  Fischer (1910a: Sp. 1511, Anm. 2): „Die Bedeutung des ‚Unnennbaren‘ für das religiöse Denken soll hier nicht erörtert werden […]. – Für die Partien über den Stil Goethes und Kleist ließ mich die fachmännische Literatur fast gänzlich im Stich; dankbar nenne ich R. Hildebrandts Aufsatz über Fausts Glaubensbekenntnis und R.M. Meyers Ausführungen über die ‚Dumpfheit‘.“ 33  Meyer an Fischer: 27.01.1910.

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unabhängig von der inhaltlichen Bewertung gerade in seinem historischen Teil für die Geschichte der Wissenschaften noch immer wichtiger und musterbildender Text –; jene, von einem ,Wahrnehmungsforscher‘ und Goethe-Kenner wie Fischer konstatierte „Gleichgültigkeit gegen das Gesichtsorgan“ richtet sich vor allem gegen eine „Kunst, die Dinge, die da sind, so zu sehen, wie sie sind“, die Goethe als „Dichter, dem das Sehen Vorbedingung und Wesen aller Dichtung war“ (Meyer 1894: 161; 164), zu perfektionieren versuchte. Im Umkehrschluss scheint damit die alte (rhetorische?) Frage gestellt, ob Gelehrsamkeit, ob Fachwissen, ja vielleicht Wissenschaft an sich womöglich den Blick auf Phänomene der sinnlich erfahrbaren Welt verstelle und entsprechend ‚farbenblind‘ mache. Fischers Antwort hätte folgerichtig ein entschiedenes: ‚Sinnvoll praktiziert natürlich nicht!‘ sein müssen, unternahm er doch immer wieder erneute Versuche, Phänomenen sinnlicher Erfahrung und Wahrnehmung, Phantasie, Erinnerung und anderen poetologischen Elementen gerade in Anwendung neuer wissenschaftlicher Methoden und Praxis ihr Geheimnis zu entlocken – und war mit diesem Forschungsinteresse keineswegs allein. Wie oben erwähnt, veröffentlichte auch Meyer seit ihrem Bestehen regelmäßig in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft – neben einer erklecklichen Anzahl von Rezensionen solche Artikel, die sich insbesondere der Psychologie künstlerischer Schaffensprozesse, dem ­Auffinden und der Wirksamkeit der in ihnen waltenden Regeln, den Grenzen der ­Phantasie und überhaupt dem Thema der Bewert- und Vergleichbarkeit von Kunstwerken allgemein widmen. Wie manch andere Germanisten, Romanisten und Anglisten trieb Meyer in unterschiedlichen Kontexten um, was spätestens seit Anfang der 1890er-Jahre in den verschiedenen sprachlichen und seit der Jahrhundertwende vermehrt auch in den sich rasant konstituierenden experimentell und mit Instrumenten verfahrenden Disziplinen wie der Experimentalpsychologie oder -phonetik untersucht wurde: Phänomene wie ,Sprachton‘ und ,Sprachmelodie‘,34 ,Lautsprachliches‘ und ­,Klangmalerei‘ (Meyer 1907a; 1908; 1909c; 1914a). Sein bahnbrechender Vortrag über den George-Kreis, Ein neuer Dichterkreis, erschien 1897 in den Preußischen Jahrbüchern; darin hatte Meyer u. a. der Kunst des durchgestalteten, musikalischen Wohlklangs und Rhythmus sowie den „Geheimnisse[n] 34  Die Themen waren gleichsam in der Luft, als Fischer nach Berlin kam; kurz bevor er zum ersten Mal in der Voßstraße 16 zu Gast war, vermerkte Meyer für den 2. Januar 1904 den Besuch von zwei prominenten Vertretern germanistischer Laut- und Sprachphysiologie, „Prof. Sievers aus Leipzig mit Dr Sütterlin aus Heidelberg […] und alle Welt disputirte über ‚Sprachton‘ und ‚Sprachmelodie‘“ (Meyer: Hauschronik, Eintrag vom 04.02.1904, Bl. 38r.).

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der „­audition colorée“ nachgespürt, sprich: der „Verbindung bestimmter Klänge mit bestimmten Farbenvorstellungen“ (Meyer 1897: 38). In diesen Zusammenhang gehört auch seine methodologische Untersuchung Über das Verständnis von Kunstwerken (Meyer 1901b), die ungefähr in ­demselben Zeitraum erschien wie seine umfangreiche philologisch-historische Sammlung und systematische Untersuchung über sogenannte ­ ­ Künstliche Sprachen (Meyer 1901a: 52). Ursprünglich für eine Sektion auf der 45. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner 1899 in Bremen konzipiert, hielt Meyer jenen Vortrag im Frühsommer 1900 wohl nicht von ­ungefähr vor der Psychologischen Gesellschaft in Berlin,35 unter dem Vorsitz von Max ­Dessoir, dem nachmaligen Herausgeber der Zeitschrift für Ästhetik und ­allgemeine Kunstwissenschaft sowie Mitbegründer der 1908 in Berlin gegründeten Vereinigung für ästhetische Forschung. Ihr Zweck sollte sein, „durch Vorträge und m ­ ündlichen Gedankenaustausch zwischen Vertretern philosophischer, historischer, ethnologischer und naturwissenschaftlicher Kunstforschung sowie theoretisch interessierten Künstlern die Anschauungen über Wesen und Aufgaben der Kunst und der einzelnen Künste zu vereinheitlichen und zu vertiefen“ (Kongress für Ästhetik 1914: 1). Zwar war Meyer nicht Mitglied dieser Vereinigung, stand aber mit ihr allein schon als regelmäßiger ­Beiträger der Zeitschrift im produktiven Austausch und veröffentlichte in ihrem ­ Sinne, 1909 beispielsweise – etwa zeitgleich zu den Überlegungen Otokar Fischers über ‚Doppelempfindungen‘ – in einer anderen Fachzeitschrift die ­typologische Untersuchung: Die Poesie unter den bildenden Künsten (Meyer 1909b). Die Vereinigung für ästhetische Forschung war es schließlich auch, die im Oktober 1913 den ersten Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft in Berlin ausrichtete (Bernhard 2010), bei dem Fischer als Referent, Meyer bloß als Teilnehmer anwesend war. Erst im Nachgang verfasste auch Meyer in der nächsten Zeitschrift für Ästhetik und Kunstwissenschaft einen wichtigen Beitrag zur Verteidigung eines mit Augenmaß verstandenen ‚Biographismus‘; eine direkte Reaktion auf die Diskussionen des Kongresses (Meyer 1914a; Kindt/Müller 2001). Ein anderer Kongressteilnehmer, der Hamburger Psychologe und Ästhetiker Georg Anschütz, stellte zehn Jahre später auf dem zweiten ­ Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft in Halle (1924) seine Überlegungen zu den Beziehungen zwischen den verschiedenen Sinnesgebieten vor. Mit den ersten großen Farbe-Ton-Kongressen, 35  Meyer: Hauschronik (Eintrag vom 29.07.1899; Bl. 19r.) – Genaueres hierzu im Briefwechsel zwischen Meyer und Fritz Mauthner in: Müller/Richter (2001: 357).

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die 1927, 1930, 1933 und 1936 in Hamburg stattfanden (Anschütz 1936; Jewanski 1999: 13f.; Gruß 2017: 174-214), unternahm Anschütz kurz darauf den Versuch, Synästhesie-Forschung auf eine systematische Grundlage zu stellen. Damit führte er zu einem vorläufigen Höhepunkt, was in konzentrierter Form 20 Jahre zuvor u. a. mit Fischers Aufsatz begann: Über die Verbindung von Farbe und Klang markiert so nicht nur den Auftakt zu Fischers eigenen synästhetischen ­ Arbeiten, ­ sondern einen Beginn professioneller, literaturgeschichtlicher Beschäftigung mit jenen ,Doppelempfindungen‘.36 Um die poetische Bedeutung der Synästhesie zu erfassen, hatte Fischer eine „Geschichte der Anschauungs- und Empfindungsweise“ (Fischer 1907: 505), eine „Geschichte von Wahrnehmungen“ für erforderlich gehalten, „die in dieser Beziehung von der Ausdrucksart neuerer Dichter in die Zeit der Romantik zurückreicht“ (Fischer 1907: 506). Es wird einen eigenen Abschnitt in einer ‚Geschichte der Doppelempfindungen‘ erfordern, nachzuweisen, wie es in der Romantik von tönenden Farben und ­leuchtenden Klängen schwirrt und wie die einzelnen Wendungen in näherer oder weiterer V ­ erwandtschaft zu Tieck und zu irgend einem seiner Lehrmeister stehen. Weder Wackenroder noch Novalis bleiben von der Mode völlig unberührt; Arnim und Brentano übernahmen gleichfalls die Tieckschen Formeln; Graf Loebens Phantasie ward von Boehme-Tieckschen Symbolen angeregt und wirkte vorbildlich auf die Farbenseligkeit Eichendorffs; und die romantischen Anregungen haben dann in E. T. A. Hoffmanns Sprache Bilder von großartiger Kraft und Offenbarung erstrahlen lassen. (Fischer 1907: 534) 36  Der österreichische Psychologe Albert Wellek, einer der Mitbegründer der modernen Musikpsychologie und selbst Vortragender auf dem ersten Farbe-Ton-Kongress (über Die Urgeschichte der Synästhesie und ihre Ausbreitung im älteren Geistesleben), wertete Fischers Untersuchung (Fischer 1907) in seinem ausführlichen Kongress-Bericht in der Zeitschrift für Musikwissenschaft als Pioniertat (zumindest innerhalb der literaturhistorischen Forschung): „Als Otokar Fischer vor […] 20 Jahren als erster Literarhistoriker sich mit dem Doppelempfinden ernstlich zu beschäftigen begann, formulierte er seine Fragestellung auf Grund der älteren Theorien von der Annahme aus, daß eigentliche Synästhesien nur die Doppelempfindungen als absolute Sinnesrealitäten seien. […] Seither haben sich in der psychologischen Forschung ganz andere Anschauungen durchgesetzt, und insbesondere hat sie zuletzt durch Anschütz eine entscheidende Wendung nach der analytischen Seite hin erfahren: zur Systematisierung eines mit strenger experimentalpsychologischer Methode festgelegten Riesenmaterials. Allein, ebenso wie Fischers Frage nach der sinnlichen Realität oder Irrealität der Sekundärempfindungen […] durch die zeitliche Entrücktheit nicht mehr lösbar ist: so ist auch Anschützs analytisches Verfahren durchaus nur statisch, nur in der Gegenwart anwendbar, d.h. von der Zeit an, wo experimentell überprüftes ‚Material‘ vorliegt“. (Wellek 1926/27: 579f.; Hervorhebungen im Original gesperrt). – Der Verfasser, Jahrgang 1904, hatte zu diesem Zeitpunkt seine Wiener Dissertation über die Wahrnehmung von Musik noch nicht abgeschlossen; voran ging ein Studium der Musik, neuerer Literaturwissenschaft und Philologie in Prag (Jewanski 1995).

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Als eng verknüpft mit dem Problem einer poetischen Darstellung von Wahrnehmung betrachtete Fischer das der Erinnerung, dem er 1911 auf dem Internationalen Kongress für Philosophie einen großen Beitrag widmete. An der Umsetzung des seelischen Vorgangs der Erinnerung in einen poetischen Bericht über diesen Vorgang interessierten Fischer vor allem zwei Phänomene: die eigentliche, treu aufbewahrende und wiedergebende Erinnerung und die sogenannte Erinnerungstäuschung (Fischer 1911a: 492)37. Das erste Problem untersuchte Fischer – u. a. in Erweiterung zu Meyer38 – im Kontext einer Fallstudie zu Storm, für dessen literarische Produktion die Erinnerung nicht allein „Triebfeder“, sondern auch „Hemmnis“ gewesen sei.39 Die Erinnerungstäuschung, die „fausse reconnaissance“ untersuchte Fischer vor allem als das „déjà vu“ oder „déjà vécu“ „in Verbindung mit dem für Poesie, Philosophie und Mythus so überaus bedeutsamen Glauben seis an die Anamnese, seis an die Seelenwanderung, seis an die Wiederkunft der Welten“ (Fischer 1911a: 495). Diesem Phänomen widmete Fischer eine eigene Untersuchung über die Literatur des 19. Jahrhunderts – von Iwan Gontscharow bis zu Arthur Schnitzler –, die mit dem Versuch eines philologischen Nachweises endete, dass Nietzsches Theorie von der ewigen Wiederkunft des Gleichen durch das Erlebnis einer „fausse reconnaissance“ des déjà vu „mit bedingt und zugleich gefärbt war“ (Fischer 1911c ). Auch hier gibt es Überschneidungen zu Meyers Forschungen im Schnittpunkt von Religionsgeschichte, Mythologie und Philologie. ­ Friedrich Nietzsche gehörte seit Mitte der 1880er-Jahre zu einem von Meyer ­ ­kontinuierlich bearbeiteten Forschungsfeld, das schließlich 1913 in die erste Nietzsche-Biographie eines Nicht-Philosophen mündete (Meyer 1913; Müller/­Richter 2001; Richter 2010: 197-199). Dem Philosophen und philologisch ausgebildeten Schriftsteller Nietzsche trat Meyer mit Augenmaß und ­philologisch-historischer Methode gegenüber. Gemäß seinem p ­ rofessionellen Interesse faszinierten ihn Nietzsches Sprache, der Rhythmus seiner Prosa, die von ihm geübte Sprach- und Wissenschaftskritik, die Großartigkeit des 37  Erweitert wurde der Storm-Teil in der Fassung des Aufsatzes im Litterarischen Echo (Fischer 1911b). 38  Fischer (1911a: 492), bezogen auf Storm: „Die retrospektive Art seiner Phantasie und Dichtung ist wohl noch stärker zu betonen, als es (z. B. in einem geistreichen Kapitel von R. M. Meyers Literaturgeschichte) geschehen ist.“ 39  Fischer (1911a: 493f.): „Das Erinnern war nicht nur die Triebfeder, sondern auch das Hemmnis von Storms Gestaltungskraft; nicht nur der Fluch einiger von ihm g­ eschilderter Personen, sondern auch die Gefahr seiner eigenen Produktion, die, der Freiheit des ­Traumes bar, nicht von genügend starker Umwertungskraft geprägt ward.“

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Entwurfs einer Religion (im und durch Zarathustra) und die Originalität seiner Schlagworte. Das Dogma der ‚ewigen Wiederkehr‘ dechiffrierte Meyer als unmittelbar glaubensmäßig wirkendes Element, mit dem ­Nietzsche als ‚Religionsstifter‘ seine ‚Religion‘ habe ausstatten müssen. Neben den Plan einer Biographie (gefasst noch zu Lebzeiten Nietzsches) trat früh schon das Vorhaben – das jedoch nur in Ansätzen auch ausgeführt wurde (Meyer 1914b) –, ein Nietzsche-Wörterbuch zu schreiben, das den Prozess von ­Nietzsches Wortbildungen nachvollziehen sollte. Um noch einmal an den oben zitierten Einstieg zu Fischers Farbenstudien anzuschließen, der sich gegen einen bestimmten „Typus von Fachgelehrten“ wandte: Der heiße Kern der Fragen, die ihn bewegten, lässt sich vielleicht in keinem Aufsatz so deutlich und ungeschützt finden wie in seinem Aufsatz Über den Anteil des künstlerischen Instinkts an literarhistorischer Forschung (Fischer 1914), seinem Kongress-Beitrag, von dem sich Meyer übrigens ebenfalls brieflich einen Sonderdruck erbat40. In diesem „Beitrag zur Psychologie und Methodik der Forschung“ (Fischer 1914: 107) geht es Fischer weniger um die landläufige Kontrastierung von schöpferischem Instinkt und ordnender literarhistorischer Forschung als um die Differenzierung der Gegensätze. So sieht er das Bild des Literarhistorikers nicht allein bestimmt durch die philologischen Kardinaltugenden wie „gewissenhafte Akribie und peinliches Ordnunghaltenwissen“: „[H]inzu tritt ein Wagemut und eine ­Entdeckerfreude, von denen nur die Eingeweihten zu reden wissen, es gibt eine Lust[,] Rätsel zu raten, eine Fähigkeit, neue Probleme zu sehen, eine Begeisterung, wissenschaftliches Neuland zu betreten, von denen sich ein Dichter nichts träumen lässt“ (Fischer 1914: 98). Erst wenn erkannt ist, dass sich „ein Genius niemals ohne Mithilfe der Divination erfassen“ lässt, erschließt sich die „wahre Antinomie in dem Berufe eines Literarhistorikers“: „[E]r liebe die Wahrheit, er strebe objektiver Darstellungsweise zu und erhebe sich über das individuell gegebene und persönlich gefärbte zum Beweisfähigen, ­Beglaubigten, Allgemeingültigen, er sei Forscher; und zugleich: er v­ersenke sich in seine Probleme liebevoll nachschaffend, anempfindend, ahnend und fühlend, er sei Künstler!“ (Fischer 1914: 100) Das Künstlertum mache die heuristische Stärke des Literarhistorikers aus, der in seiner Darlegung zu objektiver Begründung verpflichtet sei: „[E]in Forscher sei Künstler; er gebrauche sein Ahnungsvermögen, lasse sich von ihm Wege weisen, die er durch strenges Nachprüfen an der Hand von Tatsachen zu kontrollieren hat“ (Fischer 1914: 107). Ähnlich schon hatte Meyer 1901 für eine Art 40  Meyer an Fischer: 16.01.1914.

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Propädeutikum plädiert: eine reine Anschauung, die sich zum intensiven Miterleben steigert und schließlich erst das Einfühlen in das Kunstwerk ermöglicht (Meyer 1901b: 379).

Ausblick Unsere Ausführungen sind ein Anfang, Otokar Fischers germanistisches Werk bis zum Ersten Weltkrieg in einen erweiterten wissenschaftsgeschichtlichen Kontext zu stellen, der gerade im Hinblick auf die Verortung seiner innovativen Forschungen zur poetischen Wahrnehmung und zur Erinnerung um vergleichende Studien und weitere Disziplinen zu ergänzen wäre. Die vorläufige Rekonstruktion der hier ausgewählten persönlichen und wissenschaftlichen ‚Korrespondenzen‘ beruht zunächst auf einer ausschnitthaften Einsichtnahme in die umfängliche briefliche Hinterlassenschaft und einer Art synoptischem Werkumriss anhand einer vertieften Titellese. Wir ­wollten darauf aufmerksam machen, dass Fischers Werk nicht allein durch sein literarhistorisches Forschungsprofil auch für die deutschsprachige Germanistik von großem Interesse ist. Dasselbe gilt darüber hinaus für seine noch schärfer zu konturierende wissenschaftshistorische Position als Vertreter einer jüngeren Generation, die im Vergleich zu den inzwischen etablierten Fachvertretern, zu denen Sauer und Meyer zu zählen sind, erst während oder nach Abschluss der ‚Konstituierungsphase‘ des Faches neuere deutsche Literaturgeschichte bzw. -wissenschaft studierte. Als ein solcher Vertreter ‚modernisierte‘ und erweiterte Fischer einerseits den Fragenkreis und die Methoden gegenüber der Literaturwissenschaft des 19. Jahrhunderts erheblich, teilte aber nie die deutsche Fundamentalopposition der Geistesgeschichte gegen ein Phantom des literaturwissenschaftlichen Positivismus (das allein schon Meyers, hier in Ansätzen skizziertes, breites Forschungsspektrum ad absurdum führt). Fischer war weniger an solchen typologischen Konstruktionen als an einer empirischen ‚Psychologie der literarhistorischen Forschung‘ interessiert, vor deren Hintergrund er die Problematik des Literaturwissenschaftlers seiner Zeit so charakterisierte: An die Scheide zwischen Geschichte und Philologie, zwischen Psychologie und Ästhetik, zwischen Einst und Jetzt gestellt, unternehmen wir Streifzüge in fremde Literaturen, ob wir uns nun von vergleichenden Gesichtspunkten leiten lassen, oder – ich spreche pro domo mea – im Gegensatze befinden zwischen unserer Muttersprache und der Sprache unseres

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Forschungsgebietes. Dazu tritt nun der schmerzlichste Zwiespalt, die Forderung, auf der Hut zu sein vor sich selbst, vor seinem eigensten Ich, vor den tief eingeborenen Instinkten, auf daß sie nicht überwuchern, nicht unseren Forscherblick trüben und unseren Wissensdurst ersticken. (Fischer 1914: 101)

Archivquellen LA PNP Praha [Sauer an Fischer] Nachlass Otokar Fischer: Empfangene Korrespondenz, August Sauer an Otokar Fischer [Meyer an Fischer] Nachlass Otokar Fischer: Empfangene Korrespondenz, Richard M. Meyer an Otokar Fischer DLA Marbach Meyer, Richard M.: Hauschronik (1889–1914) – D: Meyer

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Myriam Isabell Richter und Hans-Harald Müller

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Irina Wutsdorff

Otokar Fischer und der Prager Linguistische Zirkel. Zu konzeptionellen Korrespondenzen zwischen Fischers „Unnennbarem“ und Mukařovskýs „semantischer Geste“ Die im Prager Linguistischen Zirkel (im folgenden: PLK) entstandenen Ansätze nicht nur zur ­Linguistik, sondern auch zur Literaturtheorie und -analyse sowie zur ­ allgemeinen Ästhetik stellten zu Fischers Wirkungszeit einen gewichtigen, aber auch noch umstrittenen methodologischen Beitrag dar. Davon, dass Fischer diesen wahrnahm und sich mit ihm auseinandersetzte, zeugen seine Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Zirkel. Ab 1929 trat er dort mehrfach mit Vorträgen in Erscheinung, die anfangs nicht auf sein germanistisches Fachgebiet bezogen waren, sondern tschechischen Dichtern galten,1 bevor er nach einer längeren Pause am 25. Mai 1936 einen mit 67 Zuhörern ­äußerst gut besuchten Vortrag zum Thema „Symbol matek v Goethově Faustu“ [Das Symbol der Mütter in Goethes Faust] hielt.2 Er selbst kam insbesondere zu Vorträgen, die in sein eigenes Interessengebiet fielen, die also entweder literaturhistorisch orientiert waren oder Dichter behandelten, mit denen er sich selbst auch beschäftigte. Darunter waren zum Beispiel der m ­ ethodologische Vortrag Jurij Tynjanovs „Problema literaturnoj ėvoljucii“ [Das Problem der literarischen Evolution] vom 16. Dezember 1928,3 der zweiteilige Vortrag Jan Mukařovskýs am 13. Februar und 1  Im Einzelnen sprach Fischer am 11.01.1929 „O rýmech Březinových“ [Über Březinas ­Reime], am 08.11.1929 „O znělce Kollárově“ [Über Kollárs Sonnett], am 16.10.1930 zu „Erbenova Kytice“ [Erbens Kytice [Blumenstrauß]] und am 04.01.1932 zu Čelakovskýs Ohlas písní ruských [Widerhall Russischer Lieder]. Diese Angaben entnehme ich wie alle weiteren bezüglich Fischers Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Prager Linguistischen Zirkel dem Dokumentationsband von Čermák/Poeta/Čermák (2012). 2  Dem war ein erster germanistischer Vortrag über Konrad Wallenrod am 04.05.1931 vorangegangen. 3  Laut den von Čermák/Poeta/Čermák (2012: 578-680) zusammengestellten „Přepisy vybraných dokumentů z Fondu“ [Abschriften ausgewählter Dokumente des Archivfonds] ist diese Sitzung des Prager Linguistischen Zirkels im Dezember 1928 die erste, an der Fischer teilnahm, bevor er dann gleich am 11.01. die Vortragsreihe des folgenden Jahres mit seinem Debut vor diesem Forum zu Březina eröffnete (s. Anm. 1).

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5. März 1931 „Semantika básnické řeči Březinovy“ [Die Semantik der dichterischen Rede Březinas], über den Fischer (1931) in der Tageszeitung Lidové noviny [Volkszeitung] berichtete,4 sowie der ebenfalls sehr gut besuchte Vortrag František Xaver Šaldas „Máchova ­próza“ [Máchas Prosa] am 16. November 1936.5 Als Übersetzer interessierten ihn auch Pavel Eisners Ausführungen „Zrození básnického překladu“ [Die ­Entstehung einer dichterischen Übersetzung] am 31. Mai 1931, an deren D ­ iskussion er sich laut Protokoll lebhaft beteiligte. Als der Prager Linguistische Zirkel im Dezember 1930 im Zusammenhang mit der offiziellen Registrierung eine Satzung6 verabschiedete, war Fischer unter den Gründungsmitgliedern und gehörte über mehrere Jahre dem Schiedsgericht an. Den Stellenwert, den die jüngeren, im Aufbruch befindlichen Philologen des Prager Zirkels dem universitär etablierten Germanisten, Literaturkritiker und -übersetzer Fischer beimaßen,7 zeigt nicht zuletzt die posthume Aufnahme eines Beitrags von ihm in den von Jan Mukařovský anlässlich von Máchas 100. Todestag 1936 herausgegebenen berühmten Sammelband Torso a tajemství Máchova díla [Torso und Geheimnis des Máchaschen Werks] (Mukařovský 1938). Als ‚Sborník pojednání Pražského linguistického kroužku‘ [Sammlung von Abhandlungen des Prager Linguistischen Kreises], wie der Untertitel lautet, sollte er die Methodik des Prager literaturwissenschaftlichen Strukturalismus bewusst am Beispiel des „největší[…] básník[…] českého romantismu“ [größten Dichters der tschechischen Romantik] (Mukařovský 1938: 10) manifestieren, indem er Beiträge der Mitglieder des Kreises präsentiert, bei denen sich „souběžnost metodického zaměření autorů“ [eine Parallelität der

4  Für die Lidové noviny hatte Fischer (1930) auch über einen am 25.03.1930 veranstalteten Abend zu Masaryk berichtet, bei dem Jakobson und Mukařovský über „Jazykové problémy v Masarykově díle – Masaryk jako stylista“ [Sprachliche Probleme in Masaryks Werk – Masaryk als Stilist] gesprochen hatten. 5  Als Zuhörer zugegen war Fischer auch bei Vojtěch Jiráts Vortrag am 26.03.1931 „O Máchově rýmu“ [Über Máchas Reim]. 6  Die Satzung des Prager Linguistischen Zirkels findet sich in tschechischer Sprache ­abgedruckt bei Vachek (1999: 93-98), außerdem bei Toman (2011: 280-282), in englischer Übersetzung Toman (1995: 263-265) (zitiert nach: Čermák/Poeta/Čermák 2012: 361f., Anm. 38). 7  Zeugnis der wechselseitigen Beziehungen sind auch im Archiv des Památník národního písemnictví erhaltene Korrespondenzen zwischen Fischer einerseits und Roman Jakobson, Bohumil sowie Vilém Mathesius, Jan Mukařovský bzw. René Wellek andererseits (LA PNP, Nachlass Otokar Fischer). Für diesen Hinweis danke ich Michal Topor.

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methodischen Ausrichtung] (Mukařovský 1938: 10) erkennen lasse.8 Post mortem wird Fischer hier also nicht nur als Mitglied, welches er in der Tat war, sondern auch als Vertreter des Prager Strukturalismus gehandelt. Folgt man Herta Schmid in ihrem Bemühen um eine sehr strikte ­Eingrenzung der Methode der Prager Schule, so ist diese Vereinnahmung nicht unbedingt gerechtfertigt. Schon ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis zeigt ein Ungleichgewicht: Vor allem im Vergleich zu den äußerst ­umfangreichen 8  Herta Schmid hat in einer detaillierten Lektüre des Bandes diese im Vorwort proklamierte Homogenität der Beiträge zu Recht infrage gestellt. Mit Blick auf die weitere Entwicklung rechnet sie den Band zu den Anfangsdokumenten der sich erst herauskristallisierenden Prager Schule, insofern sich „[d]er Prager Kreis […] hier noch als eine viele Methodenrichtungen integrierende, neue Schule der Literaturwissenschaft“ anmelde, die sich noch in der „Phase der Suche nach methodologischer Bestimmtheit“ befinde. (Schmid 2000: 195f.) Gewisse Unsicherheiten bezüglich des Artikels von Fischer scheint es allerdings tatsächlich gegeben zu haben. Im Protokoll der Ausschusssitzung des PLK vom 07.04.1936 heißt es unter Punkt 5): „Máchův sborník. Dosud jsou dodány 4 rukopisy. Prof. Fischer snad članek nepošle.“ [Mácha-Band. Bisher sind 4 Manuskripte eingereicht. Prof. Fischer schickt seinen Artikel vielleicht nicht.]; im Protokoll der Ausschusssitzung vom 27.04.1936 unter Punkt 7) sogar: „Máchův sborník. Místo prof. Fischera napíše stať o dramatech M. prof. Wollman.“ [Mácha-Band. Anstelle von Prof. Fischer schreibt Prof. Wollman den Artikel über M. Dramen.] (Čermák/Poeta/Čermák 2012: 654f.) Roman Jakobson schreibt dem „verehrten Freund“ („Vážený příteli“) Fischer zu diesem Thema (LA PNP, Nachlass Otokar Fischer): „Ohledně Máchy píši Vám na vlastní pěst (rediguje sborník Mukařovský a ten je v Písku, ul. Jiřího z Poděbrad 5) – stačí stručná zhuštěná ,Fragestellung‘ a stačí odevzdáte-li čl. 1. září.“ [Bezüglich Mácha schreibe ich Ihnen auf eigene Faust (den Band redigiert Mukařovský und der ist in Písek, ul. Jiřího z Poděbradu 5) – es reicht eine knappe, verdichtete „Fragestellung“ und es reicht, wenn Sie den Art. am 1. September abgeben.] Der Brief ist ohne Jahresangabe auf den 27. VII. datiert. Aufgrund der abschließenden Bemerkung „Čteme dychtivě o Španělsku,“ [Wir lesen begierig über Spanien,] und der zu der Zeit noch laufenden Arbeiten an dem Mácha-Band kann davon ausgegangen werden, dass es sich um das Jahr 1936 handelt. Während Roman Jakobson mit Otokar Fischer offenbar einen vertrauten und ­freundschaftlichen Umgang pflegte, sind die beiden einzigen erhaltenen von Jan Mukařovský an ihn adressierten Schriftstücke von einem äußerst formellen Ton geprägt. Es handelt sich um ein Glückwunschtelegramm von 1933 sowie um eine Karte, auf der Mukařovský in hochachtungsvoller Formulierung seinen Dank bekundet (LA PNP, ­Nachlass Otokar Fischer): „Vážený pane profesore, Prosím, abyste přijal mé upřímné díky za Svůj laskavý zásah do jednání o mém navržení na Pražskou fakultu, zásah, který mi byl tím dražší, že vycházel od umělce i Němce zároveň. V upřímné úctě J. Mukařovsky´“ [Geehrter Herr Professor, Ich bitte Sie, meinen aufrichtigen Dank für Ihr ­freundliches Eingreifen in die Verhandlungen über meinen Vorschlag für die Prager Fakultät entgegenzunehmen, ein Eingreifen, das mir umso teurer war, als es von einem Künstler und Deutschen zugleich kam. In aufrichtiger Verehrung J. Mukařovský].

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Studien Mukařovskýs (1938: 13-110) Genetika smyslu v Máchově poesii [Genetik des Sinns in Máchas Poesie] (98 Seiten) und Jakobsons (1938: 207-278) K popisu Máchova verše [Zur Beschreibung von Máchas Vers] (70 Seiten), aber auch Čyževs’kyj (1938: 111-180) K Máchovu světovému ­názoru [Zu Máchas Weltanschauung] (69 Seiten) sind Fischers ­Ausführungen mit nur sechs Seiten sehr kurz. Sie gelten Zügen des Dramatischen in Máchas Máj, die Fischer in der teilweise bühnenartigen Präsentation der Handlung ­erkennt und auf einen „antithetick[ý] duch[…]“ [antithetischen Geist] (Fischer 1938: 206) zurückführt. Aufgrund dieser „Auflösung des gattungsgebundenen Begriffs der Dramatik in eine psychologische Begrifflichkeit“ attestiert Schmid Fischer einen „nicht strukturalistischen Umgang mit ­literarischen Werken“, dem „Einzelmerkmale der literarischen Werke […] zu Symptomzeichen der vermuteten Autorpsychologie [geraten]“, bei dem „der poetologische Zusammenhang dieser und der übrigen Stilmerkmale des dichterischen Werks […] sich jedoch aus den Augen [verliert].“ (Schmid 2000: 208) Um dennoch der Frage nach möglichen Affinitäten inhaltlich-­ methodischer Art zwischen Fischer und den Prager Strukturalisten nachzugehen, also ­zwischen ihren Auffassungen von Literatur, Poetik, Ästhetik und einer e­ ntsprechenden, adäquaten literaturwissenschaftlichen Methodik, möchte ich mich im Folgenden Fischers zentralem Aufsatz O ­nevyslovitelném (Fischer 1909) bzw. Das Unnennbare (Fischer 1910) zuwenden. Dafür sprechen zwei Gründe: Zum einen wird hier Fischers Fassung des Psychologismus deutlich, der sich keineswegs auf eine Rekonstruktion der Autorpsychologie reduzieren lässt. In einem anderen mit Psychoanalysa a literatura [Psychoanalyse und Literatur] (Fischer 1929b: 101-108) betitelten Artikel hat er sich explizit gegen eine Vermischung der beiden Bereiche ausgesprochen. Zum anderen enthält die von Fischer 1929 für die Buchausgabe seiner Aufsätze Duše a slovo [­Seele und Wort] überarbeitete tschechische Fassung einen Anfangs- und einen Schlusspart, der zu methodologischen Fragen der Literaturwissenschaft und dabei auch indirekt zum zeitgenössischen strukturalistischen Zugang Stellung bezieht. Ich möchte außerdem eine ­Anregung von Annalisa Cosentino (2011: 95) aufgreifen, die auf Parallelen zwischen dem von Fischer in dem Aufsatz entworfenen Konzept und dem von Otokar Zich um die gleiche Zeit entwickelten Modell von „Bedeutungsvorstellungen“ (Zich 1981 [1910, 1911]) hingewiesen hat, welches wiederum von den Prager Strukturalisten selbst als ein Vorläufermodell zu ihrer ­strukturalen Semantik angesehen wurde.

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Die 1929 um eine methodologische Rahmung erweiterte Fassung von Fischers Aufsatz beginnt – dem Titel des Bandes Duše a slovo entsprechend – mit einer Gegenüberstellung von Seele und Wort. Beide werden als „hlavní[] podmínk[y] a živly básnického tvoření“ [Hauptbedingungen und -elemente dichterischen Schaffens] (Fischer 1929a: 13) bezeichnet, zwischen denen es zu Widersprüchen kommen kann. Básnická tvorba zakládá se na schopnosti vyjadřovati stavy duše výrazem slovním; přičemž „duši“ pojímáme v širokém významu vědomí i podvědomí, zabírajíce do toho okruhu prvky jak smyslové, tak společenské, které mají-li se zhustiti v umělecké dílo, nutně procházejí spisovatelým intelektem, citem i snažením; „slovem“ pak je rozuměti složku lidské řeči, vše, čím se básnictví liší od uměn sousedních, vše to, co báseň teprve činí básní. [Dichterisches Schaffen gründet sich auf die Fähigkeit, Seelenzustände in Worte zu f­ assen; wobei wir „Seele“ in der breiten Bedeutung von Bewusstsein und Unterbewusstsein verstehen, in diesen Bereich sowohl sinnliche Elemente wie gesellschaftliche ­einbeziehend, die, wenn sie sich zu einem dichterischen Werk verdichten sollen, notwendig des Schriftstellers Intellekt, Gefühl wie Bestreben durchlaufen; unter „Wort“ ist die ­Komponente der menschlichen Rede zu verstehen, alles, wodurch die Dichtung sich von den ­Nachbarkünsten unterscheidet, all das, was das Gedicht erst zu einem Gedicht macht.]9 (Fischer 1929a: 13)

Die Ausführungen, die diesen später hinzugefügten einleitenden ­Bestimmungen folgen, sind auch in der überarbeiteten Fassung terminologisch nicht ­explizit mit ihnen verbunden. Man könnte aber wohl das, was Fischer dann als j­enes Unnennbare beschreibt, das sich dem Ausdruck entzieht, mit der hier ­genannten Seite der Seele verbinden, wohingegen die Wort-Ebene als grundsätzlich mangelbehaftet gekennzeichnet wird, insofern sie dem eigentlich Auszudrückenden nicht zu entsprechen vermag. Konkret schildert Fischer im Folgenden zunächst am Beispiel Goethes und dann auch analog am Beispiel Kleists Fälle von Unbeschreibbarkeit. Wie er an Goethes Lyrik und Korrespondenz, aber insbesondere auch am Faust zeigt, betreffen solche Fälle, in denen das eigentlich Gemeinte nicht ­auszudrücken, nicht zu sagen ist, einerseits Gefühle, vor allem der Liebe, andererseits auch das (pantheistische) Gottesverständnis.10 Hinzu kommt nach Fischers Beobachtung bei Goethe ein Ungenügen an den eigenen 9  Übersetzungen aus dem Tschechischen stammen, sofern nicht anders angegeben, von mir, I.W. 10  Kritisch anzumerken wäre hier, dass Fischer kaum unterscheidet zwischen von Goethe selbst bekundeten Erfahrungen des „Unnennbaren“ und den Antworten der Kunst-Figur Faust auf Fragen nach seiner Liebe bzw. seinem Glauben, in denen er zu Verweisen auf deren Unnennbarkeit Zuflucht nimmt.

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Möglichkeiten, eindrucksvolle Naturerscheinungen adäquat mit Worten ­ wiederzugeben, verbunden mit einem gewissen Neid auf die scheinbar unmittelbareren Wiedergabe- und Ausdrucksmöglichkeiten der Malerei. Gerade in solchen Erfahrungen der „Grenzen der [eigenen] künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten“ (Fischer 1910: 1501) sieht Fischer aber auch den Ausgangspunkt besonders produktiver künstlerischer Arbeit. […] slůvka jako „unnennbar“ vztahují se přímo k básnikovu hlubokému přesvědčení o omezenosti výrazové schopnosti a stojí nikoli stranou, nýbrž zrovna v centru veliké tvůrčí práce. [[…] Wörtchen wie „unnennbar“ beziehen sich direkt auf des Dichters tiefinnerliche Überzeugung von der Begrenztheit der Ausdrucksmöglichkeiten und stehen keineswegs am Rande, sondern direkt im Zentrum großartiger schöpferischer Arbeit.]11 (Fischer 1929a: 12)

Hierin hebt er sich von einer auf die Autorintention rekurrierenden A ­ usdrucksästhetik ab und wendet die Aufmerksamkeit auf die im Bewusstsein ihrer Begrenztheit trotz allem verwendeten Ausdrucksmittel, die auf einen Sinn verweisen, der jenseits der verwendeten Worte liegt. Am Ende seines Artikels heißt es (und diese Formulierung findet sich ähnlich bereits 1909/10)12: 11  In der tschechischen Erstpublikation des Aufsatzes 1909 hatte es noch etwas ­zurückhaltender geheißen: „[…] slůvka jako ‚unnennbar‘ a pod. mohou se bezprostředně vztahovati k básníkovu vnitřnímu přesvědčení o omezenosti jeho výrazové schopnosti a tak státi v životním středu jeho veliké tvůrčí práce.“ [[…] Wörtchen wie „unnennbar“ u.ä. können sich unmittelbar auf des Dichters innere Überzeugung von der Begrenztheit seiner Ausdrucksmöglichkeiten beziehen und so im lebendigen Zentrum seiner g­ roßartigen schöpferischen Arbeit stehen.] (Fischer 1909: 232) In Fischers eigener deutscher ­Variante aus dem Jahr 1910 fällt insbesondere die Ersetzung des tschechischen Äquivalents zu ,schöpferischer Arbeit‘ durch ,persönlichsten Stil‘ auf, eine Umformulierung, mit der Fischer seinen Ansatz möglicherweise Debatten im deutschsprachigen Kontext ­annähern wollte: „[…] Wörtchen wie ,unnennbar‘ u. a. [können] zuweilen in unmittelbarstem Zusammenhang mit des Dichters tiefinnerlicher Überzeugung von der Begrenztheit der ­Ausdrucksmöglichkeiten und daher im Zusammenhang mit seinem persönlichsten Stile stehen […].“ (Fischer 1910: 1504) 12  Auffällig ist insbesondere, dass in der frühen Fassung des Aufsatzes im Tschechischen wie im Deutschen statt von ,Analyse‘, was dann dem wissenschaftlichen Anspruch und dem Sprachgebrauch der Strukturalisten entspricht, der allgemeineren, zeitgenössischen Diktion entsprechend von ,Philologie‘ die Rede ist. Außerdem wird hier noch im Deutschen wie im Tschechischen ganz selbstverständlich auf Nietzsche verwiesen: „Filologie učí nás viděti v básnickém díle především slova. Naše ctižádost je však, viděti za slova, pod slova, tak jako Nietzsche měl ctižádost, vložiti své uši pod hudbu slyšitelnou. A za slovy vidíme člověka myslícího, cíticího, vnímajícího též zrakem a sluchem, bojujícího a snícího, a pod slovy tušíme vříti a vzdouvati se změť a podvědomí.“ (Fischer 1909: 337); „Die Philolo-

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Všední rozbor nás učí viděti v básnickém díle jen slova. Naše ctižádost je však viděti za slova a pod slova. Za slovy vidíme člověka myslícího, cítícího, vnímajícího též zrakem a sluchem, bojujícího a snícího, pod slovy tušíme vříti a vzdouvati se změť a podvědomí. [Die gewöhnliche Analyse lehrt uns, in einem dichterischen Werk nur Worte zu sehen. Unser Ehrgeiz ist es jedoch, hinter die Worte und unter die Worte zu sehen. Hinter den Worten sehen wir den Menschen, der denkt, fühlt, der mit dem Auge wie mit dem Ohr wahrnimmt, der kämpft und träumt, unter den Worten ahnen wir das Chaos und das Unterbewusstsein brodeln und schwellen.] (Fischer 1929a: 24)

Bevor ich auf die methodologischen Implikationen eingehe, die Fischer selbst in der späten Fassung seines Artikels aus diesem Anspruch zieht (und auch auf die Modifikationen seiner Auffassung, die sich an den Änderungen des Aufsatzes gegenüber der Fassung von 1910 ablesen lassen), möchte ich mich dem Konzept des Unsagbaren in der Romantik zuwenden. Ich folge damit einer Spur, auf die Fischer auch selbst verweist. Der 1929 hinzugefügte letzte, methodologische Absatz des Artikels beginnt: „Tak mluví, tak cítí alespoň romantická složka naší badatelské zvídavosti.“ [So spricht, so fühlt zumindest das romantische Element unserer Forscher-Neugierde.] (Fischer 1929a: 25) Denn das Interessante – und im ersten Moment vielleicht auch V ­ erstörende – an Fischers Artikel ist ja, dass er ein Problem, das vor allem in der ­Romantik virulent wird und gemeinhin mit ihr verbunden wird, nämlich das der Unsagbarkeit, bei dem Klassiker und „Meister des Wortes“ (Fischer 1910: 1504) Goethe aufdeckt. In der (deutschen Früh-)Romantik bezieht sich das Problem der Unsagbarkeit darauf, dass das Absolute begrifflich nicht zu ­ fassen ist, und gerade der Literatur wird die Fähigkeit zugeschrieben, insbesondere im Modus der Ironie als einer Selbstwidersprüchlichkeit von Aussagen, die diese beständig in der Schwebe hält, doch auf dieses ­unendliche Un-Gebundene/Absolute zumindest anzuspielen.13 Diese noetische ­Dimension, die in der Romantik im Vordergrund steht, gie lehrt uns, eine Dichtung vorzüglich auf die Worte hin zu prüfen. Unser Ehrgeiz geht ­weiter: wir wollen unter die Worte, hinter die Worte vordringen, so wie Nietzsche den Ehrgeiz besaß, seine Ohren unter die hörbare Musik zu legen. Hinter den Worten nehmen wir den Menschen wahr, der denkt und fühlt, der sieht und hört, der kämpft und träumt; und unter den Worten ahnen wir das Chaos, das Unterbewußtsein.“ (Fischer 1910: 1514) 13  Manfred Frank erläutert diesen Zusammenhang folgendermaßen: „Ihm [Friedrich ­Schlegel] ging es darum, das Unendliche zu sagen. Aber nur Endliches kann ausgesprochen werden. Wenn ich indes die von der Form des Sagbaren abgesteckten Grenzen des Mitteilbaren respektieren und doch überschreiten will, muss ich das Gesagte als das nicht eigentlich Gemeinte fühlbar machen. Das leistet die Ironie, die kein pragmatisch-syntaktisches, ­sondern ein stilistisches Mittel ist. […] Ich durchsetze mein Sprechen mit einem ­gleichsam physiognomischen Zug, der diesseits der Semantik das Bezeichnete in die Schwebe

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wenn die Grenzen des Sagbaren problematisiert werden, ist bei Fischer allerdings zumindest nicht explizit ausgeführt. Bei ihm geht es um die Diskrepanz zwischen dem, was der Dichter ausdrücken wollte, und dem, was er ausdrücken konnte (als sei die ­Vorstellung verfügbar, aber nicht in Sprache übersetzbar). Hier steht Fischer t­atsächlich vor dem linguistic turn, der von einer unhintergehbaren wechselseitigen Verwiesenheit des Denkbaren und des Sagbaren ausgeht. In letzter ­Konsequenz besteht für Jakobson dann in seiner Beschäftigung mit Linguistik und Poetik der ästhetische Modus in der Selbstbezüglichkeit der (ästhetisch gestalteten) Botschaft – ein Konzept, das er in Novalis’ im Monolog ­geäußerten Postulat vorformuliert fand, „das seltsame Verhältnisspiel der Dinge“ (Jakobson 1974: 177) drücke sich im Spiel der Sprache wie auch der mathematischen Formeln mit sich selbst aus.14 Neben diesem von Jakobson beschrittenen Weg möchte ich noch ­einen weiteren nachverfolgen, auf dem letztlich in der Romantik fundierte ­Konzepte zur Selbstbezüglichkeit der Zeichen ihren Weg in die ­Konzeptionen des Prager Strukturalismus fanden, nämlich anhand von Otokar Zich, den Jan Mukařovský selbst zu den Vorläufern der eigenen Konzeption zählte. Seine Abhandlung Estetické vnímání hudby. Estetika hudby [Ästhetische Wahrnehmung der Musik. Eine Ästhetik der Musik] (Zich 1981 [1910, 1911]) erschien um dieselbe Zeit wie Fischers Aufsatz. Ähnlich wie bei Fischer lässt sich ein (im weitesten Sinne) psychologischer Zug erkennen, der allerdings bei Zich nicht wie bei Fischer auf die Seite des Produzenten, sondern auf die des ­Rezipienten bezogen ist. Es geht ihm um (von ihm sogenannte) Bedeutungsvorstellungen, die sich bei ästhetischer Wahrnehmung an den durch ein Kunstwerk e­ mpfangenen Eindruck heften. Dieses Modell gilt für Zich für alle Kunstarten. Im Falle der Musik, auf die es zunächst am schwierigsten anwendbar scheint, seien diese Bedeutungsvorstellungen rein musikalischer Natur. Die Analyse eines Kunstwerks, so lautet seine Schlussfolgerung, muss deshalb der formalen Anordnung seiner Elemente gelten, um die in ihnen und ihrem wechselseitigen Bezug aufeinander angelegte ­Bedeutungsvorstellung nachweisen zu können. In einer Fortführung von Hanslicks Diktum, „Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik.“ (Hanslick 1981: 34), plädiert Zich also am Beispiel der nicht-referentiellen Kunst der Musik dafür, vorzugsweise die Formbeziehungen innerhalb eines

oder zum Zittern bringt. Dies Flackern der Rede dementiert ihren manifesten Sinn.“ (Frank 2011: 111) 14  Genauer zur Bezugnahme Jakobsons auf Novalis s. Wutsdorff (2017/18).

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Kunstwerks zu untersuchen, womit er an die von seinem Lehrer Hostinský kritisch revidierte Formästhetik Herbarts anknüpfen konnte.15 Während Zich sein Hauptaugenmerk auf die nicht-referentielle Kunst der Musik legt und über ihre immanente Formsemantik reflektiert, liegt der Schwerpunkt von Fischers Überlegungen auf den Grenzen des ­referentiellen Zeichensystems Sprache. Es ist damit ein Problem fokussiert, auf das der Prager Strukturalismus reagiert, indem er eben nicht die Referentialität des Kunstwerks betrachtet, sondern die Aufmerksamkeit auf das lenkt, was Jakobson die „Spürbarkeit der Zeichen“ (Jakobson 1960: 93) nennen wird, und damit auf etwas mit Zeichen nicht unmittelbar zu Bezeichnendes. Zumindest danach zu fragen, inwieweit dieses mit Fischers „­ Unnennbarem“ korrespondiert, lohnt sich trotz aller terminologischen und auch ­ methodologischen Diskrepanzen. Fischer nun knüpft in dem methodologischen Schlussabsatz, um den er seinen Aufsatz 1929 erweitert, an seine eingangs getroffene Grundunterscheidung zwischen Seele und Wort an. Mit dem Wort ist das ­ausgesprochene, realisierte Wort gemeint, dem für ihn ja stets das e­ igentlich Gemeinte, nicht Auszusprechende der Seele gegenübersteht. Auch die Forschertätigkeit sei vom Antagonismus zwischen beiden geprägt: Die dem Wort entsprechende Seite des Forschers přilíná k výrazu slyšitelnému, bere za východisko formu uměleckého díla, všímá si toho, co umělci vysloviti, dotvořiti, provésti se podařilo, analysuje tvar a mlhoviny nechává mlhovinami. [neigt sich dem hörbaren Ausdruck zu, nimmt die Form des Kunstwerks zum Ausgangspunkt, nimmt das wahr, was dem Künstler auszusprechen, zu Ende zu schaffen, zu vollbringen gelungen ist, analysiert die Gestalt und lässt nebelhafte Stellen nebelhafte Stellen sein.] (Fischer 1929a: 25)

Die psychologische und die formale Methode sollten einander gegenseitig ergänzen und jene Gefahren bannen, die bei ihrer alleinigen und einseitigen Anwendung drohen: Jednou je to duše, z níž bereme hlavní kritéria, rozbírajíce autorovy sny nebo ­vzpomínky nebo dojmy smyslové: nebezpečí tohoto postupu je, že snadno ulpí v oblasti obecné, mimoumělecké, jeho přiznaným cílem tudíž musí být snaha o vniknutí do výrazu – do jedinečného výrazu básnického. Komplementární způsob, vycházející od rozboru básníkova slovníku nebo rytmu, má zas nebezpečí v tom, že příliš snadno ustrne v mechanickém

15  Genauer zu Zichs Anknüpfung an die musiktheoretischen Debatten um Hanslick s. Wutsdorff (2005), zu Zichs Verankerung in der tschechischen Formästhetik Zumr (1958: v.a. 310).

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formalismu: i musí mít tendenci, jíti od povrchu k jádru, pronikat od vnější podoby k utajeným pružinám tvorby. [Einmal ist da die Seele, aus der wir die Hauptkriterien nehmen, wenn wir die Träume oder Erinnerungen oder Sinneseindrücke des Autors analysieren: Die Gefahr dieses Zugangs ist, dass er leicht einem allgemeinen, außerkünstlerischen Bereich verhaftet bleibt, sein erklärtes Ziel muss deshalb der Versuch sein, zum Ausdruck vorzudringen – zum einzigartigen dichterischen Ausdruck. Die komplementäre Methode, die von einer Analyse des dichterischen Thesaurus oder des Reims ausgeht, beinhaltet wiederum die Gefahr, dass sie allzu leicht in einem mechanischen Formalismus erstarrt: auch sie muss die Tendenz ­haben, von der Oberfläche zum Kern zu gehen, von der äußeren Gestalt zu den ­verborgenen Sprungfedern des Werks vorzudringen.] (Fischer 1929a: 25)

Diese Passage lässt sich sicherlich als Versuch einer Selbstverortung im ­Angesicht einer Methodenkonkurrenz lesen. Die Überarbeitung des ­Aufsatzes fällt genau in die Zeit, als Fischer mit dem Prager Linguistischen Zirkel Kontakt aufnahm und den dortigen Zugängen begegnete, deren Entwicklung er offenbar mit durchaus wohlwollendem, aber auch kritischem Interesse begleitete.16 Hellsichtig formuliert Fischer im Schlussabsatz seines ­Aufsatzes die Gefahren, die sowohl der von ihm vorzugsweise betriebene psychologische Zugang als auch die von den Prager Strukturalisten praktizierte ­Formenanalyse in sich bergen, wenn sie einseitig und in überzogenem Maße angewendet werden. Tatsächlich hatten Fragen des Reims, die er hier konkret anspricht, bzw. der Metrik in den Anfangsjahren des Strukturalismus vielfach im Zentrum der Untersuchungen gestanden, und auch Fischers eigener erster Vortrag vor diesem Forum hatte Březinas Reim gegolten (s. Anm. 1). Mit der (für sein Denken nicht ganz untypischen) Zwischenposition, die Fischer dann zur Vermeidung methodischer Einseitigkeit vorschlägt, skizziert er einen Weg, der zumindest dem von Mukařovský in den folgenden Jahren beschrittenen nicht gänzlich unähnlich ist – auch wenn Mukařovský niemals ­Terminologie und Konzept eines Psychologismus übernehmen wird. Dass aber die Konzentration auf die Formseite des Kunstwerks keineswegs als eine Betrachtung allein von Oberflächenphänomenen des Kunstwerks gemeint war, wird mit Mukařovskýs zunehmender Öffnung seines Strukturbegriffs immer deutlicher. Einen bedeutenden Schritt auf diesem Weg stellt eben die Studie zur Sinngenese in Máchas Poesie in jenem Band dar, in den Mukařovský auch Fischers Beitrag eingliederte. Sein so schillerndes Konzept der s­ emantischen 16  So deute ich das Engagement des universitär etablierten Germanisten für den außeruniversitär organisierten Kreis, das sich in seiner offiziellen Gründungsmitgliedschaft und der mehrjährigen Übernahme der Funktion eines Mitglieds des Schiedsgerichts ­niederschlug.

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Geste17 definiert er hier mithilfe einer äußerst vorsichtigen Verwendung des Begriffs ‚formal‘ als obsahově nespecifikované[…] (a v tom smyslu – chceme-li – formální[…]) gest[o], jímž básník prvky svého díla vybíral a slučoval ve významovou jednotu. [inhaltlich unspezifizierte (und in diesem Sinne – wenn man so will – formale) Geste, mit der der Dichter die Elemente seines Werks ausgewählt und zur Bedeutungseinheit verschmolzen hat.] (Mukařovský 1938: 13)

Und jene Tendenz zu einem Prinzip des Fragmentarischen, die Fischer bei Goethe und Kleist mit Blick auf ihren Umgang mit dem Unnennbaren herausarbeitet, stellt auch für Mukařovský bei seinem Blick auf Mácha den Hauptgrund für dessen andauernde Wirkmächtigkeit dar: Významové bohatství jeho díla neplyne z úsporného ukáznění nahromaděné významové energie hladkou formou, ale je dáno zlomkovitostí významové výstavby, která právě pro svou náznakovost zasahuje širé a navzájem odlehlé končiny významové oblasti. [Der Bedeutungsreichtum seines Werks entspringt nicht einer sparsamen Züchtigung der angehäuften Bedeutungsenergie durch eine glatte Form, sondern ist durch die Brüchigkeit des Bedeutungsaufbaus gegeben, der gerade für seinen Anspielungsreichtum breite und weit voneinander entfernte Bedeutungsbereiche erreicht.] (Mukařovský 1938: 8)

Ein Hinweis darauf, dass auch Fischers Auffassung sich der hier von Mukařovský formulierten zumindest angenähert hatte, ließe sich in seiner modifizierten Beurteilung der Rolle des Unnennbaren für den Dichter erkennen, auf die ich weiter oben schon hingewiesen hatte. Die K ­ onfrontation mit der Erfahrung, dass die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten begrenzt sind, hat für Fischer Ende der 1920er-Jahre nicht mehr wie noch 1909/10 nur möglicherweise Auswirkungen auf den jeweiligen Stil (so im Deutschen) bzw. die schöpferische Arbeit (so im Tschechischen) des Dichters (s. Anm. 11), sondern wird zur Initiation schöpferischer Tätigkeit schlechthin (s. das obige Zitat Fischer 1929a: 12). Im letzten Satz jener methodologischen Reflexionen, mit denen Fischer seinen Aufsatz in der Fassung von 1929 beschließt, stellt er genau diesen alten Reflexionsgegenstand des „Unnennbaren“ in den anvisierten Schnittpunkt zwischen psychologischer und formaler Betrachtungsweise. Vzájemné doplňování a prolínání zřetele psychologického a formálního, toť podle mého přesvědčení nejvlastnější úkol badatelského umu, jenž neodloučí požadavku šíře od úcty k pevnému jasu a neodtrhne zvučícího slova od jeho temného podkladu, od ­nevyslovitelného.

17  Zu diesem Konzept s. Schmid (1982), Jankovič (1965, 1991 und 1992, deutsch 1999).

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[Die gegenseitige Ergänzung und Durchdringung des psychologischen und des formalen Gesichtspunkts, das ist nach meiner Überzeugung die eigentlichste Aufgabe des Forschergeistes, der die Forderung nach Breite nicht von der Achtung dem festen Glanz gegenüber trennt und das klingende Wort nicht von seinem dunklen Untergrund abtrennt, vom Unnennbaren.] (Fischer 1929a: 25)

Aus der Begegnung mit den Ansätzen des Prager Strukturalismus eröffnen sich für Fischer also offenbar neue Perspektiven für diese von ihm schon früher aufgeworfene Problematik, deren zentralen Stellenwert er erneut bestätigt sehen kann. Was Fischer, von der Seite der (Autor-)Psychologie kommend, als „Unnennbares“ bezeichnet, hat dabei durchaus Parallelen zu dem, was Mukařovský, von der Seite der formalen Strukturanalyse kommend, als „semantische Geste“ bezeichnet, um deutlich zu machen, dass es ihm nicht um das Herausschälen einer rein referentiellen Bedeutung von Wortkunstwerken geht, sondern vor allem um den Gestus, den ihr kompositorischer Zusammenhang implizit und insofern unausgesprochen vermittelt. Beide treffen damit ein spätestens seit der Jahrhundertwende virulentes, höchst modernes Thema, nämlich das der Grenzen der Sprache und der Möglichkeiten ihrer Überschreitung gerade im Modus künstlerischer Rede. Fischer verweist in seinem Aufsatz kurz auf den zeitgenössischen Kontext der von Mauthner (1901) vorgebrachten Sprachkritik18 und der „meisterhafte[n] Analyse der künstlerischen Aphasie“ (Fischer 1910: 1513; „mistrný pokus o rozbor umělecké afasie“, Fischer 1909: 336), die Hofmannsthal in seinem Chandos-Brief (1902) gegeben habe. Er akzentuiert dabei (gegen Mauthners Vereinnahmung des Chandos-Briefes für seine eigene grundsätzliche Sprachskepsis) die poetologische Dimension von Hofmannsthals Herangehensweise, der eben nicht wie Mauthner bei einer „ätzenden Sprachkritik“ stehen bleibe, sondern es verstehe, dem zugrunde liegenden Problem einen künst18  Die potentielle Nähe seiner eigenen Überlegungen, v.a. Goethe betreffend, zu ­Mauthners Sprachkritik veranlasste Fischer allerdings in der ersten tschechischen Version seines Artikels zu einer deutlichen Distanzierung in einer scharfzüngigen Schlussbemerkung: „[…] jsem dodatečně shledal, že mé vývody o Goetheovi částečně se stýkají s  oddílem ,Umění slovní‘ v  prvé knize Mauthnerovy Kritiky řeči; děkuji dilettantovi Mauthnerovi, jenž, pokud vím, jediný problémem se zabýval, za dva tři citáty, jinak jeho materiálem i směrem otázek, Goethea se týkajicích, zůstalo toto pojednání nedotčeno.“ [[…] ich habe nachträglich gesehen, dass meine Ausführungen über Goethe sich teilweise mit dem Kapitel ,Wortkunst‘ im ersten Buch von Mauthners Sprachkritik berühren; ich danke dem Dilettanten Mauthner, der sich, soweit ich weiß, als einziger mit dem Problem befasst hat, für zwei drei Zitate, ansonsten ist diese Abhandlung von seinem Material und seiner Fragerichtung, Goethe betreffend, unberührt geblieben.] (Fischer 1909: 338)

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lerischen Ausdruck zu verleihen.19 Fischer gibt dieser sprachskeptischen Gedankenfigur zudem eine historische Tiefendimension, indem er sie bis zu Kleist20 bzw. gar Goethe zurückverfolgt, aber auch indem er en passant auf eine „Verwandtschaft“ von „Hofmannsthals Essai“ „mit Novalis Ideenwelt“ hinweist (Fischer 1910: 1514; „dojista má však Hofmannsthalův essai […] příbuznost[…] se světem Novalisovým“, Fischer 1909: 337) und so die Tradition der Romantik in ihrer Vorläuferschaft zu dieser höchst modernen Problematik aufruft. Auch hier lässt sich eine Parallele zu Mukařovský erkennen, der an der Dichtung Máchas sein zentrales Konzept der semantischen Geste erarbeitet und damit gerade an diesem Vertreter der Romantik einem für die Moderne signifikanten Phänomen auf methodologischer Ebene zu begegnen sucht, nämlich der bis an und über die Grenzen der Referentialität vordringenden (poetischen) Sprache. In der Zusammenschau mit Otokar Fischer, der Mimische Studien zu Heinrich von Kleist betrieben hatte und im selben Mácha-Band Züge des Dramatischen und damit – seinem Verständnis nach – auch des Gestischen in dessen Werk behandelte, erscheint die Tatsache, dass Mukařovský zur Metapher der Geste griff, um die nicht-referentielle Dimension ­dichterischer Sprache zu beschreiben, in einem ganz ungewohnten Licht. Auch wenn es wohl zu weit gehen würde, hierin einen Einfluss Fischers sehen zu wollen,21 19  „Nedovedu říci, byl-li vídeňský básník dotčen nemilosrdně leptavou kritikou řeči a chtěl-li svým ,Dopisem‘ podati poetický pendant k Mauthnerovu filosofickému dílu […].“ (Fischer 1909: 336f.) „Ich weiß nicht, wie nah der wiener [sic!] Poet mit der unbarmherzig ätzenden ,Sprachkritik‘ in Berührung kam, und ob er zu Mauthners philosophischem Werk einen dichterischen Beleg hat liefern wollen […].“ (Fischer 1910: 1514) 20  Er stellt Kleist damit, wie Dieter Heimböckel (2003: 9-11) hervorhebt, wohl als erster und für lange Zeit auch einziger in einen Zusammenhang mit der literarischen Sprachskepsistradition der Moderne. 21  Jankovič (1992, deutsch 1999) weist zu Mukařovskýs Begriff der „semantischen Geste“ auf dessen Vorbegriffe „motorische Geste“ bzw. „motorické dění“ [motorisches Geschehen] hin. Die am 07.03.1927 im PLK vorgetragenen Überlegungen O motorickém dění v ­poezii [Zum motorischen Geschehen in der Poesie] publizierte Mukařovský zu Lebzeiten allerdings nie, obwohl er die Studie als 123-seitiges Manuskript ganz offensichtlich entsprechend vorbereitet hatte. Jankovič (2005: 103) vermutet, dass die Diskussionen um das ­Konzept auf der Sitzung des PLK ihn davon abgehalten haben. Den Ausgangspunkt für die Ausführungen bildet dort Henri Bremonds La poésie pure (1926), an den Mukařovský sich trotz inhaltlicher Distanzierung terminologisch anlehne (ebd.: 104). Inspirierend sei für ihn Bremonds Begriff „le courant poétique“ gewesen, den er jedoch nicht als „­ tajemnou realitou, nevyslovitelnou a nezachytitelnou“ (Jankovič 2005: 105) [geheimnisvolle, ­unaussprechliche, unerfassbare Realität], sondern als eine durch alle Schichten des Werks hindurch sich äußernde Bewegung verstanden habe (ebd.: 109). Gewehrt habe er sich gegen Bremonds

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wirft diese Koinzidenz doch ein Schlaglicht darauf, dass beide in mehr (Mukařovský) oder weniger (Fischer) großem Maße den poetischen Ausdruck, der trotz aller eventuell zugrunde liegenden Sprachzweifel dann doch ­gefunden wurde, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. „Denn bei der Ausschluss des Inhaltlichen aus der „reinen Poesie“, da es ihm im Gegenteil darum ging, eine Bewegung zu erfassen, die sich sowohl in der Form, als auch im Inhalt äußert (Jankovič 2005: 109). Auch in anderen Studien aus seiner vorformalistischen Zeit in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre beschäftigt Mukařovský sich mit dieser Problematik, wobei er sich auf „zeitgenössische französische und deutsche Theorien [stützt], die den dynamischen ­ Charakter der psychischen oder der mit ihnen verbundenen körperlichen ­Phänomene betonen (Janet, Paulhan, Ribot, Groos, Sievers). […] Das dichterische Werk versteht er [Mukařovský] als den Ausdruck einer vereinheitlichenden Bewegung im Geiste des ­Dichters; seine Aufgabe sei es, eine ähnliche Bewegung im Geiste des Lesers h ­ ervorzurufen. Die einheitliche Prägung des vom Gedicht getragenen motorischen Geschehens wird in allen Werkkomponenten sichtbar, ohne daß die traditionelle ,Idee des Werkes‘ allen anderen Komponenten übergeordnet würde. Hier prägt sich schon die eigentliche Richtung von Mukařovskýs Interesse aus: Es ist nicht die Einzigartigkeit der ­Dichterpersönlichkeit, sondern der dynamische Charakter der Einheitlichkeit des Werkes, der Mukařovský anzieht. Mit der Vorstellung der energetischen Einheitsbildung des Werkes hängt auch die Bezeichnung ,Geste‘ zusammen: eine Bewegung, die direkt, körperlich, durch die Beredsamkeit ihrer Gestaltung – hier vor allem der phonetischen, die Notwendigkeit eines komplexen Zuganges aber schon andeutenden – Bewußtseinsgehalte suggeriert, die sonst als unmitteilbar gelten.“ (Jankovič 1999: 150) „[…] Mukařovský [opírá] své pojetí básnického díla o dobové francouzské a německé teorie zdůrazňující dynamickou povahu psychických jevů nebo tělesných projevů s nimi spojených (Janet, Paulhan, Ribot, Groos, Sievers). […] Básnické dílo je mu projevem sjednocujíciho pohybu v mysli básníkově a má za úkol vzbudit obdobný pohyb v mysli čtenářově. Jednotý ráz motorického dění neseného básní se projevuje ve všech jejích složkách, nenadřazuje tradiční ‚ideu díla‘ nad složky ostatní. Zde se už vyhraňuje směr Mukařovského vlastního zájmu: není to sama jedinečnost básníkovy osobnosti, ale dynamický ráz sjednocenosti díla, který Mukařovského upoutává. S  představou energetického rázu jednoty díla, kterou má na mysli, souvisí též označení ‚gesto‘: pohyb sugerující přímo, tělesně, výmluvností svého utváření – zde především zvukového, ale napovídajícího už potřebu přístupu komplexnějšího – jinak nesdělitelné obsahy vědomí.“ (Jankovič 1992: 160) Die Problematik, die Mukařovský bewegt hat, ist der Fischers also zumindest nicht unähnlich, insofern es darum geht, dasjenige als das Wesentliche am Kunstwerk zu erfassen, was weder allein der Inhalts- noch allein der Formseite zuzuschlagen ist. Der reizvolle Gedanke, dass es zwischen dem in germanistischen Kontexten bewanderten Fischer und Mukařovský über die von ihm in den 20er-Jahren verwendeten deutschsprachigen ­Bezugstexte zu einem fachlichen Austausch gekommen sein könnte, muss allerdings Spekulation bleiben. Festzustellen bleibt lediglich, dass Fischer ungefähr zu der Zeit, als Mukařovský mit dem Terminus ,Geste‘ zu operieren beginnt, zu seinen Überlegungen über das ,Unnennbare‘ zurückkehrt.

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Bewertung eines fertigen Werks hat doch nur dessen Ausführung, dessen wirklicher Ausdruck zu entscheiden.“ (Fischer 1910: 1514; „Neboť při ­hodnocení hotového díla rozhoduje jediné: jeho výraz.“, Fischer 1909: 337), hatte Fischer seine Überlegungen zur psychologischen Seite der ­Problematik des Unnennbaren eingeschränkt. Vielleicht war es diese grundsätzliche ­Orientierung auf das realisierte Werk, auf der jenes wechselseitige ­Interesse basierte, das sich in Fischers institutionellem Engagement im Prager Linguistischen Zirkel und in Mukařovskýs Aufnahme seines Artikels in den Mácha-Band des Kreises manifestierte.

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Zu Otokar Fischers Aufsatz Das Problem der Erinnerung und deren Bedeutung für die Poesie Ich beginne weit ab von Otokar Fischer. Mit dem angegebenen Erscheinungsjahr 1906, tatsächlich aber schon 1905, erschien im Leipziger Verlag von B. G. Teubner Wilhelm Diltheys Buch Das Erlebnis und die Dichtung, das Studien zu Lessing, Goethe, Novalis und Hölderlin versammelte und mit dem der Autor auch einem größeren Publikum bekannt wurde. Eine DiltheySchule etablierte sich dann 1911 mit Erscheinen des Sammelbandes Weltanschauung. ­Philosophie und Religion in Darstellungen von Wilhelm Dilthey […] (Dilthey 1911). Man geht wohl nicht zu weit, wenn man feststellt, dass die sogenannte deutsche Inlandsgermanistik zumindest bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts als (sich von der erklärenden Naturwissenschaft unterscheidende) verstehende Geisteswissenschaft im Sinne Wilhelm Diltheys agierte – und in weiten Teilen seiner Vorstellung von Hermeneutik folgte. Der Diltheysche Begriff der „Erlebnisdichtung“ hat es im Übrigen ­sogar in den Duden geschafft. Dort wird erläutert, es handle sich um ­„Dichtung, in der persönliches Erleben verarbeitet und objektiviert wird“1. So wird d­ eutlich, dass der Kernbestand von Diltheys Konzept der „Erlebnisdichtung“ eben das ist, was Otokar Fischer fünf Jahre später zum Thema seines Vortrags zum „Problem der Erinnerung“ auf dem IV. ­Internationalen Kongress für Philosophie in Bologna machte. Wie aber fasst Dilthey dieses Problem? Man liest: „Poesie ist Darstellung und Ausdruck des Lebens. Sie drückt das Erlebnis aus, und sie stellt die äußere Wirklichkeit des Lebens dar“ (Dilthey 1921: 113). Weiter heißt es: So wendet sich der Dichter dem Bedeutsamen zu. Und wenn nun die Erinnerung, die Lebenserfahrung und deren Gedankengehalt diesen Zusammenhang von Leben, Wert und Bedeutsamkeit in das Typische erheben, wenn das Geschehnis so zum Träger und Symbol eines Allgemeinen wird [...], dann kommt auch in diesem allgemeinen Gehalt der Dichtung [...] die lebendigste Erfahrung vom Zusammenhang unserer Daseinsbezüge in dem Sinn des Lebens zum Ausdruck. Außer ihr gibt es keine Idee eines poetischen Werkes und keinen ästhetischen Wert, den die Dichtung zu realisieren hätte (Dilthey 1921: 113).

1  Duden online. URL: http://www.duden.de/rechtschreibung/Erlebnisdichtung (aufgerufen am 10.10.2019).

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Im Weiteren sieht Dilthey die „Assoziation“ (Dilthey 1921: 115), die bei ihm für das konkrete Erinnern steht, und die „Einbildungskraft, welche aus den gegebenen Elementen neue Verbindungen erstellt“, durch die „klarste Grenzlinie“ voneinander getrennt, sodass er dieses Verhältnis bloß mittels der „deskriptive[n] Methode ohne Einmischung erklärender Hypothesen“ meint beschreiben zu können. Selbst in einem zeitnahen „Erinnerungsnachbilde“ werde nur ein Teil der Elemente des ursprünglichen Wahrnehmungsvorgangs angewendet; schon bei solch „seelenlose[r], tote[r] Erinnerung“ sei eine „versuchende Nachbildung unverkennbar.“ Im zeitlichen Abstand aber baue sich „die erinnerte Vorstellung von einem bestimmten inneren Gesichtspunkte aus auf“ und nehme „dabei nur so viel Elemente aus dem Tatbestande, der von der Wahrnehmung zurückblieb, als Baumaterial auf, als die nunmehr gegenwärtigen Bedingungen mit sich bringen“ (Dilthey 1921: 115). Und wenn wir nun endlich doch zumeist nicht Einzeleindrücke uns zurückzurufen streben [...], sondern Vorstellungen oder Vorstellungsverbindungen [...]: dann steht der Aufbau einer solchen Vorstellung noch viel weiter ab von toter Reproduktion und nähert sich noch viel mehr der künstlerischen Nachbildung. – Kurz: wie es keine Einbildungskraft gibt, die nicht auf Gedächtnis beruhte, so gibt es kein Gedächtnis, das nicht schon eine Seite der Einbildungskraft in sich enthielte. Wiedererinnerung ist zugleich Metamorphose (Dilthey 1921: 115f.).

Felix Gilbert hat in einer Rezension von Ernst Gombrichs intellektueller ­Biographie Aby Warburgs, dessen „Konzept der Kulturwissenschaft“ und „Wilhelm Diltheys erkenntnistheoretische[] und psychologische[] Arbeiten“ „in den Zusammenhang eines allgemeinen Trends“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts gestellt, „der die ganze Zivilisation (Kultur) zum Gegenstand der Geschichtsforschungen“ (Schoell-Glass 1998: 43; vgl. Gilbert 1972: 388) machen wollte – und von daher zur Erkundung ihrer Gemeinsamkeiten aufgerufen. Diese halten sich tatsächlich jedoch in engen Grenzen. Während für Dilthey nämlich das Erinnern in allen seinen Aspekten beschreibbar ist, setzt Warburg das „soziale[] Gedächtnis“, wie Carlo Ginzburg einmal den roten Faden der „Warburg-Tradition“ (Ginzburg 1983) genannt hat, als ­‚gründlich‘ rätselhaft voraus, was zum Verzicht auf theoretische Fassungen führt und zu späten Projekten wie dem Mnemosyne-Atlas, der eben dieses Rätsel ‚vor Augen führen‘2 wollte. Vor allem spielt die Kategorie des 2  In Warburgs am 25.04.1925 gehaltenem Vortrag „Franz Boll zum Gedächtnis“ ist davon die Rede, dass „vor Augen geführt werden“ soll, „wie diese Restitution [‚des mächtigen und klargefügten griechischen Weltbildes‘; M.W.] vor sich geht“ (zit. n.: Koos et al. 1994: Tafel 27). Zu Warburgs Mnemosyne-Atlas schreibt Fritz Saxl: „Aby Warburg hat begriffsgeschichtlich untersucht, welche von der Antike künstlerisch vorgeprägten

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Inneren bei Warburg eine untergeordnete Rolle; er untersucht kulturelle Tradierungsprozesse. Bei Dilthey dagegen hängt alles am Inneren des Dichters; dort bekommt das Erfahrene seine allgemeine Bedeutung, in deren ‚Übersetzung‘ in einen Text sich der Leser – als Mensch wie der Dichter – dann einfühlen kann. So bleibt Diltheys Hermeneutik eben zuletzt auch vollständig ­autorfixiert. Aussagen wie die Friedrich Schleiermachers: „[Ü]berall ist Konstruktion eines endlichen Bestimmten aus dem unendlich Unbestimmten“ (Schleiermacher 1993: 80), und die strukturell gerade als Schlussfolgerung daraus zu lesende Forderung, es gelte, „die Rede zuerst ebenso gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber“ (Schleiermacher 1993: 94), die ja etwas über den Autor Hinausgehendes ins Spiel bringt, gehen in Diltheys hermeneutischer Komplexitätsreduktion schlicht verloren. Damit endlich zu Otokar Fischer. Der Aufsatz Das Problem der Erinnerung und deren Bedeutung für die Poesie geht zurück auf einen Vortrag, den Fischer, wie gesagt, auf dem im April 1911 in Bologna ­ausgerichteten IV. Internationalen Kongress für Philosophie gehalten hat. Dort sprachen auch Henri Bergson, Benedetto Croce, Hans Driesch, Émile Durkheim und Rudolf Steiner. Während diese in den Überblicken natürlich stets genannt werden, bleibt Fischer allermeist unerwähnt. In ­ den ­veröffentlichten Akten aber wird er im Personalverzeichnis als Fischer Otokar, Dr. – Adalbertsgasse 2, Prague (Atti 1911: 343)3 angeführt. Um dem Aufsatz im Weiteren gerecht zu werden, muss ich seinen ersten Absatz hier fast zur Gänze zitieren: Der Vorgang des Erinnerns gehört zu den Grundtatsachen des seelischen Lebens. Fast alle Geisteswissenschaften gehen, direkt oder mittelbar, auf die Fragen nach Wesen und Wirkung des Gedächtnisses ein; aus den einander widersprechenden Antworten sind die konträren Ausgangspunkte, doch auch die persönlichen Divergenzen der Fragesteller zu erschliessen. Der alte, neuerdings auflebende Antagonismus zwischen mechanistischer und vitalistischer Weltauffassung gibt sich auch in den Arbeiten über das spezielle Problem kund. Einerseits wird, auf Anregung des großen Physiologen Ewald Hering hin, in Richard Semons Mneme-Werk die Erinnerungstätigkeit des menschlichen Bewusstseins bloß ­ rlebnisformeln in der Kunst der Renaissance wieder aufleben. Die Ergebnisse dieser E durch Jahrzehnte hindurch geführten, ein großes Material umfassenden Untersuchungen werden von ihm bisher nur in kleinen Aufsätzen angedeutet. In dem Atlas sind sie in breiter Form ad oculos demonstriert“ (Saxl 1992: 314). Von daher habe ich das Aby Warburg gewidmete Kapitel in meiner Habilitationsschrift „Das ‚unendliche Thema‘. Erinnerung und Gedächtnis in der Literatur/Theorie“ „‚Ad oculos‘: Aby Warburgs Gedächtnis zwischen Symbol und Allegorie“ (Weinberg 2006: 379ff.) überschrieben. 3  An gleicher Stelle wird auch Fischers (erste) Frau Blažena (geb. Baušová) als „Fischer, Frau Dr. – Prague“ angeführt.

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als Manifestierung jenes allgemeinen Prinzips hingestellt, das die ganze organische Welt beherrsche; andererseits erscheint in der intuitiven Philosophie Henri Bergsons das ­höhere Gedächtnis vollkommen unabhängig von der physiologischen Beschaffenheit des Organismus. [...] Die konkreten Disziplinen haben nicht immer Gelegenheit, sich in ­prinzipielle Erörterungen einzulassen, doch wird das Problem der Erinnerung ­vorläufig fast allgemein mit physiologischen, auch mit medizinischen Fragen in Verbindung gebracht. Hat sich die experimentelle Psychologie mit dem Mechanismus des Gedächtnisses und mit den viel umstrittenen Fragen des Wiedererkennens und der Assoziation beschäftigt, so war es den blos [sic!] beobachtenden und beschreibenden Forschern vorbehalten, ein Krankheitsbild der geistigen Tätigkeit zu entwerfen und aus den Zuständen der Hypermnesie, der Aphasie oder der Depersonalisation Rückschlüsse auf den normalen Verlauf des Gedächtnisaktes zu ziehen. Da das Reich des Unter- und Unbewussten wieder zu Ehren kommt, wendet sich die Forschung auch der Kehrseite, nämlich dem ­Vorgange des Vergessens zu; dies Problem wird nicht nur, in italienischen und französischen Abhandlungen jüngsten Datums, beschreibend studiert und klassifiziert: es dient auch einer Wiener psychiatrischen Schule als Ausgangspunkt therapeutischer Behandlung. (Fischer 1968: 489f.)

Dieser Beginn vermag einen, der aus seiner langjährigen Beschäftigung mit der Frage nach Erinnerung und Gedächtnis eine über 700-seitige Habilitationsschrift (vgl. Weinberg 2006) hat hervorgehen lassen, durchaus zu elektrisieren. Fischer ist in Sachen damaliger Gedächtnisforschung jedenfalls umfassend up to date. Michal Topor hat mich dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass dies auch daran liegen mag, dass Fischer im Sommersemester 1905 die Vorlesung des Psychologen František Krejčí zum Thema „Gedächtnis und Einbildungskraft“ besucht hat.4 Zwar beginnt Fischer seinen Überblick mit dem Diltheyschen Begriff der Geisteswissenschaft, doch greift er dann auf den Physiologen Ewald Hering und auf Richard Semon, der ein wichtiger Stichwortgeber Aby Warburgs war, aus, nennt zwischendurch Henri Bergson, um schließlich auf medizinische Forschungen zu sprechen zu kommen und auch den Hinweis auf Sigmund Freud nicht zu vergessen. Dass er ausführt, die „konkreten Disziplinen [...] [hätten] nicht immer Gelegenheit, sich in prinzipielle Erörterungen einzulassen“, schließt eine produktive Erörterung der Gemeinsamkeiten und ­Differenzen – anders als Diltheys Fundamentalunterscheidung von Naturund Geisteswissenschaften – offensichtlich nicht grundsätzlich aus. Vor allem 4  Seine Ausführungen hat Krejčí dann im Buch Psychologie III, Elementární jevy duševní. Část druhá, Představování (paměť a obrazivost) (Krejčí 1907) veröffentlicht. Im ­Internet findet sich Krejčís Buch von 1897: Zákon associační. Pokus psychologický, an dessen Ende der deutschsprachige Text Auszug aus der Abhandlung: Über das Associationsgesetz von Dr. Franz [sic!] Krejčí (Krejčí 1897: 119-142) steht, in dem sich viele Übereinstimmungen mit Fischers ‚Fassung‘ des Phänomens Gedächtnis aufweisen lassen.

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aber nähert sich Fischer der Frage nach Erinnerung und Gedächtnis auch von ihren psychopathologischen Extremerscheinungen (Hypermnesie, Aphasie und Depersonalisation) her, sodass sich schon jetzt festhalten lässt, dass ihm – anders als Dilthey – das Erinnern zuletzt eben kein schlicht verständliches und jedenfalls kein stets maßvolles Phänomen ist. Fischer fährt fort: „Wohl nirgends hat die Psychologie der normalen und der sogenannten krankhaften Erinnerungstätigkeit eine fundamentalere Bedeutung als im Bereiche der Literaturwissenschaft“ (Fischer 1968: 490). Sie sei – neben sinnlicher Wahrnehmung und „der Phantasie im engeren Sinne“ – „die psychische Grundlage eines poetischen Gebildes“ (Fischer 1968: 490). Mit nicht zu überlesender Lakonie kommt er im Folgenden dann kurz auf Dilthey zu sprechen (um ihn danach nicht mehr zu erwähnen) – nämlich auf dessen „schöne Maxime ‚Erlebnis und Dichtung‘“ (Fischer 1968: 490) – und wendet sich noch im gleichen Satz Max Dessoir zu. Wertschätzung sieht wohl anders aus. Dann aber geschieht noch Erstaunlicheres: In die Thematisierung der Bedeutung der Erinnerung für die Poesie gemeindet Fischer auch die „Fragen der literarischen Abhängigkeit“ ein und nennt sie „eines der ­kompliziertesten Phänomene, bei dessen Erörterung auch die grundsätzlichen Entscheidungen über Aktivität und Automatismus der Erinnerung in die Wagschale fallen“ (Fischer 1968: 490). Eine solch grundsätzliche Zusammenschau von ­Intertextualität und Erinnerung findet sich erst wieder in Renate Lachmanns Studie Gedächtnis und Literatur (Lachmann 1990), wenn man das Problemfeld nicht schon von Julia Kristeva (1974) vermessen finden will. Fischer fährt fort: Die Tatsache einer literarischen Beeinflussung zeigt bereis [sic!], wie fliessend die Grenze zwischen gesundem und abnormem Geistesleben ist und wie viel Belehrung die Literaturwissenschaft von der Psychiatrie zu gewärtigen hat; man denke an die häufige ­Beobachtung, dass ein Schaffender selbst zwischen eigenem und fremdem Gut nicht zu unterscheiden vermag (Fischer 1968: 490f.).

Fischer also spricht von Intertextualität oder ‚literarischer Abhängigkeit‘ – anders etwa als später Karlheinz Stierle (1984) nicht erst bei bewussten Übernahmen, sondern nominiert die Ununterscheidbarkeit von „eigenem und fremdem Gut“ als wichtigen Aspekt des Phänomens. Damit gewinnt er jene Komplexität Schleiermachers zurück, der etwas dem Autor nicht ­Bewusstes, ein – wenn man so will – vom kulturellen Gedächtnis Beigesteuertes in literarischen Texten am Werk sah. Aufmerksamkeit verdienen auch die Schlussfolgerungen, die Fischer aus der Diagnose einer „zwiefache[n] Rolle“ der Erinnerung zieht: Sie wirke

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„­ einmal bei der Konzeption eines Werks, einmal im Werke selbst als dessen Inhalt“; dabei seien die „beiden Bestandteile“ „nicht immer streng v­ oneinander zu scheiden“ (Fischer 1968: 491). Er fährt fort: „Das Faustwort von den schwankenden Gestalten, ‚die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt‘, das Bekenntnis: ‚was verschwand[,] ward mir zu Wirklichkeiten‘ enthält eine poetische Theorie der Erinnerung“ (Fischer 1968: 491). Ich habe in einem Artikel für das Handbuch Gedächtnis und Erinnerung einmal formuliert: ­ Literatur erinnert nicht nur je etwas (was sich mit dem alten Anspruch der Mimesis verbinden lässt), sondern versucht dabei auch an die Abgründe allen Erinnerns zu erinnern. Weil Literatur Erinnern in actu wie Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit des Erinnerns ist, ist sie auch die angemessenste Gedächtnis-theorie (Weinberg 2010: 194).

Das geht zwar weiter als Fischers Rede von der „poetische[n] Theorie der Erinnerung“; allzu weit scheint mir dieser Schritt tatsächlich aber nicht zu sein. Fischer nominiert anschließend einen weiteren Punkt: „Als drittes käme die Erinnerung dessen hinzu, der sich in eine Dichtung einfühlt“ (Fischer 1968: 492). Ich muss zugeben, dass ich bei der Lektüre dieses Textes von einem Erstaunen ins nächste gefallen bin, denn tatsächlich wird hier auch die Rezeption literarischer Texte vom Erinnern her profiliert. Auch dieses Thema aber hat eine große Zukunft, die sich leicht etwa in Wolfgang Isers Variante der Konstanzer Rezeptionsästhetik aufweisen und mit Zitaten aus seinem Buch Der Akt des Lesens (Iser 1976) belegen ließe. Fischer fährt fort: Das Erinnern ist ein allgemein menschliches Element, daher geeignet, den Stoff zu tief menschlichen Erzählungen, zu Aeusserungen der Urseele eines Volks, eines Zeitalters herzugeben. Schöpfungen, die dem gemeinsamen Kulturschatze der Menschheit ­angehören, verdanken ihre Erhebungen und Erschütterungen zum grossen Teile dem Vorgange des Erinnerns (Fischer 1968: 492).

C. G. Jungs Lehre vom kollektiven Unbewussten und den Archetypen an dieser Stelle anklingen zu hören, wäre anachronistisch. Dass Fischer hier aber einmal mehr das rein Individuelle des Erinnerns übersteigt, rückt seine Überlegungen in eine Nähe zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, der als solche ja neben Sprache, Kunst und Wissenschaft auch den Mythos nominiert hat. Die drei Bände unter diesem Titel erschienen zwar auch erst ab 1923, doch schon in Cassirers Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff von 1910 (Cassirer 1910) sind die Grundlagen dieser Philosophie erkennbar. Diese Dimension findet sich übrigens auch in Fischers eigenen Gedichten angesprochen. So heißt es in Okamžik věčnosti [Augenblick der Ewigkeit]: „Ze spánku se duše rozpomíná: / Která byla moje domovina?“ [Erinnert sich die Seele aus dem Schlaf: / Welche meine Heimat war?] (Fischer 1925: 65). Und

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im Gedicht V  rodném kraji [Im Heimatland] liest man: „To všechno je mé. Tich šumí tu proud, / sto vzpomínek ze země tryská.“ [Das alles ist meins. ­Leise rauscht hier der Strom, / hundert Erinnerungen sprudeln aus der Erde.] (Fischer 1926: 40)5. Gedichte wie Vortrag öffnen somit das individuelle Erinnern auf ein es Umfassendes hin, das wir uns inzwischen mit der Formel Jan Assmanns als „kulturelles Gedächtnis“ (Assmann 1992) zu bezeichnen angewöhnt haben. Fischer kündigt anschließend an, dass er „aus der wirren Fülle der sich darbietenden Aufgaben“ im Folgenden nur zwei zur näheren Behandlung auswählen werde: „1. das Problem der eigentlichen, treu aufbewahrenden und wiedergebenden Erinnerung, / 2. Das Problem der sogenannten Erinnerungstäuschung“ (Fischer 1968: 492). Als Beispiel für die erste Perspektive muss bei Fischer Theodor Storm herhalten. Bei ihm findet er Novellen, die „mit primitiv ­kaleidoskopartiger Technik Bilder des entschwundenen Lebens vorführen“ (Fischer 1968: 492). Storm sei dabei „gefangen von seiner Erinnerung“ und könne „ihren Bann nicht brechen“ (Fischer 1968: 493). Gewiss trifft Fischer damit eine ­Besonderheit des Stormschen Erzählens; doch wird er diesem, wie ich finde, nicht wirklich gerecht. Man muss sich als Gegenargument nur den Eingang zu Storms Schimmelreiter anschauen, an dem ich einmal nachzuweisen versucht habe, wie Storm hier im Zusammenspiel der verschiedenen Erzähl-, sprich Erinnerungsinstanzen, die ganze unfassbare Abgründigkeit allen Erinnerns freilegt (vgl. Weinberg 2011) – aber vielleicht tat er das auch nur, weil er eben entsprechend der Diagnose Fischers den Bann seiner Erinnerung nicht brechen konnte. Fruchtbarer scheint mir ohnehin die zweite Perspektive. Im Rahmen des ‚Problems der sogenannten Erinnerungstäuschung‘ konzentriert sich Fischer dabei auf das „Problem des ‚déjà vécu‘ oder der ‚fausse ­reconnaissance‘, das Psychologen und Psychiater seit sechzig Jahren beschäftigt [habe], von der Literaturwissenschaft aber, soviel ich sehe, bisher unbeachtet blieb“ (Fischer 1968: 494). Nach einigen anderen Beispielen wartet Fischer mit einem, wie er schreibt, „tatsächliche[n] Ergebnis“ auf: In seiner Analyse von Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen sei er darauf gestoßen, dass sich „an einer entscheidenden Stelle, im Abschnitt ‚Vom Gesicht und Rätsel‘ des dritten Zarathustrabuches [...] die Vision, die ihm den Gedanken der Wiederkunft eingab, verbunden mit der ganz ­typischen 5  Ich danke Alena Jakubcová, dass sie mir für diese wie andere Gedichte Fischers eine Übersetzung geliefert hat.

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Beschreibung eines unbezweifelbaren Zustandes ‚déjà vécu‘ [finde]“ (Fischer 1968: 494). Man mag über das Schlagende dieses Fundes und B ­ efundes streiten. Fischer nutzt diese Beobachtung allerdings zu w ­ eitreichenden Folgerungen im Schlussabsatz, den ich wiederum zur Gänze zitiere. Es gehe darum, die Mystik und die höchsten Gebilde eines Dichters aus Zuständen seines Seelenlebens abzuleiten, aus Zuständen allerdings, die auch dieser oder jener Nichtkünstler kennen lernt. Ich sehe eine Aufgabe der Literaturwissenschaft in der Aufdeckung jener psychischen ­Einflüsse, durch die ein Kunstwerk determiniert wird. Denn darin, dass sie aus einer i­ndividuellen Seele herausgeboren wurde, liegt die Neuheit und Einzigartigkeit jeder Schöpfung begründet. Auch für die Literaturwissenschaft gilt als intimstes Motiv jene Frage, die Wilhelm Windelband für ein modernes metaphysisches System mit den Worten ­formuliert: „Gibt es etwas Neues in der Welt? und wo und wie gibt es Neues?“. Auch für unsere Disziplin muss „die naturwissenschaftliche Weltanschauung und alle von ihr ­abhängige Philosophie“ die Frage verneinen: Ich erinnere an die Konsequenzen Richard Semons, der, der individuellen Mneme jedwede freischöpfende Fähigkeit absprechend, die künstlerische Tätigkeit auf blosse Assoziationen von bereits bestehendem [sic!] herabdrückt. Die literarhistorische Methode kommt durch ihre stark ausgeprägten stoffgeschichtlichen, bibliographischen, äussere Einflüsse aufdeckenden Tendenzen dieser Anschauung bereitwillig entgegen. Viele Forscher gehen den dichterischen Erzeugnissen mit biologischen Gesichtspunkten zu Leibe und neigen einer mechanisierenden Auffassung zu. Meiner Meinung nach ist die philologische Methode zwar unerlässlich für den ­Unterbau der Forschung, einseitig jedoch und unfruchtbar, wenn sie zur Alleinherrscherin wird. Es gilt, heute mehr denn je, die psychologischen Bedingungen der künstlerischen Tätigkeit zu ergründen und die Schöpferkraft von innen heraus zu erfassen (Fischer 1968: 495f.).

Fischer spricht zwar von „höchsten Gebilde[n] eines Dichters“, aber er führt diese auf „Zustände seines Seelenlebens“ zurück, die auch „­ Nichtkünstler“ kennen, womit er deutlich die absolute Sonderstellung des Dichters unterminiert. Diese Voraussetzung muss man mitlesen, wenn Fischer ­ anschließend die „Neuheit und Einzigartigkeit jeder Schöpfung“ darin begründet sieht, „dass sie aus einer individuellen Seele herausgeboren wurde“, was ja stark an Diltheys Konzept der Erlebnisdichtung angelehnt zu sein scheint. Allerdings greift er dann sofort wieder in die N ­ aturwissenschaften und zu Semons Konzept der Mneme aus, welche er in frappierender Weise mit der literarhistorischen Methode zusammenbringt, die durch ihre Fixierung auf Stoffgeschichte, Bibliographie und äußere Einflüsse einer ­mechanistischen Auffassung der Entstehung von Dichtung sozusagen zwangsläufig zuarbeite. Solche „philologische Methode“ sei zwar als „Unterbau“ ­unerlässlich, zuletzt aber alleine unfruchtbar. Stattdessen ruft Fischer dazu auf, „die ­psychologischen Bedingungen der künstlerischen Tätigkeit zu ergründen“. Aber sind wir dabei nicht doch nur wieder bei Diltheys ­„Erlebnisdichtung“,

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vor allem wenn Fischer die „Schöpferkraft von innen heraus“ erfassen will? Was bei Dilthey jedoch eine zwar bestaunenswerte, aber nicht rätselhafte Erinnerung als Ausdruck aller Lebensbezüge vorstellt, will Fischer in ihren konkreten Voraussetzungen und Funktionen klären. Dabei hatte er das Innere des Autors ja schon vorher für Äußeres geöffnet und dort Dinge am Werk sein lassen, die aus dem Allgemeinen, der Kultur stammen und über den Einzelnen hinausgehen. Damit sind wir wieder bei Friedrich Schleiermachers ­komplexerer Hermeneutik – und bei einer kulturalistischen Wende am Beginn des 20. Jahrhunderts, zu der u. a. Aby Warburg und Ernst Cassirer gehören. Ihnen stelle ich Otokar Fischer mit diesem Beitrag probehalber zur Seite. Ein letzter Punkt: Der hier besprochene Text ist auch als Sonderdruck in Fischers Nachlass erhalten. Auf diesem befindet sich in der rechten oberen Ecke der ersten Seite eine Widmung: „Drahé matince přináší / ze své ­svatební cesty / její vděčný syn / O. / 22.4.1911“ [Der lieben Mama bringt von seiner Hochzeitsreise ihr dankbarer Sohn O.] (Fischer 1911: 1)6. Dies kann man, um an Fischers eigene Unterscheidung anzuschließen, rein inhaltlich als Widmung eines ‚Muttersohnes‘ lesen – oder aber auf einer strukturellen Ebene, auf der dann mit dieser Widmung ein literaturwissenschaftlicher Aufsatz zum „Souvenir“, was ja übersetzt nichts Anderes als „Erinnerungsstück“ heißt, wird, womit Fischer auch die Literaturwissenschaft ins allgemeine Erinnern eingemeindet hätte. Auch daran ließen sich im Übrigen literaturwissenschaftliche Paradigmen der Theorie und Methodologie aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anknüpfen. Am Ende sei mir eine allzu reizvolle Phantasie erlaubt. Was wäre gewesen, wenn sich die Germanistik jedenfalls der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht in den Bahnen Diltheys, sondern in denen Fischers bewegt hätte? Wenn dabei all die Ansätze zu einer komplexeren Herangehensweise, die bei Fischer oft nur angedeutet sind, entfaltet worden wären? An welche Leistungen einer schon weit früher für andere Ansätze geöffneten Germanistik würden wir uns dann heute wohl erinnern können? So aber bleibt uns nur, uns an Otokar Fischer selbst zu erinnern.

6  Ich danke Martin Vavroušek für die Übersetzung dieser Widmung.

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Daniel Řehák

Lyrik, Psychologie und Wissenschaft (Otokar Fischer als Dichter) Tschechische und fremde Einflüsse Bei der Bewertung von Fischers lyrischem Vermächtnis muss man zunächst die Frage nach seinen Vorgängern, Inspiratoren und Lieblingsdichtern stellen. Fischer neigte sehr früh schon der tschechischen Kultur zu und schwankte seinen eigenen Worten zufolge „jako syn chauvinistického idealisty“ [als Sohn eines chauvinistischen Idealisten] zu keiner Zeit zwischen Tschechentum und Deutschsein.1 Vielmehr wurde er unter dem Einfluss seiner Freunde (v.a. während des Krieges) direkt zu einem Tschechisch-Nationalen.2 So ist es also am besten, mit einer kurzen Aufzählung seiner tschechischen Lieblingsdichter zu beginnen, zu denen besonders der Übersetzer Jaroslav Vrchlický, der metaphysische Otokar Březina, der lyrische Antonín Sova, der radikale Viktor Dyk und in gewissem Sinne auch der titanische Otakar Theer und der ikonische Svatopluk Čech gehörten. Vrchlickýs Werk beeindruckte den jungen Fischer paradoxerweise durch seine nicht-tschechischen Themen, die eine vielfältige Übersicht über die europäische Kultur boten, vor allem jedoch durch seine übersetzerische Monumentalität.3 An Březina schätzte er dessen persönliche Ausschließlichkeit, seine würdige Einsamkeit und seinen Wissensdurst, das Träumerische und Überirdische seiner Verse (Fischer 1928b). Der Einfluss Březinas zeigt sich schon im Titel von Fischers erstem Lyrikband Království světa [Königreich Welt]; Fischer operierte in einer Polemik mit seinen Freunden über den Sinn seiner Poesie mit diesem Begriff.4 Die Dichtung Sovas 1  LA PNP (Nachlass Arne Novák: korespondence přijatá [empfangene Otokar Fischer an Arne Novák 19.12.1929). 2  LA PNP (Nachlass Arne Novák: korespondence přijatá [empfangene Otokar Fischer an Arne Novák 19.05.1924). 3  LA PNP (Nachlass Arne Novák: korespondence přijatá [empfangene Otokar Fischer an Arne Novák 26.12.1921). 4  LA PNP (Nachlass Otakar Theer: korespondence přijatá [empfangene Otokar Fischer an Otakar Theer 21.07.1914).

Korrespondenz], Korrespondenz], Korrespondenz], Korrespondenz],

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dagegen ergriff ihn mit ihrer tiefen sozialen Empathie, ihrer offenen Körperlichkeit sowie ihrer anrührenden Landschaftsmalerei (Fischer 1928c). Aber auch Gedichte, mit deren Autoren oder Werk er später nicht mehr einverstanden war, haben Fischer sichtlich beeinflusst. Die Gedichte Dyks schätzte er für ihre Sachlichkeit, Unsentimentalität und Mannhaftigkeit (Fischer 1931b). Dennoch erlag er Dyks Werben, etwas zur Zeitschrift Lumír beizutragen, nach dem Ersten Weltkrieg kein zweites Mal.5 Sein kompliziertes Verhältnis zu Theer und dessen dichterischem Werk bezeichnete Fischer als „Disharmonie der Wesen“, und er wehrte sich auch gegen dessen überwältigenden Einfluss, da ihn der „reifere“ angeblich „abschottete“ (Fischer 1931a; Fischer 1927). Seine intime Polemik mit ihm gab er jedoch nicht auf. Theers direkter Einfluss auf Fischers Dichtung ist vor allem im Drama Hérakles (1919) sichtbar, das Theer gewidmet ist. Von der Lyrik Svatopluk Čechs interessierte ihn vor allem das romantische Gedicht Bouře [Gewittersturm], das er anonym für Universal Edition als Begleitung zu einer Komposition Vítězslav Nováks ins Deutsche übersetzte. Zu dieser Übertragung bekannte sich Fischer allerdings nicht, da der Text seiner Übersetzung für musikalische Zwecke angepasst worden war.6 Den grundlegendsten Einfluss auf sein Werk hatten jedoch Werke europäischer Dichter. Tiefe Spuren hinterließen vor allem Autoren seiner zweiten Muttersprache: der Wissenschaftler und Dichter Johann Wolfgang von Goethe, der Denker und bildgewaltige Dichter Friedrich Nietzsche (Fischer 1913a), der Dramatiker und Dichter Heinrich von Kleist (Fischer 1912) und der lyrisch-politische Heinrich Heine (Fischer 1923/24).7 Goethes monumentales und weitläufiges Werk erfüllte seine Vorstellung von der Parallelität von Schaffen und wissenschaftlicher Arbeit am besten, und sein Leben war ihm Vorbild dafür, wie er seine breit gefächerten Interessen und die Probleme des praktischen Lebens verbinden könne. Nietzsche wirkte unbestreitbar ermutigend auf Fischers Leben und Werk, stieß ihn mit seinem Radikalismus aber auch manchmal ab. An Arne Novák schrieb er während des Krieges: Mně Nietzsche nikdy nebyl směrodatný svým učením o vůli k  moci, já se ve své knize výslovně zříkám souhlasu s  jeho siláckou filosofií, mně imponoval volný duch, ne jeho hrubá tvrdost a tím se, mimochodem řečeno, odlišuji od Borského, který jeho vůli k moci přijímá a jí chce vychovávat Slovanstvo! Já nedovedu Nietzscheho básnické učení 5  LA PNP (Nachlass Arne Novák: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Arne Novák 21.06.1914). 6  LA PNP (Nachlass Arne Novák: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Arne Novák 21.06.1914). 7  Kubka (1959:70).

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stotožňovati s dnešní německou prósou, nesouhlasím s tím, činí-li např. dnešní Angličané Nietzscheho zodpovědna za něm. praxi; ba myslím, že by dnes stál na nejradikálnějším křídle levice, dál než-li Weisse Blätter. [Nietzsche mit seiner Lehre vom Willen zur Macht war mir niemals richtungsweisend, in meinem Buch sage ich mich ausdrücklich von jeder Zustimmung zu seiner kraftmeierischen Philosophie los, mir imponierte sein freier Geist, nicht seine grobe Härte, und darin unterscheide ich mich, nebenbei gesagt, von Borský, der seinen Willen zur Macht übernimmt und damit die Slawenheit erziehen will! Ich bin nicht imstande, Nietzsches dichterische Lehre mit der heutigen deutschen Prosa gleichzusetzen, ich bin nicht einverstanden damit, wenn z. B. die Engländer heute Nietzsche für die dt. Praxis verantwortlich machen; ja, ich denke gar, dass er sich auf dem radikalsten linken Flügel befände, weiter als die Weißen Blätter.]8

Gerade in Sachen Nietzsche musste Fischer einen beträchtlichen Zwiespalt überbrücken zwischen dem, was er dachte und fühlte, und dem, was er aus Karrieregründen sagen musste. Er selbst erwähnte das 1913: „Psát knihu o  Nietzschovi a být mezi prací povýšen za assistenta c.  k.  univ. knihovny je docela žertovné.“ [Ein Buch über Nietzsche zu schreiben und während der Arbeit zum Assistenten der k.u.k. Universitätsbibliothek befördert zu werden, ist ein ziemlicher Witz.]9 Es ging ihm wahrscheinlich einerseits um das praktische Voranbringen seiner Karriere und andererseits um das Unterhalten rein geistiger Vorlieben. Ein weiterer Lieblingsautor von ihm, der philosophierende Dramatiker Heinrich von Kleist, faszinierte Fischer nicht nur mit seinen klassizistischen Dramen, sondern auch mit seinem Leben und dessen radikaler Beendigung. Heine war ihm wesensverwandt, besonders durch die Peripetien seiner Assimilation, in der Fischer als Heines Übersetzer sich selbst und seine eigenen Probleme gespiegelt sah. Auch war er ihm das Beispiel für einen Dichter, der sich der Lyrik gleichermaßen widmete wie einem politischen Engagement in Form scharfer Epigramme. Dies alles findet sich auch bei Fischer. All diese – ausschließlich deutschen – Autoren gehören zu denen, die Fischer am stärksten beeinflusst haben, was sich indirekt auch dadurch belegen lässt, dass er sie nicht nur übersetzte, sondern auch größere monographische Werke über sie verfasste. Er analysierte ihren literarischen Stil ebenso wie ihr Leben und die Wirkung ihrer Werke. Außerdem regten ihn insbesondere Autoren an, die auch sein übersetzerisches Interesse weckten; hier 8  LA PNP (Nachlass Arne Novák: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Arne Novák 21.05.1916). 9  LA PNP (Nachlass Arne Novák: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Arne Novák 15.01.1913).

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wäre etwa der Einfluss der kontemplativen und aphoristischen Dichtung des Angelus Silesius (eigtl. Johannes Scheffler), der dramatischen Werke Pierre Corneilles oder der Gedichte François Villons besonders hervorzuheben. Gerade Fischers Übersetzungen von Villons Werken sind, fixiert von Voskovec und Werich im Osvobozené divadlo [Befreites Theater] in Form von Liedern mit sozialer Akzentuierung, kanonisch geworden; dieser Tatsache verdanken sie es, dass sie auch in der Nachkriegszeit nicht in Vergessenheit gerieten. Angesichts des Erfolgs der Übersetzungen und ihres Fortlebens in anderen Genre-Formen erscheint Fischers Erinnerung daran, wie er das Angebot des Verlegers R. Škeřík, Villons Gedichte nachzudichten, zunächst beharrlich ablehnte, und dass er eigentlich zur Übersetzung gezwungen wurde, indem man ihm die französische Ausgabe in seinen gepackten Urlaubskoffer einschmuggelte, etwas merkwürdig. Letztendlich las er sich aber an Villons Gedichten fest und verfiel ihnen ganz. So konnte er nach Jahren an die Umstände seiner Übersetzerei oder vielmehr Vorführung derselben während der Ferien zurückdenken: Nikdy předtím jsem nepocítil, že by se překladatelská činnost mohla projevovati způsobem takového „raptu“. Chodili jsme po lesích, lilo, já diktoval, do pensionu „Krásnohorská“ docházely zprávy, v okolí že se potlouká párek potulných komediantů, kteří se pod zmoklými stromy as učí raubířské nějaké roli, jenže ten herec na svou partnerku trhaně prý pokřikuje a ona to musí zapisovat… Z odstupu teď jakožto střízlivý pozorovatel, odhaduji, čeho se mému převodu nedostává po stránce filologické, jak jsem svou předlohu posunul do jiné snad oblasti myšlenkově náboženské, kolik mně k tomu snad chybí, abych vystihl Villonovy kvality básnické. [Nie zuvor habe ich erlebt, dass sich die Übersetzerei nach Art eines solchen „Raptus“ [Wahnsinnsanfall, A. d. Ü.] abgespielt hätte. Wir liefen durch die Wälder, es goss in Strömen, ich diktierte, und in der Pension „Krásnohorská“ traf die Nachricht ein, dass sich in der Umgebung fahrende Komödianten herumtrieben, ein Paar, das anscheinend unter triefnassen Bäumen irgendwelche Räuberrollen übe, wobei allerdings der Schauspieler seine Partnerin ununterbrochen anbrülle und sie es aufschreiben müsse … Jetzt, mit dem Abstand als gewissermaßen nüchterner Beobachter, ahne ich, was meiner Übersetzung auf philologischer Seite fehlt, wie ich wohl meine Vorlage in eine andere gedanklich-religiöse Sphäre verschoben habe, wie viel mir wahrscheinlich noch dazu fehlt, die Qualität von Villons Gedichten zu erreichen.] (Fischer 1938b: 171)

Dieses schriftliche Bekenntnis zu seiner ursprünglichen, vorurteilsbehafteten Abneigung gegen den Autor, der auch aufgrund der Themen, die er behandelte, nicht bedeutungslos war, ist für Fischer typisch. Wieder einmal ist der Übersetzer hier gefangen zwischen verstandesmäßiger Ablehnung und emotionaler Anteilnahme. Schwer zu sagen, warum ihn der Name Villons eigentlich so sehr abstieß, dass er ihn nicht einmal näher anschauen wollte, obwohl

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der mittelalterliche Dichter sichtlichen Einfluss auf Heine ausgeübt hatte (Fischer 1937a). Gut möglich, dass sich hier der Einfluss Theers, der Villon mochte und ihn in ihren wechselseitigen Polemiken verwendete, negativ auswirkte oder dass sich Fischer im Französischen doch weniger sicher fühlte als im Deutschen.

Eigene Gedichte Fischers erster Lyrikband Království světa [Königreich Welt] erschien 1911; der letzte wurde 1938, einige Monate nach seinem Tod, herausgegeben. So gut wie alle Gedichte, die Fischer in seinem Leben geschrieben hat, sind in tschechischer Sprache verfasst. Eine Ausnahme bilden die handschriftlichen Gedichte, die während seiner Berliner Studienzeit (1903–1904) entstanden sind und die unter anderem auch von Prag handeln.10 Fischers in tschechischer Sprache verfasste Dichtung besteht vor allem aus intimer Lyrik, deren Gegenstände sich jedoch über die Jahre deutlich veränderten. Zu den immer wiederkehrenden Themen und Motiven gehören Landschaftsszenen, besonders Bilder von Bäumen und Wald, dann der Traum und das Träumen, der Spiegel und der Doppelgänger, das Wort und seine Bedeutung, das Judentum und die Schicksalhaftigkeit. Besonders das Bild des Baums interessiert Fischer sehr, und man sieht, dass es ihm gelingt, die Vorstellung von Bäumen in der Natur mit literarischen Motiven zu verweben. Dies deutet etwa seine Studie über die Bedeutung des Baums des Todes und des Baums der Erkenntnis in der angelsächsischen Genesis an, die Anzeichen verdeckten persönlichen Interesses trägt (Fischer 1910). Außerdem schrieb Fischer persönliche, polemische Epigramme bzw. in begrenztem Maße auch politische Satire. Seine Epigramme sprengen jedoch ständig ihren Rahmen und werden zu innerlichen Definitionen allgemeiner Fragen oder Prophezeiungen in Versform mit recht furchterregenden Aussichten. Die Hauptkritik an seinen Epigrammen liegt auf der Hand: Sie sind nicht leicht genug und bei einigen seiner zeitgebundenen Sachen fröstelt es einen fast. In ihnen steckt mehr Bitternis über die Welt als geistreiche Angriffslust. Häufiger Impuls oder Thema seiner Lyrik als solcher sind der Traum und das Träumen. Bei der Auslegung fremder oder eigener lyrischer Werke 10  Vgl. die Studie Václav Petrboks in diesem Band.

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mit dem Motiv des Traums oder Traummotiven war ihm das Werk Sigmund Freuds eine bedeutende Hilfe. Aber so sehr Fischer auch von Freuds Arbeiten und deren Beitrag zur Literaturwissenschaft begeistert war, so sehr hatte er gewisse, vorwiegend künstlerische Vorbehalte dagegen, seine Deutungstheorien vollständig anzunehmen. Schon 1907 schrieb er: Tak nedovedu se zbaviti pochybnosti, snad laické, zda redukcí snu na přání nedopouští se autor nové křivdy proti snu, zda to neznamená podceňovat jeho bohatství, degradovat hodnost a olupovat nevyčerpatelnou fantasii o důležité a dalekosáhlé možnosti, má-li se za to, že její výtvory a básně jimi diktované jsou jedině přáním. Jsou sny – kdo dovede se dívat na krásné věci vděčně a bez pretensí, bude snad souhlasiti – ve kterých pražádné přání se nehlásí anebo kde zaujímá tak podružné postavení, že přisoudili bychom mu rozhodující význam, dopustili bychom se bezpráví vůči jiným, snad umělečtějším kvalitám, jež se projevují ve snu. Ale i tak ve svém přehnaném zakročení, dávají Freudovy vývody mnoho a mnoho nového, poskytují bohatý materiál k ocenění a vyšetření básnické obrazotvornosti. [So werde ich die – möglicherweise laienhaften – Zweifel daran nicht los, ob der Autor nicht durch seine Reduktion von Träumen auf Begehren neues Unrecht am Traum begeht, ob das nicht bedeutet, dessen Reichtum zu unterschätzen, dessen Wert zu degradieren und die unerschöpfliche Phantasie wichtiger und weitreichender Möglichkeiten zu berauben, wenn man dafürhält, dass seine Erzeugnisse und die von ihnen diktierten Gedichte nichts als Begehren sind. Es gibt Träume – wer schöne Dinge dankbar und ohne Prätentionen anschauen kann, mag mir zustimmen –, in denen nicht das mindeste Begehren aufscheint oder wo es eine so untergeordnete Stellung einnimmt, dass wir uns an anderen, möglicherweise künstlerischeren Qualitäten vergehen würden, die sich im Traum zeigen, wenn wir ihm entscheidende Bedeutung zumessen. Aber auch so, in ihrem übertriebenen Vorgehen, geben Freuds Schlussfolgerungen viel her, darunter vieles Neue, sie bieten reiches Material zur Bewertung und Untersuchung der dichterischen Vorstellungskraft.] (Fischer 1907: 1f.)

Fischer lehnte eine wörtliche Auslegung der Theorien Freuds sichtlich ab und zögerte nicht, dies auch Jahre später noch einmal zu wiederholen, als der Bewundererkreis des Wiener Psychologen weiter gewachsen war. Er tat dies, indem er die Grenzen seines Vertrauens zu nicht ganz beweisbaren Theorien im Hinblick auf die Kunst betont: Při posouzení literárně-vědeckého významu freudovských method mohu mluviti jen za sebe. Zařadil jsem před devíti lety psychoanalysu do širší spojitosti otázek literárně psychologických a v  době, kdy Freudova nauka nebyla naprosto ještě módou, podal jsem r. 1910 doklad, kterak z  ní lze těžiti jako z  discipliny pomocné. Smím tedy beze zdání podjatosti vyzvednouti dvojí zásadní hledisko: Nejdu s freudovci do důsledků jejich učení; jejich jednostranné a někdy až maniakální zdůrazňování sexuálních pudů je mi příliš těsnou determinací umělecké tvořivosti, zdá se mi stlačováním básnického vznětu a uniformováním, ba ochuzováním možností duchových. Ale s tím větší vahou zdůrazňuji, že Freudova methoda právě pro toho, kdo na ni slepě přísahá, přináší možnost prohloubení a zmnohatvárnění kritického pohledu; kdo jednou prošel školou Freudova nazírání, dívá se

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na umělecké tvoření a umělecké výtvory jakoby s nového břehu, objevuje na nich krok co krok dráždivé problémy a pod nimi netušené hloubky. [Bei der Bewertung der literarisch-wissenschaftlichen Bedeutung von Freuds Methoden kann ich nur für mich selbst sprechen. Ich habe vor neun Jahren die Psychoanalyse in den breiteren Zusammenhang psychologischer Fragen eingeordnet und habe 1910, in einer Zeit, als Freuds Lehre noch alles andere als Mode war, den Beweis geführt, auf welche Weise man sie als Hilfsdisziplin nutzen kann. Daher erlaube ich mir also, ohne den Verdacht der Befangenheit zu wecken, einen doppelten grundsätzlichen Standpunkt hervorzuheben: In der Konsequenz ihrer Lehren folge ich den Freudianern nicht; ihre einseitige und manchmal fast besessene Betonung der sexuellen Triebe stellt für mich eine zu enge Determinierung der künstlerischen Schaffenskraft dar, sie zwängt, wie ich meine, die dichterische Verzückung ein und uniformiert sie, ja, beraubt sie sogar ihrer geistigen Möglichkeiten. Aber umso gewichtiger betone ich, dass Freuds Methode gerade für jemanden, der blind auf sie schwört, die Möglichkeit mit sich bringt, den kritischen Blick zu vertiefen, vielfältiger zu gestalten; wer einmal durch die Schule von Freuds Anschauungen gegangen ist, betrachtet künstlerisches Schaffen und Kunsterzeugnisse wie von einem neuen Ufer aus, er stößt an ihnen auf Schritt und Tritt auf brennende Probleme und auf ungeahnte Tiefen darunter.] (Fischer 1925/26: 78f.)

Eine Schlüsselfrage für Fischers Lyrik ist vor allem die zeitgenössische Frage nach dem freien Vers, der für Fischer und seine Dichtergeneration alles andere als unproblematisch war, das Konzept war seinerzeit noch schwer verdaulich. An Stanislav Hanuš schreibt er: Četl jste v Moderní revui o novém umění a zase zmínku o volném verši? A víte, že pan Reichmann v Lidové revui nás všechny, kdož jsme byli zastoupeni na večírku Snahy (vás krom toho jakožto propagátora Verhaerena) etiketuje na verslibristy? Je to komické, protože já na př. jsem dosud takřka netiskl než nejpravidelnější věci – ale komický je celý ten článek i jeho autor. – nemusím snad ani podotýkat, že také má poslední věc je „divoká“. A nebo ještě dále: Vaše theorie rythmická je zajímavá, jak ji naznačujete, pro své citové prvky a pro své vztahy k hudební vědě – udělal byste dobře, kdybyste pro sebe a pro nás všechny to někde zaznamenal tiskem, k podporování našich intencí, ovšem též k dráždění našich konservativnějších odpůrců, kteří konec konců vždy říkají: ať žije sonet! [Haben Sie in der Moderní revue das über die neue Kunst und die wiederholte Erwähnung des freien Verses gelesen? Und wissen Sie, dass Herr Reichmann uns alle, die wir bei jener abendlichen Feier der Snaha vertreten waren, in der Lidová revue als Verslibristen etikettiert (und Sie außerdem als Propagator Verhaerens)? Das ist komisch, da z. B. ich bisher fast nichts als nur die allerregelmäßigsten Dinge gedruckt habe – aber dieser ganze Artikel und auch sein Autor ist komisch. – Ich muss wohl kaum anmerken, dass auch meine letzte Sache „wild“ ist. Oder noch weiter: Ihre rhythmische Theorie ist interessant, wie Sie sie andeuten, wegen ihrer gefühlsmäßigen Elemente und ihrer Bezüge zur Musikwissenschaft – Sie täten gut daran, sie für sich und für uns alle das irgendwann im Druck festzuhalten,

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um unsere Intentionen zu unterstützen, allerdings auch um unsere konservativeren Gegner zu reizen, die letzten Endes immer sagen werden: Es lebe das Sonett!]11

Er formulierte eine Verteidigung des freien Verses in dem Sinne, dass es in seinem Fall nicht darum ginge, „Europa“ in formalen Exaltiertheiten „einzuholen“ [„dohánění Evropy“], sondern mehr um neue und verhältnismäßig gefährliche schöpferische Herausforderungen, weit anspruchsvoller, als es wohl auf den ersten Blick aussehe: psáti volným veršem jest úkol odpovědnější nežli stavěti sonetty a vyplňovat formy, předem dané útvarem stancí a tercin, nutno zde poslouchati vnitřní své, neztuhlé ještě, neosvědčené, nelegitimované dosud melodiky. [Im freien Vers zu schreiben ist eine verantwortungsvollere Aufgabe als Sonette zu konstruieren und die Formen auszufüllen, die durch die Stanzen- und Terzinenform vorgegeben sind, hier muss man auf sein noch nicht erstarrtes, noch unbewährtes, bisher noch nicht durch Melodik legitimiertes Inneres lauschen.] (Fischer 1913b)

Er selbst wandte sich jedoch nie ganz von der Metrik ab, sie diente ihm sogar in gewissem Maße als inhaltliche Richtschnur. Über die Art und Weise seines gereimten Schaffens spracht er zu Miroslav Rutte wie folgt: „tak vždycky dělám básní, že hledám melodii vokálů především, zvl. v  rýmech, kdežto smysl se dostaví ex post.“ [Ich mache Gedichte immer so, dass ich vor allem die Melodie der Vokale suche, besonders in Reimen, wo der Sinn sich ex post einstellt.]12 Es ist also kein Wunder, dass Fischers lyrisches Werk häufig als extrem melodisch bezeichnet wird, was im Hinblick darauf, dass Fischer angeblich kein musikalisches Gehör hatte, nur ein weiteres Paradoxon seines Schaffens ist. So sehr er die Lyrik als das Genre ansah, in dem er sich im Unterschied zu seinen übrigen Aktivitäten – im Rahmen der gewählten Form – gänzlich vom Fluss der Themen und Motive wegtragen ließ, betrachtete er das Reimen nicht als Form, die ein Thema bindet. Am besten fasste er dies in einem Gedicht mit dem Namen Z mé poetiky [Aus meiner Poetik] mit folgenden Worten zusammen: Chceš definici, co je rým? / V sled obrazů jej rozložím: / Milostné echo – střepů tmel – / myšlenky plod i ploditel – / tep krve – bzukot tětivy – / blesk, jímž se slijí protivy – – / Mám obratem to jedním zvlást? / Salto mortale přes propast! [Du willst eine Definition, was ein Reim ist? / In der Folge der Bilder lege ich sie dar: / Liebliches Echo – der Scherben Kitt – / der Gedanken Frucht und Befruchter – / das 11  LA PNP (Nachlass Stanislav Hanuš: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Stanislav Hanuš 10.06.1913). 12  LA PNP (Nachlass Miroslav Rutte: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Miroslav Rutte 05.06.1920).

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Klopfen des Blutes – das Surren der Sehne – d / ein Blitz, durch den die Gegensätze verschmelzen ––/ Soll ich das mit einer einzigen Wendung schaffen? / Ein Salto mortale über einen Abgrund!] (Fischer 1925)

Die Lyrik faszinierte Fischer vor allem dadurch, wie sie ihm in Form von Versen unaufhörlich ansonsten wenig fassbare Themen vermittelte. Diese unerwünschten Anwandlungen beschreibt er seinem Freund Theer wie folgt: těchto dní byl jsem v  pravém slova smyslu přepaden básní (krátkou), při níž jsem si uvědomoval pravdivost slova: nicht ich dichte, es dichtet in mir, jak transponuji si Lichtenbergův výrok o bezděčnosti myšlení. [Dieser Tage wurde ich im wahrsten Sinne des Wortes überfallen von einem (kurzen) Gedicht, bei dem mir bewusst wurde, wie wahr das Wort ist: nicht ich dichte, es dichtet in mir, wie ich mir Lichtenbergs Ausspruch von der Unwillkürlichkeit des Denkens transponiere.]13

Gerade die Rezeption dieser Unbewusstheit und Unwillkürlichkeit im Denken – ansonsten sehr schwer beschreibbar – ist bei Fischer ausschließlich mit Lyrik verbunden. Er ist sich bewusst, dass sich Dichtung oder ihre Motivation nicht gründlich beschreiben lassen, dass Lyrik als Thema auf der Grenze wissenschaftlichen Forschens steht, auch wenn sie sich paradoxerweise zu ihrem Ausdruck der Wörter bedient. Diese Ansicht belegt vor allem Fischers Schlüssel-Essay über das dichterische Schaffen O nevyslovitelném [Über das Unaussprechliche] (Fischer 1929c). Dieser ist auch eine der wenigen Erklärungen Fischers zu seinem Verhältnis zur Dichtung überhaupt, es ist ein definitorischer und definitiver Text. Ansonsten spielen sich Fischers Überlegungen zur Lyrik als Genre häufig in einem eher technischen Rahmen ab. Mit Interesse verfolgte er besonders die Diskussionen über die Sprache und ihre Akzentuierung (Fischer 1931d; 1932), häufig beschäftigte er sich mit Versologie (Fischer 1929b; 1922; 1920b) oder sogar Rezitationsweisen (Fischer 1916; 1928a). Besonders interessierten ihn die rezitierten Interpretationen des tschechischen Klassikers Antonín Sova (Fischer 1920a) sowie seines Generationsgefährten Otakar Theer (Fischer 1927), in dessen Fall er den Autorenvortrag kannte, der ihm bei beiden als unverwechselbar galt.

13  LA PNP (Nachlass Otakar Theer, korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Otakar Theer 17.07.1914).

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Lyrik und Theater Die Bedeutung der Lyrik in Fischers Schaffen tritt am deutlichsten im Vergleich mit seinen übrigen Wort- und Vortragsaktivitäten hervor. Augenscheinlich brachte ihm das Dichten Konzentration und Lockerung, ganz anders als die Ansprüche, die seine Aktivitäten auf dem Theater an ihn stellten, die ihn aufgrund der zeitlichen Unerbittlichkeit des Theaterbetriebs, des persönlichen Aufeinandertreffens der Theaterpersönlichkeiten und der nachfolgenden Polemiken in der Presse relativ stark erschöpften. Das Theater und sein Umfeld in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nahm er folgendermaßen wahr: Dnes se situace již z  valné části vyjasnila, můj poměr k  mým „představeným“ nabývá pevných forem, hlavně vidím stále víc, jaký diplomat, ba jaký lišák musím být, chci-li dobré věci pomoci k vítězství. Snažím se vyjíti se Schmoranzem, poslouchám tirády Tilleho, respektuji osobní zaujatosti Kvapilovy atd., nicméně však očekávám s některé strany, a byť ne odjinud tedy z časopisů, prudký útok: dostal jsem se jakoby mezi 2 žernovy, a nechci-li kompromissovat, musím zachovat klidnou mysl, po případě koupit si česky tvrdou kůži. [Heute hat sich die Situation schon größtenteils geklärt, mein Verhältnis zu meinen „Vorgesetzten“ nimmt feste Formen an, vor allem sehe ich immer mehr, was ich für ein Diplomat, ja was für ein Schmeichler ich sein muss, wenn ich der guten Sache zum Sieg verhelfen will. Ich bemühe mich, mit Schmoranz auszukommen, höre mir die Tiraden Tilles an, respektiere die persönlichen Interessen Kvapils usw., und dennoch erwarte ich von irgendeiner Seite, und wenn nicht von anderswo, dann aus den Zeitschriften, einen scharfen Angriff: Ich bin gewissermaßen zwischen 2 Mühlsteine geraten, und wenn ich keinen Kompromiss eingehen will, muss ich ruhigen Kopf bewahren, mir gegebenenfalls ein tschechisches dickes Fell kaufen.]14

Später, Anfang der Zwanzigerjahre, bezeichnete er das Theater sogar als Irrweg, der ihn von seinem erträumten und idealistischen Weg abbringe. In einem Brief an Otokar Šimek vergleicht er Drama, Theater und Lyrik: Zvící struna buď rozechvěje spřízněnou, anebo zůstane bez ozvěny. Je to nejnebezpečnější ze všech umění, samotářské a přece sdílné, a jediné snad (kromě hudby) zcela bezprostřední jediné, kde se netrpí kompromis a které vyslovuje tajemné a hledí v tvář absolutnu. Drama jen někdy. Divadlo skoro vůbec ne… A paradox tomu chce, že já svou pozornost nejnapjatější upírám zrovna k divadlu, ačkoli mi je v přemnohém proslovu tak zcela lhostejné. Je to vůbec jeden z těch 1001 paradoxů, mezi nimiž se potácí můj život a má činnost. [Eine Saite, die erklingt, bringt entweder eine verwandte Saite zum Schwingen oder sie bleibt ohne Widerhall. Es ist die gefährlichste aller Künste, einsiedlerisch und doch mit-

14  LA PNP (Nachlass Otakar Theer: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Otakar Theer 06.07.1911).

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teilsam, und wohl (außer der Musik) ganz unmittelbar die einzige, die keinerlei Kompromiss duldet, das Geheime ausspricht und dem Absoluten ins Antlitz blickt. Das Drama nur manchmal. Das Theater fast gar nicht … und ein Paradox will es, dass ich meine angespannteste Aufmerksamkeit ausgerechnet auf das Theater richte, obwohl es mir in so vielen Äußerungen so völlig gleichgültig ist. Das ist überhaupt eines der 1001 Paradoxa, zwischen denen mein Leben und meine Tätigkeit schwanken.]15

Ebenso bestätigt er Richard Weiner in dessen Skepsis dem Theater gegenüber: Přicházím teď k tomu, že máte Vy (a u nás třeba Rutte, jenž se za trest stal mým nástupcem) pravdu: divadlo je hodně přeceňovaná věc, a já teď znám hodně jiných věcí, jež jsem po dobu své theatrální obsesse vlastně hanebně zanedbával. Patří k nim také můj koníček, cosi na rozhraní filosofie a náboženství a života a zvědavosti a vyzývavosti a cestování a kázání a mlčení a nevím ještě, co to vlastně je, ale jistě je to: na rozhraní; jako já celý, z něhož Vy děláte překultivovance. [Ich komme jetzt dazu, dass Sie (und bei uns etwa Rutte, der zur Strafe mein Nachfolger geworden ist) Recht haben: Das Theater ist eine ganz überschätzte Sache, und ich kenne jetzt viele andere Dinge, die ich während der Zeit meiner Obsession für das Theater eigentlich schändlich vernachlässigt habe. Zu ihnen gehört auch mein Steckenpferd, etwas im Grenzgebiet von Philosophie und Religion und Leben und Neugier und Provokation und Reisen und Predigen und Schweigen und ich weiß noch nicht, was es eigentlich ist, aber sicher ist es das: im Grenzgebiet; wie auch ich als Ganzer, den Sie zu einem Überkultivierten machen.]16

Es ist wirklich seltsam, dass Fischer, obwohl er Zeit seines Lebens Hunderte von Theaterrezensionen schrieb und sich grundsätzlich zu vielen Themen in der literarischen Welt äußern konnte, (programmatisch) fast gar keine Gedichtbände rezensierte. Im Grunde beschränkte er sich auf Artikel und Studien über seine Lieblingsdichter oder gelesene Autoren, die jedoch möglichst schon tot oder zu Lebzeiten unsterblich geworden waren. Seine Herangehensweise an die Lyrik anderer – grundsätzlich nichts kommentieren! – zeigte sich auch im Falle junger Dichter wie František Gottlieb oder Viktor Fischl, die nach seiner Begutachtung lechzten. Fischl schrieb er dazu: Co se totiž lyriky týče, nepřiznávám si – alespoň tam, kde se domnívám setkávati se s talentem – práva kritické analysy, nýbrž omezuji se úmyslně na suché poznámky o stránce řekl bych řemeslné a pak o sumárních a subjektivních zřetelích vkusu, totiž zda se mi to líbí nebo nelíbí. Při tom vím, že můj výběr a vkus je velmi omezený a těsný – ale to všechno proto, že při lyrice cítím „mea res agitur“, jsem od fochu, ale spolu také: nejsem zde a nikdy jsem nebyl k rukopisně mi podávaným veršům skutečný kritik. 15  LA PNP (Nachlass Otokar Šimek: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Otokar Šimek 31.03.1922). 16  LA PNP (Nachlass Richard Weiner: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Richard Weiner 02.04.1923).

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[Denn was die Dichtung angeht, gestehe ich mir – zumindest dort, wo ich glaube, es mit einem Talent zu tun zu haben – nicht das Recht der kritischen Analyse zu, sondern beschränke mich bewusst auf trockene Anmerkungen zur – wie ich es nennen würde – handwerklichen Seite, und dann zu summarischen und subjektiven Aspekten des Geschmacks, nämlich ob es mir gefällt oder nicht. Dabei weiß ich, dass meine Auswahl und mein Geschmack sehr eng und begrenzt sind – aber das alles deshalb, weil ich bei Lyrik das Gefühl habe: „mea res agitur“, ich bin vom Fach, aber damit auch: Ich bin hier nicht und war auch sonst nie ein wirklicher Kritiker für Verse, die mir handschriftlich gegeben wurden.]17

Das damit verbundenes Paradox seines öffentlichen Wirkens war in diesem Fall seine wiederholte Beteiligung an den Auswahlgremien lyrischer Wettbewerbe, wo er sich natürlich geheim zu den fremden Gedichten äußerte (Fischer 1937b, 1938a). Sein späterer Verzicht auf die kritische Beurteilung von Lyrik ist etwas seltsam, weist aber darauf hin, dass Dichtung für Fischer wirklich etwas sehr Intimes und im Rahmen seiner eigenen künstlerischen Arbeit ganz Außerordentliches war. Eine Ausnahme machte er offensichtlich nur im Falle Richard Weiners, an dem er den Mut in der Beschreibung von Themen am Rande des Wahrnehmbaren schätzte, des gefährlichen Bereichs, der ihn schicksalhaft anzog. Anlässlich eines Vergleichs ihrer geschriebenen poetischen Programme, d.h. von Weiners Lazebník [Der Bader] und seinem eigenen Buch Duše a slovo [Wort und Seele], schrieb er ihm: Já si připadám při vší své problémovosti a chvilkové bezvýchodnosti, hotovým primitivem proti Vaší komplexní nátuře. Jinými slovy: Já postupoval v obdobných polohách jako historik, Vy jako ten, kdo si přiznává, že je „v tom“; já jako badatel (byť ne „chladný“), Vy jako formovatel. [Bei all meiner Problematizität und zeitweisen Ausweglosigkeit komme ich mir gegenüber Ihrer komplexen Natur wie ein völliger Primitivling vor. Mit anderen Worten: Ich bin in vergleichbarer Lage wie ein Historiker vorgegangen, Sie wie jemand, der sich dazu bekennt, „mittendrin“ zu sein; ich als Forscher (wenn auch nicht als „kühler“), Sie als Formender.]

Gleichzeitig adressierte er jedoch eine Warnung an Weiner; er sah in seinem Werk die „zlořečenost duší příliš bohatých, že hledají, nevidouce snad ani, že už našli.“ [Verdammnis allzu reicher Seelen, die suchen und möglicherweise gar nicht sehen, dass sie schon gefunden haben.]18

17  LA PNP (Nachlass Viktor Fischl: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Viktor Fischl 02.03.1934). 18  LA PNP (Nachlass Richard Weiner: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Richard Weiner 31.12.1929).

Lyrik, Psychologie und Wissenschaft (Otokar Fischer als Dichter)

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Der Mann im Grenzbereich Fischers Aktivitäten im Grenzbereich waren sicherlich fruchtbar für andere, waren aber für ihn selbst nicht nur von Vorteil, so überwiegend positiv er auch über seine Neigung zu randständigen Meinungen und seine seltsame Art von Gleichgewicht zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Arbeit sprach. Immer wieder war ihm die eigene Grenzhaftigkeit Quell gewisser Befürchtungen, weil er sich dessen bewusst war, wie klein in seinem Fach/seinen Fächern der Abstand von der Überschreitung seelischer Grenzen (unter dem Motto der Inspiration) zum grenzenlosen Wahnsinn ist. Theer vertraute er an: Musím se už spokojiti svým osudem, že se bude věčně střídati rozpjetí a deprese, pocit vítězství a studu. Přikládal jsem vinu toho svému filologickému zaměstnání, svému českému germanismu, svému rozkyvu mezi vědou a uměním – ale důvod tkví hloub, ve mně samotném a znám nebezpečí a znám také bohatství takového svého prostým slovem nezachytitelného stavu. Přemýšlím-li o sobě, pak vidím, že celá má dosavadní činnost, vědecká i kritická i umělecká, dá se odtud vysvětliti a že odsud as vyvěrají také moje plány do budoucna. Co mně vědecky a překladatelsky chytlo, to bylo především – v Zarathustrovi a v Penthesilei – ten demonický neklid s místa na místo. To štvaní vnitřní jakousi duševní neuspokojeností, ta cesta vstříc měnícím se fixním ideám; a totéž mne fascinovalo na jich tvůrcích, již zanikli šílenstvím nebo sebevraždou, a též na jiných mých miláčcích, v prvé řadě na mladém Goethovi, jenž se pak ovšem moudrostí vyhojil ze sebe samého. [Ich muss mich dann schon in mein Los schicken, dass Höhenflüge und Depressionen miteinander wechseln werden, Gefühle von Sieg und von Scham. Ich habe dafür die Schuld dieser meiner philologischen Anstellung gegeben, meinem tschechischen Germanismus, meinem Schwanken zwischen Wissenschaft und Kunst – aber der Grund liegt tiefer, in mir selbst, und ich kenne die Gefahr und kenne auch den Reichtum dieses meines Zustands, der sich mit einem einfachen Wort nicht erfassen lässt. Wenn ich über mich selbst nachdenke, dann sehe ich, dass meine gesamte bisherige Tätigkeit, die wissenschaftliche wie die kritische und die künstlerische, sich daraus erklären lässt und daher rühren wahrscheinlich auch meine Pläne für die Zukunft. Was mich wissenschaftlich und übersetzerisch gepackt hat, das war vor allem – im Zarathustra und der Penthesilea – diese dämonische Unruhe von Ort zu Ort. Dieses innere Drängen einer gewissen seelischen Unzufriedenheit, dieser Weg, sich wandelnden fixen Ideen entgegen; und ebenso faszinierte es mich an ihren Schöpfern, die durch Wahnsinn oder Selbstmord zugrunde gingen, und auch an anderen Lieblingen von mir, in erster Linie am jungen Goethe, der sich dann allerdings durch Weisheit von sich selbst heilte.]19

19  LA PNP (Nachlass Otakar Theer: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Otakar Theer 01.04.1915).

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Die gespaltene Bewunderung für jene, die auf dem gefährlichen Weg unterlegen waren, als auch für jene, die sich gerettet hatten, korrespondiert mit den Grenzinteressen des Verfassers, der über die Gefahr bzw. sogar die Unmöglichkeit, Wissenschaft und Kunst zu verbinden, das Seine wusste: Ta dvě themata: ‚Věda‘ a ‚umění‘ jsou mi neměnná, mění se jenom stanovisko k  nim a vzájemný jich poměr a mým ideálem by bylo, pěstovat vědu ryze vědecky a v poezii být ‚nur Narr, nur Dichter‘. Ale je to snad při základní rozeklanosti nemožné! [Die zwei Themen: ,Wissenschaft‘ und ,Kunst‘ sind mir unveränderlich, es verändert sich nur der Standpunkt zu ihnen und ihr Verhältnis untereinander, und es wäre mein Ideal, die Wissenschaft rein wissenschaftlich zu pflegen und in der Dichtung ,nur Narr, nur Dichter‘ zu sein. Aber das ist wohl bei meinem grundlegenden Gespaltensein unmöglich!]20

Fischer vertrat – wie es scheint – keinesfalls den Standpunkt einer konsequenten Verflechtung von Dichtung und Wissenschaft, an René Wellek schrieb er dazu: Věřte mně, jenž jsem jako český germanista usilující o spojení umění a vědy prošel těžkými konflikty, že 1) není důvodu krčiti rameny nad naší vědou (pobyt v cizině mne o tom znovu přesvědčuje) a 2) že lék proti duplicitě aspirací je jediný: nesměřovati, nechtít být v odbornictví básníkem, a zůstat – malgré tout – přes dnešní filosofování v lit. vědě – věren dobré a přísné filologii: Znáte mne a víte tedy, že se tím nepřimlouvám za nějakou úzkoprsost ani slovíčkářství! [Glauben Sie mir, der ich als tschechischer Germanist, bemüht um die Verbindung von Kunst und Wissenschaft, schwere Konflikte durchgemacht habe, dass es 1) keinen Grund gibt, über unsere Wissenschaft die Schultern zu zucken (der Aufenthalt im Ausland überzeugt mich erneut davon) und dass es 2) nur eine einzige Medizin gegen die Duplizität der Aspirationen gibt: Sich nicht festzulegen, nicht Dichter von Beruf sein zu wollen, sondern – malgré tout – trotz der heutigen Philosophiererei in der Lit.wissenschaft zu bleiben – getreu der guten und strengen Philologie: Sie kennen mich und wissen also, dass ich damit nicht irgendwelcher Engstirnigkeit oder Wortklauberei das Wort rede.]21

Otokar Fischer war eine widersprüchliche Grenzpersönlichkeit, und das nicht nur in den Augen anderer, sondern vor allem in seinen Bekenntnissen, in der Auffassung seines eigenen Schicksals. Er wirkte wie die verkörperte Einheit von Gegensätzen, wie ein personifizierter Beleg dafür, dass Gegensätze nicht so unvereinbar fern sind, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Fischer hatte jedoch gar nicht vor, die Gegensätze zu vereinen, er war kein Versöhner. An Arne Novák schrieb er: 20  LA PNP (Nachlass Arne Novák: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Arne Novák 22.12.1912). 21  LA PNP (Nachlass René Wellek: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an René Wellek 02.05.1926).

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To je ta má nedůvěra proti spojce „a“, jíž se přidružují dva „příbuzní“ básníci k  sobě, ale víc: to souvisí s  mou vírou (nebo pověrou?) v  nezařaditelnost a nevyslovitelnost psychických jevů, které jsem dal výraz essaisticky v ostatní mé činnosti: Neboť pro mne mezi duší a tělem, mezi ženou a mužem, mezi každým A a B, mezi dvěma sobě nejbližšími lidmi je jakási hráz, je vzduchoprázdno, jímž nelze proniknout. [Da ist dieses mein Misstrauen gegen die Konjunktion „und“, mithilfe derer zwei „verwandte“ Dichter einander zugesellt werden, aber noch mehr hängt es mit meinem Glauben (oder Aberglauben?) an die Nicht-Einordenbarkeit und Unaussprechlichkeit psychischer Erscheinungen zusammen, dem ich essayistisch in meiner übrigen Tätigkeit Ausdruck verliehen habe: Denn für mich gibt es zwischen Seele und Körper, zwischen Frau und Mann, zwischen jedem A und B, zwischen den beiden einander nächststehenden Menschen eine gewisse Schranke, eine undurchdringliche Luftleere.]22

Er war eher Analytiker und nutzte alle Gegensätze, um einen eigenen Weg zu erzeugen, den er „dritten“ Weg nannte, einen Weg, den die aristotelische Philosophie ausschloss. Die ihm zugeschriebene Kunst der Synthese verwehrte er überraschenderweise sich selbst, als er in einem Brief an Arne Novák zu einem bestimmten Abschnitt aus Kleists Penthesilea konstatierte: Dozajista ne, že bych byl nebo chtěl být „ein ergrimmter Feind“: ale jsem a chci býti a byl sem už častokrát „ein Drittes“. Ne z koketerie, věř mi, a ne z nerozhodnosti. Ale proto, že si myslím, že nějakou vyšší pravdu lze při sporu A a Non A získat při zdánlivé neutralitě, jež je v podstatě úsilím o synthesu. Ne že bych jí dosáhl. Na to as nestačí mé síly. Ale nezdá se mi, že by takové úsilí a priori bylo něčím, zavržitelným. [Ganz sicher nicht, dass ich „ein ergrimmter Feind“ wäre oder sein wollte: Aber ich bin und will sein und war schon häufig „ein Drittes“. Nicht aus Koketterie, glaube mir, und nicht aus Unentschlossenheit. Sondern deshalb, weil ich denke, dass sich bei scheinbarer Neutralität irgendeine höhere Wahrheit beim Streit zwischen A und Non A erreichen lässt, die im Grunde eine Bemühung um Synthese ist. Nicht, dass ich sie erreicht hätte. Dafür reichen wohl meine Kräfte nicht. Aber mir scheint nicht, dass eine solche Bemühung a priori etwas Verwerfliches wäre.]23

Der tödlichen Gefahr der Grenz-Erforschung war er sich bewusst. Dennoch bewunderte er sowohl diejenigen, die auf ihrem künstlerischen Weg ihr Leben verloren (Kleist), als auch die, denen es gelang, es zu bewahren (Goethe). Der Grenzbereich [„rozhraní“] als schicksalhafte Ausrichtung, aber auch als Wahl – das ist das eigentliche Credo von Fischers unruhiger Seele, die würdig

22  LA PNP (Nachlass Arne Novák: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Arne Novák 20.07.1917). 23  LA PNP (Nachlass Arne Novák: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Arne Novák 16.10.1932).

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zwischen viele „mezi“ [Zwischen] eingeklemmt ist.24 Seinen eigentlichen künstlerischen und wissenschaftlichen Standpunkt drückt somit möglicherweise am besten die letzte Strophe des Gedichts V amfitheatru [Im Amphitheater] aus der Sammlung Ozářená okna [Erleuchtete Fenster] aus: Potomek smyslných raç – bez citu pro jejich děti; životem vržen jak míč v století ze století. V peřeje doby stržen a zaplavován jak hráz; stavidlo, kterým proudí a přelévá se čas; ne horská strž ni přístav, ne ústí a ne zdroj, jsem přechodný, překotný dnešek, minula se zítřkem boj, jsem Říman a jsem oběť, jsem smír a rouhání, jsem signál všední práce a zvon, jenž vyzvání – mé místo: křižovatka, můj osud: rozhraní; mou prapodstatou změna, severojižní můj směr, můj domov: labyrint věků, má duše: prolnutí sfér – – Jsem krví oné krve, z níž vyvřel Ahasver. [Nachkomme sinnlicher Rassen – ohne Gefühl für ihre Kinder; vom Leben von Jahrhundert zu Jahrhundert geworfen wie ein Ball. Hineingezogen in die Stromschnellen der Zeit und überschwemmt wie ein Damm; Eine Schleuse, durch die die Zeit strömt und überläuft; Nicht Schlucht im Gebirge noch Hafen, nicht Mündung und nicht Quelle, bin ich das vorübergehende, hastige Heute, bin Kampf des Gestern mit dem Morgen, bin Römer ich und bin ich Opfer, bin Frevel und Versöhnung ich, bin ich Signal des Alltags, Arbeit und Glocke, die ihr Ende einläutet – mein Ort: die Kreuzung, mein Schicksal: Grenzgebiet; mein ursprüngliches Wesen der Wandel, nordsüdlich meine Richtung, mein Heim: das Labyrinth der Zeiten, meine Seele: die Durchdringung von Sphären – bin Blut von jenem Blute, aus dem Ahasver spross.] (Fischer 1915: 38f.)

Post mortem Die Qualitäten von Fischers Dichtung und Denken erwiesen sich vor allem in der Zeit nach seinem Tod, als man seine nahezu prophetischen Fähigkeiten beurteilen konnte. Das Zusammentreffen seines Todes mit dem nationalsozialistischen Anschluss Österreichs, dem ersten konkreten Vorzei24  LA PNP (Nachlass Otakar Theer: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Otakar Theer 21.07.1914).

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chen der künftigen Kriegsgräuel, klingt natürlich äußerst schicksalhaft. Fischer selbst bestimmte den Zeitpunkt seines Todes bereits im Jahre 1921 mehr oder weniger genau in einem Brief an Arne Novák: „budu (na světě) podle své pověry už jenom něco přes 14 (let).“ [Ich werde meinem Aberglauben zufolge nur noch etwas mehr als 14 (Jahre) (auf der Welt) sein.]25 Wir wissen nicht, was ihn zu dieser Vorhersage bewegte, aber es ist klar, dass sein Tod nicht so historisch schicksalhaft war, wie er manchmal erscheinen mag. Fischer war Ende der Dreißigerjahre bereits mehrere Jahre lang ernsthaft krank gewesen und ahnte anscheinend deutlich, dass seine Tage gezählt waren. Nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus, wo er mit einer eitrigen Entzündung eingeliefert worden und dem Tod nahe gewesen war, lebte er angesichts des Schwindens seiner körperlichen Kräfte mit geliehener Zeit.26 Trotzdem lehnte er ein weiteres Mal eine Herausforderung nicht ab und begab sich mitten in die mörderische „Arena“ des Nationaltheaters.27 Das Ende seines Lebens musste unbedingt von einer persönlichen Erschütterung, einer familiären oder öffentlichen, gezeichnet sein. In gewissem Sinne scheint es beinahe als Gnadenakt, dass er bei der Nachricht vom Anschluss Österreichs starb und nicht etwa bei der Nachricht vom Münchner Abkommen, das erst der wirklich bittere Kelch für die tschechischen pro-europäischen Intellektuellen werden sollte. Aber Fischer machte sich über einen drohenden Krieg in Europa keinerlei Illusionen, sondern erwähnte verschiedentlich, dass er das Kommen kriegerischer Zeiten geradezu spürbar fühle, so etwa in einem Brief an Arne Novák aus dem Vorfrühling 1933: V  návalu neodkladných prací a článečků i závazečků neoznámil jsem Ti posud, což dodatečně činím paní Jiřině i Tobě, že se nám v únoru narodila třetí holčička a že jsme jí dali jméno Rut. Nevím proč, kdykoli se teď na ni podívám, mimoděk mi jde hlavou celý dnešní zmatek světa, ba jakési předjaří války, chaosu, lidské katastrofy! [Im Ansturm unaufschiebbarer Arbeiten und Artikelchen und kleiner Verpflichtungen habe ich Dir bisher nicht bekannt gegeben, was ich zusätzlich für Frau Jiřina und Dich tue, dass uns im Februar das dritte Töchterchen geboren wurde und dass wir ihr den Namen Rut gegeben haben. Ich weiß nicht warum, immer wenn ich sie ansehe, geht mir unwillkür-

25  LA PNP (Nachlass Arne Novák: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Arne Novák 26.12.1921). 26  LA PNP (Nachlass Arne Novák: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Arne Novák 16.05.1935). 27  LA PNP (Nachlass Arne Novák: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Arne Novák 03.11.1935).

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lich das gesamte Durcheinander der heutigen Welt durch den Kopf, ja eine Art Vorfrühling des Krieges, des Chaos, der menschlichen Katastrophe!]28

In jedem Fall war sein öffentliches Wirken nicht mit seinem Tod beendet. Gleich in den Monaten danach erschien ein alter Essay von ihm mit dem Titel Mezi válkou a uměním [Zwischen Krieg und Kunst], den er 1917 veröffentlicht hatte – damals in unzensierter Form –, und so erklangen die Worte dieses toten Gelehrten und Dichters, am Ende des Ersten Weltkriegs geschrieben, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs von Neuem (Fischer 1938c). Ende ‚September desselben Jahres, nach der Bekanntgabe des Münchner Abkommens, erschien dann anstelle von Peroutkas üblicher Einleitung zu den aktuellen Ereignissen auf der ersten Seite der Přítomnost [Gegenwart] Kiplings Gedicht If... in der redaktionell überarbeiteten Übersetzung Otokar Fischers, erstaunlicherweise ohne Nennung des Namens des Übersetzers (Kipling 1938). Konnotationen gab es in diesem Falle mehr als genug. Man wusste von diesem Gedicht, dass es in Großbritannien viel gelesen war, dass es in vielen Abdrucken an den Wänden britischer Büros hing. Auch war es das Gedicht, das T. G. Masaryk während des Ersten Weltkriegs begleitet hatte. Es ist interessant, dass Fischer die Übersetzung dieses Gedichtes, die Rudolf Jílovský in Auftrag gegeben hatte, zunächst mit der Verlautbarung ablehnte: „Co je mi do anglického militaristy a jeho If“ [Was schert mich ein englischer Militarist und sein If] (Fischer 1931c). Nachdem er den Text gelesen hatte, änderte er jedoch seine Meinung, arbeitete die Übersetzung des wichtigen Gedichtes am Ende aus und überarbeitete sie über die Jahre mehrfach. Dieser übersetzerische Beitrag zum Thema Tapferkeit ist nur eine weitere wichtige Tat eines Mannes, der sein ganzes Leben lang im Grenzbereich von Dichtung und Wissenschaft, Literatur und Leben stand. (Übersetzt von Kathrin Janka)

28  LA PNP (Nachlass Arne Novák: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Otokar Fischer an Arne Novák 10.03.1933).

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Archivquellen LA PNP: Literární archiv Památníku národního písemnictví, Praha (Nachlässe: Otokar Fischer; Viktor Fischl; Stanislav Hanuš; Arne Novák; Otokar Šimek; Otakar Theer; Richard Weiner; René Wellek)

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Daniel Řehák

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Filip Charvát

„(neboť není ›náhody‹)“1 Anmerkungen zu Otokar Fischers Auffassung von Literaturpsychologie und Richard Weiners Traumpoetik Im Werk von Richard Weiner und Otokar Fischer nimmt die Frage nach der Seele eine bevorzugte Stellung ein. Das ist nicht eigentlich verwunderlich. Beide Autoren, in den 1880er-Jahren geboren, können der expressionistischen Generation zugerechnet werden.2 Für diese war ein gesteigertes Krisenbewusstsein kennzeichnend. Die Erfahrung des Wertezerfalls und eines sinnlosen Krieges, das weit verbreitete Gefühl, in einem politischen Provisorium zu leben, moderne Entfremdungserfahrungen und ­schizophrene Lebensformen verliehen der Suche nach Identität ein besonderes Pathos. In dieser Situation erschien nicht wenigen der Zeitgeister, die Frage nach dem Seelischen als ein möglicher Ausweg. Die Seele hatte hier eine besondere Attraktivität, weil sie, wie ein inneres Faktum, gleichsam gegeben (nicht konstruiert) erscheint und weil die Ich-Identifikation mit der eigenen Seele besonders naheliegt. Das Psychische war damals wie heute ein altehrwürdiges Thema in Philosophie und Religion und erheischte zugleich im epochalen Umbruch zur Moderne immer wieder neue Auslegungen. Das akademische Fach Psychologie emanzipierte sich etwa mit der experimentellen Psychologie eines Wilhelm Wundt oder der Psychoanalyse Sigmund Freuds zunehmend von der antiken Seelenlehre. Andererseits weist die Literatur- und Kunstgeschichte mit dem Symbolismus, der Wiener Moderne oder dem ­Surrealismus immer wieder Richtungen auf, die einen neuen künstlerischen Begriff des Seelischen zu etablieren suchen. Der ‚Bilderstrom der Seele‘ (stream of

1  [(denn es gibt keinen „Zufall“)]. Aus einem Brief Richard Weiners an Otokar Fischer vom 18.12.1929 (LA PNP Praha. Nachlass Otokar Fischer). – Alle hier angeführten Übersetzungen aus dem Tschechischen stammen, wenn nicht anders angeführt, vom Verfasser dieses Beitrags. 2  Man vergleiche hierzu das viel zitierte Buch von Chalupecký (1992), in welchem dieser außer Richard Weiner noch Jakub Deml, Ladislav Klíma und Jaroslav Hašek zum tschechischen Expressionismus zählt und als gemeinsames Kennzeichen gerade das ­ Interesse am Psychischen hervorhebt.

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consciousness)3 wird zum bevorzugten Darstellungsproblem der Kunst, nicht zuletzt weil er als unterschwellige Motivation unseres Handelns, Denkens und Fühlens gilt. Im Geheimnis seiner Bewegung wurden und werden zuweilen sowohl die Gründe für die Krankheiten des modernen Menschen, wie auch der Schlüssel zu seiner Heilung vermutet. Das Kalkül hierbei ist von jeher, dass wer sich auf (seine) Seele versteht, Herr über (sein) Schicksal wird. Diese Grundintuition, denke ich, teilten Weiner und Fischer. Die Seelenforschung war ihnen beiden der Königsweg zu Erkenntnis, Heilung und Befreiung – Schlüsselwörtern ihres Werkes. Beide haben die Problematik aus je eigener Perspektive beleuchtet. In diesem Kontext kommunizierten und korrespondierten sie miteinander.

1. Otokar Fischer – drei Stationen seiner Literaturpsychologie Otokar Fischer hat wiederholt und in verschiedenen Beiträgen sein Interesse an allgemeinen und speziellen Fragen der Literaturpsychologie bekundet. Im Folgenden sollen mittels dreier Texte Stationen seiner theoretischen Haltung rekonstruiert werden.

Das Problem der Erinnerung und deren Bedeutung für die Poesie (1911) In seinem Beitrag nennt Fischer als „Psychologische Grundlagen eines poetischen Gebildes: Erinnerung, sinnliche Wahrnehmung, Phantasie“ (Fischer 1911: 2). Diese würden nach seinen Worten in der zeitgenössischen Literaturpsychologie entweder „mechanistisch“ (im Sinne Ewald Herings und Richard Semons) oder „vitalistisch“ (im Sinne Henri Bergsons) erklärt (Fischer 1911: 1), d.h. sie würden entweder als „Automatismus“ oder als „Aktivität“ begriffen (Fischer 1911: 2). Im Kontext dieses theoretischen Spannungsfeldes nennt Fischer die Möglichkeit einer dreifachen Distinktion. Die Problematik 3  Folgt man den Ausführungen des Duden UWB (Drosdowski u. a. 1989) erklärt sich die Etymologie von „Seele“ aus einer altgermanischen Vorstellung, nach welcher diejenigen ohne Körper, die Ungeborenen und Toten, im „See“ lebten. – Als Beseelte sind wir von daher diejenigen, die zum See gehörigen, wesentlich bewegt, wie das Wasser. Die Seele bildet somit den liquiden Teil unserer Identität und kann ihrem Körper Leben schenken.

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der Erinnerung lasse sich im Falle der Literaturwissenschaft in Hinsicht auf die Aspekte der Produktion, der Darstellung und der Rezeption ­unterscheiden (vgl. Fischer 1911: 3f.). Als Beispiel eines Erinnerungsphänomens, das im Hinblick auf alle drei Aspekte gesondert untersucht werden könnte, kann mit Fischer etwa auf das Heimweh verwiesen werden. Fischer selbst versucht nach seiner Einleitung in die weitere Problematik eine andere Unterscheidung vorzuschlagen, nämlich diejenige zwischen „der eigentlichen, treu aufbewahrenden und wiedergegebenen Erinnerung“ einerseits und „der sogenannten Erinnerungstäuschung“ (dem Déjà-vu-Erlebnis) andererseits (Fischer 1911: 4). Die treu wiedergegebene Erinnerung bespricht Fischer im Hinblick auf die Poesie und das Erzählwerk Theodor Storms. Wenngleich er mit Lob für den Dichter nicht spart, zielt seine Darstellung doch auf eine Kritik des Verfahrens, auf eine Erklärung ihrer Beschränktheit. Bei Storm werde deutlich, dass die lediglich treu aufbewahrende Erinnerung „der Freiheit des Traums bar“ sei und dass es ihr an „Umwertungskraft“ mangele (Fischer 1911: 6). Ihr entspricht in der Tendenz eine mechanische Poetik und Fischer urteilt zum Schluss dieser Passage: Sie werde „geschädigt [...] vom künstlerischen Naturalismus“ (Fischer 1911: 6). Die letztlich fatale Poetik treuer Erinnerung konfrontiert Fischer dann mit literarischen Darstellungen, die sich in der Art eines Déjà-vu präsentieren und hat hierbei besonders Friedrich Nietzsche im Blick: an einer entscheidenden Stelle, im Abschnitt «Vom Gesicht und Rätsel» des dritten Zarathustrabuches, findet sich die Vision, die ihm den Gedanken der Wiederkunft eingab, verbunden mit der ganz typischen Beschreibung eines unbezweifelten Zustandes «déjà-vécu». (Fischer 1911: 7)

Fischer ist der Überzeugung, dass Gedanken, die sich solcherart ergeben, eine grundsätzlich andere Qualität besitzen als normale Gedanken, die sich aus den Bedingungen ihrer Entstehung kausal ableiten lassen, und äußert die ­Vermutung: steht die fausse reconnaisance vielleicht in Verbindung mit dem für die Poesie, Philosophie und [den] Mythos so überaus bedeutsamen Glauben seis an die Anamnese, seis an die Seelenwanderung, seis an die Wiederkunft der Welten? (Fischer 1911: 7)

Weiter ausgeführt oder gar beantwortet wird diese Frage im Beitrag nicht. Wichtig aber ist, dass Fischer von der Möglichkeit verschieden gearteter Erinnerungen überzeugt zu sein scheint und dass er meint, gerade durch jene Gedanken in der Art des Déjà-vu würde für die Philologie eine Legitimationsgrundlage geschaffen, die es erlaube, nach eigentlich Neuem zu fragen. Eine literarhistorischen Methode, die, wie in der mechanistischen Psychologie, alle

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„künstlerische Tätigkeit auf bloße Assoziationen von bereits bestehendem herabdrückt“ (Fischer 1911: 8), müsse diese Frage nach dem Neuen dagegen von vornherein verbieten. Die kausal-ableitende Methode könne für den „Unterbau der Forschung“ zwar Erkenntnisse liefern, zuletzt aber ­bleibe der moderne Literaturwissenschaftler vor allem daran interessiert, die Literatur „von innen heraus“ (Fischer 1911: 8) zu begreifen und hierbei würden mechanistische Ansätze notwendigerweise an ihre Grenze stoßen. Im Hinblick auf die eingangs genannte Alternative mechanistischer oder vitalistischer Literaturpsychologie nimmt Fischer damit in gewisser Hinsicht eine Mittelstellung ein. Der von Fischer in diesem Beitrag skizzierte Gedanke qualitativ verschiedener Erinnerungen wird später in Richard Weiners Text Lazebník [Der Bader] eine Entsprechung finden.

Otázky literární psychologie [Fragen der Literaturpsychologie] (1917) Die Studie aus dem Jahre 1917 ist ein sehr umfassender Forschungsüberblick zum Thema, stellt allerdings keine eigenständige Theorie vor. In der Einleitung werden wir in etwa mit folgenden vier Grundgedanken bekannt gemacht: I. Weil derselbe Dichter sich in verschiedenen Medien und Sprachen auszudrücken vermag, „[n]elze popírat, že umělecká prazkušenost vůči každému prostředku výrazovém jest čímsi prvotnějším“ [[i]st es nicht zu leugnen, dass die künstlerische Urerfahrung jedem Ausdrucksmittel gegenüber etwas Ursprünglicheres ist.] (Fischer 1917: 10) Und: „[S]lovo není poslední uměleckou instancí. […] [B]ásnické slovo je znakem čehosi, co je ve své podstatě uloženo, ukryto, připraveno za řečí, v neprojádřených stavech duševních“ [Das Wort ist nicht die letzte künstlerische Instanz. […] Das dichterische Wort ist Zeichen für etwas, was in seinem Wesen hinterlegt, versteckt, jenseits der Sprache, in nicht geäußerten Seelenzuständen vorbereitet ist] (Fischer 1917: 11). II. Im Kontext der mannigfaltigen Fragen der Literaturwissenschaft und im Gegensatz zum rein ästhetisch orientierten Philologen4 bemühen sich die 4  Deren Charakteristik ist nicht zuletzt in Bezug auf den ab Mitte der 1920er-Jahre sich in der Literaturwissenschaft der ČSR entwickelnden Strukturalismus von Interesse: „Stoupenci této metody [esteticky orientované filologie (Croce; Meyer); F.Ch.], která stanoví naprostou totožnost mezi básníkovým výrazem a názorem, literární psychologii nepotřebují, neboť jim rozbor slova, proniknutí slovesné formy, vystižení vnitřního

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Literaturpsychologen, „aby vnikli do taje básnického tvoření, do zásad inspirace, a podvědomého růstu básnického díla“ [in das Geheimnis der dichterischen Schöpfung, der Grundsätze der Inspiration und des unterbewussten Wachstums dichterischer Werke einzudringen] (Fischer 1917: 8). III. Die künstlerische Erfahrung gründet nicht in einer besonderen seelischen (stofflichen) Substanz, sondern in Umgangsweisen mit ­allgemeinmenschlichen Erfahrungen; hierbei ist nach Fischer zu bemerken, dass auch bei Kindern, Verrückten und sogar Alltagsmenschen in Ansätzen künstlerische Ordnungsverfahren beim Bericht der eigenen Erlebnisse vorkommen (Fischer 1917: 11f.). IV. Das Geheimnis des seelischen Ursprungs des Kunstwerks ist nach Möglichkeit mit allgemeinen Gesetzen des Seelenlebens in Verbindung zu bringen: „[Literární psychologie] snaží se tu či onu zvláštnost autorova ducha uvést ve spojitost s nějakým obecným zákonem duševního ­stavu.“ [[Die Literaturpsychologie] ist bemüht, diese oder jene Eigenart der Autorseele in Verbindung mit irgendeinem allgemeinen Gesetz des seelischen Zustands in Verbindung zu bringen.] (Fischer 1917: 8) Dieses Vorhaben werde aber immer nur teilweise gelingen, denn die Zeiten eines naiven Positivismus seien nun einmal passé; die Seele gebe ihr Geheimnis nie ganz preis. Fischer beginnt dann seinen anschließenden Forschungsüberblick mit einer Besprechung von Hyppolyte Taines analytischer Methode in ihren psychologisch relevanten Aspekten. Es folgt ein Referat zu dessen ­kritischer Rezeptionsgeschichte in Frankreich, Böhmen und Deutschland. Mit s­einer Darstellung von Wilhelm Diltheys psychologischer Hermeneutik im Kontext der Problematik der künstlerischen Kreativität macht Fischer gewissermaßen einen zweiten Anfang und widmet sich erneut, die verschiedenen Entwicklungen in den einzelnen Ländern nachzeichnend, bestimmten Problembereichen der Literaturpsychologie oder Programmen, die mit ihr in Verbindung gebracht werden können. So geht er z. B. auf die biologistische Lyriktheorie von Richard Maria Werner ein, behandelt in ihren Eckpunkten zákona básnické skladby jest vším; […] dokazují, že smysl, zákon a všechen sloh poesie jest uložen v básníkově řeči.“ [Die Vertreter dieser Methode [der ästhetisch orientierten Philologie (Croce; Mayer); F. Ch.], die von einer gänzlichen Deckungsgleichheit zwischen dichterischem Ausdruck und dichterischer Meinung ausgeht, benötigen den Literaturpsychologen nicht, denn ihnen ist die Analyse des Worts, das Eindringen in die Wortform, das Erfassen des inneren Gesetzes der dichterischen Komposition alles; […] sie beweisen, dass der Sinn, das Gesetz und aller Stil der Poesie in des Dichters Rede hinterlegt ist.] (Fischer 1917: 9).

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die Kreativitätstheorien von Frédéric Paulhan und Théodule Ribot, verweist auf das Forschungsprojekt vollständiger Psychogramme von William Stern und Paul Margis, referiert die teils kuriosen Ausführungen über Genie und Wahnsinn bei Cesare Lambroso und beschließt seinen Umschlag mit einer sachlichen Rekonstruktion und Bewertung von Sigmund Freuds Psychoanalyse in ihrer literarischen Relevanz. Was Fischer als verbindendes Kennzeichen aller von ihm besprochenen Theorien hervorhebt, ist die Annahme und das Bemühen, im Werk ein mehr oder weniger komplexes Zeichen für die dahinter stehende Seele des Autors zu sehen oder, wie Taine es einmal anschaulicher formulierte, hinter dem Fossil das ehedem lebendige Tier zu erblicken. Ansonsten nimmt Fischer wieder eine vermittelnde Position ein. Er wird nicht müde, dem philologischen Ansatz sein Recht zuzusprechen und die eigentliche literaturpsychologische Fragestellung möglichst klar und eng abzugrenzen. Er erhebt allerorten den Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit, wenn er bei Lambroso eine allzu große Unbekümmertheit bei induktiven Schlüssen moniert oder in vielen Fällen die Unkenntnis über den Stand der Forschung. Andererseits betont er, dass die Wissenschaft bei Problemen der Seele an eine Grenze stoßen müsse, da hier, wo das Faktum nicht einfach vorliegt, sondern durch Einfühlung vielfach erst erschlossen werden muss, der subjektive Faktor für die Wissenschaft eine konstitutive Rolle spielt (Fischer 1917: 80). – Fischer lässt sich keiner einzelnen Richtung zuordnen und scheint, den verschiedenen Theorien von Dichtertypen und Kreativität in einem heuristischen Sinne offen gegenüberzustehen. Was er dabei deutlich kritisiert sind Übertreibungen. So bringt er etwa seine Geringschätzung für die Psychographie dadurch zum Ausdruck, dass er ihre Ergebnisse im besseren Fall einem „gerichtlichen Haftbefehl“ (Fischer 1917: 75) vergleicht; auch hält er es ganz explizit für nicht plausibel, wenn in der Psychoanalyse psychische Phänomene ausschließlich durch das Prinzip der Libido erklärt werden. Diese das Gleichgewicht zwischen Philologie und Psychologie ­betonende Position, auch die verdeckte Annahme des methodischen Zusammenhangs von komparativen und divinatorischen Griffen der Analyse, stellt Fischer meines Erachtens in die Tradition des von ihm nicht besprochenen Friedrich Schleiermacher und dessen Hermeneutik der psychologischen und ­grammatischen Interpretation. Auch sein Bekenntnis zur einfühlenden Methode am Ende des Forschungsüberblicks spricht für diese Einschät-

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zung. In der Folge würden sich dann besonders auch Dilthey und Freud5 als konzeptionelle Dispositionen anbieten – und mit der Psychoanalyse hat Fischer sich tatsächlich in mehreren Aufsätzen weiter beschäftigt.

Psychoanalýza a literatura [Psychoanalyse und Literatur] (1925) Die klassizistische Haltung des rechten Maßes und der Ausgewogenheit bestimmt auch Fischers spätere Haltung zur Psychoanalyse. In dem hier zu besprechenden kürzeren Beitrag von 1925 fordert er grundsätzlich, „nezastírat si jeho [freudianismu] povážlivých výhonků s důrazem však spolu vyzvednouti jeho zásluhy a průbojnost“ [nicht seine [des ­Freudianismus] bedenklichen Auswüchse zu beschönigen, aber dennoch zugleich und mit Nachdruck seine Verdienste und seine Vorreiterrolle hervorzuheben] (Fischer 1965: 29)6. Im Angesicht von „Pedanten“ der Freudschen Lehre und „hysterischen Anhängerinnen“ derselben zeigt Fischer ein gewisses Verständnis für die Parodien eines Karl Kraus, distanziert sich andererseits aber doch von Tomáš Garrigue Masaryk, wenn dieser die Psychoanalyse in seiner Světová revoluce [Weltrevolution] als „lächerlich“ bezeichnet (Fischer 1965: 29). Es ist auch typisch für Fischer, dass er in seinen Ausführungen zum Einfluss der Freudschen Lehre auf die neuere Literaturgeschichte sowie die Entwicklung der psychoanalytischen Literaturwissenschaft seit der Traumdeutung (1900) einen rein deskriptiven Stil pflegt, um erst in einem ­abschließenden Absatz eine Wertung vorzunehmen. Hierbei ist meines Erachtens offensichtlich, dass Fischer auch neun Jahre nach den Otázky literární psychologie nicht wirklich zu einem Schluss darüber gekommen ist, was von der Lehre letztlich zu halten ist. Wieder kritisiert er die Einseitigkeit des Prinzips Libido (Fischer 1965: 34) und beklagt die philologische Tollpatschigkeit der Psychoanalytiker: Nelze jich arci ušetřiti výtky, jaká vůbec platí patografům a lékařsky orientovaným pěstitelům literární vědy, v níž bývají obeznámeni celkem neodborně, dívajíce se na ni jako na materiál klinický a nejsouce v umění právi tomu nejumělečtějšímu.

5  Zu der mit Fischer vergleichbaren Zwischenstellung von Freuds Ansatz zwischen Szientismus und Hermeneutik siehe Pfeffer (2010: 13ff). 6  Der Beitrag wurde ursprünglich in Tvorba [Das Schaffen] 1, 1925, 75-79 abgedruckt und geht auf verschiedene frühere Arbeiten 1907–1922 zurück; die Textgrundlage für die folgenden Ausführungen ist Fischer (1965).

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[Man kann ihnen wahrlich nicht den Vorwurf ersparen, der überhaupt Pathographen und medizinisch orientierten Betreibern der Literaturwissenschaft gilt, dass sie nämlich mit der Literaturwissenschaft im Ganzen fachlich wenig bekannt sind, die Literatur wie klinisches Material betrachten und überhaupt in der Kunst dem eigentlich Künstlerischen nicht gerecht zu werden wissen.] (Fischer 1965: 31)

An dieser Stelle wäre es sicher nicht ohne Interesse, würde Fischer e­ rklären, worin denn jenes „eigentlich Künstlerische“ besteht. – Während er im Verlaufe seines Referats noch ein Programm der literarischen Traumdeutung, insbesondere im Hinblick auf die Romantik, empfiehlt, und dieses sogar mit der Hoffnung echt „wissenschaftlicher Erklärung“ verbindet, rudert er am Ende doch wieder zurück, wenn er sich mit dem „heuristischen“ Effekt zufrieden geben will, dass wir mit Freud lernen sollen, hinter den Bildoberflächen einen zweiten unterbewussten Sinn („tajemné propasti“ [geheime Abgründe]) zu vermuten (Fischer 1965: 35). Im Ganzen gesehen ergibt sich soweit für ‚Fischer als Literaturtheoretiker‘ das Bild eines eher klassischen Philologen (in der Tradition ­Schleiermachers) mit einem besonderen Interesse an neueren psychologischen Theorien und Fragestellungen (wie z. B. der nach auditiven vs. visuellen Künstlertypen, dem Problem von Literatur und Charakter oder der spezielleren Frage nach dem Doppelgängermotiv in der Literatur). Den Theorien steht er allgemein heuristisch gegenüber, er vertritt keinen dogmatischen Ansatz, hat allerdings auch keine der theoretischen Lesarten detaillierter weiterentwickelt.7 Das unausgesprochene, dabei problematische Vorurteil aller psychologischen Literaturinterpretation, nämlich überhaupt die Annahme, einem Werk sei ein psychisch begründeter latenter Sinn vorgegeben, wird von ihm, soweit ich sehe, nicht infrage gestellt.

2. Richard Weiner und das Problem des Unwillkürlichen Für Richard Weiner ist die mystische Fragstellung nach dem eigenen Ich – die Frage: Wer bin ich? – von fundamentaler Bedeutung. Sein literarisches Werk kann als Antwortversuch auf diese Fragestellung gelesen werden. Damit 7  Interessanter als die Behandlung Fischers als Literaturtheoretiker dürfte, von der skizzierten Disposition her, eine Untersuchung seiner konkreten interpretativen Umsetzung literaturtheoretischer Lesarten sein; eine praxiologische Untersuchung also.

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ist schon gesagt, dass Weiner letztlich keine feststellende, wissenschaftliche Antwort sucht, sondern eine persönliche; keine begriffliche, sondern eine symbolische. Obwohl dies so ist, kann durch Rückgriff auf sein feuilletonistisches Werk auch auf eine theoretische Auseinandersetzung mit der Problematik von Seele und Wort hingewiesen werden. Besonders geeignet ist in diesem Kontext seine Darstellung der Geschichte der französischen Avantgarde in den Lidové noviny [Volkszeitung] von 1932; diese ist zeitlich übrigens den wichtigsten Leistungen seines literarischen Schaffens nachgeordnet.

Zeitungsessay Něco z historie francouzské avantgardy [Einige Bemerkungen zur Geschichte der französischen Avantgarde] (1932) Weiner konstatiert hier eine Krise der neueren Avantgardebewegung. Er geht davon aus, dass der sozialrevolutionäre Anspruch des Surrealismus aufgrund seiner offensichtlichen Unvereinbarkeit mit dem Marxismus zuletzt für die Öffentlichkeit immer zweifelhafter werden musste. Bei seiner Ursachenanalyse holt Weiner kulturgeschichtlich weiter aus und referiert ­ hierbei auch, nicht ohne Vergnügen, verschiedene innere Widersprüche der ­Avantgarde. Unter anderem erzählt er von einem ‚moralischen Versagen‘ der französischen Dadaisten: Bei dem Versuch einem armen Kellner die Brieftasche zu rauben, zeigte sich am Ende die eigene als kleinbürgerlich empfundene Moral doch als stärker und die entwendete Geldbörse fand auf anonymen Wegen zu ihrem rechtmäßigen Besitzer zurück. Ein anderes Beispiel betrifft die Eindrücke Weiners beim Besuch einer dadaistischen Revue. Der Korrespondent bekennt, dass das konsequent praktizierte Prinzip der Zusammenhangslosigkeit bei dieser Veranstaltung am Ende auch die entschiedensten Gegner der Bewegung entwaffnen musste; und zwar schlicht durch den Effekt einer gleichsam „nirvánskou nudou“ [nirwanischen Langeweil] (Weiner 2002: 501). – Obwohl Weiner behauptet, der anschließende Surrealismus sei nicht nur als Literatur, sondern auch als „filosofický[] systém[] […] re­voluční akce“ [philosophisches System […] revolutionärer Aktion] (ebd.: 492) durchaus ernst zu nehmen, bescheinigt er der Bewegung, nach meinem Verständnis, als einziger substantieller Leistung doch nur eine fortgesetzte Reflexion der symbolistischen Technik, aus deren Zusammenhang im Übrigen auch noch die écriture automatique zu verstehen sei:

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Tento vývoj spočívá v postupně a stále radikálnějším vylučování tertia comparationis, časti i stopy, která by ho objevila, a dospívá posléze k čemusi jakoby symbolickému, asociačnímu kryptogramu, který je příčinou „hermetičnosti“ moderní této poezie. [Diese Entwicklung besteht im allmählichen und immer radikaleren Ausschluss des tertium comparationis, aller Teile und Spuren, die zu seiner Entdeckung führen könnten, und sie erreicht zuletzt das Stadium eines sozusagen symbolistisch-assoziativen Kryptogramms, das Ursache für die sogenannte Hermetik dieser modernen Poesie ist.] (Weiner 2002: 495)

Diese hier positiv zu bewertende abstrakte Einsicht in die Natur, Logik und Weisheit des symbolistischen Ausdrucks kontrastiert dabei mit dem Grundfehler, den Weiner sowohl dem Dadaismus wie dem Surrealismus attestiert, nämlich demjenigen, dass das in ihnen zelebrierte Unsinnige, Zufällige und Ungewollte eben doch nur gewollt war. Mit der vorgelegten „Chronik“ bereitet Weiner letztlich vor allem dem eigenen Werk und der eigenen Poetik ihren historischen Platz. Das Interesse an der Psyche und die Frage nach einer angemessenen Poetik der symbolistischen Technik machten ihn nämlich selbst zu einem ­Avantgardisten, wenn auch zu einem „einsamen“ – wie Reinhard Ibler (1995) einmal paradox formuliert hat.

Die Mechanik eines Traumas – Erzählung Kostajnik (1916) Weiners Kostajnik8 ist eine von fünf Geschichten aus dem Krieg – so auch der Untertitel des Erzählbands Lítice [Furie], in dem die Erzählung 1916 erstmals publiziert wurde.9 Der Krieg wird in allen Erzählungen des Bandes ausschließlich in seinen Auswirkungen auf die psychische Entwicklung des jeweiligen Protagonisten thematisiert. Diese folgt meist einem Schema der Desillusionierung über die eigene Identität. Der Krieg wirkt hierbei als Katalysator der aufgezeigten Entwicklung.10 8  Die Erzählung findet sich in der Gesamtausgabe des Torst-Verlages (Weiner 1996). – Für die deutsche Übersetzung von Karl-Heinz Jähn siehe die von Wolfgang Spitzbart herausgegebene Ausgabe des Reclam-Verlages (Weiner 1992). 9  Nach Chalupecký (1992: 17) handelt es sich bei Lítice um die erste Verarbeitung von Fronterfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg in der tschechischen Literatur. 10  Über die Darstellung im Text hinausgehend kann interpretatorisch auch der Gedanke des Krieges als Wirkung einer deformierten Kollektiv-Psyche erschlossen werden. Die Konzentration auf das Geheimnis der Psyche wird dann zur Ursachenanalyse einer allgemeineren Kulturkrise (vgl. Harkins 1982: 69). – Dieser Interpretationsgedanke ist grundsätzlich auf Weiners Gesamtwerk und das Schaffen der expressionistischen Generation übertragbar.

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In dem genannten Werkkontext ist die Erzählung Kostajnik insofern von besonderer Bedeutung, als in ihr die fatale Mechanik psychischer Prozesse ihre subtilste Darstellung erfährt. Die Fabel des Kostajnik besteht, in aller Kürze gesagt,11 darin, dass der Protagonist, der ein Offizier der österreichischen Armee ist, beim Vormarsch auf den von serbischen ­Truppen ­gehaltenen Berg Kostajnik aufgrund einiger zufälliger Wahrnehmungen von einer schicksalhaften Ahnung erfüllt wird. Diese unbestimmte ­Antizipation entpuppt sich am Ende der Erzählung als Wiederholung einer in der Vergangenheit als „nichtig“ abgetanen Episode. Ähnlichkeiten in der gegenwärtigen Wahrnehmung lassen das einmal traumatisch Erlebte in der Erinnerung neu aufleben. Die einzelnen Elemente der aktuellen ­Wahrnehmung werden dem alten Narrativ entsprechend neu angeordnet. Die Vergangenheit schiebt sich als ein zweites Bild über die Gegenwart – bis zu einem ­kritischen Augenblick. Das wiederholte Erlebnis führt am Ende der Erzählung zu einer Wandlung im Selbstverständnis des Protagonisten. Mit Entsetzen erkennt dieser sich nun, nach einer Wiederholungstat, als ein Mörder. Der von Weiner dargestellte innere Zusammenhang von zufälliger Wahrnehmung, unkontrollierten Assoziationen und narrativem Reflex desillusioniert über die Vorstellung des Offenen im Erleben und auch über die Möglichkeiten, Abstand zur eigenen Lebensgeschichte zu entwickeln, obwohl der Protagonist immer wieder bemüht ist, bewusst vernünftig zu handeln. Der Kostajnik lässt den Gedanken der Freiheit, zumindest aus der angezeigten Perspektive, als unsinnig erscheinen und stattdessen einen wesentlichen Zusammenhang zwischen Zufall und Notwendigkeit bzw. Schicksal hervortreten. Weiner gelingt es überaus kunstvoll, durch die assoziative Logik seiner Narration den illusionären Charakter eines auf Kontrolle ausgerichteten Bewusstseins aufzuzeigen. Man könnte die Geschichte vielleicht als eine neue Version des Karma-Glaubens betrachten. Der kontrollierende Mensch erweist sich hier als unfähig, aus dem durch die eigene Psyche gebauten Labyrinth auszubrechen. Nur eine tief gehende Wandlung der Weltsicht, eine veränderte psychische Grunddisposition, so könnte man aus dem Schlussbild des resignierten Helden schließen, vermag womöglich eine Sprengung dieses Labyrinths ohne Ausgang. Wird die menschliche Psyche im Frühwerk Weiners in einer fast barocken Manier als Illusionstheater und Grund des menschlichen Leidens begriffen,

11  Für eine detaillierte Besprechung vgl. Charvát (2006: 103-154).

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richtet sich in seinem Spätwerk dennoch die Hoffnung auf Befreiung wiederum auf nichts anderes als das ‚Geheimnis der Seele‘.

Lazebník [Der Bader] oder der Gedanke vom Urbild Der Bader wurde in einer gleichnamigen Sammlung von fünf mehr oder weniger narrativen Texten publiziert und lässt sich vom Genre her nicht definitiv einordnen.12 Freilich gibt es am Text verschiedene Anreize, dies dennoch zu versuchen. So lässt sich etwa der Untertitel der ganzen Sammlung, eine Poetik, am ehesten auf diesen Titeltext beziehen. Auch den Bader als Traumbuch zu lesen oder als einen Essay (dem sein Thema immer wieder abhandenkommt) wird einem verschiedentlich nahegelegt. Schließlich bleibt die Interpretation des Baders als avantgardistisches Manifest, welches das in ihm Verkündete zugleich am eigenen Beispiel vorzuführen wünscht. Aber ein jeder solcher Versuch sollte nicht mehr als das sein. Hierbei kann auf Weiners Sprachtheorie in diesem Buch angespielt werden: auf die Reißzwecke auf einer Pinnwand, die helfen mag, die eigenen Gedanken in eine Ordnung zu bringen, eine Ordnung freilich, die immer nur vorläufig und behelfsmäßig sein kann. Wenn man sich an den Text mit einigem Abstand wieder erinnert, dann sind es besonders Bilder, die aus ihm an bestimmten Stellen fast ­unmotiviert und dabei eindrücklich hervortreten. Diese Bilder wie dasjenige eines Schiffbrüchigen, der während seiner letzten Lebensmomente ein vom Wind getriebenes, weißes Blatt mit den Augen verfolgt; oder aber das von einem verkrüppelten Engel, der, dem Mädchen in Sterntaler gleich, in nächtlicher Stunde die Sterne des Himmels auf seiner Hand versammelt. Diese Bilder also bewahrt z. B. mein Gedächtnis mit einer bemerkenswerten Dankbarkeit. Und so kann man vielleicht doch den Schluss ziehen, dass es in diesem Text um literarische Bilder, Seelenbilder oder, wie Franz Kafka am 6. August 1914 in sein Tagebuch eintrug, um die „Darstellung meines traumhaften innern Lebens“ (Kafka 2002: 546) geht. Ein Bilderbuch also? Aus dem stream of conciousness des Bader-Textes, aus der besonderen écriture automatique, die er darstellen mag, gehen außerdem vereinzelte, im Übrigen ganz widersprüchliche und zum guten Teil historisch wie politisch wenig 12  Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Weiners Lazebník sei auf die ­entsprechenden Kapitel in Chalupecký (1992), Widera (2001) und Charvát (2006) verwiesen. – Die wahrscheinlich dichteste Interpretation, sowohl zum Titeltext wie auch zu den weiteren Erzählungen des Bandes, dürfte nach wie vor Kathrin Janka in ihrer unveröffentlichten Magisterarbeit (Janka 1999) geliefert haben.

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korrekte Gedanken hervor. Die zivilisationskritische Grundtendenz d­ erselben würde ich wie folgt zusammenfassen: Durch begriffliche Sprache und Vernunftschlüsse haben wir es in unserer modernen Zivilisation geschafft, eine Mauer zwischen Ich und Nicht-Ich zu errichten. Diese sozusagen chinesische Mauer, die Hauptleistung unserer Zivilisation, ist dabei zugleich eine große Illusion. Die Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich als einer Ur-Teilung, die allen anderen Unterscheidungen vorausgeht, ist der Grund für die Schuldigkeit des modernen Menschen – und analog zur Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich ist dann auch diejenige von Traum und Bewusstsein in der gewohnten rationalen Weise falsch. Denn der Traum sei nicht aus den Nöten des Bewusstseins zu begreifen, wie etwa in Freuds Traumdeutung ­erklärt wird, sondern umgekehrt sei das Bewusstsein aus dem Traum heraus zu deuten; wie ja übrigens auch – so ein Bild von Weiner – das Kleid von Aschenbrödel in einer Nussschale Platz finde. Denn der Traum sei der ‚Ort vor dem Sündenfall‘, das heißt: der Ort ohne Unterscheidungen, an dem wir der Wirklichkeit nicht mit Bestimmungen, sondern mit Fragen begegnen (vgl. Weiner 1991: 35ff) – allerdings mit Fragen, auf die wir keine Antworten erwarten, sondern die wir vielmehr mit dem Wunsch verbinden, unseren persönlichen Schatz an Fragen immer weiter zu vermehren. Nachdem Weiner den Traum als Paradies, aus dem wir gefallen sind, bestimmt hat, schließt er, folgerichtig, dass die Hauptfunktion der Literatur darin bestehen muss, an das verlorene Paradies zu erinnern. Es sei die Funktion der Literatur, die „vergessenen Träume auftauchen zu machen“ (Weiner 1991: 129; tsch. Weiner 1998: 81). – Auf die Schlussfolgerung zur Poetik folgt eine strenge Unterscheidung: Weiner sieht einen essentiellen Unterschied zwischen assoziativ-mechanischen und unwillkürlichunmotivierten Bildern. Die ersteren sollen ihr Auftauchen einem Vergleichsmoment verdanken, einem tertium comparationis, das die Verbindung zwischen Wahrnehmung und Traumbild erklärt. Von den unwillkürlich-­unmotivierten Bildern hingegen behauptet er, diese kämen ihm von Zeit zu Zeit von ­alleine. Das sei ihre besondere Auszeichnung. Indem er sich selbst befragt, welche unwillkürlichen Traumbilder ihm einfallen, kommt er lediglich auf eine einzige Vorstellung. Es handelt sich um eine kurze Bewegungssequenz dreier Schwestern, die sich an der Hand halten und die er von hinten dabei beobachtet, wie die Kleinste, Däumelinchen, von der Seite der größten Schwester zur mittleren wechselt. Dies sei kein sehr großer Schatz an ­Träumen, gibt Weiner bereitwillig zu, aber gleich einem Urbild vermutet er in dieser einen Erinnerung dasjenige, „das ich hier auf Erden am schmerzlichsten vermisse“ und nennt sie deshalb auch seinen „mystischen Besitz“

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(Weiner 1991: 147; tsch. Weiner 1998: 91). So findet das unwillkürliche Traumbild ohne Erklärung bei Weiner eigentlich eine sehr schöne Erklärung als e­ xklusive Form platonischer Anamnesis. Entsprechend dem eigenen Urbild versucht Weiner dann durch eine Poetik, die die Autonomie literarischer Bilder maximal zu steigern sucht, entsprechende Bilder als, wie er sagt, „Rahmen“ zu entwerfen, in denen sich vielleicht in manchen Fällen eine solche u­ rsprüngliche Erinnerung auch im Leser entzünden kann und dies alles zu dem einen Zweck, damit sich jener grausam-befreiende Augenblick einstelle, [...] kdy se obraz můj vytratil a kdy pocínovaná plocha, jež ho byla snědla, zeje ­podivuhodným prázdnem, kam beze stopy vsakuje vše to, čím jsem sebou, […]. Tomu říkáme nanebevzetí. (Weiner 1998: 97) in dem mein Bild sich [im Spiegel] verliert, und in dem die verzinnte Fläche, die es verschluckt hat, als wunderbare Leere gähnt, in der spurlos alles versickert, wodurch ich ich bin, […]. Das nennen wir Himmelfahrt. (Weiner 1991: 156)

3. Fischer und Weiner Fischer und Weiner, beide der expressionistischen Generation angehörig, verbindet, wie gezeigt, ein besonderes Interesse am Geheimnis oder den „tajemné propasti“ [geheimen Abgründen] der Seele. Hier, so konnte bei Weiner explizit ausgeführt und kann aus Fischers Interesse geschlossen werden, soll sich ein gewisser Teil der Wahrheit über den Zustand der Welt verbergen, hier erklärt sich aus den Arten der seelischen Deformation die Schuldigkeit des Menschen, hier schließlich liegt der Schlüssel für eine Befreiung aus dieser Schuld. Während Fischer die Vertiefung der Erkenntnis über die Seele zunächst für einen verbesserten wissenschaftlichen Umgang mit literarischen Texten nutzbar machen möchte, sucht Weiner seine Einsichten oder Überzeugungen selbst poetisch umzusetzen. Im Effekt glaubt Fischer an einen Kompromiss zwischen Wissenschaft und Geheimnis, wie er auch anders die Literaturwissenschaft als solche als einen mehrfachen Kompromiss, und besonders den von Philologie und Psychologie, begreift. Weiner hingegen sucht nach einer das Rationale aufkündigenden Poetik, die im literarischen Bild den Menschen zu sich selbst zurückführen möchte. Dies freilich – nicht ohne Ironie.

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Die gemeinsame Faszination für das Psychische und die verschiedenen Einstellungen zum Rationalen spiegeln sich auch in der Korrespondenz13 beider Autoren wieder. In einem Brief vom 21[?]. Dezember 1929 schreibt Fischer in Reaktion auf Weiners – oben besprochene – Erzählung Der Bader und in Erinnerung an den eigenen zuletzt publizierten Essayband Duše a slovo [Seele und Wort] von seiner Betroffenheit über die große Anzahl von Ähnlichkeiten, die er in beiden Werken zu erkennen meint. Im Einzelnen verweist er auf das gemeinsame Interesse an der Werkgenese aus ihren psychischen Ursprüngen, die Frage nach den Doppelgängern und die Problematik des Unsagbaren und Sagbaren in der Literatur. Fischer verhehlt nicht eine gewisse Bewunderung für Weiners Wortkunst und macht (wohl unbewusst) u. a. folgendes (ironische und doch vielsagende) Geständnis: „[A] já bych za leckteré Vaše epitheton (o větru, z geometrie, z přírodních věd a pod.) dal nejednu »normální« prósu“ [Und ich würde für manches ihrer Epitheta (über den Wind, aus dem Bereich der Geometrie, der Naturwissenschaften u.ä.) mehr denn eine »normale« Prosa hingeben]. ­Stellenweise wirkt der Brief ein wenig wie eine Apologie des rationaleren Fischer, in dem der von Weiners Seite empfundene Vorwurf, warum er manches nicht 13  Diese befindet sich heute im Literární archiv Památníku národního písemnictví (Literaturarchiv des Museums für tschechische Literatur, weiterhin: LA PNP) jeweils in den Nachlässen von Richard Weiner bzw. Otokar Fischer. Der Briefwechsel umfasst insgesamt ca. 100 Briefseiten, wobei mehrheitlich Briefe von Richard Weiner erhalten sind. So ist ein kontinuierlicher Briefverkehr für den Zeitraum von 1916 bis 1933 belegt, Jahre, die Weiner meist als Korrespondent der Lidové noviny in Paris verlebt hat. Die Korrespondenz weist manche amüsante Stelle auf, z. B. wenn Weiner Fischer – um drei Jahre zu früh – sein „Beileid“ zum 50. Geburtstag ausspricht (Weiners Brief vom 04.11.1930; Fischers Reaktion vom 06.11.1930). Unterhaltsam sind auch jene Ausführungen Weiners, in denen dieser auf eine Bitte Fischers um linguistisch-­literarische Beratung, mit einer wohlgemeinten Ablehnung reagiert. Nach allerlei Beispielen für lexikalische und grammatische Scherereien, die Weiner mit tschechischen Redaktionen bereits hinter sich hat, erklärt er sich wie folgt: „Budu tím kozlem, který nabídku být zahradníkem zdvořile, skromně, ale rozhodně odmítá!“ [Ich werde der Bock sein, der das Anerbieten Gärtner zu werden, höflich, bescheiden, aber entschieden ablehnt!“ (Brief vom 25.06.1932). – Wichtiger Bestandteil der gemeinsamen Korrespondenz war, über die oben besprochenen Fälle des Lazebník [Bader] bzw. von Duše a slovo [Seele und Wort] hinaus, die Zusendung und gegenseitige Rezension der eigenen literarischen Produktion. Der Ton blieb in der Regel anerkennend, aber auch einigermaßen vage, zuweilen recht metaphorisch. – Für den Hinweis auf die Korrespondenz und, mehr noch, die ­hilfreiche photographische Übersendung der Archivmaterialien sei an dieser Stelle Michal Topor herzlich gedankt. Für Hilfeleistung bei der Entzifferung von Fischers Brief vom 21[?].12.1929 danke ich auch Lenka Vodrážková, Kateřina Charvátová und Mirek Němec.

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dichterischer ausgedrückt habe, zwar Resonanz findet, der sich aber ­dennoch mit dem Vorgehen eines „badatel, byť ne »chladný«“ [Forschers, wenn auch nicht »kalten«], der sich den Abstand des „Historikers“ bewahrt, identifiziert. Auch seine in dem Brief vorgetragene Rezeptionsweise des Baders fasst er letztlich in diesem Sinne: „To není nic hodnotícího, co tu říkám, to je pokus literárního psychologa o pohled pod styl, který se slyší.“ [Das ist nichts Wertendes, was ich hier sage, das ist der Versuch des Literaturpsychologen, einen Blick unter den Stil zu werfen, einen Stil, den man hört.] So bleibt es bei dem Gefühl der (thematischen) Verbundenheit und zugleich dem Bewusstsein einer methodischen, stilistischen und existentiellen Verschiedenheit gerade auch im Falle von Aussagen, die sich als Respektbekundungen lesen lassen: „U Vás pak je ta zvláštnost, že tvoříte a se rozanalysujete jedním dechem, a to měrou, která je mi leckdy až přízračná, sužující.“ [Bei Ihnen stoße ich dann wieder auf die Eigenheit, wie Sie in einem Atemzuge schaffen und sich zugleich zergliedern, und das in einem Maße, das mir nicht selten geradezu gespenstisch, ja peinigend erscheint.] In bemerkenswerter Entsprechung zu dieser Ins-Verhältnis-Setzung Fischers stehen meines Erachtens die Ausführungen Weiners, die dieser nur drei Tage zuvor, also am 18. Dezember 1929, in einem Brief aus Paris an Fischer in Bezug auf dessen Essayband Seele und Wort formuliert hatte. Weiner weist die Möglichkeit von sich, dass er es verstehen würde, Fischers Essays sachlich zu bewerten und wünscht stattdessen lediglich „hmatat po jejich temné […] osudnosti“ [nach deren dunkler Schicksalshaftigkeit zu tasten]. Er bestreitet weiter – die Hyperbel ist dabei eine seiner Lieblingsfiguren – überhaupt irgendeine Veranlagung zur Dialektik zu besitzen und bekennt sich stattdessen zu jenen „bizarren Komplexen“, die sein Denken eben ausmachten und die sich dann allerdings nicht selten durch die ­ dialektische Methode bestätigt sähen. In Hinblick auf die Gedanken und Informationen von Fischers Buch enthält sich Weiner dann auch tatsächlich eines jeden Urteils und bemerkt stattdessen, entsprechend seiner befühlenden, gewissermaßen rein divinatorischen Begriffsweise, dass das Buch für ihn zum einen deswegen aufschlussreich sei, weil sich die nun versammelten Essays nach seinem Empfinden – wie die vielen Stufen eines seelischen Treppenhauses („schodiště“)14 – zu einem Ganzen zusammenfügten, zum 14  Das ist eine bemerkenswerte Metapher, wenn man weiß, dass Weiner in der Einleitung zu seinem Bader das eigene Ich doch gerade einem Haus vergleicht, von dem er hofft, dass es ein (guter) Sprengmeister, eben der Bader, zu zerstören vermag.

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anderen, weil er nun den Zusammenhang eines jedes Essays mit der Wirklichkeit von Fischers Leben und Werk erahne. So genießt Weiner nicht eigentlich die durch Fischers Buch vermittelten Einsichten, sondern jenes Spannungsfeld zwischen Text (Essayband) und Kontext (Wirklichkeit von Leben und Werk), das ihm erlaubt: „pohledy do oné pravé dílny, kde se dělají lidské osudy“ [Blicke in jene wahre Werkstatt [zu werfen], in der man menschliche Schicksale herstellt]. – Stilgerecht verabschiedet er sich dann von Fischer: Bylo mi dobře, že jsem se s Vámi mohl, takto domluvit, aťsi jen skrze Slovo, které nemůže jinak než Ducha (ne-li Duši) koktat, a děkuji Vám za besedu, kterou není toto psaní, nýbrž četba Vaši knihy. [Es war mir wohl ums Herz, wie ich hier so mit Ihnen plaudern konnte, wenn auch nur durch das ‚Wort‘, das doch nichts Anderes vermag, als den ‚Geist‘ (wenn nicht gar die ‚Seele‘) zu stottern, und ich danke Ihnen für solche Unterhaltung, die nicht in diesem Schreiben, sondern in der Lektüre ihres Buches besteht.]

So bezeugen beide Autoren im wechselseitigen Blick auf sich selbst und aufeinander eine Affinität für die Annahme von Schicksalshaftigkeit und deren seelische Begründung, divergieren aber im Urteil (und Talent), wie mit dieser Annahme passend umzugehen sei: jeder hier wohl in Entsprechung zu seinem – Schicksal.

Archivquellen LA PNP Praha, Nachlass Richard Weiner, empfangene Korrespondenz. LA PNP Praha, Nachlass Otokar Fischer, empfangene Korrespondenz.

Literatur Chalupecký, Jindřich (1992): Expresionisté [Expessionisten]. Richard Weiner. Jakub Deml. Ladislav Klíma. Jaroslav Hašek. Praha: Torst. Charvát, Filip (2006): Richard Weiner oder Die Kunst zu Scheitern. Interpretationen zum Erzählwerk. Mit einer vergleichenden Studie zu Franz Kafka. Ústí n. L.: UJEP.

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Filip Charvát

Drosdowski, Günther u. a. (Hg.) (1989): Duden. Deutsches Universalwörterbuch A–Z. Mannheim: Dudenverlag. Fischer, Otokar (1911): Das Problem der Erinnerung und deren Bedeutung für die Poesie. Bologna: o. V. Sonderdruck, 12 S. - Erstdruck in: Atti del IV Congresso Internazionale di Filosofia, Bd. 3. Bologna/Genova: Formignini, 1911, 489-96. Fischer, Otokar (1917): Otázky literární psychologie [Fragen der Literaturpsychologie] Praha: Topič. Fischer, Otokar (1965): Psychoanalýza a literatura [Psychoanalyse und Literatur]. – In: Ders.: Duše – slovo – svět [Seele – Wort – Welt]. Praha: Československý spisovatel, 29–35. Erstveröffentlichung als: Psychoanalysa a literatura. – In: Tvorba [Das Schaffen] 1, Nr. 4 (01.12.1925), 75-79. Harkins, William E. (1982): War in the Stories of Richard Weiner. – In: Kosmas. Journal of Czechoslovak and Central European Studies 1, Nr. 1, 61-71. Ibler, Reinhard (1995): Der einsame Avantgardist. Zur Deutung von Richard Weiners Poetik „Lazebník“ (Der Bader). – In: Wiener Slawischer Almanach 35, 245-270. Janka, Kathrin (1999): Richard Weiners Traumpoetik: Lazebník (Poetika). Magisterarbeit, Freie Universität Berlin (unveröffentlicht). Kafka, Franz (2002): Tagebücher. Hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). Frankfurt a. M.: Fischer. Pfeffer, Joachim (2010): Sigmund Freud. – In: Martínez, Matías/Scheffel, Michael (Hgg.): Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler. München: C. H. Beck. Weiner, Richard (1991): Der Bader. Eine Poetik. Aus dem Čechischen von Peter Urban. Berlin: Friedenauer Presse. Weiner, Richard (1992): Kostajnik. Deutsch von Karl-Heinz Jähn. – In: Ders.: Der gleichgültige Zuschauer. Erzählungen. Leipzig: Reclam, 205-233. Weiner, Richard (1996): Kostajnik. – In: Ders.: Netečný divák. Lítice. Škleb. (= Spisy 1 [Schriften 1])[Der ungerührte Zuschauer. Furie. Fratze.]. Praha: Torst, 270-293. Weiner, Richard (1998): Lazebník. Hra doopravdy. (= Spisy 3) [Der Bader. Spiel im Ernst]. Praha: Torst 1998. Weiner, Richard (2002): Něco z historie francouzské avantgardy [Einige Bemerkungen zur Geschichte der Avantgarde]. – In: Ders.: O umění a lidech (= Spisy 4) [Über Kunst und Menschen]. Praha: Torst, 483-511. Widera, Steffi (2001): Richard Weiner. Identität und Polarität im Prosafrühwerk. München: Sagner.

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Der Unaussprechliche. Otokar Fischers KleistRezeption Im 19. Jahrhundert fast durchweg verkannt und vergessen, erlebt Heinrich von Kleist um 1900 geradezu eine „Dichterrenaissance“ (Lütteken 2004). ­Dabei wird er von den einen als Klassiker der deutschen Literatur einzunehmen versucht, andere heben demgegenüber die Andersheit und Unzeitgemäßheit seiner Werke hervor. Beide Rezeptionsstränge tragen in unterschiedlicher Akzentuierung dazu bei, dass Kleist zu einer literarischen und weltanschaulichen Projektionsfigur für den Aufbruch in eine neue Epoche ­avanciert. An dieser Dichterrenaissance partizipierte auch Otokar Fischer, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht: als Dichter, Philologe, Essayist und Ü ­ bersetzer. Fischer trat damit nicht nur als Kleist-Interpret und Mittler zwischen den Kulturen in Erscheinung, sondern auch als ein Autor, der aufgrund seiner eigenen literarischen Aktivitäten offensichtlich in der Lage war, ­Beziehungen zwischen der zeitgenössischen Literatur und Kleist herzustellen, die ­jenseits der eingeschlagenen Deutungspfade lagen. Der Beitrag möchte dieser Spur im Lichte von Fischers literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Kleist nachgehen und dabei ihre Zeitbedingtheit ebenso wie das seiner Forschung innewohnende und bis heute weitgehend vernachlässigte Innovationspotential in den Blick rücken.1

1. Otokar Fischer im Lichte des Kleist-Mythos um 1900 Der Schwerpunkt von Otokar Fischers Beschäftigung mit dem Werk Heinrich von Kleists liegt nach den vorliegenden Unterlagen und Veröffentlichungen 1  Ich möchte an dieser Stelle Michal Topor, Štěpán Zbytovský und Václav Petrbok für die zahlreichen Hinweise und Materialien zum Leben und Werk Otokar Fischers danken. – Im Übrigen wird in dem vorliegenden Beitrag, von dem Literaturverzeichnis abgesehen, durchweg die tschechische Schreibweise von Fischers Vornamen (Otokar) beibehalten.

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im Zeitraum von 1908 bis 1912. Sie setzt ein mit seinen Mimischen Studien zu Heinrich von Kleist, einer mehrteiligen Aufsatzreihe, die 1908 und 1909 in der Zeitschrift Euphorion erscheint, und sie wird gewissermaßen mit seiner Summa in Form der 1912 auf Tschechisch veröffentlichten Werkmonographie H. v. Kleist a jeho dílo beschlossen. Beide Publikationen sind schon allein quantitativ Ausdruck seiner intensiven Auseinandersetzung mit Kleist, dazu gesellen sich aber noch Besprechungen einschlägiger Forschungsliteratur, Essays, die für Kleist und die Zeit spezifische Fragen streifen, eine Abhandlung über das Dramenfragment Robert Guiskard sowie die Übersetzung der Penthesilea-Tragödie. Zwar wird sich Fischer auch danach immer wieder mit Kleist beschäftigen, aber nie mehr so intensiv und extensiv wie in jenen Jahren.2 Es sind dies gleichzeitig die Jahre, in denen die etwa 1890 einsetzende Tendenz zur Mythologisierung Kleists mit der Centenar-Feier seines Todestages 1911 seinem vorläufigen Höhepunkt zustrebt. Nachdem die ­1904–06 von Erich Schmidt herausgegebene Edition der sämtlichen Werke eine erste ­Etappe auf dem Weg zu Kleists Kanonisierung bedeutete, kam es 1911 mit dem Aufruf zur Gründung einer Kleist-Stiftung und der Auslobung des Kleist-Preises 1912 (des ersten literarischen Förderpreises in Deutschland) zur Festigung Kleists als eines Klassikers der deutschen Literatur. Auch wenn, wie Hermann Bahr aus der Retrospektive schrieb, Kleist darum noch nicht zur eigentlichen Popularität gefunden hatte (Sembdner 1984: 377) und Otokar Fischer selbst ernsthafte Zweifel daran hegte, ob es überhaupt jemals dazu kommen würde (Fischer 1915: 180), so zeigte sich doch nicht zuletzt in der „wahren Flut von Publikationen“, die sich um 1911 über Leben und Werk Kleists ergoss, die „längst fraglos gewordene Zugehörigkeit des Dichters zum engsten Kanon der deutschsprachigen Literatur“ (Lütteken 2009: 418). Dabei ist die um 1890 einsetzende Dichterrenaissance Kleists das Einfallstor eines Mythos, der vor allem die Geschichte seiner Modernität festschreibt. Wenn aus der Sicht Thomas Manns „kleistisch“ in jener Zeit vor allem hieß, „modern“ zu sein (Mann 1979: 161), so ist damit eine Zuschreibung diskursiv platziert, der es um die Betonung seiner Andersheit zu tun ist, um damit den Namen Kleist „als synonym für eine fortschrittliche bzw. avantgardistische Geisteshaltung zu begreifen“ (Lütteken 2009: 419). Anders 2  Dazu zählen weitere Besprechungen (Fischer 1915 u. 1923), die Übersetzung von Kleists Robert Guiskard aus dem Jahre 1926 (Robert Guiskard, vévoda Normanský), die mit Kleists Herrmannsschlacht verknüpfte Reaktion auf den Reichstagsbrand in Berlin am 27. Februar 1933 (Fischer 1933) sowie der in Anlehnung an den Amphitryon-Stoff 1918 entstandene Jupiter-Einakter (Fischer 1993). Vgl. auch die Studie von Martin Maurach in diesem Band.

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als in dem ­aktuellen „Streit um die literarische Moderne“, bei dem es unter anderem um die Frage geht, ob wir es bei der Moderne mit einer bereits um 1800 einsetzenden Metaepoche zu tun haben oder ob sie nicht vielmehr auf den Zeitraum zwischen ca. 1880 und 1930 einzuschränken sei,3 war man sich in der Kleist-Rezeption um und nach 1900 annähernd einig darüber, dass Kleists Werk der Moderne angehöre oder sie doch zumindest vorwegnehme. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass diese Zuordnung nicht nach einem einheitlichen Tenor verlief. Die Rede von Kleists Modernität prägte sich vielmehr in unterschiedlichen, zwischen Heterogenität und Totalität, aber immer auf Funktionalisierung ausgerichteten Inanspruchnahmen aus, die sich nach Martin Roussel in fünf Strängen zusammenfassen lassen: 1. Der nationalistische ›Kleist-Mythos‹: Historisch erscheint Kleist als Zufrühgeborener im Kontext der napoleonischen Befreiungskriege und des uneinigen Deutschland, der so als Patriot ins Nationalbewusstsein eingelagert werden kann […]. 2. Kleists stets wahrgenommene ›Eigentümlichkeit‹ […] wird diskursiviert in u. a. neoromantischen Argumentationsfiguren der ›Zerrissenheit‹ […] oder des ›Verschollenen‹ […], die einen „Modernisierungsschub“ (Lütteken 2004: 243) durch insbesondere psychologisch-pathographische Deutungsmuster erhielten […]. 3. Zugleich wird der ›dionysische Kleist‹ nach Nietzsche in einer „Sprache der Verehrung“ (Lütteken 2004: 311) gefeiert. […] 4. Die künstlerische Avantgarde erschließt parallel (und unabhängig von der ­nationalistischen Vereinnahmung) Kleists Leben und Werk vom Rande her, besonders die Penthesilea wird zum Paradestück […]. 5. Weiter fortbesteht eine bürgerliche Rezeptionslinie, die Aufwertungen des Kleist-Bildes aufnimmt, [sic!] und zunehmend den in Grundlinien bis heute gültigen Kanon (mit dem Käthchen von Heilbronn, dem Prinz Friedrich von Homburg und dem Michael Kohlhaas) formiert. (Roussel 2009: 415f.)

Entlang dieser Rezeptionsstränge soll im Folgenden Otokar Fischers P ­ osition darauf geprüft werden, inwieweit er an ihnen partizipiert und wo er sich in Abweichung und/oder sogar in Widerspruch zu ihnen befindet. Es soll also darum gehen, Fischer zum einen im Rahmen des seinerzeitigen KleistDiskurses zu verorten, andererseits aber auch seine individuelle Perspektive in den Blick zu nehmen, die es erlaubt, das Innovationspotential seiner KleistExegese zu würdigen.

3  Zur Modernität Kleists im Kontext des „Streits um die literarische Moderne“ vgl. Heimböckel (2013).

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2. Sprengstoff: Fischers Kleist René Wellek bezeichnete Otokar Fischer als „romanticist by heart“, den ein „passionate psychological interest“ (Wellek 1938: 215f.) ausgezeichnet habe. In der gegenwärtigen tschechischen Literaturgeschichtsschreibung gelten besonders seine frühen Werke als ichzentriert, als Arbeiten, die „den Gegensatz zwischen dem denkenden und fühlenden Ich und der u­ mgebenden Realität betonen“ und dabei eine Neigung dazu aufweisen, das „Subjekt als Ausgestoßenen und Gezeichneten“ darzustellen (Schamschula 1996: 508). Diese Aspekte lassen sich mehr oder weniger auch in Fischers Kleist-Studien wiederfinden, in denen das psychologisch-biographisch motivierte Interesse an dem Zusammenhang von Leben und Werk Kleists, seine Außenseiterschaft und sein geniales, in der Nähe der Romantik stehendes Künstlertum zentrale Eckpfeiler der Auseinandersetzung bilden. Ihr organisierendes Zentrum ist die Wertschätzung des schöpferischen Menschen und die mit ihr ­einhergehende und an Nietzsche orientierte Verherrlichung der außergewöhnlichen Persönlichkeit, die für die geistige und literarische Intelligenz um 1900 insgesamt konstitutiv sind. Insofern gilt auch für Fischer, was Anett Lütteken als einen spezifischen Zusammenhang der Kleist- und Nietzsche-Rezeption um 1900 herausgearbeitet hat: dass nämlich ohne Nietzsches Entwürfe der Moderne Kleists Renaissance ebenso wenig denkbar gewesen wäre wie die Hölderlins und dass es im Lichte Nietzsches, „durch eine Art Metarezeption“ (Lütteken 2004: 215), zu einem gänzlich veränderten Kleist-Verständnis gekommen sei. Entsprechend ist bei Fischer von Kleists ­„inkommensurablem Geiste“ (Fischer 1909/10a: 1449) die Rede, von dem „lange und schmählich verkannten größten dramatischen Genius Deutschlands“ ­ (Fischer 1911a: 514f.; Fischer 1912b: 9), der aufgrund seiner „überwältigenden Größe“ (Fischer 1911a: 526) und des „völlig Exzeptionelle[n] seiner Psychologie“ (Fischer 1915: 180) den Interpreten immer wieder vor neue Aufgaben stelle. In seinem 1911 veröffentlichten Essay Nietzsche und Kleist findet diese Doppelrezeption ihren publizistisch kongenialen Ausdruck, in dem Fischer selbst, wie er es einmal in einem Brief an Rudolf Pannwitz bezeichnete (Pannwitz/Fischer/Eisner 2002: 87), eine Art „Philosophie des Schicksalkampfes“ sah und der das Ziel verfolgt habe, „Nietzsche als europäisches Ereignis hinzustellen und ihn als einen Erzieher zur übernationalen Zukunft zu interpretieren“ (Pannwitz/Fischer/Eisner 2002: 173), während Kleist, als „der stärkere Künstler“, das „unvergleichlich[e] Drama des deutschen Geisteslebens“ verkörpere (Fischer 1911b: 519).

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Was b ­ eide jedoch prinzipiell eine, sei die „stete Unrast, das Bis-ans-EndeGehen, das D ­ urchkosten einer Gemütsstimmung, bis daß sich der Rausch in Ekel“ wandele – und dazu eine „rücksichtslose Folgerichtigkeit“, die es berechtige, sie der „Reihe jener ›gefährlichen‹ Männer“ zuzurechnen, die „aus dem Geist einer bewegten Zeit herausgeboren, sich doch ihrer Gegenwart entgegenwerfen; die den spitzigsten Stachel gegen den eigenen Geist richten, um, als echte tragische Helden, an sich selbst zugrunde zu gehen.“ (Fischer 1911b: 506-508) Bei Fischer beschränkte sich der Vergleich zwischen Nietzsche und Kleist jedoch nicht nur darauf, eine Wesensverwandtschaft zwischen den beiden Unzeitgemäßen herzustellen; er wirkte sich auch unmittelbar auf die Interpretation von Kleists Werk aus. Sinnfällig wird dieser Vorgang in ­seiner 1912 veröffentlichten Arbeit Kleists Guiskardproblem. Auf die schon von der zeitgenössischen Forschung immer wieder aufgeworfene Frage, warum Kleist das von Christoph Martin Wieland hochgelobte Drama nicht ­abzuschließen vermochte und welchen Stellenwert das als Fragment auf die Nachwelt gekommene Stück im Rahmen des Gesamtwerks einnehmen würde, lieferte Fischer eine ebenso eigentümliche wie bezeichnende Antwort, ­ indem er den Protagonisten als einen Übermenschen vorführte, „der, die ­Gebundenheit des Menschenloses sprengend, zu einem Trotz sich aufbäumt, titanischer als Prometheus, und es wagt, stärker sein zu wollen nicht als ein Dämon, sondern als der Tod!“ (Fischer 1912a: 44) Bereits die ­zeitgenössische Kritik deutete dies als Versuch Fischers, Kleist „im Sinne Nietzsches“ (Teller 1913: 537) auszulegen, und weniger als einen Beitrag, der zur Lösung des Problems beigetragen hätte. Fischer selbst hatte seine Argumentation dazu genutzt, in der heroischen Grundstimmung Guiskards eine Reaktion auf die romantische Position von Kleists Erstling, die Familie Schroffenstein, auszumachen, und die unvollendete Tragödie als einen Akt der B ­ efreiung vom Ballast der Kantkrise gedeutet. Wenn auch diese Auslegung einer näheren Prüfung eher nicht standhält (Heimböckel 2003), so fällt doch insgesamt Fischers Bemühen auf, Kleists Werk und die Ausprägungen „seines sich selbst zersetzenden Wandels“ (Fischer 1915: 178) nicht aus einer krankhaften Veranlagung herzuleiten. Fischer sah in Kleist zwar einen Melancholiker (Fischer 1909/10a: 1446) und in seiner Persönlichkeit durchaus etwas Dämonisches am Werk (Fischer 1915: 182). Aber an der zu seiner Zeit verbreiteten Forschungspraxis, das „Wirre, Große, Unregelmäßige in Kleists Poesie ins rein Pathologische hinüberzuspielen“ (Fischer 1909/10a: 1445), beteiligte er sich nicht – ganz im Gegenteil. Ungeachtet seiner Neigung, die Leistungen eines Autors in einen psychologisch-biographischen

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­ ezugsrahmen zu stellen, behielt in der Einzelanalyse und systematischen B Erschließung eines Werkes die ästhetisch-philologische Perspektive die Oberhand. Dank dieses Vorgehens kam es bei Fischer auch nicht zu einer zu Lasten Goethes gehenden Aufwertung Kleists. Je mehr während und in der Folge des Ersten Weltkriegs die „Goethedämmerung“ (Sembdner 1984: 377) sich abzuzeichnen begann, desto mehr verstetigte sich bei Fischer das Interesse an den Schriften Goethes, das in der Übersetzung des Faust und weiterer Texte im Rahmen der zwischen 1927 und 1932 veröffentlichten fünfzehnbändigen Werkausgabe kulminierte. Dass Goethe und Kleist als Antipoden gesehen werden müssen, war für Fischer allerdings unstreitig (Fischer 1909/10b: 1509), sodass er etwa dem von Heinrich Meyer-Benfey angestrengten Versuch, Kleist in das Pantheon der klassizistischen Dichtkunst aufzunehmen, eine vehemente Absage erteilte: Es ist, als gäb es zwei Dichter mit dem Namen Heinrich von Kleist. Der eine ist derjenige, den Meyer-Benfey zeichnet; für diesen Kleist hat Rousseau umsonst gelebt; dieser Kleist ist ein klarer, zielbewußter Kopf mit klassisch großen und einfachen Plänen; kein Philosoph, sondern ein Bildner; einer, der das schafft, was er sich vorgenommen hat zu schaffen, nach einer vorgefaßten Idee, deren Einzelheiten ihm mit bewundernswerter Klarheit vor dem Bewußtsein stehen. Der andere Kleist ist jener herbe und süße, wilde und keusche, ­gestaltungsstarke und doch von Unbeschreiblichem stammelnde Dichter, der der Stimme seines dämonischen Gefühls nachtappend sich in unbewusster Freiheit und Lieblichkeit herrlich entfaltet und ein ahnungsvolles Dunkel über die komplizierten Gestalten und Probleme wirft, die er darstellt. (Fischer 1911b: 525)

Im Lichte seines vergleichenden Aufsatzes über Kleist und Nietzsche und seiner weiteren Auseinandersetzung mit Meyer-Benfey4 ist es ­unzweifelhaft, 4  Vgl. dazu die 1915 veröffentlichte Sammelrezension Fischers, in der er den zweiten Band von Meyer-Benfeys Abhandlung „Das Drama Heinrich von Kleists“, der 1913 Kleist als vaterländischen Dichter in den Fokus rückt, ebenfalls einer ausführlichen Kritik unterzog. Dabei knüpfte er an seine Rezension über den ersten Band an, indem er noch einmal den Unterschied zwischen der Position Meyer-Benfeys und seiner eigenen ­betonte: „Die Art und Weise, wie der Forscher den Dichter sieht, und der Stil, in dem er ihn beschreibt, ­gehören untrennbar zusammen; wir anderen, die wir in Kleist einen steilen, unwegsamen Gipfel erblicken, der sich ans Unmögliche heranwagt, quälen uns ab, s­ elber verwirrt und verirrt, die bunten Rätsel seiner Persönlichkeit auf mehrere Formeln zu ­bringen: ­diejenigen, die, mit Meyer-Benfey, die Entwicklungsbahn Kleists als die klassische Heerstraße menschlichen Geistes anstaunen, haben für sein Wesen und seine Kunst, für sein Suchen und seinen Patriotismus die Lösung bereits gefunden [...]. Die normativen Bekenner eines normalen Kleists stellen sein Leben und Streben als Exempel hin, uns anderen tönt als Motto seines sich selbst zersetzenden Wandels die Mahnung entgegen: sei ein Mann und folge mir nicht nach!“ (Fischer 1915: 179f.).

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dass Fischer sich selbst der zweiten Gruppe zurechnete. Für ihn z­eigte sich dabei in Kleist und seinem Werk ein Unzeitgemäßes, das bei aller ­motivischen, atmosphärischen und psychologischen Nähe zur Romantik sich von ihr ­stilistisch abhob und daraus sein einzigartiges und unverwechselbares Profil bezog (Fischer 1912a: 10). Wer sich dieser Eigenheit seiner Arbeiten analytisch nicht annahm, musste auf Fischers Kritik gefasst sein. Seine zahlreichen Rezensionen dokumentieren jedenfalls, dass er es der KleistForschung nicht durchgehen lassen wollte, wenn sie diesen Bezug seines Werkes unberücksichtigt ließ oder dazu tendierte, es einem „eng nationalen Vorurteil“ (Fischer 1915: 180) zu unterstellen. Auf der anderen Seite verführte ihn die klare Unterscheidung zwischen Goethe und Kleist nicht dazu, den einen gegen den anderen auszuspielen. Er begegnete beiden vielmehr mit dem Rüstzeug des Philologen, dessen Hauptaufgabe er darin sah, „unter die Worte“ und „hinter die Worte“ vorzudringen (Fischer 1909/10b: 1514), um die je eigene dichterische Leistung angemessen würdigen zu können. Als besonderer Vorzug erwies sich der kontrastierende Vergleich mit Goethe und der klassischen Periode insofern, als er Fischer für das „Sprengstoffartige“ (Fischer 1911b: 507) nicht nur von Kleists Wesen, sondern auch seiner Dramen und Erzählungen sensibilisierte.

3. „Das Unnennbare“ Dass der „von Unbeschreiblichem stammelnde Dichter“ der Kleist ist, für den Fischer literaturwissenschaftlich Partei ergriff, liegt auch deswegen nahe, weil das Unbeschreibliche, Unnennbare, Unaussprechliche usw. es ist, von dem aus er sich schon früh Kleists Werk genähert hatte. Damit stellte Fischer eine für dessen Dramen und Erzählungen konstitutive Eigenheit heraus, die erst rund drei Jahrzehnte später von Max Kommerell in seinem bahnbrechenden Essay Die Sprache und das Unaussprechliche. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist (1937) umfassend thematisiert wird. Es geht dabei um die sprachkritische bzw. sprachskeptische Seite im Werk Kleists und damit um ein Phänomen, das in dieser Form und Abgründigkeit erst um 1900 in der Literatur ­umfassend Bedeutung gewinnt und von daher eine neue Phase in der Geschichte der Sprachskepsistradition einläutet. Auf der Suche nach den Gründen für die vergleichsweise späte, sich dann aber umso nachdrücklicher vollziehende Hinwendung zur absoluten Sprachkritik stößt man auf ein ganzes Bündel

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von Erklärungsansätzen (Danneberg 1996). Allen ist freilich gemein, dass sie von einem gestörten Verhältnis von Wort und Wirklichkeit ausgehen, das im Wesentlichen in dem komplexen Bedingungszusammenhang einer „universalgeschichtliche[n] Wende höchster Ordnung“ steht (Rasch 1981: 22), in der es, ausgelöst durch den soziokulturellen Prozess der M ­ odernisierung, zu tief greifenden strukturellen, von vielen als Dezentrierung und Partikularisierung der Lebensrealität wahrgenommenen ­ Veränderungen kommt. Dabei sind die „Veränderung der Weltinterpretation und die Veränderung der Sprache“ nicht voneinander zu trennen: Die Auflösung der imaginären Verbindungslinien zwischen den einzelnen Elementen der Welt, der Zusammenbruch des religiösen und sozialen Ordnungsgefüges, das ­Fremdwerden der Natur – solche Erfahrungen spiegeln sich in der Sprache als Zerfall der glatten und zusammenhängenden Diktion wider. (Noble 1978: 9)

Auf die Atomisierung der Welt reagiert die Literatur um 1900 mit der krisengeschüttelten Einsicht in die Aporie einer subjektmächtigen Suche nach der Sinnmitte. Es wird nicht mehr danach gefragt, was die Welt im Innersten zusammenhält, hier gerät Welt gleichsam aus den Fugen, „es hakt nichts ins andere ein“, wie es in Hugo von Hofmannsthals Brief eines Zurückgekehrten heißt, in dem sich eine Krisenerfahrung wiederholt, die sich schon in ­seinem Chandos-Brief zu der unumstößlichen Gewissheit verfestigt hatte, dass alles in Teile zerfalle und nichts mehr sich auf den Begriff bringen lasse (Hofmannsthal 1952: 14 u. 337). Von Hofmannsthal lässt sich – wie es scheint – die Sprachskepsistradition fast bruchlos bis in die Gegenwart fortschreiben, mit einer ­signifikanten Dominanz habsburgisch-österreichischer Autoren: Fritz Mauthner, Karl Kraus, Robert Musil, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Paul Celan, ­Ingeborg Bachmann, Ernst Jandl, Thomas Bernhard, Peter Handke oder Elfriede Jelinek, deren Auseinandersetzung mit der Sprache teils existentiell ­fundiert (wie bei Kafka) und teils ideologisch motiviert ist (wie bei Kraus). Die ­besondere Nachhaltigkeit, mit der um 1900 das Problem der Sprache in den Fokus der literarisch-philosophischen Aufmerksamkeit gerade im habsburgisch-österreichischen Raum rückt, hat Anlass zu der Vermutung gegeben, dass im Lichte der auch von Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften beschriebenen Endzeitstimmung Kakaniens die angesprochene Problemkonstellation der Jahrhundertwende besonders eindringlich empfunden worden und angesichts der in diesem Raum gelebten Mehr- bzw. Vielsprachigkeit das Bewusstsein für Sprache und deren Problematik ungleich ausgeprägter gewesen sei als anderswo. Womit im Einzelnen dieser Sachverhalt auch immer zusammenhängen mag – mit Blick auf Otokar Fischer

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ist in Rechnung zu stellen, dass er ohne diese Voraussetzung und speziell ohne das geistig-kulturelle Umfeld der ›Tripolis Praga‹ vermutlich Kleist nicht als den Autor des Unnennbaren und Unaussprechlichen für die deutsche Literaturgeschichte entdeckt hätte: Es wäre eine dankbare Aufgabe, aufzuzählen und zu bestimmen, wie oft und warum der gewaltige Sprachmeister Kleist, der durch sechs Zeilen mehr auszudrücken vermag als ein anderer durch einen langen Monolog, sich zu dem Bekenntnis verstehen muß, es mangle ihm ein angemessener Ausdruck, wie oft und warum er sich wohlfeiler Stilmittel bedient, wie ,läßt sich nicht beschreiben‘ und besonders ,unnennbar‘. (Fischer 1908/09 [1909]: 413)

Diese Äußerung stammt aus dem bereits angesprochenen mehrteiligen Aufsatz Mimische Studien zu Heinrich von Kleist, der 1908/09 in der Zeitschrift Euphorion erschien. Die Kleist-Forschung hat, obwohl Fischer ein überaus materialreiches Archiv zu den in ihrer Zahl kaum überschaubaren Ausdrucksbewegungen in Kleists Werk bereitstellte, von dessen Beitrag kaum Notiz genommen. Insofern verwundert es auch nicht, dass seiner ­ ­Anmerkung zu der zitierten Äußerung nicht weiter nachgegangen wurde (Heimböckel 2003: 9ff.). In ihr weist Fischer auf einen von ihm in der Prager ­ nnennbaren Zeitschrift Novina veröffentlichten Aufsatz hin, der sich mit dem U bei „Goethe, Kleist u. a.“ befasst habe. Im tschechischen Original trägt er den Titel O nevyslovitelném.5 Bemerkenswert ist diese Arbeit dabei nicht nur, weil sie lange vor Kommerells Die Sprache und das Unaussprechliche im Unaussprechlichen einen Grundzug des Kleist’schen Œuvres erkennt, sondern auch wegen der darin hergestellten Nähe zur sprachkritischen Literatur der damaligen Zeit. Es ist kein Zufall, dass Fischer in diesem Zusammenhang auf Fritz Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901/02) mangels philologischer Vorarbeiten zu seinem Thema ausdrücklich Bezug nimmt6 und gleichzeitig Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief (1902) als eine für die Literatur seiner Zeit meisterhafte Analyse der „künstlerischen ­ Aphasie“ (Fischer 1909/10b: 1513) würdigt. Denn die Überzeugung von der Vergeblichkeit aller Bemühungen um kommunikative Verständigung ist nicht nur ein „herausragender Wesenszug“ (Eschenbacher 1977: 81) der Beiträge 5  Eine Übersetzung dieses Beitrags, die in der Kleist-Forschung bislang ebenfalls nicht zur Kenntnis genommen worden ist, erschien im Literarischen Echo in der Ausgabe von 1909/10 (Fischer 1909/10b). Auf diese Ausgabe beziehen sich die nachfolgenden Zitate. 6  Die Bezugnahme unterstreicht umgekehrt noch einmal die von Prag bzw. Böhmen ausgehende Sensibilisierung für sprachkritische Themen insofern, als Mauthner später selbst einen Zusammenhang zwischen der Genese seiner Sprachkritik und der ­sprachlichen Situation seines Herkunftsraums herstellte. Vgl. hierzu jüngst Wutsdorff (2014: 40) und übergreifend Wutsdorff/Zbytovský (2014).

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zu einer Kritik der Sprache, sondern der sprachskeptischen Literatur um 1900 ­insgesamt. Sprache, heißt es schon bei Hugo von Hofmannsthal Jahre vor der V ­ eröffentlichung des Mauthner’schen opus magnum, „scheint uns alle zu verbinden, und doch reden wir jeder eine andere.“ (Hofmannsthal 1980: 413) Aus diesem Grunde führt Sprache unweigerlich Missverständnisse herbei, sie isoliert und lässt den Menschen allein und einsam zurück: „Hier, am Anfang, wollen wir noch nicht die Notwendigkeit des Irrens behaupten, wollen wir nur davon reden, daß die sprechenden Menschen einander und sich selbst mißverstehen. ,Nous sommes‘, sagt einmal Flaubert, ,tous dans un désert. Personne comprend personne.‘“ (Mauthner 1968: 49) Entsprechend ­stellte Otokar Fischer die Unfähigkeit der Kleist-Figuren, „Menschen zu ­durchschauen“, und die Missverständnisse, an denen sie zugrunde gehen, als eine Kleists Dramen und Erzählungen bestimmende Eigenart heraus (Fischer 1909: 555). Kleist, so Fischer, „glaubt nicht, daß die Menschen sich untereinander verständigen können“ (Fischer 1909/10a: 1511). Um die Pionierleistung Fischers nicht nur für die Kleist-Forschung, sondern auch für die Forschung zur literarischen Sprachskepsistradition angemessen würdigen zu können, ist daran zu erinnern, dass man erst in der jüngeren Zeit dazu übergegangen ist, die gängige Praxis, das problematisch gewordene Verhältnis der Literatur zur Sprache vorrangig mit Autoren des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts in Verbindung zu bringen, zu ­hinterfragen und stattdessen für die Zeit um 1800 bereits wesentliche ­Voraussetzungen dafür erfüllt zu sehen (Heimböckel 2003, Bartl 2005). Dabei stellte sich für Fischer die Einsicht über eine in Kleists Werk wirksame Begrenztheit der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten gerade dadurch her, dass er – wie ­später auch7 – den Vergleich mit Goethe suchte. Während bei Goethe die gerade aus den frühen Briefen bekannte Rede von der Unaussprechlichkeit in seiner Dichtung noch in ein Aussprechen des Unsagbaren ­umgeschlagen sei, habe Kleists „Ich weiß nicht, was ich dir über mich unaussprechlichen Menschen sagen soll“ (Kleist 2011: 312) auch das Substrat seiner Dramen und ­Erzählungen gebildet. „Das Suchen nach Worten und die Angst, der gewählte Ausdruck sei doch nicht der rechte, kennzeichnet sein Werk und sein Leben vom Beginn der schriftstellerischen Tätigkeit an bis zum Selbstmord hin.“ (Fischer 1909/10b: 1510) Mit Kleist habe die deutsche Literatur daher erstmals das Mittel ihrer Darstellung infrage gestellt. Fischers Bedeutung als Vorreiter in Sachen Kleist und der S­ prachkritik tut es dabei keinen Abbruch, wenn man sich vor Augen hält, dass sei7  Maßgeblich in der Kleist-Monographie (Fischer 1912a: 320ff.).

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ne Überlegungen, begrenzt durch den Umfang und ihren kursorischen ­Charakter, freilich nur skizzenhaft sind und noch ganz ohne das begriffliche Rüstzeug auskommen, dessen man sich in der Auseinandersetzung mit der sprachkritischen Literatur heute üblicherweise bedient. Von Sprachkritik oder Sprachskepsis ist, was in der historischen Nähe zu dem sich erst in der zeitgenössischen Literatur radikal ausprägenden Phänomen begründet liegt, bei ihm noch nicht die Rede. Dafür muss man seinen Aufsatz Das ­Unnennbare als das nehmen, was er ist: als ein frühes Zeugnis für die philologische Beschäftigung mit der literarischen Sprachskepsistradition der Moderne, ­ einen ersten Versuch auch ihrer historischen Einordnung, in der Kleist gleichsam die Rolle eines primus inter pares einnimmt. Darin liegt sein Verdienst und zugleich das Ungenügen an einer Forschung, die, wie es Fischer einmal in abgewandelter Form über Kleist sagte, einen der intimsten und zugleich innovativsten Kleist-Kenner des frühen 20. Jahrhunderts „lange und ­schmählich“ (Fischer 1911a: 514f.) verkannt hat.

4. Nachspiel Die Geschichte der Verkennung hat noch ein Nachspiel. Zu ihr passt zunächst, dass Fischer schon zu Lebzeiten in dem Ruf stand, dass er sich v­ orzugsweise psychologisch komplizierten Schriftstellern gewidmet oder mit Themen beschäftigt habe, denen zu seiner Zeit eine geringere Aufmerksamkeit geschenkt worden sei. Ihn lockten, so Vojtěch Jirát anlässlich einer Würdigung zu Fischers 50. Geburtstag, „Analysen bisher unerforschter oder ­rätselhafter Probleme und die Rehabilitierung vernachlässigter oder falsch verstandener Autoren.“ (Tvrdík 2011: 113) In diese Forschungsneigungen fügte sich Fischers Interesse für Kleist ebenso ein wie sein Interesse für Nietzsche und Heine, und es kommt nicht von ungefähr, dass seine monographischen Abhandlungen über sie bis heute als „Stützpfeiler der tschechischen literarhistorischen Germanistik“ gelten (Tvrdík 2011: 113). Im Falle Kleists suchte er zwar den psychologischen Hintergrund seiner literarischen Werke ­auszuloten, gleichzeitig aber war er darum bemüht, für das Inkommensurable seiner Dramen und Erzählungen eine ästhetische Deutung bzw. Klärung zu finden. Dabei hatte er für Kleists „rücksichtlose Folgerichtigkeit“ (Fischer 1911b: 508) ein besonderes Sensorium – dafür also, dass seine Texte radikal mit der Konvention brechen, schweigen, wo sie beredt, reden, wo

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sie zurückhaltend sein sollten, dass sie Grenzen überschreiten, indem sie die Unaussprechlichkeit emphatisch suchen. „Wir lauschen der stillen Sprache stummer Dinge“, heißt es am Ende seines Beitrags über das Unnennbare (Fischer 1909/10b: 1515), und dass in der Unaussprechlichkeit Kleists eine Stille von ungeheurer Explosionskraft verborgen liegt, hatte Otokar Fischer früher als andere im Feld der Literaturwissenschaft wahrgenommen und zu vermitteln versucht. Damit aber fängt das eigentliche Nachspiel erst an. Es beginnt in ­jener Zeit, als Fischer mit der Fertigstellung seiner Kleist-Monographie dem wissenschaftlichen Höhepunkt seiner Auseinandersetzung mit Kleist entgegenstrebte. Um genau zu sein: Es beginnt am 27. Januar 1911, an dem Tag, an dem Franz Kafka auf die Rückseite einer Postkarte an Max Brod schrieb, dass Kleist in ihn „wie in eine alte Schweinsblase“ blase (Kafka 1999: 132),8 und es findet sein vorläufiges Ende in dem geradezu flehentlichen Ersuchen Pavel Eisners aus dem Jahres 1929, Fischer möge sich doch endlich einmal dem Werk Kafkas zuwenden: „Jeder von uns braucht von Zeit zu Zeit eine Hebamme. Ich bitte sie dringend, lesen sie doch den Franz Kafka, seinen ‚Prozeß‘, sein ,Schloß‘, seine ,Verwandlung‘ und das übrige. Es ist notwendig.“ (Zit. nach Čermák 1994: 225) Fischer ließ sich offensichtlich von dieser Notwendigkeit nicht rundweg überzeugen, denn in seinen Arbeiten gibt es nur spärliche Hinweise auf Kafka.9 Zu einer ­vertiefenden Auseinandersetzung mit dessen Werk kam es jedenfalls nicht, woran auch die Veröffentlichung der ersten sechsbändigen und von Max Brod in Zusammenarbeit mit Heinz Politzer besorgten Gesamtausgabe (1935– 1937) nichts änderte, „obgleich die zwei letzten Bände in Prag erschienen und obgleich sie [die tschechische Germanistik] gerade in diesen Jahren der anfänglichen Bedrohung der Republik das Studium der deutsch-­böhmischen Beziehungen und der deutschsprachigen Literatur in den Böhmischen Ländern als ihre Hauptaufgabe betrachtete.“ (Čermák 1994: 227) Warum Fischer nicht zum Werk Kafkas fand oder es mied, kann hier nicht erörtert und soll auch nicht damit abgetan werden, dass er für die zeitgenössische Literatur, zumal für die Prager Literatur seiner Zeit, kein Verständnis aufgebracht hätte. Es darf aber bedauert werden, dass gerade der Kleist-Kenner und Spezialist für vernachlässigte Dichter und Schriftsteller die Gelegenheit, sich mit einem Kleist kongenialen Autor und „Blutsverwandten“10 ­philologisch 8  Zur Deutung und werkbezogenen Auslegung dieser Äußerung Kafkas vgl. Liebrand (2004). 9  Vgl. hierzu den Beitrag von Barbora Šrámková in diesem Band. 10  So Kafka in seinem Brief an Felice Bauer vom 2. September 1913 (Kafka 1967: 460).

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intensiver zu beschäftigen, an sich vorbeiziehen ließ. Er hätte damit sowohl der Kleist- als auch der Kafka-Forschung sicherlich wesentliche Impulse verleihen können. So ist nur bekannt, dass am germanistischen Seminar Fischers kurz vor seinem Tod eine Kafka-Studie als Abschlussarbeit und Anfang 1939 eine Arbeit über das Problem der Einsamkeit und Gemeinschaft bei Franz Kafka als Dissertation angenommen wurde.11 Womöglich hätte sich auch Fischer im Zuge dieser akademischen Hinwendung zu Kafka ihm wissenschaftlich angenähert. Was stattdessen bleibt, sind ­Vernachlässigungen. Die Geschichte hätte anders verlaufen müssen, damit sie uns erspart geblieben wären.

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Alice Stašková

Philologus (und) poeta: Fischers Heine. Mit Anmerkungen zu Fischers Universitätsvorlesungen Drei Autoren hat Otokar Fischer, außer selbständiger Studien, Artikel und Übersetzungen, jeweils Monographien gewidmet: Heinrich von Kleist (1912), Friedrich Nietzsche (1913) und Heinrich Heine (1923–1924). Von diesen weist Heines Persönlichkeit hinsichtlich der Frage nach einer nationalen, kulturellen und intellektuellen Identität deutliche Parallelen zu derjenigen Fischers auf: Wie Heine war auch Fischer zweisprachig tätig und ausgeprägt intellektuell, zudem Essayist, Publizist und Lyriker zugleich. Und wie der getaufte Jude Heine setzte sich auch der getaufte Jude Fischer mit seiner jüdischen Identität sowie mit der Rolle des Judentums in der Geschichte und in der spezifischen historischen Situation auseinander, dies zunehmend intensiv und auch mit Blick auf die Frage nach dem Beitrag des Judentums zur Weltliteratur.1 Für die folgenden Überlegungen zu Fischers literaturwissenschaftlicher Methodik und deren Ergebnissen ist seine Nähe zu Heine dahingehend von Bedeutung, dass Fischer in programmatischer Weise eine Verbindung der historisch und textanalytisch orientierten philologischen Praxis mit einer von ihm als psychologisch bezeichneten Perspektive auf die zu untersuchenden Autoren forderte und dabei von einem spannungsreichen Verhältnis des Philologen zu seinem Autor ausging.2 Insoweit stellt seine Auseinandersetzung mit Heine eine Probe aufs Exempel für Fischers Umgang mit literaturwissenschaftlichen Gegenständen dar. Im Folgenden gilt es zunächst, Fischers methodisches Bekenntnis im breiteren Kontext der Problematik des philologus poeta zu verorten. Ausgehend von seinem programmatischen Vortrag Über den Anteil des künstlerischen Instinkts an

1  Zu Fischers Taufe sowie auch seiner „sprachlichen Biographie“ vgl. insbes. den Beitrag von Václav Petrbok im vorliegenden Band; zur Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität denjenigen von Kateřina Čapková. Fischer stellte die Frage nach dem Beitrag des Judentums zur Literatur in seinem Vortrag Židé a literatura (1933; Juden und Literatur, Fischer 1965: 205-215). Heines großes Gedicht Jehuda ben Halevy stellt seinen Beitrag zur Frage nach der Rolle der jüdischen Dichtung in der Literaturgeschichtsschreibung dar. 2  Zu Fischers expliziter methodischer Verklammerung von Philologie und Psychologie vgl. im vorliegenden Band insbes. den Beitrag von Filip Charvát.

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literarhistorischer Forschung (Fischer 1914)3 soll Fischers Reflexion jener problematischen Nähe eines selbst dichterisch tätigen Philologen zu seinem Gegenstand skizziert werden; betont sei vorab, dass Fischer geradezu normativ auf einer Abstinenz vom schöpferisch nacheifernden Drang des Philologen besteht und somit den Dualismus von philologus und poeta pragmatisch, wiewohl im Wissen um die damit verbundenen Schwierigkeiten, zu lösen rät. Ferner sollen als eine besondere Facette seiner Tätigkeit, in der die persönliche und eine objektive Perspektive ineinandergreifen, seine handschriftlich überlieferten Vorlesungen zur Literaturgeschichte kurz gesichtet werden. Diese zeugen einerseits von jenem proklamiert professionellen philologischen Zugriff, andererseits lassen sie Strategien verfolgen, mit denen Fischer historische Gegenstände als gegenwärtig brisant zu behandeln suchte. Im letzten Abschnitt soll schließlich Fischer als Heine-Philologe betrachtet werden. Bemerkenswert ist, mit welcher Konsequenz Fischer seine selbstformulierte literaturwissenschaftliche Programmatik und Methodik sowohl in der Vorlesungstätigkeit als auch in seiner Beschäftigung mit Heine umsetzte.

1. Philologus (und) poeta Der programmatische Aufsatz Über den Anteil des künstlerischen Instinkts an literarhistorischer Forschung (Fischer 1914), zunächst als ein Vortrag am 7. Oktober 1913 auf dem Berliner Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft gehalten, stellt, so Fischer explizit, einen „Beitrag zur Psychologie und Methodik der Forschung, nicht zur dichterischen Ästhetik“ (Fischer 1914: 107) dar, und zwar im Sinne einer „Selbsterziehung künstlerisch veranlagter Gelehrten“ (ebd.). Der Aufsatz verknüpft dabei drei verschiedene Dimensionen miteinander. Erstens positioniert sich Fischer im Rahmen der zu seiner Zeit aktuellen Diskussion zur Problematik der Dichterphilologen. Zweitens formuliert er hier seine grundsätzlich agonale Menschen- und Lebensauffassung und drittens zeichnet er, implizit, vor dem Hintergrund dieser beiden Themen – des Verhältnisses der Philologie und Poesie sowie 3  Eine verkürzte tschechische Version unter dem Titel Na rozhraní (In Grenzgebieten) in: Fischer 1965, 105–112 (ursprüngliche, längere tschechische Fassung O účasti umělecké tvořivosti v literárně historickém badání in Lumír 42/1914, Nr. 5, 209-215, und Nr. 6, 255-260). Zu den Versionen vgl. den Beitrag von Irina Wutsdorff im vorliegenden Band.

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seines Menschenbildes – sein Selbstporträt als Philologe, Dichter, Kritiker und Übersetzer zugleich. Fischer reagiert mit seinem Vortrag auf die Situation, in der sich die seit der Romantik etablierte Allianz von Philologie und Poesie befand. Seine Ausführungen zeugen dabei von jenen auszuhaltenden „Spannungen“ zwischen den Tendenzen des Philologen und denen des Dichters, wie sie Mark-Georg Dehrmann mit Blick auf Friedrich Schlegel akzentuierte (Dehrmann 2015: 136). Im Gegensatz zu den poetae docti der Frühen Neuzeit bedingen sich bei den Dichterphilologen die philologische und die dichterische Seite nicht wechselseitig, sondern stellen im Zuge der Institutionalisierung der Philologie als Disziplin im 19. Jahrhundert jeweils unterschiedliche Ansprüche (Dehrmann/Nebrig 2010: 8). Das Phänomen des dichtenden Philologen oder der philologisch arbeitenden Dichter war ab etwa 1910 (Nebrig 2013: 4)4, also zur Zeit von Fischers Vortrag, geradezu an einem kritischen Punkt angelangt.5 Fischer stellt sich allerdings weniger die Frage, ob „das Wissen des philologus die Schaffenskraft des poeta“ „blockiert“ (Dehrmann/Nebrig 2010: 9), als vielmehr die umgekehrte Frage: Er legt dar, in welcher Weise der originäre dichterische Trieb die philologische Arbeit beeinträchtigen kann. Dabei entwickelt er eine Lösung mit Blick auf die beiden konträren Hauptaspekte der Situation, in der sich das Verhältnis von Philologen und Dichtern, hier in einer Person vereinigt, zur Zeit seines Vortrags befand. Da er darum weiß, dass sich die Philologie und die Dichtung am Ende jener progressiven Entfremdung (Dehrmann/Nebrig 2010: 16) aufgrund der Verwissenschaftlichung der ersten in einem Konflikt befinden, sucht Fischer im Einklang mit der Zeit nach den Möglichkeiten einer Synthese. Einerseits findet er diese Möglichkeit weiterhin in der Tradition jener „Schwellenfigur“ (Dehrmann/ Nebrig 2010: 7ff.) des Dichterphilologen, der die „Synergien“ der beiden Berufe zu nutzen weiß und der „[m]it seiner Dichtung und seiner Philologie [...] gewissermaßen Tradition und Gegenwart in einen spannungsvollen 4  Dies im Zuge der allmählichen Ablösung des Positivismus durch die Geistesgeschichte; vgl. Nebrig 2013: 4 und 7. 5  Die historische Diskursivierung des Themas philologus poeta wird seit einiger Zeit im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte der Philologie und der Germanistik eingehend untersucht, vgl. Dehrmann/Nebrig (2010, darin auf S. 17, Anm. 30 auch weitere bibliographische Hinweise); Dehrmann (2015); für das 20. Jahrhundert vgl. Nebrig (2013). Für die konkreten Phänomene, auf die sich Fischer explizit beruft, ist diese Forschung besonders instruktiv und erhellend; zum Verhältnis von Goethe und Friedrich August Wolf z. B. (Fischer 2014: 101) vgl. Buschmeier (2008) und Dehrmann (2015: 225).

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Dialog [setzt].“ (Dehrmann/Nebrig 2010: 11) Andererseits aber kombiniert er im Rahmen der Philologie mehrere Methoden, indem er dualistische Oppositionen (verkürzt angedeutet etwa den Gegensatz „Scherer – Dilthey“) außer Kraft setzt. Beide Strategien – die konstruktive Aufwertung der doppelten Begabung eines Dichterphilologen und die methodische Kombinatorik – verquickt er miteinander. Der Dichterphilologe habe sich, so Fischer, des nachschöpferischen Eifers zu entledigen, im Besinnen auf die „Kardinaltugenden“ des Philologen: „jene Pietät zum faktisch Dagewesenen, jener unbestechliche Gerechtigkeitssinn, jene Andacht zum Unbedeutenden […] gewissenhafte Akribie und peinliches Ordnunghaltenwissen“ (Fischer 1914: 98). Die Methodik, auf die sich Fischer beruft, bietet ja genug Spielraum, um die schöpferischen Energien auszunutzen. In diesem Sinne erhält das von Fischer immer wieder beschworene „Rätsel“ oder „Geheimnis“,6 um dessen Lösung der Philologe ringe, einen zentralen Stellenwert in seinem System. Dem Philologen gehe es darum, „das Entwicklungsgesetz eines Dichters“ (Fischer 1914: 98) aufzudecken – hier situiert sich Fischer in der Nachfolge von Wilhelm Scherer, auf den er sich auch an anderer Stelle namentlich beruft (Fischer 1914: 101). Zugleich sei es aber gerade die künstlerische Begabung, die es dem „nachschaffenden Interpreten“ (Fischer 1914: 99) ermögliche, jenes Geheimnis des individuellen Schaffens aufzuspüren. Die Forderung einer Kongenialität verweist hier wiederum – fast wörtlich – auf die hermeneutische Tradition in der Ausprägung durch Wilhelm Dilthey. In seinem folgenreichen Buch Leben Schleiermachers erläutert Dilthey dessen Methodik mit Blick auf „das Prinzip der synthetischen, d. h. nachschaffenden Auslegung“ (Dilthey 1966: 705; Hervorhebung im Text); in seinen theoretischen und methodologischen Ausführungen apostrophiert Dilthey die hermeneutische Praxis als „die Kunst der genialen Interpreten“ (Dilthey 1927: 332). Dilthey sprach Wilhelm Scherer, sogar auch mit Blick auf dessen späte Poetik, eindeutig jegliches Interesse an der Psychologie ab,7 während bereits einige zeitgenössische Leser von Scherers Poetik diesen als einen Vorbereiter von psychologischen Methoden betrachteten.8 6  Vgl. Fischer (1914: 98f.) Die Rede vom Geheimnis und vom Rätsel, mit der Fischer z. B. auch seinen Forschungsbericht Otázky literární psychologie (Fragen der literarischen Psychologie; Fischer 1917: 79 und 80) abschließt, ist bei ihm zentral; im Folgenden geht es darum, den systematischen Charakter dieses Begriffs, der ansonsten als Metapher des Unbenennbaren anmutet, aufzuzeigen. 7  „Scherer verwarf jede Mitwirkung der Psychologie“ (Dilthey [1886] 1977: 241). 8  Vgl. z. B. Konrad Burdach: „Er ]Scherer] vermeidet es dagegen aufs strengste, von innen heraus vorzuschreiten, d.h. etwa von irgend welchen psychologischen Definitionen

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Für Fischer schließen sich die „Divination“ (Fischer 1914: 100), mit der er, weiterhin im Sinne von Diltheys Deutung der Methodik Schleiermachers, das nachschaffende kongeniale Interpretieren assoziiert, und die philologische und literaturhistorische Akribie auch in einer Nachfolge von Scherer oder von Erich Schmidt keineswegs aus. In der Nachfolge Diltheys verlangt Fischer, dass der Philologe das dichterische Werk kongenial nachvollzieht.9 Der zunächst von Schleiermacher neutral verwendete Begriff der Divination – auch Ahndung oder Ahnung –, auf den sich Fischer in seinen Arbeiten beruft,10 bekommt bei ihm einerseits etwas von der Dilthey’schen Emphase, die das Wort Divination mit einem metaphysischen – falsch etymologisierend vom deus abgeleiteten – Akzent versieht. Andererseits bildet der Divinationsbegriff bei Fischer ein Pendant zu jenem erwähnten Begriff des Rätsels und des Geheimnisses aufseiten eines behandelten Dichters oder Werks, um deren Auflösung es dem Philologen gehe. Daher behält sein Divinationsbegriff auch die ursprüngliche, durchaus nüchterne Bedeutung, die er bei Schleiermacher – wie Manfred Frank gezeigt hat11 – besaß, nämlich im Sinne einer Ableitung vom Wort „erraten“ (devine, deviner).12 Das Auflösen von Rätseln verweist daher bei Fischer zugleich auf den Weltbezug der Poesie, und zwar in einer von jeglicher Esoterik freien Art und Weise. Als Beispiel sei der Aufsatz zur Anagnorisis von 1913 erwähnt, in dem dieser Bestandteil des Dramas auf die alltägliche Erfahrung eines Wiedererkennens – auf eine Fundamentalsituation, möchte man sagen – zurückgeführt wird; interessant ist dann die anschließende Interpretation von Schillers Demetrius, in der es lakonisch heißt: im ganzen Demetrius ginge es darum, dass sich eine Anagnorisis ereignet (vgl. Fischer [1913] 1929: 136f.). Konsequenterweise besteht Fischer auf der Kombination von psychologischen und formalanalytisch-philologischen Verfahren. Zwar stellt er die „wahre Antinomie“ fest (Fischer 1914: 100), die zwischen der Notwendigkeit einer objektiven philologischen Darstellungsweise einerseits und dem Drang, „liebevoll nachschaffend, anempfinden, ahnend und fühlend“ (ebd.) vorzuauszugehen. Aber er bereitet überall psychophysischer Betrachtung den Weg […].“ (Burdach [1888] 1977: 243). 9  „Etwas Kongeniales sollte – dies klingt wie ein selbstverständliches Axiom – in jedem Bemühen enthalten sein, das um Erfassung genialer Persönlichkeiten ringt […].“ (Fischer 1914: 100). 10  Vgl. Fischers Rede von der „Ahnung einer prästabilierten Harmonie“ beim Forscher (Fischer 1914: 99). 11  Vgl. die Einleitung von Manfred Frank in Schleiermacher (1977: 47). 12  Vgl. stellvertretend Fischers Betonung einer „Lust, Rätsel zu raten“ (Fischer 1914: 98).

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gehen andererseits herrsche; damit verleiht er der methodischen Diskussion seit 1910 einen pointierten Ausdruck. Auch führt er diese Antinomie mehrfach aus, ob nun typologisch, indem er den faustischen Topos von zwei Seelen in einer Brust anspielt (hier dem Wissenstrieb und dem Künstlerdrang), oder historisch, indem er die bekannten Gegner der literaturwissenschaftlichen Annäherung herbeizitiert und somit die Topoi und Autoritäten einer Kritik der Kritik seitens der schöpferischen Autoren (Grillparzer, Nietzsche) abruft. Die Forderung einer Kongenialität löst Fischer aber anders als Dilthey; während sich der Künstler im Philologen an jener Einfühlung, die Dilthey bei Schleiermacher zum kongenialen Nachvollzug umdeutete, beteilige, obliege es dem Philologen, die Ergebnisse zu ordnen und mit wissenschaftlicher Nüchternheit auszuformulieren und zu vermitteln. Der Preis für diese systematisch-methodische Selbstdisziplinierung ist hoch: Es ist der Preis eines inneren Kampfes, den der Dichterphilologe mit sich selbst auszutragen habe. Dieser innere Kampf ist nach Fischer jedoch eine Ausprägung jenes Agon, in dem für ihn das menschliche Sein und Tun insgesamt aufgehen: „Alle geistige Bewegung ist Kampf“ (Fischer 1914: 98), eröffnet er seinen Aufsatz. Fischer löst also das zeitgenössisch virulente Problem der Entfremdung von Philologie und Poesie sowie die Forderung nach einer neuen, höheren Synthese dadurch, dass er den singulären Konflikt zwischen Disziplin und Institution einerseits und ihrem Gegenstand andererseits dem allumfassenden agonalen Charakter des Menschen einverleibt; der genannte Konflikt erscheint somit als eine aktuelle Manifestation des den Menschen auszeichnenden Seins in der Welt. Für das (so wörtlich) „Abreagieren“ (Fischer 1914: 105) der künstlerischen Energien im Philologen empfiehlt Fischer – zugegebenermaßen als Philologe, der in einer seinen Autoren fremden Sprache und pro domo sprechend agiert – die Übersetzung. Auch streift er die Disziplin der literarischen Kritik. Die Kritik und die Übersetzung werden damit allerdings ebenfalls in den ewig währenden Kampf des menschlichen Daseins eingebettet. Den Umgang des Philologen mit seinem Gegenstand umschreibt Fischer dementsprechend in seinem Aufsatz zur Psychologie des Literaturwissenschaftlers als einen liebevollen „Kampf“: „als Kämpfer des Geistes hat er zu ringen, der auch vor dem letzten nicht zurückschreckt, mag er auch sicher sein, das äußerste Geheimnis einer Individualität, einer dahingeschwundenen Zeit niemals voll ergründen zu können.“ (Fischer 1914: 108) Ein solcher Kampf – nennen wir es Auseinandersetzung – von Literaturwissenschaftlern soll nach seiner Auffassung allerdings einer unter ihresgleichen sein. Daher sei der Philologe – unter ständiger Pflege der philologischen Tugenden, wie

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Respekt zum Gegenstand, Akribie, Genauigkeit und Distanz – auch ein Nachschaffender. Der Philologe wählt sich, so Fischer, seine Gegenstände nach dem Maß seines eigenen Naturells. Fischers eigene Praxis im Bereich der germanistischen Themen entspricht dieser impliziten Selbstcharakteristik. Fischer, der vom agonalen Menschenbild ausgeht, wählt sich Autoren, die entweder im umfassenden Sinne polemisch sind – Nietzsche und Heine – oder im dramatischen Konflikt aufgehen – Kleist. Fischers antagonistisches Welt- und Menschenbild zeigt sich auch in seinem Umgang mit Stoffen, Motiven, Themen sowie Epochenkonzepten. Allerdings proklamiert er im letzten Teil seines Aufsatzes, der Philologe habe sich von einer dichterischen Nacheiferung gegenüber seinem Gegen-stand in Acht zu nehmen. Gemäß dem Anspruch, Rätsel zu lösen, liege seine Aufgabe darin, von eigenen Ambitionen Abstand zu nehmen und, vereinfacht gesagt, um den maximalen Erkenntnisertrag und dessen angemessene Vermittlung zu ringen. Es handelt sich somit beim Verhältnis des Philologen zu seinem Gegenstand – dem Dichter und seinem Werk – weder um Konkurrenz noch um eine imitatio. Mit einem Bibel-Zitat (aus Genesis 32, 23-33) beschließt Fischer sein Plädoyer für die Verbindung der historischphilologischen, auf das Wort konzentrierten Analyse mit der psychologisch, vom musischen Naturell des betreffenden philologus poeta garantierten Intuition: „Auch der Forscher will durch den Kampf selber wachsen, auch der Forscher darf jedem Gedanken, mit dem es sein ringender Geist aufnimmt, zurufen: ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ (Fischer 1914: 108) Es unterstreicht, dass dem untersuchten Autor als Schöpfer Respekt des mit ihm ringenden Philologen gebührt – so schöpferisch dieser auch ansonsten sein mag und sich ebenfalls als ein erschaffender alter deus betätigen möge.

2. Zu Fischers literarhistorischer Praxis in den Universitätsvorlesungen Otokar Fischers hält die Askese, die er dem künstlerisch veranlagten Philologen auferlegt, mit einer bemerkenswerten Konsequenz durch. Seine methodische „Selbsterziehung“ (Fischer 1914: 107) erweist sich überdies auch als konstruktiv, zweckmäßig und effektiv. Man kann behaupten, dass die beeindruckende Vielfalt verschiedener beruflicher Facetten, in denen Fischer jeweils erfolgreich war – Lyriker, Dramatiker, Essayist, Literaturkritiker,

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Publizist, Übersetzer, Universitätsdozent, Literarhistoriker und Philologe – gerade durch seine gewissenhafte und strenge Reflexion der Bedingungen und Probleme seiner Mehrfachbegabung ermöglicht wurde. Diese Reflexion vollzieht sich dabei nicht nur im Sinne einer persönlichen Rechenschaft über die eigene Situation, sondern eben auch im Bewusstsein der Traditionen, in denen sich das Phänomen des Dichterphilologen befindet – darin zeigt sich wiederum Fischer erneut als ein wahrer Philologe. Seine Universitätsvorlesungen zeigen neben den oben erwähnten Tugenden, noch zwei weitere wichtige Facetten. Gemeint ist erstens seine Arbeit mit den Dualismen und Dichotomien und zweitens ein Aspekt, der, anders als jene von Dilthey eingeforderte Kongenialität, als ein Sinn für den Weltbezug der Dichtung und der Literaturgeschichte erscheint – dies ist eine Facette, die sich insbesondere seit den 1920er Jahren auch zunehmend in Fischers Publizistik bemerkbar macht. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen. Die tragende Struktur von Fischers literarhistorischen Rekonstruktionen und Darstellungen ist der Dualismus, der sich als binäre Opposition zeigt. Das geht einerseits mit Fischers Auffassung des menschlichen Daseins einher, andererseits mit der Tendenz zu Typologien, die für die zeitgenössische Methodik seit der Jahrhundertwende (Wölfflin, Croce und die Anwendungen der kunsthistorischen Typologien in der Literaturwissenschaft etwa bei Walzel oder Fritz Strich) insgesamt charakteristisch ist – und die Fischer selbst reflektiert, wie seine Besprechungen der Forschungsliteratur in den Vorlesungen sowie auch seine Rezensionen zeigen. Interessant an seiner eigenen Arbeit mit Dichotomien ist nun allerdings, dass er sie durchgehend kritisch reflektiert, mit seinen Darstellungen verschiedentlich durchkreuzt und mit anderen Phänomenen konfrontiert.13 In seiner viersemestrigen Vorlesung aus den Jahren 1923–24 mit dem Titel Goethe und Schiller orientiert sich Fischer an der typologischen Opposition zwischen Klassik und Romantik, Rationalität und Emotionalität usw. und beruft sich dabei unter anderem auf Fritz Strichs 1922 erschienene Monographie Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. Ein Vergleich, die von der kunsthistorischen Methode in der Nachfolge Wölfflins ausgeht. Die dualistischen Spannungen lässt Fischer dann in einer Opposition zwischen Goethe und Schiller kulminieren (wie es im Übrigen in verschiedenen Variationen zum Teil heute 13  Die Oppositionen, auf denen Fischer etwa sein Kleist-Porträt aufbaut – sei es die Spaltung der Kleist’schen Persönlichkeit oder die von Fischer festgestellte Balance zwischen durchgehender Ironie bei Kleist (ein interessanter Gedanke) und den ausgetragenen Paradoxien des Lebens in den betreffenden Werken –, sind auch in seinen Epochenkonzepten zu verfolgen.

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noch üblich ist: Goethe als Realist, Schiller als Idealist usw.) Ähnlich baut er seine Vorlesung zum 18. Jahrhundert auf einem typologischen Dualismus, für den Faust steht, auf: einerseits „nadšen [...] světským požitkem“ [begeistert vom weltlichen Genuß], andererseits „vzlétal do nadpozemských výšin“ [in überirdische Höhen fliegend] (Fischer 1923–1924: 15). Vor dem Hintergrund dieser Dichotomie von Immanenz und Transzendenz skizziert Fischer dann Porträts von den prägenden Persönlichkeiten des 18. Jahrhunderts (etwa Hagedorn und Haller; Fischer orientiert sich hier offenbar auch an den Darstellungen von Hermann Hettners Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert).14 Ein besonders markantes Beispiel für dieses Denken in dualistischen Oppositionen und zugleich für die aktualisierende Tendenz bietet Fischers Vorlesung Ďábel v německé literatuře [Teufel in der deutschen Literatur] aus dem Jahre 1909. Hier begründet er die Auseinandersetzung mit diesem Stoff durch den rezenten Tod des Kontrahenten vom Teufel: „Der Gott ist tot“, eröffnet er, mit einem Hinweis auf Nietzsche, effektvoll seine Ausführungen zum Teufel (Fischer 1909: 1). Mit Fischers Dualismen ließe sich fortfahren. Interessanter ist es allerdings zu sehen, wie Fischer diese Strukturen durchkreuzt, so dass die von ihm explizit als heuristisch markierten Dualismen unter der Beobachtung konkreter Phänomene zusammenfallen. In der pädagogischen Praxis sieht es so aus, dass Fischer ein Epochenkonzept – konkret jenes der Klassik – in seinen Ausprägungen und Komponenten genau skizziert, um dann zu beteuern, für die Weimarer Klassik sei der Begriff zwar nützlich, bloß entsprächen ihm keine Werke (nicht einmal Hermann und Dorothea lässt er ohne weiteres als klassisch gelten).15 In einem anderen Fall – hier konkret in einem Artikel für Lidové noviny aus dem Jahre 1933 – konterkariert er den typologischen Epochendualismus, indem er auf die Kritiken zu Fritz Strich und anderen aufmerksam macht und – nebst dem Hinweis auf Josef Körners Arbeit zu den Beziehungen zwischen den Weimarern und den Schlegels – die differenzierte Herangehensweise von Richard Alewyn hervorhebt.16 In 14  Fischer ergänzt seine Ausführungen jeweils durch Beobachtungen zur tschechischen Literatur (etwa dem Dualismus von Mácha und Neruda; Fischer 1925-1926: 15f.) sowie durch eine komparatistische Perspektive (z. B. wenn er Schillers Fiesco mit Hamlet konfrontiert, Fischer [1924-1925: 26]; Vorlesung vom 26.03. 1925). 15  Im epochalem Sinne nennt Fischer die Weimarer Klassik eine „bloße Episode“ („pouhá epizoda“, Fischer [1923-1924], 1. Vorlesung). 16  Fischer beteuert hier: „důležitější než jakákoliv klasifikace a doktrína je a zůstane živoucí náplň a umělecká zkušenost“ [wichtiger als jedwede Klassifikation und Doktrin

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der erwähnten Teufel-Vorlesung, um ein letztes Beispiel für das produktive Durchkreuzen seiner oppositionellen Typologie zu geben, bezieht er den – so Fischer selbst – deutschtümlichen Stoff, dessen Ausprägungen er vom Alten Testament bis hin zu Luther verfolgt, auf die jüngste Renaissance eines Titanismus.17 Somit erweist er sich hier, bei beeindruckender Fülle des historischen Materials, als – mit Worten von E. A. Saudek formuliert – der „konsequenteste Aktualisator“18 (Saudek 1948: 61).

3. Fischers Heine Besonders komplex erscheint Fischers komplementäre Anwendung der psychologischen Methode und philologischen Analyse in seinen HeineArbeiten. Seine privaten Äußerungen während der Arbeit an der zweibändigen Heine-Monographie bezeugen, dass er sich hier einen Gegenstand gewählt hat, der ihn ganz besonders irritierte.19 An Pannwitz schreibt er am 2. Oktober 1922, er sehe in Heine dies bunte Gemisch von Erhabenheit u[nd] Gemeinheit, von intuitivem Erfassen einer Volksseele (mehr: zweier Volksseelen, ja dreier Volksseelen) und zugleich aller-allerfeinste[r] ist und bleibt die lebendige Erfüllung und künstlerische Erfahrung.] (Fischer 1933: 9). Unter Bezug auf Alewyn führt Fischer aus: „Nesejde na tom, aby ten který básník byl upíchnut na tu neb onu tendenci, je však tím naléhavější, aby se vyšetřilo, jak silné, jak dramatické, jak básnické je napětí mezi jednotlivými složkami, které utvářejí duševní vývoj.“ [Es kommt nicht darauf an, dass dieser oder jener Dichter der oder jener Tendenz zugeordnet werde, es ist vielmehr umso dringender zu untersuchen, wie stark, wie dramatisch, wie dichterisch die Spannung zwischen den jeweiligen Komponenten ist, die seine geistige Entwicklung bilden.] (Fischer 1933: 9). 17  Auch hier entwirft Fischer einer dualistische Typologie zwischen einem positivistischen Geist, für den Luthers Teufel-Auffassung steht und dem „faustischen Titanismus“, der Luthers „realem positivistischen Geist fremd und unverständlich“ bleiben musste. (Fischer 1909: 212) 18  „Kdybychom jediným slovem měli vystihnout příkladnou velikost Fischerovu, jak vědeckou, tak uměleckou, řekli bychom, že byl snad nejdůslednějším aktualisátorem, jakého jsme kdy měli.“ [Wenn wir mit einem Wort die exemplarische, wissenschaftliche wie künstlerische Größe Fischers erfassen sollten, dann würden wir sagen, dass er womöglich der konsequenteste Aktualisator gewesen ist, den wir je gehabt haben.] (Saudek 1948: 61, Hervorhebung im Text). 19  Allerdings gilt es auch die große Bedeutung der Rezeption von Heines Lyrik in der tschechischen lyrischen Tradition insbesondere des 19. Jahrhunderts zu betonen.

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Differenzierung, die der décadence präludiert; Meer und Judentum, Fragen und der fliegende Ahasver, Undank der Nation und französische Trikolore, Sehnsüchtelei und herbste Philosophie des Schmerzes, Calembours und befreiender Zynismus – ach was geht mir nicht alles durcheinander, wenn ich an dieses Gewirr von Problemen denke, die mir, fast alle, bis ins Fleisch schneiden! Sie sehen mich also befangen in einer Art von magischen Kreisen, Seelenzergliederung und Wortkunst spielen da die allergrö[ss]te Rolle […]. (Pannwitz/Fischer/Eisner 2002: 133)

Fischer teilt das Buch in zwei Bände, zum Leben bzw. zum Werk. Bis auf die schwungvolle Einleitung geht er dabei durchaus nüchtern vor. In dieser Einleitung bestimmt er als Basis von Heines schöpferischer Persönlichkeit drei Momente: Heines Auseinandersetzung mit der Romantik, sein Europäertum sowie sein Judentum. Er hebt – ähnlich wie in seinem Kleist-Buch – die nicht zu schlichtenden Widersprüche hervor, die Heine und seine Rezeption charakterisieren, um schließlich das vereinigende Prinzip zu benennen: „Protimluvný a nesrovnalý, paradoxní a rozháraný, bývá Heine málokdy chápán ve své totalitě a podle svého vnitřního, utajeného a všemu navzdory přec jednotného rytmu.“ [Widersprüchlich und uneben, paradox und zerwühlt, wird Heine selten in seiner Totalität und gemäß seinem inneren, als Geheimnis verborgenen und allem zum Trotz dennoch einheitlichen Rhythmus begriffen.] (Fischer 1923c: 15). Das Geheimnis, das es nun diesmal bei Heine offenzulegen gilt, umschreibt Fischer hier also mit dem Begriff des Rhythmus. Fischer geht offenbar, in der Nachfolge des Heine-Verehrers Nietzsche, von Heines Bedeutung als Sprachkünstler aus. In Kombination mit dem Rekurs auf Heines Europäertum und sein Judentum handelt es sich dabei um einen im Kontext der Zeit zum Teil originellen, jedenfalls aber um einen polemischen Ansatz. Die Polemik richtet sich gegen diejenigen Auffassungen, allen voran jene von Karl Kraus, die Heines Sprachkunst – Artistik nicht im positiven, sondern im negativen Sinne – gerade als die eines Juden kritisierten. In der Einleitung erwähnt Fischer in diesem Zusammenhang kurz Kraus sowie auch die Mitglieder des George-Kreises.20 Beachtet man auch die Ausführungen zu Heine in Fischers Essay zum Judentum in der Literatur, wird klar, dass er auf zwei Angriffspunkte aus Kraus’ Buch Heinrich Heine und die Folgen zielt. Beide Aspekte betreffen im Grunde eine Frage der Poetik: das spezifische Verhältnis von Authentizität und Dichtung.

20  Fischer führt hier die Heine-Gegnerschaft von Karl Kraus und einiger Miglieder des George-Kreises eindeutig auf Heines Judentum zurück (Fischer 1923c: 10).

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Erstens thematisiert Fischer das Thema der sprachlichen Artistik mit Blick darauf, dass im Falle Heines ein Jude in deutscher Sprache dichtet. Fischer begegnet hier den im Zeichen des Antisemitismus stehenden Angriffen, die Heines Tendenz zur Ironie und zur Brechung als Ranküne eines Juden gegenüber einer ihm immer fremd gebliebenen reinen Sprache zu charakterisieren suchten.21 Fischer wertet dagegen den Abstand sowie die Reflexivität als qualifizierte Haltungen eines Juden auf.22 Andererseits bietet Fischer eine Alternative zu denjenigen Auffassungen, die, von einer Poetik der Authentizität geleitet, lediglich die späte Dichtung des todkranken Autors gelten ließen – , auch diese Auffassung ist, wie noch zu konkretisieren sein wird, durch Karl Kraus prominent vertreten. Als exemplarisch und mit Blick auf den erwähnten George-Kreis sei hier nur eine Bemerkung Friedrich Gundolfs aus einem Brief an Wolfskehl bereits aus dem Jahre 1900 [31.12.] zitiert: „In vielem läuft er [Heine] Nietzsche vor, aber belog sich selbst sein ganzes Leben, die letzten 10 Jahre ausgenommen, wo er für mich einen Zug von Würde und Größe gewinnt.“ (zit. nach Goltschnigg/ Steinecke 2008: 59) Fischers hiervon abweichende Darstellung zum Spätwerk Heines, also zu dessen Texten nach 1848, macht seine spezifische Position im Rahmen der Heine-Forschung seiner Zeit besonders deutlich. Dass die späte Lyrik des kranken Heine der einzige Teil seines Werkes ist, den auch Karl Kraus gelten ließ, ist an folgenden Sätzen ersichtlich: „Heine hat das Erlebnis des Sterbens gebraucht, um ein Dichter zu sein. Es war ein Diktat: sing, Vogel, oder stirb. Der Tod ist ein noch besserer Helfer als Paris; der Tod in Paris, Schmerzen und Heimatsucht, die bringen schon ein Echtes fertig.“ (Kraus 1910: 37) Kraus geht hier von der Auffassung der Lyrik 21  Vgl. hierzu insbesondere Steinecke (2009) und Goltschnigg/ Steinecke (2008). 22  Im Essay Židé a literatura [Juden und Literatur] charakterisiert Fischer das Verhältnis der Juden zur Sprache ihrer Umgebung wie folgt: „Nade vším pak a to nejzvláštnější: virtuozita slovního projadřování; kultivování jazyka kmene, mezi nímž spisovatel žije a s nímž se nesdílí o stejnou krev, o stejné plémě. Kde hledati kořeny tohoto, lze-li tak říci, v půdu nevrostlého a přece přebujelého citu pro řeč, těžko říci: zda v dlouhých staletích, kdy studium Písma bylo především filologické? zda v nutnosti, která záležela v tom, že se užívalo po celý život a jakoby samozřejmě jazyků dvou?“ [Über alles und am meisten besonders: die Virtuosität des verbalen Ausdruck; die Kultivierung der Sprache eines Stammes, in dem der Schriftsteller lebt und mit dem er nicht dasselbe Blut, dieselbe Rasse teilt. Es ist schwer zu sagen, worin die Wurzeln dieses, wenn man es so sagen kann, in den Boden nicht hineingewachsenen und dennoch überwuchernden Gefühls für die Sprache zu suchen sind: ob in den langen Jahrhunderten, wo das Schriftstudium vor allem philologisch war? Ob in der Notwendigkeit, die darin bestand, dass man das Leben lang und gleichsam selbstverständlich zwei Sprachen verwendete?] (Fischer 1965 [1933]: 212).

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als authentischer Ausdruck der dichterischen Individualität und auch deren Erlebnisweise aus, und zwar normativ. Lyrik ist für ihn nur dann keine Lüge (wie es das übrige Schaffen Heines eben sei), wenn ihr eine solche Authentizität attestiert werden kann. (Dieser Auffassung begegnet man übrigens in der Heine-Forschung bis in die 1960er Jahre hinein, etwa bei Gerhard Storz.23) Fischer hebt ebenfalls das Spätwerk hervor, dabei aber mit anderen Argumenten. Der erste, der das Spätwerk und dabei konkret den lyrischen Romanzero-Zyklus in den Vordergrund rückte, war – Fischer erwähnt ihn natürlich – Richard M. Meyer in einer Studie von 1899.24 Darin heißt es: „Der ganze Zauber dieser durch ihre Gaben selbst zerspaltenen Seele, der ganze Reiz einer widerspruchsvollen Genialität, die ganze Macht einer siegesgewissen Kunst kommt mehr als in dem von Affektation nicht freien Buch der Lieder, mehr als in den einseitigen satirischen Zeitgedichten, mehr als in dem fragmentarischen Roman im Romanzero zur vollen Geltung.“ (Meyer 1905: 162) Für Meyer wird die Qualität der späten Lyrik Heines nicht durch die Tatsache garantiert, dass sie sub specie mortis geschrieben wurde. Vielmehr geht Meyer deduktiv vor. Heines Lyrik bezieht nach seiner Einschätzung ihre Würde von jenem Konzept des Altersstils her, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Maßstab des späten Goethe und des späten Beethoven entwickelt wurde und davon ausgeht, dass sich das Spätwerk durch eine zeitenthobene Entindividualisierung auszeichnet. Fischer geht anders vor, wie man an seiner Behandlung des RomanzeroZyklus sowie der späten abrechnenden Gedichte Heines sieht. Originell ist an Fischers Analyse zunächst, dass er den Zyklus zur Gänze als jüdisch geprägt charakterisiert: „Jüdisch ist die Umkehrung des Verhältnisses vom Sieger und dem Besiegten […] Und jüdisch ist die Intention und die Intonation […]“ (Fischer 1924: 143) In den Hebräischen Melodien widmete Fischer sich der Heterogenität der Texte, insbesondere im Poem Jehuda ben Halevy; diese Heterogenität gehört bist heute zu den großen Fragen der Heine-Forschung. Die Interpretation Fischers ist typisch für seine kombinierende Methodik und gerade durch sie produktiv. Auf eine prägnante Analyse der heterogenen Aspekte folgt zunächst eine psychologische Erklärung, dies nach dem Muster jener „formulka“ [kleinen Formel] (Fischer 1917: 43) Diltheys – so Fischers eigene Bezeichnung für den Titel von Diltheys Essay-Sammlung Das Erlebnis und die Dichtung. Davon ausgehend und mit Blick auf die Forschung vermerkt 23  Vgl. hierzu Stašková (2014: 97-100). 24  Fischer würdigt mit Blick auf Heines Romanzero besonders auch die wichtige Studie von Helene Herrmann, Studien zu Heines „Romanzero“ von 1906.

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Fischer, dass jenes nimmer endende dysfunktionale Verweilen bei Bildern, rhetorischen Figuren und Ornamenten in Heines Text auf seine Schmerzen zurückzuführen sei, von denen ihn, nebst Morphium, gerade das dichtende Verweilen kurzfristig befreit habe. Daraufhin aber führt Fischer seine eigene Charakteristik aus: Ovšem, vedle pathologického rázu projevuje se tu snad (leč až v  druhé řadě) umělecký záměr; pestrost barev, bohatství nápadů i rétorická přeplněnost, to vše je v  souladu s exotickým námětem, s orientální nádherou a poesií zde popisovanou, s pohádkovými a podivně mythickými některými symboly. [Allerdings vollzieht sich hier neben dem pathologischen Aspekt (jedoch erst in zweiter Reihe) eine künstlerische Absicht; die Buntheit der Farben, das Reichtum der Einfälle sowie auch der rhetorische Überfluss, das alles stimmt mit dem exotischen Sujet überein, mit der orientalischen Pracht der hier beschriebenen Poesie, mit einigen märchenhaften und seltsam mythischen Symbolen.] (Fischer 1924: 146)

Auf die psychologische Erklärung folgt hier jener Schritt, der es erst erlaubt, den, phänomenologisch formuliert, Anblick des Werkganzen zu erfassen und, durchaus philologisch im Sinne der hermeneutischen Tradition, den Sinn des Ganzen zu benennen, und zwar mit Blick auf dessen Kunsthaftigkeit. Die Stärke seiner philologischen Methode zeigt sich in Fischers Beobachtungen zur abrechnenden Testament-Poesie Heines. Es handelt sich um jene späten und beißend bösen Gedichte, in denen das kranke Ich seinen sämtlichen Feinden seine Gebrechen zu vermachten sucht. Gerade von diesen Gedichten hatte Fischer zuvor Übersetzungen vorgelegt, die von einer in der tschechischen Poesie seltenen Drastik sind (Fischer 1925). Interessant ist nun, dass sich Fischer nicht, wie es damals üblich war, mit der Kritik an der Rachsucht Heines aufhält oder sie mit Verständnis für den von Schmerzen gequälten Dichter entschuldigt. Stattdessen zeigt Fischer in seiner Studie Heine und Villon philologisch genau, dass Heine die von François Villon geprägte Tradition der mit der Welt abrechnenden literarischen Selbststilisierung fortsetzt und gewissermaßen eine réécriture vornimmt (Fischer 1965 [1927]). Die späten Gedichte bewertet Fischer dementsprechend nicht als Zeugnisse von Heines Charakter, sondern als besonders kunstvolle Rollenlyrik von denkbar intensiver Illusionswirkung. Übrigens ist die Inspiration Heines durch den mit ihm befreundeten Théophile Gautier, Autor eines einflussreichen Villon-Essays, auf der Fischer seine These umsichtig baut, erst in der letzten Zeit in der Heine-Forschung umfassender untersucht worden. Die binären Oppositionen, mit denen Fischer im Einklang mit der HeineForschung aufwartet, dienen ihm insgesamt jeweils dazu, ein besonders dynamisches Porträt seines Autors zu zeichnen und, ohne die Antago-

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nismen zu schlichten, die uneinholbare Widersprüchlichkeit der Heineschen Persönlichkeit plastisch hervortreten zu lassen. Der Weltbezug, dem Fischer in seinen Arbeiten und insbesondere auch in den Universitätsvorlesungen nachgeht, äußert sich in seinen Heine-Texten insbesondere darin, dass er die sozialkritische Dimension des Heineschen Werks hervorhebt.25 Dies ist, wie etwa Arne Novák in seiner ausführlichen Besprechung von Fischers Monographie und seiner Übersetzung der späten Gedichte Heines hervorgehoben hat, auch daran ersichtlich, dass Fischer besonders viel Raum dem Werk der Pariser Zeit und darin der Prosa, vor allem der Publizistik widmet. Novák kritisiert dabei die beiden Aspekte, unter denen Fischer mit seinem Bild von Heine neue Akzente setzt. Einerseits moniert Novák, dass Fischer in seinen Übersetzungen (Fischer 1925) wie in der Heine-Monographie den späten, gerade auch rachsüchtigen Heine aufwertet. Andererseits setzt er besonders die Aktualisierungstendenz Fischers einer Kritik aus: Obávám se však, že Otokar Fischer pojal tyto zápasy příliš s hlediska tendenčně socialistického. Stále znepokojen svými snad dočasnými, ale rozhodně velice časovými procházkami věčnou alejí křížů Spartakových, zdůraznil ve svém výběru z Heina nadměrně tento rys proletářské a revoluční vzpoury [...] Sociálně revoluční myšlenka u Heina nezkameněla vždy v  úchvatné fresko [...] právě v  tomto okruhu napsal Heine své kusy umělecky nejpochybnější. [Ich befürchte allerdings, dass Otokar Fischer diese Kämpfe allzusehr aus der Sicht einer sozialistischen Tendenz auffasst. Beständig beunruhigt durch seine eigenen womöglich zeitweilen, jedenfalls aber sehr zeitgebundenen Spaziergänge durch die ewige Allee der Kreuze des Spartakus, betonte er in seiner Auswahl aus Heine übermäßig diesen Zug des proletarischen und revolutionären Aufstands. […] Die sozial-revolutionäre Idee bei Heine versteinerte nicht immer in ein ergreifendes Fresko[ …] gerade in diesem Bereich schrieb Heine seine künstlerisch zweifelhaftesten Stücke.] (Novák 1925: 458-459)

Auf Nováks Kritik wäre damit zu antworten, dass Fischer hier – anders etwa als der ebenfalls aktualisierende Karl Kraus – von normativen Anforderungen an eine autonome Dichtung absieht und sich an philologische Tugenden hält: Die gesellschaftskritische Tendenz ist für Heines Gesamtschaffen charakteristisch, und zwar so, dass sie gar interessante, auch übergreifende Fragen aufkommen lässt – etwa die Fragen danach, wie ein Begriff der Kunst25  In den Heine-Vorlesungen wartet Fischer gerne mit unmittelbar aktuellen Anspielungen auf; beispielsweise in seiner Darstellung des Streits zwischen Heine und Platen, in dem er eine klare Position gegen Heines „niederträchtigen“ und „beschämenden“ Spott gegenüber Platens Homosexualität bezieht und zugunsten einer Entkriminalisierung der Homosexualität plädiert (Fischer o.J.: 80-82) (dies auch in den undatierten Aufzeichnungen zu Platen). Diese Bezugnahmen lässt er in der Monographie aus.

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autonomie bei Heine zu bestimmen ist, wie sich das Verhältnis von Dichtung und Weltbezug in seiner Poetik gestaltet und wie es sich überhaupt insgesamt denken lässt. Trotzdem hat auch Otokar Fischer mit Heine abgerechnet, unnachgiebig und scharf. Er tat dies aber, denken wir an seine Studie zur Beziehung zwischen dem Philologen und dem Dichter, nicht länger als Philologe, sondern eben als Dichter. Der Dichter im Philologen, so notwendig er beim intuitiven Vorgriff auf das Ganze des behandelten Werks auch sei, hat nach Fischers eigener Auffassung im Schreiben des Philologen selbst nichts zu suchen. Konsequenterweise rechnete Fischer mit derjenigen Seite Heines, die ihm, wie er im zitierten Brief an Pannwitz schreibt, bis ins Fleisch schneidet, in einem Gedicht ab. Es ist das Gedicht Norderney aus der Sammlung Hlasy [Stimmen] von 1923. Es ist in vier ungleich lange Abschnitte geteilt und in einer originär Heineschen Fassung der freien Rhythmen des Nordsee-Zyklus gehalten – freie Füllung, Reime, z.T. an Knittelvers erinnernde Paarreime, ungleich lange Verse, darunter auch Langverse, eingebaute Zitate. Insgesamt wird das Gedicht im Ton der Heineschen – mit Gerhard Höhn gesprochen – „Kontrastästhetik“ (Höhn 2009) gehalten. Zunächst bekennt sich das Gedicht zu mehreren Aspekten von Heines Persönlichkeit, dann macht es mit ihm Schluss: Norderney Tvé město o tobě sotva ví. V domku, kde jsi se zrodil, mají špinavé cukrářství, A před tvůj portrét rozšafný Němčík pytle mouky tam hodil. Zde však o tobě hovoří škeble i chaluha na moři, výspa tě zná, jež v západu svítí, a bouřit slyším to ve vlnobití: Harry – Heinrich – Heine! Také já se z duše za tebe styděl a někdy tvou duši jsem nenáviděl, ale nyní stojím, kde ty jsi stál, vítr do mne pere, jenž přes tebe vál, házím, jak hrotité oblázky, sebemučivé otázky, záhadu tvou a trápení své, v příboj, který mi písek pod nohama rve. Odkud a proč a kam, Vlny a větru se ptám –

Philologus (und) poeta: Fischers Heine Fičí vítr a vlna štěká v můj sluch, jenž dětinsky odpověď čeká: Bloude! Ty bláhový blázne! Taks tu zpíval. A marno zapírat: Tvé jsem krve. Tvého rodu? Snad. Mne též pravá láska v snách jen objímala. Mně též z velkých stesků písnička rodí se malá. Mně též tvé příbuzenstvo, smyslně maušlující po strandu, v koších a na ulici, je nepřátelsky cizí, tak jako jemu já. K tobě však cos jak náhlá mne vděčnost přepadá, filozofe ty v tanci, koketní v disonanci, rozmanitý a rozmarný, kočkovitý a nezmarný, synu Rýna, dítě Seiny, bezkořenný – dvoukořenný – metlo a vichře a psanče! A přec – buď s bohem! Byls kvas a sůl, bez nichž moře by hnilo, a přec i v tebe, jenž váls a dul, zlo mstivé touhy se vpilo: Být apoň katanem katanů! Zub za zub, ránu za ránu! I v tebe se vsála, jak otecká slova, plebejská moudrost Jehovova. Jdu dál zas… Neb kdykoli mněl jsem, že bratra mám, vždy, cizotou raněn, jsem dvojnásob sám. (Fischer 1923a) [Norderney Deine Stadt kaum von dir weiß. In dem kleinen Haus, wo das Licht der Welt dir graute, Ist eine Konditorei von verdächtigem Weiß, und vor dein Porträt der Biedermann einen Sack Mehl verstaute. Hier aber von dir sagen Muschel und Alge flutgetragen, das Riff kennt dich, über dem Westens Brande sich türmen, und in der Brandung hör ich es stürmen: Harry – Heinrich – Heine! Auch ich in heißer Scham von dir mich kehrte Und manchmal Haß mich gegen dich verzehrte, aber nun steh ich, wo du einst standst,

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mich peitscht der Wind, in dem du dich wandst, werfe, wie spitzige Kieselsteine, Fragen, die mich zerfolternd verneinen, dein Rätsel und was mich wie Lohe brennt, in die Brandung, die den Kies zu meinen Füßen berennt. Woher und warum und wohin Wellen frag ich und Wolken ziehn – es faucht der Wind und es kläfft die Welle ins Ohr, das gläubig hinauslauscht ins Gellen: Tor! Du törichter Narre! So sangst du hier. Und ich füg mich darein: Bin deines Blutes Blut. Von deinem Geschlecht? Mag sein. Mich auch wahre Lieb im Traum nur hat erkoren. Mir auch aus großen Schmerzen ein kleines Lied ward geboren. Mir auch deiner Sipp und Magen, die mir Mauschelklängen sich am Strand, in Körben, Straßen geilend drängen, Brut ist feindlich fremd, so wie ich ihr. Doch nach dir befällt mich eine dankerfüllte Gier, du Philosoph im Tanze, kokett in Dissonanzen, vielwendig und wetterwendig, katzenhaft und felsbeständig, Kind der Seine, des Rheines Sproß, doppelwurzlig – wurzellos – Geißel und Sturm und Verbannter! Und doch – lebwohl! Warst Gärteig, Salz warst du, ohn dass das Meer verfaulen müßte, und doch in dich auch, wehende Unruh, rachsüchtiger Gierde Fluch sich küßte: Wenn nichts, so Henkers Henker sein! Und Zahn um Zahn und Pein um Pein! In dich auch sog es sich wie Vaterworte aus Jahves plebeischem Weisheitshorte. Und weiter geh ich… Denn so oft ich meint´, ein Bruder wäre mein, stets, wundgekrallt von Fremdheit, war doppelt ich allein.] (Übersetzung von Paul Eisner)26

In einem Gedicht im Heineschen Ton rechnet der Dichter Fischer mit demjenigen Juden Heine ab, der sich dem Philologen Fischer entzieht. Das Gedicht Fischers sagt sich von der Moral Heines als einer alttestamen26  Ich bedanke mich bei Michal Topor, der mir diese in der Prager Presse veröffentlichte Übersetzung von Paul Eisner vermittelte (Fischer 1923c). Es gibt auch eine Übersetzung von Albert Wellek, vermittelt aus der Handschrift (Zelenka 1996: 97-98).

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tarischen Ethik eindeutig los. Ganz anders positioniert sich Fischer am Ende seiner Monographie gegenüber der jüdischen Perspektive des Dichters. Hier ruft der Philologe seinem umkämpften Autor zu: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ (Fischer 1924: 239; „Nepustím tě, leč mi požehnáš!“) Mit diesem Zitat schließt, wie bereits erwähnt, auch Fischers programmatischer Aufsatz über das Verhältnis von Philologen und Künstlern zu ihrem jeweiligen Gegenstand. Das Zitat stammt ja aus dem ersten Buch Moses – es ist Jakob, der mit dem Engel des Herrn bis zum Morgengrauen ringt und ihn nicht loslassen will, es sei denn, er segne ihn: Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und da er sah, daß er ihn nicht übermochte, rührte er das Gelenk seiner Hüfte an; und das Gelenk der Hüfte Jakobs war über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber er antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. (1. Mose, Kap. 32, 25-29)

Jakob bekommt den Segen, denn er rang mutig mit Gott und mit Menschen und gewann. Und sein Name sei von nun an auch Israel.

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Philologus (und) poeta: Fischers Heine

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Otokar Fischer: Norderney (1923), Auszug.

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Otokar Fischers Gottfried Keller-Lektüre. Eine wissenschaftshistorische Betrachtung 1. Wissenschaftlicher Werdegang Der wie Kafka 1883 geborene Germanist und Romanist Otokar Fischer,1 der an der tschechischen und deutschen Universität in Prag studierte, wird vor allem als Übersetzer und Kulturmittler zwischen tschechischer und deutscher Kultur erinnert.2 Als Nachfolger von Arnošt Kraus in der Goethe-Forschung engagierte sich der „bohemistisch“ eingestellte Fischer (Kraus 1908) im Umfeld der Čechischen Revue (Vodrážková-Pokorná 2007: 198-200) und prägte als Schüler Jankos die Bezeichnung Germanoslavistik (Vodrážková-Pokorná 2007: 253).3 Den Vorlesungsankündigungen ist zu entnehmen, dass Fischer im Sommersemester 1902 bei August Sauer ein Seminar über „Gerstenbergs Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur 1766/7 (Deutsche Litteraturdenkmale Nr. 29/30). 2. Vorträge der Mitglieder“ besuchte.4 Fischer, „Sauers Lieblingsschüler“ (Petrbok 2011), dürfte hier Anregungen für seine weiteren Arbeiten zu Gerstenberg, die fast hundertseitige, als Doktorarbeit eingereichte Einführung zur Edition Gerstenbergs Rezensionen in der Hamburgischen Neuen 1  Fischer beendete sein Studium 1905/06, wurde 1907 Theaterkritiker, am 28.09.1909 folgte die Habilitation für deutsche Literatur an der tschechischen Universität Prag, 1911/12 und 1935–1938 wirkte er als Dramaturg und Intendant des Národní divadlo. Fischer wurde 1917 a. o. Professor, Ordinarius erst 1927 (Schamschula 1996: 507) und zählt damit zur dritten Generation tschechischer Germanisten (nach Václav Emanuel Mourek und Arnošt Kraus sowie Jan Krejčí und Josef Janko). 2  S. hierzu Fischers Artikel in der Kraus-Festschrift Xenia Pragensia 1929. In der Prager Presse erschienen Fischer (1929c) und (1929d). 3  Fischer war Herausgeber der tschechischen Goethe-Gesamtausgabe (1921–1932); kultur-politischen Einfluss übte er als Intendant des Nationaltheaters oder publizistisch als Unterzeichner des Aufrufs der 66 aus (Lipscher 1984: 184). Zu erwähnen wäre ferner ­Fischers These von Dvojí Německo [Zweierlei Deutschland] (Fischer 1933) und seine positive Aneignung Nadlers (Krolop 2011). 4  Siehe Immatrikulationsliste, aufbewahrt in Literární archiv Památníku národního písemnictví Praha (im folgenden LA PNP). Nachlass Otokar Fischer.

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Zeitung (Fischer 1904) sowie die Besprechungen im Euphorion5 von Sauer erhalten haben (Krolop 2011). Ein unmittelbarer Hinweis auf Gottfried Keller findet sich nicht. Gleiches gilt im Übrigen für die Lehrveranstaltungen, die Fischer an der tschechischen Germanistik besuchte. Und dies gilt auch für die Berichte, die Arnošt Kraus am 30. November 1908 und am 30. April 1909 für das Professorium, den „professorský sbor“ an der Fakultät verfasste – abgesehen von der Habilitationsschrift findet man keine Arbeiten, die auf eine Beschäftigung mit Keller deuten.

2. Wissenschaftspolitischer Kontext Schaut man auf den germanistischen Kontext im Prager Umfeld, so findet man allerdings eine Beschäftigung mit Gottfried Kellers Werk: August Sauer ediert 1911 Das Fähnlein der sieben Aufrechten in der Reihe Neuere Dichter für die studierende Jugend.6 Vier Jahre zuvor hatte der Sauer-Schüler Wilhelm Kosch den Beitrag Gottfried Keller in der Jugend Beilage zur Germania Nr. 16 in Berlin veröffentlicht. Beides sind aber keine unmittelbaren Belege, die ein Interesse Fischers für Keller erklären könnten. Eher schon dürften Arne Nováks Arbeiten über Gottfried Keller einen Einfluss ausgeübt haben, der sich ausführlich mit dem Werk befasste.7 5  Fischer (1903/04 und 1911). Im Wintersemester 1904/05 hörte Fischer bei Sauer „Kleist und Grillparzer“ (Klausnitzer 2011: 225), auch hier findet man einen Niederschlag im Euphorion (Mimische Studien zu Heinrich von Kleist; Fischer 1908/09); ferner zwei Rezensionen über Arbeiten zu Kleist (Fischer 1909a und 1909b). 6  Die Reihe wurde von A. Bernt und J. Tschinkel in der Wiener Manzschen Hofverlagshandlung herausgegeben, Das Fähnlein der sieben Aufrechten erschien als Bd. 21. 7  Hier wäre zunächst das Vorwort zur tschechischen Ausgabe der Sieben Legenden in der Übersetzung von Teréza Nováková zu nennen (Novák 1904) sowie zur tschechischen Ausgabe des Sinngedichts (Novák 1911a), dann die Rezension des Briefwechsels zwischen Keller und Theodor Storm in den Literární listy (Novák 1903/1904)) sowie zu Keller in den Národní listy (Novák 1911b), ferner ein Essay im Literarischen Echo (Novák 1916) und ein Nachruf im Venkov (1919). Allerdings wurden die meisten Texte erst nach Fischers Habilitation publiziert. Nachzutragen wären noch Erwähnungen Kellers in Novák (1922: 198–203), sowie die Besprechung zu Gottfried Kellers Sieben Legenden (Novák 1924) und zu Keller und C. F. Meyer (Novák 1925). – Ferner wäre Vojtěch Jirát zu nennen, der u. a. das Stichwort über Keller im Ottův slovník naučný nové doby (Teil III/ Bd. 1, S. 482) verfasste, das allerdings erst am 15.03.1934 veröffentlicht wurde.

Otokar Fischers Gottfried Keller-Lektüre

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Unabhängig von derartigen Impulsen können aber auch strategische Überlegungen im Hinblick auf eine germanistische Karriere vermutet werden, für die Arbeiten über anerkannte Dichter wie Heinrich Heine, Heinrich von Kleist oder eben Gottfried Keller hilfreicher erschienen als z. B. eine Beschäftigung mit – 1907/08 – Prager deutschen Autoren! Um das Interesse Fischers für Gottfried Keller erklären zu können, bleibt ferner der Versuch eines Umwegs über den Kontext der fachinternen Theoriedebatten, die auf die Prager Germanistik, auch auf die tschechische, eingewirkt haben. Beide Germanistiken standen unter dem Einfluss des von Wilhelm Scherer geprägten deutschen Positivismus, eine Methode des exakten Sammelns und der biographischen Kontextualisierung.8 Ende der 1870er-Jahre war die Scherer-Schule an allen cisleithanischen Universitäten außer Krakau vertreten (Egglmaier 1994: 230)9 und nahm Mitte der 1880erJahre eine beherrschende Stellung ein, weshalb für Österreich auch eine länger andauernde Tradition der „philologisch-historischen Behandlung“ von Literatur als in Deutschland konstatiert wird (Egglmaier 1994: 232).10 Ab Mitte der 1890er-Jahre findet man aber unter dem Einfluss Friedrich Nietzsches und Wilhelm Diltheys Anzeichen einer wachsenden Abwendung vom Positivismus (Hermand 1994: 67). Es kam zu einer antipositivistischen Aufwertung des Subjektivismus und der Psychologisierung, die bei Dilthey11 in das Konzept der Strukturpsychologie mündete. Gründe für die Krise des Positivismus und der Philologie lassen sich in den Veränderungen im Wissenschaftssystem und seiner sozialen Umwelt finden. Durch den Siegeszug der Naturwissenschaften wurde eine Neupositionierung gegenüber Nützlichkeitsanforderungen an die Wissenschaften insgesamt notwendig, in 8  Die deutsche Germanistik in Prag analysierte die deutsche Literatur und Sprache aus philologischer Perspektive und der Beziehung zum deutschsprachigen Kerngebiet, die tschechische untersuchte kulturelle Spezifika (Literatur und Sprache) unter dem Aspekt der wechselseitigen Beeinflussung zwischen Tschechen und Deutschböhmen, was vor allem die Arbeiten von Arnošt Kraus zeigen (Vodrážková-Pokorná 2007: 96). 9  Explizit genannt werden auch Lemberg und die Prager böhmische Universität (Egglmaier 1994: 231). 10  Eine positivistische Prägung der tschechischen Literaturwissenschaft belegen der Wilhelm Scherer verpflichtete Jan Jakubec oder die Dějiny české literatury [Geschichte der tschechischen Literatur] von Jaroslav Vlček, 1893–1921, ergänzt 1931, in der die Geschichte der tschechischen Literatur als „Spiegelbild der Entwicklung der Nation“ konzipiert wird (Holý 2003: 36). 11  In Diltheys Werk findet man drei Phasen: a) Beschäftigung mit Biographik; b) Deutung von Erlebniskomplexen in den späten 1880ern und 90ern; c) Analyse überindividueller Strukturen im Kontext neuidealistischer Systematisierungsversuche (Hermand 1994: 70).

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deren Rahmen auch eine Hinwendung zu psychologischen Fragestellungen in den Geisteswissenschaften erfolgte (Schrey 1975: 79), die sich zunächst als eine Psychologisierung im Gefolge von Diltheys Entwurf einer beschreibenden im Gegensatz zu einer zergliedernden Psychologie durchsetzte.12 „So walten in den Werken der dichterischen Einbildungskraft psychologische Gesetze“, heißt es bei Dilthey (1994: 101). Die Kunst wird zum Spiel, der Dichter trennt von der Wirklichkeit dies Reich des schönen Scheins. So bildet sich eine Traumsphäre der Dichtung, innerhalb deren im Augenblick der Begeisterung die Bilder volle Realität haben. Die Art von Illusion, die hier stattfindet, ist der vergleichbar, die wir am spielenden Kinde gewahren. Die Kunst ist ein Spiel. Der Dichter und das spielende Kind glauben beide, das Kind an das Leben seiner Puppen und Tiere, der Poet an die Wirklichkeit seiner Gestalten. Und glauben beide doch nicht. (Dilthey 1994: 98)

Damit waren psychologische Parallelen zwischen Dichter, Träumer und Neurotiker markiert,13 wobei Diltheys Ansatz eine Widerlegung der These vom Wahnsinn des Genies darstellt: „Das Genie ist keine pathologische Erscheinung, sondern der gesunde, der vollkommene Mensch.“ (Dilthey 1994: 94)14 Germanisten wie Eugen Wolff (1890) und Wilhelm Wetz (1891)15 orientierten 12  So Dilthey in Ideen über eine beschreibende und eine zergliedernde Psychologie. Hierzu Hermand (1955: 224). 13  Der Dichter lebe „mit seinen eigenen Gebilden […] wie mit wirklichen Personen, und die Schmerzen derselben fühlt er wie wirkliche Schmerzen. Er wandelt das eigene Ich in das seiner Helden, empfindet, denkt und redet aus ihnen. Gegenüber der philisterhaften Auffassung, die von dem biederen dichterischen Handwerker ausgeht, zeigt die biographische Forschung in dämonischen Naturen wie Rousseau, Goethe, Byron, Alfieri, Dickens eine solche Mächtigkeit der sinnlichen Organisation, einen so elementaren, unwillkürlich und unwiderstehlich wirkenden Bautrieb der Phantasie, daß uns ihr Seelenleben ganz geheimnisvoll fremdartig erscheint und daß die Vorgänge in ihnen uns immer wieder an Traum und Wahnsinn erinnern. Denn auch der Träumende gibt in die von ihm erschaffenen Gestalten sein eigenes Innerstes, und dann fürchtet er sie und erschrickt vor ihnen wie vor Wirklichkeiten. Und in dem Geisteskranken steigert sich dieses alles zu Halluzinationen und Wahnideen, sein eigenes Ich kann untergehen, und er kann sich als eine andere Person wiederfinden.“ (Dilthey 1994: 93) 14  S. a. den Schluss des Goethe-Kapitels in Diltheys Das Erlebnis und die Dichtung. Die Gründe für den Erfolg geisteswissenschaftlicher Forschung in der Folge Diltheys werden in der dezidiert normsetzenden Forschungsrichtung (Kolk 1993: 40) und in der methodischen Innovation bei ethischer Tradition gesehen (ebd.: 42). Rudolf Ungers problemgeschichtlicher Ansatz (Literaturgeschichte als Problemgeschichte. Zu Fragen geisteshistorischer Synthese mit besonderer Beziehung auf Dilthey, 1924) ist gegen den sozialpsychologischen Ansatz der Scherer-Schule (Sauer, Nadler) und gegen den ästhetisch-stiltypologischen (Oskar Walzel, Fritz Strich) gerichtet (Seeba 1993: 244). 15  „In erster Linie hat es die Litteraturgeschichte mit einem psychologischen, im zweiten mit einem historischen Problem zu thun.“ (Wetz 1891: 31) Ausgehend von den Eigen-

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sich früh an der Psychologie (Dainat 1994: 394f.), eine Hinwendung zur empirischen Psychologie vertraten 1897 Hubert Rötteken (Ueber Aesthetische Kritik bei Dichtungen), der die Analogie von dichterischem Erleben und psychischem Ereignis postulierte, und vor allem Ernst Elster mit seiner Antrittsvorlesung Die Aufgaben der Litteraturgeschichte (1894), dessen psychologisches Werk Prinzipien der Litteraturwissenschaft (1897) von Richard M. Meyer im Euphorion (1897) besprochen wurde (Dainat 1994: 530f.).16 Nach Elster, der Analyse und Synthese als die beiden Hauptaufgaben der Literaturwissenschaft nennt, kann die Psychologie gerade bei der Analyse helfen, dass sie die Maßstäbe bereitstelle, „durch welche die Zergliederung tümlichkeiten im Werk, die auf die Eigenschaften des Verfassers zurückzuführen seinen, müsse es darum gehen, den „Weg von dem Werke zu seinem Autor zurückzugehen […]. Die erste Aufgabe der litteraturhistorischen Forschung muß daher die kritische, die zweite die psychologische Analyse sein.“ (Wetz 1891: 31) Unter Psychologie versteht Wetz (1891: 34) die „Grundanschauung von dem Menschen, seine Ansicht über das Verhältnis von Leidenschaft und Vernunft, über Freiheit des Willens, über die Stärke dieses oder jenes Gefühles.“ Die Psychologie tritt damit neben Analysekategorien wie Biographie, Sprache, Weltanschauung, Intentionalität (Urteil des Dichters), Anlage und Kontext (Erlebnisse). Für die Literaturforschung folge hieraus 1) die kritische psychologische Analyse, 2) die biographische Untersuchung, 3) die historische Betrachtung (Wetz 1891: 48). 16  Bei Elster (1897: IV) findet man im Vorwort eine Apologie der psychologischen Methode, die nicht im Gegensatz zur literaturwissenschaftlichen stehe: „Sie befähigt uns, die Thatsachen des poetischen Denkens vielseitiger zu zergliedern und Zusammenhänge herzustellen, die nicht an der Oberfläche liegen und die selten beachtet zu werden pflegen; sie gewährt uns zweitens eine schärfere Definition zahlreicher Begriffe, mit denen wir notwendiger Weise arbeiten müssen; und sie ermöglicht uns drittens die Grenzen wissenschaftlicher Forschung scharf und bestimmt, aber zugleich ohne einseitige Beschränkung festzusetzen.“ Elster, der an Wilhelm Wundt und Dilthey sowie Vischer (Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, 1846-57) anknüpft, propagiert eine neue Multidisziplinarität, wenn er konstatiert, „dass wir den psychologischen, ästhetischen, philologischen und historischen Aufgaben in gleichem Masse gewachsen sein müssen.“ (Elster 1897: VII) – Meyer (1897: 815) verteidigt in seiner Rezension gegen Elster, der „den vielfach vernachlässigten psychologischen Gesichtspunkte […] in den Vordergrund, die spezifisch philologischen in den Schatten“ stelle, den Primat der Philologie und artikuliert Vorbehalte gegen den neuen „Kunstausdruck ‚Litteraturwissenschaft‘“ (Meyer 1897: 815f.). Meyer erkennt die Tendenz einer Gruppe, zu der er auch du Prel zählt, auf den sich Fischer in seiner Habilitation bezieht, die „eine empirische Psychologie der Dichter“ beabsichtigt, wobei Meyer für sich Offenheit gegenüber der Psychologie reklamiert, sich kritisch gegen die nicht ausreichende Berücksichtigung „der Berufspsychologie der Dichter“ bei Elster äußert, also der Frage des kreativen dichterischen Prozesses (Meyer 1897: 817). – Zur Korrespondenz mit Meyer, der seinerseits eine Rezension über Fischers Keller-Studie verfasste, sowie den Besuch seiner Lehrveranstaltungen s. die Beiträge von Myriam Isabell Richter und Hans-Harald Müller sowie Michal Topor in diesem Band.

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des Inhalts mit nahezu derselben wissenschaftlichen Exaktheit ausgeführt werden kann wie die der Sprache oder Metrik eines Autors.“ (Elster 1897: 4) Allerdings wird mit Verweis auf Diltheys Bausteine zu einer Poetik von 1887 die Vorstellungsseite von den Gefühlen und den Willensimpulsen (Intentionen) des Dichters strikt getrennt (Elster 1897: 5). Dilthey ermöglichte also eine antipositivistische Perspektive, die wiederum tschechische Geisteswissenschaftler wie Arne Novák und František X. Šalda, aber auch Otokar Fischer beeinflusste. Letzterer bezieht sich in seiner Habilitationsschrift zwar nicht explizit auf Dilthey, wohl aber in dem Aufsatz Das Unnennbare (1910)17 sowie einem weiteren 1913 und dann in den Otázky literární psychologie von 1917, z. B. auf die Studie Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn (Fischer 1917: 44).18 Darüber hinaus gibt es auch Bezüge auf die Germanisten Wetz, mit dessen Methode er sich ausführlich auseinandersetzt (Fischer 1917: 35-40), und Wolff, die sich beide, wie eben erwähnt, als erste Germanisten an der Psychologie orientierten (Fischer 1917: 39f.).19 Offenkundig wurde Fischers Interesse für das persönliche Erleben des Autors und seiner Einbildungskraft hierdurch erweckt. Dagegen bestand in der Germanistik zunächst keine Bereitschaft, Sigmund Freuds Analyse des Unbewussten zu akzeptieren (Schrey 1975: 79).20

17  Zunächst 1909 auf Tschechisch unter O nevyslovitelném (Fischer 1909c), erweitert ferner in der Sammlung Duše a slovo (Fischer 1929a). 18  Fischer (1917: 45) bezieht sich ferner auf Diltheys Die Einbildungskraft des Dichters (1887). Außerdem geht er in seiner Studie auch auf die Psychoanalyse ein (Fischer 1917: 73-78), erwähnt von Freud neben der Traumdeutung auch die Studien Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1904) und Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905) (Fischer 1917: 77). 19  In einem thematischen Kontext steht sicher auch die Vorlesung von František Krejčí, s. hierzu Psychologie 1: Základy psychologie [Grundlagen der Psychologie]; Psychologie 2: Elementarní jevy duševní [Elementare seelische Erscheinungen], Teil 1; Psychologie 3: Elementarní jevy duševní, Teil 2; Psychologie 4: Psychologie myšlení [Psychologie des Denkens]; Psychologie 5: Psychologie cítění [Psychologie des Empfindens]. Praha: Dědictví Komenského 1902, 1904, 1907, 1910, 1916. 20  Ob das Modell Sauers und vor allem Nadlers stammeskundlich-landschaftliche Literaturgeschichte nicht nur gegen die Geistesgeschichte, sondern auch gegen die Tiefenpsychologie gerichtet war, so eine These bei Wehrli (1951: 120f.), sei hier offengelassen. Immerhin öffnete Sauer den Euphorion für Fischers psychologischen Ansatz der Literaturwissenschaft.

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3. Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse Ungeachtet der ersten positiven Besprechung von Freuds zusammen mit Breuer verfasster Studie über Hysterie 1896 durch Alfred von Berger, Direktor des Wiener Burgtheaters und zugleich Professor für Literaturgeschichte in Wien (Schrey 1975: 85), und entgegen den meisten Autoren der Moderne sprachen sich die Germanisten in ihrer Mehrheit gegen das neue psychoanalytische Paradigma aus. In der Ablehnung der Psychoanalyse und der Diffamierung ihrer analytischen Methodik als ‚zersetzend‘ (Schrey 1975: 91) findet man – neben der Tabuisierung des Sexuellen (Schrey 1975: 110f.), neben antisemitischen Einstellungen (Schrey 1975: 111-115) sowie Aversionen gegen den politisch-revolutionären Gehalt der Psychoanalyse (Schrey 1975: 115-118) – vor allem drei inhaltlich-fachliche Argumente resp. Vorwürfe: - - -

den Vorwurf des Materialismus, einer Missachtung des Geistigen bzw. einer Entmythologisierung des Dichters durch die Analyse seiner spezifischen Triebkräfte,21 den nicht unberechtigten Vorwurf einer Vernachlässigung der Formproblematik und den Vorwurf einer Ausschaltung von Wertfragen: „daß die Psychoanalyse mit ihrem Sich-Einbohren in den dichterischen Schaffensvorgang das Geheimnis der Gestalt, der Form mißachtet und am Einmalig-Schöpferischen der Persönlichkeit verständnislos vorbeisieht, wobei alle eigentlich künstlerischen Wertfragen ausgeschaltet werden.“ (Pongs 1933: 38)22

Die Kritik an der Neutralität gegenüber ästhetischen Werten ist zumindest für Freud und seine Schüler nicht unberechtigt, die tatsächlich die Kunst 21  „Das starre Werkzeug des Rationalismus kommt vorweg nicht an das Unmittelbare heran. […] Der Zugang öffnet sich allein einer dynamischen Begriffstechnik, die, mit sensiblen Organen ausgerüstet, das Zeitliche zunächst überhaupt nicht zu ergreifen imstande ist.“ (Cysarz 1926: 3). Ähnlich in der Ablehnung auch Oskar Walzel (1923: 107): „Sicherlich zählt Schnitzler […] zu einer Gruppe erotisch betonter Menschen, der auch Freud und die Seinen angehören. Abzulehnen ist nur die Behauptung, daß alle übrigen Menschen mehr oder minder ebenso erotisch die Welt erleben. Und noch entschiedener abzulehnen ist der Anspruch, daß alle Dichtung als Ergebnis erotischer Veranlagung und der Hemmung dieser Anlage gefaßt werde.“ 22  Zur Ablehnung der Psychoanalyse seitens der Literaturwissenschaft s. a. die exemplarische Textsammlung aus der Periode 1909–1933 von Urban (1973).

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hinsichtlich ihres therapeutischen Zwecks für Künstler und Rezipienten betrachten, per Sublimierung bzw. psychischer Entlastung via Identifikation eine gelungene Anpassung zu erreichen. Das Kunstwerk – als psychisches Produkt eines Individuums in einer bestimmten Lebenssituation – ist nach dieser Diktion lediglich Ergebnis psychischer Aktivität und somit Gegenstand psychologischer Forschung, mit der das Kriterium der psychologischen Wahrscheinlichkeit in der Deutung eine zentrale Rolle erhält (z. B. Hitschmann 1916: 238).23 Wie sah es aber mit der Vermittlung der Psychoanalyse in Prag aus? Wilhelm Stekel veröffentlichte seit 1903 im Prager Tagblatt Artikel zur Psychoanalyse, ferner wäre Willy Hellpachs Artikel Psycho-Analyse in der Neuen Rundschau (1910) zu nennen sowie – allerdings zeitlich nach Fischer – von Max Brod und Felix Weltsch die Arbeit Anschauung und Begriff (1913), eine Wahrnehmungspsychologie menschlicher Urteilskraft, die sich teilweise auf Freud berief. Theodor Reik schließlich veröffentlichte im Pan seit Herbst 1911 Artikel über Flaubert, Schnitzler und Freud (Fischer 1917: 77). Das Thema Psychoanalyse war also im medialen Diskurs durchaus präsent.

23  Eine Übernahme der psychoanalytischen Methodik seitens der Germanistik erfolgt erst spät. Josef Körner, der noch vor den Einseitigkeiten der Freudianer warnt, würdigte z. B. im Literarischen Echo den Ansatz von Hans Sperber und Leo Spitzer, die 1918 eine Analyse zu Meyrink vorgelegt hatten: „Eine Art von Psychoanalyse, aber freilich eine von solch willkürlicher Einseitigkeit, wie erst recht von Schrullen und Übertreibungen der orthodoxen Freudschule befreite, betreibt nun auch die stilpsychologische Untersuchung Sperbers und Spitzers, […] hätte Sperber seinen Beitrag als eine Psychoanalyse von Meyrinks Stil bezeichnen dürfen. Sperbers Arbeitsweise gleicht nämlich aufs Haar der Technik, vermöge welcher der Psychotherapeut sich des ‚verdrängten‘ Gedankenmaterials seiner Patienten bemächtigt: der fordert nämlich den Kranken auf, die unmittelbar nächsten freien Einfälle, die sich ihm darbieten, auszusprechen, und wenn so wirklich alles, was dem Sprechenden gerade durch den Kopf geht, geäußert und nicht unterdrückt wird, auch wenn es unpassend, sinnlos, ja peinlich erscheint, wird es möglich, am Schlusse der Gedankenkette das Verdrängte selbst aufzufinden. In gleicher Weise zeigt Sperber an Meyrinks Stil, daß die Sprache dieses Dichters immer und immer wieder an gewissen Vorstellungskreisen haftet, daß seine Neubildungen und Metaphern durch eine Art von Zwangsvorstellung determiniert sind.“ (Körner 1919: 1093). – S. a. Körners (1924: 83) Beitrag Erlebnis, Motiv, Stoff, in dem er die Psychoanalyse des Stils über die exakte Motivforschung und die Parallelität von Traum, Neurose und Dichtung verteidigt. Allerdings grenzt sich auch Körner von der orthodoxen Psychoanalyse der Freudschule ab (Körner 1924: 83), da er über die Individualanalyse zur Analyse der Literatur in sozialen Kontexten gelangt (Schrey 1975: 86f.). – Fischer hat in der Prager Presse zwei Schlegel-Arbeiten von Körner rezensiert (Fischer 1926a und 1926b).

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4. Fischers Habilitation zu Gottfried Kellers Grünem Heinrich Psychologische Interpretationsansätze in der Dilthey-Nachfolge waren wie gesehen in Prag durchaus bekannt, Kellers Bildungsroman kann zudem eine durchaus paradigmatische Rolle in der psychologischen und psychoanalytischen Betrachtung zugesprochen werden – allein schon durch die beiden Versionen, die der Autor hinterlassen hat. Fischer wandte sich als einer der ersten, wenn nicht sogar als erster Prager Germanist der Psychologie zu (Fischer 1917, 1929a), interessierte sich dabei – eher in der Tradition Diltheys (bzw. Nietzsches) als Freuds – für die nicht bewussten Quellen des dichterischen Schaffens, die ihn auf das Verhältnis von Traum, Imagination und literarischem Schaffen lenken (Holý 2003: 38). Fischer konstatierte eine Analogie von dichterischer und traumhafter Inspiration. Den Künstler Keller verstand er als Visionär oder Seher, der als „Maler und Zeichner“ über eine besondere Visualität verfüge, die in seinen Phantasiegebilden den stärksten Ausdruck erhalte (Fischer 1908: 33). Fischer griff zwar auf die Traumdeutung Freuds zurück, wenn er Gottfried Keller als „Vorgänger“ Freuds apostrophierte, an dessen Werk man zeigen könne, „wie die ewigen Probleme der Weltdichtung aus den Träumen“ oder, nach Freuds Ödipus-Interpretation, „aus dem tiefsten und ewigen Wesen der Menschheit“ entstehen (Fischer 1908: 31) und er ferner darauf hinwies, dass Kellers „Traumbeobachtung völlig mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Traumdeutung“ zusammenfalle (Fischer 1908: 36). Fischer verblieb aber – und darauf wies schon seine Distanzierung von der 1906/07 erschienenen Freudschen Musterinterpretation Gradiva – auf, psychoanalytisch gesprochen, der Textoberfläche. Es ging Fischer in erster Linie um die Beziehung zwischen „dichterischer Einbildungskraft“ und den „Wesensbedingungen des Traums“ und damit um Analogien von „Vorgängen des Traums und der Phantasie“ (Fischer 1908: 1), die im Hinblick auf die Handlungsmotivation im Roman selbst, also die handlungsstrukturierende Wirkung der Träume in den beiden Fassungen des Grünen Heinrich untersucht wurden. Ferner analysierte Fischer Kellers eigene Traumaufzeichnungen, das Traumtagebuch, und deren Bezug zum Werk. Es ging somit in der literarischen Analyse um den Rückbezug der Träume auf den Romanhelden sowie um die Herleitung der Träume im Werk. Entsprechend bezog er sich – was die Traumforschung angeht – in erster Linie auf Vischers Ästhetik (1876) sowie auf die Psychologie der Lyrik von Carl du Prel (1880) (Fischer 1908: 1), um erst im Verlauf der Studie auch auf

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Freud zu verweisen. Dennoch scheint es Widerstände gegen diese eigentlich werkanalytische Arbeit in der Fakultät gegeben zu haben, zumindest lässt dies ein Brief von Kraus an Fischer vom 8. März 1908 vermuten (Kraus 1908b).24 Kraus erwähnt Vorbehalte im Vorfeld des Habilitationsverfahrens, da Fischers Arbeit „über die Grenzen zweier Wissenschaften hinweg [...]“ gehe („Je to osudné, že pracuje-li kdo na takovém rozhraní dvou věd“) und der Einbezug psychologischer Methoden alles andere als selbstverständlich war.25 Man fragt sich unweigerlich, was die Kollegen an der Fakultät erst zu einer psychoanalytischen Interpretation gesagt hätten!26 Um den Unterschied zwischen der Fischerschen Traumdeutung und einer psychoanalytischen zu verdeutlichen, sei deshalb auf eine Analyse von Eduard Hitschmann in der erstmals 1912 erschienenen Imago verwiesen. Der Freudianer Hitschmann war Mitglied im Kreis der Mittwoch-Gesellschaft bei Freud,27 sein psychoanalytischer Ansatz unterschied sich grundsätzlich von Fischer, dessen Arbeit er zweimal erwähnte, wobei er nicht zu Unrecht behaupten konnte, dass Keller „eine ausführliche, tiefenpsychologische Analyse noch nicht gefunden“ habe (Hitschmann 1916: 223). Dabei bildeten auch für Hitschmann die zwei Fassungen des Grünen Heinrich, „die zensurierte Fassung eines Produktes des Unbewußten“ (Hitschmann 1916: 224), Anlass zur Analyse. Nebenbei bemerkt ist darin ein Grund zu sehen, weshalb sich gerade der Grüne Heinrich bis in die Gegenwart psychoanalytischer Interpretationen erfreut. Nach Hitschmann, der die ödipal-inzestuösen Verstrickungen des Autors ins Zentrum der Interpretation stellte, bildete der Roman einen Befreiungsprozess in der Überwindung des „Mutterproblems“ (Hitschmann 1916: 224), wobei es immer wieder zu einer Gleichsetzung von Autor und poetischer Figur käme (Hitschmann 1916: 232) und die künstlerische und poetische Inspiration mit Freud als Manifestation von Verdrängtem

24  Den Brief hat mir dankenswerterweise Václav Petrbok zur Verfügung gestellt. 25  Der schon erwähnte Ernst Elster sah sich mit dem Vorwurf einer „weitgehenden Abhängigkeit von Forschern, die dem spezifisch-litterarhistorischen Betrieb fernstehen“, konfrontiert (Meyer 1897: 816). – Die Habilitationskommission setzte sich aus Janko, Mourek und Kraus zusammen, den Habilitationsvortrag hielt Fischer zu Goethe als Übersetzer. 26  Als Fakultätsvorträge schlug Fischer am 1. Februar 1909, dies ist dem Bericht von Kraus (1909) zu entnehmen, die Themen Immermanův Merlin [Immermanns Merlin], Goethe překladatel [Goethe als Übersetzer] sowie Monolog v dramatu [Monolog im Drama] vor. 27  Die Etablierungsphase der Psychoanalyse datiert Jens Malte Fischer (1980) auf den Zeitraum von 1907–1914, in der das Paradigma zunehmend Anerkennung fand, in der aber auch die Konflikte mit Adler und Jung begannen.

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erklärt wird (Hitschmann 1916: 233).28 Hitschmanns Analyse lässt sich dabei als paradigmatisch für die psychoanalytische Deutung ansehen, der es aus einer genetischen Perspektive um die Deutung des Werkes aus der Biographie des Autors geht, auf die man – dem ist durchaus zuzustimmen – bei Keller geradezu unausweichlich gestoßen wird, denkt man nur an die Gestaltung des Mutterkomplexes im Grünen Heinrich. Aus einer triebtheoretischen Perspektive werden Werk und Autor allerdings wechselseitig erklärt, hierzu eine Kostprobe psychoanalytischer Deutungskompetenz, nach der den Dichter Keller unglückliche Liebeserlebnisse verzweifelt zu nächtlichen Trinkexzessen treiben [und] das Hinunterschwemmen auch halb unbewußter Verstimmungen […] am besten dem Alkohol [gelinge] […], die frohe allabendliche Wirtshausgesellschaft vertreibt unter Männern die weiblose Vereinsamung. (Hitschmann 1916: 303)

Es ging Hitschmann und damit der psychoanalytischen Interpretation um das „Werden einer Persönlichkeit in ihrer Eigenart und mit ihren Geistesprodukten […] aus ihren Triebanlagen und Erlebnissen, zumal den kindlichen […].“ (Hitschmann 1916: 315f.) Diese Vermischung von Autor- und Werkebene charakterisierte sowohl die frühen Keller-Biographien wie auch die explizit dem triebtheoretischen Konzept der Psychoanalyse verpflichteten germanistischen Interpretationsversuche wie die von Adolf Muschg (1980),29 von Gerhard Kaiser (1981), dessen Standardwerk zu Keller den Untertitel Das gedichtete Leben trägt, oder Bernd Neumann (1982) (Würgau 1994: 9). Dabei hatte Freud selbst in dem Vortrag Der Dichter und das Phantasieren (1907/08), der sich auf die Erforschung von Krankheitsursachen beschränkte, präzise zwischen den Tagträumen und der dichterischen Phantasie differenziert;30 sein triebtheoretisches Modell wird zudem unter Psychoanalytikern länger schon infrage gestellt.31 Ungeachtet dessen fungieren Hitschmann und Walter Muschg als Begründer einer wirkungsmächtigen Deutungstradition, die 28  Als Vorstudie s. Hitschmann (1914); erweiterte Buchfassung Hitschmann (1916). Fischer erwähnt Hitschmanns Keller-Studien erst 1917 (Fischer 1917: 77). 29  Zur autobiographischen Interpretation der Studie von Adolf Muschg s. Voris (1983). Zur Kritik an Muschg und Kaiser s. ferner Würgau (1994), der die psychoanalytischen Spekulationen widerlegt, und Tanzmann (2009: 35-45). 30  Die unzureichende Berücksichtigung der kontextuellen und kognitiven Determinanten in Bezug auf den dichterischen Prozess, z. B. unterschiedlicher Mitteilungscharakter von Werk und Traum, Einflüsse der soziokulturellen Kontexte auf Verfasser und Werk oder die fortlaufende Auseinandersetzung zwischen lebensgeschichtlich bedingter Ich-Phantasie und Opus-Phantasie (Peter v. Matt) beendete in der Forschung die Gleichsetzung von Werk und Verfasser bzw. führte zu einer Ablösung des Werks von der historischen Lebensgeschichte des Autors. S. hierzu den Forschungsüberblick bei Enayat (1985: 23-28). 31  Hierzu Tanzmann (2009).

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von Adolf Muschg und Gerhard Kaiser in den frühen 1980ern aufgegriffen wurde, in der Keller zum Abbild eines psychogenen „Zwerges“ – so Walter Muschg (1966) – mutierte, das „die Story von der grausamen, kindheitsfüllenden Seelenmarter des Knaben Gottfried“, so der teilweise forensische Duktus, verlangte (Würgau 1994: 15, 36). Fischer, der die Literaturpsychologie eher als „Hilfsmittel zur tieferen Erforschung von Dichter und künstlerischem Werk“ (Michlová/Wolfová 1962: 80) verwendete, differenzierte sorgfältig zwischen biographischer und textueller Ebene. Es findet keine Analogisierung von Autor und Romanheld statt. Fischer verwendete als Objekt der Analyse neben den literarischen Texten Kellers im engeren Sinne zwar auch Tagebuchaufzeichnungen, aber man findet keine Analyse von Triebstrukturen und unbewussten Motivationen. Fischer benutzte die Traumtheorie, um mit ihrer Hilfe die strukturalen Gesetzmäßigkeiten dichterischer Phantasie zu untersuchen. Strikt trennte er zwischen den Träumen als Reaktionen auf psychische Gegebenheiten und der dichterischen Phantasie als einem kreativen Prozess, über den unzugängliche und unbewusste Inhalte ins Bewusstsein gelangen und bearbeitet werden – hierin übrigens durchaus konform mit Sigmund Freud (1907/08). Die literarische Gestalt des Grünen Heinrich hatte nach Fischer zwar mit dem Autor zu tun, aber ihre psychische Struktur war nicht die des Autors. Diese in der Habilitation entwickelte Methode, die in späteren Arbeiten über Heinrich von Kleist, Friedrich Nietzsche und Heinrich Heine Anwendung fand, entwickelte Fischer in der Studie Otázky literární psychologie (1917) sowie in einigen der Essays aus der Sammlung Duše a slovo (1929) weiter, in denen es allerdings weniger um germanistische Fragestellungen als um literaturpsychologische Betrachtungen und Beobachtungen ging. Wie ist nun das Wirkungsdefizit dieser Studie, zu der kaum Rezensionen vorliegen, im Gegensatz zu anderen Arbeiten Fischers zu erklären?32 Es ist zu vermuten, dass das psychologische Vorgehen Fischers dafür verantwortlich zu machen ist, da die Arbeit von psychoanalytisch arbeitenden Wissenschaftlern, und dies betrifft auch die späteren Literaturwissenschaftler, offenbar – und dies nicht ohne Grund – als unbrauchbar angesehen wird.33 Für die Mehrheit 32  In einem Bericht zu den Forschungsleistungen Jan Krejčís und Otokar Fischers für die Fakultät, den Kraus zusammen mit Vlček und Tille verfasst hat, wird zwar die Keller-Studie an erster Stelle erwähnt, sehr viel ausführlicher geht Kraus aber auf die übrigen Publikationen ein, zu denen – im Gegensatz zur Keller-Studie – auch eine große Anzahl positiver Rezensionen vor allem der reichsdeutschen Germanistik aufgelistet werden (Kraus 1913). 33  Bei Hitschmann (1916) gibt es nur eine kurze Erwähnung von Fischers Studie, ebenfalls bei Walter Muschg (1930). Erwähnung findet Fischer ferner bei Lemm (1982: 6), nach

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der Germanisten wiederum, die der Psychoanalyse in dieser Zeit sehr distanziert gegenüberstand, bedeutete schon ein Titel wie der von Fischer gewählte eine Rezeptionsblockade. Und drittens kommt eine bewusste oder unbewusste Missachtung auslandsgermanistischer Forschungsergebnisse im Allgemeinen, der tschechischsprachigen Germanistik im Besonderen hinzu, was dazu führte, dass auch Fischers theoretische Reflexionen, z. B. in den Otázky literární psychologie von 1917 nicht zur Kenntnis genommen wurden.

Literatur Cysarz, Herbert (1926): Literaturgeschichte als Geisteswissenschaft. Kritik und System. Halle: Niemeyer. Dainat, Holger (1994): Von der Neueren deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft. Die Fachentwicklung von 1890 bis 1913/14. – In: Fohrmann, Jürgen/Voßkamp, Wilhelm (Hgg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar: Metzler, 494-537. Dilthey, Wilhelm (71994 [1866]): Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn. – In: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Zweite Hälfte: Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik (= Gesammelte Schriften VI). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 90-102. Egglmaier, Herbert (1994): Entwicklungslinien der neuen deutschen Literaturwissenschaft in Österreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Institutionelles, Wissenschaftspolitisches, Bildungsgeschichtliches. – In: Fohrmann, Jürgen/Voßkamp, Wilhelm (Hgg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar: Metzler, 204-235. Elster, Ernst (1897): Prinzipien der Literaturwissenschaft Bd. 1. Halle: Niemeyer. Enayat, Edda (1985): Gottfried Kellers Grüner Heinrich. Versuch einer literaturpsychologischen Werkanalyse. Diss. Freiburg. Fischer, Jens Malte (1980): Zur Frühgeschichte psychoanalytischer Literaturinterpretation. – In: Ders. (Hg.), Psychoanalytische Literaturinterpretation.

dem Fischer „vermeintliche Geschmacks- und ästhetische Urteile über die Träume“ liefert, die Träume jedoch nicht analysiert. Seine Traumdeutung gelange nicht zur notwendigen Analyse der psychischen Situation der Träumenden (Lemm 1982: 181). Spätere einschlägige Dissertationen nehmen Fischers Arbeit überhaupt nicht zur Kenntnis (Enayat 1985; Tanzmann 2009), rezipieren allerdings nach wie vor die Studien von Hitschmann, Adolf Muschg und Kaiser, so z. B. Christian Tanzmann.

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Aufsätze aus Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften (1912–1937). Tübingen: Niemeyer, 1-33. Fischer, Otokar (1903/04): Gerstenberg als Rezensent der Hamburgischen neuen Zeitung 1767–1771. – In: Euphorion 10, 56-76. Fischer, Otokar (1904): Einleitung. – In: Ders. (Hg.), H. W. von Gerstenbergs Rezensionen in der Neuen Hamburgischen Zeitung 1767–1771 (= Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts. Hg. von August Sauer. Nr. 128, 3. Folge, Nr. 8). Berlin: B. Behr, 7-99. Fischer, Otokar (1908): Die Träume des Grünen Heinrich. Sonderabzug. Prag: Bellmann; ebf. in: Untersuchungen und Quellen zur Germanischen und Romanischen Philologie, Bd. 2 (= Prager Studien, 9). Prag: Bellmann, 289-344. Fischer, Otokar (1908/09): Mimische Studien zu Heinrich von Kleist. – In: Euphorion 15 (1908), 488-510 und 16 (1909), 62-92, 412-425, 747-772. Fischer, Otokar (1909a): Hellmann Hanna, Heinrich von Kleist. Das Problem seines Lebens und seiner Dichtung. – In: Euphorion 16, 200-202. Fischer, Otokar (1909b): Roetteken Hubert, Heinrich von Kleist. – In: Euphorion 16, 554f. Fischer, Otokar (1909c): O nevyslovitelném [Vom Unaussprechbaren]. – In: Novina 2, 229-232, 275-278, 308-311, 334-338; erweitert in: Duše a slovo (Fischer 1929a); autorisierte deutsche Fassung: Das Unnennbare, in: Das literarische Echo 12, Berlin, 1501-1515. Fischer, Otokar (1911): Nachträgliches zu Gerstenbergs Rezensionen. Zur Nachwirkung von Gerstenbergs ‚Ugolino‘. – In: Euphorion 18, 162-164. Fischer, Otokar (1917): Otázky literární psychologie [Fragen der literarischen Psychologie] (= Duch a svět, 24). Praha: Topič. Fischer, Otokar (1926a): Schlegelbriefe [Rez. zu Die Brüder Schlegel. Briefe aus frühen und späten Tagen der deutschen Romantik. 1: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Gesammelt und erläutert durch Josef Körner. Berlin: Askanischer Verlag]. – In: Prager Presse 6, Nr. 62 (03.03.), 6. Fischer, Otokar (1926b): August Wilhelm und Friedrich Schlegel im Briefwechsel mit Schiller und Goethe. Hg. von Josef Körner und Ernst Wieneke. Leipzig: Insel 1926. – In: Prager Presse 6, Nr. 333 (05.12.), 8. Fischer, Otokar (1929a): Duše a slovo. Essaie [Seele und Wort. Essays]. Praha: Melantrich. Fischer, Otokar (1929b): Zur Einführung. K. H. Máchas deutsche Anfänge und der Kreis um Alois Klar. – In: Fischer, Otokar / Mathesius, Vilém / Trnka, Bohumil (Hg.): Xenia Pragensia. Ernesto Kraus septuagenario et Josepho Janko sexagenario: ab amicis, collegis, discipulis oblata. Pragae: Sumptibus Societatis Neophilologorum, III-VI, 233-259. Fischer, Otokar (1929c): Deutsche Slavistik und tschechische Germanistik. – In: Prager Presse 9, Nr. 88 (29.03.), 7. Fischer, Otokar (1929d): Arnošt Kraus. Zu seinem siebzigsten Geburtstag am 4. November. – In: Prager Presse 9, Nr. 298 (03.11.), 5.

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„Don Juan der Sprache“. Otokar Fischer und die tschechische Nietzsche-Rezeption 1. Einleitung Über Jahrzehnte hatte sich Otokar Fischer intensiv mit Nietzsche auseinandergesetzt und wurde der wichtigste Vermittler von dessen Werk in ­Tschechien.1 Diese Vermittlung vollzog sich erstens anhand von Übersetzungen und Kommentaren, zweitens durch literaturwissenschaftliche Studien und drittens durch Rezensionen von deutschen und französischen Neuerscheinungen aus dem Bereich der Nietzsche-Forschung. Im Kontrast dazu hat man Fischers Beiträge zu Nietzsche in der deutschen Nietzsche-Forschung bis heute weitgehend ignoriert,2 selbst dann, wenn sie in deutscher Sprache erschienen waren. Eine gewisse Ausnahme bildet Fischers Brieffreundschaft mit dem – im deutschen Sprachraum ebenfalls vollkommen wirkungslosen – selbsternannten Nietzsche-Nachfolger Rudolf Pannwitz3, von der zumindest ein Schlaglicht auf Fischers Stellungnahmen zum tschechisch-deutschen Kulturverhältnis fällt (Pannwitz 2002). Im Folgenden werde ich versuchen, einen ersten Überblick über Fischers Nietzsche-Arbeiten zu geben, der jedoch vorläufig bleiben muss, da ich mich aufgrund meiner Unkenntnis der tschechischen Sprache auf die deutsch1  Im Nietzsche-Handbuch (Ottmann 2000) fehlt ein Eintrag zur tschechischen NietzscheRezeption. Somit bleibt für die erste Phase gültig: Měšťan (1985: 34-54). Zur philosophischen Rezeption in Tschechien siehe auch Blecha (2007: 493-520) und Heftrich (1999). 2  Karl Jaspers führt Fischers Aufsatz über den Wiederkunftsgedanken lediglich als Beispiel für Sekundärliteratur zu Nietzsches Krankheit an. Jaspers (1936) und Michlová/Wolfová (1962) heben vor allem die persönliche Annäherung Fischers an Nietzsches Werk hervor, und betonen, er habe Nietzsche als Übergangsphänomen betrachtet: „Otokar Fischer sah in Nietzsche vor allem den Gelehrten, den Dichter, der den Einflüssen der Metaphysik und Realität ausgesetzt ist. Er hielt ihn für einen Menschen des Übergangs und des am RandeStehens“ (Michlová/Wolfová 1962: 83). Diese Einschätzung erscheint mir verfehlt. 3  Von Pannwitz hatte Fischer vor allem dessen Einführung in Nietzsche (1920), gelesen und diese Schrift mehrfach empfohlen.

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sprachigen Zeugnisse stützen muss.4 Diese sind allerdings zahlreich und prononciert genug, um zumindest einige wichtige Facetten und bemerkenswerte Eigentümlichkeiten von Fischers Nietzsche-Bild charakterisieren und bewerten zu können. Dabei wird sich zeigen, dass über die bloße Vermittlung von Texten und Gedanken hinaus, Fischers Nietzsche-Beiträge für die Fachgeschichte der Auslandsgermanistik von exemplarischer Bedeutung waren.

2. Annäherungen Zunächst ist als umfangreichste Veröffentlichung zu Nietzsche Fischers frühe Monographie aus dem Jahr 1913 zu nennen: Friedrich Nietzsche. Literární ­studie. Kurs šestipřednáškový [Friedrich Nietzsche. Literarische Studie. Kurs in sechs Vorlesungen], die sich am üblichen Phasenmodell von Nietzsches philosophischer Entwicklung orientiert. Parallel zu den im ersten Kapitel skizzierten biographischen Stationen schreitet Fischer nach und nach das Werk ab. Die frühen Texte Nietzsches werden unter dem Titel „Nietzsches Romantik“5 verhandelt, gefolgt von einer Darstellung der mit Menschliches, Allzumenschliches einsetzenden positivistischen Phase im Kapitel „Nietzsches Intellektualismus“, die Zarathustra-Zeit wird unter „Nietzsches Mystik“ verbucht. Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral werden als Spätwerke vorgestellt, die als neue Themen biologistische Theorien einführten. Abschließend wird „Nietzsches Radikalismus“ anhand der letzten Schriften Der Fall Wagner, Der Antichrist und Götzen-Dämmerung diskutiert und die Dionysos-Dithyramben sub specie der Frage, ob Nietzsche psychisch krank war, ­verhandelt. Die 360 Seiten starke Gesamtdarstellung erschien vor Fischers Übersetzungen und bleibt als Einführung für Studenten in Vorlesungsform weitgehend konventionell. Bemerkenswert ist jedoch Fischers Versuch, sich mit literaturwissenschaftlichen Mitteln einen Zugang zu Nietzsche zu 4  Ich bin Michal Topor für seine Archivrecherchen zu großem Dank verpflichtet. Ohne seine Bereitstellung der Materialien hätte ich diesen Essay nicht schreiben können. 5  Das Inhaltsverzeichnis: 1. Životopis [Biographie]; 2. Nietzschova romantika [Nietzsches Romantik]; 3. Nietzschův intelektualismus [Nietzsches Intellektualismus]; 4. ­Nietzschova mystika [Nietzsches Mystik]; 5. Nietzschův směr k vědecko-filosofické soustavě [Nietzsches Tendenz zum wissenschaftlich-philosophischen System]; 6. Nietzschův radikalismus [Nietzsches Radikalismus].

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verschaffen und den von diesem selbst veröffentlichten Schriften Priorität einzuräumen. Allgemein gehalten sind auch die anhand von Nietzsches früher fragmentarischer Schrift Wir Philologen angestellten Betrachtungen zum Gegensatz von Kunst und Wissenschaft, die Fischer in seinem Aufsatz Über den Anteil des künstlerischen Instinkts an literarhistorischer Forschung einstreut (Fischer 1914: 102f.). Es folgen Fischers Nietzsche-Übersetzungen, zuerst jene noch heute gültige von Also sprach Zarathustra. Diese mit knappem Kommentar ­versehene Ausgabe erlebte in der Zeit von 1914–1932 vier Auflagen (1914, 1920, 1925, 1932). In ihrem Erscheinungsjahr schwärmte Arne Novák in einem Aufsatz zu Nietzsche und die Tschechen: „Ohne übertreiben zu wollen wird man ­diesen ‚Zarathustra‘ dem Schönsten zurechnen müssen, was die tschechische Übersetzungskunst aufzuweisen hat [...]“ (Novák 1914: 1613-1616).6 1923 folgte die Übertragung von Die Geburt der Tragödie. Es ist also primär das im engeren Sinn ästhetische Werk Nietzsches, das Fischer ins Tschechische übersetzt. 1925 ist es Fischer selbst, der in einem Aufsatz für die Prager Presse ebenfalls über Nietzsche und die Tschechen. Zum 25. Todestag Nietzsches7 schreibt. Er bilanziert, dass es erstaunlich sei, „wie willig sich unser Geistesleben von einem Genie befruchten ließ, dessen Grundtendenzen denjenigen der ­ tschechischen Philosophie entgegensetzt waren.“ Kein Tscheche werde bei Nietzsche erwähnt, nicht einmal Comenius und Hus, und umgekehrt müsste man erwarten, dass das „Evangelium des Machtmenschen“, dass der „erdenfrohe Verkünder des Übermenschen“ im traditionell ­ religiös 6  Novák zufolge setzte die Beschäftigung mit Nietzsche in Tschechien bereits vor 1900 bei dem neuromantischen Dichter Julius Zeyer, bei Karolina Světlá und Jaroslav Vrchlický ein. Aber „begeistert und dankbar durfte sich zu Nietzsche als zu ihrem Lehrer und Befreier erst jene Generation bekennen, die seit den Neunzigerjahren der tschechischen Literatur das Gepräge gibt. Während es vor dem Abgrund des kulturbiologischen Problems der Dekadenz ratlos stand, begrüßte dies Geschlecht Nietzsches Mahnruf zum Lebenswillen, zur Macht, zur Tat, ließ sich von ihm zum positiven Individualismus erziehen, fand in ihm ein willkommenes Gegengewicht gegen die herrschenden kollektivistischen ­Tendenzen. Als Künstler half er die realistische Nüchternheit des Ausdrucks überwinden und die sprachmelodischen Werte schätzen [...]“ In diese „Schar von Nietzsches Schülern“ gehören „Arnošt Procházka, Jiří Karásek, F. V. Krejčí, F. X. Šalda, J. S. Machar und Otokar Březina, mit seinen Schriften setzen sich auseinander: V. Kalina, A. Podlaha, František Krejčí, Lev Borský und Otokar Fischer.“ 7  Fischer (1925b); siehe auch den Nachtrag in der Prager Presse vom 13.09.1925: Nietzsche in Böhmen (Fischer 1925c).

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­rientierten Tschechien auf taube Ohren stoßen müsste. Jedoch sei es o eine „überraschende Tatsache“, dass in Tschechien sowohl „stark sozial empfindende“ als auch „prononciert nationale Geister […] zu Pionieren des Nietzschekults geworden sind.“ Fischer geht zunächst auf den sozialistischen Essayisten František Václav Krejčí ein, der sogar den Willen zur Macht als Mitleidsphilosophie deute und dessen unzulängliche Übersetzungen dennoch zum ersten Mal in Nietzsches Dichtung philosophisches und künstlerisches Neuland für die Tschechen erschlossen haben. Hingegen feierte die um die Zeitschrift Moderní revue gescharte Künstlergruppe Nietzsches vermeintlich aristokratische ­Fin-de-siècle-Stimmung, Nietzsche den Immoralisten, den „Meister der Invektive und der Paradoxie“. Es sei ein Widersinn des „tschechischen Nietzsche-kults“, dass der „Gegner aller décadence von den Theoretikern der décadence auf den Schild“ gehoben wurde. An den älteren Übersetzungen bemängelt Fischer, dass sie den „Geist der Schwere“ nicht haben überwinden können und das „tanzend Übermütige von Wortspielen und Wortwitzen“ nicht adäquat wiederzugeben vermocht haben (Fischer 1925b). Übersetzt seien zwei der Unzeitgemässen Betrachtungen, die Geburt der Tragödie und der Zarathustra (Fischer verweist ohne seinen Namen zu nennen auf seine Übersetzung), Götzen-Dämmerung, Der Antichrist und Ecce homo, der eigentlich philosophische Nietzsche hingegen (Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröte, Die Fröhliche Wissenschaft, Zur Genealogie der Moral, Der Wille zur Macht) harre noch der Übersetzung und Einbürgerung. Dennoch gäbe es eine gewichtige philosophische Rezeption. Fischer verweist auf Masaryk8, der Nietzsches Übermenschenlehre polemisch in die Linie der Deszendenz-Selektionstheorien stelle und diverse andere Auseinandersetzungen. Von Seiten der Literaturwissenschaft sei 1913 dann sein eigener Beitrag hinzugetreten. Das „Nachwirken des tiefdringenden Pychologen und großen Stilisten“ (Fischer 1925b) sei indes mehr als in der Philosophie in der Literatur der Jahrhundertwende in Tschechien zu spüren: Dem tschechischen Vers hat sich der Meister scharfen Pointierens des öfteren als melodischer und dialektischer Führer erwiesen, gewiß ist auch für die tschechische Prosa noch manche Belehrung und Anfeuerung durch den hohen Kenner der ­schriftstellerischen Nuance, den Feinschmecker und Ziseleur des Worts, den wißbegierigen, alle Hüllen durchleuchtenden Seelenrater, den Don Juan nicht bloß der Erkenntnis, sondern auch der Sprache, zu erwarten. (Fischer 1925b)

8  Dazu weiterführend: Heftrich (1998: 107–143) und Hrubý (1988).

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Auch diese Bilanz macht klar, dass sich Fischer hier noch primär für das ästhetische Wirken Nietzsches interessiert. Das sollte sich bald ändern.

3. Nietzsche und die deutsche Literaturgeschichte Bleiben wir aber zunächst noch im literarischen Beziehungsgeflecht. Fischer ging es um die Einordnung Nietzsches in die deutsche und europäische Literaturgeschichte. Im Nachlass erhalten ist ein Manuskript Zur literarischen Geschichte des deutschen Individualismus (Nietzsche) und offenbar sollte Nietzsche hier mit den entsprechenden Vorläufern in eine Reihe gestellt werden. Einen konkreten Eindruck, wie Fischer diese Linie zu ziehen gedachte, gibt sein 1911 und somit noch vor der Nietzsche-Monographie erschienener Aufsatz: Nietzsche und Kleist (Fischer 1911c: 506-519).9 Fischer erblickt zwischen Kleist und Nietzsche eine Verwandtschaft in der Radikalität und Erkenntnisskepsis, denn beide würden „den spitzigsten Stachel gegen den eigenen Geist richten, um als echte tragische Helden an sich selber zugrunde zu gehen“ (Fischer 1911c: 506). Doch sei nicht nur die Wesensverwandtschaft, sondern über Nietzsches Lehrer in Schulpforta, Karl August Koberstein, auch eine direkte Beeinflussung fassbar und diese sei prägend gewesen: Dies ist nun gerade meine Überzeugung. Kleist war nicht bloß ein schöner Zufall in Nietzsches Leben – wie Stendhal, wie Dostojevskij –, sondern eine Grundlage seiner Bildung. Die Spuren sind in Nietzsches Schreibart nachzuprüfen. (Fischer 1911c: 517)

Fischer führt – chronologisch Nietzsches Werke durchstreifend – Stellen an, in denen er ähnliche Gesinnungen erkennen will, die gleiche „Unrast“, das „Bis-ans-Ende-Gehen“ und das „Durchkosten einer Gemütsstimmung, bis daß sich der Rausch in Ekel wandelt“ (Fischer 1911c: 507). Überhaupt scheine Nietzsches „Groll gegen das Übergewicht der Theorie […] stark ­Kleistisch gefärbt“ (Fischer 1911c: 512). Ausgehend von einem Nachlassnotat Nietzsches, in dem davon die Rede ist, dass „die vollkommene Erkenntnis […] das Handeln“ (Fischer 1911c: 512) töte, werden Parallelen zu Kleists Kant-Krise gezogen und durch Zitate mit ähnlichem Tenor aus Kleists Schriften zu belegen versucht. Vorgenommen wird auch eine literatur9  Vgl. dazu den Beitrag von Dieter Heimböckel in diesem Band.

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geschichtliche Verortung: Nietzsches Antihistorismus sei seinerseits historisch bedingt, allgemein vorbereitet durch die Literaten des „Sturm und Drang“, der „Romantik“ und des „Jungen Deutschland“ (Fischer 1911c: 510f.), konkret in den Ansichten von Herder, Goethe, Ludolf Wienbarg und Heine. Die Analogien wirken indes gesucht, und man muss sie als begrenzte und willkürliche Konstruktion möglichst zahlreicher Gemeinsamkeiten ansehen.10 Im Lichte der neueren Forschung erscheint Nietzsche klar und durchgehend als Anti-Romantiker, Kleist wird jedoch von den Romantik-Verdikten ­weitgehend ausgenommen – hier wäre also stärker zu differenzieren gewesen. Festzuhalten ist jedoch Fischers Hinweis auf Wienbargs Ästhetische Feldzüge – diese Relation wurde in der Forschung erst viel später und ohne Hinweis auf die Priorität Fischers in der Forschung gewürdigt.11 Der Schluss des Essays ist allerdings bemerkenswert, denn Fischer erkennt nun doch auch das Trennende und schlägt bereits das apologetische Leitthema seiner späten Nietzsche-Texte an, wenn er Nietzsche nicht nur zwischen, sondern über den nationalen Kulturen positioniert: Nietzsche hingegen ist von Sehnsucht nach einer kommenden Zeit erfüllt; in seinen Mythen vom Übermenschen und von der Wiederkunft greift er an Werte der Ewigkeit. Kleist, der stärkere Künstler, mutet wie ein unvergleichliches Drama des deutschen Geisteslebens an. Nietzsche jedoch, den Verächter der nationalen Schranken, wollen wir nicht verschweizert, nicht naumburgisch und thüringisch werden lassen, ihn reklamieren wir als europäisches Ereignis. (Fischer 1911c: 519)12

10  Das gilt auch für die ältere Darstellung Joëls (1905), die ähnlich vorgegangen war. Siehe dazu meine Artikel „Romantik“ und „Kleist“ im Nietzsche-Handbuch (Ottmann 2000: 315-317, 388f.). 11  Ridle (1980: 338-355). Nach Fischer hat auch Alfred Kerr in seinem Vorwort zu Wienbarg (1919: 1-3), die Parallelen gesehen: „Wer spricht: Wienbarg oder Nietzsche? wenn es etwa heißt: »Das Leben ist des Lebens höchster Zweck« –? Der Satz steht in diesem Buch. Wer spricht, Wienbarg oder Nietzsche? wenn es heißt: »Befreit die Welt von den Sünden der Schwäche« –? Der Satz steht wieder in diesem Buch. (Auch der andre: die herrschende Moral stelle »alles Treibende und Liebende in uns [...] als das S­ ündhafte dar«.) Ja, dergleichen ist zwar ein Vorklang für Nietzsche. Doch nicht minder, scheint mir, ein Nachklang: von der deutschen Romantik; von Friedrich Schlegel und dem ganz jungen Clemens Brentano. Nietzsche war ein wildgewordener Romantiker – das Junge Deutschland aber hat erkennenden Verstand auf die blaue Blume gepfropft. Auch Wienbarg. Es war kein Unglück.“ 12  Fischer greift hier ein Nietzsche-Wort auf, der in Götzen-Dämmerung geurteilt hatte: „Goethe – kein deutsches Ereignis[,] sondern ein europäisches“ (Nietzsche 1999: 49).

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4. Déjà-vu und ‚Ewige Wiederkunft‘ In seinem Aufsatz über Das Problem der Erinnerung13 kommt Fischer auf Nietzsche am Rande zu sprechen (Fischer 1911a: 7); in einem zweiten Text zur Thematik, der nun allerdings heute noch überaus anregend, ja spektakulär ist, rückt er ihn ins Zentrum der Betrachtung: Drei Jahre vor Freuds Studie zur fausse reconaissance (1914)14 veröffentlicht Fischer in der Zeitschrift für allgemeine Psychologie seine Überlegungen zum Phänomen des déjà-vu: Eine psychologische Grundlage des Wiederkunftsgedankens. Bemerkungen über den literarischen Wert der „fausse reconnaissance“ (Fischer 1911b).15 In der Nietzsche-Forschung ist dieser Aufsatz nahezu vollkommen übersehen worden. Zwar erwähnt Richard Krummel ihn knapp in seinem Kompendium Nietzsche und der deutsche Geist,16 doch das ging dort in der Flut der anderen 5600 abstracts unter.17 Es gibt in der Nietzsche-Forschung drei Hauptlesarten18 der Lehre oder genauer des Gedankens der Ewigen Wiederkunft des Gleichen: die primär auf Nachlassnotizen sich stützende kosmologische Deutung, die entweder mythisch oder naturwissenschaftlich begründet wird, und die ethische Interpretation. Den Gedanken der Ewigen Wiederkunft in Verbindung mit dem Déjà-vu zu bringen und primär an den Schreibverfahren der veröffentlichen Schriften Nietzsches zu explizieren, ist originell19 und von Fischer selbst in den möglichen Konsequenzen gar nicht erkannt worden. Sogenannte Erinnerungstäuschungen wie die fausse reconnaissance oder ihr Pendant, das pathologische Plagiat, besäßen neben ihrem „psychologisch-medizinischen Wert auch ein kunsttheoretisches, beson­ ders ­literaturwissenschaftliches Interesse“ (Fischer 1911b: 487). Ausgehend von dem längeren Zitat einer Beschreibung, mit der Henri Bergson solche 13  Vgl. dazu den Beitrag Manfred Weinbergs in diesem Band. 14  Freud (1914). Zum déjà-vu als Phänomen siehe Oesterle (2003). 15  Später auf Tschechisch; Fischer (1929b). 16  Richard Frank Krummel: Nietzsche und der Deutsche Geist, Band 1 (umfasst die Jahre 1867–1900), 1974 (2. Auflage 1998); Band 2 (1901–1918), 1983 (2. Auflage 1998); Band 3 (1919–1945), 1998; Band 4: Ergänzungen, Berichtigungen und Gesamtverzeichnis, 2006. 17  Eine positive Würdigung von Fischers Aufsatz findet sich im ebenfalls unbeachtet gebliebenen Buch: Beckerhoff (1998: 29-37). 18  Nach wie vor einschlägig: Marton (1996: 42-63). 19  Außer bei dem auf Fischer zurückgreifenden Beckerhoff (s. o.) findet sich diese Idee sonst nur noch bei Hofmiller (1931: 74-131, hier: 74-79).

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Erinnerungsphänomene einzufangen versuchte, untersucht Fischer dann ähnliche Berichte in wissenschaftlichen und literarischen Texten (z. B. Charles Dickens, Friedrich Spielhagen, Heinrich Zschokke, Iwan Gontscharow und Arthur Schnitzler), und zeigt auf – und das ist nun wirklich methodisch höchst interessant –, dass es einen Zusammenhang von Beschreibungssprache und beschriebenem Gefühlseindruck gibt, mithin eine besondere Art und Weise, wie sich Erinnerungstäuschungen sprachlich manifestieren. Einem solchen Erlebnis gehe oft das Gefühl voraus: „Wache oder träume ich?“ Die Unsicherheit hierbei sei Anzeichen einer „Depersonalisation“ (Fischer 1911b: 493). Literaturpsychologisch könne man mit dieser Gefühlscharakteristik Dichtungen besser erfassen, die das Leben als Traum, Halbträume und Erinnerungsträumereien darstellen. Die nächste Unsicherheit fände ihren typischen Ausdruck in der „ohnmächtigen Anstrengung des Gedächtnisses“ in der Vergangenheit bestimmte Ereignisse zu lokalisieren („das dumpfe Sich-besinnen und Sich-nicht-besinnen-können“). Diese führe zu einer Rückprojektion ­aktueller Erlebnisse „in einen Traum, in die Kindheit, in graue Vergangenheit […] oder gar ein Vorleben.“ (Fischer 1911b: 498), wobei diese Rückprojektionen dazu dienen können, ansonsten rätselhafte Erlebnisse zu erklären. Dadurch komme auch „dem Gefühl der Übereinstimmung zwischen Gesichtseindruck und Innenwelt“ eine „poetische Bedeutung“ zu, das Erleben eines Déjà-vu zähle daher zu den „künstlerisch fruchtbarsten Augenblicken“ (Fischer 1911b: 513). Hiermit ist der Boden bereitet, um „eines der schwierigsten und lockendsten Probleme der modernen Metaphysik“ anzugehen, nämlich „eine literarpsychologische Analyse der Lehre Friedrich Nietzsches von der Ewigen Wiederkunft des Gleichen“ (Fischer 1911b: 501). Gerade die Wiederkunftslehre sei „eine crux interpretum“ für Nietzscheverehrer, denn manche, die sich zwar an der Übermenschvision erbauten, würden hier „vom geliebten Hodegeten“ Abschied nehmen, andere „den mystischen Gedanken als bloße Spielerei“ abtun (Fischer 1911b: 501). Nietzsche aber habe „für den unglaubwürdigsten Artikel seiner Philosophie einen ganz bedingungslosen Glauben in Anspruch genommen und ihn als Grundlage seines Systems bezeichnet“ und ihm im Zarathustra „poetische Weihe und prophetische Verklärung“ verliehen. Gerade angesichts des Positivismus der späteren Werke befremde dieser plötzliche mystisch-religiöse Rückschlag. Unterlag Nietzsche hier also „einem Selbstbetrug“? (Fischer 1911b: 502) Fischer rekonstruiert dann auf der Basis der Nachlassnotate die „Wiederkunftstheorie“ (Fischer 1911b: 502ff.), bringt mögliche Vorläufer ins Spiel

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(Fischer 1911b: 506) und verweist dann auf eine Stelle (Zweite ­Unzeitgemässe Betrachtung) beim jungen Nietzsche, in der dieser bereits – allerdings kritisch – den Wiederkunftsgedanken dargestellt habe. Entgegen der späteren Selbststilisierung Nietzsches, dass ihn dieser Gedanke in Gestalt einer p ­ lötzlichen Vision überfallen habe, war er ihm also bereits früher bekannt. Fischer analysiert die verschiedenen Schilderungen, die Nietzsche von diesem ­ Erlebnis gegeben hat und bestimmt es als ein unbewusst gebliebenes Déjà-vu-Gefühl (Fischer 1911b: 509). Dafür jedoch, dass „zwischen Wiederkunftsgedanken und Erinnerungstäuschungen bei Nietzsche eine tatsächliche Beziehung stattgehabt“ habe, meint Fischer ein positives Argument vorbringen zu können, nämlich wenn man just die Art und Weise untersuche, wie dieser Gedanke formuliert wurde. Zum Ausgangspunkt nimmt Fischer einen Passus aus einem Kapitel des dritten Zarathustra-Buches: „Vom Gesicht und Rätsel“, in dem „die Wiederkunftslehre wohl zum ersten Mal vor der Öffentlichkeit in zusammenhängender Form aufgerollt“ sei, und zwar eingebettet in einer fortlaufenden Erzählung und „in die Atmosphäre eines schwermütigen Traums getaucht, daher von symbolischer Sprache verschleiert“ (Fischer 1911b: 509). Es folgt eine eingehende Traumanalyse, an deren Ende Fischer „eine Reihe typischer Züge festgehalten“ findet, „denen wir bei der Besprechung literarisch verwerteter Erinnerungstäuschungen bereits begegnet sind“ (Fischer 1911b: 511). Etwa würden undeutliche oder Scheinerinnerungen an die Kindheit eingestreut, die Aufnahme von äußeren Geräuschen in den Traum geschildert, wie das Bellen eines Hundes, das wiederum als Quasi-Reminiszenz eine weitere Assoziationskette auslöst. Übertragen auf Nietzsches eigene Schilderung seiner Vision der Ewigen Wiederkunft werde erklärbar, „daß sein unerweislicher Glaube an die Ewige Wiederkunft des Gleichen durch jene Zustände mit bedingt und zugleich gefärbt war, die ihm die Gegenwart als Wiederholung eines bereits erlebten Augenblicks vorspiegelten.“ (Fischer 1911b: 512) Ich kann hier nicht ins Detail gehen,20 sondern will nur hervorheben, dass dies die erste und für lange Zeit einzige Interpretation der Ewigen Wiederkunft ist, die die konstitutive Bedeutung der literarischen Darstellungsform vorführt.

20  Siehe dazu Zittel (2015).

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5. Nietzsche als Politikum (Fischers Rezensionen und Beiträge für die Prager Presse) Diese vorwiegend ästhetisch-psychologische Nietzsche-Lesart hat Fischer jedoch durch eine zunehmend politisch ausgerichtete Betrachtung ergänzt, wie ich abschließend anhand seiner für die Prager Presse verfassten Rezensionen und Beiträge darstellen werde. Die Rezensionen widmen sich hauptsächlich Veröffentlichungen aus dem Kreis des Weimarer-Nietzsche-Archivs und der französischen NietzscheRezeption.21 Der letzte Punkt ist insofern bedeutsam, weil in Frankreich die Formierung des Faches Germanistik eng mit dem Wirken zweier NietzscheSpezialisten, Biographen und Übersetzer zusammenhing, Charles Andler22 und Henri Lichtenberger23, die sich beide für ein positives Deutschlandbild 21  Daneben gibt es noch kurze Rezensionen: Fischer (1926b): kurze Rezension von A ­ ugust Vetters Nietzsche-Buch; Fischer (1929c) – Rezension der preisgekrönten Schrift: Fritz Krökel: Europas Selbstbestimmung durch Nietzsche (1929); Fischer (1931c): Paul Cohn: Um Nietzsches Untergang (durch Rauschmittel, von E. Förster-Nietzsche ebenfalls zur Erklärung des Spätwerks behauptet). Zur französischen Nietzsche-Rezeption siehe Bianquis (1929), Le Rider (1997). 22  Andlers Hauptwerk: Nietzsche, sa vie et sa pensée (6 Bände). Paris: Bossard 1920–1931. Zu Andler gibt es gleich mehrere Rezensionen und einen Nachruf. Rezension Fischers (1926a) vom 03.08.1926: Charles Andler (1926): Nietzsche und Jakob Burckhardt (das ist eine Auskoppelung aus Bd. 1 von Andlers Nietzsche-Monographie). Fischer referiert zustimmend, dass Burckhards Entdeckung des agonalen Prinzips des Griechentums ­ Einfluss auf die Kulturauffassung Nietzsches in der Geburt der Tragödie hatte, zudem Burckhards ­ Andeutungen zum „Machtwillen“ in der griechischen Polis aufs ­ spätere Werk Nietzsches eingewirkt hätten. Fischer (1931b): Rezension des 6. und letzten Bandes von Charles Andlers monumentaler Nietzsche-Darstellung, die sich abschließend dem Spätwerk zuwendet. Nietzsche wird hier als romantischer Enthusiast porträtiert, dessen Schwärmerei sich zunehmend in Skepsis verwandle. Ausführlich sei die ­Zarathustra-Mystik dargestellt und die literarischen Einflüsse extensiv behandelt, viele neue Quellen ins Spiel gebracht. Also sprach Zarathustra werde als großzügiges Fragment verstanden, dessen Fortsetzungspläne aus dem Nachlass rekonstruiert werden. Bedeutsam sei auch, was über Nietzsche als Vorläufer von Durkheim und Sorel gesagt werde. Leitend sei für die Darstellung die „Reziprozität von Denken und Erleben“. 23  Siehe Fischer (1929a): Kurze Anzeige der deutschen Übersetzung des Buches des französischen Germanisten Henri Lichtenberger Nietzsche und sein Werk, gemeinsam mit Elisabeth Förster-Nietzsche veröffentlicht, die es übersetzte. Die Rezension gibt keinen Hinweis auf die länger vorliegende tschechische Übersetzung. Lichtenberger war von 1887 bis 1907 Professor für ausländische Literatur in Nancy, danach bis 1934 Professor für Literatur und deutsche Philologie an der Sorbonne. Er hatte den kranken Nietzsche 1898

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und die deutsch-französische Aussöhnung einsetzten und deren Bücher Fischer bespricht. Man kann sagen, dass Fischer in Tschechien eine ähnliche Rolle für die Fachgeschichte spielte, wie Andler in Frankreich. In dem Maße wie nun Nietzsche immer stärker in Deutschland für nationalistische Zwecke vereinnahmt wurde, bekommen Auslandsgermanisten, die sich mit ­Nietzsche für ihr Fach einsetzen, Legitimationsprobleme, die sich auch auf das ­ganze Fach erstrecken. Andler und Lichtenberger waren in ihrer Gesinnung sozialistisch ausgerichtet, dennoch arbeiteten sie lange eng mit dem NietzscheArchiv in Deutschland zusammen, das zunehmend die nationale ­Propaganda bediente, zugleich aber auch durch die Beförderung von Übersetzungen und gezielt selektiertem Informationsfluss die gesamteuropäische Wirkung Nietzsches zu verstärken und zu kontrollieren suchte. Auch Fischer hatte offenbar persönlichen Kontakt mit Elisabeth Förster-Nietzsche, jedenfalls beruft er sich auf mündliche Mitteilungen und lobt sie als „liebevolle Walterin des brüderlichen Nachlasses“ (Fischer 1925a) und „verdienstvolle Frau“ (Fischer 1935: 139). Vor allem aber rezensiert er zunächst wohlwollend ihre werkbiographischen Deutungen24 und die vom Archiv besorgten Editionen, was ihn später zu Differenzierungen nötigen wird. Unter anderem bespricht Fischer die von Nietzsches Cousin Max ­Oehler besorgte Ausgabe von Nietzsches Jugendschriften (Fischer 1923). ­Oehler war Mitarbeiter im Nietzsche-Archiv, dessen Leitung er nach Elisabeth Förster-Nietzsches Tod übernahm. Wie diese betrieb er die Eingemeindung Nietzsches ins Reich der NS-Ideologie. Fischer lobt hier zunächst die vom „rührigen Nietzsche-Archiv“ aus dem Nachlass des „Dichterphilosophen“ veranstaltete Edition des „Hauptwerkes“ Der Wille zur Macht. Er begrüßt, dass dieser Text „auf Grund wiederholter Prüfung der Manuskriptbestände in erweiterter Gestalt und übersichtlicher Anordnung vorgelegt noch persönlich aufgesucht. Auch seine frühere Nietzsche-Biographie war von ­Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, mit der er auch einen regen Briefwechsel führte, 1899 ins Deutsche übersetzt worden: La Philosophie de Nietzsche, Paris 1898; dt.: Die ­Philosophie Friedrich Nietzsches, Dresden 1899. 24  Siehe die Besprechung in der Prager Presse am 07.10.1923 (Fischer 1923) und 20.08.1925 (Fischer 1925b) von Der werdende Nietzsche: Autobiographische Aufzeichnungen, hg. von Elisabeth Förster-Nietzsche (München: Musarion-Verlag, 1924), die dann in einen Vergleich Nietzsches mit Hebbel übergeht. Immerhin auch hier die Einschränkung, dass die „knabenhaften Aufzeichnungen des noch frommen Nietzsche durchaus nicht überschätzt werden“ dürften. Im Vergleich mit Hebbel zeigen sich die Grenzen biographischer Darstellung, bei dem „wandlungsreichen und widerspruchsvollen“ ­ Nietzsche lasse sich nicht von einer Epoche seines Lebens auf die nächste schließen, kein Werdegang genetisch explizieren.

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werden konnte“ (Fischer 1923: 1). Hingegen sei die Edition der Jugendschriften aufgrund ihrer chronologischen Ordnung problematisch, da nun Parerga und Fragmente neben ausgereiften und auskristallisierten Werken zu stehen kommen, statt im Anhang gebracht zu werden. Fischer sieht die Vorzüge, die diese Ausgabe Spezialisten bietet, doch er rät zur Vorsicht, denn wenn jemand mit dieser Ausgabe Nietzsche zu lesen beginne, würde er zuerst mit den „faden Kindereien“ seiner „Gymnasiastenpoesie“ konfrontiert und nicht – wie von Nietzsche selbst gewünscht – mit der die Geisteswelt des ­Philosophen eröffnenden „Offenbarung“ (Fischer 1923: 1) des Gegensatzes von Dionysischem und Apollinischem in der Geburt der Tragödie. Immerhin kann man in diesem Plädoyer für das veröffentliche Werk Nietzsches eine erste Distanzierung Fischers von den Nachlasseditionen erkennen, auf deren Konto auch die Fabrikation der berüchtigten ­Ideologeme von Nietzsches Philosophie gehen, denn in den von Nietzsche veröffentlichten Schriften sucht man vergebens nach ungebrochen positiv formulierten Lehren vom Übermenschen oder vom Willen zur Macht.25 Man sollte hier erwähnen, dass nicht erst Schlechta, sondern bereits Ernst und August Horneffer 1906 und 1907 die Unhaltbarkeit der Willen-zurMacht-Kompilation nachgewiesen hatten, allerdings nicht ohne Nietzsche als Philosoph herabzusetzen, dem die Kraft zum System gefehlt habe – womit sie auf heftigen Widerstand seitens der Nietzsche-Gemeinde trafen (Fuchs 1997: 384-404; Montinari 1982) –, ja auch Schlechtas fulminante Kritik wurde viele Jahre später noch attackiert und hier tat sich durch eine heftige Polemik, die 1957 im Merkur veröffentlicht wurde, Otokar Fischers Brieffreund Rudolf Pannwitz (1957) hervor. Die Konstellation PannwitzFischer ist daher brisant, zum einen weil Pannwitz einen europäischen, transnationalen Nietzsche forderte, zum anderen, weil er die NachlassFiktionen des Weimarer Archivs noch bis zum letzten Atemzug verteidigte.26 25  Der Tenor der Kritik lautet, dass das nicht veröffentlichte Werk als sekundär gegenüber den publizierten Schriften anzusehen ist (!). Die Jugendlyrik wird dann vorgestellt, aber nicht als selbstständig bedeutsam gewürdigt, sondern nur insofern als in ihr die ­spätere Dichtkunst (wie z. B. der „herrliche Zarathustra-Hymnus ‚Vor Sonnenaufgang‘“) präludiere. Frühe Texte, wie das Euphorion-Fragment, das die neuere Nietzsche-Forschung wegen seiner radikalen Selbstreflexivität hoch einschätzt, werden in ihrer Bedeutung nicht erkannt. Gleichwohl lässt sich Fischer weit auf das Jugendwerk Nietzsches ein. 26  Pannwitz hatte bereits in seiner Schrift Geist der Tschechen (1919) die tschechische Kultur zum Vorbild für ein transnationales Europa erhoben. Die tschechische Kultur und Nietzsches Philosophie beförderten in seinen Augen das gleiche Ideal. Fischer empfahl Pannwitz’ Einführung in Nietzsche Kollegen und in Vorträgen, konnte ihm aber nicht helfen,

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1931 wird Fischer mit einem ziemlich üblen Propagandabuch, nämlich mit Theodor Kappsteins Edition eines „Volks-Nietzsche“ konfrontiert (Fischer 1931a), und übt heftige Kritik an der dort vorgenommenen Reinigung des Textes von Fremdwörtern und Satzzeichen, der freien Zusammenstellung von Texten mit neuen Titeln wie: „Morgenröte fröhlicher Wissenschaft“, und an der „kastigierenden Bearbeitung“. Dann aber wird der Rezensent Fischer (1932) mit dem wichtigen Buch von Erich Podach: Gestalten um Nietzsche (1932) konfrontiert. Dieses Werk muss ihm die Augen geöffnet haben, denn es ist der Hauptangriff gegen das Nietzsche-Archiv und die „von dessen Leiterin ausgehende offizielle Nietzscheliteratur“. Franziska Nietzsche, Erwin Rohde, Peter Gast und das Ehepaar Förster-Nietzsche werden in ihrem Gegensatz zu Nietzsche dargestellt, letztere aufgrund ihres Antisemitismus. Fischers Fazit: „Ein herbes Buch, das u. a. mit Bäumlers und Wolters Nietzsche-Kult abrechnet und das gewiss alles eher verdient als totgeschwiegen und von oben herab behandelt zu werden.“27 Es folgt im Jahr darauf ein Nachruf auf Charles Andler (Fischer 1933), in dem deutlichere Töne angeschlagen werden. Fischer würdigt Andler als „führenden Germanisten Frankreichs“, lobt dessen „edle sozialistische Gesinnung“ sowie dessen Überzeugung, dass „ein wachsam objektives Urteil über deutsche Angelegenheiten“ im „ureigensten Interesse Frankreichs“ sei (und meint natürlich auch im Interesse Tschechiens). Insbesondere Andlers Charakteristik Nietzsches als „übernationales Phänomen und ­europäisches Ereignis“ sei hervorzuheben.28 Andler lasse Nietzsche, wie Goethe und Schiller, an dem „Hauptfehler der Deutschen“, deren „inculture politique“ und am „Mangel des Verständnisses für wahre Demokratie“ teilnehmen. Andler

als er aufgrund seiner Kritik an der tschechischen Außenpolitik Schwierigkeiten bekam. Siehe dazu die Einleitung von Marie-Odile Thirouin zum Briefwechsel Pannwitz-Fischer. 27  Interessant für einen Vergleich ist die ebenfalls durch Podachs Buch im gleichen Jahr mitausgelöste Kritik Walter Benjamins (Benjamin 1932) am Weimarer Archiv. 28  Siehe auch Fischers Brief an Pannwitz vom 09.03.1923, in welchem er seinen Vortrag Nietzsche und die Slawen bereits so zusammenfasst: „[M]ir war es darum zu tun, Nietzsche als europäisches Ereignis hinzustellen und ihn als einen Erzieher zu einer übernationalen Zukunft zu interpretieren.“ (Pannwitz 1923: 173) Ohne Zweifel wollte Fischer hiermit auf Distanz zu Richard Moritz Meyers Nietzsche-Bild gehen. Meyer, einer der Lehrer Fischers, hatte im Vorwort zu seinem Buch Nietzsche. Sein Leben und seine Werke (1913) als Ziel formuliert: „[N]ach Philosophen, Theologen, Ästhetikern möchte auch der deutsche Philolog seinen Teil dazu beitragen, daß Nietzsche als ‚deutsches Ereignis‘ angesehen und gewürdigt werde.“ (Meyer 1913, VIIf.) Zu Meyer siehe weiterführend: Fiebig/Waldmann (2009), zu Pannwitz und Nietzsche: Szabó (2015, 75-106).

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hebe die Wesensverschiedenheiten zwischen Deutschen und ­Franzosen hervor und wolle doch zur Völkerverständigung beitragen, wobei er sich zu geistigvollem Schwung erhebt, wo es gilt, das germanisch-mystische Halbdunkel zu kontrastieren mit französischer Intellektualität, will sagen mit „eisigem, grauem Frühlicht, aus dem ganz allmählich die Sonne emporsteigt.“ (Fischer 1933)

Diesen Gedankengang nimmt Fischer dann zum Anlass, Nietzsches ­Verhältnis zum Nationalsozialismus genauer zu klären und zwar in dem wichtigen Aufsatz Nietzsche und das Dritte Reich, der 1934 auf Tschechisch, dann ein Jahr später in der Übersetzung von Johannes Urzidil in Die drei Ringe (Fischer 1935: 137-141)29 erschien. Es handelt sich um eine der frühesten und differenziertesten Auseinandersetzungen mit der auch heute noch diskutierten Frage,30 inwieweit Nietzsche die NS-Ideologie vorbereitet hatte. „Haben die Ideologen des Dritten Reiches das Recht, sich auf Nietzsche als ihrem unmittelbaren Vorgänger zu berufen?“, fragt Fischer gleich zu Beginn und antwortet: Ja, sie haben das Recht, denn eine Menge von Aphorismen und Fragmenten, welche ein Regime der starken Hand empfehlen, gegen Verfallserscheinungen gerichtet sind, den Willen zur Macht zum wesentlichsten menschlichen Prinzip erheben, für die Rückkehr zum Primitivismus eifern […], tragen tatsächlich ein Gepräge, das ohne Veränderung in den Rechts- und Sittenkodex der heutigen Herren Deutschlands übernommen werden könnte. (Fischer 1935: 137)

Man könnte jedoch „mit gleicher Berechtigung“ eine „Menge anderer S­ tellen“ zitieren, „nach denen die Praxis der Hitlerleute nicht bloß als Karikatur,­ sondern als das direkte Gegenteil dessen erschiene“, was Nietzsche intendierte (Fischer 1935: 137). Die Sache sei also komplex und bedürfe eingehender Betrachtung, für die er lediglich einige Richtlinien vorgeben könne. So verkomplizierten sich bei Nietzsche durch „seine dichterische Ausdrucksform“ und ­ Symbolik, durch das „schwankende und vieldeutige Wesen einzelner Passagen im Zarathustra“ (Fischer 1935: 137) die Zusammenhänge weit mehr als bei ­anderen Philosophen. Nietzsches Urteile seien kaum je eindeutig zu greifen, wandelten sich zudem radikal „von Extrem zu Extrem“ (Fischer 1935: 138). 29  Das Verbandsorgan der deutschen Freimaurer in der ČSR, Die drei Ringe erschien von 1925–1935 in Reichenberg [Liberec] und danach in Prag; Johannes Urzidil, damals selbst Freimaurer, hatte zwischen 1934–1938 dessen Schriftleitung inne. 30  Zum Beispiel Taureck (2000: 169-206). Eine frühe Stellungnahme, die Nietzsches Unvereinbarkeit mit dem Nationalsozialismus hervorhob und die Fischer womöglich 1934 als Vortrag gehört hatte, ist Löwith (1987 [1934]).

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Dies habe auch zu den gegensätzlichen Deutungen seines Werkes ­geführt. In Böhmen habe der Nietzsche-Kult mit František Václav Krejčí eingesetzt und ­widersprüchliche Züge angenommen, zeigte sich als Mitleidsphilosophie, künstlerischer Amoralismus (Arnošt Procházka), Weltbürgertum (František Xaver Šalda) oder konsequenter Nationalismus (Lev Borský). Ähnlich sei es im Ausland. In Italien sei jedoch über D’Annunzio und den Vorkriegsfuturismus eine direkte Verbindung zwischen Nietzsche und der faschistischen Ideologie ­festzustellen, in Deutschland seien es Moeller van den Bruck, Rosenberg, aber auch Stefan George und sein Kreis (Ernst Bertram, Friedrich Gundolf, Ludwig Klages) und Oswald Spengler gewesen, die in diesem Sinne Nietzsche auslegten. Hitler jedoch sei von Nietzsche unabhängig, seine Ideologie käme ganz ohne ihn aus, für sie genüge der Wiener Antisemitismus und NachWagnerianische Rassismus. Doch wurde der Nährboden für die Aufnahme solcher Anschauungen im Zeichen Nietzsches vorbereitet: „Um den Lyriker Stefan George schloß sich ein Kreis von Vergötterern und Interpreten, welche das Heil der Welt darin suchen, daß irgendein Mächtiger kommt und sich der unseligen Herde annimmt [...]“ (Fischer 1935: 139). Gundolfs Schriften zur Literaturgeschichte seien mit ihren ­aristokratischen Wertmaßstäben in dieser Tradition zu sehen, ebenso Ludwig Klages, der Nietzsches „Antirationalismus“ zu Ende gedacht habe (Fischer 1935: 139). Dann wendet sich Fischer Nietzsches Umgebung zu. Wie Erich ­Podach kritisiert er, dass Paul Ree, August Julius Langbehn, Max Oehler, und die Försters im Widerspruch zu Nietzsche gestanden und seine Gedanken „simplifiziert oder entseelt“ (Fischer 1935: 139) haben. „Die Tragik des ­heutigen Nietzscheismus“ liege darin, dass der „echte Nietzsche mit e­ inem Mann verwechselt wird, den er nicht vertrug und dessen Tendenzen ihm auf die Nerven gingen“ (Fischer 1935: 139). Die Gefahr dabei sei, „daß Nietzsches Lehre zu einem engstirnig nationalistischen Evangelium r­ eduziert würde, zu einer Verherrlichung der rein germanischen Tugenden und zu anderen Ideen, aus denen die jetzigen Machthaber Vorteile ziehen könnten“ (Fischer 1935: 139). Es bestünde daher die Pflicht der unparteiischen Nietzsche-Interpretation […] darin, den authentischen Nietzsche vor jenen zu schützen, die sich auf eigene Faust mit ihm identifizieren, ohne daß man sie mehr desavouieren könnte und die unter den Vertretern der offiziellen NietzscheArchiv-Forschung eine Stütze finden. (Fischer 1935: 139)

Es werden dann mit eindrucksvoller Klarheit weitere Pro- und Contra-Belege für die Vorläufer-These diskutiert: Es fällt mir nicht etwa ein, den Beweis führen zu wollen, daß Nietzsche kein unmittelbarer Vorgänger der Bewegung gewesen wäre, die nach dem Kriege in Deutschland ent-

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stand und nach dem Jahre 1930 das Feld beherrschte. Die großartigen Visionen, in den der späte Nietzsche seinen Blick auf die politischen und die Massenkämpfe kommender ­Jahrhunderte heftet; die Lehre vom Willen zur Macht als Schlüssel alles menschlichen Handelns; der wütende Kampf gegen alles, worin er ‚decadence‘ witterte; der Nachdruck, den er auf die Würde der Rasse, auf Reinblütigkeit, auf die Notwendigkeit des Krieges, auf die Raubtierinstinkte legt; das Symbol der blonden Bestie, das Ideal korsischer Banditen, die Sehnsucht nach dem Losbrechen geheimer Dämonen, die materialistische Auffassung religiöser und gedanklicher Emotionen, die physiologische Ausdeutung der K ­ ünste – diese und andere Grundsätze der letzten […] Schriften Nietzsches bieten direkten Ansporn zu Gewaltsamkeiten, eine Anleitung zu antisozialistischen, antidemokratischen, fortschrittsfeindlichen Methoden. Der Versuch des Nachweises, die Etappe der gegenwärtigen innerstaatlichen Kämpfe und Diktaturen sei von Nietzsche nicht vorausgesehen und vorbereitet worden, hieße einen Mohren weiß waschen wollen. Freilich handelt es sich um Sätze, die einen einheitlich ausgeprägten Gesichtspunkt nicht zulassen, viele Antithesen aufweisen und deren Prophezeiungen in den Mantel der Vieldeutigkeit gehüllt erscheinen [...] (Fischer 1935: 140).

Es sei jedoch „sicher [...], daß die konkrete Verwirklichung der allgemeinen von Nietzsche vorausgesehenen Kämpfe eine Richtung genommen hat, die niemals seine Zustimmung gefunden hätte“ (Fischer 1935: 140). Fischer erinnert an Nietzsches Vision des „guten Europäers“ und an sein Bekenntnis „Europa will eins werden“, die in scharfem Widerspruch zu ­„nationalistische[m] Wahn“ stehen (Fischer 1935: 140). Insbesondere in Bezug auf den Antisemitismus klaffe ein „unübersteigbare[r] Abgrund“ (Fischer 1935: 140) zwischen Nietzsche und seinen heutigen Nachfolgern. Auch wenn N ­ ietzsche kein Philosemit gewesen sei, so war er unzweifelhaft ein Anti-Antisemit. Fischers hellsichtiger Aufsatz ist noch nicht seine letzte Stellungnahme zu Nietzsche. In einer ebenfalls in der Prager Presse veröffentlichten Glosse zu einem Nietzsche-Zitat resümiert Fischer: Ein jedes Jahrzehnt und ein jedes Volk formt sich seinen Nietzsche neu; und liest aus ihm heraus, was eben den eignen Anschauungen und Zielen am nächsten liegt. Kein Wunder also, daß im heutigen Reich eben solche Stellen am willigsten gehört […] werden, die durch Betonung des nunmehr so zeitgemäßen und vielempfohlenen Irrationalismus an die Theorie und die Praxis der Zeitgenossen von Fichte und Arndt unmittelbar anknüpfen. (Fischer 1937)

Man kann Fischer auch heute nur beipflichten. Sein prononciert ästhetischer Zugang zu Nietzsche erlaubte es ihm, dessen Sätze nicht einsinnig zu lesen und, als es darauf ankam, sie früh jenseits von Alfred Bäumler und Georg Lukács politisch differenziert zu beurteilen, – was zugleich die beste ­Strategie war, um in dieser Zeit das eigene Fach zu verteidigen. Die Besonderheit von Fischers Nietzsche-Lektüre besteht allerdings auch darin, dass er an N ­ ietzsches Schreib- und Denkweise stärker die klassischen Züge hervorhob und nir-

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gends auf seine Bedeutung für die aktuelle Literatur der Avantgarde und der Moderne, insbesondere jener in Tschechien,31 näher einging.

Literatur Andler, Charles (1920): Nietzsche, sa vie et sa pensée. Paris: Bossard. Beckerhoff, Ulf (1998): Der Verlust der Aisthesis. Nietzsches Gedanke von der ewigen Wiederkehr des Gleichen aus Sicht seiner späten Philosophie. Marburg: Tectum-Verlag. Benjamin, Walter (1932): Nietzsche und das Archiv seiner Schwester. – In: Die literarische Welt, 77–78. (Wiederabgedruckt in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, 323-326). Bertram, Ernst (1918): Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin: Georg Bondi. Bianquis, Geneviève (1929): Nietzsche en France. L’influence de Nietzsche sur la pensée française. Paris: Alcan. Blecha, Ivan (2007): Nietzsche in der tschechischen Phänomenologie. Patočka und die Frage nach dem Sinn. – In: Studia Phaenomenologica 7, 493-520. Fiebig, Nils/Waldmann, Friederike (Hgg.) (2009): Richard M. Meyer – Germanist zwischen Goethe, Nietzsche und George. Göttingen: Wallstein Verlag. Fischer, Otokar (1911a): Das Problem der Erinnerung und deren Bedeutung für die Poesie, 4. Congresso Internazionale di Filosofia, Bologna. – In: Zeitschrift für Angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung. Leipzig: Barth, 1-8. Fischer, Otokar (1911b): Eine psychologische Grundlage des Wiederkunftsgedankens. Bemerkungen über den literarischen Wert der „fausse reconnaissance“. – In: Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung Bd. 5, 487-515. Fischer, Otokar (1911c): Nietzsche und Kleist. – In: Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum. Bd. 27. Leipzig: Teubner, 506-519. Fischer, Otokar (1914): Über den Anteil des künstlerischen Instinkts an literarhistorischer Forschung. – In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 96-108. Fischer, Otokar (1923): Nietzsches Jugendschriften. – In: Prager Presse 3, Nr. 275 (07.10.), Beilage Dichtung und Welt, Nr. 38, 1-3. Fischer, Otokar (1925a): Zwei Werdegänge. – In: Prager Presse 5, Nr 227 (20.08.), 6. Fischer, Otokar (1925b): Nietzsche und die Tschechen. Zum 25. Todestag Nietzsches. – In: Prager Presse 5, Nr. 232 (25.08.), 6.

31  Mit den Autoren der Prager Moderne stand Fischer in regem Austausch. Vgl. Zittel (2016).

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Fischer, Otokar (1925c): Nietzsche in Böhmen. – In: Prager Presse 5, Nr. 251 (13.09.), 9f. Fischer, Otokar (1926a): Charles Andler: Nietzsche und Jacob Burkhardt. – In: Prager Presse 6, Nr. 210 (03.08.), 6. Fischer, Otokar (1926b): Nietzsche. Von August Vetter. – In: Prager Presse 6, Nr. 225 (18.08.), 6. Fischer, Otokar (1929a): Nietzsche und sein Werk. – In: Prager Presse 9, Nr. 15 (15.01.), 7. Fischer, Otokar (1929b): Déjà vu. – In: Ders.: Duše a slovo. Praha: Melantrich, 140-160. Fischer, Otokar (1929c): Nietzsche und Frankreich. – In: Prager Presse 9, Nr. 207 (01.08.), 7. Fischer, Otokar (1931a): Volksnietzsche? – In: Prager Presse 11, Nr. 118 (30.04.), 8. Fischer, Otokar (1931b): Von Charles Andlers monumentaler Nietzschemonographie… – In: Prager Presse 11, Nr. 223 (19.08.), 7. Fischer, Otokar (1931c): Paul Cohn: Um Nietzsches Untergang. – In: Prager Presse 11, Nr. 229 (25.08.), 7. Fischer, Otokar (1932): Gestalten um Nietzsche. – In: Prager Presse 12, Nr. 187, (10.07.), Beilage Dichtung und Welt, Nr. 28, 3. Fischer, Otokar (1933): Charles Andler. – In: Prager Presse 13, Nr. 96 (07.04.), 6. Fischer, Otokar (1935): Nietzsche und das Dritte Reich. – In: Drei Ringe 11/9, 137-141. Fischer, Otokar (1937): Glosse zu einem Nietzschezitat. – In: Prager Presse 17, Nr. 222 (14.08.), 6. Förster-Nietzsche, Elisabeth (Hg.) (1924): Der werdende Nietzsche: Autobiographische Aufzeichnungen. München: Musarion-Verlag. Förster-Nietzsche, Elisabeth/ Lichtenberger, Henri (1928): Nietzsche und sein Werk. Dresden: Reissner. Freud, Sigmund (1914): Über fausse reconnaissance („déjà raconté“) während der psychoanalytischen Arbeit. – In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 2, 1-5. Fuchs, Dieter (1997): Der Wille zur Macht: Die Geburt des „Hauptwerks“ aus dem Geiste des Nietzsche-Archivs. – In: Nietzsche-Studien 26, 384-404. Heftrich, Urs (1999): Nietzsche v Čechách [Nietzsche in Böhmen]. Praha: Hynek. Heftrich, Urs (1998): The Early Czech Nietzsche Reception: T.G. Masaryk, O. Březina, F.X. Šalda. Translated by H. Steilberg. – In: Freifeld, Alice/Bergmann, Peter/Glatzer Rosenthal, Bernice (Hgg.), East Europe Reads Nietzsche. New York: Columbia University Press, 107-143. Hofmiller, Josef (1931): Nietzsche – In: Süddeutsche Monatshefte 29/2 (November), 74-131. Hrubý, Karel (1988): Masaryk and Nietzsche. – In: Novák, Josef (Hg.), On Masaryk. Amsterdam: Rodopi, 247-268.

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Lucie Merhautová

„Er war ein Dichter, den wir sehr geliebt …“ Otokar Fischer und Hugo von Hofmannsthal vor dem Ersten Weltkrieg 1. Rezeptionshorizonte „[…] při takových zprávách jako o smrti Hofmannsthalově a Schnitzlerově bylo nám, jako by do hrobu padal kus našeho mládí,“ [bei Nachrichten wie dem Tod Hofmannsthals oder Schnitzlers war es uns, als sinke ein Stück unserer Jugend mit ins Grab,] bekannte Otokar Fischer in einem kurzen, persönlich aufgeladenen Nachruf auf Arthur Schnitzler (Fischer 1931).1 Die Erinnerung gilt dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, als Fischer für das Werk der beiden genannten Wiener Modernisten ein im tschechischen Umfeld ganz und gar einzigartiger Interpret war. Der verwendete Plural weitet das Bekenntnis auch auf Fischers Zeitgenossen aus und ruft die im Vergleich zu den 1880er- und 90er-Jahren größere Offenheit gegenüber der künstlerischen Moderne Wiens in diesem ersten Jahrzehnt ins Gedächtnis. Bereits zu Beginn seiner intellektuellen Laufbahn verfolgte Fischer aus Berlin und Wien kommende künstlerische Impulse – und da Schnitzler und Hofmannsthal in 1  Fischer betonte die Beziehung zu Hofmannsthal und Schnitzler auch im Vergleich zu anderen Wiener Autoren: „[…] a přec jenom i nás ta Macharova ‚Dalila‘ [Vídeň, L. M.] obdarovávala: jednoho snad spřízněním s  miniaturami Altenbergovými, jiného přátelstvím k  Hermannu Bahrovi, třetího pointami Karla Krause, mířícími na vídeňáctví, ale broušenými na vídeňské půdě – nás především tou elegičností Lorise-Hofmannsthala, s jehož poezií bloudovství a smrti souzněla melancholická i komediantská, prátersky pouťová i smutečně zpytavá melodie časného Schnitzlera“ [[...] doch auch uns beschenkte Machars ‚Dalila‘ [Wien, L. M.]: den einen durch Verwandtschaft zu den Miniaturen Altenbergs, einen anderen mit der Freundschaft zu Hermann Bahr, einen dritten mit den Pointen eines Karl Kraus, die auf das Wienertum abzielten, aber auf Wiener Boden geschliffen wurden – in erster Linie beschenkte uns Wien aber mit dem Elegienton Loris-Hofmannsthals, in dessen Poesie von Torheit und Tod die melancholische und komödiantische, die praterhafte Kirmesmelodie wie die traurig forschende Melodie des frühen Schnitzler anklang] (Fischer 1931).

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vielem auf Berliner Verlage und Berliner Theater angewiesen waren, konnte ihm Berlin in seinem Studienjahr 1903/1904 auch Wegweiser ins künstlerische Wien sein. Die Hauptstadt der Donaumonarchie lernte er durch Besuche bei der Familie seiner Tante mütterlicherseits, Clara Basch, kennen.2 Fischer widmete Schnitzler eine Reihe von Rezensionen (Fischer 1906, 1908a, 1909) und 1907 einen eigenständigen Essay, den er ihm auch zukommen ließ (Fischer 1907a).3 Darin stellt er aufmerksam fest, wie der Wiener Autor in seinen Dramen und Prosawerken seine Figuren und Probleme variiert, vertieft und typisiert und wie er eine Welt konstruiert, zu deren konstituierenden Merkmalen er die Verschmelzung von Zeitebenen, Grenzen und Polaritäten, die Destabilisierung fester Blickwinkel wie auch das Infragestellen eines Zusammenhalts von Welt und Subjekt zählt. Laut Fischer geraten Schnitzlers Figuren in eine Sphäre, in der „hranice jsou setřeny“ „vše je plynulé a relativní“, „v  neblahém pohybu“ [die Grenzen verschwinden; alles fließend und relativ ist; in unheilvoller Bewegung], und ein fester Standpunkt nur „násilnou konstrukcí“ [gewaltsame Konstruktion] (Fischer 1907a: 155f.) ist. Das Leben verwandelt sich von selbst in Traum, ähnlich wie Spiel in Wirklichkeit, Lüge in Wahrheit und umgekehrt.4 Fischer erkannte zwischen Schnitzler und Hofmannsthal eine Verwandtschaft auch in ihrem Ästhetizismus und ihrer Reflexion des künstlerischen Schaffens, im melancholischen Elegienton (Fischer 1931) und nicht zuletzt gerade im Annähern und Vergleichen von Gegensätzen, im Falle Hofmannsthals insbesondere zwischen Leben und Tod (Fischer 1929a). Für Hofmannsthal sei ein Zustand des „Dazwischen“5 charakteristisch (zwischen dem Irdischen und dem Übersinnlichen, dem Erblühen und Verwelken, Leben 2  Vgl. die Studie von Václav Petrbok in diesem Sammelband. 3  In Fischers Nachlass befindet sich ein Dankesschreiben Arthur Schnitzlers. Er bedauert, kein Tschechisch zu beherrschen, weshalb er Fischers Gedanken nicht habe lesen können. Aus dem Brief geht auch hervor, dass Fischer den Einakter „Zum großen Wurstel“ übersetzt hatte, ein Stück, über das er in seinem Referat Marionety [Marionetten] (Fischer 1906) schrieb, das es jedoch nicht auf tschechische Bühnen schaffte (Brief Arthur Schnitzlers an Otokar Fischer, 23.02.1907, LA PNP, Nachlass Otokar Fischer). 4  „Pózy cvičí se tak dlouho, až se stanou nutností, komedie hraje se tak dlouho, až sama sebou přejde v život, zločiny se imitují potud, až z interpreta vraždy stane se vrah, z teatrálního představení revoluce“ [Posen werden so lange eingeübt, bis sie zur Notwendigkeit werden, die Komödie wird so lange gespielt, bis sie aus sich heraus zu Leben wird, Verbrechen werden so lange imitiert, bis aus dem Interpreten des Mordes ein Mörder wird, aus der Theateraufführung eine Revolution] (Fischer 1906 bzw. Fischer 2014, Bd.2: 153). 5  Diesen Zwischenzustand definierte Robert B. Pynsent für die tschechische dekadente Literatur als „Interstatualität“ (Pynsent 1988).

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und Ableben), in dem sich, so Fischer, „prostupuje život a smrt, přítomnost a minulost“ [Leben und Tod, Gegenwart und Vergangenheit durchdringen] und das den Schöpfungen „přísvitu leskle teskného spolu bodavého i umírajícího“ [den Dämmerschein des glanzvoll Wehmütigen wie des Stechenden und Sterbenden] verleiht (Fischer 1929a: 263). Schnitzler und Hofmannsthal, jeder in seiner Weise, gestalteten Fischers Meinungen von moderner Kunst im ersten Jahrzehnt mit. Fischer veränderte und erweiterte auch die tschechische Rezeption dieser Autoren.6 – Bereits ab der zweiten Hälfte der 1890er-Jahre war Schnitzlers Prosa ins Tschechische übertragen worden (die Novelle Sterben [Umírání] erschien in Übersetzung Josef F. Javůreks bereits 1898), seine Theaterstücke wurden im tschechischen Nationaltheater, im Švanda-Theater im Stadtteil Smíchov und vor allem auf Prager deutschen Bühnen gespielt (Ludvová 2012: 113, 255-257). Die Resonanz in der tschechischen Presse fiel dabei höchstens ambivalent und reserviert aus: Schnitzler wurde mehrheitlich als Repräsentant des ungeliebten Wiener Milieus wahrgenommen, als Dekadent und Autor erotischer Geschichten aus einer mondänen Welt (Merhautová 2014). Was Hugo von Hofmannsthals Werk angeht, herrschte von tschechischer Seite lange ein merkwürdiges Schweigen.7 Fischer war einer der ersten, die über ihn schrieben und seine Werke übersetzten. Aus Fischers Korrespondenz8 geht hervor, dass Hofmannsthals Schaffen ihn erst in dem Moment ansprach, als er im Ausland damit in Kontakt kam: Im Herbst 1903 besuchte er eine Berliner Elektra-Vorstellung. Diese moderne Variation von Sophokles’ antikem Drama gilt als Markstein in Hofmannsthals Werk, den viele deutsche Kritiker als unheilvolle Abkehr von den genialen lyrischen Anfängen bewerteten (vgl. Wunberg 1972: 21). Für Fischer war Elektra in der Regie Max Reinhardts ein intensives Erlebnis und regte ihn zur weiteren Lektüre des Wiener Dichters an. Es ist bezeichnend, dass er im tschechischen Umfeld mit dem Namen Hofmannsthal zuvor kaum in Berührung gekommen war, denn sowohl die symbolistische Lyrik mit ihrer unverwechselbaren Melodik als auch die lyrischen Dramen waren in den modernistischen Kreisen deutscher Sprache, auch dank Hermann Bahrs programmatischen Essays, bald schon recht bekannt. In tschechischen Literaturzeitschriften wurde Hofmannsthals Werk jedoch weder thematisiert noch übersetzt. Dieses Schweigen überrascht und 6  Zur tschechischen Schnitzler-Rezeption vgl. Merhautová (2014). 7  Zu dieser widersprüchlichen Rezeption vgl. auch Simonek (2016). 8  Vgl. Topor (2015: 189f.).

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stellte die Frage nach der Beziehung der frühen tschechischen literarischen Moderne zur Wiener Moderne und ihrer historischen Untersuchung im Fall der fehlenden kritischen Reflexion. Durch die Deutschkenntnisse der tschechischen Künstler bestand natürlich die Möglichkeit, dass Hofmannsthals Lyrik unmittelbar wirken konnte, ohne die Vermittlung der Kritik oder der Übersetzung. Des Weiteren muss die programmatische Internationalität der tschechischen literarischen Moderne und ihre Vertrautheit mit den deutschen modernistischen Zeitschriften auf der einen Seite wie die komplizierte Beziehung zu Wien auf der anderen Seite bedacht werden. Um die Jahrhundertwende veränderte sich wesentlich auch die Einstellung zu Übersetzungen.

Umschlag und Titelblatt der ersten tschechischen Ausgabe des lyrischen Dramas Der Tor und der Tod von Hugo von Hofmannsthal in der Übersetzung von Otokar Fischer (1910, Bd. II der Edition Hyperion). Die Angabe des Originaltitels in Klammern deutet dessen Unübersetzbarkeit an.

Die jungen tschechischen Künstler und Kritiker lasen natürlich auf Deutsch und verfolgten deutsche Zeitschriften aufmerksam, sowohl die größten und zugänglicheren modernen Revuen wie die Münchner Gesellschaft, die Berliner

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Freie Bühne für modernes Leben (ab 1893 Neue deutsche Rundschau) oder die Wiener Wochenzeitschrift Die Zeit, als nach Möglichkeit auch kleinere, rein nach ästhetischen Gesichtspunkten ausgerichtete Zeitschriften. Es ist also zu vermuten, dass sie Hofmannsthal kennen konnten, aber keine Inspirationsquelle in ihm vorfanden, über die im tschechischen Kontext zu schreiben gewesen wäre. Die tschechischen Modernisten sahen sich als Teil einer europäischen Bewegung, ihren Internationalismus entfalteten sie anhand grenzübergreifender Kontakte (zu Przybyszewski, Bahr u. a.), ihren Kosmopolitismus manifestierten auch fremdsprachige Motti zu Gedichten und Sammlungen oder der Abdruck von Gedichten in Originalsprache (in der Monatsschrift Moderní revue). Eine gewisse Barriere für den proklamierten Internationalismus stellte dabei jedoch die politisch motivierte Aversion gegen Wien dar sowie das Vorurteil eines mittelmäßigen kulturellen Umfelds – Šalda beispielsweise hielt Schnitzler und Hofmannsthal für unschöpferische, epigonale Schriftsteller, für Symptome des kosmopolitischen Wien (vgl. Kostrbová 2011, bes.: 69-80). Die Moderne der 1890er-Jahre drückte sich auch in einem von der LumírGeneration abweichenden Verhältnis zu Übersetzungen aus: Man übersetzte insbesondere theoretische Aufsätze und Schriften, die Kritik am Positivismus übten. Die ältere Generation von Jaroslav Vrchlický und J. V. Sládek übersetzte dutzende ausländische Autoren, um möglichst viele literarische und sprachliche Anregungen in die tschechische Kultur zu bringen und ihren Horizont zu erweitern; die Modernisten dagegen wählten eher Autoren und Autorinnen, durch deren Vermittlung sie ihre eigene Nähe bzw. Zugehörigkeit zu der modernen Bewegung, zu unterschiedlichen stilistischen Errungenschaften manifestieren konnten. Es war vielleicht einfacher, manche Dramen Schnitzlers (außer jenen in Versen wie Der Schleier der Beatrice) und Prosawerke zu übersetzen (auch wenn es dabei auf stilistische Nuancen und die genaue Wahl von Äquivalenten ankommt) als Hofmannsthals Lyrik, seine Versdramen oder die bildhafte, rhythmisierte Sprache seiner frühen symbolistischen Prosa. Neben den Versuchen Arnošt Procházkas oder Alfons Breskas kamen auch Dichter und hervorragende Übersetzer dieser Aufgabe nach – vor dem Krieg Otokar Fischer und ab Ende der 1920er-Jahre Josef Hora, Václav Renč oder Otto F. Babler.9 Bei Schnitzler wurde die größte Resonanz im Rahmen seines Werkes der Novelle Sterben zuteil; seine Dramen wurden negativ (Anatol) oder zumindest ambivalent aufgenommen. Eine ästhetische Auswirkung von 9  Kurz hierzu siehe Merhautová (2011); in der gleichen Ausgabe werden auch einige Gedichte in den Übersetzungen Josef Horas, Julius Brabec’ und Otto F. Bablers abgedruckt.

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Hofmannsthals Lyrik auf tschechische Dichter, abseits der vermittelnden Rolle der Kritik, ist dagegen bereits in den 1890er Jahren zu beobachten. Anfang November 1898 erschien in der Zeitschrift Lumír das bekannte Gedicht Karel Tomans Galantní slavnost [Galantes Fest], das dem Andenken des jung verstorbenen Dichters Karel Hlaváčeks gewidmet war und auf Loris’ Poetik verweist. Shasli jsme světlo. Velký měsíc nám visel v okně namodralý, milenec teskných pohádek. A snivý Loris pod palmami hudebným altem měkce zpíval sentimentální baladu. V těch rytmech plakal život. Touha. Dny šedé, přitlačené k zemi. A hořkost, hlad a zoufalství. Neb umřel básník tichých balad, nervózní dítě z konce věku a my mu tryznu světili. Clitandr zvážněl. Pulcinella v smutečních šatech pod závojem si třpytné slzy stírala. Pierrot a ta celá banda ničemů s pikantními vtipy myslila na cos. – Eh, bien. A jak plál měsíc, Loris zpíval, ty černé stíny tancovaly v smutečním tempu menuet. Wir löschten das Licht. Ein großer Mond schien bläulich uns ins Fenster, Liebhaber wehmütiger Märchen. Und der träumerische Loris sang unter Palmen sanft in tonvollem Alt eine sentimentale Ballade. In jenen Rhythmen weinte das Leben. Die Sehnsucht. Graue Tage, in den Staub gedrückt. Und Bitterkeit, Hunger und Verzweiflung. Denn es starb ein Dichter stiller Balladen, nervöses Kind vom Ende eines Zeitalters und wir weihten ihm eine Totenfeier.

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Clitandre wurde ernst. Pulcinella im Trauergewand wischte sich unterm Schleier die glänzenden Tränen. Pierrot und jene ganze Bande von Nichtsnutzen mit zotigen Witzen dachte an etwas. – Eh, bien. Und wie der Mond flammte, sang Loris, und schwarze Schatten tanzten im Trauertempo Menuett.] (Toman 1898)

Auf die Verbindung zwischen Toman, Hlaváček und Hofmannsthal hat zu Beginn der 1980er-Jahre Růžena Grebeníčková in einem Artikel aufmerksam gemacht, der auch auf die überraschende Unkenntnis von Hofmannsthals Pseudonym bei den Herausgebern von Tomans Werken hinwies (Grebeníčková 2015: 753-756). Durch intertextuelle Bezüge verband Toman Hlaváčeks Poetik mit zwei Dichtern – durch den Titel mit Paul Verlaine (und dessen Gedichtband Fêtes galantes) sowie mit Loris, dessen Namen er als intime Chiffre in die zweite und die abschließende Strophe einfügte. Verlaine war in der tschechischen Literatur ein bekannter und übersetzter Dichter und eine Reihe von Kritikern bilanzierten nach seinem Tod im Januar 1896 sein Werk (Chirico 2000). Laut Grebeníčková erwählte Toman nicht ohne Vorsatz „snivého, něžného, mladého a krásného Hofmannsthala, autora Blouda a smrti, jako kongeniálního vrstevníka českého dekadentního básníka“ [den verträumten, zärtlichen, jungen und schönen Hofmannsthal, den Autor von Der Tor und der Tod zum kongenialen Zeitgenossen eines tschechischen dekadenten Dichters] (Grebeníčková 2015: 755). Der bezwingende Gesang des „träumerischen Loris“ in einer imaginären exotischen und ästhetisierten Landschaft, möglicherweise in einem Gewächshaus („unter Palmen“), ist eine Musik des Todes. Durch Musik, nicht in Worten, drückt sich der Tod aus – „Das ist der Tod. Der ist Musik geworden“, so ein Vers aus dem Gedicht Erlebnis (1892), in welchem auf Musik/Tod, „süß und dunkelglühend“, ein lautloses Weinen „in meiner Seele nach dem Leben“ (Hofmannsthal 1979a: 19) antwortet. Im lyrischen Drama Der Tor und der Tod weckt die Musik, die der Künstler/ Tod hervorbringt, in der Hauptfigur, dem Ästheten Claudio, wenn auch zu spät, das zuvor betäubte Leben. In Tomans Galantní slavnost ist der Gesang des Todes und der Leidenschaft die Musik von Hlaváčeks vergangenem Leben, das darüber hinaus durch soziales Leiden erkauft wurde, „hořkostí, hladem, zoufalstvím“ [durch Bitterkeit, Hunger und Verzweiflung]. Die Brücke zu Hofmannsthal schlagen laut Grebeníčková „melancholické

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rokoko v  dekadentní poezii, watteauovský pierrot, stříbrný třpyt obrazu, dekorace, všechno, co předstírá jen povrch, úzkostlivě skrývá hloubku“ [das melancholische Rokoko in einer dekadenten Poesie, der Watteau’sche Pierrot, der Silberglanz des Bildes, das Dekor, alles, was Oberfläche nur vortäuscht und Tiefe ängstlich verbirgt] (Grebeníčková 2015: 755). Die Rokoko-Motive, die auf Hofmannsthals bekannten Prolog zu  dem Buch „Anatol“ (Hofmannsthal 1979a: 59-61) von Schnitzler verweisen,10 finden sich in den letzten drei Strophen des Gedichts, wohingegen Loris’ sommerliche Gartenszene von Watteau’scher Farbigkeit sich in eine nächtliche Szenerie verwandelt, in der plötzlich ernst gewordene leichtsinnige, ironische Figuren (Pierrot, Clitandre, Pulcinella) einen Grabestanz vollführen („ty černé stíny tancovaly / v  smutečním tempu menuet“ [und schwarze Schatten tanzten / im Trauertempo Menuett]). Tomans Gedicht ist der vielsagende, dabei einmalige Fall einer tschechischsprachigen Hofmannsthal-Rezeption in den 1890er-Jahren. Schwer einzuschätzen, inwieweit die Anspielungen auf Loris für zeitgenössische Leser entzifferbar waren und ob von seinem Schaffen mehr bekannt war als der Prolog zu Anatol. Wenn wir darüber nachdenken, ob Hofmannsthal unter tschechischen Künstlern und Kritikern bekannt war, müssen wir in Erwägung ziehen, dass er die Mehrzahl seiner Gedichte in den Blättern für die Kunst veröffentlichte, die 1892 gegründet wurden und deren erste Jahrgänge wegen der strengen Exklusivität der Aufmerksamkeit der tschechischen Moderne entwichen. Ähnlich erschienen Georges Gedichtbände bis 1898 in einer Auflage von 100-200 Stück und die erste Rezension in einer tschechischen Zeitschrift erschien erst im Jahre 1901 aus der Feder des in Wien ansässigen Camill Hoffmann. Der Germanist Jan Krejčí, Autor einer ersten umfassenden tschechischen Studie, bezeichnete die George-Ausgaben und die Blätter für die Kunst ebenfalls und mit Bedauern als intim und nur Eingeweihten zugänglich (Krejčí 1904: 115-135).11 Nachdem George begonnen hatte, seine Bände öffentlich herauszugeben, stieg die Auflage der Blätter für die Kunst 10  Drei Einakter aus Anatol wurden übrigens 1897 im Smíchover Švanda-Theater gespielt, der gesamte Zyklus erschien in der Übersetzung von Karel Švanda ze Semčic, das lyrische Vorwort übersetzte Antonín Klášterský. Toman jedoch kannte die Verse eher aus dem Original, wofür allein die Tatsache spricht, dass das Hauptmotiv des Gedichts Galantní slavnost Loris’ Gesang ist, der in Klášterskýs Übersetzung verloren geht. 11  Krejčís Auswahl an Persönlichkeiten (seine Arbeit umfasst Studien zu Julius Hart, Hermann Conradi, Ludwig Jacobowski, Johannes Schlaf, Richard Dehmel, Stefan George, Bruno Wille und Detlev von Liliencron) entspricht dem damaligen tschechischen Blick

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auf mehrere Tausend. Seine Berühmtheit wuchs, und das zugleich auch in der tschechischen Literatur. Bekannt war auch Hofmannsthals Gespräch über Gedichte aus dem Jahre 1904, das insbesondere Georges absolute Auffassung von Dichtkunst anhand der Sammlung Das Jahr der Seele von 1897 behandelte (eine erste öffentliche Ausgabe erschien 1899). Die Rezeption von Hofmannsthals Lyrik erschwerten auch deren verspätete Buchausgaben. Bereits in den 1890er-Jahren bemühte sich die tschechische Moderne um eine systematische Reflexion der neuen deutschen Lyrik, man referierte über Arno Holz, Richard Dehmel, Richard Schaukal, Felix Dörmann, R. M. Rilke und einer Reihe weiterer Dichter. Den Impuls gaben jedoch immer Gedichtsammlungen. Hofmannsthals Lyrik war dagegen in Zeitschriften verstreut, erst 1903 gaben die Blätter für die Kunst eine erste Auswahl heraus. Ein Jahr später erschien eine zweite, erweiterte Ausgabe, 1907 folgten die gesammelten Gedichte im Insel Verlag. Diese Ausgabe rezensierte Arne Novák und bezeichnete sie als lyrisches Buchdebüt,12 was nahelegt, dass die vorangegangenen Ausgaben ins tschechische Bewusstsein nicht allzu weit vorgedrungen waren. Novák geht zunächst auf die Einfügung der verschiedenen Gedichttypen in das sinnreich durchkomponierte Ganze ein. Der Dichter sei für ihn ein „milenec slova a kouzelník básnického obrazu“, „lyrický charakter tíhnoucí k  stylizaci, nenávidějící improvizaci“ [Liebhaber des Wortes und ein Zauberer des dichterischen Bildes; der lyrische Charakter neigt zur Stilisierung, verabscheut die Improvisation]. Einige Gedichte erinnern durch ihre Liedhaftigkeit zwar an Goethes Schlichtheit oder an die Einfachheit von Volksliedern, Hofmannsthals Naturell sei dennoch in Bezug auf eine reiche künstlerische Tradition zu verstehen: […] jeho vlastní je složité, kulturním vědomím dlouhé umělecké tradice zatížené, rafinované a nádherné veršové umění, jak je vytvořili formalistní básníci parnasistští a dekadentní: báseň, toť obraz zvláštního koloristického ladění, zachycení postavy v barevných mlhách nálady, tvarová inkarnace celé duše doby, celého tajemství osudu. [[…] seine eigene ist eine komplexe, durch das kulturelle Bewusstsein einer langen künstlerischen Tradition schwer gewordene, raffinierte und großartige Verskunst, wie sie die formalistischen Dichter der Parnassiens und der Dekadenz schufen: das Gedicht, ja das auf die deutsche Moderne und ihre hervorstechenden Persönlichkeiten und Strömungen. Hofmannsthal wird hier nur in Zusammenhang mit George erwähnt. 12  „[…] básník dal vše, co za 15 let prožil i stvořil a může odejít. Divák však ví, že tento symfonický celek byl pouze jedinou větou a čeká rád na další“ [[…] der Dichter hat alles gegeben, was er in 15 Jahren durchlebte und erschuf, und kann nun gehen. Der Zuschauer jedoch weiß, dass dieses symphonische Ganze erst ein einziger Satz war, und wartet gern auf weitere] (Novák 1907: 786).

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Bild einer besonderen koloristischen Stimmung, das Festhalten einer Figur in den farbigen Nebeln einer Laune, von ihrer Gestalt her die Inkarnation der ganzen Seele einer Zeit, des ganzen Geheimnisses eines Schicksals.] (Novák 1907: 785)

Ein vollkommener moderner Stil bei gleichzeitiger Anknüpfung an die Tradition, die gegenseitige Durchdringung von Vergangenem und Gegenwärtigem, von Individuellem und Überindividuellem, dies waren die Gründe, warum Novák Hofmannsthals Lyrik gerade in einer Zeit so hoch bewertete, in der er dazu anhob, auch die tschechischen Dichter zur schöpferischen Rückkehr zur Tradition aufzurufen. Die Lektüre der Gesamtausgaben inspirierte offenbar auch S. K. Neumann, der sein Gedicht Složil jsem vesla [Ich lag die Ruder nieder] von 1907 mit einem (verballhornten) Motto aus Hofmannsthals Drama Gestern, einführte.13 Im Jahre 1907 erschienen neben den gesammelten Gedichten Hofmannsthals Prosawerke in vier Bänden, in die neben Erzählungen auch Kritiken, Essays, Reden und Besprechungen aufgenommen wurden. Schon 1904 druckten die Literární listy [Literarische Blätter] den Essay Victor Hugo (wenn auch nur einen Teil – die Zeitschrift wurde eingestellt), der ursprünglich Teil von Hofmannsthals Habilitationsschrift aus dem Jahre 1901 war (und ein Jahr später als Zeitschriftenveröffentlichung herauskam); die Tendenz zum Essay und zur Beseitigung von Genregrenzen zwischen Belletristik und Kritik war auch für die tschechische Kritik des ersten Jahrzehnts charakteristisch. Über Essays, „jež rády využívají rámce dialogu, dopisu, rétorické přednášky“ [die gerne den Rahmen eines Dialogs, eines Briefs, einer rhetorischen Vorlesung verwenden], berichtete äußerst positiv wiederum Arne Novák: Die „Prosa“Texte zeigen Hofmannsthal in seinen Augen als Dichter und Ästheten, als „poetu, tíhnoucího k básnické i životní renesanci“ [Poeten, der zu einer Renaissance in Dichtung sowie Leben neigt] (Novák 1907: 658). Durch die Gesamtausgaben stieg wesentlich das Bewusstsein vom Umfang und Wesen des Hofmannsthal’schen Schaffens; seine Rezeption kam auch der ver13  Die zweite Ausgabe dieser „dramatischen Studie in einem Akt in Versen“ erschien 1904. Neumann wählte ein Motto aus der zehnten und letzten Szene, in welcher der Verrat der Geliebten die Beziehung des Helden Andrea zu Vergangenheit und Gegenwart verändert. Das Vergangene ist nicht das, was aufhört zu existieren, sobald es verrinnt, sondern beeinflusst die Gegenwart auf schmerzhafte Weise. Gleichzeitig erlebt Andrea die fundamentale Vereinsamung des Menschen; gerade diese Verse wählte Neumann, wenn auch ein Tippfehler ihnen ihren ursprünglichen Sinn raubte: anstatt „es durchweht mich ein Erkennen, / Wie grenzenlose Weiten Menschen trennen! / Wie furchtbar einsam unsre Seelen denken“ in der  Moderní revue steht im ersten Vers „es durchweht nicht ein Erkennen…“. Ein Fehler hat sich auch in den Titel des Werks eingeschlichen – dort heißt es „Gestren“ anstatt „Gestern“ (Neumann 1907).

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änderten künstlerischen Situation zugute, in der sich die Bemühungen von Kritikern und Künstlern auf die vielfältige Suche nach „neuer Synthese“ ausrichteten, in der Stil „je stále ideou vrcholné syntézy“ [beständig die Idee von höchster Synthese war] (Vojtěch 2008: bes. 100f.). Die Autoren, die Hofmannsthals Werke im ersten Jahrzehnt beurteilten, waren jüngere Kritiker, neben Otokar Fischer und Arne Novák waren darunter Josef Kodíček, Hugo Siebenschein, František Kubka oder Miloš Marten. Ihre Texte finden wir in Lumír, in Přehled [Die Überschau], in der Moderní revue [Moderne Revue], in Novina [Die Neuigkeit], in Česká kultura [Tschechische Kultur], in Theaterzeitschriften und weiteren Periodika. Am stärksten wirkte aber im tschechischen Kontext Hofmannsthals Schaffen der 1890er-Jahre – wie später Fischer anmerkte, blieb Hofmannsthal für die Tschechen der Dichter kleiner Dramen (Fischer 1929b). Diese Rezeption wurde jedoch beeinflusst von dem großen Anklang, den seine neuen Werke in der deutschen und österreichischen Presse fanden, nach 1909 auch durch den Erfolg der StraussOpern nach Hofmannsthal-Libretti. Strauss’ Elektra erlebte ihre geglückte Premiere am tschechischen Nationaltheater am 24. April 1910 unter dem Dirigat von Karel Kovařovic, der die Oper auch übersetzt hatte, mit Anna Slavíková in der Hauptrolle.14 In den Jahren unmittelbar vor dem Krieg wirkte Hofmannsthals Schaffen aktiv auf die tschechische Literatur ein, wenn es auch nicht eine derart intensive und formative Inspiration darstellte wie Frank Wedekind (insbesondere für den Kreis um die Zeitschrift Scena).15 Die Einstellungen waren breit – Hofmannsthal wurde sowohl warm aufgenommen als auch entschieden abgelehnt (so bewertete Miloš Marten [1913] seine Stücke als undramatisch, ja durch ihren „lyrischen Impressionismus“ als gefährlich für die weitere Ausrichtung des modernen Dramas), er wurde zum Gegenstand von Auseinandersetzungen (beispielsweise zwischen Fischer und Šalda).16 14  Als „triumf reprodukčního umění naší první operní scény“ [Triumph der reproduktiven Kunst unserer ersten Opernbühne] begrüßte sie Antonín Šilhan (1910) in der Wochenzeitschrift Přehled. 15  So beendete Josef Kodíček seine ansonsten entgegenkommende Besprechung über die Einführung von Hofmannsthals Der Tor und der Tod (s.u.) mit einer Empfehlung Wedekinds gegenüber den Autoren, deren Ästhetik dem Symbolismus verhaftet sei. 16  In der Polemik ging es hauptsächlich um die Problematik einer nicht ausreichend kontinuierlichen dramatischen Tradition in tschechischer Sprache. Es ging um die Frage von künstlerischer Individualität und ihrer Beziehung zu überindividuellen Werten, um die Ausrichtung neuen dramatischen Schaffens von impressionistischen Stücken hin zum Ideen- und Massendrama. In diesem Rahmen lehnte Šalda Fischers Bewertung von Karáseks Stück Cesare Borgia als einer der Marksteine des tschechischen historischen Dramas ab

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Die Schwierigkeiten bei der Übertragung seiner Werke ins Tschechische regten Über-legungen zum Wesen des künstlerischen Übersetzens an (s.u.).

2. Elektra – neue Bühnenästhetik und Psychoanalyse Fischers erste Theaterbesprechung, die gedruckt wurde, bezog sich auf Inszenierungen von Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal und Oscar Wilde in Berlin, wo er im akademischen Jahr 1903/1904 studierte (Topor 2015). Durch glückliche Umstände fand er das Deutsche Theater in einem Augenblick grundlegender Veränderung vor, nachdem Max Reinhardt nach der Trennung von Otto Brahm 1902 das Kleine Theater gegründet hatte. Brahms realistisch-naturalistische Adaption von Hauptmanns Rose Bernd im Deutschen Theater begeisterte Fischer weniger, die Hauptfigur erschien ihm nicht überzeugend; es sei nicht gelungen, „mocnou sugescí v divákovi vzbuditi dojem lítosti a hrůzy, jenž bez odporu by musel povstati, kdyby Rose byla takovou, jakou sama se líčí“ [durch eine starke Suggestion im Zuschauer den Eindruck von Bedauern und Schrecken zu erwecken, der sich ohne Widerwillen in ihm regen müsste, wenn Rose jene wäre, als die sie sich selbst gibt.] (Fischer 1903). Die Premiere von Rose Bernd fiel auf den Tag nach einer Elektra-Vorstellung in der Regie Max Reinhardts. Der Erfolg Elektras – wie sich auch Hofmannsthal notierte – überflügelte das Echo auf und bezeichnete es als „odvar z odvaru Hofmannsthalova“ [Abklatsch eines Hofmannsthal-Abklatsches], wohingegen er in Hofmannsthal selbst – angeblich in Übereinstimmung mit der allgemeinen Bewertung in Deutschland – kein zukünftiges dramatisches Potential erkennen konnte: „Dnes vědí v  Německu všichni lepší lidé, že od Hofmannsthala není možno očekávati dramatických činů, které by prošlehly tmu budoucnosti; že všecko, co může dát, jsou jen jemné pozdní květinové věnce zimomřivého básnického pohrobka“ [Heute wissen in Deutschland alle besseren Leute, dass von Hofmannsthal keine dramatischen Taten zu erwarten sind, die das Dunkel der Zukunft durchdringen könnten; dass alles, was er zu geben vermag, nur leichte, späte Blumenkränze eines verfrorenen dichterisch Nachgeborenen sind] (Šalda 1911a: 329; in Novina erschienen dann noch zwei weitere Reaktionen von seiner Seite: Páně Fischerovy Experimenty [Des Herrn Fischers Experimente]; Pan Otokar Fischer… [Herr Otokar Fischer], Šalda 1956: 330-332), die Polemik betraf v. a. Jiří Karásek und die Definition von Experiment, siehe Fischers Texte Dramaturgické poznámky 2. Experimenty [Dramaturgische Bemerkungen 2. Experimente] und Dramaturgické poznámky 3. Aktuality [Dramaturgische Bemerkungen 3. Aktuelles] (Fischer 1911a, 1911b); zur Verteidigung Jiří Karáseks gegen Šalda trat auch Arnošt Procházka (1911) an.

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Hauptmanns Stück deutlich (Wunberg 1972: 132). Reinhardts neue Theaterästhetik und sein Improvisationstalent zogen Hofmannsthal an. Früh hatte er in ihm den idealen Regisseur für eine ganze Reihe seiner Dramen gefunden. Beide forderten die Herausbildung einer neuen Wirklichkeit vermittels Schauspielerei, die in der Lage wäre, starke wie leichte emotionale Erschütterungen durch Stimmmodulation und eine reiche, differenzierte Gestik und Mimik auszudrücken. Das Ideal war ein suggestives, rhythmisiertes Ganzes, das auf der Bühne im Zusammenspiel aller Bestandteile von Bewegung, Raum, Visuellem und Akustischem zustande kommt. Hofmannsthal traf Reinhardt und die Schauspielerin Gertrud Eysoldt erstmals bei Hermann Bahr im Frühjahr 1903, als das Kleine Theater in Wien debütierte. Hofmannsthal schrieb seine Elektra für Eysoldt17 und bereits am 30. Oktober desselben Jahres hatte das Stück in Berlin Premiere. Dieser Versuch, einen griechischen Mythos zu erneuern, wurde zum bedeutenden Ereignis in der Geschichte des Deutschen Theaters. Auch auf Fischer wirkte Reinhardts neue Theaterästhetik stärker als Brahms auf Vorlagentreue wie auf realistisches und historisches Detail abzielende Regie. In seinen szenischen Anmerkungen betonte Hofmannsthal einige Male, die Ausstattung müsse von „antikisierenden Banalitäten“ wie Kolonnaden, breiten Treppen oder an die Zeit angelehnten Kostümen befreit werden. Der Bühnenbildner solle mit Andeutungen arbeiten, mit Farbsymbolik, dem Kontrast von Licht und Dunkelheit, um auf der Bühne ein traumgleiches Bild zu evozieren. Der Raum und die Kostüme drücken symbolisch die Psychologie der Hauptfigur aus, daher soll die Bühne bedrückt und finster sein, beleuchtet allein durch das flackernde Licht der Fackeln oder durch blutrote Lichter (Hofmannsthal 1979b: 240-242). Im Zentrum steht nicht das Wort, sondern die Visualität: „Wer die Bühne aufbauen wird, muß durchs Auge gelebt und gelitten haben“ (Die Bühne als Traumbild; Hofmannsthal 1979c: 492). Die Betonung des Bildes und des Sehens hängt auch mit Hofmannsthals Sprachskepsis zusammen. Aus der genialen Körpersprache Gertrud Eysoldts entstand in seiner Auffassung eine erneuerte Bedeutung der Worte. Fischer ging in seiner kurzen Besprechung der drei Stücke auf die Leistung dieser Schauspielerin nicht ein, in seiner Korrespondenz bewertete er sie eher zurückhaltend (Topor 2015: 197). Auf viele, auch moderne Kritiker, zum Beispiel den Berliner Korrespondenten der Neuen Freien Presse,

17  Vgl. die Erinnerung Gertrud Eysoldts an dieses Treffen und ihre Korrespondenz mit Hofmannsthal in Fiedler (1996).

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Paul Goldmann, wirkte Eysoldt verkrampft, ja geradezu abstoßend.18 Die Schauspielerin schrieb, nachdem sie Hofmannsthals Text kennengelernt hatte, von ihrer Panik und Furcht vor dem Leiden, das sie in der Rolle der Elektra nicht nur darstellen und durchleben, sondern wofür sie aus ihren eigenen vergangenen und unterdrückten Schmerzen würde schöpfen müssen (Fiedler 1996: 9). Über den Hass als die absolute, „nackte“, triebhafte Emotion, die sie erzielt habe, schreibt auf expressive Weise ihr Anhänger Hermann Bahr: Die Elektra der Gertrud Eysoldt gehört zum Stärksten der heutigen Schauspielkunst. Hier ist die Welt zu, der Atem der Menschheit stockt. Ein Wesen, ganz ausgesaugt und ausgehöhlt von Leid; alle Schleier zerrissen, die sonst Sitte, freundliche Gewöhnung, Scham um uns zieht. Ein nackter Mensch, auf das Letzte zurückgebracht. Ausgestoßen in die Nacht. Haß geworden. Haß essend, Haß trinkend, Haß speiend. Wund vor Haß, geil vor Haß, toll vor Haß: Nicht mehr irgendein Wesen, das haßt, sondern der Haß selbst. Schreie, wie aus ferner Urzeit her, Tritte des wilden Tieres, Blicke des ewigen Chaos. Grässlich, sagen die Leute, zusammenschauernd. Grässlich. Aber eben darin griechischer, als es jemals die Kunst der strengen Linie, der klugen Mäßigung, der zarten Stille sein kann. Denn Griechisch ist: aus Grässlichem Schönheit zu holen. (Wunberg 1972: 137)

Auch Fischer versuchte, die suggestive Atmosphäre und deren Steigerung zu evozieren: Sotvaže se setmí v sále a s jeviště tonoucího ve světle zvláštní intenzity se ozvou prvá slova, vládne pocit, jako by neviditelná ruka obtočila smyčkou hrdlo divákovo, stále těsněji ji zadrhujíc, až se zatajuje dech, dojem ten dostoupil nejvyššího stupně, když Elektřina sestra bije o kovové dvéře zavřeného paláce a do vzduchu prosyceného krví a jásotem vpadá její srdcervoucí volání: ‚Oreste, Oreste!‘ – Ticho. Opona. [Kaum ist es im Saal dunkel geworden und von der Bühne, die in ein Licht besonderer Intensität getaucht ist, tönen die ersten Worte, herrscht ein Gefühl, als werde von unsichtbarer Hand eine Schlinge um des Zuschauers Kehle gelegt und immer enger gezogen, bis einem der Atem stockt, dieser Eindruck hat die höchste Gradzahl erreicht, wenn Elektras Schwester an die metallene Tür des verschlossenen Palasts schlägt und in die von Blut und Jauchzern schwangere Luft hinein ihr herzzerreißender Ruf erschallt: ‚Orest, Orest!‘ – Stille. Vorhang.] (Fischer 1903: 237)

Auch zu Hofmannsthals Antikeverständnis, das von der deutschen Kritik durch seine Hysterie, Körperlichkeit, leidenschaftliche Wollust, durch seinen 18  In einem weiteren Artikel wandte sich Goldmann rasant gegen Hofmannsthals Erfolg und schrieb über Eysoldt: „Frau Eysoldt macht sich aus der Elektra ein Fest. Da gibt es kein Maß, keine Zurückhaltung mehr. Was in der Dichtung bereits schwer zu ertragen ist, übertreibt sie bis zur Unerträglichkeit. Die Schlussszene beispielsweise, wo Elektra, als sei ihr das Blut der Mutter wie Wein zu Kopf gestiegen, auf dem Hofe herumtanzt, gehört zum Abscheulichsten, das man je auf der Bühne gesehen hat.“ (Wunberg 1972: 117)

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Orientalismus, kurz: durch einen deutlichen Widerspruch zu Winckelmann und Goethe zutiefst kontrovers wahrgenommen wurde, konnte er sich nicht enthalten. Elektra hängt mit Sophokles’ Prätext nur lose zusammen, durch die äußere Handlung, wie bekannt, wurde der Chor weggelassen, und der Einfluss der Götter unterdrückt („Ich habe die Götter nie gesehn,“ sagt Elektra zu Orest). Hofmannsthal subjektivierte das Drama und konzentrierte es auf die traumatisierte Seele Elektras, sodann auf ihre Mutter und Schwester. Die Heldinnen stellen sich Fischer nervös dar, kränklich: Hofmannsthalovy postavy všecky jsou rozervány a nervózní, všemi lomcuje choroba touhy a touha po vášni. Pro jednání jejich nalezl básník naprosto nové pohnutky. Elektra není nástrojem a hlasatelkou vůle bohův olympských, nýbrž v jejím srdci se zahnízdila ničivá jiskra záští, vložená přílišnou láskou k otci, a plamen, který byl tak vznícen, zachvátil všechny její city, rozmetal základy její cudnosti a pohltil všechnu její ženskost: a po požáru nezbylo v jejím nitru než černá myšlenka, jež křičí po pomstě a v příšerné to volání mísí se závist vůči těm, kteří žijí a svým životem její bytí zničili. [Hofmannsthals Figuren sind alle zerissen und nervös, an allen rüttelt die Krankheit der Sehnsucht und die Sehnsucht nach Leidenschaft. Für ihr Tun fand der Dichter gänzlich neue Beweggründe. Elektra ist nicht Werkzeug und Sprecherin eines olympischen Götterwillens, sondern in ihrem Herzen hat sich der verheerende Funke des Hasses eingenistet, hineingebracht durch die übergroße Liebe zu ihrem Vater, und die Flamme, die so entzündet wurde, übermannte alle ihre Gefühle, zerriss die Grundlagen ihrer Sittsamkeit und verschlang ihre Weiblichkeit ganz: und nach dem Brand blieb in ihrem Innern nichts als ein schwarzer Gedanke, der nach Rache schreit, und in diesen abscheulichen Aufruf mischt sich die Missgunst gegen jene, die leben und deren Leben ihr Dasein zerstört.] (Fischer 1903: 237)

Laut Bahr kehrte Hofmannsthal zum Wesen der griechischen Seele zurück, welche chaotisch war, zerrüttet, dunkel, solange sie nicht in Ketten gelegt, „geheilt“ wurde durch die Tragödie. Fischer hingegen bezeichnete das Drama als „unhellenisch“, denn „romantická a neřecká jest celá sžíravá touha nežitého života“ [romantisch und ungriechisch ist die ganze gefräßige Sehnsucht des ungelebten Lebens].19 Dies war jedoch kein Grund, sich den Kritikern anzuschließen, die sich über die Darstellung der Antike empör19  In seinem Nachruf auf Hofmannsthal charakterisierte Fischer Elektra noch ein weiteres Mal: „Elektra usiluje o to, postaviti nietzscheovskou, dionýskými vášněmi překrvenou antiku na moderní jeviště, vyzvedajíc to, co pod zdánlivě harmonickým povrchem starověku bylo romanticky předrážděného, ba duševně i smyslně chorobného“ [Elektra ist bestrebt, eine an blutigen dionysischen Leidenschaften reiche Antike nach Art von Nietzsche auf die moderne Bühne zu bringen, das emporhebend, was unter der scheinbar harmonischen Oberfläche des Altertums romantisch überreizt war, ja an Sinn und Seele krank] (Fischer 1929a: 263).

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ten, wie sie aus Studien von Bachofen, Burckhardt, Nietzsche und Rohde und wohl auch aus Unterredungen mit Bahr hervorging, dessen Dialog vom Tragischen im selben Jahr erschien.20 Durch Verwendung der Partikel „prý“ [angeblich] drückt Fischer selbst seine Vorbehalte gegenüber dem klassischen Ideal aus: „[…] nechci tím říci, že snad pohřešuji u Hofmannsthala onu prý antickou harmonii a veselost, kterou do řeckého starověku vkládala německá klasika […]“ [[...] damit möchte ich nicht sagen, dass mir bei Hofmannsthal etwa jene angeblich antike Harmonie und Fröhlichkeit fehlte, welche durch die deutsche Klassik in das griechische Altertum hineingelegt wurde [...]] (Fischer 1903: 238). Hofmannsthal selbst verwies auf die Inspiration durch biblische Texte (das Echo des Hohelieds im Dialog zwischen Elektra und Chrysothemis) und Shakespeares Hamlet (Elektra beschwört jeden Abend den Geist ihres toten Vaters). Fischer beobachtet in der sinnlichen Exaltiertheit Elemente mittelalterlicher Mystik: Elektras zanícená láska k mrtvému otci má cosi obdobného ve smyslné lásce jeptišek ke Kristovi, mystickému ženichovi. V  mnohých slovech splývají veškeré city s erotickou extází. Tlumená smyslnost sálá z každého jejího slova, v křečích smyslnosti se svíjí před sestrou, hladíc její štíhlé nohy, zbožňujíc její krásu a zapřísahajíc ji, by byla nápomocna při pomstě, a její obrazy a srovnání jsou chorobné tělesnosti. [verzückte Liebe zum toten Vater hat etwas von der sinnlichen Liebe der Nonnen zu Christus, ihrem mystischen Bräutigam. Wortreich fließen sämtliche Gefühle in erotischer Ekstase ineinander. Die gedämpfte Wollust strömt aus jedem ihrer Worte, in Krämpfen der Wollust windet sie sich vor der Schwester, deren schlanke Beine streichelnd, ihre Schönheit vergötternd und sie beschwörend, sie möge ihr bei der Rache behilflich sein, und ihre Bilder und Vergleiche sind krank vor Fleischlichkeit.] (Fischer 1903: 237f.)

Elektra lehnt es ab, den Vatermord zu vergessen, sie lebt unter dem Einfluss einer schrecklichen Vergangenheit, die sie Abend für Abend erneut wie unter Hypnose durchlebt, der Hass nährt sie und kaum ist sie dazu in der Lage, das gegenwärtige Geschehen oder das Vergehen der Zeit zu begreifen. In der Gegenwart kann sie auch nicht handeln, wie Fischer bemerkte: „[J]est prorokyní, ale není účastna činu“ [Sie ist Prophetin, aber nicht an der Tat beteiligt] (Fischer 1903: 237). Elektra stellt eine typische literarische Figur der Jahrhundertwende dar, welche „celou tíhu života myšleného“ [das ganze Gewicht gedachten Lebens] trägt. Bereits zur Zeit der Premiere wurde sie in Beziehung zur aktuellen Psychiatrie und zu Sigmund Freuds und Josef 20  Als Zeitschriftenbeitrag zunächst 1903 in der Neuen deutschen Rundschau, im gleichnamigen Essayband ein Jahr später, tschechisch wiederum in Jaroslav Vogls Übersetzung 1911 in der Zeitschrift Divadlo.

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Breuers Hysterie-Studien gelesen. Es war der Kritiker und Chefredakteur der Wochenzeitschrift Die Zukunft, Maximilian Harden, der 1904 erstmals auf einen möglichen Einfluss von Freuds und Breuers Hysterie-Studien auf Hofmannsthal aufmerksam machte (laut ihm hatten Schnitzler und Bahr die Verbindung hergestellt; Wunberg 1972: 82-86). Eine psychoanalytische Auslegung kann ein einzigartiges Kunstwerk auf die Bestätigung einer Theorie reduzieren,21 auf der anderen Seite ist Elektra ohne die Entstehung und Blütezeit der Psychoanalyse und ohne die Neuinterpretation des griechischen Altertums undenkbar. Fischer war sich der drohenden Einseitigkeit einer psychoanalytischen Interpretation durchaus bewusst, gleichzeitig verstand er jedoch, dass sie neue Möglichkeiten der literarischen Interpretation bot (wie er sie später beispielsweise in seiner Studie über Träume in Gottfried Kellers Grünem Heinrich anwendete, Fischer 1908b). Fischer widmete sich den Zusammenhängen zwischen der Wiener Psychoanalyse und Hofmannsthals Werk in seinem späteren Text Sen a přání [Traum und Wunsch]. Darin konzentriert er sich zunächst auf Freuds Theorien aus der Traumdeutung und setzt sie sodann in Bezug zum Drama Ödipus und die Sphinx, dem zweiten Teil einer geplanten Antike-Trilogie (1905, Premiere am 2. Februar 1906 am Deutschen Theater in Berlin). Fischer verfolgte auch den Gedanken, wie gerade die zeitgenössische Psychoanalyse sich in der Erfassung eines antiken Themas abzeichnete, und verwendete hierbei schon explizit den Begriff Hysterie. Hofmannsthals Verständnis von Schicksal unterscheide sich zwar nicht grundlegend von der antiken Vorstellung, neu und rein Hofmannsthal’sch sei jedoch die Hysterie, „již vkládá v duši svých hellenských reků“ [die er in die Seele seiner hellenischen Helden legt] (Fischer 1907b: 1), und die sich vor allem im Traum auswirke. Fischer übersetzte die Verse, welche die Priesterin zu Ödipus brachte22 und die in seinen Augen die Behauptung belegen, „že vídeňská poezie a vídeňská filozofie mají něco společného, co jim umožňuje bráti se různými cestami k stejným metám“ [dass die Wiener Poesie und die Wiener Philosophie etwas gemeinsam haben, was es ihnen ermöglicht, auf verschiedenen Wegen zu denselben Zielen zu gelangen] (Fischer 1907b: 2). Mit der zitierten „Wiener Philsophie“ hatte Fischer nicht nur Freuds Denken im Sinn, sondern auch die erwähnten Essays von Hermann Bahr. Es ist kein Zufall, dass sich Fischer in zwei Rezensionen mit Bahrs Zyklen 21  Zur Kritik an psychoanalytischer Interpretation vgl. z. B. Nehring (1991); von Freuds Prämissen gingen Heinz Politzer (1973) und Michael Worbs (1983) aus. 22  […] „des Erschlagens Lust / hast du gebüßt am Vater, an der Mutter / Umarmens Lust gebüßt, so ists geträumt, / und so wird es geschehen“ (Hofmannsthal 1979b: 397).

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Dialog vom Tragischen und Dialog vom Marsyas auseinandersetzte. Gerade Bahrs Essays über das Wesen des Tragischen und dessen Bedeutung für die antike Tragödie (in seinen Augen heilte es die Hysterie der Griechen) und seinen Platz in der Literatur seiner Zeit sind für Fischer klarer Beweis dafür, wie sich Freuds Theorien „aplikují na kulturní a literární problémy“ [auf kulturelle und literarische Probleme applizieren lassen] (Fischer 1907b: 2). Fischer verkannte Bahrs literarischen und kulturellen Einfluss nicht, war ihm gegenüber jedoch kritisch eingestellt. Als ausgebildetem Germanisten, Philologen sowie Theaterkritiker kam ihm Bahrs Denken oft flach vor und nicht ausreichend durch historisches Wissen begründet. Er polemisierte vor allem gegen seine Interpretation des Tragischen und die These, dass die neue Poesie nicht tragisch sein solle, da die moderne Seele der Tragödie nicht derart bedürfe, wie der griechische Mensch sie erfordert habe: A co se týče základního problému o tragičnosti či netragičnosti budoucí poezie: což lze moderní drama měřiti stejně jako řeckou tragédii? A zakládá se řecká tragédie vskutku na nějakém atavismu barbarství? Pro Bahrovo pojetí ‚tragiky‘ ostatně nejlepší a snad jedině správný doklad by podalo drama středověku: tam hrůza na jevišti, fingovaná ukrutnost, děsná muka světců v mystériích, umrtvovala skutečnou brutalitu diváků, kteří, podobně jako účastníci římských gladiátorských zápasů, nemohli nasytiti svou krvelačnost. Ale s těmito vášněmi nemá ‚katarze‘ moderním dramatem vyvolaná naprosto nic společného – a Bahr se obrací ani ne tak proti Řekům, jako proti Shakespearovi; – tu jsou karaktery příliš složité, aby se daly uvésti na formulku ‚zlého‘ pudu. Ba skoro má pravdu umělec v ‚dialogu‘, míní-li, že ‚mistr‘ vůči tragédii stojí jako policejní úředník. Bahr se snaží vyloučiti z vývoje dnešního a zítřejšího člověka element ‚tragický‘. Nebohý člověk budoucnosti! Či spíše blaze panu Bahrovi, dovede-li sám s sebou a docela ‚netragicky‘ se vypořádati při střídě extází a depresí, dovede-li s tak klidnou myslí přejíti přes velkou a bolestnou odluku člověka od jeho okolí (génia od davu, umění od morálky). Vskutku, tato jeho schopnost by mohla buditi závist! [Und was das grundsätzliche Problem des Tragischen oder Nicht-Tragischen zukünftiger Poesie betrifft: ist es denn möglich, das moderne Drama gleich wie die griechische Tragödie zu bemessen? Und gründet die griechische Tragödie wirklich in einem Atavismus der Barbarei? Den besten und möglicherweise einzig gültigen Beweis für Bahrs ‚Tragik‘Begriff gäbe im übrigen das Drama des Mittelalters her: dort tötete der Schrecken auf der Bühne, die fingierte Grausamkeit, die furchtbare Qual der Heiligen in den Mysterienspielen die tatsächliche Brutalität der Zuschauer ab, die, ähnlich wie die Teilnehmer römischer Gladiatorenkämpfe, ihren Blutdurst nicht stillen konnten. Mit diesen Leidenschaften hat jedoch die ‚Katharsis‘, die das moderne Drama aufruft, nichts gemein – und Bahr wendet sich nicht so sehr gegen die Griechen, als gegen Shakespeare; – hier sind die Charaktere zu komplex, um sie auf die Formel des ‚bösen‘ Triebs herunterbrechen zu können. Aber der Künstler hat im ‚Dialog‘ beinahe Recht, wenn er bedenkt, dass der ‚Meister‘ der Tragödie gegenüber wie ein Polizeibeamter dasteht. Bahr versucht, aus der Entwicklung des heutigen und morgigen Menschen das ‚tragische‘ Element herauszusondern. Armer Mensch der Zukunft! Oder eher: selig der Herr Bahr, wenn er es für sich selbst und

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ziemlich ‚untragisch‘ schafft, mit dem Wechsel von Ekstase und Depression zurande zu kommen, es schafft, mit klarem Kopf hinwegzuschreiten über die große und schmerzhafte Trennung des Menschen von seiner Umgebung (des Genius von der Masse, der Kunst von der Moral). Wirklich, diese seine Fähigkeit könnte einen neidisch machen!] (Fischer 1905: 135f.)23

23  Fischer verfolgte natürlich Bahrs damaligen Einsatz für das tschechische Theater, für die tschechische Literatur und Kultur. In einem seiner späteren Artikel, vor dem Krieg, fasste er die Hauptgründe für dessen Engagement für die Tschechen zusammen: „Čímsi takovým, jako touhou po občerstvení, je patrně z valné části způsoben dnešní zájem o české poměry v německém Rakousku. Za hranicemi přistupuje kulturní zvědavost, Němcům vlastní, zabočující dnes, po zvládnutí skandinávské a ruské literatury, také na přezírané dosud české území. V Rakousku však Němci hledají něco nového, co by je vytrhlo z jejich vídeňské letargie a bylo útěchou v izolovanosti: tomu alespoň nasvědčují jak pronikavé analýzy Bahrovy, tak veřejní stesky pražských literátů, že je jim dusno a těsno a že od styku se slovanským živlem očekávají vzrůst vlastná energie: odtud as i horování pro Dalmácii a nadšení pro temperamentní jihoslovanské drama.“ [Mutmaßlich durch so etwas wie Sehnsucht nach Erfrischung wird zu einem erheblichen Teil das starke heutige Interesse an den tschechischen Verhältnissen im deutschen Österreich hervorgerufen sein. Über die Grenzen tritt die kulturelle Neugier, den Deutschen eigen, hinweg und biegt heute, nachdem die skandinavische und die russische Literatur bezwungen sind, auch auf bislang übersehenes tschechisches Gebiet vor. In Österreich suchen die Deutschen jedoch etwas Neues, das sie aus ihrer Wiener Lethargie holen würde und Tröstung in der Isolierung wäre: darauf deuten jedenfalls sowohl Bahrs durchdringende Analysen wie auch die öffentlichen Beschwerden der Prager Literaten hin, dass ihnen ganz dumpf und eng werde und sie von der Verbindung mit dem slavischen Element ein Wachstum der eigenen Energie erwarteten: daher wohl auch das Schwärmen für Dalmatien und die Begeisterung für das temperamentvolle südslavische Drama] (Fischer 1914). Kritischer als gegenüber Bahr äußerte sich Fischer zur Tätigkeit Jaroslav Kvapils im tschechischen Nationaltheater. Kvapil bemühe sich mehr, dem Ausland zu gefallen, als dass er das eigentliche tschechische Kunstschaffen fördere, zur Erklärung seines eigenen dramaturgischen Misserfolgs in der Saison 1911/1912 schrieb er unter anderem: „Pan Kvapil, vysoce nadaný eklektik, jenž českému jménu nejednou byl ku prospěchu, starává se leckdy víc o cizinu než o nás, víc o pochybnou leckdy chválu za hranicemi (kdež ho snad pokládají za ‚osobnost‘), nežli o spravedlivé uznání v českých literárních kruzích. Vůči naší dramatické produkci schází mu však, podle mého názoru, cit vyšší odpovědnosti. […] Naše cesty se rozcházely tam, kde jsem se přesvědčil, že pan Kvapil jest opředen literárními předsudky a vězí v  osidlech Jiráskovy historie, poezie Maškovy a pochvaly Hermanna Bahra“ [Herr Kvapil, ein höchst begabter Eklektiker, der dem tschechischen Namen mehr als einmal von Nutzen war, kümmert sich öfters mehr um das Ausland als um uns, mehr um das oftmals zweifelhafte Lob von hinter den Grenzen (wo sie ihn wohl als ‚Persönlichkeit‘ ansehen) als um die rechtmäßige Anerkennung in tschechischen literarischen Kreisen. Gegenüber unserer dramatischen Produktion fehlt ihm jedoch meiner Meinung nach ein höheres Verantwortungsgefühl. [...] Unsere Wege gingen dort auseinander, wo ich mich davon überzeugen konnte, dass Herr Kvapil von literarischen Vorurteilen

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Hinweise auf Elektra finden sich auch in der Studie zur Anagnorisis, die Fischer für die Zeitschrift Scena verfasste. Hierin zeigt er, wie dieses künstlerische Mittel, dessen Bedeutung für das antike Drama Aristoteles in seiner Poetik charakterisierte, in die neuere und neueste Dramatik Eingang findet. Die Anagnorisis dramatisiert den Moment einer Rückkehr oder eines Aufeinandertreffens; in modernen Stücken (Fischer führt Schiller und Hebbel an) kann sie zum Beispiel das Motiv der Doppelgängerschaft oder der gespaltenen Identität herausstellen. In Hofmannsthals Elektra vollzieht sich die Anagnorisis im Gegensatz zu Aischylos und Sophokles (der aus dem Wiedererkennen Orests durch Elektra einen „weihevollen Moment“ machte) auf komplizierte Weise. Fischer paraphrasiert zunächst die ganze Szene: Nedosti na tom, že u Hofmannsthala je to Elektra sama, jež má poznat bratra: její poznání se názorným a účinným způsobem připravuje. Mluvíc s bratrem, jehož nepoznává, dotčena záhadnými jeho slovy o mrtvole otcově a o návratu dítěte, zasažena zvukem jeho hlasu, zvolá pojednou: ‚Kdo jsi?‘ A v tom okamžiku vrhá se starý, zachmuřený sluha ze dvora bez hlesu k nohám Orestovým, líbá je, vzchopí se, úzkostně se ohlíží a neslyšně zas odkvapí. Načež Orestes dá sestře mírnou odpověď: ‚Psi na dvoře mne poznávají, a moje sestra nikoli?‘ A Elektra vzkřikne: ‚Oreste!‘ [Nicht nur ist es bei Hofmannsthal Elektra selbst, die den Bruder erkennen soll: ihr Erkennen wird auf anschauliche und wirkungsvolle Weise vorbereitet. Im Gespräch mit dem Bruder, den sie nicht erkennt, berührt durch seine rätselhaften Worte über den Leichnam des Vaters und die Rückkehr eines Kindes, ergriffen vom Klang seiner Stimme, ruft sie plötzlich aus: ‚Wer bist du?‘ Und in diesem Augenblick wirft sich ein alter, finsterer Diener aus dem Hof lautlos Orest zu Füßen, küsst ihn, rafft sich auf, angstvoll um sich schauend, und stürzt lautlos wieder ab. Worauf Orest der Schwester sanft antwortet: ‚Die Hunde auf dem Hof erkennen mich, und meine Schwester nicht?‘ Und Elektra schreit auf: ‚Orest!‘] (Fischer 1913c: 48)

Hofmannsthal kombiniere das Motiv der griechischen Tragödie mit dem Motiv des griechischen Epos („starý, vychrtlý pes podle čichu poznal Odyssea a lísal se k pánovi, jehož po dvacet let neviděl“ [der alte, abgemagerte Hund erkannte Odysseus mit seinem Spürsinn und umgarnte seinen Herrn, den er zwanzig Jahre nicht gesehen hatte]) und steigere so die Situation eingenommen ist und in den Fallen von Jiráseks Historie, Mašeks Poesie und Hermann Bahrs Lob steckt] (Fischer 1912b). In seinem Nachruf auf Bahr charakterisierte Fischer dessen Persönlichkeit sehr einfühlsam; er nannte ihn einen fröhlichen Impressionisten, würdigte seinen Mut zur Kritik, seine unaufhörliche Entdeckungslust, seine Bedeutung für die tschechisch-deutschen Vorkriegsbeziehungen und erinnerte nicht zuletzt an ihn als an einen großen Anreger, involvierten Vermittler und Verteidiger unterdrückter oder zensurierter künstlerischer Werke (Fischer 1934).

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„svým rafinovaným způsobem, noře je do ovzduší předrážděného čekání a mstivého paroxysmu“ [auf seine raffinierte Art, taucht sie in die Atmosphäre überreizten Wartens, eines Paroxysmus der Rachgier] (Fischer 1913c: 48). Die Erkennungsszene in Elektra vertieft so die Psychologie und steigert die Stimmung. Zum Abschluss des Essays verlässt Fischer den künstlerischen Bereich und stellt den Prozess des Erkennens und Wiedererinnerns als alltäglichen Bestandteil des Lebens dar: […] anagnorize se udává takřka při každém našem kroku, ve společnosti, na ulici, v erotice a v životě vzpomínkovém. Budeme-li si toho vědomi, poznáme, co se v našich úkonech, myšlenkách a denních stycích i starostech tají dramatičnosti. Naslouchání dialogu i potkávání známých i rozpomínání se na někdejší přátele a zvláště pohled, jenž má vzápětí neurčité asociace, boj reminiscencí se zapomněním a ponenáhlé vynořování určitého obrazu a soudu, povlovně se rodící poznávání předmětu neb člověka kdys blízkého, pronikání do šeřícího se minula a vítězné jeho zdolávání přítomnou myšlenkou, to vše jest napínavé, to vše má dynamiku, krize a peripetie. V našem nitru a v našem nejbližším okolí odehrává se neustále drama, a kouzlu dramatické poezie koříme se i proto, že jsme vděčni tomu, kdo naše dramatické tušení a tápání dovede zhustit v báseň, dovede dynamikou řeči a vidění stupňovat pocit našeho života. [[…] eine Anagnorisis ereignet sich also fast auf Tritt und Schritt, in der Gesellschaft, auf der Straße, in der Erotik und im Erinnerungsleben. Sind wir uns dessen bewusst, erkennen wir, was in unseren Verrichtungen, Gedanken und täglichen Berührungen und Besorgnissen an Dramatik verborgen liegt. Das Lauschen eines Dialogs sowie das Zusammentreffen mit Bekannten, das Erinnern an Freunde von damals und insbesondere ein Blick, der unmittelbar darauf ungewisse Assoziationen auslöst, ein Widerstreit der Reminiszenzen mit dem Vergessen und das allmähliche Auftauchen eines bestimmten Bildes und Urteils, das sanft erwachsende Erkennen eines einst nahestehenden Gegenstands oder Menschen, die Durchdringung des ins Dunkel fallenden Vergangenen und das siegreiche Bezwingen durch einen gegenwärtigen Gedanken, das alles ist fesselnd, das alles hat Dynamik, Krise und Peripetie. In unserem Innern und unserem allernächsten Umfeld spielt sich ohne Unterlass ein Drama ab, und den Zauber der dramatischen Poesie beten wir auch deshalb an, weil wir dem dankbar sind, der unser dramatisches Ahnen und Tasten in ein Gedicht zu komprimieren vermag, der es vermag, mit der Dynamik von Sprache und Sehen das Gefühl unseres Lebens zu steigern.] (Fischer 1913c: 84)

Fischers Überlegung schreitet vom antiken Drama zum modernen Schauspiel bis zu einer wirkungsvollen Verallgemeinerung, einer „Verlebendigung“ der Kunst, und ist ein eindringliches Beispiel für sein essayistisches Schaffen. Im Jahr 1913 schrieb Fischer über eine weitere Bearbeitung eines griechischen Mythos aus der Feder Hofmannsthals: über das Libretto zu Strauss’ Oper Ariadne auf Naxos – diesmal allerdings sehr kritisch und ablehnend. Hofmannsthal kombinierte den griechischen Mythos mit Molières Komödie vom Bürger als Edelmann und ließ auf zwei Bühnen parallel nach dem Prinzip eines ‚Theaters im Theater‘ neben Ariadne und Bacchus

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auch die Figuren einer „rozpustilá harlekynáda“ [ausgelassenen Harlekinade] (Fischer 1913a: 1) auftreten. Fischer äußerte unverhohlen seine Enttäuschung, ja Entrüstung angesichts des unernsten und abwertenden Rahmens, der dem Mythos von Ariadne, die von Theseus verlassen, von Bacchus aufgefunden und zu den Göttern erhoben wird, zugemutet wurde. Das Libretto sei „z nejkurióznějších absurdit naší doby“ [eine der kuriosesten Absurditäten unserer Zeit] (Fischer 1913a: 1) und eine Parodie auf Hofmannsthal selbst: Hofmannsthalovo zahrávání si s  literaturou a jeho sám sebe ironizující pêle-mêle nepřispívá k stupňování dramatické nálady či dokonce k vyvolání tragického účinku; Hofmannsthal nedělá vtipů na dramatickou tvorbu a na dramatické postavy, jak sám se snad domnívá, nýbrž pouze na sebe a na svou vlastní produkci, není však v právu, reklamuje-li hlubokou myšlenku a napjatý zájem pro svou psychologii antického námětu, kterou sám ponížil k  platnosti hry, hříčky, episody, šprýmu, takže tu skoro zapírá svá dřívější dramatická i básnická díla. [Hofmannsthals Scherzen mit der Literatur und sein sich selbst ironisierendes pêle-mêle trägt nicht zur Steigerung der dramatischen Stimmung oder schließlich zur Entwicklung der tragischen Wirkung bei; Hofmannsthal macht keine Witze auf das dramatische Schaffen oder auf dramatische Figuren, wie er selber wohl meint, sondern nur auf sich und auf seine eigene Produktion, er ist jedoch nicht im Recht, wenn er einen tiefen Gedanken und ein gespanntes Interesse für seine Psychologie eines antiken Sujets reklamiert, eine Psychologie, die er selbst zum Wert von Spiel, Spielzeug, von Episode und Jux degradiert, sodass er hier beinahe dahin gelangt, seine früheren dramatischen und dichterischen Werke zu verleugnen.] (Fischer 1913a: 1)

Hofmannsthals zersplitterte Bearbeitung stellt Fischer in Kontrast zu Paul Ernsts Theaterstück Ariadne auf Naxos von 1912, das sich auf die Beziehung von Theseus und Ariadne konzentriert und das, anders als bei Hofmannsthal, wie Fischer hervorhebt, ein Ideendrama ist, „vybudované na sporu lidství a božství a na rozporu průměrné morálky, která zavrhuje zlo, a božského všeobsáhlého řádu, který také zlu přiznává nutnou existenci“ [auf der Fehde zwischen Menschheit und Gottheit basiert und auf dem Widerstreit einer durchschnittlichen Moral, welche das Böse ächtet, und einer allumfassenden göttlichen Ordnung, die auch dem Bösen seine notwendige Existenz eingesteht] (Fischer 1913a: 1). Fischer distanzierte sich jedoch leicht von Ernsts unkritischen Förderern; seiner Auffassung nach fand der Dramatiker für seine Idee keinen wirklich dichterischen Ausdruck. Beide Werke sieht er schließlich als Symptome der Zeit – Hofmannsthals Stück als „zajímavý doklad rozbitých a groteskně smíchaných snah z počátku dvacátého století“ [interessanten Beleg für die zerschlagenen und grotesk durchmischten Bemühungen vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts] und Ernsts Stück als „jeden z pokusů, vážných, byť nezdařených vnésti něco světla do zmatku a neujasněnosti naší

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doby“ [einen der ernsten, wenn auch missglückten Versuche, etwas Licht in die Wirrnis und Unklarheit unserer Zeit zu tragen] (Fischer 1913a: 2).

3. Člověk a smrt [Der Tor und der Tod] Die erste Übersetzung eines Werks von Hofmannsthal stammt von Arnošt Procházka: 1906 erschien zunächst in der Moderní revue, später auch in Buchform, das kurze Versdrama Der Kaiser und die Hexe [Císař a čarodějka] (Hofmannsthal 1906b).24 Procházka übersetzte aus dem Deutschen und Französischen eine ganze Reihe von Modernisten, einschließlich Maurice Barrès, Anatole France, André Gide, Stanisław Przybyszewski, Friedrich Nietzsche u. a. (Merhaut 2000). Die Übersetzung von Der Kaiser und die Hexe war eher für die Buchform gedacht, die stellenweise vertrackte Übertragung der Verse wäre nur schwer auf die Bühne zu bringen gewesen. Procházkas Verdienst bestand vor allem in der Vorstellung einer Vielzahl moderner Autoren, nicht in der schöpferischen Arbeit mit der tschechischen Sprache. Einen künstlerischen Übersetzer fand Hofmannsthal erst in Fischer, der die Kunst der Übersetzung ins Tschechische überhaupt auf ein neues Niveau hob. 1909 übersetzte er Hofmannsthals Ein Brief, ohne dass er jedoch dessen Publikation bewirken konnte.25 1911 veröffentlichte er in Novina die Übersetzung eines kurzen Gedichts (Hofmannsthal 1911a), aus den weiteren Arbeiten wählte er ähnlich wie Procházka nicht Hofmannsthals aktuelle Versuche einer größeren dramatischen Form aus dem ersten Jahrzehnt aus, sondern die lyrischen Dramen der 1890er-Jahre: Der Tor und der Tod aus dem Jahre 1893 und Die Hochzeit der Sobeide von 1897, wobei das erste das wichtigere der beiden war. Es kam 1898 in München zur Uraufführung; eine erfolgreiche Inszenierung besorgte Max Reinhardt 1908 mit Gertrud Eysoldt in der Rolle der Mutter. Diese „Moralität“ über einen Ästheten, in dem die 24  In Buchform erschien es in der Edition der Moderní revue ebenfalls 1906, wobei sich der Übersetzer hinter dem Pseudonym Karel Pudlač verbarg. Das Stück hatte Hofmannsthal 1897 verfasst; es war zunächst 1900 in der Insel erschienen, im selben Jahr in Buchform; Procházka konnte von der damals aktuellen Ausgabe des Jahres 1906 ausgehen (Hofmannsthal 1906a). 25  Fischer bot die Übersetzung im Februar 1909 Viktor Dyk an, im Dezember des folgenden Jahres bat er um Rückgabe. Siehe Fischers Briefe an Viktor Dyk, LA PNP, Nachlass Viktor Dyk.

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Liebe zum Leben erst durch die Musik des Todes erweckt wird, welcher ihm in der Durchdringung einer antiken und einer deutschen Tradition wie ein geigespielender Gott erscheint („Ich bin nicht schauerlich, bin kein Gerippe! / Aus des Dionysos, der Venus Sippe, / Ein großer Gott der Seele steht vor dir.“ Hofmannsthal 1979a: 288), gehört neben den Stücken Gestern und Der Tod des Tizian zu Hofmannsthals bedeutendsten lyrischen Dramen. Fischer wählte sie auch aus weiteren Gründen. Laut einer späteren Aussage bereitete er sich mit der Übersetzung auf eine „zčeštění Fausta“ [Tschechisierung des Faust] (Fischer 1930) vor, aus dessen Verstechnik Hofmannsthal geschöpft habe.26 Im Nekrolog Hofmannsthal und die Tschechen erinnerte er an das starke ästhetische Erlebnis, das er irgendwann Mitte des ersten Jahrzehnts bei der Rezitation des Originals im Salon von Anna Lauermannová-Mikschová erfahren habe: Es mochte zehn Jahre vor Kriegsausbruch gewesen sein, als in einem literarischen Zirkel, der sich bei einer namhaften Schriftstellerin und ihrem Gatten, einem Rechtsgelehrten, zu versammeln pflegte und dem eben der Historiker Prof. Goll angehörte, durch einen damals in Berlin wirkenden tschechischen Schauspieler die schönste Hofmannsthalsche Dichtung deutsch zum Vortrag kam. Der Mehrzahl der Gesellschaft war ‚Der Tor und der Tod’ bereit aus eigner Lektüre wohlvertraut, doch prägte sich ihr die lebendige Rezitation der melancholischen Verse als tiefes Erlebnis ein (Fischer 1929b).

Fischer war bei Lauermannová-Mikschová kein häufiger Gast27 – anders als seine Freunde Otakar Theer oder Arne Novák, die höchstwahrscheinlich ebenfalls bei der Rezitation zugegen waren und Hofmannsthal, wie Fischer versichert, bereits von einer vorherigen Lektüre kannten. Der junge, in Berlin tätige Schauspieler war Karel Dostal, der damals an der Hochschule für dramatische Kunst des bekannten Schauspielers und Regisseurs Emanuel Reicher studierte. Über den Einakter Der Tor und der Tod referierte in tschechischen Zeitschriften erstmals Paul Leppin 1900 in der Moderní revue. Er wies auf die erste Buchausgabe hin, die der Insel Verlag bibliophil und in einer Auflage von nur 500 Stück herausgebracht hatte. In seiner kurzen Besprechung stilisierte Leppin sich als Sprecher der jüngsten Generation von Prager deutschen Dichtern und verband, sich mit Hofmannsthals melodisch-melancholischem Lyrismus identifizierend, den Prager mit dem Wiener Kontext 26  „[…] celé pasáže z ‚Der Tor und der Tod‘ působí jako přepisy veršů ‚Fausta‘“ [[…] ganze Passagen aus ‚Der Tor und der Tod‘ wirken wie eine Abschrift von Versen aus dem ‚Faust‘] (Fischer 1929a: 263). 27  Vgl. Sak (2003) und Lauermannová-Mikschová (2014); Fischers Angabe über ihren Ehemann entspricht nicht der Realität.

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(Leppin 1900).28 Den Dichter charakterisierte er darüber hinaus als Vertreter nicht der Wiener Moderne, sondern einer „deutsch-österreichischen Kunst“, als deren Teil sich Leppin ebenfalls sah: Všichni tito lidé mají něco pasivného v  sobě a přes svůj individualismus cosi objektivného. Nestojí v životě, nýbrž vedle něho, a přece cítí jeho osudy. Velké děti jsou všichni tito Rakušané: Altenberg a Andrian a Loris. Děti s pózou filozofa. A p. Hofmannsthal je zázračné dítě mezi nimi. Jest od doby Mallarméa snad jediný, jenž píše esencielní lyriku, jemuž obraz jest jen barvou a slovo tapetou. Der Thor und der Tod je báseň s půvabnými jednotnostmi a s nepatrnou základní ideou, která bývá čistě lyrickými momenty prohlubována. My, kteříž p. Hofmannsthala známe a ctíme, nechceme nic jiného. Sladká hudba a vzpomínky rezignace. Měkké a diskrétní jsou verše básníkovy, pěkní a jemných allur jeho lidé. Umění pro smutné a senzitivné je to, umění naší doby a nás samých, kteříž jsme smutní a roztoužení. [All diese Leute haben etwas Passives an sich und über ihren Individualismus hinaus etwas Objektives. Sie stehen nicht im Leben, sondern daneben, und fühlen doch ihr Los. Große Kinder sind all diese Österreicher: Altenberg und Andrian und Loris. Kinder in der Pose eines Philosophen. Und Hr. Hofmannsthal ist unter ihnen das Wunderkind. Seit den Zeiten Mallarmés ist er wohl der einzige, der essentielle Lyrik schreibt, dem das Bild nur Farbe ist und das Wort nur Tapete. Der Thor und der Tod [dt. im Original] ist ein Gedicht mit anmutigen Einheiten und mit einer unersichtlichen Grundidee, die von rein lyrischen Momenten in die Tiefe geführt wird. Wir, die wir Hrn. Hofmannsthal kennen und verehren, wollen nichts anderes. Süße Musik und Erinnerungen einer Resignation. Weich und diskret sind die Dichterverse, schön und von sanften Allüren seine Menschen. Kunst für Traurige und Sensitive ist das, Kunst aus unserer Zeit und von uns selbst, die wir traurig und voller Sehnsucht sind.] (Leppin 1900: 249f.)

Der Insel Verlag gab das Drama in der Folge fast jährlich neu heraus, im Jahre 1909 bereits in der neunten Auflage. Fischers Übersetzung erschien unter dem Titel Člověk a smrt [(Der) Mensch und (der) Tod] 1910 ebenfalls bibliophil – als zweiter Band der Hyperion-Reihe, die der Kritiker, Dichter und zukünftige Theaterregisseur Karel Hugo Hilar besorgte. Über Fischers „glückliche Nachdichtung“ schrieb in Přehled ausführlich Arne Novák, für den das lyrische Drama von einem Mann, der erst angesichts des Todes die Schönheit des Lebens begreift, Beispiel einer hohen ästhetischen Kultur war, ein modernes Werk, das gleichzeitig aus der Tradition schöpfte und sie belebte – also das, was er damals von der tschechischen Poesie forderte: Umění Hofmannsthalovo spočívá v  tom, jak dovedl lyrické motivy, rozvedené s  velkou grácií rozeného a kulturně vysoce školeného elegika, povznésti až k  samému prahu dramatična, jak v  okamžení spásného rozčarování Claudiova všecky dekorativní prvky uměl proměniti v dramatické koeficienty – ovšem, sotva že dospěl k této napjaté a preg-

28  Ähnlich Leppin (1903); vgl. Vojtěch (2010).

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nantní situaci, dává spadnouti oponě. Vše je provedeno s  krajní estetickou kulturou, s uměním slova i nálady, bez jediného zlozvuku, křehce, jemně, kouzelně. Tento půvabný a zádumčivý dramolet nemá býti více než lyrická scéna; křivdil by však básníkovi kdož by nepoložil důraz na slovo scéna. [Hofmannsthals Kunst beruht darauf, wie er lyrische Motive, ausgeführt mit der großen Grazie des geborenen und kulturell hochgebildeten Elegikers, bis zur Schwelle des Dramatischen selbst zu erheben vermochte, wie er es schaffte im kurzen Augenblick der rettenden Ernüchterung Claudios alle dekorativen Elemente in dramatische Koeffizienten zu verwandeln – freilich, kaum gelangte er zu dieser aufgeladenen, prägnanten Situation, lässt er den Vorhang fallen. Alles wird mit äußerster ästethischer Kultur, mit der Kunst von Wort und Stimmung, ohne einen einzigen Missklang durchgeführt, zerbrechlich, sanft, zauberisch. Dieses anmutige, schwermütige Dramolett soll nicht mehr sein als eine lyrische Szene; es täte aber der dem Dichter Unrecht, der die Betonung nicht auf das Wort Szene legte.] (Novák 1910: 514)

Novák war davon überzeugt, dass der Einakter auf die Bühne gehörte – er reagierte so womöglich auf das Urteil Karel Kamíneks, welcher Der Tor und der Tod zwar als wirkungsvollen dichterischen Stoff, hingegen dramatisch als unwirksam bezeichnet hatte.29 Das Stück wurde, vermutlich unter verändertem Titel, durch die Vereinigung Divadlo umění [Theater der Kunst] im Rahmen eines Abends mit deutscher Poesie am 21. März 1911 im Saal des Gesangsvereins Hlahol aufgeführt.30 Novák kritisiert diesbezüglich in seiner Besprechung das tschechische Nationaltheater dafür, dass es schon fast keine zeitgenössischen modernen Stücke mehr inszeniere und die Schauspieler keine Gelegenheit hätten, den modernen Schauspielstil zu lernen. Im Falle von Der Tor und der Tod ging es vorrangig um eine Deklamationskunst, die auch das Niveau der Übersetzung auf den Prüfstand stellte und beglaubigte. Václav Tille, der über den Abend in den Národní listy [Nationale Blätter] schrieb, bewertete die Nachdichtung deutlich: Jest v nich [překladech, L. M.] nejen mnoho úžasné práce, ale též tolik šťastného vcítění do originálu, tolik dokonalého ovládání naší mateřštiny, že jsou vzácnou uměleckou prací, kterou poslouchat je opravdovou rozkoší.

29  „Je to spíše kniha, nad kterou byste se chtěli rozesníti ve chvíli tiché melancholie z marnosti všeho, nežli kus divadelně účinný“ [Es ist eher ein Buch, über dem man in einem Moment stiller Melancholie aus der Vergeblichkeit aller Dinge ins Träumen geraten möchte, als ein theatral wirksames Stück] (Kamínek 1910: 417). 30  Josef Kodíček begrüßte die Bemühungen des Divadlo umění, kritisierte nichtsdestoweniger die „gesangliche“ Darbietung der Schauspieler als überholte Manier in Nachahmung von Josef Kainz, gleichfalls den Claudio-Darsteller Vojta Novák, der seine Figur und ihren Schrecken nicht ausreichend verstanden habe. Die Leistungen der anderen Darsteller waren seiner Ansicht nach gelungen (Kodíček 1912).

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[Es steckt in ihnen [den Übersetzungen, L. M.] nicht nur eine Menge fabelhafter Arbeit, sondern auch soviel glückliche Einfühlung ins Original, soviel perfekte Beherrschung unserer Muttersprache, dass sie eine kostbare künstlerische Arbeit abgeben, der zu lauschen wahrlich eine Wonne ist.] (Tille 1912)

Arne Novák äußerte sich in einer Fußnote der zitierten Rezension ebenfalls zur Qualität von Fischers Übersetzung und zu der Anstrengung, die Hofmannsthals Vers dem Übersetzer abverlange; im Unterschied zu Tille hatte er jedoch Vorbehalte: Páně Fischerovo přebásnění Hofmannsthalova dramoletu ukazuje plnou měrou, že překladatel ovládá básnické slovo i v  jeho hudebních i v  jeho malebných možnostech: nelze nepřiznati, že p. O. Fischer nalezl skutečnou českou poetickou obdobu Hofmannsthalova úlisného a svůdného, zženštilého a neodolatelného lyrického výrazu. A přece právě tuto ukázalo se mi, že každý, byť sebedokonalejší překlad zůstane pouhou travestií. V  titule porušení myšlenky originálu stalo se dojista schválně, neboť ani slovo ‚bloud‘ ani ‚blázen‘ nezdálo se případným: alespoň zde změna byla v moci překladatelově. Avšak zda uvědomil si překladatel […], že představa kostrouna-hudce (der Tod) nijak nedá se nahraditi představou ženské smrti-houslistky, cizí ostatně úplně našemu českému nazírání? [Herrn Fischers Nachdichtung von Hofmannsthals Dramolett zeigt in ganzem Ausmaß, dass der Übersetzer das dichterische Wort und seine musikalischen und seine malerischen Möglichkeiten beherrscht: man muss eingestehen, dass Hr. O. Fischer eine tatsächliche poetische Parallele zu Hofmannsthals schmeichlerischem und verlockendem, weiblichem und unwiderstehlichem lyrischen Ausdruck im Tschechischen gefunden hat. Und dennoch hat sich mir durch sie gezeigt, dass jede Übersetzung, noch die vollkommenste, bloße Travestie bleibt. Der Verstoß gegen den originalen Gedanken im Titel geschah sicher absichtlich, denn weder das Wort ‚bloud‘ noch ‚blázen‘ erschien für den ‚Tor‘ passend: Wenigstens lag hier die Änderung in der Macht des Übersetzers. War sich der Übersetzer jedoch darüber im Klaren [...], dass sich die Vorstellung des mageren Fiedlers (der Tod) keineswegs durch die einer weiblichen Todes-Geigerin ersetzen lässt, welche unserer tschechischen Betrachtungsweise im Übrigen völlig fremd ist?] (Novák 1910: 513f.)

Das Problem mit der Übersetzung des Titels und die ungleichartigen semantischen und ikonographischen Konnotationen der Begriffe ‚Tod‘ im Deutschen und dem Femininum ‚smrt‘ im Tschechischen, förderten Nováks generelle Skepsis gegenüber der Möglichkeit, in der Übersetzung die künstlerischen Werte des Originals einzuholen. Fischer antwortete auf die Kritik mit einer auf Deutsch verfassten „Glosse“ in der Čechischen Revue: Schwerer wiegen die Einwände gegen einen Eingriff an die Überschrift von Hofmannsthals ‚Der Tor und der Tod’: ich gestehe, daß mich seinerzeit eine Idiosynkrasie gegen das Wort ‚bloud’ zu dem Titel ‚Člověk a smrt‘ bewogen hat, durch den ich allerdings den Gehalt der Dichtung, im Einklang mit deren letzter Szene, aus dem Individuellen ins allgemein Menschliche zu heben dachte: die doppelte Schönheit des alliterierenden ‚t‘ vor dem assonierenden ‚o‘ mußte hier auf jeden Fall geopfert werden, so groß auch sonst die

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Anpassungs-, so stark die Ausdrucksfähigkeit unserer ungemein plastischen Muttersprache sein mag (Fischer 1912a: 31f.).

Ähnliches vermerkte er auch im Essay O překládání básnických děl [Vom Übersetzen dichterischer Werke]: „Je nemožné v  cizím jazyku podržeti aliteraci i asonanci spolu se smyslem Hofmannsthalova Der Tor und der Tod“ [Es ist unmöglich, in einer fremden Sprache Alliteration und Assonanz gemeinsam mit dem Sinn von Hofmannsthals Der Tod und der Tod beizubehalten] (Fischer 1929c: 265). – In diesem hervorragenden Essay, in welchem die angeführten Beispiele unter anderem ein Gefühl für Sprache, ihren Rhythmus und Klang, für die Auffächerungen von Wortassoziationen belegen, definierte Fischer auch seine Auffassung von „Nachdichtung“. Der Übersetzer sei Interpret und Künstler, gehe vom Verständnis des Gesamten aus, gleichzeitig sei jedoch seine Einfühlung in den „Geist des Originals“ vonnöten; beides befand er für wichtiger als philologische Treue: Der Nachdichter […] ersetzt die primären Beweggründe durch sekundäre, durch seine Hingabe an das Produkt, durch Gefühle, die aus diesem literarischen Enthusiasmus entspringen und sich bis zur Höhe inniger Lebensfreude emporläutern können. […] Aus dem vollen schöpfen, von dem Bilde des Gesamtwerkes ausgehen, erst den Geist und dann erst die Details wiederherstellen können (Fischer 1912a: 33).

Zur „versonnenen Lyrik“ von Hofmannsthals Stück Der Tor und der Tod kehrte Fischer im Februar 1930 in der Besprechung einer Aufführung von Schülern des staatlichen Konservatoriums noch einmal kurz zurück. Die Inszenierung sah sich wieder mit der unterschiedlichen tschechischen und deutschen Tradition in der Darstellung des Todes konfrontiert: die Regie von Professor Milan Svoboda habe dabei die Forderung des Textes unterschlagen, „aby houslista-smrt byl hrán představitelem mužským, ne ženou“ [dass der GeigerTod von einem männlichen Darsteller verkörpert wird, nicht von einer Frau].31 In seinem tschechischen Nachruf verwendete Fischer lieber den deutschen Titel und beschrieb die Figur des Todes als „Smrt, Thanatus-houslista“ [der Tod, Thanatus-Geiger], damit ihre Bedeutung und ihr männliches Geschlecht offensichtlich bliebe (Fischer 1929a: 263). In seinem deutschen Nachruf auf Hugo von Hofmannsthal konstatierte Fischer, dass der Wiener Dichter für das tschechische Publikum ein Autor „kurzer Dramen“ geblieben sei, die größtenteils nur auf den „Bretter[n] der Liebhaberbühne“ gezeigt wurden. Dies war auch das Schicksal der dramati31  Er fügt allerdings hinzu: „Wobei gerade diese Abweichung von Hofmannsthals Absicht der Schüleraufführung einen Gewinn brachte, denn der gedehnte Alt E. Kolbenovás war das große schauspielerische Plus des Abends“ (Fischer 1930).

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sierten persischen Geschichte Die Hochzeit der Sobeide, die in Fischers Übersetzung unter dem Titel Sobeidina svatba im ersten Jahresviertel 1911 in der Zeitschrift Květy [Blüten] erschien (Hofmannsthal 1911b) und die wiederum der Verband des Divadlo umění im sogenannten Intimen Theater in Prag-Smíchov am 27. und 28. Februar 1913 zur Aufführung brachte. Wie schon bei Člověk a smrt führte Vojta Novák Regie, die Hauptrollen übernahmen Pavel Neri und Marie Nechlebová. Die Bewertungen fielen unterschiedlich aus: Václav Tille, der das Theater als überfüllt beschrieb, lobte die Bemühung der Regie um eine „ucelené podání a propracování všech detailů v jednotném pojetí“ [abgerundete Darbietung und Bearbeitung aller Details in einer einheitlichen Grundanlage]; auch die Schauspieler hätten ihren deklamatorischen Stil verbessert („Herci ‚Divadla umění‘ s rozkoší oddávají se především čisté deklamaci a pěstění stylizované mimiky“ [Die Schauspieler des ‚Divadlo umění‘ geben sich mit Wonne insbesondere der reinen Deklamation und der Pflege einer stilisierten Mimik hin], Tille 1913). Dagegen lehnte Miroslav Rutte in der Moderní revue vor dem Hintergrund der Forderung des Ideendramas Hofmannsthal als einen rein von der Stimmung geleiteten, dekorativen Dichter ab, der es nicht vermocht habe, ein integrales dramatisches Ganzes zu schaffen. Der Darbietung warf er sodann Uneinheitlichkeit in Regie, Deklamation und Mimik32 ebenso vor wie einen „rozpor mezi náladou hry a schematickou stylizací scény“ [Widerspruch zwischen der Stimmung des Stücks und der schematischen Stilisierung der Szene] (Rutte 1913: 283). Die Szenographie des Divadlo umění sei nicht von der Individualität des Werks ausgegangen, sondern wiederhole sich nur schablonenhaft anhand verschiedener Autoren. Die Rezitation wiederum sei statisch, sie fange zwar „mnohý záchvěv zvnitřnělého citu“ [manches Zittern eines verinnerlichten Gefühls] ein, verstehe es aber nicht, das Wort „von dramatischer Seite her“ zu bewerten (Rutte 1913: 282). Das beabsichtigte Ringen um eine neue Kunst war dem Divadlo umění nach Auffassung Ruttes vorerst noch nicht gelungen.

32  Die Schauspieler hatten nach seiner Auffassung keinen einheitlichen Stil: „[…] kdo vstoupil totiž do družiny s epigonskými schopnostmi naturalistického interpreta, setrvává důsledně při svém krédu a vytváří realistické figury v též hře, v níž druzí usilují o lyrickou zhudebnělost slova nebo čirost stylizované linie“ [[...] wer also mit den epigonenhaften Fähigkeiten eines naturalistischen Interpreten ins Gefolge trat, verbleibt folgerichtig bei seinem Kredo und schafft realistische Figuren auch in ein und demselben Stück, in dem die anderen sich um eine lyrische Musikalität des Wortes oder die Reinheit einer stilisierten Linie bemühen] (Rutte 1913: 282).

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Die Vorstellung der Sobeidina svatba rezensierte (gemeinsam mit einer Inszenierung von Jiří Karáseks Cesare Borgia in Prag-Vinohrady) auch der Übersetzer selbst. In seinen Augen betonte die Bühnendarbietung die dramatischen Mängel beider Stücke; bei dem in Blankversen geschriebenen Stück hob er schließlich einen einzigen „bezwingenden“ Moment hervor: Hofmannsthalova Sobeida […] má pro můj cit jeden moment podmanivý něhou, dobrotou, smutnou ironií života: ten, kdy starý kupec ženě otvírá dvéře, aby šla, kamkoli chce, a kdy ona setřese skutečnost, jako by to byl sen, a kráčí za klamavým hlasem svého srdce. […] Co se po té odehrává, jsou teatrální scény, leckdy efektně stavěné, ale spíše nastavované, a přemíra mnohomluvných monologů špatně zakrývá nedostatek pravého života a intenzivního dění. [Hofmannsthals Sobeide [...] hat für mein Gefühl einen Moment, der bezwingt durch seine Zärtlichkeit, seine Güte, seine traurige Ironie des Lebens: jenen, wenn der alte Kaufmann der Frau die Tür öffnet, damit sie gehen könne, wohin sie wolle, und sie die Tatsache abschüttelt, als wäre sie ein Traum, und zur trügerischen Stimme ihres Herzens ausschreitet. [...] Was sich daraufhin abspielt, sind theatrale Szenen, manches Mal effektvoll gebaut, aber eher gestellt, und ein Übermaß an redseligen Monologen versteckt nur schlecht den Mangel an wahrem Leben und intensivem Geschehen.] (Fischer 1913d: 447)

Die Vorstellung half laut Fischer „k  zeslabení dojmu básně, jež při lektýře působí ne-li silně, přec ladně a jež by rovnocenným provedením mohla vyvolat něžné i krásné nálady, ne-li více“ [den Eindruck des Gedichts zu mindern, das bei der Lektüre wenn nicht stark, so doch anmutig wirkt und das bei ebenbürtiger Umsetzung Stimmungen der Zärtlichkeit, auch der Schönheit hervorrufen könnte, wenn nicht noch mehr] (Fischer 1913d: 447). Fischer wurde sich ähnlich wie eine Reihe weiterer Kritiker bewusst, dass Hofmannsthals Lyrismus eine Bühnenstimmung erzeugen konnte, jedoch den Ausbau eines dramatischen Konflikts und dramatischer Charaktere erschwerte.

4. Limite der Vermittlung Fischer ließ Hofmannsthal in den Jahren vor dem Krieg nicht wenig Aufmerksamkeit zukommen: Die Nachdichtung der antiken Dramen führte ihn zu Fragen über die Beziehung zwischen Wiener Kunst und Psychoanalyse sowie zu Erwägungen über die Anwendung der Psychoanalyse auf die Interpretation von Literatur. Die moderne Kunst brachte ihn so zu modernen literaturwissenschaftlichen Methoden, die er einerseits theoretisch reflektier-

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te, andererseits bei der Auslegung älterer Werke, vor allem Gottfried Kellers, anwendete. Das starke ästhetische Erlebnis bei der Rezitation des Einakters Der Tor und der Tod gab den Anlass zu kräftezehrenden Übersetzungen. Sein Člověk a smrt löste eine Diskussion aus und regte allgemeinere Überlegungen zur Übersetzung künstlerischer Werke an. Jedoch konnte Fischer weder Hofmannsthal noch Schnitzler auf tschechisch so vermitteln, wie es seine Absicht gewesen war. Seine Übersetzungen von Der Tor und der Tod und Die Hochzeit der Sobeide fanden keinen Platz im Repertoir der größeren tschechischen Theater; anders als Arthur Schnitzlers von Fischer übersetzter Einakter Zum großen Wurstel wurden sie jedoch gedruckt und an kleineren Bühnen aufgeführt. In einem der Nachrufe auf Hofmannsthal beklagte sich Fischer, dass einer von dessen meistinterpretierten Texten, Ein Brief, nie in Übersetzung erschienen sei; diese Aussage ist ein Irrtum, die Übersetzung Jan Reichmanns war 1916 in der Zeitschrift Světozor [Weltschau] erschienen. Fischer meinte aber seine eigene Übersetzung, die er erfolglos gegen Ende des ersten Jahrzehnts in der Zeitschrift Lumír unterzubringen versuchte.33 Diesen fiktionalen Brief verlas Hofmannsthal im Prager Deutschen Kasino bereits im Januar 1906 (vgl. Ifkovits 2014, v. a.: 337-339), und es verblüfft, dass dieser exzellent geschriebene literarische Text über die Krise der Sprache und den Zerfall der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt bei den Redakteuren auf kein Interesse stieß; möglicherweise wurde er erneut als etwas rein eigentümlich Wienerisches angesehen. Der Brief inspirierte wahrscheinlich die Stilisierung von Fischers Abhandlung Dopis o barvách [Ein Brief über Farben], die in der Zeitschrift Volné směry [Freie Richtungen] im Juni 1910 abgedruckt wurde und in der wir im Übrigen auch eine Anspielung auf Hofmannsthal finden (Fischer 1910). 1913 reagierte Fischer in einem Essay über Hebbel energisch auf eine Kampagne gegen eine Aufführung der Judith, welche die Absetzung des Stücks aus dem Repertoir des tschechischen Nationaltheaters zur Folge hatte. Er betonte, dass „der literarische und der nationale Standpunkt“ sich nicht immer überlappen müssen und unterschied hier zwei „Arten des Nationalstolzes“ als zwei mögliche Haltungen der kleinen tschechischen Kultur zur größeren deutschen Kultur. Entweder kann man sich gegenüber den Autoren, deren politische Ansichten antitschechisch sein konnten, passiv und ablehnend verhalten, oder mit einem Nationalstolz, welcher

33  Vgl. Anmerkung 25.

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bez bázně, že se odnárodní, přelétá přes hranice k  ostatnímu kulturnímu lidstvu a má ctižádost a touhu, by svému národu přinesla, co by ho bylo důstojno svou krásou, silou, vznešeností. [ohne Scheu, sich zu entnationalisieren, die Grenze zur übrigen kulturellen Menschheit überfliegt und die Sehnsucht und Ambition hat, seiner Nation darzubringen, was seiner an Schönheit, Kraft und Erhabenheit würdig wäre.] (Fischer 1913b: 372; ursprünglich eine Vorlesung im Prager tschechischen Gemeindehaus auf dem zweiten Literarischen Abend des Vereins Snaha]

Fischers Sehnsucht nach dem „Überfliegen der Grenzen“ ohne Furcht vor Entnationalisierung betraf auch Wien, dessen sogenannter kosmopolitischer Charakter nach Meinung vieler tschechischer Schriftsteller, Kritiker und Journalisten die nationale Besonderheit der Einwohner verwischte. Seine Stellung als Interpret und Übersetzer Hugo von Hofmannsthals war zu Beginn des 20. Jahrhunderts einzigartig, nur Arne Novák kam ihm nahe. In seinem Nachruf auf Hofmannsthal paraphrasierte Fischer in der Charakteristik des Dichters den berühmten Essay Der Dichter und diese Zeit (Hofmannsthal 1979c: 54-81; ins Tschechische ist dieser Text nie übersetzt worden): Der Dichter sei jener, „kdo se nechává rozechvívati a rozehrávati dojmy všeho myslitelného rázu, bojovnost a etika ustupují do pozadí proti asketickému požitkářství či požitkářské askesi“ [der sich in Schwingung versetzen und ins Spielen bringen lässt durch Eindrücke jeder nur erdenklichen Art, Kampfeslust und Ethik treten in den Hintergrund angesichts einer asketischen Ausschweifung beziehungsweise einer ausschweifenden Askese] (Fischer 1934: 263). Hofmannsthal interessiere das Eintauchen in „die Seele der Dinge“; von dort entspringe auch seine (insbesondere sprachliche) Skepsis. Hofmannsthals Passivität, Auffassungsgabe, Resonanzfähigkeit war für die tschechische Literaturkritik problematisch, das Schöpfen aus der Tradition und das Umdichten vergangener Werke fasste sie als Epigonentum auf; selbst diejenigen, die ihn mochten, hielten seinen Stil für „svůdný“  [kokett] und „zženštilý“ [verweiblicht] (vgl. Novák 1910: 513). So wurde er durchweg dem kulturellen Umfeld Wiens zugeordnet, welches oft, auch in der Kunst, mit einer koketten, wenn auch unfruchtbaren Weiblichkeit assoziiert wurde. Hofmannsthal besuchte Prag ein zweites Mal nicht lange vor dem Krieg, als er im Jahre 1912 die Einladung zu einer Vorlesung durch Willy Haas und den Prager Herder-Verein wahrnahm. 1917 versuchte er vergeblich, tschechische Intellektuelle für seine österreichische Idee zu gewinnen.34 Über 34  Vgl. am aktuellsten Ifkovits (2014); weiter Lunzer (1981), Stern (1968-1969a, 1968-1969b, 1969-1970a, 1969-1970b).

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Meinungsunterschiede hinweg hielt ihn Fischer (und mit ihm vor allem Arne Novák und Pavel Eisner) in den zwanziger Jahren und nach seinem plötzlichen Tod im Jahre 1929 als kultivierten, gebildeten, aufmerksamen und zuhörenden Dichter in Erinnerung, dessen Poesie ihn in Jugend tief angesprochen habe. Und so blieb er für ihn immer ein Dichter, „den wir sehr geliebt“ (Fischer 1929b: 11). (Übersetzt von Martin Mutschler)

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Lucie Merhautová

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Lucie Merhautová

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Otokar Fischer und Hugo von Hofmannsthal

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Lucie Merhautová

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Štěpán Zbytovský

Wedekind – Fischer – Zavřel: Hoffnungsvolle Begegnung auf dem Theater 1914 Unter den zeitgenössischen Dramatikern war es außerhalb des Umkreises der Wiener Moderne das enfant terrible der deutschen Dramatik, Frank Wedekind, dem wohl die meiste Aufmerksamkeit Otokar Fischers vor dem Ersten Weltkrieg galt. Die Bedeutung Wedekinds für Fischer und sein Umfeld soll hier anhand der kritischen Kommentare und Essays, der Übersetzung des Erdgeists und diverser Archivalien skizziert werden. Es sei vorausgeschickt, dass dieser Fall der Kulturvermittlung – wie auch viele andere um 1900 – über die üblichen Reviere der kritischen, übersetzerischen und inszenatorischen Praxis hinausging und auf die öffentliche Wahrnehmung der tschechischdeutschen Nationalbeziehungen sowie das Selbstbewusstsein des tschechischen Theaters spürbar wirkte. Es gibt meines Wissens keine Zeugnisse darüber, ob und wie Fischer bis zu seiner Studienzeit Wedekind wahrgenommen hat. Der erste nachgewiesene ‚Kontakt‘ kam während seines Berliner Studienaufenthalts zustande, am 12. November 1903 durch den Besuch von Wedekinds Kammersänger im Neuen Theater (in der Ur-Einstudierung von Martin Zickel).1 Dass Fischer dann in der Zeitschrift Naše doba [Unsere Zeit] über andere besuchte Aufführungen referierte (Fischer 1903), zeugt nicht von einer Disfavorisierung Wedekinds: Bei den besprochenen Stücken handelte es sich um neue Aufführungen, während der Kammersänger ein vier Jahre altes Repertoirestück war (UA am 10.12.1899). Etwa an Hauptmanns Rose Bernd bemängelte damals Fischer eine kaum überzeugende Charakterentfaltung der zur Kindesmörderin vorbestimmten Heldin. Hauptmanns Drama brachte Fischer nicht zu „osobnímu prožívání bolesti, nýbrž zajímá klidného pozorovatele, ale nestrhne jej ve vířivou závrať pravého života“ [einem persönlichen Erleben 1  Brief Otokar Fischers an Hermina Fischerová, 13.11.1903; siehe den Beitrag Michal Topors. Auch weitere von Topor referierte Quellen dokumentieren Fischers Berliner Theatererlebnisse. An dieser Stelle möchte ich mich bei Michal Topor und Václav Petrbok für wertvolle Quellenhinweise bedanken. Alle Zitat-Übersetzungen in diesem Beitrag stammen, wenn nicht anders angegeben, von Štěpán Zbytovský. Dieser Beitrag entstand dank der Unterstützung durch das Programm Progres Q12 – Literatur und Performativität der Karls-Universität. © Charles University, Faculty of Arts, 2020.

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Štěpán Zbytovský

des Leids; es erweckt das Interesse eines ruhigen Beobachters, reißt ihn jedoch nicht mit in den turbulenten Taumel des echten Lebens] (Fischer 1903: 236f.). Woran es hier mangelte, mag Fischer bei Wedekind gesucht haben.

Franz Wedekind an Otokar Fischer, s.a.

Fischer über Wedekind Nicht lange nach Fischers Rückkehr nach Prag (Sommer 1904) setzte offensichtlich eine intensive Beschäftigung mit Wedekind ein. Am 15. März 1906 wurde in der Zeitschrift Lumír der erste und umfangreichste Wedekind-

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Text Fischers abgedruckt: sein Person-und-Werk-Aufsatz Frank Wedekind. Somit gehört Fischer zu den Schrittmachern der zeitgenössischen WedekindRezeption. Bis kurz nach der Jahrhundertwende wurde das Œuvre Wedekinds, abgesehen von den Besprechungen einzelner Inszenierungen und Bücher, auch im deutschsprachigen Raum eher sporadisch reflektiert. Alle zu Wedekinds Lebzeiten herausgegebenen selbstständigen Arbeiten und ausführlicheren Essays stammen aus den Jahren 1905–1915, einer Periode also, in der sich Wedekinds Ruf als einer der bedeutendsten Dramatiker Deutschlands etablierte (Vinçon 1987: 104ff.) – obwohl manche Kritiker seine Produktion aus eben diesen Jahren als einen schriftstellerischen Abstieg bewertet haben. Maßgebliche Zeitgenossen – Alfred Kerr, Karl Kraus, Max Harden, Julius Bab – widmeten ihm 1905 und 1906 monothematische Essays, der Romantikforscher und Lyriker Raimund Pissin (1905) gab die erste Monographie heraus. Diese Arbeiten kannte Fischer nachweislich (Fischer 1906b: 296), setzte jedoch in seiner Interpretation eigenständige Akzente. Wedekind war zu dieser Zeit in Prag nicht unbekannt. Über die deutschen Aufführungen und Veröffentlichungen Wedekinds wurde in deutschsprachigen Periodika berichtet (z. B. Engel 1902 und 1905) – und dabei häufig sein Talent anerkannt, gerügt jedoch die Unfähigkeit, eine geschlossene Komposition zu schaffen. Auch die tschechische Theaterkritik nahm wichtige Aufführungen in anderen Metropolen wahr, wie Ervín Taussigs Aufsatz aus der Zeitschrift Scena (1913) belegt. Selbst die Geschichte der Prager Wedekind-Inszenierungen auf deutschen wie auch tschechischen Bühnen ist relativ reich. Keiner der zeitgenössischen Kommentatoren des Wedekind’schen Werks ist an dem Thema der Sexualmoral und der Geschlechterrollen vorbeigegangen, ebenso wie an seinem Verhältnis zur naturalistischen Poetik. Als prototypische Modelle – bezogen insbesondere auf die Lulu-Tragödie – können etwa die Interpretationen von Karl Kraus (1905) und vom Münchener Arzt Isaak Spier (1913) herangezogen werden: Spier sah in Lulu die Personifikation der Weiblichkeit in ihrer radikalen Form als zerstörerische Nymphomanie, gleichsam als Offenbarung eines Naturgesetzes. Der „unheilvolle Einfluss des rein tierisch-weiblichen auf den Mann“ (Spier 1913: 677) werde somit unterstrichen, sodass das Auftreten von Jack the Ripper letztlich nur eine „ausgleichende Gerechtigkeit“ vollziehe. Lulu sei die Demonstration der in der weiblichen Seele angelegten Pathologie, die schließlich nicht nur die Männer zerstöre, sondern sich zugleich als selbstzerstörerisch erweise. Karl Kraus dagegen sprach in seinem berühmten Pandora-Vortrag vom Triumph „der Unethik des Mannes über die Unethik der Frau“ (Kraus 1905: 9).

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Den Deutungsansätzen, die allein die destruktive Kraft der Frau hervorgehoben haben, hielt er die Begründung entgegen, dass „es [das Weib] von allen zerstört ward“ (ebd.: 2), und rief schließlich zum Kampf gegen drei „barbarische Lebensformen“ (ebd.: 13), in die Frauen manipuliert werden – die Dirne, das alte Mädchen und die Jungfrau als Heiratsartikel. Prägte Gundolf (1948: 207) später für das Doppeldrama die Bezeichnung „Hurentragödie“, so war es für Kraus (1905: 3) vielmehr eine „Tragödie von der gehetzten, ewig mißverstandenen Frauenanmut, der eine armselige Welt bloß in das Prokrustesbett ihrer Moralbegriffe zu steigen erlaubt“. Gleichzeitig vergaß Kraus nicht, den grotesken Zug zu unterstreichen. Auch Otokar Fischer hat den grotesk-brüchigen und komitragischen Charakter von Wedekinds Werken mehrmals betont. Dennoch konzentrierte er sich nicht auf die Frau als Typus (oder einen Frauentypus), sondern auf den Dichter selbst. Als leibhafte Figuration der grotesken Ambivalenz in Stil und Wirkung galt Fischer die rätselhafte Gestalt des Vermummten Herren aus Frühlings Erwachen, die er zugleich als autobiographische Figur verstand, als passende Bezeichnung für „básníka záhadných gest, masopustních situací, v  bolesti se svíjejících úsměvův a neprůhledné škrabošky“ [den Dichter der geheimnisvollen Gesten, der Faschingssituationen, des schmerzhaft sich kringelnden Lachens und der undurchsichtigen Larve] (Fischer 1906a: 220). Unter die Maske dringe niemand; ja, Wedekind lasse sich nicht anders fassen denn als Einheit von Grimasse bzw. Maske und Sein. Fischer fasste also Wedekind keineswegs als einen naturalistischen Dramatiker auf, der demaskierend die Menschennatur entblößen würde.2 Auch der Duktus der Wedekind’schen Moralkritik sei nicht naturalistisch. Fischer sieht ihn einerseits als einen Dichter des Unmoralischen („nemorální“) – dort, wo er sich kritisch gegen bestehende Moralvorstellungen wendet und in diesem Sinn höchst moralisch wird – und andererseits als einen Dichter des Amoralischen („amorální“) – dort, wo seine Dramen und Erzählungen sich vollkommen außerhalb der ethischen Maßstäbe bewegen – etwa in dem Grundakkord seines Werks, dem Prosaband Fürstin Russalka, und den Dramen Frühlings Erwachen und Erdgeist: „Kultura leží stranou; morálka se ztrácí v nedozírnu, snad ještě nepřišlo pomyšlení na ni, snad jsou tu lidé ještě příliš bujaří pro ni.“ [Seitab liegt die Kultur; die Moral verliert sich im Unabsehbaren, womöglich wurde ihrer noch nicht einmal gedacht, womöglich sind die Menschen hier noch zu ungestüm für sie.] (Fischer 1906a: 224) Wedekind war 2  Auch in der Besprechung von Robert Franz Arnolds Buch Das moderne Drama kritisiert Fischer (1907b: 190) die Zuordnung Wedekinds zu den „Realisten“.

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für Fischer nicht denkbar in einer „uvolňující atmosféře pohanské nevázanosti, pohanské krásy“ [entspannenden Atmosphäre der heidnischen Zügellosigkeit, der heidnischen Schönheit]. Er würde dichterisch wertvoll und liebenswürdig gerade als Kontrahent der bestehenden Kultur, genauso wie sein großer Vorgänger, der „ironik a pohan“ [Ironiker und Heide] Heinrich Heine. Wedekinds Moralkritik beruhe auf seiner ästhetizistischen Überzeugung. Wo die wahre Schönheit sei, dort hause auch die Unschuld und Erhabenheit: Wedekind zbožňuje krásu. Ale za něžného truvéra není zrozen; k epickému vnímání schází mu klid; miluje pohyb; miluje arabesku. V chůzi člověka se prozrazuje duše. V rytmických gestech chví se záblesk věčnosti. Vlnící se linie může být odměnou za strasti života, a pro krásný pohyb dalo by se umřít. [Wedekind vergöttert die Schönheit. Er wurde jedoch nicht als zartsinniger Trouvère geboren; zur epischen Wahrnehmung fehlt ihm die Ruhe; er liebt die Bewegung; liebt die Arabeske. Die Gangart verrät die Seele des Menschen. In rhythmischen Gesten blitzt die Ewigkeit auf. Eine Wellenlinie kann das Entgelt für das Leid des Lebens sein und für eine schöne Bewegung ließe sich sterben.] (Fischer 1906a: 225)

In dieser Perspektive deutete Fischer Wedekind als einen Dramatiker, der konsequent die Formen der üblichen sprachlichen Gestaltung bricht. In den Dialogen folge zwar eine Replik auf die andere, aber „nevyplývá jedna z druhé. Věty mají neslyšný doprovod; rány krvácejí dovnitř.“ [die eine geht nicht aus der anderen hervor. Die Sätze haben ein unhörbares Geleit; die Wunden bluten nach innen.] (Fischer 1906a: 227) In den neueren Dramen, in der Phase also, wo Wedekind nicht nur ein ‚Feind der Gesellschaft‘ war, sondern als solcher einen gewissen Ruf errang, fand Fischer das Prinzip der Dialogauflösung und des Aneinander-vorbei-Sprechens noch weiter getrieben, jedoch mit einem diametral entgegengesetzten Effekt: An Stelle des „jemné slyšení neproslovených slov“ [feinen Hörens der unausgesprochenen Worte] (Fischer 1906a: 230) – einer über das Verbale hinaus intensivierten dramatischen Kommunikation – trete vollkommene Kommunikationsverweigerung. Die typischen Szenerien Wedekinds sind durchaus düster – Gefängnis, Nervenklinik, Bordell. Für Fischer fungierten sie jedoch nicht primär als Räume der Abnormität, Gewalt und Unordnung, sondern als Räume, die in besonderer Weise für ein entfesseltes Spielverhalten und eine (Selbst-)Vorführung prädisponierten: „v pozadí zve k  návštěvě vždy a všude – cirkus, Wedekindovský cirkus“ [im Hintergrund lädt immer und überall Zirkus, der Wedekind’sche Zirkus zum Besuch ein] (Fischer 1906a: 230). Dieser Raum wird als Metapher der Grundstimmung der Wedekind’schen Werke, als

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„ideální průmět“ [ideale Projektion] vorgestellt, in die Fischer alle Figuren und Episoden des verehrten Jongleurs mit Gesten versammelt: […] vmyslete si všechny scény jeho dramat po sobě provedeny: jejich ideálním průmětem bude cirkus; rovinou, v níž skoro všechny osoby si mohou dáti dostaveníčko, ne jako diváci, nýbrž jako účinkující artisté […]. Morální filosof Hetmann obdrží engagement hloupého Augusta; clown bude vykládati morálku, krasojezdec učí moderní filologii […] athlet Rodrigo Quast chce s Lulu produkovat se ve Folies Bergères […] a znovu pak šílený, nesmyslně smyslný tanec lásky, ‚tanec života‘, při němž v těsném objetí sevřeny křepčí a létají páry, že všecko zaléhá a ztrácí se v chaotické změti a že nelze rozeznati nežli zde bílé splývavé roucho a tam dva krvavě rudé rty, se kterých sálá neuhasitelná smyslnost… [[…] denken Sie sich alle Szenen seiner Dramen in einer Reihe aufgeführt; ihre ideale Projektion wird der Zirkus sein – eine Ebene, auf der sich fast alle seine Figuren ein Rendezvous geben können, nicht als Zuschauer, sondern als mitwirkende Artisten […]. Dem Moralphilosophen Hetmann kommt die Rolle des dummen Augusts; der Clown wird die Moral erörtern, der Zirkusreiter lehrt moderne Philologie […], der Athlet Rodrigo Quast möchte sich mit Lulu in Folies Bergères produzieren […], und dann wieder der irrsinnige, sinnlos sinnliche Tanz der Liebe, ‚Lebenstanz‘, in dem Paare in fester Umarmung das Tanzbein schwingen und fliegen, bis alles die Ohren voll hat und sich im chaotischen Gewirr verliert. Und es lässt sich nichts erkennen außer dem weißen lang herabfließenden Gewand hier und zwei blutroten Lippen, von denen eine unstillbare Sinnlichkeit glüht …]. (Fischer 1906a: 232)

Mit einer Wendung in der imaginierten Zirkusszene markierte Fischer einen Bruch in Wedekinds Werk. Der Vermummte Herr strhuje masku, strhuje druhou a třetí a ukazuje svou tvář bolestí strhanou. ‚Pokládali jste mne za člověka necitu, ale já vám ukážu, co jsem vytrpěl‘ [reißt seine Maske herunter, reißt auch die zweite, dritte, und zeigt sein von Schmerzen verzerrtes Gesicht. ‚Sie hielten mich für einen gefühllosen Menschen, aber ich zeige Ihnen, was ich durchlitten habe‘]. (Fischer 1906a: 232)

Wedekind war für Fischer als Meister der Ambivalenz, der Spannung des Unvereinbaren wertvoll; als Dichter der belebenden Irritation. In den späteren Werken, in denen ein ernstzunehmender positiver Zielpunkt der sozial- und moralkritischen Hiebe durchschimmert, oder dort, wo das Provokative zur Norm ausartet, werde aus der Geste des mysteriösen Vermummten Herrn die irrelevante Behauptung eines Clowns in seinem Zirkus, er sei der König selbst. Der Vermummte Herr sollte sein Maskenspiel nicht abbrechen und keine moralisierende „fabula docet“ (Fischer 1914c: 18) einsetzen. Einem Zug der ursprünglichen Monstretragödie (1894) sowie der späteren Fassungen der Büchse der Pandora, der im Zusammenhang mit dem Maskentreiben und dem Spannungsdreieck Sprache – Geste – Sprachlosigkeit höchst relevant erscheint, schenkte Fischer keine Aufmerksamkeit: der Mehr-

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sprachigkeit des Werks, das passagenweise auf Französisch (4. Akt im Pariser Edelbordell) und auf Englisch (5. Akt in London) oder auch in gemischten Dialogpassagen geschrieben wurde.3 Weissmann (2012) wies darauf hin, dass es sich bei der Urfassung der Lulu wahrscheinlich um das erste europäische Drama in drei Sprachen handelte (wobei das Deutsche auch in der Varietät des Schweizerdeutsch vorkommt). Besonders in den Auftritten Lulus mit Dr. Hilti wird deutlich, wie sehr „die verschiedenen Idiome zur (Schein-) Charakterisierung der Personen benutzt werden bzw. welchen Beitrag die Sprachen zur Konstitution der (wechselnden) Figurenidentität leisten“ (Weissmann 2012: 86). Das „grotesk-komische[] Spiel mit Sprachmasken“ (Weissmann 2012: 87) gewinnt dadurch eine neue Dimension. Obwohl Fischer die Fassung der Pandora von 1904 kannte, scheint es, dass er sich mit diesem Phänomen nicht befasste; der Grund kann wohl sein, dass in der Fassung von 1906 die meisten mehrsprachigen Passagen verdeutscht wurden. Fischers distanziertes Verhältnis zu Wedekinds jüngeren Werken wurde 1908 in einer Besprechung der Buchausgabe von Wedekinds Die Zensur. Theodizee in einem Akt (UA 1909 Schauspielhaus München, BA 1908) in der Česká revue evident: Der Einakter, dessen Protagonist der „literát censurou pranýřovaný […], ctitel krásných pohybů s  karabáčem v  ruce“ [durch Zensur malträtierte Literat […], Verehrer der schönen Bewegungen mit der Knute in der Hand]“ (Fischer 1908: 122) selbst ist, verfange sich in Wedekind’scher Manier und erreiche das Niveau der „naivita, bezprostřednost, elementárnost“ [Naivität, Unmittelbarkeit, Elementarkraft] (Fischer 1908: 122) der frühen Werke nicht. Die Entwicklung von der „mohutné tragedie“ [mächtigen Tragödie] Lulu bis zu den damals jüngsten Werken Musik, Die Zensur und Oaha sah Fischer als einen „žalostný sestup“ [kläglichen Abstieg] zu dramatisierten Essays, in dem die lakonische und elliptische Rede durch „rozvláčné mnohomluvnosti“ [weitschweifige Wortmacherei] ersetzt werde und seine Figuren – ehemals „krásná zvířata“ [schöne Tiere] (Fi3  Wie etwa die drei- bzw. viersprachige Passage aus dem London-Aufzug: „Lulu: Oui, monsieur, je suis Parisienne. Dr. Hilti: I am coming from Paris, where I was staying for eight days. Lulu: On s’y amuse mieux qu’ici. Vous ne trouvez pas? Dr. Hilti: Oui. I was everyday in the Louvre. I admired the pictures. But I am no French. I am from Zurich in Switzerland. Lulu: Est-ce de la Suisse Française, ça? Dr. Hilti: No. Zurich is in German Switzerland. Lulu: Alors vous parlez l’Allemand? Dr. Hilti: Sprächän Sie Töütsch? Lulu: Un petit peu seulement, parce que mon ancien amant était Allemand. Il était de Berlin, je crois. Dr. Hilti: Tonnärwättär, wia miach tas fröüt, taß Sie Töütsch sprächän! Lulu: Du bleibst bei mir die Nacht?“ Arne Laurin (1912: 480) wies in seinem späteren Aufsatz über Wedekind auf die Mehrsprachigkeit des Stücks hin, allerdings bloß als Beleg seiner europaweiten Gültigkeit und Verständlichkeit.

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scher 1908: 123) – durch Intellektuellenrollen. Das Thema der Zensur, die Unmöglichkeit, die Freude an der Wirklichkeit mit der Ehrfurcht vor ewigen Gesetzen zu versöhnen, verstand Fischer als einen ostentativen Versuch des Autors nachzuweisen, dass er fundamentale religiöse Fragen aufgreifen kann. Zugleich scheint ihm Wedekind das Primat des Ästhetischen auf seiner Werteskala relativiert zu haben. Dennoch stellten die Momente der Befreiung und des ungebundenen Maskenspiels für Fischer einen bleibenden Wert des Wedekind’schen Dramas dar, wie es auch sein Wedekind-Nekrolog in Lumír vom April 1918 belegt. Wedekind wird darin ausdrücklich als Moralist bezeichnet, und dennoch sei festzuhalten: Na doktrináře se zapomene: působiti bude, vedle mistra dialogu, oživující jeho pohled do skrýše lidské psychy, z níž vynesl na povrch pudy, třesoucí se ještě v křečích teplé živočišnosti. […] Kdo prošel kultem Wedekindova díla, vděčně bude vzpomínati vůdce jedním z mnoha uměleckých okruhů – předpeklím – a z plné hrudi dýchat čistý vzduch pod novým, svobodnějším nebem. [Der Doktrinär wird vergessen, wirksam bleibt – neben dem Meister des Dialogs – sein belebender Einblick in das Geheimfach der Menschenpsyche, aus dem er die im Krampf der warmen Animalität noch bebenden Triebe ans Licht geholt hat. […] Wer den Kult des Wedekind’schen Werks durchgemacht hat, wird sich dankbar seines Führers durch einen der vielen Kreise der Kunst – die Vorhölle – erinnern und frei aus voller Brust die reine Luft atmen unter einem neuen, freieren Himmel.] (Fischer 1918)

Wie wir sehen werden, entsprach dieser Vorstellung eines persönlichen Meilensteins die (nicht nur von Fischer artikulierte) Vorstellung eines grundsätzlichen Impulses, der dem gesamten tschechischen Theaterleben durch die tschechische Aufführung der Lulu zuteilwerden sollte.

Wedekind in Prag: Aufführungen und Erwartungen Vor Fischers Vermittlungsarbeit war Wedekind in Prag weder unbekannt noch ungeachtet. Bereits am 25.04.1901 (und in der Folgesaison) wurde im Nationaltheater der Einakter Der Kammersänger in der tschechischen Übersetzung von Bohdan Kaminský unter der Regie Jaroslav Kvapils aufgeführt.4 Unter den Berliner Gastensembles, die um die Jahrhundertwende regelmäßig das Programm des Deutschen Volkstheaters auf der Sommerbühne im 4  Vgl. die Besprechung unter der Sigle „š-“ in Národní listy, 27.04.1901, 4f.

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Heinegarten in den Königlichen Weinbergen bereichert haben, war Ende Juni 1907 das Deutsche Theater Berlin, mit dem auch Frank Wedekind das erste Mal nach Prag gekommen und in Frühlings Erwachen in der Rolle des Vermummten Herrn aufgetreten ist.5 Heinrich Teweles, noch als Angelo Neumanns Dramaturg, lud später Frank und Tilly Wedekind als Gäste der Prager Aufführungen des Erdgeistes (01.02.1912)6 und des Liebestranks (04.02.1912, Regie Otto Frieberg) ein sowie ein Jahr später zu Marquis von Keith (Februar 1913, Regie Ludwig Sepp) und Hidalla (März 1913, Regie Karl Thumser).7 Wedekind gehörte also durchaus zu den Lieblingsautoren der Prager deutschen Theater und besonders der Kammersänger, seit 1905 auf dem Landestheater gespielt, galt als hiesiges Repertoirestück. Seit der MunchAusstellung in Prag 1905 war das später vorexpressionistisch genannte Drama auf den deutschen Bühnen Prags relativ intensiv vertreten. Von 1904 bis 1908 fanden hier, angeregt durch Angelo Neumann, einige Literarische NovitätenAbende statt, später Literarische Abende genannt, an die seit 1916 Hans Demetz mit seiner Reihe Kammerspiele anknüpfte. In dieser Reihe wurde die berühmte Weltpremiere von Hasenclevers Der Sohn oder Max Brods Die Höhe des Gefühls aufgeführt, später auch der neu einstudierte Kammersänger von Wedekind und am 09.11.1918 in der gespannten Atmosphäre des revolutionären Prags seine Musik. Am erfolgreichsten war dabei die erste reine Prager Inszenierung von Frühlings Erwachen, die 1918 in Demetz’ Regie zwölfmal aufgeführt wurde; 1919 hat er noch einmal den Erdgeist im Rahmen der Kammerspiele einstudiert.8 Leopold Kramer, der 1918 die Direktorenstelle statt Teweles antrat, bereitete 1920 einen Wedekind-Zyklus vor mit der Büchse der Pandora und weiteren Stücken (Ludvová 2012: 366, 371f.). Angesichts der weiteren Aufführungen der Pandora, die in dieser Zeit auch im Prager Intimen Theater, in der Urania und im tschechischen Theater in Olmütz aufgeführt wurde, oder der neuen Aufführung von Frühlings Erwachen lässt sich mit Ludvová (2012: 372) von einer neuen Wedekind-Welle sprechen. Die Geschichte der Rezeption Wedekinds auf Prager deutschen Bühnen endet bezeichnen5  Vgl. die Tagebucheintragungen Wedekinds vom 28.–30.06.1907, in: http://www.frankwedekind-gesellschaft.de/files/downloads/tagebuecher/Tagebuecher%201904-1918.pdf (zuletzt aufgerufen am: 07.02.2017). 6  Unter der Regie Philipp Mannigs und Mitwirkung Wedekinds und seiner Frau in den Hauptrollen – vgl. die positive Besprechung im Prager Tagblatt (Weltsch 1912). 7  Dazu bes. Ludvová (2012: 262ff., 371f.). 8  Die erste Prager Lulu spielte Liese Mittler (Ludvová 2012: 341).

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derweise am 27. März 1938 mit dem Gastspiel des Wiener Theaters in der Josefstadt mit Max Kahlbecks Inszenierung von André Birabeaus Das Paradies, einer Persiflage von Frühlings Erwachen (Ludvová 2012: 526). Eine herausragende Stellung kommt jedoch der tschechischen Inszenierung vom April 1914 zu – mit der Übersetzung und organisatorischer Mitwirkung Fischers. Die Aufführung wurde organisiert durch den Redaktionskreis der jungen, relativ kurzlebigen, doch einflussreichen Theaterrevue Scena (1913–1914), deren Leiter der Dramatiker und Regisseur Arnošt Dvořák und der Lyriker und Kritiker Ervín Taussig waren; zu den Mitarbeitern zählten Karel Čapek, Josef Kodíček, Stanislav Kostka Neumann, Jaroslav Hilbert, Otokar Fischer u. a. Wiederholt wurde in der Revue die Intention kundgegeben, an einer grundsätzlichen Modernisierung des tschechischen Theaters mitzuwirken, die von deutlicher Distanzierung von der Praxis der etablierten repräsentativen Theaterszenen in Böhmen – mit dem Prager Nationaltheater an der Spitze – einherging.9 Wurden die Kritik sowie das eigene Programm in mehreren Artikeln vage als Ablehnung der erstarrten Dramaturgie und Regiekonzeption und Aufbruch ins Neue angeschlagen, sprach etwa Kodíček klarer: Der ausgeprägte Individualismus führe zu einer […] nadměrné akcentování vnějších stránek divadla s celým ohromným kultem režijních pomůcek, effektů a ornamentů, jímž rozklenula se propast mezi duší toho, co mělo brzy již přijíti, a tělem, obsahem a oblekem, ideí a smysly. [[…] übermäßigen Akzentuierung der äußeren Aspekte des Theaters mit dem ganzen gewaltigen Kult der Regiehilfsmittel, Effekte und Ornamente, durch den sich die Kluft zwischen […] der Idee und den Sinnen öffnete.] (Kodíček 1913a: 11)

Diese Kluft gehe mit der zwischen Drama und Theater einher – und die skizzierte Entwicklung sei trotz allem ihm gebührenden Respekt am Beispiel Max Reinhardts sichtbar.10 Derartige Effekthascherei warf später Kodíček der Inszenierung des Volksstücks Josef Kajetán Tyls Strakonický dudák [Schwanda, der Dudelsackpfeifer] (1847) vor, die in der Regie von Jaroslav Kvapil11 am 28. Mai 1913 aufgeführt wurde: Szenograph, Ballettmeister und 9  Bereits in der Spielzeit 1911/12 war Fischer als Schauspieldramaturg im Nationaltheater engagiert – siehe den Beitrag von Petra Ježková. 10  Bei Fischer findet sich eine ähnliche, explizite Ablehnung Reinhardts nicht, noch 1907 beschreibt er ihn durchaus lobend als Vermittler zwischen Tradition und Moderne (Fischer 1907a: 12). 11  Auch Taussigs Beiträge verraten einen eindeutig antikvapilschen Impetus der Scena: Kvapil verfolge keine klare Konzeption, seine Regiepraxis zerfällt in eine unorganische Menge einzelner, manchmal sehr gelungener Szenen und verrät eine eklektische Nachahmung

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Regisseur überbieten sich in „raffinierten Finessen“ (Kodíček 1913b: 224), die Aufführung sei in diesen drei Komponenten und ideell inkohärent geblieben. Taussig besprach in der gleichen Nummer eine Aufführung, die ihm (und offensichtlich auch der Mehrheit der Redaktion) als richtungsweisend galt: Wedekinds Lulu, die der tschechische Regisseur František Zavřel12 1913 im Münchner Künstlertheater aufgeführt hat. Das Publikum war nicht „uštvané k smrti nadbytkem effektů“ [totgehetzt durch einen Überfluss an Effekten] (Taussig 1913b: 229); durch radikale Konzentration auf die Schauspieler und durch die knappe Bühnengestaltung wurde keine Illusion angestrebt, sondern der Zuschauer sei in einer „ekonomii barev a gest“ [Ökonomie der Farben und Gesten] (Taussig 1913b: 230) zur eigenen Illusionsgestaltung äußerst effizient angeregt worden. So verwundert nicht, welche Erwartung der Prager Aufführung des ersten Teils der Doppeltragödie – Erdgeist – zugeschrieben wurde, obwohl Wedekind selbst mit seinen neuen Stücken eher kritisch, von Dvořák (1913: 28) gar als „vyhaslá sopka“ [erloschener Vulkan] wahrgenommen wurde. Noch vor Taussig hat sich Arne Laurin, der spätere Chefredakteur der Prager Presse, mit Wedekind eingehend beschäftigt. In der Zweiwochenschrift Středa stellte er Wedekind als den „největší znehodnotitel hodnot Hebbelových“ [größten Entwerter der Hebbel’schen Werte] (Laurin 1912: 447) dar, dessen Botschaft einer freien Schönheitsmoral noch nicht adäquat erkannt wurde. Teilweise scheint Laurin von dem nicht erwähnten Essay Fischers (1906a) auszugehen – auch hier gilt Wedekind als ein Meister der Masken, nicht aber der Demaskierung (Laurin 1912: 448). Trotzdem wird in mehreren Passagen Lulu als „praženský tvor“ [urweibliches Wesen] (Laurin 1912: 480) bezeichnet. Neben Wedekinds Moralkritik konzentriert sich aber Laurin auf die Profilierung eines positiven Charakters Wedekinds als Antipode der heuchlerischen Bürger oder aktivistischen Menschheitsbeglücker: als Lebenskünstler, wie ihn am besten der Hauptprotagonist von Der Marquis von Keith (1901) verkörpere (Laurin 1912: 477f.).

sehr disparater Vorbilder. Das gleiche gilt nach Taussig für die gesamte zeitgenössische Dramaturgie des Nationaltheaters (Taussig 1913a: bes. 51). 12  František Zavřel (1879–1915) war Schüler von Max Reinhardt. Seit 1910 erlangte er einigen Ruhm als progressiver expressionistischer Inszenator – auf dem Berliner Hebbel-Theater, später dem Theater am Nollendorfer Platz, 1913–15 im Münchener Künstlertheater (Zusammenarbeit mit Georg Fuchs) und 1915 im Deutschen Künstlertheater in Berlin. Wedekind kannte Zavřel persönlich spätestens seit Mai 1911, wie sich einer Tagebuchnotiz vom 18. Mai entnehmen lässt.

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Wedekinds Zeit sei noch nicht gekommen – und an diese Erwartung knüpfte zwei Jahre später die Werbung für die tschechische Lulu-Inszenierung an.

Tschechische Lulu 1914 Am 18. April 1914 wurde der erste Teil der Doppeltragödie unter dem Titel Lulu auf dem Intimen Theater im Stadtteil Smichow in tschechischer Übersetzung uraufgeführt; am Vortag ist sie in Buchform als dritter Band der Edition „Knihovna Sceny“ [Bücherei der Scena] erschienen. Die Aufführung wurde initiiert durch Fischer, der sie in der Agrarzeitung Venkov [Das Land] am 12. April als den entscheidenden programmatischen Schritt der Scena deutete: […] chceme českému jevišti vydobýti krvavého, syrového a při tom vysoce poetického toho umění, které nepočítá se zákony střízlivé pravděpodobnosti a neleká se ani groteskních a tragikomických prostředků. Programatičnoust plánu je stupňována tím, že autor napsal k českému překladu úvod, ve kterém si přeje, aby uvedení jeho díla na naši scénu setkalo se též s jakýmsi dramaticko-pedagogickým účinkem: přeje řadě mladých dramatiků, žijících a tvořících v českém národě, aby […] jím byly uzvolněny okovy, aby se jejich výtvorům otevřela domácí i cizí divadla. [[…] der tschechischen Bühne wollen wir eine blutige, rohe und dabei höchst poetische Theaterkunst erringen, die nicht mit den Gesetzen nüchterner Wahrscheinlichkeit rechnet und gar vor grotesken und tragikomischen Mitteln nicht zurückschreckt. Der Programmcharakter dieses Vorhabens ist dadurch gesteigert, das der Autor ein Vorwort zur tschechischen Übersetzung verfasste, in dem er sich wünscht, dass die Aufführung seines Werks auf unserer Szene auch mit einer gewissen dramatisch-pädagogischen Wirkung einhergeht: er wünscht einer Reihe junger Dramatiker, die in der tschechischen Nation leben und schaffen, daß […] durch die Aufführung ihre Fesseln gelöst werden, dass ihren eigenen Werken heimische sowie ausländische Theater aufgeschlossen werden.]13 (Fischer 1914a: 3)

Besonders hob dabei Fischer das erneute Wirken František Zavřels in Prag hervor, der in einem Jahr in Prag insgesamt vier Inszenierungen vorgestellt hatte und als der Initiator des expressionistischen Inszenierungsstils in Prag betrachtet wird, vor allem dank dem Einfluss auf Karel Hugo Hilar 13  In ihrer Ausrichtung gegen den etablierten tschechischen Theaterbetrieb entspricht diese Einstellung durchaus der Selbststilisierung Wedekinds, der im Kammersänger sein alter ego, Professor Dühring, über die deutschen Nationaltheater behaupten lässt: „Das sind Festungswerke, kann ich Ihnen sagen, gegen welche die Bepanzerungen von Metz und Rastatt Botanisierbüchsen sind. Lieber graben sie zehn Leichen aus, als daß sie einen Lebendigen einlassen“ (Wedekind 1969b: 404).

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(1885–1935) und Jan Bor (1886–1943). Das erste Spiel war Arnošt Dvořáks Král Václav IV. [König Wenzel IV.]14 auf dem Stadttheater in den Königlichen Weinbergen (Městské divadlo na Královských Vinohradech), das zweite der Erdgeist (als Lulu) in Smichow, der sich an die oben erwähnte Münchner Aufführung unter Zavřel anlehnte. Die erhaltene Korrespondenz zwischen Zavřel, Fischer und Karel Švanda (Prinzipal des Intimen Theaters) belegt, dass die tschechische LuluAufführung relativ hastig vorbereitet wurde. Noch vier Wochen vor der Aufführung wusste Švanda nicht, ob der Text für die Aufführung und die Buchherausgabe, die am Vortag erscheinen sollte, autorisiert und vom Münchner Drei-Masken-Verlag lizenziert wurde.15 Und erst am 3. April schickte Zavřel seine finanziellen Anforderungen (400 Mark), erwähnte, dass die Lizenzerlaubnis vom Verlag „keine Schwierigkeiten haben dürfte“, instruierte Šalda bezüglich des anstehenden Besuchs der erfahrenen LuluDarstellerin Tilla Durieux in Prag (mit ihr sollte Ema Švandová, hiesige Darstellerin Lulus, die Kostüme besprechen) und bezüglich der übrigen Rollenverteilung und Szenengestaltung (geprobt wurde lediglich vom 14. bis 18. April).16 Er warnt Švanda bei dieser Gelegenheit auch: [I]m Vertrauen sind die Chancen eines Erfolges in Prag nur dann vorhanden, wenn die Vorstellung nicht nur besser ist als gewöhnlich, sondern wenn sie besser ist als so eine Vorstellung im Nationaltheater wäre. Das positive Resultat dieser Vorstellung ist, abgesehen von der Anerkennung Ihrer Ambition das, dass der Beweis geliefert werden soll, dass Sie ein Ensemble haben, das trotz der Konkurrenz, die das Nationaltheater bei jedem Engagement bedeutet, doch ein so schweres Stück wie es der ‚Erdgeist‘ ist, weit über das Niveau solcher Aufführungen zur Darstellung bringen kann.17

Interessant sind die Bezüge zur Gesamtkonstellation des Prager Theaterlebens: Der Chef des Nationaltheaters Jaroslav Kvapil hat Fischer sowie 14  Die deutsche Übersetzung von Max Brod trug den Titel Der Volkskönig (Leipzig: Wolff, 1914). 15  Am 7. März empfahl Zavřel in einem Brief an Švanda dem Intimen Theater Smichow wie auch den Národní listy mitzuteilen, dass die Übersetzung des Erdgeists „in böhmischer Sprache von Fischer und Zavrel“ in der Bibliothek der Scena erscheinen wird, und kündigt das Vorhaben an, später die Pandora ebenfalls erscheinen zu lassen. Literární archiv Památníku národního písemnictví, Praha (Literaturarchiv der Gedenkstätte des nationalen Schrifttums in Prag; weiter als LA PNP), Nachlass O. Fischer. 16  Brief F. Zavřel an K. Švanda, 03.04.1914, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 17  Und in diesem Sinne sollte das Stück auch intensiv propagiert werden: „Trachten Sie vor allen Dingen, in den Zeitungen mehr Propaganda zu machen. Ich habe bis jetzt in den Morgen-Ausgaben der _____________ [Auslassung im Original, Š.Z.] noch keine Notiz gelesen. Wir müssen natürlich das Haus voll haben.“

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Zavřel gegenüber das Interesse bekundet, Erdgeist in seiner Übersetzung ins Repertoire des Nationaltheaters aufzunehmen. Erst einige Wochen vor der Uraufführung, am 23. März, berichtete Fischer über Zavřels Entscheidung für das Intime Theater.18 Davor wird also der undatierte Brief von Zavřel an Fischer geschrieben worden sein, in dem Zavřel seine Szenen-Skizzen und Aufführungsanweisungen schickt und seine Entscheidung begründet: Zval mě Třebovský scenovat na Smíchově Lulu – a s radostí to udělám pro Wedekinda, kterého si vážím a miluji. – Dopsal mně Georg Müller nakladatel Wedekinda – že naši akci rád dá též autorizaci a že dosud není zadaná! Tak tedy noticka byla falešná! [Třebovský19 lud mich, die Lulu in Smichow zu inszenieren – und ich werde es mit Vergnügen tun für Wedekind, den ich ehre und liebe. – Es schrieb mich Wedekinds Verleger Georg Müller an, dass er unserer Veranstaltung gerne die Autorisierung erteilt und dass sie bisher nicht vergeben wurde! Also war die Anmerkung falsch!]20

Bei der „Anmerkung“ dürfte es sich um eine Information von Kvapil handeln, er habe für das Nationaltheater die Rechte reservieren lassen. Zavřel zog die Aufführung im Smichower Theater vor oder auf den Weinbergen, wo er einige Monate zuvor Arnošt Dvořáks König Wenzel IV. aufführte. Explizit lehnte er jegliche Beteiligung Kvapils ab: „Kvapilovi nikdy nedovolím scenovati Lulu. – nemá cit pro tu horoucnost – a pro tu jednoduchost [,kterou] hlavně vyžaduje hra.“ [Niemals werde ich Kvapil erlauben, die Lulu zu inszenieren. – er hat kein Gespür für die Inbrunst – und die Schlichtheit[, die] das Stück vor allem erfordert.]21 Auch hier zeigt sich, dass die Aufführung von den Akteuren selbst u. a. als Mittel der Positionierung gegenüber dem durch Kvapil repräsentierten Regiestil verstanden wurde. Die Übersetzung stammt bis auf einige Details von Otokar Fischer und als Vorlage diente die zweite Erdgeist-Fassung von 1903.22 Wie genau die Über18  Brief Fischers an Kvapil vom 23. März 1914, LA PNP, Nachlass O. Fischer. 19  Alexander Třebovský (1876–1935), Schauspieler des Intimen Theaters seit 1912, 1914–1935 im Nationaltheater engagiert. 20  LA PNP, Nachlass O. Fischer. Die Vermittlerrolle Třebovskýs bestätigt auch Fischer (1920b) anlässlich der Neuinszenierung unter Jan Bor. 21  LA PNP, Nachlass O. Fischer. Daselbst der etwas spätere undatierte (vor dem 23. März geschriebene) Brief Zavřels an Fischer, wo er bestätigt, dass Wedekind persönlich die Übersetzungslizenz „uns“ und nicht dem Nationaltheater gewährte, und schließlich: „Jsem definitivně rozhodnut jen pro Intimní divadlo. Ujednejte ale direktně s Švandou vše ihned co možná a co nejrychlejší datum premiery.“ [Ich bin definitiv entschieden nur für das Intime Theater. Handeln Sie aber direkt mit Švanda alles aus, wenn möglich sofort, und auch das möglichst frühe Datum der Premiere.] 22  Obwohl bereits 1913 die Gesamtfassung der Lulu vorhanden war, die aus gekürzten Versionen des Erdgeists und der Büchse der Pandora bestand.

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setzung initiiert wurde und in welchem Zeitraum sie entstanden ist, konnte ich leider nicht ermitteln. In einem undatierten Brief vom Februar oder März 1914 schrieb Zavřel an Fischer, seine Übersetzung sei „úžasný“ [fabelhaft], und kündigte an, für die Inszenierung einige Kleinigkeiten ändern zu wollen. Auch diese ca. zwei Dutzend Streichungen und Korrekturen, die überwiegend die Kommentare zur Gestik und Proxemik betrafen, waren also Grund zur Angabe von Fischer und Zavřel als Autoren der Übersetzung und der szenischen Bearbeitung. Als Vorwort wurde ein Brief Wedekinds an Zavřel vorangestellt, in dem der Autor auch die Leistung der „trefflichen Übersetzer[]“ (Wedekind 1914: 6) hervorhob. Dass Fischer mit dieser mehrfachen Urheberschaftszuschreibung nicht einverstanden war, belegt seine Notiz am Rande des transkribierten Briefs von Wedekind: „V originále, jejž jsem měl v ruce, stojí singulár (ihrem trefflichen Übersetzer), jenž Zavřelem byl změněn v plurál!!!“ [Im Original, das ich in der Hand hatte, steht Singular (ihrem trefflichen Übersetzer), den Zavřel in Plural geändert hat!!!]23 Ebenfalls in einem Brief an Arne Novák vom 24. Juli 1914 sprach Fischer eindeutig von „mého překladu“ [meiner Übersetzung].24 Fischer hoffte, von Novák den Belang des Stücks bestätigt zu bekommen, und schickte ihm ein Exemplar der Übersetzung, deren Bedeutung für die „posílení naší tak slabodeché dramatické tradice“ [Stärkung unserer so engbrüstigen dramatischen Tradition]25 wohl auch Novák nach dem anfänglichen Zögern erkannt habe. Novák antwortete eine Woche später mit einem Lob auf die „jazyková břitkost a výrazová naléhavost“ [sprachliche Schärfe und Dringlichkeit des Ausdrucks] der Übersetzung sowie die gelungenen Stichomythien26 – gemeint war in dem versformfreien Text wohl der Rhythmus des Replikenwechsels, vor allem dort, wo sich der Dialog durch Überlagerung mehrerer Gesprächsthemen oder Adressierungen auflöst – eine Technik Wedekinds, die Fischer das „intensivní hovor“ [intensive Gespräch] (Fischer 1914c: 18) nannte. Die Übersetzung selbst verrät die auch aus späteren Übertragungen wohlbekannte Fähigkeit Fischers, durch umsichtig gewählte dynamische Äquivalente die der Vorlage eigene Konstellation von Individualstil, Sprachbildlichkeit, argumentativer Struktur, Metrum und Textsyntax überzeugend ins Tschechische zu übertragen. 23  LA PNP, Nachlass O. Fischer. 24  Brief vom 24.07.1914 (LA PNP, Nachlass Arne Novák). Die Übersetzung der Aufführungsvorlage von 1920 sowie die späteren maschinenschriftlichen Kopien der Übersetzung von 1929 werden daher nur noch Fischer zugeschrieben. 25  Brief vom 24.07.1914 (LA PNP, Nachlass Arne Novák). 26  Brief A. Nováks an O. Fischer, 31. August 1914 (LA PNP, Nachlass A. Novák).

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Bereits im Prolog ist der Nachdruck auf das theatralisch-reflexive Moment bemerkbar: Während der Prolog-Sprecher im Originaltext einfach als Tierbändiger bezeichnet wird, ist es in der Übersetzung explizit der Autor im Tierbändigerkostüm; seine Proxemik und Gesten sind in Originalkommentaren ‚fiktionsintern‘ auf ein Menagerie-Zelt bezogen, in der tschechischen Version (entsprechend der minimalistischen Szenengestaltung Zavřels) auf den Raum „hinter der Szene“. Das bekräftigen noch die abgedruckten Szenen-Skizzen, die auf Zavřels Anweisungen und Schemata zurückgehen. Während Lulu im ersten Auftritt u. a. „reizende Bekanntschaft“ (Wedekind 1969a: 239) genannt wird, unterstreicht Fischer mit „rozkošné stvoření“ [reizendes Geschöpf] (Wedekind 1914: 19) die natürlich-animalische Anlage Lulus etwas deutlicher. Wo Dr. Schön vor dem Brustbild seiner Braut im Original behauptet: „Hier ist mehr Fond.“ (Wedekind 1969a: 240), akzentuiert Fischer den Kontrast zur überwältigenden Körperlichkeit Lulus mit der Zuspitzung „Zde je více duše.“ [Hier ist mehr Seele.] (Wedekind 1914: 19) Die letzten Worte des ersten Auftritts, Schöns Ausruf angesichts der Begegnung mit Lulu, haben dagegen im Original eine deutlicher blasphemische Note: Fischer wählt statt „In Gottes Namen“ (Wedekind 1969a: 241) das als Vorausdeutung seines Scheiterns lesbare „Amen!“ (Wedekind 1914: 20). Häufiger – und wohl auf Zavřels Anregung – finden sich Kommentarergänzungen zur nonverbalen Schicht, die die Dynamik der Figurenbeziehungen verstärken. Ein neuer Kommentar fügt am Schluss des zweiten Auftritts ein Gestenspiel ein, in dem sich Lulu in Anwesenheit ihres Verlobten Goll gegenüber Schwarz und Schön deutlicher herausfordernd verhält: „SCHÖN (nabízí Gollovi cigaretu a zapaluje ji; oba mluví docela tiše. Dlouhá pausa. Je slyšet jen malíře pracovat. Němá hra Lulu s  Schwarzem i  s  Schönem)“ [SCHÖN (bietet Goll Zigarette und zündet sie an; beide sprechen ganz leise. Lange Pause. Man hört den Maler arbeiten. Stummes Wechselspiel zwischen Lulu und Schwarz sowie Schön] (Wedekind 1914: 25). Eine ähnliche Rolle spielt der zusätzliche Blickwechsel von Lulu und dem Goll wegführenden Dr. Schön am Schluss des dritten Auftritts (Wedekind 1914: 28) oder der Austausch zwischen Lulu und der lesbischen Gräfin Geschwitz am Ende des ersten Auftritts des vierten Aktes, wo statt des schlichten „Von Lulu geleitet, durch die Mitte ab“ ein expliziter Hinweis auf die erotische Spannung ergänzt wurde: „Lulu, ruku kolem pasu Geschwitzové, pošeptá jí něco do ucha a vyprovází ji ven; obě se smějí.“ [Lulu, ihren Arm um Geschwitz’ Taille gelegt, flüstert ihr etwas ins Ohr und begleitet sie hinaus; beide lachen.] (Wedekind 1914: 86)

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Stellenweise konturiert Fischer ein Sprachspiel durch eine Formulierung, die durchaus auch im Deutschen denkbar wäre. Die Repliken „SCHÖN. Solang die Mutter noch lebte, tanzte sie mit den Beinen … / ALWA. Als sie dann frei wurde, tanzte sie mit dem Verstande …“ werden übersetzt durch „SCHÖN: Pokud byla na živu matka, tančila nohama …/ ALVA: Když se pak postavila na vlastní nohy, tančila rozumem … [Als sie sich dann auf eigene Beine/Füße stellte, tanzte sie mit dem Verstande] (Wedekind 1914: 26). Dass der Ausruf der von Schwarz um die Ottomane gejagten Lulu „Gott schütze Polen!“ (Wedekind 1969a: 250; Anspielung auf eines der zentralen polnischen Nationallieder) von Fischer ausgelassen wurde, mag evtl. an einer Behutsamkeit gegenüber der Ironisierung nationaler Symbole liegen, deren (wohl größere) Provokation für das tschechische Publikum die angestrebte Wirkung stören könnte. Auf die Aufführung reagierte die tschechische Kritik überwiegend im Sinne der ‚Vorgaben‘ in Fischers und Wedekinds Werbetexten.27 Auch die positivsten Echos hoben vor allem die dramaturgischen und Regie-Aspekte hervor – vielleicht ein Signal, dass die Schauspielerleistungen nicht besonders (und nicht über die Demonstration einer Konzeption) hinausragten. So schrieb z. B. Arne Laurin in Rozvoj [Aufstieg]: „Představení, uspořádané redakčním kruhem ‚Sceny‘, mělo ráz manifestace a Zavřelovi platilo jistě stejné množství potlesku jako autorovi samotnému.“ [Die durch den Redaktionskreis der Scena veranstaltete Vorstellung hatte den Charakter einer Manifestation und Zavřel galt der Publikumsbeifall sicherlich gleichermaßen wie dem Autor selbst.] (Laurin 1914). Kodíček (1914) nutzte wiederum die Gelegenheit zu einer deklarativen Auseinandersetzung mit dem neuklassischen Drama und dessen „Antiquisierung“ des Lebens; Wedekind fungiere als das Muster des die Lebenskräfte steigernden vitalistischen Theaters. Die Besprechung des Dramatikers, Prosaschriftstellers und Kritikers František Langer fiel sichtlich nüchterner aus; trotzdem rechnete er sie 27  Die Redaktion der Scena selbst stellte die Aufführung als großen Erfolg dar: „Podařilo se nám dopomoci k  vítězství na českém jevišti jednomu z  největších a nejosobitějších dramatiků německých, podařilo se nám odstraniti jeden z ostudných nedostatků českého repertoiru; podařilo se nám prokázati, že regijní umění, je-li silného, tvárného hmatu, dovede i zanedbaný herecký soubor umocniti k  uměleckému výkonu.“ [Es ist uns gelungen, einem der größten und eigenartigsten deutschen Dramatiker zum Sieg auf der tschechischen Bühne zu verhelfen, es ist uns gelungen, einen der schändlichsten Mängel des tschechischen Repertoires zu beheben. Es ist uns gelungen nachzuweisen, dass die Regiekunst, wenn ihr ein starker und formender Griff eignet, auch ein vernachlässigtes Schauspielensemble zur künstlerischen Leistung potenzieren kann.] (Anonym 1914a: 27)

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neben der expressionistisch gefärbten Aufführung der Lustigen Weiber von Windsor (Regie K. H. Hilar, Stadttheater in den Weinbergen, 1914) und dem König Ödipus (Regie A. Schwarz, Kunsttheater, 1914) zu den Anzeichen einer „sumárněji a hlouběji“ [einheitlicher und tiefer] wirkenden Beschäftigung mit der „otázka jeviště“ [Frage der Bühne]“ (Langer 1914: 28). An Zavřels Beispiel sei es bestens demonstriert worden: an der zweckmäßigen Bühnengestaltung, die nicht bloß die Sinne des Zuschauers anspricht, sowie an dem – im positiven Sinne zu verstehenden – „Imperialismus“ des Regisseurs, der eine entschiedene „Superiorität“ über alle Aspekte der Aufführung bewährt. Nur solch eine ‚Machtstellung‘ konnte sichern, dass das „nerovnocenný materiál“ [ungleichwertige Material] (Langer 1914: 28) des Smichower Ensembles eine überraschende Leistung vorbrachte. Mit dem Vorhaben der Scena, Zavřel regelmäßig auf kleineren tschechischen Bühnen zu engagieren und dadurch das tschechische Theaterwesen zu beleben, sympathisiert Langer, zumal wenn „zájem o divadlo není stotožněn se zájmem o převzetí vedení v Nár. divadle“ [das Engagement fürs Theater nicht mit der Absicht zusammenfällt, die Leitung des Nationaltheaters zu übernehmen] (Langer 1914: 29). Nur außerhalb des (kultur-)politisch überexponierten Nationaltheaters könne die Scena ihr Vorhaben verwirklichen. Die Inszenierung rief auch ausgesprochen negative Reaktionen hervor. So besprach der Theaterkritiker Ladislav Patočka die Aufführung, den Autor wie auch die Werbung für das Stück in der Wochenschrift Národní obzor [Nationale Rundschau]. Wedekind sei ihm zufolge kein Dramatiker (Patočka 1914: 11), weil es seinen Stücken vollkommen an einem dramatischen Aufbau mangele. Zavřel sei diesmal – trotz allem Respekt des Kritikers – eindeutig gescheitert: Er respektierte den Bühnenraum des Smichower Theaters nicht und konnte die dortigen „šablonovité herce“ [Schablonenschauspieler] nicht über ihr Niveau hinaus erheben. Třebovský etwa, als der immerhin beste auf der Bühne, habe zu „kinematograficky“ [kinematographisch] gespielt und die gewaltigen Gemüts- und Gefühlsausbrüche in die Gestik und Sprache mitunter deutlich deplatziert eingehen lassen. Der repräsentative Abend der Scena war bloß „denní sensací“ [Sensation des Tages] und ausdrücklich misslungen – auch wegen der Wahl des Stücks.28 Ohne die Übersetzer- und Mitveranstalter-Rolle Fischers zu erwähnen wundert sich schließ28  „tuším, že pánům ze Scény šlo především o upozornění na sebe pro connexe s  Wedekindem, tisknou-li všude jeho slova k  českému provedení“ [ich mutmaße, dass es den Herren von der Scena hauptsächlich darum ging, Aufmerksamkeit dank den Konnexen mit Wedekind zu erregen, wenn sie überall seine Worte zur tschechischen Aufführung abdrucken] (Patočka 1914: 11).

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lich Patočka, warum sich für die Werbung auch derart „solide Personen wie Herr Doz. Dr. Fischer“ (Patočka 1914: 11) engagieren ließen. Die vorher in Aussicht gestellte gleichsam revolutionäre Wirkung der Aufführung kann also nicht belegt werden; auch im Umkreis der Scena wurde sie vielmehr als Versprechen einer neuen Arbeitsweise denn als ihr überwältigender Durchbruch verstanden.

Im Brennpunkt der nationalen Kontroverse Die Zavřel’sche Inszenierung gab Anlass nicht nur zu kritischen Auseinandersetzungen, sondern indirekt auch zu national motivierten Streitigkeiten.29 Franz Werfel richtete in seiner Glosse zu einer WedekindFeier, die am Aufführungstag im Prager Tagblatt erschienen ist, die herzlichste Gratulation an die tschechische Kulturszene. Die Aufführung sei „ein neuer Beweis dafür, daß in den letzten Jahren der schwarze Abgrund zwischen den Nationen in Prag von manchem heilsamen Funken überblitzt wird“ (Werfel 1914). Der Nationalliberalismus sowie das „fiktive Leben des Prager Durchschnitts-Deutschen“ seien zum Absterben verurteilt und es trete eine „neue[] und ehrlichere[] Generation” an. Zum Stein des Anstoßes wurde aber eine Passage, in der Werfel die nationalen Exklusionsbestrebungen tadelte: Die Prager deutsche Minorität muß an der Exklusion, zu der sie sich mehr verdammt, als daß sie zu ihr verdammt ist, zugrundegehn! Andererseits schlägt aber die tschechische Nation durch diesen Haß sich selbst eine bitterste Wunde. Denn es ist nicht zu leugnen, die tschechische Kultur kann nur ein Kind der deutschen Kultur sein, in deren Mitte sie lebt. (Werfel 1914)

Werfels doppelte Provokation (in zwei Diagnosen der unterschwelligen Selbstdestruktion) musste den national Fühlenden beider Seiten inakzeptabel erscheinen. Doch blieb Werfel nicht dabei stehen, sondern bereitete damit erst die Pointe: Die aktuellen Beispiele wechselseitiger deutsch-tschechischer Inspiration leiten eine „Befreiung des wirklichen, tieferen Lebens von dem Zwang unwirklicher, politischer Bekenntnisse“ (ebd.) ein, gegen welche die 29  Zu beachten ist der politisch-historische Kontext der wiederholt fruchtlosen Versuche vom Frühjahr bis Sommer 1914, effektive Verhandlungen der politischen Repräsentanzen über den deutsch-tschechischen Ausgleich einzuleiten (vgl. z. B. Hoensch 1997: 392ff.; Křen 1996: 294-305).

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beiden zitierten Provokationen gerichtet sind. Auf tschechischer Seite regte Werfel mehrere Reaktionen an. Der Regisseur Jan Bor (der im Mai 1914 die Zavřel’sche Lulu mit der regionalen Blažek-Theatergruppe in Dvůr Králové n. L. [Königinhof an der Elbe] und anderen Orten Ost- und Mittelböhmens aufführte; Anonym 1914b u. 1914c) begrüßte den „první stisk ruky“ [ersten Händedruck] (Bor 1914) zwischen den Künstlern, wobei er allerdings vor der „verzerrenden Herabsetzung“ der tschechischen Kultur warnte. Viktor Dyk dagegen reagierte mit einer Grundsatzerklärung zum Verhältnis der Deutschböhmen zur tschechischen Kunst, in der er Werfel vorwarf, trotz guten Willens doch schließlich die tschechische Kultur nur unter der Bedingung der „poddání se a podlehnutí kultuře německé“ [Hin- und Preisgabe an die deutsche] (Dyk 1914: 332, übers. nach Krolop 2005: 82) bestehen lassen zu wollen, was Dyk als eine Fazit-These Werfels darstellte. Dyk verstand Werfels Äußerungen als Ausdruck der überheblichen paternalistischen Einstellung vieler Deutschböhmen, und las dabei die provokante These ‚gegen‘ die Tschechen nicht im Kontext der Provokation gegen den deutschnationalen Prager „Wechselbalg“ (Werfel 1914). Daher lässt sich Dyks Reaktion als eine für die tschechische nationale Position signifikante Interpretation der Kind-Metapher Werfels verstehen, der seinerseits weder von Hin- noch von Preisgabe gesprochen hat. Otokar Fischer führte in den Maiheften der Česká revue (Fischer 1914b) sowie der Scena (Fischer 1914c) die Debatte zurück zu Wedekind. Nach dem einführenden Hinweis auf die national gesättigten Kommentare widmet er sich vor allem den gestischen Elementen der Aufführung, deren Rolle ihm zufolge den Unterschied einer genuin dramatischen gegenüber einer „literarischen“ Inszenierung deutlich macht.30 Derartigen Details spricht Fischer (1914b: 511) einen „ostře vyhraněný, neliterární karakter“ [stark zugespitzten, unliterarischen Charakter] zu, der Wedekinds Sinn für „scénickou zkratku a mimický stenogramm“ [szenisches Kürzel und mimisches Stenogramm] bezeuge.31 Allerdings kommt Fischer in der Česká revue schließlich auf die national-kulturelle Thematik zu sprechen. Er heiße alle 30  Er führt die Stellen, an denen die Gesten eine semantisch tragende Funktion gewinnen an: etwa im 4. Akt, in dem Lulu, ihre lesbische Liebhaberin umarmend, gleichzeitig die Eifersucht ihres Mannes aufhetzt. 31  Hier deutet Fischer an, was bereits anhand der Inszenierungen von Arnošt Dvořáks Wenzel IV. (Kvapil, Saison 1911/12, Zavřel ab 13.01.1914, 1 Saison) in der zeitgenössischen Kritik wahrgenommen wurde: eine dramaturgische Polarität zwischen Kvapil und Zavřel, wobei der erste eher den literarischen Text auf die Bühne setzt, während Zavřel – auch um den Preis starker Eingriffe in den Text – die dramatische Wirkung intensiviert. (vgl. Císař 2009).

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Bemühungen um die Schlichtung der nationalen Spannung willkommen, jedoch bekräftigt er: […] sám bych perhorreskoval jakékoli snahy o germanisaci našeho umění, […] naopak mám naši národní kulturu za dosti silnou, aby snesla, strávila, přizpůsobila si též významné literární prvky a zjevy národa, s nímž vedeme národnostní boj. [[…] ich würde selbst jedwede Bemühung um die Germanisierung unserer Kunst perhorreszieren, […] im Gegenteil halte ich unsere Nationalkultur für stark genug, sodass sie auch bedeutende literarische Zeugnisse und Erscheinungen der Nation, mit der wir einen nationalen Kampf führen, ertragen, aufarbeiten und anpassen kann.] (Fischer 1914b: 512)

Es ist schwer zu entscheiden, ob Werfel, der Verfechter des Rechts der Kindergegenüber der Vätergeneration, den irritierenden Abhängigkeitsmythos nicht bewusst in einen neuen Rahmen setzen wollte, genauso wie er die über zwei Jahrzehnte hinweg wirksame Separationsideologie der deutschböhmischen Intelligenz als Selbstverdammung verspottete. Dass Fischer seinerseits die Äußerung Werfels nicht isoliert, sondern im Kontext seines Œuvres verstehen wollte, deutet allerdings der Abdruck einer seiner Werfel-Übersetzungen unmittelbar nach seiner Wedekind-Glosse in der Scena (Fischer 1914c) an: Werfels Gedicht Vater und Sohn, dessen vierte und sechste Strophe lauten: Und der Sohn harrt, dass der Alte sterbe, Und der Greis verhöhnt mich jauchzend: Erbe! Daß der Orkus wiederhallt. Und schon klirrt in unseren wilden Händen Jener Waffen – kaum noch abzuwenden – Höllische Gewalt. […] Wie wir einst in grenzenlosem Lieben Späße der Unendlichkeit getrieben, Ahnen wir im Traum. Und die leichte Hand zuckt nach der greisen Und in einer wunderbaren, leisen Rührung stürzt der Raum.32

Dass die Kindesmetapher für Fischer nicht unbedingt eine hierarchische Unterordnung implizieren musste, sondern eher nur eine Entwicklungskonstellation markierte, signalisiert auch sein viel später formulierter Kommentar 32  Strauß (1920: 101). In Fischers Übersetzung ins Tschechische: „Chtivě syn, kdy kmet už zemře, číhá, / chechot starcův „dědit chceš!“ mne stíhá / v plesu, jímž se Orkus chví. / Řinčí zbraně v naši lítých rukou / a již, zdá se, neodbytně tlukou / do bran podsvětí. / … / Jak jsme v lásce nekonečné kdysi / vesmírné si žerty tropili si / snění zbylo v nás. / A dlaň lehká k stařičké lne dlani / až se v kouzelném tom prochvívání / prostor shroutí v ráz.“

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zu Karel Hynek Máchas dichterischer Genese (von seinen deutschsprachigen Anfängen an), in dem der Entwicklungszusammenhang der deutschen und der tschechischen modernen Kultur mit der Befruchtungsmetaphorik umschrieben wurde. Mácha sei ein Beispiel der slavisch-deutschen „verwickelten Beziehungen“ um und nach 1800. Diesen legte Fischer eine Entwicklungsformel zugrunde, laut der „slavischer Geist[] von deutschen Impulsen befruchtet“ wurde, sich jedoch in der Mácha-Zeit kraft „äußere[r] Anregungen […] vom Deutschtum loslöst und auf sich selbst besinnt“ (Fischer 1929: 233) und damit kulturell emanzipiert. Zur genetischen Abhängigkeit des tschechischen Dramas von dem deutschsprachigen äußerte sich Fischer jedenfalls explizit zu einem höchst exponierten Zeitpunkt, relativ kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als die tschechische Öffentlichkeit mehrheitlich alles andere willkommen hieß als Beteuerungen über die positiven Zusammenhänge zwischen tschechischer und deutschsprachiger Kultur. Im Wintersemester 1919–1920 leitete er seine Vorlesung zur deutschen Dramatik mit Überlegungen über die Aufgaben der tschechischen Germanistik ein; dazu gehörten u. a. Hinweise auf die historische Verbundenheit der tschechischen und deutschen Kultur. Fischers Hinweise lassen sich dabei schlichtweg als Paraphrase der Werfel’schen Äußerungen von 1914 lesen: A zvláště historie českého dramatu je prostě neodmyslitelná [sic!] bez historie dramatu německého, zvl. co se týče počátků našeho divadla. To si musíme všímati docela bez sentimentálnosti, že české divadlo v Praze vznikalo jako nějaká filiálka německého, že bylo naprosto ovládáno technikou i karakteristikou, intrikami i psychologií tehdejších běžných a ne právě vznešených vzorů německých a že také tehdy, kdy už naše drama vyjadřovalo opravdu domácí kmenovou svéráznost, bylo ještě ve vleku stylů a mód německých. [Und besonders die Geschichte des tschechischen Dramas ist schlichtweg undenkbar ohne die des deutschen, speziell was die Anfänge unseres Theaters betrifft. Das müssen wir völlig unsentimental wahrnehmen, dass das tschechische Theater in Prag als eine Art Filiale des deutschen entstand, dass es restlos durch die Technik sowie Charakterbildung, durch die Intrige sowie Psychologie der damaligen, nicht gerade vornehmen deutschen Muster beherrscht wurde, und dass es auch in der späteren Zeit, als unser Drama schon tatsächlich die heimische Stammeseigenart zum Ausdruck brachte, immer noch den deutschen Stilen und Moden folgte.33

33  LA PNP Nachlass O. Fischer, „Dramaturgické problémy“ [Dramaturgische Probleme].

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Fischers Rückblicke auf Zavřel und die Lulu-Inszenierung 1920 Die oben besprochene kritische Haltung des Scena-Kreises gegenüber Jaroslav Kvapil und dem Nationaltheater äußerte zwar Fischer nicht vergleichbar radikal, doch war er sicherlich überzeugt, dass Zavřel eine zukunftsweisende Regie-Konzeption vertrat. Das geht u. a. aus der Zavřel gewidmeten Betrachtung K problému režiséra [Zum Problem des Regisseurs, Fischer 1915b], die später in eine Komparation mit Kvapil und dem Chefdramaturg des Stadttheaters in den Weinbergen, Karel Hugo Hilar, eingegangen ist (Fischer 1919). Kvapil, den insbesondere seine szenographische Eindrücklichkeit und sein Einfallsreichtum auszeichnen, fühle sich nicht durch die Regieaufgaben erfüllt, sei allzu sehr durch fremde Vorbilder geprägt und gehe als „muž okamžitého popudu“ [ein Mann des momentanen Anreizes] (Fischer 1919: 200) nicht systematisch und autoritativ vor. Das Gegenteil stelle Zavřel dar, indem er den tschechischen Theatermachern die „možnost plodné spolupráce mezi básnictvím a smělou, přeměňující, hluboce do textu zasahující dramaturgií“ [Möglichkeit einer fruchtbaren Zusammenarbeit der Poesie und einer kühnen, umwandelnden und in den Text tief eingreifenden Dramaturgie] (Fischer 1919: 203) vorgeführt habe. Zavřel wollte den Text nicht nur szenisch illustrieren, sondern dachte sich in das Drama ein, um es „znovu stvořit“ [neu zu schaffen] (Fischer 1919: 204, 207) – nicht um eines triumphalen Sieges der Regie über den Text willen (was laut Fischer häufig bei Max Reinhardt der Fall war und bei den Zavřel-Nachfolgern drohe), sondern im Optimalfall um einer dichteren und vertieften Sinnfindung willen. K. H. Hilar wird schließlich als respektabler Nachfolger Zavřels vorgestellt, obwohl er bei seiner Auflehnung gegen den Akademismus Gefahr laufe, seine Vorliebe für das Extreme, den Hohn und den Krampf allzu einseitig herauszukehren (Fischer 1919: 211). Obwohl es von Fischer nicht explizit behauptet wird, erscheinen hier in Hilar die mit Zavřel ehemals verbundenen Hoffnungen durchaus erfüllt; er habe das tschechische Theater mit Aufführungen bereichert, die als (vor dem tschechischen Publikum) nicht spielbar galten: Dramen von John Millington Synge, Carl Sternheim u. a. Nicht mehr derart engagiert wie 1914 war Fischer im Frühjahr 1920, als beide Teile der Lulu (bzw. die fünfaktige Version) durch Jan Bor auf dem Švanda-Theater (zuerst am 20. Januar 1920) aufgeführt wurden. In einer kurzen Besprechung in Národní listy lobte Fischer den mutigen Versuch, auch den Pandora-Teil dem tschechischen Publikum zu präsentieren, der in Deutschland verfolgt wurde und „podnes kaceřována jak německými nacionalisty, tak

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horliteli pro zdravé a jemné umění“ [bis heute verketzert wird sowohl seitens der Deutschnationalen als auch seitens der Behüter der gesunden und feinen Kunst] (Fischer 1920b). Pandora, mit der Wedekind definitiv „[činí] zlomení holí nad poesií pohlaví“ [den Stab über die Poesie des Geschlechts bricht], wurde von Bor mit einer den unerbittlichen Naturalismus und Effekte der blutrünstigen Trivialliteratur verbindenden „závažnou intensitou“ [durchschlagenden Intensität] (Fischer 1920b) aufgeführt. Für Fischer ist dabei Bor trotz der hochzuschätzenden Leistung von Frau Švandová vielleicht zu weit gegangen, denn „hlasy herců jsou přepínány, hromadné scény nerozvíjejí se na malém jevišti nenuceně“ [die Schauspielerstimmen werden überspannt, die Massenszenen entfalten sich auf der kleinen Bühne nicht]. (Fischer 1920b) In der von ihm und Jindřich Vodák herausgegebenen Zeitschrift Jeviště [Die Bühne] besprach Fischer im Oktober 1920 die Inszenierung von Wedekinds Tod und Teufel (UA 1906) im Weinberge-Stadttheater. Obwohl Fischer Wedekind vor moralisierend-beleidigenden Angriffen durch die tschechische Kritik in Schutz nahm, sah er darin dennoch nur eine psychologisch unauthentische Sammlung bekannter Figuren und Themen Wedekinds – und vor allem: „Zde vykukuje čertovo kopýtko, které tu satanskou hrůzu uvádí ad absurdum, zde z Wedekinda čouhá – systematik, pedant, profesor smyslnosti.“ [Da schaut der Pferdefuß der Sache heraus, der diesen satanischen Schrecken ad absurdum führt; da guckt aus Wedekind – ein Systematiker, Pedant, Professor der Sinnlichkeit hervor.] (Fischer 1920d) Trotzdem protestierte Fischer (1920f.) Ende Oktober gegen die Zurück-nahme des immerhin „zpovědní“ [konfessionshaften] Stücks vom Repertoire, während eine „bezvýznamná pitomůstka“ [bedeutungslose Blödelei] wie Wedekinds Liebesgetränk weiterhin gespielt wurde: „Jedním z nejmocněji rozhodujících činitelů v našem divadelnictví je šosáctví: r. 1920 stejně jako za Rakouska; ne-li dnes ještě zřejměji.“ [Einer der entscheidenden Faktoren in unserem Theater ist das Philistertum: 1920 genauso wie unter Österreich; wenn nicht heute noch handgreiflicher.] (Fischer 1920f)34 Beide Stellungnahmen klingen sicherlich nicht nach Rekapitulation einer erfolgreichen fundamentalen Wirkung Wedekinds auf das tschechische Theaterleben.35 34  In Národní listy referierte Fischer auch über Jan Bors tschechische Inszenierung von Wedekinds Schloß Wetterstein, die am 20. März 1921 anlässlich der Schmichower KammerspielSaison aufgeführt wurde. Trotz allen Lobs an der Leistung des Regisseurs und Übersetzers Bor betrachtete er hier Wedekinds Werk nach der Pandora durchaus kritisch. 35  1929 entstand im Zusammenhang mit der Aufführung der Lulu im Nationaltheater ein maschinenschriftliches Manuskript, das mit dem Untertitel „Tragödie in fünf Akten“ in einigen Bibliothekskatalogen figuriert (etwa im Katalog der Prager Nationalbibliothek

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Es kann festgehalten werden, dass die mit dem Einzug Wedekinds und Zavřels ins tschechische Theater verbundenen Hoffnungen nur zum Teil erfüllt wurden, woran sicherlich auch die welthistorischen Ereignisse 1914–1918 ihren Anteil hatten: Weder wurde die Inszenierung zu einem Meilenstein der engeren Kooperation zwischen der deutschen und tschechischen Kulturszene, noch hat sie selbst eine Theaterrevolution herbeigeführt (und selbst Hilar [2002: 317] relativierte seine Nachfolgerschaft), sondern fügte sich in die vielsträngige Entwicklung zur modernen tschechischen Dramaturgie und Regie. Nach wie vor galt allerdings Wedekind für Fischer als wichtiger Meilen- und Prüfstein der persönlichen Entwicklung eines Theatermachers, als befreiende Erfahrung eines dramatischen ‚Fegefeuers‘. Und im Mai 1933 kam noch eine Facette hinzu: die hervorgehobene Rolle der Wedekind-Rezeption (wörtlich genannt neben Ferdinand Bruckner, Herder und Goethe) in der Entfaltung des Bildes von „zweierlei Deutschland“36 bzw. von der geistvollen, kultivierten und progressiven Kulturtradition Deutschlands, die der bis zum „Dritten Reich“ führenden Entwicklungslinie des Nationalismus und der Machtverherrlichung entgegenzustellen sei (Fischer 1933: 181).

Literatur: Anonym (1914a): Wedekindova ‚Lulu‘ [Wedekinds Lulu]. – In: Scena [Die Szene] 2, Nr. 1, 27f. Anonym (1914b): Z činnosti Sceny [Aus der Tätigkeit der Scena]. – In: Scena 2, Nr. 1, 32.

oder des Theaterinstituts als: Fischer, Otokar. Lulu. Tragedie v pěti dějstvích. Přeložil Otokar Fischer. Praha: Centrum / Fr. Kohl, 1929, 107 S.). Es handelt sich bloß um eine Abschrift der vieraktigen Fassung von 1914. Von Interesse sind die handschriftlichen Änderungen und Streichungen (im Exemplar des Prager Theaterinstituts), die möglicherweise vom Regisseur Bor stammen. Manche Korrekturen deuten an, dass in der Inszenierung von 1929 die Spannung zwischen der theologisch bzw. religionskritisch konnotierten Motivik und der moralischen Normüberschreitung einigermaßen abgeschwächt wurde. Als Beispiel kann der Ersatz des Ausrufs Lulus „Alvo, Bože!“ [Alva, Gott!] durch das wiederholte „Alvo, Alvo!“ genannt werden. 36  Am 4. Mai trat Fischer mit der gleichnamigen Rede (Dvojí Německo) anlässlich der ersten Veranstaltung des Prager Hilfskomitees für deutsche Emigranten auf.

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Otokar Fischer, Kleist und der Reichstagsbrand (1933). Zur literarischen Analyse politischer Provokationen 1. Einführung Enthält Heinrich von Kleists Herrmannsschlacht gleichsam eine Blaupause für politische Provokationen, mit der sich die Rolle der deutschen Faschisten beim bis heute nicht endgültig aufgeklärten Brand des Reichtags von 1933 deuten lässt? Plauderte Kleist in diesem Drama Techniken instrumenteller Machtsicherung aus, während er vordergründig zum Aufstand und Krieg gegen Napoleon aufrief ? Ein Artikel von Otokar Fischer, wenige Monate nach dem Reichstagsbrand auf Tschechisch und Deutsch erschienen, erweckt diesen Eindruck und zeigt Fischer als Verfechter einer gewissen Kontinuität zwischen ‚Preußentum‘ und Nationalsozialismus. Wie Fischer vorgeht und in welchen Kontext sein Artikel gehört, soll hier mithilfe einer exemplarischen Betrachtung verschiedener Dokumente gezeigt werden.

2. Zur Kleistrezeption im Nationalsozialismus Kleists Werke wurden während des Nationalsozialismus von allen ­politischen Gruppen rezipiert und zu instrumentalisieren versucht: von der NSPropaganda, im Exil, im Widerstand und von den Opfern. Möglicherweise ist das einer der verstörendsten Belege für die Kleist von der Forschung gerne zugeschriebene Vieldeutigkeit. Als Beispiel für eine Präsenz von Kleists Werken auch im Bewusstsein der Opfer sei hier ein Auszug aus den Aufzeichnungen des Textilhändlers Philipp Manes zitiert, der vor seiner Ermordung in Auschwitz (1944) ­angesichts der Auseinandersetzungen um die mangelhafte Nahrungsversorgung im Lager Theresienstadt schrieb: „Da sagt sich der einfache Mensch:

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Gewalt gegen Gewalt und konstruiert sich eine Michael Kohlhaas Stimmung.“ (Manes 2005: 82)1 Kleists Rezeption in der nationalsozialistischen Propaganda und Kulturpolitik folgte einer Linie deutschnational-konservativen und faschistischen Denkens seit spätestens 1918, die die damalige politische Situation Deutschlands mit der nach 1806 parallel setzte, also mit den preußischen Reformen und der Vorgeschichte der Befreiungskriege. Dem Nationalsozialismus ­sollte über die vermeintliche Anknüpfung an preußische Traditionen aus dem 18. Jahrhundert, gleichsam durch einen kulturpolitisch auf Dauer gestellten ‚Tag von Potsdam‘, eine scheinbare Legitimation verschafft werden. Kleist wurde eine Wende vom ästhetischen Subjektivismus zum Patriotentum unterstellt, die wahlweise seit seinem ersten Pariser Aufenthalt 1801 oder seiner französischen Gefangenschaft 1807 datieren sollte. Vor allem der Vorsitzende der Kleist-Gesellschaft und Kleist-Herausgeber Georg Minde-Pouet (1871–1950) hat derartige biographische Deutungen bereits vor 1933 unermüdlich propagiert. Wie schon Fischers bewusst provozierend gewählte Überschrift „Literarhistorisches zum Reichstagsbrand“ zeigt, wurde auf allen Seiten ein Kampf um den klassischen Kanon geführt: In den Exilzeitschriften ging es um das sozialistische und humanistische Erbe der deutschen Literatur, in der NS-Propaganda um die scheinbare Legitimation aus einer patriotischen, in Wirklichkeit faschistisch verfälschten Tradition. Beide Seiten setzten ­insofern mit unterschiedlichen Vorzeichen auf Kontinuitäten der deutschen Ideologiegeschichte. In der nationalsozialistischen Propaganda sollte zum einen der s­ cheinbar unverfängliche Abdruck ausgewählter deutscher Klassiker und Zeitgenossen verdeckter Kulturpropaganda dienen. So wurde beispielsweise der zehnte und letzte Auftritt aus dem Robert Guiskard in der damals in KarlsbadDrahowitz verlegten Zeitschrift Das deutsche Erbe. Monatschrift für die Mitglieder des Sudetendeutschen Bücherbundes wiedergegeben (Kleist 1937). Der Fragmentcharakter des Guiskard bot den deutschen Faschisten gleichsam einen strukturellen Anknüpfungspunkt, um durch scheinbare ‚Weiterdichtungen‘ ihren Kleist auf den überlieferten zu pfropfen. Einige ­Autoren witterten hier anscheinend eine Chance, der politischen Konjunktur zu ­folgen: Friedrich Wilhelm Hausmann, Rudolf Joho, Hartwig Runolt lauten einige

1  Die Notiz entstand im Spätsommer 1942, das Buch wurde aufgrund des Manuskriptes, erhalten in Wiener Library London, herausgegeben.

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Namen, die man sich wirklich nicht wird merken müssen.2 In der Forschung sah gar ein gewisser Arno Dreher die „fragmentarische Verhaltungsweise“ als „eine Besonderheit der nordischen Seele“ (Dreher 1938: 37, 47). Neben scheinbar unschuldigen Klassiker-Anthologien in Frakturschrift gab es also auch – und dazu scheinen mir die Reflexionen über das ‚Fragmentarische‘ und die Versuche zur Ergänzung des GuiskardFragments einen gewissen Übergang zu bilden – Kulturpropaganda in ­einer pseudomodernistischen, faschistischen Ästhetik. Die Nationalsozialisten ­ kultivierten Freilichttheater als vermeintlichen Gegenentwurf zur als ‚bürgerlich‘ denunzierten Guckkastenbühne, vor allem wegen der quasimilitärischen Auf- und Abmärsche der Schauspieler. Besondere propagandistische Bedeutung schrieben sie den sogenannten Grenzlandtheatern zu, eine Bezeichnung, die Bühnen im Osten wie im Westen des Reiches nach uneinheitlichen Kriterien verliehen wurde. Der damalige Intendant des Stadttheaters in Memel (Klaipėda), ein gewisser Otto Liebscher, spricht in einem Brief von der „Sprachkraft Kleist’s als Waffe im Kampfe im Grenzraum“.3 Offensichtlich hatten diese sogenannten ‚Grenzlandtheater‘ aus Sicht der Nationalsozialisten eine sowohl defensive wie vor allem auch offensive, kulturimperialistische Aufgabe. Auf einem Werbeplakat für die Luisenburgfestspiele Wunsiedel aus dem Sommer 1938, wo u. a. das Käthchen von Heilbronn gespielt wurde,4 erscheint daher die Luisenburgbühne als Knotenpunkt futuristisch anmutender, schneller Verkehrswege aus allen Himmelsrichtungen. Die Ostgrenze des Deutschen Reichs wird düster überhöht; andererseits erscheint sie nahe der damaligen Tschechoslowakei bereits durchbrochen – ein Eisenbahnzug fährt von dort ins ‚Altreich‘. Die ‚Grenzlandbühne‘ der Luisenburg wird damit im Jahr des Münchner Abkommens gleichsam zum Zielort einer futuristisch beschleunigten, Grenzen durchbrechenden ‚Heim-ins-Reich‘-Bewegung. Alle diese Beispiele sollen lediglich andeuten, wie Kleist in bald konventioneller, bald formal modernistischer Weise in die expansiv auf ­ Mittelosteuropa zielende nationalsozialistische Propaganda eingebunden wurde. Erinnert sei an die Bemerkung oben, sowohl die Nationalsozialisten als auch das Ausland bzw. Exil hätten – unter jeweils gegensätzlichen Bewertungsvorzeichen – eine gewisse Kontinuität von Kleists ‚Preußen‘ bis 2  Vgl. Hausmann (1934); Joho (1943); Runolt (1934). 3  Otto Liebscher, Intendant des Memeler Stadttheaters, an Minde-Pouet, 24.02.1942. Teilnachlass George Minde-Pouet, Stiftung Zentral und Landesbibliothek Berlin, derzeit Kleist-Museum, Frankfurt a.d.O. 4  Original aufbewahrt im Stadtarchiv Wunsiedel, Signatur StdAWunLBFSC/c1983/1.

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in ihre Gegenwart postuliert. Dabei knüpften die Nationalsozialisten in ihrem Umgang mit Kleist meist an die deutschnational-patriotische Deutung an, die sich seit der Reichsgründung 1871 verbreitet hatte. Die Ästhetik und A ­ ussage des Luisenburg-Plakats nimmt da in gewisser Weise beinahe eine Sonderstellung ein. In seiner auf den Reichstagsbrand Bezug nehmenden Deutung der Herrmannsschlacht geht Fischer hinsichtlich der Aktualisierung Kleists beinahe weiter als die Nationalsozialisten in ihren Aktualisierungsversuchen, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

3. Fischers Artikel über Kleist und den Reichstagsbrand Otokar Fischer bewertete sowohl den Robert Guiskard als auch Kleists ­politische Biographie grundlegend anders als die Nationalsozialisten. In seinem ‚literarhistorischen‘ Aufsatz zum Reichstagsbrand nimmt er die doppelte Sprechrolle „des Psychologen und des Historikers“ (Fischer 1933a: 928) ein – ein möglicherweise von Nietzsche inspiriertes Maskenspiel, um der Zeit seine Diagnose zu stellen.5 Diese doppelte Sprechrolle erscheint sowohl für den analytischen als auch den polemischen Umgang mit Verrat und Provokation in der Reichstagsbrandaffäre geeignet. Fischers Übersetzung von Kleists Dramenfragment ins Tschechische war bereits 1926 in Prag erschienen. Ganz Historiker, reihte er es unter den „größten und reinsten Beispielen dramatischen Strebens“ ein, als ­„Muster ernsthaftest dichterischen Verantwortlichkeitsgefühls und [...] Ansporn schöpferischen Suchens“ (Fischer 1927a: 168). Dagegen spricht in seiner ebenfalls auf Deutsch und in Minde-Pouets Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft erschienenen Deutung von Kleists angeblicher Wendung zum Patrioten eher der ‚Psychologe‘ Fischer. Im Vorwort zu seiner Kleist-Monographie folgert er: „[...] sein [= Kleists] wirblichter Geist fand einen Gegenstand, in den er seine eigene Erregung projizieren durfte, aber fand er, was er brauchte, Arzenei? Nein, nur ein beruhigendes Schlafmittel.“ (Fischer 1927b: 164) Eben diese Funktion habe sein Kampf gegen die napoleonische Besetzung Deutschlands für ihn gehabt; er habe „sich selbst durch Ausbrüche seines Hasses zu überschreien“ gesucht, andererseits „nicht je5  Für das tschechische Original s. Fischer (1933b). Zu Fischers Nietzsche-Arbeiten vgl. den Beitrag von Claus Zittel im vorliegenden Band.

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nen Teil seiner Persönlichkeit zu überwinden [vermocht], der p ­ roblematisch, wehvoll, krank und krampfig war.“ (Fischer 1927b: 164) „Der Haß gegen den ‚Korsenkaiser‘ formte sich zur genialischen Improvisation der Hermannsschlacht [...]“ (Fischer 1927b: 167), so Fischers Fazit 1927. Von einer „Improvisation“ ist dann nach dem Reichstagsbrand nicht mehr die Rede; der Historiker Fischer sieht Kleists Drama in einer Tradition „brandenburgischer Machiavellistik“, der Psychologe Fischer eine ­Kontinuität der „Eigenart deutschen Fühlens und Hassens“ (Fischer 1933a: 929). Der Sinn von Fischers doppelter Sprechrolle als ‚Psychologe‘ und ‚Historiker‘ – letzterer verdeutlicht immerhin noch, dass die Herrmannsschlacht „gegen Napoleon“ gerichtet ist (Fischer 1933a: 928) – erschließt sich dann beim ersten aus diesem Drama exemplarisch herangezogenen Brandfall, bei dem ein guter römischer Centurio ein Germanenkind „dem Tod der Flammen mutig jüngst entrissen“ (Kleist 1987: 515) habe. Fischer zitiert Herrmann: „Er [= der gute Centurio] hat, auf einen Augenblick, mein Herz veruntreut, zum Verräter an Deutschlands großer Sache mich gemacht!“ (Fischer 1933a: 928; Kleist 1987: 515) Die verdoppelte Sprechrolle erlaubt zu zeigen, dass im als NS-Staat aufgefassten Germanien ständig Verrat nach zwei Seiten geübt werde: einerseits der von den Machthabern für ihre Zwecke simulierte Verrat am eigenen Herzen und, wie Fischer später noch ausführt, an einem für ihn noch lebendigen besseren Deutschland, andererseits der „Verrat als Waffe des Sklaven“ (Fischer 1933a: 929), der gegen jeden beliebigen äußeren Feind eingesetzt werden kann. Übrigens sollte der Schluss dieser Replik Herrmanns den Nationalsozialisten wenige Wochen vor der Besetzung der 1938 noch verschonten Gebiete der damaligen Tschechoslowakei als ein die Form kirchlicher Losungen imitierender „Wochenspruch“ für die Kalenderwoche vom 5. bis 11. März 1939 dienen: „Solang ein Feind noch in Germanien trotzt, ist Haß mein Amt und meine Tugend Rache!“6 heißt es dort, abweichend von Kleist. Am Tag nach dem Brand des Berliner Reichstagsgebäudes, also am 28. Februar 1933, setzte die sogenannte „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ wesentliche Grund- und Bürgerrechte im Deutschen Reich ­außer Kraft; beginnend eine knappe Woche vor der ersten Reichstagswahl nach der ‚Machtübernahme‘ und mit faktischer Wirkung bis 1945. Meinte Fischer bereits darin die preußische Staatsraison des in „tatsächliche[r] oder vermeintliche[r] Notwehr“ „Statthaften und Ratsamen“ (Fischer 1933a: 928) wiederzuerkennen, so beginnt die eigentliche „Verbindungslinie mit Ereig6  Reichspropagandaleitung der NSDAP (Hg.) (1939).

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nissen der Zeit“ (Fischer 1933a: 929) vielmehr bei Herrmanns im d­ ritten Akt gegebener Anweisung, „in Römerkleidern [...] vermummt[e]“ Germanen „sengen, brennen, plündern“ (Kleist 1987: 483) zu lassen. Darin sieht Fischer „die Vorschrift zu jenem Vorgang [...], der heuer, am Vorabend der Reichstagswahl, einem Lauffeuer ähnlich verheerend zu wirken bestimmt war, um in Hunderttausende von Seelen einen Funken von Entsetzen zu ­schleudern und nunmehr – Auslandsberichten, besonders englischen Zeitungen z­ ufolge – zu einem vorsätzlichen Gerichtsirrtum ausgeschlachtet zu werden.“ (Fischer 1933a: 929) Mit dem „vorsätzlichen Gerichtsirrtum“ meinte Fischer den gegen Marinus van der Lubbe sowie gegen Georgi Dimitroff, das Mitglied der bulgarischen Kommunistischen Internationale, und das deutsche Mitglied der Kommunistischen Partei, Ernst Torgler, inszenierten Prozess. Erst in Nürnberg ab 1946 und danach auch andernorts sollte sich teilweise ­erfüllen, was Fischer bereits von diesem Verfahren erwartete, nämlich dass das „Gewissen der zivilisierten Welt“ und ein „unsichtbare[s], derzeit machtlose[s] Deutschland“ dort über das nationalsozialistische Deutschland zu Gericht sitzen werde (Fischer 1933a: 930). Und galt Fischer die Herrmannsschlacht im Vorfeld des Prozesses als Dokument „der Eigenart deutschen Fühlens und Hassens“ (Fischer 1933a: 929), so repräsentieren die Werke der K ­ lassiker für den Widerstand andererseits auch das universale Naturrecht. „[...] er [= Dimitroff] war imstande, während des Prozesses dem Feind zur Verteidigung der Sache der Arbeiterklasse und der Wahrheit mit Waffen entgegenzutreten, die er aus dem Besten und Höchsten der deutschen Kultur und der Weltliteratur geschöpft hatte“ (Friedrich/ Lang 1938: 16) – so hieß es in einer in „Paris zum 5. Jahrestag des Reichstagsbrandprozesses“, also in Fischers Todesjahr, erschienenen Schrift. Dimitroff habe in der Haft zur Vorbereitung auf seinen Prozess unter anderem nämlich sowohl Wilhelm Herzogs KleistBiographie als auch die Gesammelten Werke des Dichters in zwei Bänden ­gelesen (Friedrich 1938: 39). Was immer daran authentisch sein mag – Fischers Artikel erwies sich noch in anderer Hinsicht als prophetisch. Auch der ­Zweite Weltkrieg begann bekanntlich mit einer von deutscher Seite inszenierten Provokation, was auch die Autoren der eben zitierten Schrift bereits in ihrem Titel voraussagten: Vom Reichstagsbrand zur Entfachung des Weltkriegsbrandes. Wie zuvor bereits von John Heartfield gesehen,7 war damit zumindest der zweite Teil der Schlagzeile „Von Kleist zu Göring“ von der Bauchbinde der 7  „Wenn die Welt erst brennt, werden wir schon beweisen, daß Moskau der Brandstifter war“, lautet die Göring in den Mund gelegte Schlagzeile zur Fotomontage auf dem Titel-

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zitierten Nummer der Weltbühne Wirklichkeit geworden. Bereits etwa einen Monat vor dem Erscheinen der deutschen Übersetzung von Fischers ­Artikel hatte der Hamburger Correspondent von dem Verbot einer Aufführung der Herrmannsschlacht im damals von vielen ‚Sudetendeutschen‘ bewohnten „Gablonz in Nordböhmen“, dem heutigen Jablonec nad Nisou, berichtet (Anonym 1933). Die Aufführung könnte, so die angebliche Begründung des Verbots, „zu politischen Zwecken mißbraucht werden“. Damit scheint sich ein Kreis zu schließen, der nur als verhängnisvoll bezeichnet werden kann. Wesentlich und im Nachhinein für die Analyse politischer Provokationen bedenkenswert erscheint die unterschiedliche Instrumentalisierung der These einer Kontinuität von ‚Preußen‘ bis zum Nationalsozialismus auf beiden Seiten, der sich auch Fischer zu bedienen scheint, sowie er die Sprechrolle des ‚Historikers‘ verlässt und als ‚Psychologe‘ zum – auf seine Weise sehr hellsichtigen – Polemiker wird. Es scheint zur Natur des Problems zu g­ ehören, dass diese beiden Rollen nicht ohne Weiteres wieder zusammengefügt werden können. Auch und gerade Emotionen schreiben Geschichte; Emotionen sind manipulierbar, und Kleist, der Dichter der ‚Verwirrung des Gefühls‘ – um einmal diese zum Klischee gewordene Deutung Goethes aufzugreifen –, bietet nach Stoffwahl und Anlage seiner Dramen gerade dafür offenbar besonders ausbeutungsfähige Ressourcen.

Literatur Anonym (1933): Drahtbericht. – In: Hamburger Correspondent, 28.06. Zeitungsausschnitt o.S. im George Minde-Pouet Teilnachlass, Stiftung Zentral und Landesbibliothek Berlin, zurzeit Kleist-Museum Frankfurt a.d.O. Dreher, Arno (1938): Das Fragmentarische bei Kleist und Hölderlin als rassenseelischer Ausdruck. (= Phil. Diss. Univ. Münster). Würzburg-Aumühle: Triltsch. Fischer, Otokar (1927a): Aus dem Nachwort zu meiner tschechischen GuiskardÜbersetzung. – In: Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft 7-8 (1925/26), 167f. Fischer, Otokar (1927b): Aus dem Vorwort von Otokar Fischers Kleistmonographie. – In: Jahrbuch der Kleist-Gesellschaft 7-8 (1925/26), 162-167. Fischer, Otokar (1933a): Literarhistorisches zum Reichstagsbrand. – In: Die neue Weltbühne. Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft 2. Nr. 30 (27.07.), 928-930.

blatt der Arbeiter Illustrierte[n] Zeitung Nr. 9, 28.2.1935 (zit. n. Heartfield 1982: 76).

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Fischer, Otokar (1933b): Literární glosa k požáru říšského sněmu [Literarische Glosse zum Reichstagsbrand]. – In: Čin [Die Tat] 5, Nr. 3 (27.07.), 52-54. Friedrich, G./Lang, F. (Hgg.) (1938): Vom Reichstagsbrand zur Entfachung des Weltkriegsbrandes. Zum 5. Jahrestag des Reichstagsbrandprozesses. Paris: Éditions Prométhée. Hausmann, Friedrich Wilhelm (1934): Aus dem Erbe Heinrich von Kleists. Eine Ausarbeitung hinterlassener Fragmente. Hiddesen b. Detmold: Verlag Deutsche Worte. Heartfield, John (1982): Krieg im Frieden. Fotomontagen zur Zeit 1930–1938. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Joho, Rudolf (1943): Tod Guiskards des Normannen. Fragment von Heinrich von Kleist. Mit einer dramatischen Ergänzung zu einem Schauspiel in fünf Akten [...]. Urauff. Nürnberg am 4.4. Kleist, Heinrich von (1937): Robert Guiskard. – In: Das deutsche Erbe. Monatschrift für die Mitglieder des Sudetendeutschen Bücherbundes 1. Folge 2, 48-51. Kleist, Heinrich von (1987): Dramen 1808–1811. (= Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. II.). Hg. v. Ilse-Marie Barth und Hinrich Seeba. Frankfurt a.M: Deutscher Klassiker Verlag. Manes, Philipp (2005): Als ob’s ein Leben wär. Tatsachenbericht Theresienstadt 1942–1944. Hg. von Ben Barkow und Klaus Leist. Berlin: Ullstein. Reichspropagandaleitung der NSDAP (Hg.) (1939): Wochenspruch der NSDAP. Kalender 1939, Blatt für den 05.–11.03.1939. München: Zentralverlag der NSDAP. Runolt, Hartwig (1934): Robert Guiskard. Köln: Strom-Verlag.

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„Schwindet jene Fremdheit, die sich zwischen zwei im selben Land lebende Völker legte“? Otokar Fischer als Schauspielchef des Prager Nationaltheaters Als Otokar Fischer im November 1935 seinen Posten als Vorsitzender der Schauspielkommission und schließlich als Schauspielchef des Prager Nationaltheaters antrat, war dies für viele ein überraschender Schritt. Die Verbindung Otokar Fischers, eines Mannes von einzigartigen künstlerischen, fachlichen wie menschlichen Qualitäten, mit dem Nationaltheater erinnert – ohne dass wir das Renommee dieser höchsten Theaterinstitution im Lande anzweifeln wollen – in gewisser Weise an eine Mesalliance. Fischer zögerte denn auch und war sich seiner nicht sicher. Er fragte sich, ob eine Ablehnung nicht feige sei, und wartete auf ein schicksalhaftes Zeichen. Dieses vernahm er schließlich im Radio, in den Akkorden von Smetanas Má vlast, die ihm im entscheidenden Moment die Verse Fausts in Erinnerung riefen: „Du musst! du musst! Und kostet’ es mein Leben!“1 Später meinte er, das Nationaltheater sei seine heimliche Liebe gewesen. Diese vermochte auch ein erster misslungener Flirt in der Theaterspielzeit 1911/12 nicht zu schmälern, als Fischer neben seiner Dozententätigkeit als Schauspieldramaturg arbeitete. Damals hatte er erkannt, dass er hier seine hohen künstlerischen Ansprüche nicht verwirklichen konnte, und verzichtete demonstrativ auf die Stelle. Die bittere Enttäuschung angesichts der außerkünstlerischen Faktoren und Klüngeleien, die bei der Erstellung eines Theaterrepertoires im Spiel waren, konnte auch ein Vierteljahrhundert später nicht vergessen sein. Dennoch entschloss sich Fischer abermals, seine – offenbar schier unerschöpflichen – Kräfte in den Dienst dieser führenden tschechischen Bühne zu stellen.2 Diesmal trat er seine neue Laufbahn

1  Fischers Antrittsrede, zit. nach Píša (1948: 105). 2  Inzwischen war Fischer hier auch als Dramatiker in Erscheinung getreten, und zwar als Autor (widersprüchlich rezipierter) szenischer Bilder aus Geschichte, Mythologie und Gegenwart, die das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft und seines Handelns zu geschichtlichen Umbruchsituationen thematisieren (1918 Přemyslovci [Die Przemysliden], 1925 Otroci [Sklaven], 1928 Kdo s koho [Wer gewinnt]).

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nüchterner an, wohlvertraut mit dem Charakter dieser undankbaren, vergänglichen Arbeit. An den deutschen Schriftsteller und Philosophen Rudolf Pannwitz, der in Dalmatien von einer Symbiose zwischen Deutschen und Slawen träumte, schreibt er dazu am 23. April 1936: Sie staunen, mein lieber Freund, über meinen Entschluss, das Theater ernstnehmen zu wollen? Nun, erstens liegen die Dinge bei uns derart, dass das Theater eine noch unerfüllte Rolle innehat. Zweitens bin ich an dies „Geschäft“ bar aller Illusionen gegangen. Drittens aber war die Situation, als der Ruf an mich erging, so beschaffen, dass eine Ablehnung meinerseits leicht als Ausweichen vor einer schweren Pflicht hätte ausgelegt werden können: zumal da die Berufung eines Germanisten jüdischer Abstammung an das tschechische Nationaltheater in der heutigen Zeit immerhin als etwas Nicht-Alltägliches anzusehen war. […] ich weiss von vornherein, dass meine derzeitige Karriere wohl den Einsatz all meiner Kräfte fordert, mir aber – neben vielen Enttäuschungen und Verstimmungen – bestenfalls hie und da einen bescheidenen Erfolg, niemals innere Befriedigung bringen kann. Gerne will ich allerdings auch jetzt schon eingestehen, dass das ganze Drum und Dran noch viel, viel komplizierter und nervenraubender ist, als ich erwarten konnte. (zit. n. Thirouin 2002: 238; Hervorhebung P.J.).

Fischers Berufung zum Schauspieldirektor des Nationaltheaters erfolgte nach dem Tod Karel Hugo Hilars, eines Wegbereiters der modernen tschechischen Regie (oft auch als deren Begründer bezeichnet). Den vakanten Posten trat damit der wohl gebildetste Mann an, den das tschechische Theater je hatte. Über praktische Theatererfahrungen verfügte Fischer allerdings kaum. Sein komplexes, dialektisches Denken und seine subtile Ausdrucksweise wirkten im Theatermilieu mitunter zu nobel und wenig energisch. Die erste Reaktion des Schauspielensembles auf den neuen Chef prägte sich in ihrer Betretenheit in das Gedächtnis des Dramaturgen František Götz ein: Těžko zapomnět na tuto schůzi. Po dravém a rvavém Hilarovi, živelném divadelníku a orgiastickém umělci, […] nastupoval jeho přítel, který se pro něho často kriticky bil, a celá jeho řeč byla skoro omluvou, že on, vědec, básník, kritik a teoretik, se dal přemluvit a ujal se úřadu, který přece vyžaduje plnokrevného divadelníka. [Diese Versammlung kann man schwerlich vergessen. Nach dem ungestümen und rauflustigen Hilar, einem elementaren Theatermenschen und orgiastischen Künstler, […] kam sein Freund, der sich oft als Kritiker für ihn eingesetzt hatte, und seine gesamte Rede war nahezu eine Entschuldigung dafür, dass er, der Wissenschaftler, Dichter, Kritiker und Theoretiker, sich überreden lassen und sich eines Amtes angenommen hatte, das doch einen Vollblut-Theatermenschen erforderte.] (Götz 1960: 1f.)

Fischer hatte es weitsichtig vorweggenommen: Derartige Einwände wurden tatsächlich – mehr oder weniger laut – erhoben. Wie der neue Chef jedoch bald unter Beweis stellte, befand sich das Schauspiel in den Händen einer

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nicht minder starken Persönlichkeit, wenngleich Fischer eine andere Theaterauffassung vertrat als sein Vorgänger. Zwar hatte er vor Hilars Regiearbeiten oft den Hut gezogen und war ihm vor allem in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre ein kritischer Mitstreiter gewesen; der Unterschied zwischen ihren Theaterkonzeptionen bestand indes vor allem darin, dass das grundlegende Element des Theaters für Fischer nicht die Regie, sondern das Wort des Autors und die schauspielerische Leistung war. Ähnlich wie sein älterer Zeitgenosse F. X. Šalda war auch Fischer kein Verfechter des Regietheaters. Seine kurze Zeit als Chef bescherte dem Schauspiel des Nationaltheaters daher vor allem eine durchdachte Dramaturgie, mit Schwerpunkt auf der im rechten Moment erfolgenden Wahl einer künstlerisch erstklassigen, aktuell gelesenen Vorlage. Die unruhigen Zeiten, in denen er die Schauspielleitung übernahm, wie auch seine Auffassung vom Theater als einer mächtigen Stimme, die sich zu aktuellen Problemen äußert, machten Fischers Theater-Engagement daher auch zu einem mutigen Politikum. Ein erster entscheidender Triumph seiner experimentierfreudigen, politisch reflektierten Dramaturgie war eine Inszenierung von Lope de Vegas über dreihundert Jahre altem Stück Fuente Ovejuna (Premiere am 3. Oktober 1935) über den heroischen Zusammenhalt unterdrückter spanischer Dorfbewohner. Fischer übersetzte das vergessene Stück und adaptierte es für eine aktuell aufgefasste Inszenierung mit dem Titel Vzbouření na vsi [Der Aufstand auf dem Dorf]. Damit erhob er zugleich die Stimme zur Verteidigung der von Franco bedrohten legalen spanischen Regierung. Aus der klassischen tschechischen Dramenliteratur brachte Fischer neue, aktuelle Inszenierungen von J. K. Tyls Kutnohorští havíři [Die Bergarbeiter von Kuttenberg] oder Jiráseks Gero auf die Bühne, aus der dramatischen Weltliteratur wählte er für eine moderne Interpretation u. a. Schillers Kabale und Liebe. Auch in historisch angespannten Zeiten war Fischer nämlich kein Freund pauschalisierender, demagogischer Verkürzungen: Waren deutsche Dramen in einer früheren Phase der tschechischen Theatergeschichte aus politischen Gründen von der Bühne des Nationaltheaters verbannt worden (nach dem Ersten Weltkrieg wurde dort vier Jahre lang kein deutsches Stück gespielt), so ließ sich Fischer selbst durch die nationalsozialistische Bedrohung nicht dazu bringen, die Werte der deutschen Kultur zu verwerfen. Im Gegenteil: Er hob die humanistische Strahlkraft ihres Geistes hervor, eines Geistes, der zwar im Widerspruch zur deutschen Gegenwart stand, von dem Fischer jedoch glaubte, dass ihm die Zukunft gehöre – „navzdory dnešku a navzdory nám, obětovaným generacím“ [der heutigen Zeit und uns, den geopferten Generationen, zum Trotz] (Fischer 1936: 1).

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Bis Anfang der Dreißigerjahre nahm Deutschland zweifellos eine führende Rolle im europäischen Theaterschaffen ein. Die darauffolgenden Ereignisse hatten jedoch einen Großteil der künstlerischen und intellektuellen Elite – sofern es ihr gelungen war, den Konzentrationslagern zu entgehen – in die Nachbarländer vertrieben. Fischer unterstützte die deutschen Emigranten in der Tschechoslowakei von Anfang an. Am 4. Mai 1933, drei Monate nach Hitlers Machtübernahme, hielt er auf einer Abendveranstaltung des Hilfskomitees für deutsche Flüchtlinge einen Vortrag mit dem Titel Dvojí Německo [Zweierlei Deutschland]. (Der Vortrag erschien in der Zeitschrift Listy pro umění a kritiku [Blätter für Kunst und Kritik] und seine außerordentlich wirkungsvolle Argumentation zeugt davon, wie früh Fischer die Tragweite des nazistischen Gedankenguts erkannte.) Als schließlich Ende des Jahres 1935 in Prag der „Klub der deutschen und tschechischen Bühnenangehörigen“ gegründet wurde, sah Fischer inmitten der Skepsis, unter den Wolken, die sich über Europa zusammenbrauten, Hoffnung auf eine Zusammenarbeit und gegenseitige Bereicherung beider Kulturen aufscheinen – eine Vision, der er bereits einen beträchtlichen Teil seiner bisherigen Arbeit gewidmet hatte. Für seine Premiere am 26. Mai 1936 hatte der Klub die aus der Zeit der nationalen Wiedergeburt stammende zweisprachige Komödie Čech a Němec [Tscheche und Deutscher] von Jan Nepomuk Štěpánek gewählt.3 Die deutschen Rollen wurden mit tschechischen Schauspielern besetzt, die tschechischen Rollen mit deutschen. Die Vorstellung begann eine Stunde vor Mitternacht im Prager Ständetheater, unter den Zuschauern befand sich u. a. Präsident Edvard Beneš.4 Im Programmheft der Inszenierung, dem Leták [Flugblatt], das in zwei unterschiedlichen Sprachvarianten gedruckt wurde,5 veröffentlichte Fischer auf der Titelseite der tschechischen Version einen Artikel mit der Überschrift Slovo víry [Wort des Glaubens], in welchem er 3  Davor, ab dem 07.03.1936, traten tschechische und deutsche Schauspieler in gemeinsamen Nachtvorstellungen auf – in der Balada z hadrů [Lumpenballade] in Spoutané divadlo [Gefesseltes Theater] (wie sich das Osvobozené divadlo [Befreites Theater] Jiří Voskovec’ und Jan Werichs demonstrativ umbenannt hatte), in Shakespeares Was ihr wollt auf der Kleinen Bühne und in Wedekinds Frühlings Erwachen in E. F. Burians Theater D 36. 4  Für ein mit Schreibmaschine zusammengefasstes Echo zu dieser Vorstellung s. Frejková (1972). 5  Für die tschechische Version des Leták schrieben neben Fischer und Čapek führende progressive Theatermacher der Zeit – Edmond Konrád, Josef Träger, Emil František Burian, Adolf Hoffmeister, František Zelenka, Vladislav Vančura. Dasselbe galt für das deutschsprachige Flugblatt – mit Beiträgen von Thomas Mann, Ludwig Winder, Paul Leppin, Max Brod, von dem Bühnenbildner des Neuen deutschen Theaters Frank Schultes u. a.

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versucht, den Weizen von der Spreu zu trennen, welche die deutsche Kultur zu ersticken drohte: Ve dnech, kdy Berlín, Mnichov, Hamburk jsou v  oblasti světového rozvoje scénického nahrazovány jinými středisky divadelního ruchu a kdy se Říše vzdává svého desítiletími utvrzovaného nároku být jednou z  vůdkyň uměleckého vzestupu, je oprávněna otázka, zda německé drama vůbec má, co by vůkolním národům řeklo nabádavého a příkladného. [In Zeiten, in denen Berlin, München, Hamburg in der weltweiten Entwicklung der Bühnenkunst durch andere Zentren der Theaterlandschaft ersetzt worden sind und in denen das Reich auf seinen jahrzehntelang verteidigten Anspruch, eine der führenden Kräfte des künstlerischen Aufschwungs zu sein, verzichtet, stellt sich berechtigterweise die Frage, ob das deutsche Drama überhaupt bietet, was es den umgebenden Völkern an Mahnendem und Beispielhaftem zu sagen hätte.]

Er nennt einige nachahmenswerte Vorbilder: Boj proti rasovým předsudkům: Lessing. Boj proti těsným obzorům a za pročištěné lidství: Goethe. Boj proti myšlenkové nesvobodě a za světové občanství: Schiller. Boj proti společenským přežitkům a proti zaostalosti výsad i kast: Büchner. [Der Kampf gegen rassische Vorurteile: Lessing. Der Kampf gegen Engstirnigkeit und für eine geläuterte Menschlichkeit: Goethe. Der Kampf gegen geistige Unfreiheit und für ein Weltbürgertum: Schiller. Der Kampf gegen überlebte gesellschaftliche Relikte und die Rückständigkeit von Privilegien und Kasten: Büchner.] (Fischer 1936: 1)

Das Heft enthielt zudem ein Grußwort Karel Čapeks – mit einer ähnlichen Auffassung vom Theater wie Fischer sie vertrat und in die Praxis umsetzte. Čapek geht dabei im Wesentlichen von der Intention der Schiller’schen Ästhetik aus, indem er schreibt, das Theater könne sich aus dem gegenwärtigen Geschehen nicht heraushalten. Má-li však toto divadlo obstát, potřebuje jen dvoje – autory, kteří umí napsat hry o problematice doby, a obecenstvo, které by bylo ochotno přemýšlet o tak těžkých věcech. Má-li obojí, mohlo by se divadlo stát kazatelnou, něčím, co stojí i nad nejlepšími novinami, tak jak stojí bohoslužba nad tištěnými letáky. [Soll jedoch dieses Theater bestehen, so braucht es nur zweierlei – Autoren, die Stücke über die Probleme der Zeit schreiben können, und ein Publikum, das bereit ist, über solch schwierige Dinge nachzudenken. Ist beides vorhanden, so könnte das Theater eine Kanzel werden, etwas, das auch den besten Zeitungen überlegen ist, so, wie der Gottesdienst gedruckten Flugblättern überlegen ist.] (zit. nach Frejková 1972: 16f.)

Die erste Bedingung für ein solches Theater – d.h. den Autor – fand Fischer u. a. gerade in Čapek. Die Gräuel, die sich in den Dreißigerjahren in Abessinien wie auch in Deutschland zutrugen, hatten bei Čapek Angst um Europa wie auch um das Schicksal seines eigenen kleinen Volkes erweckt und ihn nach fast zehnjähriger Pause erneut als Dramatiker zur Feder

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greifen lassen. Bald darauf lud er – neben seinen besten Freunden – Präsident Beneš und Schauspielchef Fischer in seine Villa ein, wo seine Gattin Olga Scheinpflugová das Manuskript des Stückes Bílá nemoc [Die weiße Krankheit] vortrug. Es entbrannte eine lebhafte Diskussion, an der sich – dem anwesenden Verleger Julius Firt zufolge – neben dem Autor selbst insbesondere Beneš und Fischer aktiv beteiligten. Beneš hätte die Niederlage der gewaltsamen Macht-usurpatoren gern stärker betont gesehen. Er wollte den militärischen Aspekt mehr in den Vordergrund rücken. Fischer stand auf Seiten Čapeks, der Benešs Argumente ablehnte. Es war, wie Firt (1988: 211f.) glossierte, ein „školský příklad sporu mezi politikem – propagandistou a umělcem.“ [Paradebeispiel einer Auseinandersetzung zwischen einem propagandistisch orientierten Politiker und einem Künstler.] Für Fischer stand jedoch fest, dass er das Stück in jedem Falle in seinen Theaterspielplan aufnehmen würde. Sofort nahm er intensive Verhandlungen auf. Für Čapek sicherte er einen Vertrag mit Ausnahmebedingungen und setzte sich – angesichts der Aktualität des Themas – dafür ein, dass das Stück in kürzestmöglicher Zeit einstudiert wurde. Das Drama schließlich auf die Bühne des Nationaltheaters zu bringen, war jedoch alles andere als leicht. Das Nationaltheater war Anfang der Dreißigerjahre verstaatlicht worden, daher hatten auch das Ministerium für Bildung und Volksaufklärung sowie das Propagandaministerium ein Wort mitzureden. Noch vier Stunden vor der Premiere war angeblich unklar, ob sie der Minister für Schulwesen und Volkskultur, Emil Frankediese, genehmigen würde6 – was in der damaligen politischen Situation, geprägt von dem Bestreben, Berlin nicht zu provozieren, durchaus keine Selbstverständlichkeit war. Nach den Welterfolgen von R.U.R. hatte das für den 29. Januar 1937 angesetzte neue Stück hohe Erwartungen geweckt. Diese sollten sich jedoch voll und ganz erfüllen: Bílá nemoc in der Regie Karel Dostals war von echter Monumentalität und aufrichtigem Pathos. „Byla tu stále jakási hrozivá dusná atmosféra číhající smrti, a pod slovy všech postav zněl stále jako dutá ozvěna strach“ [Es herrschte eine bedrohlich-dumpfe Atmosphäre lauernden Todes, und hinter den Worten aller Figuren klang stets wie ein hohles Echo die Angst], schrieb die Zeitung Národní listy [Nationale Blätter] 6  Siehe dazu Fischers Einführungsartikel zu Bílá nemoc; maschinengeschrieben, aufbewahrt im Archiv des Nationaltheaters Prag (nachstehend A ND). Fotodokumentation siehe http://archiv.narodni-divadlo.cz/default.aspx?jz=cs&dk=Inscenace.aspx&ic =898&pn=256affcc-f002-2000-15af-c913k3315dpc (aufgerufen am 10.11.2019); insbes. Foto 6, das einen Moment festhält, in dem – nach Čapeks Gesichtsausdruck zu urteilen – die Entscheidung bereits gefallen war.

Otokar Fischer als Schauspielchef des Prager Nationaltheaters

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(Rutte 1937: 11). Der Bühnenbildner und bildende Künstler Vlastislav Hofman hatte das Stück in ein klinisches Ambiente mit riesigen Projektionen leidender Köpfe versetzt, das Arbeitszimmer des Diktators evozierte mit seinen machtvollen Vertikalen etwas Größenwahnsinniges und ideell Strenges, „jako by se v  ní myslilo jen v  přímkách“ [als würde dort nur in Geraden gedacht] (Rutte 1937: 11). Die Inszenierung lebte von der vollständigen Identifikation der Schauspieler und des Inszenierungsteams mit dem Text des Stückes und übertraf bei Weitem das sonst am Nationaltheater übliche Niveau (vgl. Vodák 1937: 14, oder Píša 1937: 5). Das Stück fand jedoch auch etliche Kritiker: Ärzte protestierten gegen die Satire auf das Milieu der klinischen Medizin, insbesondere gegen die der ärztlichen Ethik widersprechende Figur des Doktor Galén. Vertreter von Politik und Militär kritisierten die pazifistische Tendenz des Stücks – in einer Zeit, in der angesichts drohender Gefahr eher zur Wehrhaftigkeit aufgerufen werden solle – als unzeitgemäß. Theater- und Literaturkritiker diskutierten über Philosophie, Heldenmut oder Feigheit der Hauptfiguren sowie über den pessimistischen, ja nihilistischen Ausgang des Schauspiels. Am schärfsten verurteilt wurde das Stück von Arne Novák in einer polemischen Debatte mit Edmond Konrád (Novák 1936/37: 318-321, Konrád 1937: 315-317, 330-333). Man fragte, ob es politisch klug sei, gerade an einer staatlichen Bühne ein Drama zu spielen, das verschiedene Auslegungen zulasse (ebenda). Hlinkas Blatt Slovák schrieb, Čapeks Stück sei nur der in halbkünstlerischer Form verarbeitete Anti-Hitler-Brei der Zeitungen Rudé právo [Rotes Recht], Právo lidu [Recht des Volkes], České slovo [Tschechisches Wort] und Lidové noviny [Volkszeitung], in ihm wimmele es von Anspielungen und Spott auf Hitler und Mussolini, es sei daher „čiročistou provokáciou“ [eine reine Provokation] und die Zensur müsse „aj tu svoje poslanie“ [auch hier ihrer Aufgabe] nachkommen.7 Schauspielchef Fischer verteidigte den Platz des Dramas im Repertoire des Ständetheaters mit Briefen, Artikeln, umfangreichen Ansprachen vor den Vorstellungen wie auch im Rundfunk. Er bedauerte lediglich, dass Čapek so wenig an weibliche Rollen gedacht habe, und fragt: „kde zůstala intimita dění? Kde zůstaly ženy?“ [Wo bleibt die Intimität der Handlung? Wo bleiben die Frauen?]8

7  Zitiert nach einem nicht näher definierten Zeitungsausschnitt, aufbewahrt in: A ND, Ordner zur Erstinszenierung von Bílá nemoc. 8  So lautet der Schluss von Fischers Einführungsartikel zur Inszenierung Bílá nemoc für die Zeitung Lidové noviny vom 08.06.1937; siebenseitiges Schreibmaschinenmanuskript (A ND).

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Čapek antwortete noch im selben Jahr. In seinem Drama Matka [Die Mutter], das am 12. Februar 1938 im Ständetheater uraufgeführt wurde, setzte er sich abermals mit der Idee der Humanität auseinander, wobei er jedoch am Schluss des Stückes die überpersönliche Verantwortung thematisiert: Die Mutter übergibt ihrem letzten noch lebenden Sohn ein Gewehr, damit er die bedrohte Heimat verteidige. Diese am Schluss des Stückes stehende, psychologisch nicht sonderlich glaubwürdige Aufforderung sollte – einigen Meinungen zufolge – das „defätistische“ Ende von Bílá nemoc korrigieren (A. V. 1938: 5). Das vielleicht etwas zu sentimentale Stück, das auf der Bühne in den szenisch umgesetzten Erinnerungen der Mutter an ihren Vater, ihren Ehemann und ihre Söhne die Welt der Lebenden und der Toten aufeinandertreffen lässt, wurde von Regisseur Karel Dostal in eine dezente Atmosphäre gedämpfter Stimmen, verhaltener Gesten und dämmrigen Lichts getaucht. Vlastislav Hofman entwarf dazu ein einheitliches Bühnenbild: ein Zimmer, überfüllt mit seltsamen exotischen Trophäen, Gewehren, Fledermäusen und Fetischen (der Vater kämpfte und fiel in Afrika), das sich im Halbdunkel in eine magische Höhle voller Zeichen und Symbolik verwandelte. Čapeks kühner (jedoch keineswegs neuer) Versuch, auf der Bühne Tote zu vergegenwärtigen, traf bei der Kritik auf ein widersprüchliches Echo mit ablehnenden, gemischten wie auch begeisterten Reaktionen. Beim Premierenpublikum löste das Stück große Bewegtheit aus: „Úžasné ticho, které po ní zavládlo v  celém divadle, bylo větším svědectvím účinu hry než bouře potlesku po pádu opony“ [Die überwältigende Stille, die danach im ganzen Theater herrschte, zeugte weit stärker von der Wirkung des Stücks als alle Stürme von Applaus nach dem Fall des Vorhangs] (Bass 1938: 7). Auch diesmal wurde der Autor mehrmals vor den Vorhang gerufen, an den Erfolg von Bílá nemoc konnte das Stück jedoch nicht anknüpfen. Für beide Inszenierungen waren (auch bei den Wiederaufführungen) höhere Preise angesetzt, worüber sich Čapek im Falle des intimen Stücks Matka nachdrücklich bei der Theaterverwaltung beschwerte (in einem Telefonat sagte er, er habe das Stück für ein breites Publikum geschrieben, dem durch die hohen Preise der Zugang verwehrt bliebe, auch Studenten könnten die Vorstellung nicht besuchen, sondern lediglich ein „bourgeoises Publikum“, das dem Autor feindlich gesonnen sei).9 Hier trat aus dem Hintergrund abermals Fischer in Erscheinung – diesmal, um gemeinsam mit 9  Schriftliche Aufzeichnung der telefonischen Beschwerde Čapeks vom 08.02.1938, aufbewahrt im A ND.

Otokar Fischer als Schauspielchef des Prager Nationaltheaters

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dem Klub der deutschen und tschechischen Bühnenangehörigen ein neues Projekt auszuprobieren: Der Klub bzw. eine Sektion desselben, die Besucherorganisation „Lidové divadlo“ [Volkstheater], kaufte die gesamte fünfzigste Vorstellung von Bílá nemoc auf, um die Eintrittskarten dann verbilligt an Arbeiter und Klubmitglieder weiterzuverkaufen. Das Prinzip war denkbar einfach: Man ging von der Überlegung aus, dass die Theaterverwaltung bei der Kalkulation der Eintrittspreise mit einer durchschnittlichen Saalauslastung von 60-70 % rechnete. Kaufte der Klub für pauschal 60-70 % des kalkulierten Eintrittspreises die gesamte Vorstellung, sodass der Saal ausverkauft war, konnten die Eintrittskarten mit einer Ermäßigung von 25-35 % an die Zuschauer weiterverkauft werden. Auf diese Weise kaufte der Klub z. B. auch eine Aufführung von Lope de Vegas Fuente Ovejuna (Vzbouření na vsi). Vor jeder dieser Vorstellungen wandte sich Fischer als Schauspielchef an das Publikum – mitunter sogar in Versen. Vor einer solchen Aufführung von Bílá nemoc begrüßte er das Publikum mit den Worten: „Jak už z pojmenování Vašeho klubu vyplývá, sedí dnes u nás v divadle svorně vedle sebe pracovníci čeští a němečtí. […] To znamená, že ponenáhlu přec jen mizí ta cizota, která se kladla mezi dva národy obývající jednu zemi...“ [Wie bereits aus dem Namen Ihres Klubs hervorgeht, sitzen heute bei uns im Theater einträchtig tschechische und deutsche Arbeiter nebeneinander. [...] Dies heißt doch: Allmählich schwindet jene Fremdheit, die sich zwischen zwei im selben Land lebende Völker legte...].10 Die äußerst aktuellen Inszenierungen von Čapeks Dramen waren nicht nur Theater-Highlights, sondern auch politische Manifestationen und gehören eindeutig zu den markantesten Projekten in Fischers Zeit am Nationaltheater. Als Schauspielchef hatte er die führende tschechische Bühne durch eine kluge und mutige wie auch umsichtige Leitung aus einem nahezu akademischen Theater in eine kämpferische Thalia verwandelt, die der damaligen Situation in Europa Rechnung trug. In Zusammenarbeit mit Čapek stellte sich Fischers Nationaltheater an die Spitze eines Kampfes, der im Falle Fischers nicht nur der nazistischen Bedrohung, sondern auch der Gefahr eines einheimischen Nationalismus galt. Den von Fischer auf die Bühne gebrachten Čapek-Inszenierungen war jedoch kein langes Leben beschieden. Fischer selbst ging noch früher: Er starb einen Monat nach der Premiere von Matka, als er vom Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich erfuhr. „Srdce provedlo důkaz o spjatosti 10  Ansprache O. Fischers vor der fünfzigsten Vorstellung von Bílá nemoc am 24.04.1937 um 15 Uhr im Ständetheater (A ND).

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ducha s osudem národa, rodu, Evropy, světa. A byli mnozí, kteří tehdy ještě neprohlédli, neviděli, co básník již prožil v té intenzitě blesku, jenž usmrcuje.“ [Sein Herz brachte den Beweis über die Verbundenheit des Geistes mit dem Schicksal der Nation, der Herkunftsgemeinschaft, Europas, der Welt. Und es gab viele, die damals noch nicht durchschauten, nicht sahen, was der Dichter bereits mit der Intensität eines – tödlichen – Blitzes durchlebte] (Gottlieb 1970: 3). Karel Čapek starb noch im selben Jahr. (Übersetzt von Ilka Giertz)

Literatur A. V. (1938): Hra rozumu s citem [Spiel der Vernunft mit dem Gefühl]. – In: Pražské noviny [Prager Zeitung] 259, Nr. 38 (15.02.), 5. Bass, Eduard [hier: B] (1938): Čapkova Matka [Čapeks ‚Mutter‘]. – In: Lidové noviny [Volkszeitung] 46, Nr. 81 (15.02.) (verfasst am 14.02.1938), 7. Firt, Julius (1988): Knihy a osudy [Bücher und Schicksale]. Londýn: Rozmluvy. Fischer, Otokar (1936): Slovo víry [Wort des Galubens]. – In: Leták Klubu českých a německých divadelních pracovníků [Flugblatt des Klubs der deutschen und tschechischen Bühnenangehörigen] [1]/[1], 1. Frejková, Eliška (1972): Klub českých a německých divadelních pracovníků [Klub der tschechischen und deutschen Bühnenangehörigen]; Maschinengeschriebene Handschrift, aufbewahrt in Knihovna Divadelního ústavu Institutu umění Praha [Bibliothek des Theaterinstitutes, Institut für Kunst, Prag]. Gottlieb, František (1970): Otakar [sic] Fischer. – In: Věstník Židovských náboženských obcí v Československu [Anzeiger der jüdischen Religionsgemeinden in der Tschechoslowakei] 32, Nr. 8, 2f. Götz, František (1960): Vzpomínky na Otokara Fischera [Erinnerungen an O.F.]. – In: Divadelní noviny [Theaterzeitung] 4, Nr. 5 (26.10.), 1-3. Konrád, Edmond (1937): „Bílá nemoc“ a její kritik [„Die weiße Krankheit“ und ihr Kritiker]. – In: Přítomnost [Die Gegenwart] 14, Nr. 20 (19.05.), 315-317 und Nr. 21 (26.05.), 330-333. Novák, Arne (1936/37): „Ne, prosím, to bych nemohl…“ [Nein, bitte, das könnte ich nicht…]. – In: Lumír 63, Nr. 6 (30.04.), 318-321. Píša, Antonín Matěj [hier: AMP] (1937): Nová hra Karla Čapka [Ein neues Theaterstück von Karel Čapek]. – In: Právo lidu [Recht des Volkes] 46, Nr. 27 (31.01.), 5.

Otokar Fischer als Schauspielchef des Prager Nationaltheaters

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Píša, Antonín Matěj (1948): Divadelní epilog Otokara Fischera [Theaterepilog O.F.s]. – In: Kytice [Der Blumenstrauß] 3, Nr. 3/4, 105. Rutte, Miroslav (1937): Čapkova hra o soumraku Evropy [Čapeks Stück über die Abenddämmerung Europas]. – In: Národní listy [Nationale Blätter] 77, Nr. 31 (31.01.), 11. Thirouin, Marie-Odile (Hg.) (2002): Briefwechsel Rudolf Pannwitz/Otokar Fischer/Pavel Eisner. Stuttgart: Cotta. Vodák, Jindřich [hier: jv] (1937): K. Čapkovo: „dejme tomu, že“ [K. Čapeks „angenommen, dass“]. – In: České slovo [Tschechisches Wort] 29, Nr. 27 (31.01.), 14.

Zuzana Duchková

Die Rolle Otokar Fischers in tschechoslowakischen Hilfsorganisationen für deutsche Flüchtlinge nach 1933 Persönlichkeit und Wirken Otokar Fischers sind – wie schon aus den übrigen Beiträgen dieses Bandes hervorgeht – angesichts der Breite seiner intellektuellen und gesellschaftlichen Interessen kaum in vollem Umfang erfassbar. Einen lediglich kurzen Zeitraum in Fischers Leben bildete seine Aktivität in Flüchtlingsvereinen während der 1930er-Jahre. Die nachfolgende Studie soll sich mit Umständen und Motiven seiner Tätigkeit in diesem Milieu befassen. Zunächst sei jedoch kurz die politische und gesellschaftliche Situation skizziert, aus der heraus die Hilfsorganisationen entstanden. Der Machtantritt Adolf Hitlers und die Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten komplizierte die Lebenssituation vieler Menschen, die nicht zu den ‚Auserwählten‘ zählten und den neuen politischen Kurs Deutschlands nicht unterstützten. Eine mögliche Lösung war die Emigration. Die erste Flüchtlingswelle erreichte die Tschechoslowakei bereits kurz nach dem Reichstagsbrand (Frankl 2005: 57). Viele Flüchtlinge suchten zunächst in den tschechoslowakischen Grenzregionen Schutz – sie glaubten, die Situation in der Heimat würde sich binnen einiger Wochen wieder beruhigen, und hofften auf eine baldige Rückkehr. Mit den Verhaftungs- und Verfolgungswellen, die das Hitler-Regime gegen politische Gegner richtete, kam jedoch schließlich eine große Zahl von Flüchtlingen nach Prag. Im Juni 1933 registrierte die Prager Polizeidirektion ca. 360 deutsche Flüchtlinge, die zum einen aufgrund ihrer jüdischen Herkunft, zum anderen aufgrund ihrer politischen Orientierung emigriert waren. Solcherlei Zahlen sind angesichts der unzulänglichen Registrierung der Flüchtlinge zwar kaum zuverlässig; bis 1938 schien die Zahl der Ankömmlinge jedoch unter 4 000 zu liegen (Čapková/Frankl 2008: 33). Trotz dieser offenkundigen Verletzung des staatlichen Territorialrechts unterstützte die tschechoslowakische Diplomatie anfangs den visafreien Verkehr mit Deutschland, da auch die Tschechoslowakei mit einem baldigen Sturz des Hitler-Regimes rechnete. Als sich jedoch abzeichnete, dass dem nicht so sein würde, mussten die hiesigen Behörden bestimmte Regelungen zur Aufnahme oder Ablehnung von Flüchtlingen treffen. Die erste Verordnung der tschechoslowakischen Sicherheitsorgane wurde unmittelbar nach

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dem Reichstagsbrand erlassen und richtete sich gegen (insbesondere aus Polen einreisende) kommunistische Flüchtlinge und Juden.1 Deren Einreise wollten die tschechoslowakischen Behörden aus zweierlei Gründen verhindern: Zum einen ahnten sie nicht, dass hinter dem Reichstagsbrand nicht die von Hitler bezichtigten Kommunisten und Juden steckten. Zum anderen fürchteten sie, dass – sollte es sich um eine Provokation von Seiten Hitlers handeln – die Aufnahme dieser Flüchtlinge die deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen verschlechtern und die Reichsbehörden ihre staatsfeindlichen Aktionen auf tschechoslowakischem Gebiet ausweiten könnten. Diese Maßnahmen verfehlten jedoch weitgehend ihre Wirkung, da die Flüchtlinge trotzdem, größtenteils unter dramatischen Umständen, in die Tschechoslowakei gelangten. Sie hatten keine gültigen Reisepässe oder Identitätsnachweise bei sich und es war daher schwierig bzw. nahezu unmöglich, kommunistisch gesinnte Flüchtlinge an der Grenze zu erkennen. Aus mehreren Gründen fanden die deutschen Flüchtlinge jedoch Unterstützung bei tschechischen Intellektuellen. Paradoxerweise kam ihnen dabei u. a. die begrenzte Orientierung der tschechischen Intelligenz hinsichtlich der deutsch-tschechischen Beziehungen zugute. Viele tschechische Intellektuelle waren vor allem deshalb bereit, den Flüchtlingen zu helfen, weil sie in ihnen Ideenträger einer ursprünglich liberalen deutschen Kultur und Geistigkeit sahen. Bald erkannten sie jedoch, dass sie ihren deutschen Weggefährten als Einzelne weder adäquaten Schutz noch wirksame Hilfe bieten konnten. Zu einem wichtigen Phänomen in der Flüchtlingsarbeit wurde daher die Gründung von Flüchtlingshilfevereinen, die auf soziale, materielle wie auch geistige Unterstützung der deutschen Flüchtlinge ausgerichtet waren (vgl. Skořepová 2013). Fischer war einer der aktivsten in der Flüchtlingshilfe engagierten tschechischen Intellektuellen. Bereits eine Diskursanalyse seiner Rede Německo a my [Deutschland und wir] vom März 1933 zeigt das Idealbild auf, das er vom deutschen intellektuellen Flüchtling als Träger des nichtfaschistischen Antlitzes der deutschen Kultur entwarf. Zur selben Zeit, in der Hitler im Werk Nietzsches die Passagen über die Heraufkunft der „blonden Bestie“ hervorhob, die unerbittlichen Schrittes Europa unter der einheitlichen 1  Es handelte sich um eine Anordnung des Landesamtes Prag vom 28. Februar 1933 sowie um eine Instruktion des Innenministeriums, welche besagte, dass die Immigration deutscher Kommunisten und anderer „subversiver Elemente“ nicht genehmigt werden dürfe. Národní archiv [Nationalarchiv], Präsidium des Innenministeriums (nachstehend „PMV“), 1931–1935, Sign. X/N/9/11, k. 844-3: Erlass des PMV, 01.03.1933, zitiert nach: ebd., 51 u. 349. Vgl. weiterhin Skořepová (2012).

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Führung eines starken Übermenschen zusammenschweißt, interpretiert Fischer ebenjene Passagen als Aufruf zu einem geeinten Europäertum ungeachtet von Klasse und Rasse.2 In seiner Rede beruft er sich zudem auf die Tradition Kants, Herders und Goethes, die er in den deutschen Flüchtlingen wie in einem Prisma gespiegelt sah.3 Fischers Position ist diesbezüglich eine antifaschistische, basierend auf einer traditionellen Sicht des deutschen intellektuellen Idealismus des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. In der Flüchtlingshilfe sah Fischer vor allem eine Möglichkeit zur Rettung des deutschen Kultur- und Geisteserbes.4 2  „Zbývá vědomí, teď že udeřila chvíle, kdy část společné odpovědnosti za střední Evropu, ba i za příští osud Německa, přechází na sousedy usídlené v menších zemích. To zní snad na prvý poslech poněkud vypínavě, opírá se však o zeměpisnou skutečnost, na kterou autoritativní strany již nejednou bylo upozorněno. Němectvo má proti jiným národním celkům výhodu, že i mimo hranice svého hlavního území žije v kompaktních jednotách.“ [Es bleibt das Bewusstsein: Jetzt hat die Stunde geschlagen, in der ein Teil der gemeinsamen Verantwortung für Mitteleuropa, ja sogar für das weitere Schicksal Deutschlands, auf die in den kleineren Ländern lebenden Nachbarn übergeht. Dies mag zunächst etwas großspurig klingen, stützt sich jedoch auf eine geographische Tatsache, auf die von autoritativer Seite bereits mehrfach hingewiesen wurde. Das Deutschtum hat gegenüber anderen Völkern den Vorteil, dass es auch jenseits der Grenzen seines Hauptgebietes in kompakten Einheiten lebt.] (Fischer 1933). 3  „To tam je evropanství vyznačené světlými jmény Hörderlin, Heine, Nietzsche; přervána je herdrovská idea organického růstu světového, zasuta kantovská vidina míru; to tam, rok po halasném jubileu, goethovské pojetí světové literatury.“ [Dahin ist das Europäertum, markiert durch lichte Namen wie Hölderlin, Heine und Nietzsche; zerrissen die Herder’sche Idee eines organischen Wachstums der Welt, verschüttet die Kant’sche Friedensvision; zerschlagen, ein Jahr nach dem lärmenden Jubiläum, Goethes Konzept von der Weltliteratur.] (Fischer 1933). 4  „[…] a je tu ovšem Československo se svou tak význačnou německou menšinou. Jak ona bude reagovati na otřesy v říši, je její věc. Ale také na celých státních organismech, také na nás, na československé veřejnosti bude záležet. Nezůstane jen vnitroříšskou věcí, jak se naše úřady a jak se naše kultura zachová k  tomu faktu, že velký národ, který dotud býval při nejmenším dvojí, bude se snad domnívati býti sjednocen, ale na prospěch té fiktivní jednoty bude možná ze svého středu nadále vylučovati některé své činitele kulturně nejvýkonnější a representativní. Kdyby jednou došlo k  početné emigraci německé, […] bylo by tím spíše na nás, abychom pohostinně přijali vyhnaného ducha Výmaru.“ [[…] und da ist die Tschechoslowakei mit ihrer so bedeutenden deutschen Minderheit. Wie letztere auf die Erschütterungen im Reich reagieren wird, ist ihre Sache. Doch auch auf die gesamten staatlichen Organismen, auch auf uns, die tschechoslowakische Öffentlichkeit, wird es ankommen. Es bleibt nicht allein eine reichsinterne Sache, wie sich unsere Behörden, wie sich unsere Kultur zu der Tatsache verhält, dass eine große Nation, die bislang zumindest stets zweierlei war, sich möglicherweise zu einen gedenkt, zugunsten dieser fiktiven Einheit aber womöglich in Zukunft einige ihrer repräsentativen und kulturell leistungsfähigsten

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Für diese These sprechen auch weitere Tatsachen. So betont Fischer z. B. in seiner Korrespondenz mit František Xaver Šalda, die Flüchtlingshilfe dürfe in keiner Weise politisiert werden, sondern müsse sich auf das kulturelle und geistige Vermächtnis berufen.5 Aus Fischers Haltung wird u. a. eine Vorsicht deutlich, in der sich nicht zuletzt sein Bewusstsein über die eigene Position in der damaligen akademischen Welt widerspiegelt. Fischer war sich gewiss darüber im Klaren, dass er als Dekan der Philosophischen Fakultät an der Prager Karlsuniversität nicht nur für sich selbst sprach, sondern auch für die akademische Gemeinde und einen größeren Teil der intellektuellen Öffentlichkeit. Mit Sorge blickte er daher auf den häufigen Missbrauch seines wie auch Šaldas Namens. Regelrecht verärgert war er, als er seine Unterschrift unter einem Appell entdeckte, der die breite Öffentlichkeit zum Protest gegen die Todesstrafe für den angeblichen Urheber des Reichstagsbrandes aufrief.6 Den Germanisten Fischer schockierte hierbei nicht nur, dass sein Name unter einer sehr schlechten tschechischen Übersetzung aus dem Deutschen stand, vielmehr schreckte ihn der Versuch, seinen Namen zu politisieren, umso mehr, als der Aufruf von einer Partei stammte, die der damaligen Demokratie feindlich gegenüberstand. Initiatoren des Aufrufs waren nämlich die tschechischen Kommunisten.

Akteure aus ihrer Mitte ausschließen wird. Sollte es eines Tages zu einer großen deutschen Emigration kommen, […] wäre es desto mehr an uns, den vertriebenen Geist Weimars gastlich aufzunehmen.] (Fischer 1933). 5  LA PNP Prag (Nachlass Otokar Fischer: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], F. X. Šalda Otokaru Fischerovi [F. X. Šalda an Otokar Fischer], 27.04.1933). 6  Auf diesen Aufruf beziehen sich einige Anmerkungen in einem von Fischers Gattin Blažena geführten Kalender: „Někdy okolo 15. t. m. přišla Ot. výzva, aby podepsal prohlášení, že nesouhlasí s justiční vraždou, kterou provedou Němci na ‚původci‘ požáru říšského sněmu Torglerovi. Poslal to Šaldovi, sám to podepsat nemíní.“ [Irgendwann um den 15. dieses Monats erhielt Ot. einen Aufruf zur Unterzeichnung einer Erklärung, dass er dem Justizmord der Deutschen an Torgler, dem ‚Anstifter‘ des Reichstagsbrandes, nicht zustimme. Er hat es an Šalda weitergeschickt, er selbst gedenkt nicht zu unterzeichnen.] LA PNP Prag (Nachlass Otokar Fischer, kalendářík na rok 1933 [Kalender für das Jahr 1933], 15.07.1933; „V Praze. Při návratu do Zbečna čekala na nádraží sl. Šimsová, aby vymámila z Ot. podpis. Byla odmítnuta a bude napsán článek o ideologii Němectva.“ [Prag. Bei der Rückkehr nach Zbečno wartete auf dem Bahnhof Frl. Šimsová, um Ot. eine Unterschrift abzulocken. Sie wurde abgewiesen und es wird ein Artikel über die Ideologie des Deutschtums verfasst.] Ebenda, 20.07.1933; „Dnes vyšlo Otakarem odmítnuté provolání i s jeho podpisem. Poslal hned telegram do Lidovek.“ [Heute ist der von Otokar abgelehnte Aufruf auch mit seiner Unterschrift erschienen. Er schickte sofort ein Telegramm an die Lidovky [Lidové noviny]].“ Ebenda, 23.07.1933.

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Diese waren jedoch nicht die einzigen, die sich solch unlauterer Praktiken bedienten. In gleicher Weise ‚liehen‘ sich Fischers Namen auch deutsche Liberale7, um zu belegen, dass Professor Fischer bereit sei, die Gründung eines Theodor-Lessing-Hauses zu unterstützen.8 Das Haus sollte dem Andenken des deutschen Philosophen Theodor Lessing dienen, der als „erstes Opfer des Faschismus in der Tschechoslowakei“ galt.9 Der deutsche Gelehrte hatte Asyl 7  „Je to podruhé, co Vás, vážený příteli, zasvěcuji do zákulisí projevů opatřených jmény nás obou – v létě to byla akce komunistů, dnes Němců. […] ačkoliv není nejmenší pochybnosti o mém stanovisku k dnešnímu Německu, ani němečtí emigranti nebo demokraté si nepočínají zrovna s taktem; a zvlášť nemají potuchy o delikátních poměrech, jaké jsou u nás jak po stránce politické tak zvlášť jazykové.“ [Dies ist das zweite Mal, dass ich Sie, lieber Freund, in die Hintergründe der mit unser beider Namen versehenen Erklärungen einweihe – im Sommer handelte es sich um eine Aktion von Kommunisten, diesmal von Deutschen. […] obgleich nicht die geringsten Zweifel an meiner Einstellung gegenüber dem heutigen Deutschland bestehen, gehen auch die deutschen Emigranten bzw. Demokraten nicht eben taktvoll vor; insbesondere haben sie keine Ahnung von den delikaten Verhältnissen, die bei uns in politischer und vor allem in sprachlicher Hinsicht herrschen.] LA PNP Prag (Nachlass Otokar Fischer: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], F. X. Šalda Otokaru Fischerovi [F. X. Šalda an Otokar Fischer]; Otokar Fischer F. X. Šaldovi [Otokar Fischer an F. X. Šalda], maschinengeschrieben, 22.10.1933). 8  „Nebyl bych dojista podepsal věc určenou české veřejnosti v znění německém. Poté jsem viděl ten projev s Vaším i svým (a Brodovým) podpisem v Prager Presse, což stále mělo vzhled akce určené do zahraničí. […] Ale včera mi bylo telefonováno z Českého slova: že tamní redaktoři jsou rozhořčeni tím, že jim byl znovu poslán onen projev, a to ve zkomolené češtině a s doprovodem přípisu; že projev arci neotisknou, ale že mne o té věci přátelsky zpravují. Přiznám se, že mne to nemálo popudilo: Nějaký mně blíže neznámý komitét /nikoli paní Lessingová sama!/ vede si tímto způsobem, aniž se nás dotázal na náš souhlas, a to v  době, kdy jsou na nás podnikány útoky.“ [Ich hätte sicherlich keine für die tschechische Öffentlichkeit bestimmte Sache in deutscher Fassung unterzeichnet. Dann habe ich diese Erklärung mit Ihrer wie auch meiner (und Brods) Unterschrift in der Prager Presse gesehen, was immer noch wie eine für das Ausland bestimmte Aktion anmutete. […] Gestern erhielt ich jedoch einen Anruf von České slovo: Die dortigen Redakteure seien erbost darüber, dass ihnen erneut diese Erklärung zugesandt worden sei, und zwar in einem entstellten Tschechisch und in Begleitung von Zuschriften; sie würden die Erklärung keinesfalls drucken, wollten mich aber freundschaftlich über die Sache informieren. Ich gestehe, dass mich das nicht wenig empört hat: Irgendein mir nicht näher bekanntes Komitee (keineswegs Frau Lessing selbst!) verhält sich in dieser Weise, ohne uns nach unserer Zustimmung zu fragen, und dies in einer Zeit, in der man uns attackiert.] LA PNP Prag (Nachlass Otokar Fischer: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], F. X. Šalda Otokaru Fischerovi [F. X. Šalda an Otokar Fischer]; Otokar Fischer F. X. Šaldovi [Otokar Fischer an F. X. Šalda], maschinengeschrieben, 22.10.1933). 9  Eine ausführliche Schilderung dieses Vorfalls findet sich in einer nicht erschienenen Monographie Wilhelm Sternfelds über Flüchtlinge in der Tschechoslowakei (Die deutsche Emigration). Deutsches Exilarchiv (nachstehend DEA) Frankfurt a. M. (Nachlass,

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im böhmischen Marienbad gefunden, doch selbst die Flucht in die Tschechoslowakei konnte ihn nicht vor den Nazis retten, die ihn – ein in Deutschland ausgesetztes Kopfgeld vor Augen – ermordeten.10 Der Aufruf zur Gründung einer Stiftung, die den Namen des Philosophen tragen sollte, stand auch unter der Schirmherrschaft Albert Einsteins und Romain Rollands.11 Fischers anfängliche Entrüstung wurde durch die Tatsache gemildert, dass die Initiative von Lessings Witwe Ada ausging, mit der ihn eine langjährige Freundschaft verband. Von der Tiefe und Stabilität dieser Freundschaft zeugt, dass Fischer sich an der Entstehung einer von Ada verfassten Lessing-Biografie12 beteiligte, der er eine umfangreiche und fundierte Studie zu Lessings Leben und Werk voranstellte. Entgegen seinem ursprünglichen Misstrauen sprach er sich letztlich für die Idee der Institutsgründung aus, unterstützte diese finanziell und autorisierte schließlich sogar seine Unterschrift unter dem Aufruf. Obgleich Fischers Haltung gegenüber den deutschen Flüchtlingen und dem Faschismus allgemein bekannt war, neigte er nicht zu gefälligen Gesten. Seine Vorsicht ist umso verständlicher, als ihm in vollem Maße bewusst war, dass seine Hilfe für deutsche Antifaschisten ein Nachspiel haben könnte. Gegenüber dem etwas „naiven“13 Šalda, der bis zum letzten Moment an das versöhnliche Wirken der englisch-französischen Diplomatie glaubte, spürte Fischer bereits deutlich die nahende Gefahr. Man kommt daher nicht umhin,

nachstehend „NL“) Wilhelm Sternfeld, EB 75/177, B.I.1. (17), Sternfeld, Wilhelm: Der Mord an Professor Theodor Lessing). Die Aufschrift „Das erste Opfer des Faschismus in der ČSR“ ist in Lessings Grabstein auf dem Friedhof in Mariánské Lázně (Marienbad) eingemeißelt. 10  Bei den Mördern handelte es sich um die Nationalsozialisten Rudolf Max Eckert und Rudolf Zischka, die nach dem Mord nach Deutschland flohen. Vgl. ebenda. 11  Ein Exemplar dieses Aufrufs ist in der Korrespondenz zwischen Ada Lessing und Otokar Fischer enthalten. LA PNP Prag (Nachlass Otokar Fischer: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Ada Lessing Otokaru Fischerovi [Ada Lessing an Otokar Fischer]). 12  Ada Lessing wollte das Werk ihres Mannes nach dessen Ermordung in Form einer Gesamtausgabe herausgeben. Fischer war einer ihrer Vertrauten, die sie bei dieser Arbeit unterstützten. Aus ihrer wechselseitigen Korrespondenz geht hervor, dass Fischer sich in starkem Maße an der Konzeption der Ausgabe beteiligte und wahrscheinlich auch die Idee einer separaten Lessing-Biographie von ihm stammt. LA PNP Prag (Nachlass Otokar Fischer: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], Ada Lessing Otokaru Fischerovi [Ada Lessing an Otokar Fischer], 22.11.1933; ebenda, 02.12.1933; ebenda, 21.12.1933; ebenda, 15.02.1935). 13  So wird F.  X.  Šalda in einer Notiz von Fischers Gattin Blažena Fischerová beurteilt. Ebenda, kalendářík na rok 1933 [Kalender für das Jahr 1933], 20.06.1933.

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die persönliche Tapferkeit zu würdigen, mit der Fischer der Flüchtlingsproblematik begegnete. Fischers Vision der Flüchtlingshilfe war nicht nur apolitisch, sondern auch ethnisch neutral. Er betonte in diesem Zusammenhang weder seine jüdischen Wurzeln noch machte er bei seinen Plädoyers für Flüchtlinge einen Unterschied zwischen Deutschen und deutschen Juden. Diese unparteiische Haltung wurde auch von Fischers nächsten Verwandten mit Bewunderung quittiert. So bestärkt z. B. František Gottlieb, der mit Fischer oft seine Vision eines souveränen jüdischen Staats auf der Sinai-Halbinsel diskutierte, seinen Onkel mit zahlreichen Briefen, in denen er dessen überethnische Haltung als mutig und richtig bezeichnet, da Menschen ungeachtet ihrer Herkunft unter dem Verlust der Heimat litten.14 Die Flüchtlingsarbeit beanspruchte einen großen Teil von Fischers physischen wie psychischen Kräften. Dies spiegelte sich auch in seinem Familienleben wider. In einem Kalender aus dem Jahr 1933 hielt Fischers Gattin Blažena fest, wie die Flüchtlingsfrage zu einem fast täglichen Inhalt seiner Bemühungen wurde. Sie skizziert den inneren Konflikt ihres Gatten, der bestrebt war, in seine Texte antifaschistische Positionen einzuarbeiten, ohne jedoch Abstriche am inhaltlichen Anspruch der Texte zu machen. „Otakar má zase jiného brouka v  hlavě: projev o německé (říšské) situaci v poměru k nám.“ [Otakar [sic!] hat wieder eine neue Grille im Kopf: eine

14  Fischers Nachlass enthält einige Briefe seines Neffen František Gottlieb. In jedem dieser Briefe bezeugt Gottlieb dem Onkel Bewunderung und großen Respekt, was (wie aus Fischers Antworten hervorgeht) auf Gegenseitigkeit beruhte. „Nechtěl bych však nezdůraznit, že tváří v tvář Německu je Vaše jmenování dvojnásob kulturním počinem. Oceňuji to právě jako sionista. Doufám, že se zítra s Vámi setkám – ale s radostí se nečeká. Mnoho síly a zdraví! Váš upřímný synovec František.“ [Ich möchte jedoch nicht unbetont lassen, dass – Auge in Auge mit Deutschland – Ihre Ernennung in doppelter Weise ein kultureller Akt ist. Dies schätze ich gerade als Zionist. Ich hoffe, Sie morgen zu treffen – aber man wartet nicht gern. Viel Kraft und Gesundheit! Ihr aufrichtiger Neffe František.] LA PNP Prag (Nachlass Otokar Fischer: korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], František Gottlieb Otakaru Fischerovi [František Gottlieb an Otokar Fischer], 31.10.1935); „Leč jak to bude a je se mnou, specialistou ve věcech židovských? Smím své pozorování vyjádřit takto – ? : Hitlerův úder. Leč i zde jste uměl jít nad „soukromí“ židovského člověka a reagovat nadosobně, s všeobecnou platností, na obranu celé kultury.“ [Doch wie wird und ist das mit mir, einem Spezialisten in jüdischen Dingen? Darf ich meine Beobachtungen so ausdrücken – ? : Hitlers Schlag. Doch auch hier haben Sie es vermocht, sich über die ,Privatsphäre‘ eines jüdischen Menschen zu erheben und überpersönlich, allgemeingültig zu reagieren, zur Verteidigung der gesamten Kultur.] Ebenda, 01.11.1934.

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Rede über die (reichs-)deutsche Situation im Verhältnis zu uns.]15 Aus den Aufzeichnungen Blažena Fischerovás geht zudem hervor, dass Fischer bezüglich der Flüchtlinge nicht nur ein passiver Informationsempfänger war, sondern sich lebhaft und detailliert für die Situation in Deutschland interessierte. Sie beschreibt das Entsetzen, mit welchem ihr Mann auf die sich zuspitzende politische Debatte in Deutschland reagierte. „Kravály a ostudy v Německu pokračují; Otakar [sic!] zuří nad situací v Německu.“ [Die Krawalle und die Schmach in Deutschland gehen weiter; Otakar kocht angesichts der Situation in Deutschland.]16 Blažena Fischerovás Verständnis für den Enthusiasmus ihres Gatten begann jedoch allmählich zu schwinden. Fischer war seinerzeit buchstäblich überhäuft mit Flüchtlingsarbeit. Über die unerfreulichen Seiten seiner Tätigkeit beklagt er sich auch bei F. X. Šalda. Ihn störte, dass ihn mittlerweile völlig unbekannte deutsche Flüchtlinge regelrecht belästigten und in mitunter taktloser Weise seine Hilfe für ihre schwierige Lage erzwingen wollten.17 Diese Entwicklung erschöpfte ihn zusehends und in den letzten Phasen seiner Tätigkeit lässt sich konstatieren, dass Fischer in der Flüchtlingsarbeit wohl nicht mehr dieselbe Erfüllung sah wie früher, dass sie ihn mitunter ablenkte, ja belastete.18 Führt man sich den Umfang von Fischers Aktivitäten in Flüchtlingsvereinen vor Augen, so war diese Entwicklung jedoch teilweise absehbar. Fischer engagierte sich in vollem Maße in drei Hilfsorganisationen. Im Frühjahr 1933 wurde das Hilfskomitee für deutsche Flüchtlinge gegründet – in der Öffentlichkeit auch „Šalda-Komitee“ oder „Šaldák“ genannt, da es unter

15  LA PNP Prag (Nachlass Otokar Fischer: kalendářík na rok 1933 [Kalender für das Jahr 1933], 07.03.1933). 16  Ebd., 08.03.1933. 17  Ebd., 20.06.1933, weitere Erwähnungen auch in den nachfolgenden Monaten. Ebd., korespondence vlastní [eigene Korrespondenz], Otokar Fischer F. X. Šaldovi [Otokar Fischer an F. X. Šalda], 22.10.1933. 18  Über eine gewisse Erschöpfung bezüglich der Flüchtlingsarbeit korrespondierte Fischer auch mit F. X. Šalda: „Z toho si nic nedělejte, že Vás obtěžují němečtí uprchlíci – mně děje se stejně. [...] Věc nesmí být politicky stranická, nesmí se zvrhnout v agitaci politickou. Jde o prostou službu lidství.“ [Machen Sie sich nichts daraus, dass die deutschen Flüchtlinge Sie belasten – mir geht es ähnlich. [...] Die Sache darf nicht politisch parteiisch werden oder in politische Agitation ausarten. Es geht um bloßen Dienst an der Menschlichkeit.] Ebenda, korespondence přijatá [empfangene Korrespondenz], F. X. Šalda Otokaru Fischerovi [F. X. Šalda an Otokar Fischer], undatiert.

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der Schirmherrschaft Professor F. X. Šaldas stand.19 In dieser Organisation war Fischer am aktivsten. Er wurde zu ihrem Geschäftsführer ernannt. Weitere Mitglieder waren z. B. der Kunsthistoriker Antonín Matějček oder der Schauspieler und Regisseur Václav Vydra senior.20 Das Hilfskomitee vermittelte Flüchtlingen nicht nur Kontakte für Unterkunft und Verpflegung (Hubený 2006), es bemühte sich auch, ihnen Verdienstmöglichkeiten in ihrem ursprünglichen Beruf zu verschaffen. Bei den ca. 350 registrierten Flüchtlingen, derer sich das Komitee annahm, handelte es sich vor allem um Handwerker und Arbeiter. Unter ihnen waren jedoch auch Künstler, Journalisten, Schriftsteller, Politiker und Akademiker, denen die Mitglieder des Komitees zum Beispiel Beschäftigungen bei den tschechoslowakischen Medien oder im kulturellen Bereich vermittelten.21 Trotz seines anfänglichen Enthusiasmus für die Arbeit dieses Vereins erlebte Fischer hier am Ende seiner Tätigkeit, wahrscheinlich nach 1934, eine herbe Enttäuschung. Der Verein war nämlich ins Schlepptau deutscher und tschechischer Kommunisten geraten. Diese begannen, Vereinsmittel für die Ausbildung eigener Militäreinheiten abzuzweigen, die zu Sabotageaktionen in Hitler-Deutschland eingesetzt werden sollten. Fischer wusste von diesen Aktivitäten zunächst nichts. Auch vor dem Vorsitzenden des Komitees, F. X. Šalda, konnten die Kommunisten ihre Tätigkeit verheimlichen. Sie stand jedoch unter dem Schutz kommunistischer Komiteemitglieder. Nachdem Fischer von den Aktionen erfahren hatte, legte er unverzüglich all seine Funktionen im Hilfskomitee nieder. Er wollte seinen Namen um keinen Preis mit demokratiefeindlichen Kommunisten verbunden sehen. Ebenso missfiel ihm die militärische Ausrichtung des Vereins. Mit noch größerer Enttäuschung trat der ursprüngliche Mentor des Komitees, F. X. Šalda, aus diesem aus, da er aufgrund seines erklärten Pazifismus mit der eingeschlagenen Entwicklung nicht einverstanden war. Parallel zu Fischer distanzierte er sich von allen Aktivitäten des Vereins und trat als Komitee-Vorsitzender zurück.22 Nach dem Scheitern dieses Projekts konzentrierte sich ein Großteil der Intellektuellen auf die Arbeit in der Thomas-Mann-Gesellschaft,23 welche 19  DEA (NL Wilhelm Sternfeld EB 75/ 177, B.I.1. (4), Das Hilfs-Committee fuer Emigranten aus Deutschland / Šalda-Committee, 1f.) 20  Ebd. 21  Ebd.: 5. 22  Ebd.: 3 u. 5-10. DEA (NL Wilhelm Sternfeld EB 75/ 177, B.I.3.a, Loewenbach, Wilma, Die Emigration der Antihitler-Deutschen nach Prag, ab 1933, 1, 6f. u. 21.); DEA (ebenda, Matoušková, Helena, Šalda Komité, 1-3). 23  DEA (ebd., B.I.1 (8), Sternfeld, Wilhelm: Thomas-Mann-Gesellschaft, 1f.).

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die ursprünglich vom Šalda-Komitee geprägte Idee der Unterstützung von Kulturschaffenden übernommen hatte. In dieser neuen Hilfsorganisation engagierte sich Fischer zwar nur zwei Jahre lang, setzte sich jedoch seit ihrer offiziellen Gründung 193624 mit ganzer Kraft für ihre Interessen ein. Auch seinen Bruder Josef konnte er in dieser Zeit für die Idee der Flüchtlingshilfe gewinnen. Gemeinsam mit ihm beteiligten sich an der Tätigkeit der Thomas-Mann-Gesellschaft weitere bedeutende Persönlichkeiten des kulturellen und politischen Lebens. Informell wurde die Arbeit der Organisation zudem vom Kreis um die Prager Burg und von Präsident Edvard Beneš selbst unterstützt.25 Die letzte Organisation, mit der Fischer zusammenarbeitete, war der Oskar-Kokoschka-Bund, der sich vor allem auf die Unterstützung bildender Künstler aus Deutschland konzentrierte.26 Hier engagierte sich Fischer vor allem finanziell, indem er relativ hohe Beträge spendete. Unter anderem mit seiner Hilfe gelang es in den ersten Jahren der Vereinstätigkeit, deutsche Künstler bei der Ausreise nach Großbritannien und beim Knüpfen von Kontakten mit dortigen Galerien und Stipendienorganisationen zu unterstützen. Parallel zu all diesen Aktivitäten wurde Fischer 1935 zum Schauspielchef des Prager Nationaltheaters ernannt. Derjenige Teil der tschechischen intellektuellen Öffentlichkeit, der es begrüßte, dass es ihm trotz latenter Faschisierung gegen Ende der Ersten Tschechoslowakischen Republik und trotz seines Judentums gelungen war, in eine so wichtige Position vorzudringen, reagierte begeistert. Für Fischer kam damit jedoch eine weitere anspruchsvolle, politisch exponierte und kräftezehrende Funktion hinzu. Der Zerbrechlichkeit ihres Gatten war sich auch Blažena Fischerová bewusst. Mit Sorge verfolgte sie seine wachsende Erschütterung angesichts der 24  Der Thomas-Mann-Gesellschaft war die Notgemeinschaft antifaschistischer Schriftsteller vorausgegangen. Diese wurde im Winter 1934/35 von drei in Prag lebenden deutschen Autoren (Friedrich Burschell, Frank Warschauer und Werner Türk) als Hilfsorganisation für deutsche Schriftsteller gegründet, die in die Tschechoslowakei emigriert waren. Die Schirmherrschaft über diese Organisation übernahmen Heinrich Mann, Arnold Zweig und Lion Feuchtwanger. In Zusammenarbeit mit ihr wurde ein Fonds gegründet, dem Thomas Mann seinen Namen lieh. Dieser Fonds nahm bald Verbindung mit tschechoslowakischen Kreisen auf. Zu seinen Unterstützern zählten neben Otokar Fischer auch viele andere bekannte Persönlichkeiten. Da sich die Tätigkeit des Thomas-Mann-Fonds zu erweitern begann, wurde Ende 1936 die Gründung einer Thomas-Mann-Gesellschaft beschlossen, die über größere Kompetenzen verfügte. Ebd., 2f. 25  Ebd.: 4. 26  DEA (NL Wilhelm Sternfeld EB 75/ 177, B.I.1. (16), 12-14.)

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beunruhigenden Entwicklung der internationalen Lage, deren Eskalation 1938 schicksalhaft für Fischer werden sollte. Souhrn hospodářských a politických převratů roztočil kolo dějů ve velké sousední říši k jízdě překotné, že pozorovatel slovesného dění stojí před ní bezradně a připadá si jako milenec krásných básní, když se dovídá, že kraj, z něhož vzešly uctívané výtvory, je pustošen zemětřesením. Ale tak jako si vůbec nelze ze soudobé historie odmyslit pružiny duchové, tak už dokonce není možná vykládati dnešní Německo beze zřetele k jeho kultuře, i připadá zrovna dějepiscům písemnictví úkol, aby svůj obor zapsali do širších souvislostí a řekli své slovo k předpokladům i možným výhledům pádícího vývoje. [Die Gesamtheit der wirtschaftlichen und politischen Umbrüche hat das Rad der Ereignisse im großen Nachbarreich in so halsbrecherische Fahrt versetzt, dass der Beobachter des verbalen Geschehens ratlos vor ihm steht und sich vorkommt wie ein Liebhaber schöner Gedichte, wenn er erfährt, dass die Landschaft, aus der die verehrten Schöpfungen hervorgingen, durch ein Erdbeben verwüstet wurde. Aber wie generell aus der gegenwärtigen Geschichte die geistigen Triebfedern nicht wegzudenken sind, so kann auch das heutige Deutschland nicht ohne Rücksicht auf seine Kultur interpretiert werden, und gerade den Historikern des Schrifttums fällt die Aufgabe zu, ihr Fach in breitere Zusammenhänge einzuordnen und ihr Wort zu den Voraussetzungen und möglichen Zukunftsaussichten dieser rasanten Entwicklung zu sagen.] (Fischer 1933)

Mit diesen Worten leitete Fischer seinen bereits genannten Aufsatz Německo a my [Deutschland und wir] ein. Die Idee der Erhaltung des kulturellen und geistigen Erbes versuchte Fischer – der negativen Entwicklung der deutschen Politik zum Trotz –, in seinem eigenen Wirken zu vermitteln, u. a. durch die Unterstützung von Flüchtlingsvereinen. Fischer glaubte, dass die Nation, die der Welt Goethe geschenkt hatte, nicht als Ganzes versagen könne und dass man diejenigen ihrer Vertreter, die an den Idealen von Demokratie und Liberalismus festhielten, unter allen Umständen und ungeachtet ihrer politischen und ethnischen Zugehörigkeit unterstützen müsse. (Übersetzt von Ilka Giertz)

Literatur Čapková, Kateřina/Frankl, Michal (2008): Nejisté útočiště. Československo a uprchlíci před nacismem 1933–1938 [Unsichere Zuflucht. Die Tschechoslowakei und Flüchtlinge vor dem Nazismus 1933–1938]. Praha-Litomyšl: Paseka. Fischer, Otokar (1933): Německo a my [Deutschland und wir]. Levá Fronta [Linke Front]. LA PNP Prag, Nachlass Otokar Fischer, přednášky veřejné – obecná témata

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[öffentliche Vorträge – allgemeine Themen], 10.03.1933, maschinenschriftlich. – Zuletzt in: Ders.: (2015): Literární studie a stati II, hg. von Josef Čermák. Prag: Phil. Fakultät der Karlsuniversität, 569-571. Frankl, Michal (2005): Azyl nebo dočasné útočiště? Proměny československé uprchlické politiky 1933–1938 [Asyl oder vorübergehende Zuflucht? Wandlungen der tschechoslowakischen Flüchtlingspolitik 1933–1938]. – In: Exil v  Praze a Československu 1918–1938 [Exil in Prag und in der Tschechoslowakei 1918–1938], Praha: Pražská edice, 56-61, 62-69. Hubený, David (2006): Němečtí emigranti ve Mšeci v  letech 1934–1937 (1939) [Deutsche Emigranten in Mšec/Kornhaus 1934–1937 (1939)]. – In: Rakovnický historický sborník [Rakovníker historischer Sammelband] VII, 5-24, http://www. soapraha.cz/documents/rakovnik/20130703103226-archiv-sbornik-2006.pdf (Zugriff 25.10.2016). Skořepová, Zuzana (2012): Němečtí uprchlíci před nacismem v „tolerantním“ Československu mezi lety 1933–1938 [Deutsche Flüchtlinge vor dem Nazismus in der „toleranten“ Tschechoslowakei 1933–1938]. – In: Tauchen, Jaromír/ Schelle, Karel (Hgg.): Státoprávní vztahy českého státu a německé říše ve středověku a jejich důsledky pro další vývoj [Staatsrechtliche Beziehungen zwischen dem tschechischen Staat und dem deutschen Reich im Mittelalter und ihre späteren Folgen]. Ostrava: The European Society for History of Law, 99-105. Skořepová, Zuzana (2013): Život za cenu důstojnosti? Němečtí uprchlíci před nacismem v  ČSR ve 30. letech 20. století [Leben um den Preis der Würde? Deutsche Flüchtlinge vor dem Nazismus in der ČSR in den 1930er-Jahren]. – In: Tauchen, Jaromír/Schelle, Karel (eds.): Odraz německého národního socialismu ve třicátých letech v  Československu a ve státech střední Evropy [Reflex des deutschen Nationalsozialismus in der Tschechoslowakei und Mitteleuropa der 1930er-Jahre]. Ostrava: The European Society for History of Law, 185-191.

Abbildungsnachweis Die Originalbilder sind im Literaturarchiv des Museums für nationales Schrifttum (LA PNP; Nachlass O. Fischer) und in der Nationalgalerie Prag (NGP) aufbewahrt.

Umschlag Otokar Fischer, 1925, Fotoatelier J. F. Langhans, Prag (LA PNP) S. 30 Otokar Fischer im Familienkreis, Prag-Dejvice 02.06.1916 (LA PNP) S. 55 Gruppenfoto, Besuch Heinrich Manns in Prag, Prager Pres se, 21.10.1934 (LA PNP) S. 70 Ladislav Schlücksbier an Otokar Fischer, Berlin 21.04.1904 (LA PNP) S. 80 Prokop Maxa an Otokar Fischer, Berlin 19.10.1904 (LA PNP) S. 119 Vlasta Vostřebalová Fischerová: Letná roku 1922 [Letná Berg im Jahre 1922], 1926 (NGP) S. 120 Vlasta Vostřebalová Fischerová: Kateřinky, zlý sen [Kateřinky, böser Traum], 1926 (NGP) S. 153 Ernennungsdekret von Association française d’Action artis tique für Otokar Fischer, Paris 24.01.1938 (LA PNP) S. 388 Otokar Fischer: Norderney (1923), Auszug (LA PNP) S. 430 Umschlag und Titelblatt der ersten tschechischen Ausgabe des lyrischen Dramas Der Tor und der Tod von Hugo von Hofmannsthal in der Übersetzung von Otokar Fischer (1910) (Privatbesitz, Lucie Merhautová) S. 466 Franz Wedekind an Otokar Fischer, s.a. (LA PNP)

Personenregister (Der Name Otokar Fischer ist nicht exzerpiert)

Adler, Alfred 254, 398 Adler, Friedrich 181 Alafberg, Friedrich 235, 241 Albane, Blanche (eigentlich Duhamel) 153, 155, 172 Alda, Jan 170 Alewyn, Richard 375f. Alfieri, Vittorio 392 Altenberg, Paul 427, 451 Andler, Charles 158f., 161, 174f., 416f., 419, 423f. Andreas-Salomé, Lou 85 Andrian, Leopold 451 Anschütz, Georg 273f. Anz, Thomas 243 Apollinaire, Guillaume 166 Aristoteles 213, 230f., 280, 446 Arndt, Ernst Moritz 422 Arnim, Achim von 218, 240, 274 Arnold, Robert Franz 218, 468 Ascher, Edmund 91 Assmann, Jan 307, 310 Auředníčková, Anna 123 Bab, Julius 235, 241, 467, 490 Babler, Otto František 187, 431 Bachmann, Ingeborg 358 Bachofen, Johann Jakob 442 Bahr, Hermann 252f., 259, 352, 427, 429, 431, 439-446, 459

Balák, Jan Matěj 34 Balzac, Honoré de 152 Barrès, Maurice 449 Barron, Stephanie 104, 117 Barth, Ilse-Marie 500 Bartl, Andrea 360, 363 Basch, Alfred 36, 180 Basch (geb. Krása), Klára (Clara) 34, 428 Basilus, Lucius Minucius 192 Bass, Eduard 508, 510 Baudelaire, Charles 150, 161, 176 Baum, Oskar 182 Bäumer, Gertrud 84 Bäumler, Alfred 419, 422 Baur, Frank 161 Baušová, Blažena s. Fischerová (geb. Baušová), Blažena Beckerhoff, Ulf 413, 423 Becher, Peter 58, 189 Bednár, Štefan 102 Beer, Antonín 50 Beethoven, Ludwig van 479 Benda, Oskar 235, 242 Benecke, Georg Friedrich 236, 242 Beneš, Edvard 504, 506, 522 Benjamin, Walter 243, 419, 423 Bentley, Richard 231 Beran, Rudolf 46 Bérence, Fred (eigentlich Behrens, Frédéric) 165 Berger, Alfred von 395

Bergmann, Hugo 49, 182 Bergson, Henri 137, 303f., 334, 413 Berka, Jan 167 Bernard, Jean-Jacques 165 Bernášek, Antonín 167 Bernhard, Ludwig 74 Bernhard, Thomas 358 Bernhard, Toni 273, 278 Bernt, Alois 390 Bertaux, Félix 158f. Bertram, Ernst 421, 423 Beuve-Méry, Hubert 164 Beyer, Wilhelm Raimund 404 Beyerlein, Franz Adam 76 Bialik, Chaim Nachman 121 Bianquis, Geneviève 416, 423 Bidez, Joseph 161 Birabeau, André 474 Bischoff, Heinrich 162 Bismarck, Otto von 72, 81, 92 Bittner, Konrad 205 Blancquaert, Edgard 161 Blažek, Jan 484 Blecha, Ivan 407, 423 Bley, André 161 Bloch, Jean-Richard 170 Boden, Petra 224f., 242 Boehme, Jacob 274 Boettinger, Hugo (Pseud. Dr. Desiderius) 102, 117 Boll, Franz 302 Bor, Jan 167, 477f., 484, 487-490

528 Borecký, Jaromír 50, 51, 58 Borský, Lev (eigentlich Bondy, Leo) 39, 89, 314f., 409, 421 Bouchet, Louis 153 Bourdieu, Pierre 214, 242 Brabec, Jiří 10 Brabec, Julius 431 Brahm, Otto 438f., 490 Brambora, Josef 25f., 57f., 60, 141-144, 196, 204, 208, 260 Brandenburg, Martin 88 Brandl, Alois 72f. Brecht, Walter 235 Bremond, Henri 295 Brentano, Clemens 274, 412 Breuer, Ingo 364f. Breuer, Josef 395, 443 Breysig, Kurt 73, 75, 78, 81, 83 Breysig, Marie (geb. Rommel) 83 Breysing, Marie 78 Březina, Otokar (eigentlich Jebavý, Václav) 129f., 143f., 283f., 292, 297, 313, 332, 409, 424 Brod, Max 55, 179-182, 184f., 188, 190, 243, 354, 362, 396, 473, 477, 504, 517 Brückner, Aleksander 70, 79 Bruckner, Ferdinand 489 Bruno, Giordano 76 Brussel, Robert 152 Buber, Martin 77, 135 Büchner, Georg 505 Budín, J. L. s. Löwenbach, Jan Burckhardt, Jacob 174, 415, 442

Register Burdach, Konrad 235, 370, 373f., 385 Bürger, Gottfried August 38 Burian, Emil František 504 Burschell, Friedrich 522 Buschmeier, Matthias 369, 385 Butter, Oskar 165 Byron, George Gordon 392 Čapek, Josef 152 Čapek, Karel 36, 55, 138f., 167f., 474, 504-511 Čapková, Kateřina 29, 51, 58, 122, 128, 138, 143, 147f., 248, 259, 367, 513, 523 Cassirer, Ernst 306, 309f. Cassou, Jean 164, 170 Čech, Svatopluk 313f., 350 Čelakovský, František Ladislav 186, 202, 205, 283 Celan, Paul (eigentlich Antschel, Paul) 358 Čermák, Jan 283-285, 297 Čermák, Josef 52, 58, 187-189, 362f., 459461, 524 Čermák, Petr 283-285, 297 Černý, J. Vlad. 66 Červinka, Vincenc 39 Češka, Jakub 147 Chalupecký, Jindřich 333, 342, 344, 349 Chamberlain, Houston Stewart 235 Charvát, Filip 154, 343f., 349, 367 Charvátová, Kateřina 347 Chiarini, Paolo 386 Chirico, David 433, 459 Chlup, Otokar 39

Chopin, Jules (eigentlich Jules-Eugène Pichon) 166 Cicero, Marcus Tulius 192, 208 Čipera, Dominik (Gymnasiallehrer von Otokar Fischer) 46 Čipera, Dominik (Politiker) 46 Císař, Jan 484, 490 Čížek, Vojtěch 39 Clark, William 214, 242 Clesse, Antoine 161 Cohen, Albert 165, 170 Cohen, Gary B. 43, 58, 217, 242 Cohn, Paul 416, 424 Colin, Paul 165 Comenius (Komenský), Johann Amos (Jan Amos) 409 Conradi, Hermann 434 Conrads (Berliner Freunde von Otokar Fischer) 67, 83 Consentius, Ernst 71, 88f., 94, 263, 280 Copeau, Jacques 155, 157 Corbière, Henri 152 Corneille, Pierre 101, 166f., 173, 316 Cortot, Alfred 152 Cosentino, Annalisa 250f., 258f., 286, 297 Counson, Albert 161 Creizenach, Wilhelm 192 Croce, Benedetto 250, 258, 303, 336f., 374 Curtius, Ernst Robert 22, 234, 242 Cysarz, Herbert 205, 217, 229, 232-235, 239f., 243, 395, 401 Čyževs’kyj (Tschižewskij), Dmytro 286, 297

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Register Czihaczek, Otto 69, 70 Dainat, Holger 393, 401 Daníček, Jiří 143 Danneberg, Lutz 358, 363 D‘Annunzio, Gabriele 421 Dascal, Marcelo 363 Daston, Lorraine 214, 242 Daumont, Fernand 161 De Coster, Charles 162, 173f. Dehmel, Richard 81, 434f. Dehrmann, Mark-Georg 369f., 385 Demetz, Hans 473 Deml, Jakub 129f., 137, 143, 333, 349 Denis, Ernest 163f. Dessoir, Max 80, 273, 305 Detering, Heinrich 280 Dickens, Charles 392, 414 Diels, Hermann 77 Diels, Paul 77, 80, 90 Dilthey, Wilhelm 77, 79, 91, 154, 216, 236, 239, 243, 249, 280, 301305, 308-310, 337, 339, 370-372, 374, 379, 386, 391-394, 397, 401, 405 Dimitroff, Georgi 498 Dix, Otto 114 Docen, Bernhard Josef 74 Dörmann, Felix 435 Dostal, Karel 167, 450, 506, 508 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 411 Dreher, Arno 495, 499 Dreyer, Max 88 Dreyfus, Alfred 126 Driesch, Hans 303, 310 Drosdowski, Günther 334, 350 Drtikol, František 102

Drtina, František 47, 66, 165 Drůbek, Ladislav 91 Duchková, Zuzana (geb. Skořepová) 138, 514, 524 Dudková, Veronika 144 Duhamel, Georges 153155, 157, 171 Duras, Mary 102f., 117f. Durieux, Tilla 477 Durkheim, Émile 303, 416 Dvořák, Arnošt 474f., 477f., 484, 490 Dyk, Viktor 26, 56f., 313f., 332, 449, 484, 490 Dyrynk, Karel 169 Eckert, Rudolf Max 518 Eckmann, Sabine 104, 117 Effenberger, Hans (Pseudonym Jan Śliwiński) 82 Egglmaier, Herbert 391, 401 Ehlers, Klaas-Hinrich 491 Eichenberg, Ariane 311 Eichendorff, Joseph von 274 Einstein, Albert 170, 518 Eisenmann, Louis 164 Eisner, Pavel (Paul) 19, 25f., 29, 36, 52, 54-56, 58, 63, 102, 117f., 139141, 143f., 148, 171, 174, 177f.,179, 185190, 284, 354, 362, 365, 377, 384, 386f., 425, 459, 464, 511 Eliáš, Alois 46 Ellinger, Georg 71 Elster, Ernst 393f., 398, 401, 404 Enayat, Edda 399, 401 Enenkel, Karl Alfred Engelbert 213, 242 Engel, Eduard 467, 490

Enzinger, Moritz 219 Erben, Karel Jaromír 38, 186, 283 Erdmann, Otfried 69 Erikson, Erik H. 29, 58 Ernst, Paul 448 Eschenbacher, Walter 359, 363 Escher, Georg 182, 189 Escholier, Raymond 165 Essertier, Daniel 165, 175 Eysoldt, Gertrud 83, 439f., 449, 459 Faerber, Sigfrid 222, 242 Feller, Louis 148 Feuchtwanger, Lion 522 Fichte, Johann Gottlieb 213, 422 Fiebig, Nils 419, 423 Fiedler, Leonhard 439f., 459 Filser, Benno 212 Firt, Julius 506, 510 Fischer, Jakob (Jakub, Jacob) 31 Fischer, Jan Otokar 104, 111f., 117 Fischer, Jens Malte 401 Fischer, Josef 30, 37, 39, 59, 65-69, 71-76, 78, 80-89, 94, 99, 104, 180, 189, 522 Fischer, Pavel 9, 31-34, 37, 38, 40–43, 56f., 61 Fischerová, Anna (Annie, Anni) 30, 33, 65-71, 75, 77-80, 84–86, 89, 117, 125, 269 Fischerová, Eva 111 Fischerová, Jitka 111 Fischerová, Ruth 111, 329 Fischerová (geb. Baušová, 2. verh. Bassová), Blažena 30, 44, 81,

530 98f., 105, 155, 303, 464, 518, 520, 522 Fischerová (geb. Krása), Hermína (Hermine) 30, 34-38, 45, 56f., 6569, 71-76, 78, 80-88, 117, 465 Fischerová (geb. Plecháčková), Blažena 111f., 160, 167, 241, 516, 518-520, 522 Fischerová (geb. Schulhoff), Terezie (Theresia) 31 Fischerová Vostřebalová Vlasta s. Vostřebalová, Vlasta Fischl, Viktor 56, 61, 121, 323f., 331 Flajšhans, Václav 45f. Flaubert, Gustave 360, 396 Fliedl, Konstanze 225, 242 Fohrmann, Jürgen 401 Foncke, Robert 160 Formánek, Jaroslav 31, 36, 60 Förster, Bernhard 421 Förster-Nietzsche, Elisabeth 415f., 419, 421, 424 France, Anatol 449 François-Poncet, André 151 Frank, Manfred 289, 300, 387 Frank, Philipp 224, 233 Frank-Barnová Michala 97, 99f., 102f., 110, 113, 117f., 147, 157 Frankl, Michal 33, 40, 44, 60, 129, 134, 138, 143f., 513, 523f. Frejková, Eliška 504f., 510 Freud, Sigmund 29, 170, 215, 254f., 267, 271,

Register 304, 318f., 333, 338340, 345, 350, 394400, 403, 413, 424, 442-444 Freymond, Émile (Emil) 148 Frieberg, Otto 473 Friedenthal, Joachim 490 Friedländer, Max 86f. Friedrich II. 88 Friedrich, G. s. Geminder, Friedrich (Bedřich) Fuchs, Alfred 27f., 55 Fuchs, Dieter 418, 424 Fuchs, Georg 475 Fuchs, Rudolf 55, 158, 179, 186 Fučík, Bedřich 187 Gard, Maurice Martin du 165 Gast, Peter 419 Gaston, Jerry 245 Gautier, Théophile 380 Gawalowski, Karl Wilhelm 219 Geiger, Ludwig 69, 79, 148 Gémier, Firmin 156 Geminder, Friedrich (Bedřich) 498, 500 George, Stefan 235, 243, 272, 377f., 421, 423, 434f., 462 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 48, 59, 71, 86f., 89, 94, 194, 259, 278, 389, 402 Gesemann, Gerhard 225, 245 Gesenius, Friedrich Wilhelm 69 Gide, André 449 Gierach, Erich 225, 245 Gilbert, Felix 302, 310 Gillmett, Jan 69f.

Gintl, Zdeněk 167 Ginzburg, Carlo 302, 310 Gladstone, William Ewart 102 Godé, Maurice 242, 244 Goedeke, Karl 219 Goethe, Johann Wolfgang von 11, 36-38, 51f., 55, 59f., 69f., 86, 91, 93, 101f., 149, 159, 161, 166, 175, 177, 193, 195, 201f., 205, 209, 224, 226-228, 235, 240, 242, 251f., 258, 260, 271f., 280, 283, 287, 289, 293395, 301, 310, 314, 325, 327, 356f., 359f., 363, 369, 374f., 379, 386, 389, 392, 398, 402, 412, 419, 423, 435, 441, 489, 499, 505, 515, 523 Gogh, Vincent van 103 Gold, Hugo 31 Goldmann, Paul 69, 440 Goldschmidt, Leonore 217, 242 Goldstücker, Eduard 21, 54, 61, 182, 190, 204, 208 Goltschnigg, Dietmar 378, 386 Gombrich, Ernst 302 Gontscharow, Iwan Alexandrowitsch 275, 414 Goody, Jack 213, 231, 242 Gorki, Maxim 76, 84 Gottfried von Straßburg 78 Gottlieb, František 121, 126f., 140-144, 165, 170, 260, 323, 510, 519 Götz, František 135, 502, 510

531

Register Grabbe, Christian Dietrich 73 Grebeníčková, Růžena 433f., 461 Grégoire, Henri 164 Gregor, Joseph 123 Greinz, Rudolf 219 Grilj, Natascha 12 Grillparzer, Franz 194, 372, 390 Grimm, Gunter E. 213, 242 Grimm, Jacob 214, 230 Grimm, Wilhelm 238 Grmela, Jan 55, 187 Groag, Edmund 218f., 244 Groh, František 78 Groos, Karl 296 Grosjean, Oscar 161 Grosz, George 114 Grube, Wilhelm 69 Gruß, Melanie 268, 274, 280 Gudehus, Christian 311 Guggenheimer, Josef 30 Guggenheimer, Raphael 30 Gundolf, Friedrich 233, 239, 364, 378, 421, 468, 491 Guth, Oskar 43, 61 Haas, Willy 182, 458 Habán, Ivo 103, 117 Hadwiger, Victor 71 Haeckel, Ernst 78 Hagedorn, Friedrich von 375 Haguenin, Émile 69, 79, 148 Hájek, Matouš 25, 61 Halamová, Martina 56, 61 Halas, František 37, 59 Haller, Albrecht von 375 Hamburger, Käthe 217

Hanč (Dr., Freund von Pavel Fischer) 33 Handke, Peter 358 Hanslick, Eduard 290f., 298 Hanuš, Stanislav 165, 319f., 331 Harden, Maximilian (Max) 443, 467, 491 Harkins, William E. 342, 350 Harnack, Adolf von 81 Hart, Julius 434 Hartleben, Otto Erich 83 Hašek, Jaroslav 333, 349 Hasenclever, Walter 473 Hauffen, Adolf 219, 225, 245 Haupt, Moriz 214 Hauptmann, Gerhart 75, 438f., 459, 465 Hausmann, Friedrich Wilhelm 494f., 500 Havel, Václav 164 Havelock, Eric 231, 243f. Havránek, Jan 208 Haym, Rudolf 240 Heartfield, John 498-500 Hebbe, Per Magnus 205 Hebbel, Friedrich 67, 84, 149, 194, 240, 417, 446, 457, 460, 475 Heftrich, Urs 407, 410, 424 Heger, Ladislav 201, 208 Heidler, Jan 39 Heimböckel, Dieter 295, 353, 355, 359f., 364, 411 Heine, Heinrich 11f., 18f., 23, 28, 51, 59, 62, 79, 99, 101, 131, 168-170, 174, 314-317, 331, 361, 367-387, 391, 400, 412, 469, 515

Helle (Berliner Vermieterin von Otokar Fischer) 66 Hellpach, Willi 396 Hennig, Jörg 281 Herbart, Johann Friedrich 294, 302 Herder, Johann Gottfried 163, 182, 205, 256, 263, 412, 458, 489, 515 Hering, Ewald 303f., 334 Hermand, Jost 391f., 403 Herrmann, Max 68, 79-80, 497f. Herrmann, Helene 379 Herschmann, Bedřich 70, 77-79, 82f., 85, 91 Hertz, Henri 170 Herzog, Wilhelm 498 Hesse, Hermann 187 Hettner, Hermann 375 Heusler, Andreas 81 Heveroch, Antonín 114 Hilar, Karel Hugo 154, 247, 451, 476, 482, 487, 489, 490, 502f. Hilbert, Jaroslav 474 Hildebrand, Rudolf 271 Hilsner, Leopold 126 Hinderer, Walter 386 Hirsch, Rudolf 364, 462 Hitler, Adolf 19, 138, 421, 504, 507, 513f., 519, 521 Hitschmann, Eduard 396, 398-401, 403 Hlaváček, Karel 432f., 464 Hlinka, Andrej 507 Hnilica, Jiří 164, 176 Hodler, Ferdinand 88 Hoensch, Jörg K. 483, 491 Hoff, Johann Friedrich 76 Hoffmann, Camill 31, 434, 461

532 Hoffmann, Ernst Theodor Wilhelm 270, 274, 279 Hoffmeister, Adolf 102, 504 Hofman, Vlastislav 507f. Hofmannsthal, Hugo von 12, 75-77, 101, 235, 251f., 257, 294f., 358360, 364, 427-464 Hofmiller, Josef 413, 424 Höhn, Gerhard 382, 386 Höhne, Steffen 154, 159, 190, 221, 243, 280282, 301, 403, 405, 491 Hölderlin, Friedrich 101, 301, 354, 515 Holenstein, Elmar 298 Holmes, Deborah 85, 95 Holý, Jiří 391, 397, 343, 403 Holz, Arno 435 Homer 102 Homolová Richtrová, Nikola 99, 101, 117 Hoppe, Vladimír 91 Hora, Josef 431 Hořejší, Jindřich 165 Horneffer, August 418 Horneffer, Ernst 418 Hostinský, Otakar 291, 300 Hráský (Kolíner Lehrer von Otokar Fischer) 38f. Hrdinová, Josefa 154 Hrozný, Bedřich 39 Hrubý, Karel 410, 424 Hubený, David 521, 524 Huck, Oliver 278 Hugo, Victor 156, 436 Hüller, Franz 219 Hultsch, Anne 188, 190 Humboldt, Wilhelm von 213

Register Hus, Jan (Johannes) 87, 409 Hutter, Josef 184, 190 Huysmans, Camille 160, 173 Hynais, Vojtěch 97 Hýsek, Miloslav 16 Ibler, Reinhard 342, 350 Ibsch, Elrud 298 Ibler, Reinhard 342, 350 Ibsen, Henrik 69 Ifkovits, Kurt 457f., 462 Iggers, Wilma 29, 61 Illová, Milena 187 Illový, Rudolf 187 Iltis, Rudolf 32, 61 Iser, Wolfgang 306, 310 Jacobowski, Ludwig 434 Jacobs, Monty 86 Jacoby, Daniel 72 Jähn, Karl-Hein 342, 350 Jakobson, Roman 18, 22, 284-286, 290f., 298 Jakubcová, Alena 307, 492 Jakubec, Jan 47, 199, 391 Jandl, Ernst 358 Janet, Pierre 296 Janka, Kathrin 344, 350 Janke, Vilém Jindřich 32 Jankélévitch, Vladimir 164 Janko, Josef 193, 195, 197, 199f., 202f., 208f., 249f., 260, 389, 398, 402 Jankovič, Milan 293, 295f., 298 Janowitz, Franz 182 Jareš, Stanislav 50, 61 Jarník, Jan Urban 148 Jaspers, Karl 407, 425 Jastrow, Ignaz 73 Javůrek, Josef F. 429 Jelinek, Elfriede 358

Jelínek, Hanuš 55, 151, 154, 158, 165, 170, 176 Jenny, Rudolf Christoph 219 Jesenská, Milena 187 Jewanski, Jörg 274, 280 Ježková, Petra 32, 147, 158, 474 Jílovský, Rudolf 330 Jirásek, Alois 46, 445f., 503 Jirát, Vojtěch 54, 61, 147f., 158, 161, 176, 208, 247-249, 251, 260, 284, 361, 390 Joël, Karl 310, 412, 425 Johann II. Fürst von Liechteinstein 34 Joho, Rudolf 494f., 500 Jouza, Ladislav 25, 31, 34, 44, 61, 63 Jouzová, Miroslava 31, 44, 63 Judersleben, Jörg 74, 95 Jung, Carl Gustav 398 Jůzl, Miloš 299 Kafka, Erich 39 Kafka, Filip 39 Kafka, Franz 39, 71, 182, 186-190, 223, 243, 344, 349f., 358, 362364, 389 Kahlbeck, Max 474 Kahler, Erich von 234, 243, 245 Kahn, Robert Ludwig 224, 246 Kainz, Josef 452 Kaiser, Gerhard 399-401, 403, 406 Kaiserová, Kristina 144 Kalda, František 161, 165 Kalina, Vojtěch 409 Kamínek, Karel 452, 462

533

Register Kaminský, Bohdan 167, 472 Kant, Immanuel 22, 72, 80, 355, 411, 515 Kany, Roland 229, 243 Kappstein, Theodor 419 Karásek ze Lvovic, Jiří (eigentlich Karásek, Josef) 182, 409, 437f., 456 Karbulka, Josef 68 Karlach, Hanuš 52, 62 Katz, Leopold 43 Kaufmannová, Heda 39, 62 Kautsky, Karl 84 Kaznelson, Siegmund 242 Kelle, Johann Nepomuk von 191, 196, 208, 259, 263, 266, 271, 279, 281 Keller, Gottfried 12, 79, 81, 87, 194, 196, 240, 254f., 266, 271, 279, 281, 389-406, 443, 457 Kerr, Alfred 467, 491 Key, Ellen 86, 90f. Kieval, Hillel 125, 144 Kindt, Tom 239, 243, 266, 273, 280 Kipling, Rudyard 56, 62, 330, 332 Kisch, Egon Erwin 179, 182f. Kisch, Paul 71, 219 Klages, Ludwig 421 Klar, Alois 203, 402, 491 Klášterský, Antonín 26, 62, 434 Klausnitzer, Ralf 214, 243, 244, 390, 403 Klein, Sonja 311 Kleist, Heinrich von 9, 11f., 16, 18, 46, 51, 87f., 99, 101, 180, 189, 194, 197, 240,

247f., 254-257, 259f., 264, 267, 271, 279, 287, 293, 295, 314f., 327, 331, 351-365, 367, 373f., 377, 390f., 400, 402, 411f., 423, 493-500 Klíma, Ladislav 333, 349 Klopstock, Friedrich Gottlieb 91 Knechtel, Anna 58, 189 Koberstein, Karl August 267, 411 Kobler, Dora (geb. Feigenbaum) 88 Kobler, Franz 74-77, 85, 88 Koch, Hans-Gerd 350, 364 Kocourek, Franta 97f., 102, 118 Kodíček, Josef 27f., 62, 437, 452, 462, 474f., 481, 491 Koeltzsch, Ines 63, 122, 144 Kohn, Hans 121, 127f., 132, 134f., 138, 144, 145, 163, 170f., 172f., 176 Kokoschka, Oskar 522 Kolár, Stanislav 166 Kolbenová, Elsa 454 Kolk, Rainer 229, 235, 243, 392, 403 Kollár, Jan (Ján) 283 Kommerell, Max 357, 359 König, Christoph 403, 405 Konrád, Edmond 504, 507, 510 Konůpek, Jan 169 Koos, Marianne 302, 310 Kopp, Arthur 71 Körner, Josef 179, 197, 211-246, 375, 396, 402f.

Körner, Karl 218 Kosák, Michal 140, 144 Kosch, Wilhelm 71, 219, 264f., 280, 390 Košenina, Alexander 213, 243 Kostrbová, Lucie s. Merhautová, Lucie Kovács, Kálmán 387 Kovařovic, Karel 437 Kramer, Leopold 473 Krása, Mathilde 66, 83 Krása, Marek (Marcus, Markus) 34, 36 Krása, Samuel 34 Krásová (Krassová, Krása; geb. Turnau), Anna 36, 66 Krása, Ludmilla (geb. Grünfeld) 34 Kraus, Arnošt Vilém (Ernst Wilhelm) 33, 44, 47, 49f., 55, 57, 70, 78, 191-209, 218, 389391, 398, 400, 402f. Kraus, Carl von 263, 279, 281 Kraus, Karl 187, 339, 358, 377f., 381, 386, 427, 467f., 491 Krčmář, Petr 31, 62 Krecar, Jarmil 27, 62, 129 Krehl, Birgit 298 Krejčí, Jan 191, 197, 199, 389, 400, 434, 462 Krejčí, František 304, 310f., 394, 409 Krejčí, František Václav 307f., 409f., 421 Krejčová, Helena 44, 62 Křen, Jan 483, 491 Kristeva, Julia 305, 311 Krökel, Fritz 416 Krolop, Kurt 183, 190, 264, 280, 363, 389f., 403, 484, 491

534 Krummel, Richard Frank , 413, 425 Kubka, František 314, 332, 437 Kučera, Jan P. 168, 176 Kühlmann, Wilhelm 213, 234 Kuklová, Michaela 63, 144 Kukula, Richard 50f., 62 Kunel, Maurice 161 Kurth, Godefroid 161 Kvapil, Jaroslav 173, 332, 445, 463, 472, 474, 477f., 484, 487 Lachmann, Karl 222, 230, 238 Lachmann, Renate 305, 311 Laforgue, Jules 180 Laichter, František 169f. Laichter, Jan 46f., 462 Laichter, Josef 46f. Lambel, Hans 191 Lambroso, Cesare 338 Lämmert, Eberhard 403, 405 Lang, F. (Herausgeber) 498, 500 Langbehn, August Julian 421 Lange, Helene 84 Langer, František 16, 27f., 179, 481f., 491 Lasson, Adolf 72 Lauermannová-Mikschová, Anna 154, 450, 462f. Laurin, Arne 471, 475, 481, 492 Lavery, John 88 Lazard, Max 170 Le Marois, Gräfin 213 Le Rider, Jacques 242, 244f., 416, 425 Lederer, Eduard 44, 62

Register Legras, Jules 158, 164 Lehár, Jan 461 Leitzmann, Albert 225 Le Marois, Elisabeth 213 Lemm, Uwe 400f., 404 Lenau, Nikolaus 82, 463 Lenin, Wladimir Iljitsch (eigentlich Uljanow, Wladimir Iljitsch) 121 Lenz, Max 81 Léon, Paul 152 Leppin, Paul 179, 182, 450f., 462, 504 Lessing, Ada 517f. Lessing, Gotthold Ephraim 69, 73, 184, 255, 263, 268, 301, 310, 505 Lessing, Otto Eduard 219 Lessing, Theodor 517f. Lévy-Bruhl, Lucien 164 Lichtenberg, Georg Christoph 321 Lichtenberger, Henri 158f., 416f., 424 Liebrand, Claudia 362, 364 Liebscher, Otto 495 Liliencron, Detlev von 434 Lipscher, Ladislav 389, 404 Liska, Vivian 311 List, Eveline 29, 62 Loeben, Otto Heinrich Graf von 274 Loewenbach, Wilma 521 Löwenbach, Jan 102, 117 Lope de Vega 101, 503, 509 Löwith, Karl 420, 425 Lubbe, Marinus van der 498 Ludvová, Jitka 429, 462, 473f., 492 Luft, Robert 217, 244 Lugné-Poë, Aurélien 156, 167

Lukács, Georg 422, 425 Lunzer, Heinz 458, 462 Luther, Martin 376 Lütteken, Anett 351-354, 364 Mácha, Karel Hynek 203, 284-286, 292f., 295, 297-299, 375, 402, 486, 491 Machar, Josef Svatopluk 77, 409, 427 Machková, Zora 65 Macura, Vladimír 298 Macurová, Naděžda 147 Maeterlinck, Maurice 162 Mahrholz, Werner 234, 244 Maidl, Václav 12, 492 Majerová, Marie 55, 108, 118 Málek, Petr 248, 260 Malinovich, Nadia 171, 176 Manes, Philipp 493f., 500 Mann, Heinrich 55 Mann, Leonie 55 Mann, Thomas 352, 364, 504, 521f. Mandelíks (Fabrikantenfamilie) 44, 61 Mandlerová, Jana 58 Mannheim, Karl 214 Mannings, Philipp 473 Mareček, Zdeněk 139, 144 Marès, Antoine 149f., 176 Marešová, Milada 104, 109 Margis, Paul 338 Marlowe, Christopher 101 Marten, Miloš (eigentlich Miloš Šebesta) 67, 437, 462 Martínez, Matías 350 Martini, Fritz 405 Marton, Scarlett 413, 425 Marx, Karl 121, 137

535

Register Marxová, Alice 143 Masaryk, Tomáš Garrigue 47f., 60, 125f., 176, 201, 217, 284, 297, 330, 339, 410, 424 Mašek, Karel 445f. Massin-Verhaeren, Marthe 166 Matějček, Antonín 521 Mathesius, Bohumil 27f., 62, 129, 248, 284 Mathesius, Vilém 39, 202, 284, 299, 402, 491 Matouš, Josef 39 Matoušková, Helena 521 Matt, Peter von 399 Maurach, Martin 352 Mauthner, Fritz 273, 281, 294f., 298, 300, 358360, 363-365 Maxa, Prokop 69f., 77-82, 85, 87-89 Mayer, Françoise 242, 244f. Mayer, Wilhelm 342 Mazon, André 164 Meer, Marten Jan van der 162 Mehring, Franz 69 Meitzen, August 74 Meja, Volker 214, 245 Menasce, Jean de 165 Mendelssohn, Peter de 364 Mendl (Mändl), Bedřich (Friedrich) 36, 62 Mendl, František 36 Mendl (Mändl), Karel (Karl) 34 Mendlová (Mändlová; geb. Krása), Bedřiška (Frida) 34, 35, 36 Menzer, Paul 72 Mercereau, Alexandre 152, 165 Merhaut, Luboš 449, 462

Merhautová, Lucie (geb. Kostrbová) 77, 257, 260, 429, 431, 462 Merton, Robert K. 214, 238, 244 Měšťan, Antonín 407, 425 Meyer, Conrad Ferdinand 390 Meyer, Estella 83, 86, 269 Meyer, Richard Moritz 71, 73, 79, 81, 83, 86f., 194, 218, 230, 244, 261, 265, 268-278, 280f., 336, 379, 386, 393, 398, 404, 419, 423, 425 Meyer-Benfey, Heinrich 356, 363 Meyer-Lübke, Wilhelm 218 Meyrink, Gustav 179, 183, 396 Michlová, Milada 400, 404, 407, 425 Minde-Pouet, Georg 494496, 499 Minor, Jakob 218, 221f., 235, 239, 242, 244 Míšková, Alena 34, 35, 62 Misselhorn, Catrin 298 Mitterrand, François 164 Mittler, Liese 473 Möhn, Dieter 281 Moeller van den Bruck, Arthur 421 Moissi, Alexander 82 Molière 101, 151, 156, 167f., 173f., 176, 447 Montinari, Mazzino 418, 425 Morris, Max 87 Mourek, Václav Emanuel 69, 71f., 78, 191, 197f., 201, 389, 398 Mourková, Jarmila 185f., 190

Mukařovský, Jan 17, 283286, 290, 292-294 Müllenhoff, Karl 221 Müller, Hans-Harald 48, 83, 95, 239, 243, 266, 269, 273, 275, 280f., 393 Müller, Georg 208, 478 Müller, Michael 350 Müller-Seidel, Walter 405 Multatuli (eigentlich Eduard Douwes Dekker) 69 Muncker, Franz 220f., 235, 244 Murner, Thomas 79 Muschg, Adolf 399-401, 404-406 Muschg, Walter 399-401, 404 Musil, Robert 358 Mussolini, Benito 507 Nadler, Josef 197, 219, 227, 235, 244, 264, 280, 389, 392, 394, 403 Napoleon Bonaparte 213, 353, 493, 496, 497 Napoleon II. 169 Navrátil, Michal 43, 62 Nebrig, Alexander 369f., 385, 387 Nechlebová, Marie 455 Nehring, Wolfgang 443, 462 Nekula, Marek 209, 491 Němec, Mirek 347 Neri, Pavel 455 Neruda, Jan 375 Neumann, Angelo 473 Neumann, Bernd 399, 404 Neumann, Gerhard 387 Neumann, Stanislav Kostka 126f., 144, 364, 436, 463, 474

536 Neurath, Otto 83-85 Nidden, Ezard 235, 244 Nietzsche, Franziska 419 Nietzsche, Friedrich 9, 11f., 18, 39, 75, 99, 101, 158, 174f., 220, 236, 240, 243, 255f., 259, 264, 267, 275f., 279, 281, 288f., 307, 314f., 331, 335, 353356, 361, 364, 367, 372f., 374, 375, 377f., 391, 397, 400, 407425,441f., 449, 496, 514f. Noble, Cecil Arthur M. 358, 365 Nodl, Martin 34, 62 Nottscheid, Mirko 83, 95, 262, 269, 280 Novák, Arne 16, 50f., 62, 80, 127f.,180f., 183, 189f., 194, 198, 249, 251f., 260, 267, 281, 313-315, 326f., 329331, 365, 381, 390, 394, 404f., 409, 425, 435-437, 450-453, 458f., 463f., 479, 507, 510 Novák, Jaroslav 89-91 Novák, Josef 424 Novák, Robert 78 Novák, Vítězslav 314 Novák, Vojta 452, 455 Nováková, Teréza 390, 404 Novalis 218, 221, 274, 290, 296, 301, 310 Nývltová, Dana 108, 118 Oehler, Max 417, 421 Oesterle, Günter 387, 413, 425 Ohme, Andreas 302

Register Ohorn, Anton 47f., 59, 179, 189 Oncken, Hermann 74 Ong, Walter 231, 244 Opelík, Jiří 63, 461 Osborn, Max 86f. Otfrid von Weißenburg 69, 72 Ottmann, Henning 407, 412, 425 Paďourek, Jan 34, 35, 62 Pachmanová, Martina 97, 99, 103, 110, 113, 116, 118 Palivec, Josef 159 Pannwitz, Rudolf 99, 118, 122, 130, 144, 150, 155, 166, 169, 177, 354, 365, 376f., 382, 387, 407, 418f., 425, 502, 511 Pape, Walter 365 Pasley, Malcolm 350 Pasquier, Jean 165 Patočka, Ladislav 482f., 492 Patočka, Jan 423 Paul, Jean 71, 81, 95, 256 Paulhan, Frédéric 338 Paulhan, Jean 296 Pejša, Jaroslav 31, 39, 44, 62f. Pelán, Jiří 150, 176, 461 Pelloni, Gabriella 425 Peroutka, Emanuel 46, 63 Peroutka, Ferdinand 330 Pešek, Jiří 218, 244 Peters, Brigitte 95, 281 Petersen, Julius 225, 235, 242 Petráň, Josef 197, 200, 209 Petrbok, Václav 29, 63, 66, 71, 121, 144, 147f., 199, 217, 317, 351,

367, 389, 398, 405, 428, 465 Pfeffer, Joachim 339, 350 Pfeiffer, Rudolf 230, 245 Píč, Josef Ladislav 34 Pichler, Wolfram 310 Pick, Otto 55, 170 Pincherle, Marc 152 Piquet, Félix 158f. Pirenne, Henri 161 Píša, Antonín Matěj 61, 117, 176, 247, 260, 501, 507, 510f. Pissin, Raimund 467, 492 Pitter, Přemysl 128 Platen, August von 176, 381 Platon 22, 213, 346 Plecháčková, Blažena s. Fischerová (geb. Plecháčková), Blažena Plichta, Dalibor 103, 118 Plutarch 231, 245 Pniower, Otto 71, 86f. Pobé, Marcel 165, 170, 267, 272 Podach, Erich 419, 421, 425 Podlaha, Antonín 409 Podvincová (geb. Fischerová), Anna 33f., 44, 66, 81 Podvinec, Josef 33, 43-45, 57, 65, 75, 81 Podvinec, Otto 66, 82f. Poeta, Claudio 283-285, 297 Pokorný, Alois 39f., 58 Polák, Karel 55, 63, 143f., 189, 252, 260, 387 Polanyi, Michael 238 Polderman, Fabrice 160 Politzer, Heinz 362, 443, 463 Pongs, Hermann 395, 405 Popper-Lynkeus, Josef 30

537

Register Pospíšil, Ivo 387 Pospíšilová, Marie 202 Prášek, Justin V. 39 Pražák, Albert 15f., 53, 55, 63 Preisner, Rio 54, 63 Prel, Carl du 393, 397 Procházka, Arnošt (Pseud. Karel Pudlač) 409, 421, 431, 438, 449, 461-463 Procházka, Johann F. 34, 63 Przybyszewski, Stanisław 431, 449 Pudlač, Karel s. Procházka, Arnošt Puschkin, Alexander Sergejewitsch 101 Pynsent, Robert B. 428, 463 Rabelais, François 154 Rank, Otto 254 Rappl, Werner 310 Rasch, Wolfdietrich 358, 365 Ree, Paul 421 Řehák, Daniel 25, 147, 154, 169 Řehořovský, Matiáš 83 Reicher, Emanuel 450 Reichmann, Jan 319, 457 Reik, Theodor 396 Reinhardt, Max 82f., 429, 438f., 449, 462, 474f., 487 Reiter, Siegfried 240 Renč, Václav 431 Renouvier, Charles 169 Ribot, Théodule 296, 338 Richter, Ludwig 76 Richter, Myriam-Isabell 48, 269f., 273, 275, 281, 393 Richter, Sandra 278 Ricoeur, Paul 52f., 63

Ridle, Hugh 412, 425 Říha (Dr., Familienfreund von Vlasta Vostřebalová) 110 Říha, Václav (Pseud.) s. Tille, Václav Rilke, Rainer Maria 47, 59, 159, 179, 181, 187, 189, 219f., 358, 435 Ritter, William 165 Roediger, Max 68, 79, 194, 270 Roethe, Gustav 65, 67, 69f., 72-75, 78f., 81, 90-92, 95, 194, 221, 236, 245, 265, 268270, 338 Rohde, Erwin 419, 442 Rohling, August 33 Rolin, Gustav 148 Rolland, Romain 152, 156f., 164, 518 Romains, Jules 155 Rosenberg, Alfred 421 Roß, Dieter 281 Rösler, Wolfgang 231, 245 Rötteken, Hubert 393, 405 Rouleau, Raymond 165 Rousseau, Jean-Jacques 79, 148, 356, 392 Roussel, Martin 353, 365 Rudolf von Ems 78 Runolt, Hartwig 494f., 500 Ruprecht, Dorothea 74, 95 Rutte, Mirko (Miroslav) 320, 323, 455, 463, 507, 511 Šafránek, Miloš 165f. Sak, Robert 450, 463 Šalda, František Xaver 22f., 56, 60, 138, 164, 167, 183f., 190, 284, 394, 409, 421, 424, 431, 437f., 463, 477, 503, 516-518, 520-522

Salus, Hugo 47, 59, 69, 179, 181, 189 Saudek, Robert 31 Saudek, Erik Adolf 376, 387 Sauer, August 48, 67, 71f., 86, 149, 179, 193-197, 209, 218-221, 223228, 236, 242, 244f., 261-265, 269, 277-282, 389f., 392, 394, 402f., 405 Sauer, Hedda 220, 245 Saxl, Fritz 302f., 311 Schahadat, Schamma 238 Schamschula, Walter 354, 366, 389, 405 Schapire (-Neurath), Anna 83f. Schapire, Rosa 83f., 87, 95 Schaukal, Richard 435 Scheffel, Michael 350 Scheffler, Johannes (Angelus Silesius) 316 Scheinpflugová, Olga 506 Schelle, Karel 524 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 213 Scherer, Wilhelm 92, 197, 214, 216, 218, 221f., 235, 239, 262f., 265f., 280f., 370f., 385f., 391f. Scherl, Adolf 32, 36, 63, 460, 492 Schiffermüller, Isolde 425 Schiller, Friedrich 38, 69, 91, 166, 224, 226f., 242, 371, 374f., 386, 402, 405, 419, 446, 503, 505 Schitzler, Arthur 240, 242, 257, 260, 275, 395f., 414, 427-429, 431, 434, 443, 457f., 461f. Schlaf, Johannes 434

538 Schlaffer, Heinz 231, 245 Schlechta, Karl 418, 425 Schlegel, August Wilhelm 212f., 218, 223f., 226228, 240, 242, 375, 402 Schlegel, Friedrich 221, 223f., 226-228, 240, 242, 289, 369, 375, 402, 412 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 213, 303, 307, 309, 311, 338, 340, 269-271, 385f. Schlücksbier, Ladislav 69f., 77-79, 82, 85, 89 Schmid, Herta 285f.,293, 298f. Schmidt, Carsten 50, 63 Schmidt, Erich 49, 67f., 73, 78-82, 86, 90-93, 194, 235, 244f., 265f., 268, 270, 352, 371 Schmidt, Heinrich F. 52, 63 Schmoller, Gustav von 245 Schmoranz, Gustav 322 Schneider, Ferdinand Josef 71, 77, 81, 95, 219 Schneidler (Berliner Vermieterin von Otokar Fischer) 80 Schnitzler, Arthur 240, 242, 257, 260, 275, 395f., 414, 427-429, 431, 434, 443, 457, 459, 461f. Schoeller, Bernd 364, 461f. Schoell-Glass, Charlotte 302, 311 Scholl, Christian 278 Schönau, Walter 405 Schönert, Jörg 243 Schreiber, Heinrich 162

Register Schrey, Gisela 392, 394396, 405 Schröder, Edward 74, 95 Schultes, Frank 504 Schultz, Franz 235, 245 Schulze, Sabine 84, 95 Schütz, Erhard 95, 281 Schwarz, A. (Theaterregisseur) 482 Schwarz, Vincy 55 Schwarzwald, Eugenie 85, 95 Seeba, Hinrich 392, 405, 500 Sembdner, Helmut 352, 356, 365 Semon, Richard 303f., 308, 334 Sepp, Ludwig 473 Servít, František 45f. Shakespeare, William 72, 101, 155, 233, 442, 444, 504 Shumsky, Dmitry 128, 144 Sibum, H. Otto 242 Siebenschein, Hugo 9, 27f., 60, 437 Sievers, Eduard 272, 296 Šíl, Josef 40 Šilhan, Antonín 437, 463 Šimek, Otokar 165, 322f., 331 Simmel, Georg 65, 68, 74, 91, 95, 235, 310 Simonek, Stefan 429, 463 Singer, Ludvík (Ludwig) 31 Skaláková, Jitka (verh. Fučíková) 187 Škeřík, Rudolf 143, 177, 316 Sládek, Josef Václav 431 Sladká, Matylda (Mathilde) 188, 363 Slavík, Vladimír 165 Slavíková, Anna 437

Šnajdrová (Bekannte vom jungen Otokar Fischer) 87f. Solibakke, Karl 311 Sorel, Georges 416 Šormová, Eva 490 Soumagne, Henry 166f. Sophokles 75, 429, 441, 446 Sova, Antonín 313, 321, 331f. Špála, Václav 47 Spencer, Herbert 46 Spengler, Oswald 421 Sperber, Hans 396, 405 Spielhagen, Friedrich 414 Spier, Isaak 467, 492 Spina, Franz 220, 243, 464 Spire, André 121, 123f., 126, 128-132, 134-136, 142, 145, 156-158, 163, 166, 169-172, 176f. Spire, Marie-Brunette 122 Špíšek, Ferdinand 165 Spitzbart, Wolfgang 342 Spitzer, Leo 396, 405 Spoerhase, Carlos 214, 243 Šrámková, Barbora 362 Stackmann, Karl 74, 95 Staël (Madame de Staël, eigentlich Anne-Louise-Germaine Baronin von Staël-Holstein) 149, 177, 212f. Stárek (Kolíner Lehrer von Otokar Fischer) 38, 39 Stašková, Alice 379, 387 Stefansky, Georg 197, 219, 224 Stehr, Nico 214, 245 Stein, August 43, 60 Steinecke, Hartmut 378, 386f. Steiner, Herbert 364

539

Register Steiner, Rudolf 303 Stekel, Wilhelm 396 Stendhal 411 Štěpán, Václav 152 Štěpánek, Jan Nepomuk 504 Stern, Martin 458, 463f. Stern, Otto 169f. Stern, William 338 Sternfeld, Wilhelm 517f., 521f. Sternheim, Carl 487 Stiegler, Bernd 426 Stierle, Karlheinz 305, 311 Stöcker, Helene 84 Stoljarski, Pjotr Solomonowitsch 68 Štorch-Marien, Otakar 102 Storm, Theodor 275, 307, 311, 335, 390 Storz, Gerhard 379 Strathmann, Carl 88 Strauss, Richard 437, 447 Strauß, Ludwig 485, 492 Strich, Fritz 374f., 392 Strindberg, August 83 Stromšík, Jiří 10 Stumpf, Carl 72 Štursa, Jan 97 Sudermann, Hermann 76 Sula, Pavel (eigentlich Sulík, Josef) 9, 60 Sütterlin, Ludwig 272 Švanda, Karel 429, 434, 477f., 487, 491 Švandová, Ema 477, 488 Svatoňová, Ilja 46, 63 Světlá, Karolina 409 Svoboda, Jan Nepomuk 31 Svoboda, Milan 46f., 57, 279, 454 Svobodová, Marie 47, 63 Swoboda, Gudrun 310 Synge, John Millington 487

Szabó, László V. 419, 425 Szabó, Miloslav 129, 134, 144 Tahal, Vratislav 111 Taine, Hyppolite 250, 337f. Tanzmann, Christian 399, 401, 405 Tapié, Victor-Lucien 164 Tauchen, Jaromír 524 Taureck, Bernhard H. F. 420, 425 Taussig, Ervín 27f., 467, 474f., 492 Teller, Frida 355, 365 Teweles, Heinrich 69, 473 Teytz, Viktor 124-126 Theer, Otakar 35, 50, 167, 313f., 318, 321f., 325, 328, 331f., 450 Thieberger, Friedrich 219 Thirouin, Marie-Odile 99, 118, 121-123, 129-131, 133, 135f., 144f., 150, 155, 157f., 166, 169f., 171f., 177, 243, 365, 387, 419, 425, 502, 511 Thumser, Karl 473 Tibal, André 164 Tichý, Vítězslav 191, 201, 204, 209 Tieck, Ludwig von 196, 274 Tieze, Agnes 104, 113, 118 Tille, Václav 50, 60f., 104, 110, 148f., 165, 167, 197, 322, 400, 452f., 455, 464 Tilschová, Anna M. 55 Timmermans, Felix 101, 166, 177 Tjarks-Sobhani, Marita 281 Tobler, Adolf 69, 72

Tohn, Zdeněk 26, 63 Toman, Karel 432-434, 464 Toman, Jindřich 284, 299 Topor, Michal 12, 25, 30, 36, 63, 65, 95, 121, 127f., 135, 140, 147f., 194, 209, 211, 261f., 265, 268, 282, 284, 304, 347, 351, 384, 393, 408, 429, 438f., 464f. Torgler, Ernst 498, 516 Träger, Josef 504 Trakl, Georg 187 Trautmann, Reinhold 52, 63 Třebovský, Alexander 478, 482 Trnka, Bohumil 202, 402, 491 Troeltsch, Ernst 234, 245, 310 Tschernichowski, Saul 121 Tschernyschewski, Nikolai Gawrilowitsch 121 Tschinkel, Hans (Johann) 390 Tschižewskij, Dmitrij s. Čyževs’kyj, Dmytro Tuckerová, Veronika 144 Türk, Werner 522 Turnau, Friedrich 36 Turnau, Helene (Helena) 36, 66, 75, 85 Turnau, Josef 36 Turnau, Richard 36, 91f. Turnau, Wilhelm 36 Tvrdík, Milan 261, 282, 361, 365, 405 Tyl, Josef Kajetán 474, 503 Tynjanov, Juri Nikolaewitsch 282

540 Unger, Rudolf 197, 392, 405 Urban, Bernd 395, 404f. Urban, Peter 350 Urzidil, Johannes 205, 210, 420 Utlerová, Jitka 158, 165, 177 Vachek, Josef 284, 299 Valéry, Paul 159, 242, 244f. Vančura, Vladislav 20, 504 Vandenhoven, Hubert 161 Vaněk, Jan 34 Vaňková, Kristina 31, 64 Vavroušek, Martin 309 Vavruška, Pavel 31 Veletovský, Václav 32 Vercoullie, Jozef-Jan 161, 174 Verhaeren, Émile 162, 166, 174, 177, 319 Verlaine, Paul 433, 449 Vermeil, Edmond 158 Vermeire, Pierre 161 Vermeylen, August 166, 174f., 177 Verne, Jules 148, 175 Veselý, Antonín 196, 248, 260 Veselý, Jindřich 168, 177 Vetter, August 416, 424 Veyne, Paul 247, 260 Vildrac, Charles 153-157, 170-172 Vildrac-Duhamel, Rose 154f., 157, 171 Villon, François 16, 101, 167f., 175, 177, 316f., 380, 386 Vinçon, Hartmut 467, 492 Vischer, Friedrich Theodor von 393, 397 Vlček, Jaroslav 16, 197, 199, 391, 400

Register Vodák, Jindřich 488, 507, 511 Vodrážková (geb. Pokorná), Lenka 47, 193, 204, 205, 206, 209, 347, 389, 391, 405 Vogl, Jaroslav 442 Voisine, Jacques 149, 177, 364 Voisine-Jechova, Hana 176, 364 Vojtěch, Daniel 121, 437, 451, 464 Vondráček, Vladimír 113f., 118 Vonka, Rudolf Jordán (Rodolphe) 165 Voris, Renate 399, 405 Voskovec, Jiří 168, 316, 504 Voßkamp, Wilhelm 401 Vostřebalová, Vlasta 5, 97-120, 157 Vostřebalová Fischerová, Vlasta s. Vostřebalová, Vlasta Vostřebalová, Věra 104, 111 Vrchlický, Jaroslav (eigentlich Frída, Emil) 55, 148, 167, 313, 409, 431 Vycpálek, Ladislav 47, 63 Vydra, Václav d. Ä. 521 Vyskočil, Břetislav 47, 69 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 274 Wagner, Adolph 72 Wagner, Richard 67, 408, 421 Waldmann, Friederike 419, 423 Walther von der Vogelweide 79

Walzel, Oskar 222, 226, 240, 243, 374, 392, 395, 403, 405 Warburg, Aby 243, 302304, 309-311 Warning, Rainer 311 Warschauer, Frank 522 Wassermann, Jakob 19 Watteau, Jean-Antione 434 Weber, Max 214, 245 Weber, Regina 147 Wedekind, Frank 12, 75, 101, 437, 465-492, 504 Wedekind, Tilly 473 Wehrli, Max 394, 403, 405 Weil, Jiří 56, 64 Weinberg, Manfred 303f., 306f., 311, 413 Weiner, Gustav 43 Weiner, Richard 27f., 43, 133f., 165, 168, 171, 260, 323f., 331, 334350 Weinhold, Karl 73 Weissenfels, Richard 86 Weissmann, Dirk 471, 492 Wellek, Albert 158, 274, 280, 282, 384 Wellek, René 17, 56, 135, 144, 158, 165, 174, 224, 246, 260, 284, 326, 331, 354, 365, 387 Weltsch, Felix 50, 63, 396, 473, 492 Welzer, Harald 311 Werfel, Franz 140, 179, 182, 240, 483-486, 491f. Werich, Jan 168, 316, 504 Werle, Dirk 214, 243 Werner, Richard Maria 337 Werner, Sylwia 426 Werner, Zacharias 240 Wernher der Gartenaere 79

541

Register Wetz, Wilhelm 392-394, 405 Widera, Steffi 344, 350 Wiedermannová, Zdenka 83, 85, 95 Wieland, Christoph Martin 208, 244, 355 Wienbarg, Ludolf 412, 425 Wihan, Josef 219, 225, 245 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 73, 91 Wilde, Oskar 75, 438, 459 Wilkening, Rüdiger 224, 246 Wille, Bruno 310, 434 Wilmotte, Maurice 151 Winckelmann, Johann Joachim 441 Windelband, Wilhelm 308 Winder, Ludwig 30, 55, 504 Winder, Maximilian 30 Winkler-Buber, Paula 77 Winter, Zikmund 46 Wischnitzer, Max 85 Witte, Bernd 311 Wögerbauer, Michael 63, 144 Wolf, Friedrich August 231, 240, 369 Wolf, Ken 128, 145 Wolff, Kurt Heinrich 214 Wolfenstein, Alfred 170, 177 Wolff, Eugen 392, 394, 406, 477 Wölfflin, Heinrich 374 Wolfová, Brigitta 400, 404, 407, 425 Wolfskehl, Karl 378 Wolker, Jiří 186 Wollman, Frank 285 Wolters, Friedrich 419 Worbs, Michael 443, 464

Wukadinović, Spiridion 50 Wunberg, Gotthart 429, 439f., 443, 446 Wundt, Wilhelm 333, 393 Würgau, Rainer 399f., 406 Wutsdorff, Irina 290f., 298, 299, 359, 365, 368 Wuttke, Dieter 311 Záhoř, Zdeněk 180 Zavřel, František 465-492 Zbytovský, Štěpán 261, 351, 359, 365 Zelenka, František 504 Zelenka, Miloš 384, 387, 504 Zeller, Bernhard 405 Zetkin, Clara 84 Zeyer, Julius 409 Zhor, Jiří 40, 64 Zich, Otokar 251, 286, 290f., Zickel, Martin 465 Zimmermann, Hans Dieter 363 Zischka, Rudolf 518 Zittel, Claus 159, 415, 423, 426, 496 Žmegač, Victor 365 Zschokke, Heinrich 414 Zubatý, Josef 78 Zumr, Josef 291, 300 Zur, Margarete 163 Zweig, Arnold 522 Zweig, Stefan 19, 187

Adressen Reihenherausgeber Prof. Dr. Steffen Höhne Hochschule für Musik „Franz Liszt“ Weimar Friedrich Schiller-Universität Jena Institut für Musikwissenschaft Platz der Demokratie 2/3 D-99423 Weimar [email protected] PhDr. Václav Petrbok, Ph.D. Ústav pro českou literaturu Akademie věd České republiky Na Florenci 3 CZ-110 00 Praha 1 [email protected] Prof. Dr. Alice Stašková Institut für Germanistische Literaturwissenschaft Friedrich-Schiller-Universität Jena Fürstengraben 18 D-07443 Jena [email protected]

Adressen der Autorinnen und Autoren Doc. PhDr. Jiří Brabec, CSc. Masarykův ústav a Archiv Akademie věd České republiky Gabčíkova 2362/10 CZ-18200 Praha 8 [email protected]

Mgr. Kateřina Čapková, Ph.D.

Ústav pro soudobé dějiny Akademie věd České republiky Vlašská 355/9 CZ-11800 Praha 1 [email protected]

PD Dr. phil. Filip Charvát

Ústav germánských studií Filozofická fakulta Univerzity Karlovy Nám. Jana Palacha 2 CZ-11638 Praha 1 [email protected]

Mgr. Zuzana Duchková, Ph.D. Katedra výtvarné výchovy Pedagogická fakulta Jihočeská univerzita Jeronýmova 10 CZ-371 15 České Budějovice [email protected] Mgr. et B.A. Michala Frank Barnová

art historian working in Iceland [email protected]

Prof. Dr. Dieter Heimböckel

Université du Luxembourg, Maison des Sciences Humaines Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität 11, Porte des Sciences L-4366 Esch-sur-Alzette [email protected]

Mgr. Petra Ježková, Ph.D.

Kabinet pro studium českého divadla Institut umění – Divadelní ústav Celetná 17 CZ-110 00 Praha 1 [email protected]

PD Dr. phil. Ralf Klausnitzer Institut für deutsche Literatur Sprach- und literaturwissenschaftliche Fa kultät Humboldt-Universität zu Berlin Unter den Linden 6 D-10099 Berlin [email protected] Priv.-Doz. Dr. Martin Maurach DAAD-Lektor Slezská univerzita v Opavě Ústav cizích jazyků Masarykova třída 37 CZ-74601 Opava [email protected] Mgr. Lucie Merhautová, Ph.D. Masarykův ústav a Archiv Akademie věd České republiky Gabčíkova 2362/10 CZ-18200 Praha 8 [email protected] Prof. Dr. Hans-Harald Müller Universität Hamburg Fakultät für Geisteswissenschaften Fachbereich Sprache, Literatur, Medien I Institut für Germanistik Überseering 35, Postfach #15 D-22297 Hamburg [email protected] Daniel Řehák Ústav pro českou literaturu Akademie věd České republiky Na Florenci 3 CZ-11000 Praha 1 [email protected] Dr. Myriam Isabell Richter Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung Edmund-Siemers-Allee 1 D-20144 Hamburg [email protected]

Dr. Barbora Šrámková

Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren Ječná 11 CZ-12000 Praha 2 [email protected]

Prof. PhDr. Jiří Stromšík, CSc.

Ústav germánských studií Filozofická fakulta Univerzity Karlovy Nám. Jana Palacha 2 CZ-11638 Praha 1

Dr. Marie-Odile Thirouin

Université Lumière Lyon 2 Faculté des Lettres 18 quai Claude Bernard F-69007 Lyon [email protected]

Mgr. Michal Topor, Ph.D.

Institut pro studium literatury, o. p. s. Jankovcova 938/18a CZ 170 00 Praha 7 [email protected]

PhDr. Lenka Vodrážková, Ph.D. Ústav germánských studií Filozofická fakulta Univerzity Karlovy Nám. Jana Palacha 2 CZ-11638 Praha 1 [email protected] Doc. PhDr. Daniel Vojtěch, Ph.D.

Ústav české literatury a komparatistiky Filozofická fakulta Univerzity Karlovy Nám. Jana Palacha 2 CZ-11638 Praha 1 [email protected]

Prof. Dr. Manfred Weinberg

Ústav germánských studií Filozofická fakulta Univerzity Karlovy Nám. Jana Palacha 2 CZ-11638 Praha 1 [email protected]

Prof. Dr. Irina Wutsdorff Slavisches Seminar Universität Tübingen Wilhelmstr. 50 D-72074 Tübingen [email protected] Mgr. Štěpán Zbytovský, Ph.D. Ústav germánských studií Filozofická fakulta Univerzity Karlovy Nám. Jana Palacha 2 CZ-11638 Praha 1 [email protected] Prof. Dr. Claus Zittel Stuttgart Research Centre for Text Studies Universität Stuttgart Azenbergstr. 12 D-70174 Stuttgart [email protected] Università Ca‘ Foscari Venezia Dipartimento di studi linguistici e culturali comparati Germanistica Palazzo Cosulich - Zattere, Dorsoduro 1405 I - 30123 Venezia