Constantin Brunner im Kontext: Ein Intellektueller zwischen Kaiserreich und Exil 9783110366686, 9783110373820

Co-Publication with Magnes Press The work of the unconventional German Jewish philosopher and social critic Constantin

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German Pages 416 Year 2014

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Constantin Brunner im Kontext: Ein Intellektueller zwischen Kaiserreich und Exil
 9783110366686, 9783110373820

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Überlieferung und Rezeption
Die Constantin Brunner-Sammlung. Der Bestand und seine Geschichte
Die Brunner-Sammlung und ihre Bedeutung für die deutsch-jüdische Kulturgeschichte
Brunner in der Diskussion
II. Kulturkritik
„Da sollte einmal erbarmungslos aufgeräumt werden“. Die literarische Moderne im Visier des Zuschauers
Philosophia perennis. Constantin Brunners Lehre von den Geistigen und vom Volke
Constantin Brunners Lehre von den Geistigen und vom Volk als Philosophie der Geschichte
How Jewish was Constantin Brunner’s Spinozism?
III. Philosophie
Brunners „Fakultätenlehre“ im Kontext der Philosophiegeschichte
Zu Constantin Brunners Atomkritik
Brunners Auffassung von Kunst und Religion
Genialität, Mystik, Judentum. Drei zeitgenössische Diskursebenen in Constantin Brunners Unser Christus
IV. Antisemitismus und Antizionismus
Der leidende Patriot. Constantin Brunner und der Erste Weltkrieg
Eine Erörterung der „Antisemitenfrage“ bei Constantin Brunner
Brunners Antizionismus im historischen Kontext
„Das Gebot der Anpassung“. Constantin Brunners Ausweg aus dem Judentum
Judenhass, Zionistenhass, Deutschenhass
V. Persönlichkeit und Kreis
Zur Persönlichkeit Constantin Brunners
The Anxiety of Influence. Constantin Brunner’s and Martin Buber’s Mismeeting
Die Begegnung Lou Andreas-Salomés mit Constantin Brunner
Rose Ausländer als Mitglied des Brunner-Kreises
The Master and His Messenger. Lothar Bickel and the Brunnerian Cult
Anhang
Schriften von Constantin Brunner
Autoren und Autorinnen
Personenregister

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Constantin Brunner im Kontext

Constantin Brunner im Kontext Ein Intellektueller zwischen Kaiserreich und Exil

Herausgegeben von Irene Aue-Ben-David, Gerhard Lauer und Jürgen Stenzel

MAGNES

ISBN 978-3-11-037382-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-036668-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039559-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston & Hebrew University Magnes Press, Jerusalem Umschlagbild: Constantin Brunner, Scheveningen 1936? (Leo Baeck Institut / Archiv im Jüdischen Museum Berlin) Satz: Dr. Rainer Ostermann, München Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com www.magnespress.co.il

Inhalt Inhalt Gerhard Lauer Einleitung   1 I. Überlieferung und Rezeption Aubrey Pomerance Die Constantin Brunner-Sammlung. Der Bestand und seine Geschichte 

 15

Frank Mecklenburg Die Brunner-Sammlung und ihre Bedeutung für die deutsch-jüdische Kulturgeschichte   25 Jürgen Stenzel Brunner in der Diskussion 

 32

II. Kulturkritik Peter Sprengel „Da sollte einmal erbarmungslos aufgeräumt werden“. Die literarische Moderne im Visier des Zuschauers   55 Bernd Auerochs Philosophia perennis. Constantin Brunners Lehre von den Geistigen und vom Volke  Martin Rodan Constantin Brunners Lehre von den Geistigen und vom Volk als Philosophie der Geschichte   81 David J. Wertheim How Jewish was Constantin Brunner’s Spinozism? 

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 70

VI 

 Inhalt

III. Philosophie Jürgen Stenzel Brunners „Fakultätenlehre“ im Kontext der Philosophiegeschichte  Tobias Fox Zu Constantin Brunners Atomkritik 

 109

 145

Hans Goetz Brunners Auffassung von Kunst und Religion 

 161

Hans-Rüdiger Schwab Genialität, Mystik, Judentum. Drei zeitgenössische Diskursebenen in Constantin Brunners Unser Christus   170 IV. Antisemitismus und Antizionismus Irene Aue-Ben-David Der leidende Patriot. Constantin Brunner und der Erste Weltkrieg 

 207

Elisabeth Conradi Eine Erörterung der „Antisemitenfrage“ bei Constantin Brunner  Jacques Aron Brunners Antizionismus im historischen Kontext 

 254

Andreas Kilcher „Das Gebot der Anpassung“. Constantin Brunners Ausweg aus dem Judentum 

 269

Moshe Zimmermann Judenhass, Zionistenhass, Deutschenhass 

 291

 230



Inhalt 

V. Persönlichkeit und Kreis Renate Stolte-Batta Zur Persönlichkeit Constantin Brunners 

 305

Paul Mendes-Flohr The Anxiety of Influence. Constantin Brunner’s and Martin Buber’s Mismeeting 

 321

Claudia Weinzierl Die Begegnung Lou Andreas-Salomés mit Constantin Brunner  Helmut Braun Rose Ausländer als Mitglied des Brunner-Kreises  Bernard Wasserstein The Master and His Messenger. Lothar Bickel and the Brunnerian Cult 

Anhang Schriften von Constantin Brunner  Autoren- und Autorinnen   397 Personenregister   401

 385

 365

 353

 334

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Gerhard Lauer

Einleitung Leo Wertheimer oder Constantin Brunner, wie seit 1893 sein bürgerlicher Name lautete, hat ein halbes Jahrhundert lang die intellektuellen Debatten in Deutschland mit geprägt. Ob es um drängende politische Fragen wie den Antisemitismus oder den Zionismus ging, um die Zukunft von Volk und Nation, oder um philosophische Fragen des gelingenden Lebens, der Möglichkeit der Erkenntnis und der Wirklichkeit des Geistigen hinter aller Erscheinung, – Brunners Bücher zählten seit 1908 zu den intellektuellen Wegmarken ihrer Zeit. Seine Briefe wechselte er mit Walther Rathenau wie mit Gustav Landauer oder Lou Andreas-Salomé. Und seine Leser und Schüler hat er bis heute in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, in Israel, Kanada und den Vereinigten Staaten. Constantin Brunner gehörte zu den zitierten, den verehrten und den angegriffenen Namen in den intellektuellen Registern zwischen Kaiserreich und Exil. Geboren wurde Constantin Brunner 1862 als Arjeh Yehuda Wertheimer – gerufen Leo Wertheimer – in einer der angesehensten jüdisch-orthodoxen Familien Altonas. Er war der Enkel des Talmudgelehrten Akiba Israel Wertheimer, dem ersten Oberlandesrabbiner von Altona und Schleswig-Holstein, und wurde entsprechend in der neuorthodoxen Tradition, wie sie sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte, erzogen. Wie seine Väter und Vorväter sollte Arjeh Rabbiner werden und brach doch schon bald mit der Tradition des Herkommens. Nur ein knappes Jahr nachdem er das jüdische Lehrerseminar in Köln besucht hatte, verließ er es im Jahr 1881, widmete sich zunächst religionsphilosophischen Privatstudien, bevor er 1884 erst in Berlin und dann in Freiburg ein akademisches Studium der Philosophie und Geschichte aufnahm und bei so unterschiedlichen Lehrern wie dem Historiker und Indologen Paul Deussen, dem Neukantianer Alois Riehl oder dem Historiker Hermann Eduard von Holst Vorlesungen hörte. Einen akademischen Abschluss hat er nicht angestrebt und hätte darin auch keinen Sinn erkennen können. Auch darin ist seine Biographie exemplarisch für seine Zeit. Denn die hier aus den Traditionen des Herkommens austreten und sich die Freiheit eigener Lebensentwürfe so entschieden nehmen, sind die Bürgersöhne und manchmal auch ‑töchter, hervorragend ausgebildet und mit einer finanziellen Unabhängigkeit der Wenigen ausgestattet. Brunner ist einer von ihnen, denen die Welt offenstand. Für ihn war die Unabhängigkeit vor allem durch Frida Mond abgesichert, der Tochter seiner mütterlichen Freundin Johanna Löwenthal, die ihn spätestens seit 1895 unterstützt hat. Frida Mond war zusammen mit ihrem Mann, dem bedeutenden Chemiker und Industriellen Ludwig Mond, Mäzenatin der Künste und Künstler ihrer Zeit.

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 Gerhard Lauer

Genau das gehört zur Verschränkung von Verbürgerlichung und Ästhetisierung der Lebenswelt, dieser Aufbruch aus den Konventionen der Lebensläufe, den erst das bürgerliche Leben des 19. Jahrhunderts eröffnet hat und der ohne wirtschaftliche Prosperität kaum möglich gewesen wäre.1 Die ‚Überwindung des 19. Jahrhunderts‘ mit seinen gerade gefundenen bürgerlichen Lebens- und Bildungswegen war Programm der Jüngeren. Constantin Brunners Biographie ist ganz von dieser bis dahin nicht gekannten Freisetzung der Lebensläufe im Kaiserreich der 1880er Jahre geprägt, ihrer ungeahnten gesellschaftlichen, industriellen und kulturellen Dynamik, die ohne Vorbild war und den lebenshungrigen Köpfen vor 1900 Zugang zu fast allen Lebensbereichen eröffnet hat. Philosophie, Bildung und Kunst sind ihnen schon selbstverständliche Mittel der Lebensinterpretation, ja oft genug der Lebensstilisierung geworden. Sie gehören zum Haushalt der Selbstdeutungen notwendig hinzu. Brunners Lebenslauf wie sein Werk zeugen von dieser ungeahnten Freiheit des bürgerlichen Lebens und deshalb immer auch von seiner Gefährdung. Die Verteidigung der bürgerlichen Freiheiten gegen alle Anfeindungen, zumal der Antisemiten, der philosophische Universalismus, dem das Leben kein weit genug zu dehnender Begriff ist, und die Liebe zur Kunst sind für diesen Constantin Brunner nicht zufällig zu seinen Lebensthemen geworden. In ihnen spiegeln sich sein Herkommen und noch mehr der Aufbruch seiner Generation. In der Kunst findet dieser Aufbruch seinen beredten Ausdruck. Auch Constantin Brunner engagierte sich nach Abschluss seiner Studien zunächst in der Kunst und den Sezessionen der Literatur vor 1900. Zusammen mit gleichaltrigen Freunden gründete er in Hamburg 1891 das ‚Litterarische Vermittlungsbureau‘, 1892 die grotesk-komische Vereinigung ‚Atta Troll‘, zu der auch seine langjährigen Freunde Leo Berg und Otto Ernst gehört haben, aber auch Detlev von Liliencron und Gustav Falke. 1893 folgt die Herausgabe – nun unter dem Nom de plume ‚Constantin Brunner‘ – der Hamburger Literaturzeitschrift Der Zuschauer.2 Es sind die beweglichen Formate, eine Literaturagentur, literarische Freundschaftszirkel und Zeitschriften, die Brunner wie viele andere in dieser Zeit nutzen, um sich im Feld des rasch wachsenden literarischen Lebens zu etablieren. Literarische Fehden sind willkommen, Kritik und Antikritik die Mittel, um dem freien Leben die Bahn zu brechen. Der Anspruch zielt hier höher als nur auf den Brotberuf:

1 Vgl. zum historischen Kontext Thomas Nipperdey: Wie das Bürgertum die Moderne fand. Ditzingen 1998. 2 Der Zuschauer. Monatsschrift für Kunst, Litteratur, Kritik und Antikritik [1893] bzw. Halbmonatsschrift für Kunst, Litteratur und öffentliches Leben [1894]. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Peter Sprengel in diesem Band.



Einleitung 

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Mindestens „eine Zeile in das Buch der Weltlitteratur“3 zu schreiben, so charakterisiert Brunner sein selbstgestecktes Ziel. Man schrieb Sonette und Rezensionen und gleich noch eine größere Abhandlung Die Technik des künstlerischen Schaffens (1893), um der Kunst angesichts des sich formierenden Naturalismus den Weg zu höheren Aufgaben aufzuzeigen. Gegenüber den neuen Kunstbewegungen nimmt sich das alles gleichwohl fast schon bieder aus. Künstlerische Fehden stellten sich im Zuschauer nicht so recht ein, noch fand die Technik-Schrift die Aufmerksamkeit der Autoren vor 1900. Auch der antibürgerliche Gestus der Überwindung von Kultur und Bildung, den auch Brunner damals gepflegt hat, war eher Attitüde seiner Generation denn ein Aufbruchssignal. Gerade weil die Bücherregale bei so vielen gut bestückt waren, pflegte man die Unterschiede des Andersseins, erklärte mit schöner Regelmäßigkeit irgendeine neue Sezession und kultivierte ein Selbstbild als Einsiedler, der sich bildungsfern eine Welt ohne Bücher erträumt. Alles dies finden wir bei Brunner. Aber Bildungskritik ist um 1890 schon längst ein Topos, dem ganze Generationen zuvor schon das Wort geredet haben.4 Kultur- und Gesellschaftskritik vor 1900 nutzen daher die Kritik am Bildungsbegriff, um ihre Gegenwartsdiagnosen zu möblieren. Und wenn auch noch Nietzsche parodiert wird, wie es Brunner mit dem Abdruck von Curt Grottewitz’ Also sprach Clara Thustra durchgesetzt hatte, war das die ubiquitäre Kritik einer antimodernen Moderne, die oft nicht weit von der Ahnungslosigkeit entfernt war. Später hat sich Brunner selbstkritisch über seinen Dilettantismus dieser Anfangsjahre gewundert. Mit all dem gewann er auch nicht die Unabhängigkeit und Aufmerksamkeit, die er gesucht hatte. Seine Zeitschrift wurde schon 1895 wieder aufgelöst, ein Käufer fand sich nicht dafür. Nicht anders erging es dem ‚Litterarischen Vermittlungsbureau‘. Und auch die Vereinigung wurde nicht zu Brunners Heimat. Dass Constantin Brunner den Ausflug ins literarische Leben seiner Zeit abbrechen konnte, hat mit einem anderen seiner Lebensthemen zu tun, dem Kampf gegen den Antisemitismus. Er verfasste nun zunächst die religiös-politische Streitschrift Rede der Juden. Wir wollen ihn zurück!, die wegen verschiedener Umstände erst nach dem Krieg 1918 als Schlusskapitel von Der Judenhaß und die Juden erschien. Mit ihr wendet sich Brunner in aller Schärfe gegen den seit dem Berliner Antisemitismusstreit 1879–1881 sich politisch formierenden Antisemitismus und vertritt die Auffassung, dass die Gleichheit der Menschen eine ‚urjü-

3 Zitiert nach Peter Sprengel. 4 Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a.M. 1994.

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dische‘ Idee sei. Möglich, dass Brunner Treitschke selbst in Berlin als Student gehört hat. Das Thema jedenfalls sollte ihn ein Leben lang nicht loslassen. Brunners Schrift wurde im selben Jahr 1893 verfasst, in dem auch der ‚Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens‘ gegründet wurde, kaum ein Zufall, denn die Verteidigung der staatsbürgerlichen Rechte aller, gleich welchen Glaubens, gegen die ‚Krankheit‘ des Antisemitismus teilte Brunner mit vielen deutschen Juden. Aber für ihn war der Judenhass, wie er den Antisemitismus zutreffend bezeichnet hat, nur eine Spielart des Menschenhasses.5 Mit ihm, so Brunner, werde die Errungenschaft des modernen, auf der prinzipiellen Gleichheit aller Bürger beruhenden Staates aufgekündigt. Nicht die Religion, das Herkommen oder die Abstammung machen den Staat, sondern die rechtliche Gleichheit aller seiner Bürger. Damit steht Brunner in der Tradition des liberalen Nationalismus, der bei Hegel und dem bürgerlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts seine politische Prägung erfahren hat. Nur hatte sich der Nationalismus im Laufe des 19. Jahrhunderts verändert. War der Nationalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem ein Kampf um die bürgerlichen Freiheiten gegen die Restauration der Adelsherrschaft, entwickelte er sich im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr zu einer Weltvorstellung, wenn nicht Weltanschauung, die das Eigene vom Fremden kategorisch zu unterscheiden versucht hat. Brunner kommt erkennbar aus der älteren, der liberalen Tradition, gerade dort wo er entschieden gegen den Antisemitismus und nicht weniger entschieden gegen den Zionismus ankämpft. Denn auch der Zionismus macht ein Merkmal, die jüdische Abstammung, zum Prinzip eines Staates. Die Rückkehr nach Zion erschien Brunner daher als Rückkehr ins Ghetto. Rassen gibt es für ihn nicht, noch kann die Religion ein Kriterium für den Bürger sein. Unter den Bedingungen des modernen Nationalismus aber gerät Brunner damit in einen Rechtfertigungszwang gleich nach mehreren Seiten. Denn indem er den Hass gegen Juden nicht grundsätzlich vom Hass gegen Deutsche oder gegen eine jede andere Nation unterscheidet und in allem den Hass gegen die Menschen sieht, folgt er zwar der liberalen Tradition, unterschätzt aber die Dynamik des modernen Nationalismus wie Antisemitismus. Es gehört zu Brunners Besonderheiten, dass er den Hass gegen Juden wie den gegen Deutsche und gegen Menschen zu seinem Thema gemacht hat, das aber in einer Zeit, in der beides sehr Unterschiedliches bedeutet hat. Missverständnisse und Anfeindungen konnten nicht ausbleiben, wenn für Brunner die Anfeindungen gegen Deutschland nicht prinzipiell etwas anderes sind als der Hass auf die Juden. „[D]ie Deutschen jüdischer Abstammung sind von heute an doppelt Juden

5 Vgl. dazu die Beiträge von Moshe Zimmermann und Elisabeth Conradi in diesem Band.



Einleitung 

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geworden – auch als Deutsche.“6 Das mag heute, nach der Erfahrung der Naziherrschaft und der ‚Endlösung‘ widersprüchlich erscheinen, die Juden wie die Deutschen zu verteidigen, und doch geht es Brunner ein Leben lang um die Verteidigung dieser von gleich mehreren Seiten angefochtenen Identität als Jude und Deutscher, die zugleich seine eigene ist. Brunner geriet mit dieser Haltung freilich zwischen die Stühle, galt den einen als scharfer Kritiker des Antisemitismus, den anderen als Antizionist, den dritten als Deutschnationaler.7 Aber eigentlich war er ein Liberaler und idealistisch-staatsrechtlich denkender Philosoph im Zeitalter der Extreme. 1895 begann Brunner sich also neu auszurichten. Nicht die Kunst, sondern die Philosophie und die politische Kritik rückten in den Mittelpunkt. Wie damals üblich, man denke an Rilke oder George, wurden solche biographischen Wenden mit emphatischen Erfahrungen verknüpft, meist solchen der Kunst oder der Religion. Bei Brunner soll es der Anblick der „Tauschschwestern“ gewesen sein, einer Figurengruppe im Ostgiebel des Parthenons im British Museum, die auch Maler wie Adolph Menzel damals angeregt haben. Sie hätten Brunner zur Besinnung auf sein philosophisches Werk inspiriert. Im selben Jahr 1895, im Sommer, heiratete Brunner Rosalie Auerbach, die ihre beiden Töchter Lotte und Gertrud in die Ehe einbrachte. Mit ihnen zog Brunner nach Berlin und lebte hier zurückgezogen im Kreis seiner Familie. Die Arbeit am philosophischen Werk stand nun ganz im Mittelpunkt, nur selten wie etwa 1904 von einer Reise nach Norwegen unterbrochen. Aus finanziellen Gründen musste Brunner gelegentlich Privatunterricht in Literatur- und Kunstgeschichte erteilen. Dadurch gewann er erste Schülerinnen. Freundschaften entstanden, zum Beispiel mit dem Theoretiker des Anarchismus Gustav Landauer. Brunners Stieftochter Lotte hat die verschiedenen Begegnungen in ihrem Tagebuch verzeichnet, auch die selbstverliebten Äußerungen ihres Stiefvaters und scharfen Verdikte gegen andere Künstler und Schriftsteller, wie auch seine fürsorgliche Seite.8 In dieser kaiserzeitlichen Einsiedelei entstand in mehr als zehnjähriger Arbeit Brunners erstes theoretisches Hauptwerk Die Lehre von den Geistigen und vom Volke, 1908 im Karl Schnabel Verlag, Berlin, erschienen.9 Der Lektor des Buches war Gustav Landauer. Mit dieser Schrift entwirft Brunner ein philosophi-

6 Constantin Brunner: Der Judenhaß und die Juden. Berlin 1919, S. 27. 7 Vgl. den Beitrag von Irene Aue-Ben-David in diesem Band. 8 Vgl. den Beitrag von Renate Stolte-Batta in diesem Band. 9 Zu Brunners philosophischem System vgl. die Beiträge von Jürgen Stenzel und Tobias Fox in diesem Band.

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sches System, das von einem grundsätzlichen Antagonismus ausgeht.10 Auf der einen Seite steht der absolute, durch nichts bedingte Geist, der Grund alles Seienden und zugleich die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis dieses Grundes. Diese vorausliegende Einheit umschließt und ermöglicht auch das denkende Erfassen dieser Absolutheit. Alle Philosophie ist daher nur Wiederholung. Das geistige Prinzip der Welt zu erkennen und aus ihm heraus zu handeln, bedeutet ganzheitlich zu leben. Geistiges Denken heißt dann, dass dieser absolute Geist durch uns und in uns denkt, eine Haltung, die aber nur wenigen gegeben ist. Brunner nennt diejenigen, die dazu in der Lage sind, die Geistigen oder auch Genies. Dem gegenüber leben die meisten Menschen im Glauben, dass das, was ihnen vor Augen steht oder was sie sich wünschen, schon die Wirklichkeit sei. Brunner nennt sie das Volk. Sie verabsolutieren ihre partikularen Erfahrungen und Wünsche und erheben sie zur höchsten Wirklichkeit. Für Brunner ist eine solche Verabsolutierung der Relativität ‚Aberglaube‘ und er zählt zu ihm ausdrücklich alle Religionen und Bekenntnisse, das Judentum ebenso wie das Christentum. Die so denken, erkennen nicht die Einheit des Geistigen hinter den Erscheinungen, ja bekämpfen die geistigen Menschen, indem sie etwa Staaten errichten, die Partikularismen zu ihren Grundprinzipien haben, statt die Gleichheit des Menschengeschlechts zu begreifen. Sie bilden Konfessionen, die sich anderen überlegen glauben, statt die dahinter liegende Wirklichkeit des Geistigen zu erkennen. Sie verfolgen andere mit ihrem Hass, statt die Einheit im Absoluten auszusprechen. Und sie machen sich Bilder, wo das mystische Einswerden doch das Ziel sein müsste. Brunners Kritik der Abergläubischen ist so eine philosophisch-grundsätzliche und wendet sich gleichzeitig gegen die materialistischnaturwissenschaftlichen Erklärungsansprüche der Zeit um 1900 wie gegen das Schwinden der Religion und des Glaubens. Gerade darin ist sie zeittypisch.11 Diese Kritik Brunners angemessen zu verstehen, heißt denn auch sie als eine Lehre zu begreifen. Und gerade dafür hat Brunner so unterschiedliche Verehrer wie Walther Rathenau oder Yehudi Menuhin gefunden. Schülerkreise begannen sich um diese Lehre vor allem nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zu bilden. Brunners Lehre ist Ausdruck einer spezifisch modernen Religiosität, wie man trotz Brunners Verneinung des Religionsbegriffs hier sagen muss, die nicht Dogmen, Institutionen noch Glaubensüberzeugungen kennt, sondern eine spiritualistische Lehre anspricht, die erkennbar in der Tradition Schellings und der neoromantischen Wiedergewinnung des Religiösen ohne Institutionen steht.12

10 Vgl. die Beiträge von Bernd Auerochs und Martin Rodan in diesem Band. 11 Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918. München 1988. 12 Zu Brunners Religionsbegriff vgl. den Beitrag von Hans Goetz in diesem Band.



Einleitung 

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Entsprechend hochzielend beschreibt Brunner den Anspruch seines Hauptwerks Die Lehre von den Geistigen und vom Volke: „Hier ist kein Buch wie andre Bücher, zu lesen oder nicht zu lesen; dieses Buch gehört wieder zu einer ganz andern Litteratur als unter uns gewöhnlich ist, zur wahrhaften Litteratur des Lebens“.13 Die Emphase des Lebens, sie soll gerade mit dem Buch erhoben werden. Daher ist der Ton oft hochgespannt, mehr als einmal überspannt und nicht selten eher monologisch. Selbst in Briefen findet sich das immer wieder. „O Musik im Verhältnis zum Gedanken“, schreibt Brunner etwa an den Komponisten Fritz Ringler 1920, „darüber und über Musik überhaupt – darüber müßten wir und müssen wir dereinst miteinander musizieren, reden und schweigen“.14 Unverkennbar neoromantisch umschreibt Brunners Werk, was kaum ausgesprochen werden kann, aber sich ausspricht. Brunners Überhöhung Jesu zum religiösen Genie Christus folgt dieser neureligiösen Umdeutung der Traditionen von Judentum und Christentum,15 die weder als Glauben noch als Tradition Bedeutung noch Bestand haben, sondern nur Symbole der mystischen Einheit aller Wirklichkeit sind. Für Brunner bilden Jesus, Meister Eckhart und Spinoza eine Kette jener geistigen Menschen, die erkannt und ausgesprochen haben, was seine Lehre vom Geistigen nur wiederholen kann. Brunners Lehre ist dabei keine weltlose Mystik, im Gegenteil. Gerade weil Brunner einer idealistischen Lehre sich verpflichtet weiß, versteht er konsequent den Rechtsstaat als Ausdruck der Einheit aller Menschen im Geistigen und den Antisemitismus als Angriff auf das geistige Prinzip. In dieser Verknüpfung von liberalem Denken und neumystischer Lehre kommt Brunner mit so unterschiedlichen Köpfen seiner Zeit zusammen wie Martin Buber und Lou Andreas-Salomé,16 mit Gustav Landauer in der Verehrung Meister Eckharts und mit Walther Rathenau in der konservativ-liberalen Verteidigung der bürgerlichen Moderne gegen ihre Feinde. Dabei weiß sich Brunner wie viele seiner Freunde und Verehrer als Außenseiter. Das ist das Los der Geistigen und darin gleicht ihr Schicksal dem der großen Vorbilder Jesus, Meister Eckhart und Spinoza.17 Ihnen nachzufolgen, dazu fordern Brunners Schriften auf. Es ist da nur konsequent, wenn Brunner sich der akademischen Philosophie ganz entzogen und auch keine öffentlichen Vorträge gehalten hat. Nur seine

13 Constantin Brunner: Die Lehre von den Geistigen und vom Volke. Berlin 1908, S. 42. 14 Constantin Brunner an Fritz Ringler. In: Constantin Brunner: Ausgewählte Briefe 1884–1937. Hg. von Jürgen Stenzel und Irene Aue-Ben-David. Göttingen 2012, S. 326 f. (Nr. 103). 15 Vgl. den Beitrag von Hans-Rüdiger Schwab in diesem Band. 16 Vgl. dazu die Beiträge von Paul Mendes-Flohr und Claudia Weinzierl in diesem Band. 17 Vgl. hierzu den Beitrag von David J. Wertheim in diesem Band.

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Stieftochter Lotte sollte einmal die Lehre ihres Vaters in der Kant-Gesellschaft verteidigen. Für Brunner dagegen waren weder die Öffentlichkeit noch die Academia seine Bühne, sehr wohl aber das streitbare Gespräch, die intensiven Briefwechsel und seine Bücher. Typisch für ihn ist etwa seine Streitschrift Spinoza gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit von 1909, die schon im Titel die Polemik gegen Kant und dessen Transzendentalphilosophie herausstellt. Kants Philosophie verfällt dem Verdikt, statt die Einheit des Geistigen nur mehr die Trennung in erkennendes Subjekt und zu erkennendes Objekt zu vertreten. In den folgenden Jahren erschien eine Reihe von Schriften gegen Kant und gegen den zeitgenössischen Neukantianismus, die alle einer absoluten Erkenntnis das Wort reden, die Kant für unmöglich erklärt hatte. Brunner wird mit diesen Schriften gehört, auch weil die Kritik an Kant damals durchaus gängig war. Der Heidelberger Soziologe Arthur Salz hat einmal spöttisch bemerkt, dass in diesen Jahren die Kritik an Kant jeder Oberprimaner geteilt habe.18 Brunner wurde viel diskutiert, war mehr als nur eine intellektuelle Wortmeldung, sondern immer ein Aufruf. Deshalb ist er selbst in diesen Jahren nie öffentlich aufgetreten. Ein wachsender Strom von Besuchern und Schülern wie Magdalena Kasch haben Brunners Wohnung zu einem geistigen Mittelpunkt der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg gemacht. Der umfangreiche Briefwechsel19 belegt die Lebendigkeit seines Kreises. 1913 zog Brunner mit seiner Familie nach Potsdam um, lebte auch dort weiterhin zurückgezogen und stellte sein erstes politisches Hauptwerk fertig: Der Judenhaß und die Juden, das allerdings erst 1918 im Druck erscheinen konnte. Daneben publizierte er zu politischen und philosophischen Themen kleinere Schriften, die immer mehr Leser fanden. Kriegsbedingt blieben die Geldsendungen Frida Monds aus England aus, so dass ihm ein befreundeter Arzt und Verehrer, Borromäus Herrligkoffer, aushelfen musste. Brunner schloss Freundschaft mit Walther Rathenau und gewann für seinen Kreis weitere Anhänger wie den Juristen und Dichter Martin Beradt oder die Dramatikerin Inge von Holtzendorff. 1919 wurde dann in Czernowitz durch Friedrich Kettner mit dem ,Ethischen Seminar‘ ein sich rasch erweiternder Brunner-Kreis gegründet, dem unter anderem die Dichterin Rose Ausländer angehört hat.20 Brunner galt hier wie auch in anderen seiner Schülerkreise vor allem als der Deuter Spinozas, wenn nicht als dessen Vollender. Seine Verbindung von idealistischer Lehre des Geistigen und

18 Arthur Salz: Für die Wissenschaften gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern. München 1921, S. 13. 19 Brunner, Briefe (wie Anm. 14). 20 Vgl. den Beitrag von Helmut Braun in diesem Band.



Einleitung 

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sehr konkreter politischer Stellungnahme mußte für junge Intellektuelle faszinierend sein. Und für die jüdischen Intellektuellen eröffnete Brunners Lehre und seine historische Reihe der geistigen Genies, aber immer auch sein Kampf gegen den Antisemitismus in besonderem Maße Möglichkeiten zur Identifikation. Wenn uns Heutigen Brunners Kritik des Zionismus unwirklich erscheint, so war der Streit um den Zionismus zwischen den Weltkriegen keine idiosynkratische Position. Ab etwa 1920 stand Brunner in intensivem Austausch mit dem ‚Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens‘, hier besonders mit deren Syndicus Ludwig Holländer. Über Brunner berichtete die C.V.-Zeitung regelmäßig, während er selbst vor allem in Maximilian Hardens Zukunft und in Ludwig Steins Nord und Süd veröffentlicht hat. Weitere Werke entfalten in diesen Jahren Brunners Lehre, so die psychologisch-idealistische Erklärung Memscheleth sadon. Letztes Wort über den Judenhaß und die Juden (1920) und sein großes Buch von 1921 Unser Christus oder das Wesen des Genies, das seine Geistlehre am religiösen Genie Jesus exemplifiziert und dessen Neuauflage Yehudi Menuhin 1958 auf den Weg brachte. Wiederholte Stellungnahmen zum Antisemitismus und zum Zionismus, aber auch praktische Erläuterungen seiner Lehre zu Liebe, Ehe, Mann und Weib und zu Fragen der Psychologie und Psychiatrie erschienen in diesen produktiven 20er Jahren. Auseinandersetzungen etwa mit Oswald Spenglers Kulturpessimismus gehörten ebenfalls zu den viel diskutierten Veröffentlichungen Brunners in diesen Jahren. 1924 erschien seine autobiographische Schrift Vom Einsiedler Constantin Brunner, mit der Brunner seine Selbsthistorisierung einleitet. Bei aller Stilisierung bleibt Brunner der bürgerliche Einsiedler aus der Kaiserzeit, dem die steile Selbsterhöhung zum Meister, wie sie in den lebensreformerischen Kreisen und Dichterzirkeln der Zeit gängig waren, fremd blieb, auch wenn seine Schüler ihn gerne so bezeichneten. 1928 publizierte er Aphorismen und Essays unter dem Titel Aus meinem Tagebuch, die in Anlehnung an Goethe seine Lehre erläutern, im selben Jahr unterstützte er auch den Aufsatzband Los vom Zionismus seiner Anhänger Fritz Blankenfeld, Ernst Ludwig Pinner und Emil Grünfeld (hier unter dem Pseudonym Kimchi). Die Kreise, die sich um ihn formiert haben, hat er nicht aktiv unterstützt, wenn auch Besuch ihm immer willkommen war. Brunner blieb über die Jahre auch nach seinem Umzug von Potsdam nach Berlin 1930 immer der kaiserzeitliche Einsiedler, der sich lautstark mit seinen Schriften zu Wort meldet, aber den philosophischen Extremismus seiner Zeit nicht teilt.21 Die zunehmende Radikalisierung der politischen Verhältnisse in der Weimarer Republik zwang

21 Vgl. Norbert Bolz: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen. München 1991.

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ihn freilich zu unmissverständlichen Stellungnahmen. Schon 1914 bekämpfte Brunner, nach kurzer Kriegsbegeisterung, den übertriebenen Nationalismus der Alldeutschen; gegen Ende der 20er Jahre waren seine Publikationen fast ausschließlich den staatspolitischen Themen und dabei auch der Abwehr des Nationalsozialismus gewidmet. Die Debatten um den Antisemitismus, den Zionismus und die Aufforderung zur Selbstemanzipation der Juden dominieren seine Schriften aus diesen Jahren, insbesondere die Bücher Von den Pflichten der Juden und von den Pflichten des Staates sowie Höre Israel und Höre Nicht-Israel (Die Hexen).22 Brunner wurde gelesen, viel gelesen, aber er gehörte zu den damals als bedachtsam geltenden Stimmen. Als er 1932 seinen 70. Geburtstag feierte, wurde Constantin Brunner vielfach gewürdigt. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten musste Brunner Deutschland sofort verlassen, zu deutlich war seine Stimme vernommen worden. Er hatte längst den Hass auf sich gezogen, vor dem er selbst so eindringlich gewarnt hat, zuletzt noch in dem Buch Der entlarvte Mensch, das Brunner jedoch nicht mehr publizieren konnte. Durch Unterstützung von Selma van Leeuwen und Walter Bernard konnte er mit seiner Familie im April 1933 nach Den Haag fliehen. Hier lebte er zurückgezogen und empfing viele Besuche der Mitglieder seines Kreises wie Lothar Bickel23 oder Leo Sonntag, die ihm wie Mitglieder einer Großfamilie vertraut waren. 1934 heiratete seine Stieftochter Lotte Brunner, die sich bisher um ihren Stiefvater gekümmert hatte, und Magdalena Kasch sorgte nun für ihn und seine Frau Rosalie im Exil. Brunner arbeitete hier noch intensiv an seinem letzten Buch, einer Philosophie des sich verstellenden sowie des geistigen Charakters. Die Schrift Unser Charakter oder Ich bin der Richtige! sollte unvollendet bleiben. Nach schwerer Krankheit starb Brunner am 27. August 1937. Constantin Brunner wäre nur eine Erinnerung im Gedächtnis seiner Kreise geblieben, hätte Magdalena Kasch nicht seine Manuskripte und Schriften an seinem Grabstein in Den Haag vor den Nationalsozialisten und ihren Helfershelfern versteckt. Nach dem Krieg konnte so in Den Haag das ,Internationaal Constantin Brunner Instituut‘ entstehen. Den Nachlass verwahrt heute das Leo Baeck Institute.24 Brunner-Kreise fanden sich in den USA und selbst in Israel zusammen, Philosophen wie Max Horkheimer empfahlen sein Werk. Es hat bis heute seine Leser gefunden. Die leidenschaftlichen Debatten und der philosophische

22 Vgl. zu diesen Themen die Beiträge von Jacques Aron und Andreas Kilcher in diesem Band. 23 Vgl. zu Bickel den Beitrag von Bernard Wasserstein in diesem Band. 24 Zum Brunnernachlass siehe die Beiträge von Aubrey Pomerance und Frank Mecklenburg in diesem Band.



Einleitung 

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Idealismus früherer Jahrzehnte aber sind historisch geworden und mit ihm der kaiserzeitliche Einsiedler Constantin Brunner. *** Der Band geht auf die Tagung „Constantin Brunner (1862–1937) im Kontext“ zurück, die vom 21. bis 23. Oktober 2012 im Jüdischen Museum, Berlin, stattfand. Die Herausgeber danken dem Jüdischen Museum und dem Leo Baeck Institute in Berlin,  besonders Aubrey Pomerance, die wunderbare Gastgeber der Konferenz waren, sowie der Fritz-Thyssen-Stiftung, dem Internationaal Constantin Brunner Instituut, Den Haag, sowie der Constantin Brunner Stiftung, Hamburg, die die Brunner-Tagung gefördert haben. Sie danken den Verlagen Magnes und de Gruyter  für die Aufnahme des Bandes in ihre Reihe und der Minerva-Stiftung, München, für die Kosten-Übernahme. Für ihre Durchsicht des Manuskriptes und die Erstellung des Registers danken die Herausgeber Dorette Griem aus Hemmingen. Dank gebührt auch dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur, Hannover, das das vorangegangene Forschungsprojekt zur Korrespondenz Constantin Brunners am Seminar für Deutsche Philologie an der Universität Göttingen und dem Franz Rosenzweig Minerva Forschungszentrum an der Hebräischen Universität Jerusalem unterstützt hat. Sie alle erst haben diesen Band ermöglicht.

I. Überlieferung und Rezeption

Aubrey Pomerance

Die Constantin Brunner-Sammlung. Der Bestand und seine Geschichte Im Jahre 1934 verfasste der seit mehr als einem Jahr im niederländischen Exil lebende Constantin Brunner die wohl letzte Fassung seines Testaments, in dem er genau festlegte, wie mit seinem Nachlass zu verfahren sei: Die geliebte Lotte bitte ich um die prompte und diskrete, auch gegen sich selbst diskrete Erledigung des folgenden Auftrags. Nämlich – mit Ausnahme der von mir ausdrücklich zur Veröffentlichung bestimmten Manuskripte – alle die übrigen Manuskripte, die sämtlichen Aufzeichnungen und die hundertausend Zettel so zu sagen unbesehen zu vernichten. Ebenso die sich noch findenden Briefe an mich. Einige Abschriften von mir geschriebener Briefe anlangend, besonders zwei längere Briefe an Gustav Landauer, so bitte ich Lotte, für den Fall, daß ich selbst nicht mehr dazu gelange sie herauszusondern, dies zu tun […] und sie ebenfalls mit unter die früher oder später zu veröffentlichenden Manuskripte zu legen. Alle die zahlreichen Briefe an mich bis zum Jahre 1932 sind bereits vernichtet. Es waren die schönsten Briefe darunter, die Menschen jemals bekommen haben, ganz gewiß was das Menschliche betrifft, und ein reiches Bild geht verloren. Aber mir steht zu, ohne daß ich Gründe angebe, nach denen man den letzten Willen auch fragen nicht mehr kann, und der letzte Wille gilt herkömmlicherweise als nicht mitgestorben, als des in ihm noch Lebenden gegenwärtiger Wille, – mir steht diese Anordnung zu: Mit meinem ungeordneten literarischen Nachlaß sollen auch diese ungeordneten Briefe mit in die Grube fahren. Vernichtung des von mir bezeichneten Nachlasses gehört zu meinem Schicksal. […] Ich schuf und sterbe nun mit dem Lied: Mehr wie rausgeschmissen kann man doch nicht werden aus der Zeit! und in Voraussicht, in Zuversicht, daß dereinstmals von künftiger Zeit mein Werk wird hereingeholt werden.1

Bereits 1911 hatte Brunner seiner Stieftochter Lotte nahegelegt, im Falle seines Todes die meisten Manuskripte und den Großteil seiner Korrespondenz der Nachwelt vorzuenthalten,2 wofür er dann in den folgenden Jahren, wie im Testament offenbart, in mancher Hinsicht selbst gesorgt hatte. Nach seinem Tod 1937 führte Lotte Brunner den Wunsch des Stiefvaters teilweise aus und begann nach der Besetzung der Niederlande den Rest zu verbrennen. Dass überhaupt etwas aus

1 Constantin Brunner: Aus Constantin Brunners Testament. Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum Berlin, Constantin Brunner Collection (= LBI/JMB): I, 2, 8. Veröffentlicht in: Constantin Brunner: Vermächtnis. Hg. vom Internationaal Constantin Brunner Instituut mit einem Vorwort von Magdalena Kasch. Den Haag 1952, S. 126 f. Zur Überlieferung des Brunner-Nachlasses siehe auch: Constantin Brunner. Ausgewählte Briefe 1884–1937. Hg. von Jürgen Stenzel und Irene Aue-Ben-David. Göttingen 2012, S. 9–13. 2 Siehe den Eintrag im Tagebuch von Lotte Brunner vom 11. Dezember 1911. LBI/JMB: II, 1, 9.

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dem Nachlass gerettet wurde, ist Magdalena Kasch zu verdanken, einer glühenden Verehrerin Brunners, die ihm ins niederländische Exil gefolgt war und ihn in seinen letzten zwei Lebensjahren auch gepflegt hat. Entgegen der dringenden Aufforderung von Lotte Brunner konnte sie es nicht über sich bringen, die ihr anvertrauten Manuskripte und Briefe Brunners zu zerstören, und versteckte diese hinter seinem Grabstein bzw. in ihrer Wohnung.3 Da Brunners Ehefrau Leoni und seine Stieftochter deportiert und ermordet wurden, fiel es schließlich Magdalena Kasch zu, Brunners Erbe und auch die Schriften seiner Hinterbliebenen aufzubewahren. Im Jahre 1947 zählte sie zu den Gründern des Internationaal Constantin Brunner Instituuts in Den Haag und fungierte als dessen Sekretärin bis zu ihrem Tod 1981. Im Jahre 1962 schickte Magdalena Kasch erstmals einige Briefe und Manu­ skripte aus dem Brunner-Nachlass dem Leo Baeck Institute in New York zur Aufbewahrung.4 Bis zur Mitte der 1970er Jahre folgten in regelmäßigen Abständen weitere Korrespondenzen, Manuskripte, Bücher sowie Schriften von einer Reihe unterschiedlicher Stifter.5 Der Großteil des Nachlasses blieb jedoch in der Wohnung von Magdalena Kasch in den Haag. Auch nach ihrem Tod bestand das dort eingerichtete Brunner-Zimmer weiter mit dem durch neuaufgelegte Schriften und Bücher von und über Brunner, vor allem aber durch die umfangreiche Korrespondenz der Mitglieder des Brunner-Kreises stark erweiterten Nachlass. Jedoch war er dort unter sehr ungünstigen klimatischen Bedingungen aufbewahrt und gelegentlich sogar dem Angriff von Mäusen ausgesetzt. Im Jahr 2000 konnten die Bestände, welche überhaupt erst in den 1990er Jahren verzeichnet wurden, in klimatisch günstigere Räumlichkeiten verlagert werden. Prinzipiell stand der Nachlass Forschenden über die Jahre hinweg stets zur Verfügung, aber im Gegensatz zu denjenigen, die sich mit den publizierten Schriften Brunners auseinandergesetzt haben, blieb die Anzahl von Personen, die sich mit den Primärquellen des Nachlasses beschäftigten, über Jahre, ja Jahrzehnte nur äußerst gering. Es war wohl diese Tatsache, welche Jürgen Stenzel, den Vorsitzenden des Brunner-Instituuts, dazu bewogen hatte, die Dependance des Archivs des Leo Baeck Instituts am Jüdischen Museum Berlin im Frühling 2006 zu kontaktieren, um die Möglichkeit einer Übernahme der in Den Haag befindlichen Brunner-

3 Magdalena Kasch: Bericht über die Rettung der Original-Manuskripte aus dem Nachlass von Constantin Brunner. Hg. vom Internationaal Constantin Brunner Instituut [o.O.u.J.], S. 4–6. 4 LBI News Vol. 3, No. 2/Fall 1962, S. 3. 5 Siehe LBI News Vol. 4, No. 1/Spring 1963, S. 3; Vol. 5, No. 2/Fall 1964, S. 7; Vol. 6/Fall 1965, S. 9; Vol. 7, No. 1/Spring 1966, S. 7; Vol. 8/Spring 1967, S. 6; Vol. 9/Spring 1968, S. 6; Vol. 9/Fall 1968, S. 7; Vol. 10/Spring 1969, S. 5; Vol. 12/Spring 1971, S. 9; Vol. 12/Fall 1971, S. 9; 13, Vol. 13/Spring 1972, S. 9; Vol. 13/Fall 1972, S. 9; Vol. 14/Fall 1973, S. 8; Vol. 15/Winter 1974–75, S. 9.



Die Constantin Brunner-Sammlung 

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Sammlung zu erörtern. Das Ersuchen an das Leo Baeck Institut war naheliegend, da sich Teile des Brunnernachlasses bereits dort befanden. Zudem hatte das Institut die (Teil-)Nachlässe einiger Mitglieder des Brunnerkreises übernommen, unter anderem die von Selma van Leeuwen, Max Busyn, Lothar (Eliezer) Bickel und Eduard Rudnicki (Eli Rottner).6 Ausdrücklicher Wunsch von Jürgen Stenzel und dem Brunner-Instituut war es jedoch, die Sammlung in Berlin aufbewahrt zu sehen, dem langjährigen Lebensmittelpunkt Brunners, was durch die Etablierung der Dependance im Jahre 2001 am Jüdischen Museum Berlin gewährleistet werden konnte. Mit der Übergabe des gesamten Brunnernachlasses und den dazugehörigen Beständen wurde eine von Max Kreuzberger in den LBI News vom Herbst 1962 zum Ausdruck gebrachte Hoffnung schließlich 45 Jahre später erfüllt.7 Die Verbindung mit dem Museum erwies sich zudem als besonders geeignet, denn so konnten auch die dreidimensionalen Gegenstände aus dem Besitz Brunners übernommen und in die Sammlungen des Jüdischen Museums Berlin integriert werden. Die Bestände der Constantin Brunner Collection, welche nunmehr die größte Einzelsammlung des Leo Baeck Instituts bildet, sind in sechs Bereiche unterteilt: Manuskripte, Korrespondenz Constantin Brunners, Korrespondenz des BrunnerKreises, Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte, veröffentlichte Artikel und Privatdrucke von Brunner und in denen Brunner genannt wird, Miszellen sowie Fotografien. Hinzu kommt eine Sammlung von etwa 200 gedruckten Büchern von und über Brunner, bzw. mit Hinweisen auf ihn und seine Werke sowie die eben erwähnten dreidimensionalen Objekte. Unter den 1.300 Manuskripten der Sammlung befinden sich ca. 200 von Brunners Hand. Hierunter sind biographische Materialien, Notizzettel und Exzerpte Brunners aus den Jahren 1880 bis 1900 mit insgesamt mehr als 5.000 Seiten, einzelne Gedichte und einige Manuskripte seiner zu Lebzeiten sowie postum veröffentlichten Aufsätze. Von Brunners zehn verlegten Büchern liegt nur von Der entlarvte Mensch ein vollständiges Typoskript vor, das durch Magdalena Kasch gerettet wurde. Manuskriptteile bzw. Textproben sind von sieben weiteren überliefert, während von den Schriften Die Herrschaft des Hochmuts und Höre Israel

und Höre Nicht-Israel! (Die Hexen) überhaupt keine Vorlagen mehr vorhanden sind. In Manuskript- bzw. Typoskriptform vorliegende Übersetzungen von

6 Der Nachlass von Selma van Leeuwen ist inzwischen in die Constantin Brunner Collection integriert worden, während die von Max Busyn, Lothar Bickel und Eduard Rudnicki weiterhin eigenständige Sammlungen im Archiv des Leo Baeck Institutes bilden: Max Busyn Collection, AR 7093; Lothar Bickel Collection, AR 3494; Eduard Rudnicki Collection, AR 7046. 7 LBI News 3, No. 2 (Fall 1962), S. 3.

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Abb. 1: Erste Seite des Manuskriptes von „Der entlarvte Mensch“ (Original im Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum Berlin)



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Abb. 2: Seite aus Brunners Exzerptheften, 1880er Jahre (Original im Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum Berlin)

Brunnerschriften in Englisch, Französisch und Hebräisch wurden den Brunnermanuskripten eingegliedert. Zu den weitaus zahlreicher vorhandenen Beständen gehören die Tagebücher von Lotte Brunner, verfasst zwischen 1903 und 1942, die Schriften Lothar Bickels, den Brunner 1935 zum Verwalter seines literarischen Nachlasses bestimmt hatte, Schriften von Magdalena Kasch und von Selma van Leeuwen, die seine Emigration in die Niederlande organisiert hatte, Materialien von den Brüdern Israel und Shilo Eisenstein, Hauptfiguren des Brunnerkreises in Israel, sowie von Henri Lurié, der bereits in den 1930er Jahren Brunnerwerke ins Französische übersetzt hatte. Im übrigen Bestand sind Manuskripte über Brunner und sein Werk von fast 200 weiteren Autoren vorhanden. Die Korrespondenz von Constantin Brunner beinhaltet ca. 4.000 Briefe von ihm und 1.000 Briefe an den Philosophen, datierend aus den Jahren 1879–1937. Die Liste der Korrespondenzpartner ist lang und bemerkenswert, darunter finden wir Gustav Landauer, Walther Rathenau, Lou Andreas-Salomé, Maximilian Harden

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Abb. 3: Lothar Bickel: Constantin Brunners letzte Stunden (Original im Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum Berlin)

und Rose Ausländer, um nur einige der Prominentesten zu nennen. Umfangreichster Einzelbestand unter der Korrespondenz ist der Briefwechsel mit Selma van Leeuwen. Der geringe Umfang der noch vorhandenen, an ihn gerichteten Schreiben ist der eingangs erwähnten, von ihm selbst angeordneten Vernichtung dieser Korrespondenz geschuldet. Die viel größere Zahl der von Brunner verfassten Korrespondenz ist zu einem kleinen Teil der Tatsache zu verdanken, dass er selber Kopien seiner Briefe anfertigte, vor allem aber darin begründet, dass Brunners Stieftochter und seine Ehefrau nach seinem Tod die Korrespondenz systematisch gesammelt haben. Während nur einzelne Brunnerbriefe in den letzten Jahrzehnten veröffentlicht wurden, bietet die jüngst von Jürgen Stenzel und Irene AueBen-David herausgegebene Auswahl von mehr als 200 Briefen einen tiefen Einblick in Leben und Werk von Constantin Brunner.8

8 Brunner, Briefe (wie Anm. 1).



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Abb. 4: Brief von Walther Rathenau an Constantin Brunner, 1. August 1920 (Original im Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum Berlin)

Die ca. 26.000 Briefe der Mitglieder des Brunnerkreises bilden den zahlenmäßig größten Teilbestand der Gesamtsammlung. Hierin finden sich einige Adressaten, mit denen Brunner noch selber korrespondiert hatte, doch die überwiegende

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Abb. 5: Das „Ethische Seminar“, Studienkreis junger Brunnerianer, Czernowitz 1921 (Original im Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum Berlin)

Mehrzahl dieser Briefe stammt aus der Zeit nach seinem Tod und reicht bis zum Ende des Jahres 1987. Nach langer Überlegung haben wir uns entschieden, die chronologische Reihenfolge dieser Briefe beizubehalten, damit die in unterschiedlichen Zeiträumen geführten Diskurse unter den Brunnerianern weiterhin nachvollziehbar und leichter zu erschließen sind. Es ist vorgesehen, diesen Teilbestand mit weiteren Korrespondenzen, vor allem denen des Brunner-Instituuts ab 1987 zu vervollständigen. Die Sammlung der etwa 900 Zeitungsartikel ist unterteilt in Beiträge, die von Brunner selbst stammen, sowie Artikel anderer Autoren über Brunner. Die beeindruckende Zahl von ca. 1.100 Fotografien rundet die Sammlung ab. Sie besteht aus einem reichen Fundus von ca. 120 Brunner-Porträts, Bildern seiner Familie und von Vorfahren, von Wegbegleitern und Brunnerianern, sowie großartigen Aufnahmen der Brunnerkreise. Neben den Archivalien ist ein Konvolut von 200 Büchern von und über Constantin Brunner als geschlossener Bestand in die Bibliothek des Jüdischen Museums Berlin übernommen worden. Er bildet wohl die vollständigste Sammlung an Brunnerliteratur. Ergänzt werden die Bücher durch die Rundbriefe des



Die Constantin Brunner-Sammlung 

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Abb. 6: Constantin Brunner mit seinem Pudel (Original im Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum Berlin)

Brunner-Instituuts und weitere Druckwerke. In den kommenden Jahren werden weitere Publikationen hinzukommen. Bei den Verhandlungen zur Übernahme des Nachlasses brachte das BrunnerInstituut das Anliegen vor, so viele Gegenstände wie möglich aus dem sogenannten Brunnerzimmer im Original aufzubewahren, sowie auch die verschiedenen Kunstwerke, die sich in Den Haag befanden. Diesem Wunsch kam das Jüdische Museum Berlin gern entgegen. Zu den über 100 übernommenen Objekten zählen der Schreibtisch Brunners mit den dazugehörigen Gegenständen, seine Manuskripttruhe, gemalte und plastische Porträts, eine 1911 von Georg Wienbrack geschaffene Spinoza-Büste, ja sogar Brunners Jacke, Taschenuhr, Puderdose und Zigarrenschere und einiges weitere mehr. Ein großes und wichtiges Ziel wurde im Herbst 2012 erreicht, nämlich die komplette Digitalisierung und Onlinestellung der Brunner-Sammlung im Rahmen des Digibaeck-Projekts des Leo Baeck Instituts.9 Eingebettet im Archiv des Instituts und ergänzt durch die Nachlässe einiger Brunnerianer, steht sie nun „im Dialog“ mit den ebenfalls digitalisierten Beständen zu Fritz Mauthner, Martin Buber, Gustav Landauer und vielen anderen mehr. Durch die digitale Zugänglich-

9 http://digifindingaids.cjh.org/?pID=1526023 (2.7.2013).

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Abb. 7: Constantin Brunners Zwicker (Original im Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum Berlin)

keit stehen Leben und Werk Constantin Brunners nunmehr jedem sofort zur Verfügung und sie ermöglicht Forschenden und Gelehrten aus zahlreichen Disziplinen eine Wieder- bzw. Neuentdeckung des bedeutenden Denkers.

Frank Mecklenburg

Die Brunner-Sammlung und ihre Bedeutung für die deutsch-jüdische Kulturgeschichte Am 16. Oktober 2012 ist das Archiv des Leo Baeck Institutes (LBI) offiziell als digital zugänglich der Öffentlichkeit vorgestellt worden, wodurch die Verknüpfung der Bestände im LBI für den Benutzer sehr viel einfacher geworden ist. Es bleibt nun viel Arbeit zu tun, das Netzwerk der Verbindungen eingehender zu erforschen. Das heißt aber auch, dass mit der fortschreitenden Vernetzung von Archiven untereinander, z.B. mit dem Literaturarchiv in Marbach, aber vor allem auch mit Archiven in Israel, Verbindungslinien einfacher erfassbar werden, die bislang eher schwierig nachvollziehbar waren. Indem wir uns hier auf die nähere Erforschung des Lebens und des Werkes Constantin Brunners einlassen, schaffen wir auch ein Beispiel dafür, wie aus einer Gestalt ein ganzer Kulturkreis gelesen werden kann. Seit der Gründung einer gemeinsamen Archiveinrichtung von Leo Baeck Institut und Jüdischem Museum Berlin sind auch in Berlin eine Reihe von Archivsammlungen eingegangen. Die größte davon, und mit 20 laufenden Metern die größte LBI-Sammlung überhaupt, ist die Constantin Brunner Collection, im Katalog unter der Signatur AR 1024 zu finden, nicht nur als bibliographischer Nachweis, sondern vollständig einsehbar als digitale Sammlung online. Das Archiv des LBI besteht bereits seit Mitte der 1950er Jahre, als noch wenig Aufmerksamkeit auf die Geschichte der deutschen Juden vorhanden war. Das Leo Baeck Institut hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums zu erforschen, man sehe sich das ambitionierte Programm im ersten Jahrbuch des LBI an.1 Ziel war es, den ganzen deutschsprachigen Kulturraum zu berücksichtigen, der sich einmal von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckte. In vieler Hinsicht spiegelt sich diese Geschichte in Brunners Werk und Wirkungsgeschichte wider. Diese Sammlung ist nicht nur die umfangreichste Sammlung des LBI, sondern auch ein Beispiel dafür, dass die Geschichte als solche betrachtet werden muss und nicht, wie das so häufig geschehen ist, mit dem Wissen der Nachgeborenen und der Beurteilung im Sinne von historischen und ideologischen Gewinnern und Verlierern. Es ist klar, dass Constantin Brunners Philosophie nicht zu dem geführt hat, was er sich vorgestellt hatte. Die von Brunner angegebenen Rich-

1 S. Moses (Chairman of the Board of the LBI), Leo Baeck Institute of Jews from Germany. In: Leo Baeck Institute Yearbook 1 (1956), S. XI–XVIII.

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tungen, Deutschjudentum und ein umfassenderer Humanitätsbegriff jenseits von Ethnizität, haben sich nicht eingelöst, die Erwartungen und das Versprechen der Aufklärung wurden zurückgeworfen. Dies aber aus unserer Sicht, da wir den Verlauf der Geschichte kennen. Brunner starb bereits 1937. Was wir jedoch nicht vergessen dürfen: Die Positionen von Brunners Philosophie waren Teil der damaligen Wirklichkeit, und dass wir heute Schwierigkeiten haben das „Wie und Warum“ zu verstehen, das sehe ich als unser Hauptproblem. In den letzten Jahren ist klar geworden, dass die 60 Jahre vor 1933 verstärkte Aufmerksamkeit brauchen, um Entwicklungen zu verstehen und zu verdeutlichen, die bislang hauptsächlich im Lichte der Geschichte nach 1933 gelesen worden sind, Wege die nach Auschwitz führten und die für die Geschichte nach 1945 relevant waren. Der Bruch der Shoah hat uns eine bestimmte Optik gegeben, die nach dem Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr unbedingt sinnvoll ist, um in der Lage zu sein, den breiten Bogen vom 19. Jahrhundert bis heute zu schlagen. Wenn wir aus der binären rechts-links- und Ost-West-Logik des 20. Jahrhunderts ausbrechen, bekommen viele Entwicklungen der Zeit vor 1933 ein anderes Gesicht. Wer nicht in das binäre Schema passte, lief Gefahr, aus der Geschichtsbetrachtung herauszufallen. Um ein Beispiel aus den Archiven des LBI zu nennen: Emil Julius Gumbel2, einer der wichtigsten politischen Kommentatoren und Aktivisten der 1920er Jahre, dessen Schriften über die politischen Morde von enormem Einfluss waren und enorme Widersprüche produzierten. Sein Name stand auf der ersten Ausbürgerungsliste der Nazis, aber als Pazifist und Mitglied der Liga für Menschenrechte war er ohne klare Zuordenbarkeit, zu unabhängig, zu eigenständig in seinem Denken. Hier muss uns auch Brunner, der sich gegen jede Zuordenbarkeit sträubte, quasi als Prototyp aufleuchten, was die Neubeschäftigung mit ihm erklärt und Hoffnung gibt, für ein Neuverstehen der Epoche. Warum also ist Constantin Brunner wieder interessant geworden? Unter den vielen Denkern der Zeit vor dem Nationalsozialismus sind die meisten, die nicht in das Lagerdenken der großen politischen Strömungen deutscher Geschichte passten, in Vergessenheit geraten. Die Zeit zwischen 1945 und 1990 verfestigte die Polarität von Ost und West, von rechts und links, was dann, quasi auf einmal, durch eine neue Komplexität abgelöst wurde und somit als Denkmodell verschwunden war. Dies gilt nicht nur aus amerikanischer Perspektive. Die Bandbreite der Denkströmungen der Zeit vor 1933 abzustecken erfordert ein neues Herangehen an die Geschichte und ihre Quellen, und die Sammlung Constantin Brunner liefert ein gutes Beispiel, wie diese Periode in ein neues Licht gebracht werden kann.

2 Emil Julius Gumbel Collection, Leo Baeck Institute Archive, AR 7267.

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Zunächst jedoch erscheint uns Brunner als Ausnahme, nicht-einordenbar, einzigartig in vieler Hinsicht, ein nicht- oder sogar anti-akademischer Lebensphilosoph, deutschnational, anti-zionistisch und assimilatorisch – wir müssen uns fragen, wie er die Aufmerksamkeit und den Anhängerkreis hat erwerben können. Jedoch lesen wir in der zeitgenössischen Presse, so zu seinem 70. Geburtstag, eine Meldung in der Jewish Telegraphic Agency, die in New York ansässig war und immer noch ist, am 13. September 1932, wo er als „famous philosopher, known as the Sage of Potsdam“, bezeichnet wird, „hailed as one of the most distinguished and powerful thinkers of the day [...]. His most important works are Spinoza Against Kant and Anti-Jewish Hatred and Anti-German Hatred“, und ferner heißt es: „A Constantin Brunner Society was founded in 1924 to spread his teaching.“3 Die Todesanzeige in der New York Times vom 1. September 1937 sagt zwar nichts besonders Intelligentes über Brunner, ist aber erheblich an Umfang.4 Und schließlich schreibt der ebenfalls vergessene Journalist Leo Hirsch einen längeren essayistischen Nachruf auf Brunner, in dem er die Stellung Brunners in der jüdischen Welt in einem fiktiven Prozess zwischen Anklage und Verteidigung positioniert.5 Es war für Leo Hirsch klar, dass Brunner seinen Platz in der jüdischen Welt hatte, dies wohlbemerkt kurz bevor die politische Krise diese jüdische Welt auszulöschen beginnt: „Ist Brunner ein jüdischer Philosoph, und soll er in ein jüdisches Pantheon aufgenommen werden […], das dermaleinst alle unsere Großen vereinen und aus allen Sprachen und Literaturen und Wissenschaften und Künsten heimholen soll. Die Heimholung sei ein Lieblingsgedanke unserer kulturellen Renaissance seit Jahren und werde auch schon zur Wirklichkeit im Bewußtsein des Volkes.“6 Das Terrain wird abgesteckt, auf der einen Seite mit dem Zeitgenossen Otto Weininger, dem „Jüdischen Selbsthasser!“, und historisch mit Johannes Pfefferkorn, dem Counterpart der Reuchlin-Debatte zu Beginn des 16. Jahrhunderts, bzw. mit dem aus der jüdischen Gemeinschaft ausgeschlossenen Spinoza, einem der zentralen Vorbilder Brunners, der die „Heimholung“ Spinozas betrieb. Der Vorwurf der mangelnden oder fehlenden Religiosität bringt Brunner in die Gesellschaft mit Disraeli und Heine, Herzl und Bialik, sowie Husserl und Mauthner.7

3 Constantin Brunner Felicitated on Seventhieth Birthday. In: Jewish Telegraphic Agency, Breaking News (13. September 1932). 4 Constantin Brunner, German Philosopher. Adherent of Spinoza‘s System and Foe of Kant Dead at 75 in The Hague. In: New York Times (1. September 1937). 5 Leo Hirsch: Constantin Brunner und seine Zeitgenossen. In: Der Morgen 8 (November 1937), S. 343–349. 6 Hirsch, Brunner (wie Anm. 5), S. 343. 7 Hirsch, Brunner (wie Anm. 5), S. 346 f.

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Und in der Frage der „Judenpolitik“ sah Hirsch ihn zusammen mit Theodor Herzl, Hermann Cohen, Martin Buber und Franz Rosenzweig,8 also in einer Reihe mit den bekannten Akteuren der jüdischen Renaissance.9 Leo Hirschs Bemerkungen stammen aus einer Zeit, in der jüdisches Leben in Deutschland und Europa in eine Krise geraten war, aber die gewachsenen Zusammenhänge waren noch klar erkennbar und lebendig. Constantin Brunners Legitimität im Kontext des Leo Baeck Instituts steht außer Frage: geboren als Leo Wertheimer, aufgewachsen in einem orthodoxen religiösen Milieu, Großvater Akiba Wertheimer (1778–1835), Oberlandesrabbiner von Altona und Schleswig-Holstein, der Vater Moses Wertheimer (1807–1887), ein Kaufmann und Talmudkenner; Brunner wird ausgebildet am jüdischen Lehrerseminar in Köln, konvertierte zum agnostischen Philosophen der nichtakademischen Art. Streitbar, dennoch verbunden mit vielen, und auch zerstritten mit vielen. Er ist für die Betrachtung der Zeit zwischen 1870 und 1930 ein geradezu klassischer Fall: 1862 geboren, 1937 im Exil in Holland gestorben, mehr eine Gestalt des 19. Jahrhunderts als des 20. Jahrhunderts, Exponent der Vielfalt, die sich in dieser Epoche entfaltete. Im Kontext der Denker seiner Zeit steht Brunner für eine Richtung der Erlösungsphilosophie, auf der Suche nach Einheit, unter den Prämissen von Deutschjudentum und Antizionismus. In einem Text, Der Schlüssel zu meinem Werke10, schreibt Brunner, dass die Einheit des Seins der Schlüssel ist. Es ist der Wunsch nach Einheit, der Wunsch nach Integration, während im Gegensatz dazu der schwelende oder zeitweise offene Konflikt des Antisemitismus liegt, über den er durchweg nachdenkt. In seinen Schriften beschäftigt sich Brunner seit 1893 mit dem Antisemitismus, was er dann 1918 in einem seiner Hauptwerke, Der Judenhaß und die Juden, veröffentlicht.11 Brunner bezeichnet einen Pol eines breiten Spektrums. Bezeichnend ist die Polemik Ende der 1920er Jahre, als Brunner gegen die Gefahren des Zionismus wettert. Brunner veröffentlicht in der C.V.-Zeitung eine Antwort auf eine Kritik an ihm in der Jüdischen Rundschau, die er mit dem triumphal klingenden Auftaktsatz einleitet: „Die beginnende Auflösung des Zionismus [...]. Mitten aus dem Lager des Zionismus der Ruf: Los vom

8 Hirsch, Brunner (wie Anm. 5), S. 347. 9 Siehe z.B. Michael Brenner: Wie jüdisch waren Deutschlands Juden? Die Renaissance jüdischer Kultur während der Weimarer Republik. Bonn 2000; bzw. Ders.: The Renaissance of Jewish Culture in Weimar Germany. New Haven 1996. 10 Constantin Brunner: Der Schlüssel zu meinem Werke. In: Constantin Brunner: Vermächtnis. Hg. vom Internationaal Constantin Brunner Instituut, Den Haag 1952, S. 211–224, hier S. 211. 11 Constantin Brunner: Der Judenhaß und die Juden. Berlin 1918; Neuauflage: Hg. von Jürgen Stenzel. 5. Aufl. Berlin 2004.

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Zionismus!“12 Im Lichte des Gegensatzes zwischen Assimilation und Zionismus, der sich mit dem ersten Zionistenkongress 1897 zunehmend verschärft, muss uns wiederum die Korrespondenz zwischen Brunner und dem eine Generation älteren Max Nordau erstaunen, die sehr wohlwollend ablief, allerdings aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg stammt.13 Wie lässt sich das erklären? Die Natur und Qualität des Diskurses war anders, Zionismus war ein politisches Projekt. Brunner war als Philosoph nicht an diesen Debatten beteiligt, aber seine Widersacherhaltung scheint sich in den 1920er Jahren noch verstärkt zu haben. Die Spannung des Antisemitismus ist Teil der Realität Brunners, jedoch ist der Zionismus für ihn eine Reaktion auf den Judenhass. Seine Analyse über den Ersten Weltkrieg, wo er Judenhass und Deutschenhass in Zusammenhang bringt, ist eine wirklich originelle Idee.14 Einerseits ist sie deutlich geprägt von der Identifikation mit dem Deutschtum, stellt den Versuch einer Anbindung an die deutsche Selbstdefinition dar, die erst im Desaster des Naziregimes scheitert. Andererseits ist sie aber im Sinne des Zionismus, im Sinne Scholems,15 eher Verrat am Judentum. Brunner versucht eine Synthese, im positiven Sinne, die dann nicht funktioniert. Er ist der perfekte Anti-Scholem. Der Schlüssel zu dieser Position liegt darin, dass Brunner sie in der Zeit vor November 1938 artikulierte; dass die Synagogen in Deutschland abgebrannt werden, war nicht vorstellbar, der eindeutige Bruch mit den Werten der Aufklärung hatte noch nicht stattgefunden. Brunner stirbt zu einem Zeitpunkt, als die Maximen seiner Entwicklung noch anwendbar sind. Hier also die Frage des Vergleichbaren, wie auch die Frage der Nähe, etwa zu dem ebenfalls von den Nazis ausgestoßenen konservativen Schriftsteller Ernst Lissauer, dessen Sammlung im Archiv des LBI liegt,16 und mehr noch Vergleiche mit Max Naumann, Hans-Joachim Schoeps und dem Verband nationaldeutscher Juden,17 die den deutschnationalen Gedanken bis hin zur Ablehnung jeder

12 Constantin Brunner: In eigener und in unser aller Sache. In: C.V.- Zeitung, Heft 6 (1929), S. 73. 13 Constantin Brunner an Max Nordau. Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum Berlin, Constantin Brunner Collection: II, 10, 1. 14 Constantin Brunner: Deutschenhass, Judenhass und die Ursachen des Krieges. In: Ders.: Der Judenhaß und die Juden. Zweite vermehrte Auflage. Berlin 1919, S. 9–28, besonders S. 27. 15 Gerhard Scholem: Die Blauweisse Brille, Laienpredigt (September 1915). In: Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus 1882–1933. Hg. von Jehuda Reinharz. Tübingen 1981, S. 168–169, Abdruck einer hektographierten Veröffentlichung der Organisation Jung Juda. 16 Ernst Lissauer Collection, Leo Baeck Institute Archive, AR 25209. 17 Zu Schoeps siehe beispielsweise Michael Brenner: Jüdische Geistesgeschichte zwischen Exil und Heimkehr: Hans-Joachim Schoeps im Kontext der Wissenschaft des Judentums. In: „Ich staune, dass Sie in der Luft atmen können“: Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945. Hg. von Monika Boll und Raphael Gross. Frankfurt a.M. 2013, S. 21–39; Gideon Botsch: Studien zum Leben und Werk von Hans-Hoachim Schoeps (1909–1980). Hildesheim 2009. Zu Max Nau-

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Beziehung zu nicht-deutschen Juden betrieben. Brunner wiederum tat dies nicht bzw. für Brunner gibt es keine Einheit des Jüdischen und somit auch keinen Ausschluss. Die Vielfalt des deutsch-jüdischen Diskurses vor dem Zusammenbruch war breiter als dies die verengte Sicht im Schatten der Shoah nahelegt. Wie hat Brunner auf 1933 reagiert? Seine Bücher werden sofort verboten, er flieht nach Holland und stirbt dort 1937. Seine Schrift Der entlarvte Mensch, Anfang der 1930er Jahre verfasst, mit Nachworten von 1933 und 1934, ist erst 1951 aus dem Nachlass erschienen. Brunner hat an seinen Überzeugungen festgehalten. In seinem Nachlass im Archiv des LBI finden sich Versionen seines Testamentes, worin er sagt: „Ich fühle mich, auch bei der jetzigen politischen Wendung, ein Deutscher, darin völlig unangetastet von dem Schmerz über die Deutschen als Menschen und über den größten Blödsinn der Menschengeschichte, der zu dem namenlosen Unglück geführt, daß eine ganze große Gruppe von Menschen keinen Platz haben soll in der Menschenwelt: die Juden Genannten [...].“18 Brunner war nicht der Einzige, der an dieser Position festgehalten hat, die New Yorker Zeitung Aufbau legt dafür Zeugnis ab,19 aber diese differenzierten Gedanken verschwinden mit der sich verschärfenden Situation. Auf den Schriftstellerkonferenzen Mitte der 1930er Jahre in Paris und London werden die Konfrontationslinien abgesteckt, die Volksfront durchgesetzt, von der Ernst Bloch schrieb, dass die Pariser Konferenz den Moment bezeichnete, wo Intellektuelle Stellung beziehen mussten, wo es um politischen Dezissionismus ging und Grautöne zu verschwinden hatten.20 Der spanische Bürgerkrieg war der Scheidepunkt. Von all dem finden wir nichts bei Brunner, soweit ich das sehen kann, inwieweit er die Tagesereignisse wahrgenommen hat, inwieweit ihn all dies beeinflusste. Brunner dient uns somit auch als ein Maßstab, wie die Entwicklung der Kultur bis 1933 wahrgenommen wurde, wie Brunners Bild von Kultur gewachsen war aus dem 19. Jahrhundert und weiter bis in die 1930er Jahre des 20. Jahrhunderts, mit den Erwartungen und Versprechen der Aufklärung und einer breiter werdenden demokratischen Entwicklung der Gesellschaft. Dass all dies innerhalb kurzer Zeit zerstört wurde, das hat Brunner noch erlebt, jedoch nicht das volle Ausmaß der

mann siehe Matthias Hambrock: Die Etablierung der Außenseiter: Der Verband der nationaldeutschen Juden 1921–1935. Köln 2003. 18 Constantin Brunner: Aus Constantin Brunners Testament. In: Ders., Vermächtnis (wie Anm. 10), S. 129. 19 „Seien wir Juden Hitler dankbar dafür, dass er uns die Chance versagt hat, im Lande zu bleiben und uns umzustellen“, schrieb der Aufbau vom 1. Dezember 1936 unter der Leitartikel Schlagzeile: Emigrantentum – geistige Neuorientierung (In: Aufbau 3, No. 1, S. 1). 20 Ernst Bloch und Hanns Eisler: Avantgarde-Kunst und Volksfront. In: Die Neue Weltbühne, Nr. 50 (9.12.1937), S. 1568.

Die Brunner-Sammlung und ihre Bedeutung für die deutsch-jüdische Kulturgeschichte 

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Katastrophe. Die beiden großen Ereignisse jüdischer Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Shoah und die Gründung Israels, kommen in Brunners Leben nicht mehr vor. Brunner stirbt als Prophet von Deutschjudentum und Antizionismus, und unmittelbar nach seinem Tod stirbt auch jede Basis für seine Ideen. Brunner und seine Korrespondenzpartner sind ein Kapitel für sich. Brunner spricht mit vielen, darunter Gustav Landauer (1870–1919), Philosoph und Anarchist, dem Kritiker Julius Bab (1880–1955), dem Schriftsteller Martin Beradt (1881–1949). Er streitet sich viel und überwirft sich. Martin Buber, sechzehn Jahre jünger als Brunner (geboren 1878), der sich in einem Artikel in der Zeitschrift Ost und West im Aprilheft von 1912 über die geistige Beziehung zwischen ihm und Brunner äußert, jeden Einfluss abstreitet, obwohl er Brunners Schriften gelesen hat. Intellektuelle Rivalitäten sind und waren die Realität der Kulturelite, aber wie hat sich dies zu Brunners Zeiten ausgetragen? Zu nennen ist etwa der Gegensatz zu Fritz Mauthner, Sprachphilosoph und eifriger Schriftsteller und Journalist. Auch Mauthners Sammlung liegt im Archiv des LBI,21 14 Jahre älter als Brunner, ebenfalls Erzeuger einer originellen Philosophie, mit seinem eigenen Kreis und berühmten Anhängern. Beide waren in Kontakt, aber es scheiden sich die Geister, Brunner wird hier einordenbar als Konservativer mit dem Wunsch nach Einheit, die Wahrheit der Einheit des Seins, d.h. einer geschlossenen gesellschaftlichen Realität, wohingegen Mauthner als Modernist Zweifel hat an Einheit und Wahrheit bzw. der Erkennbarkeit dessen. Mauthner stirbt bereits 1923, wie auch Max Nordau, beide 1849 geboren, also mit großer Entfernung zu den Ereignissen, die 1933 losbrechen. Das Leo Baeck Institut ist bemüht die Phase zwischen 1871 und 1933 stärker ins Blickfeld zu rücken, um zu sehen, wie in drei Generationen Entwicklungen stattfanden, die die Stellung von Juden in Deutschland einzigartig machten, auch um zu verstehen, wie der radikale Zerstörungsprozess hat stattfinden können, wie in nur wenigen Jahren zerschlagen wurde, was in vielen Jahrzehnten aufgebaut worden war. Brunner ist dabei ein Protagonist, der aber erst wiederentdeckt werden muss.

21 Fritz Mauthner Collection, Leo Baeck Institute Archive, AR 3392.

Jürgen Stenzel

Brunner in der Diskussion Die Brunnerrezeption ist geprägt von ebenso großer Befürwortung wie Ablehnung – und von Ignoranz. Es gibt Hunderte von Schriften über Brunner, kaum aber eine wissenschaftlich-akademische Auseinandersetzung. Das dürfte an Brunners eigenem philosophischen Ansatz liegen, aber auch an der Weise, in der er, nicht zuletzt von seinen zahlreichen Anhänger­n, rezipiert wurde.1

Brunners Spaltung: Fachphilosophie und Anhängerkreis Brunner hat zweifellos selbst einen tiefen Graben zwischen sich und der akademischen Philosophie aufgeworfen. Ungewohnt sind schon sein Schreibstil und mehr noch seine Methode: Auch in den abstraktesten Passagen seines Werkes wirkt er sehr persönlich, manchmal, besonders in seinen ersten Schriften,2 pathetisch, oft auch polemisch. Er nimmt sich Zeit, um eindringlich zu wirken, wiederholt, macht Exkurse, erzählt. Wer sich darauf einlässt, profitiert von der Anschaulichkeit, Ausführlichkeit und Klarheit, wer aber nur den philosophischen Gehalt sucht, dürfte die Werke eher langatmig, sperrig und redundant finden. Ein zweiter Aspekt, der Ablehnung und zugleich Zustimmung erfahren hat, ist Brunners philosophischer Denkansatz: Brunner fordert, mit Bezug auf Sokrates und Spinoza, eine das eigene Leben modifizierende, „aktive“ Philosophie:

1 Hinweise zur Brunnerrezeption habe ich schon gegeben in meiner Einführung zu: „Ich habe einen Stachel zurückgelassen“. Beiträge zum Constantin Brunner-Symposion Hamburg 1995. Hg. von Jürgen Stenzel. Essen 1995 (Brunner im Gespräch 4), S. 9–31. Die Rezeption von Brunners Spinozabild, die ich dargestellt habe in: Philosophie als Antimetaphysik. Zum Spinozabild Constantin Brunners. Würzburg 2002 (Schriftenreihe der Spinoza-Gesellschaft 10), S. 399–445 deckt zugleich auch weite Teile der Rezeption von Brunners Philosophie überhaupt ab. Die Rezeption insbesondere der Persönlichkeit Brunners ist abzulesen an Brunners Korrespondenz. Siehe: Constantin Brunner: Ausgewählte Briefe 1884–1937. Hg. von Jürgen Stenzel und Irene Aue-BenDavid. Göttingen 2012. 2 Hier sind die zwischen 1908 und 1910 erschienenen Schriften Brunners zu nennen, besonders: Die Lehre von den Geistigen und vom Volk [1908]. 3. Aufl. Stuttgart 1962 (hier nicht zuletzt die „Ankündigung“, S. 3–118) und: Spinoza gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit [1909]. 2. Aufl. Assen 1974.



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Daß ich mit meinem Philosophieren unmittelbar ins Leben und aufs Leben gehe, verbindet ihm so innig die davon bereits erreichten noch Philosophablen; und eben dasselbe macht es den „Fachphilosophen“ fremd und widrig. Verhaßt ist ihnen der konservative Mann, der als Konservativer revolutionieren will [...], der die Philosophie wieder wirklichkeitskräftig und aktiv will, und schon dadurch abgeschmackt erscheint, daß er – in unsrem Jahrhundert! – an die Wahrheit glaubt!3

Das Denken könne aktiv und praktisch nur dann sein, wenn es nicht in Skeptik oder in einer endlosen Philologie erstickt werde, sondern an ein Ende komme, was auch bedeutet: zum Erfassen der Wahrheit.4 Das aber sei bei der bloß nüchtern-sachlichen oder historisch-kritischen akademischen Philosophie eher nicht der Fall: Sie erscheine in der Regel als leblose, überflüssige „Scholastik“, die man bei den „Vogelscheuchen“ an den Universitäten finde, bei den „unfughaft öden Philologen“.5 Brunner sieht sich selbstbewusst als Widerpart der zeitgenössischen Philosophie: „Ich halte die Zeitphilosophie für dilettantische Scholastik (wie sie zu allen Zeiten sich breit gemacht und den Platz der Philosophie behauptet hat); und sie hält meine Gedanken für philosophisch dilettantisch (in der Art jeder früheren Zeitphilosophie gegenüber den wirklich lebendigen Gedanken).“6 Brunners Kritik ist hier ähnlich scharf wie die Schopenhauers und Nietzsches, ihren Gestus radikaler Überwindung übernimmt er hier. Für ihn war es undenkbar, seine Gedanken in einem Universitätsseminar vorzutragen und sie zur Diskussion zu stellen. Er war ein monologischer Denker – und blieb dies auch in persönlichen Begegnungen, die er durchaus suchte und in denen er offenbar sehr charismatisch wirkte. Der Zweck der Kommunikation bestand für Brunner weniger darin, über seine Philosophie zu diskutieren, als vielmehr darin, den „geistigen“ Gedanken in seinem Gegenüber zu befestigen.7

3 Constantin Brunner: Aus meinem Tagebuch [1928]. 2. Aufl. Stuttgart 1967, S. 32. 4 Zu Ende denken heißt für Brunner, nicht in der Relativität steckenbleiben, sondern „geistig“ denken. Siehe Brunner, Lehre (wie Anm. 2), S. 307, 961. 5 Scholastik ist für Brunner ein negativer Begriff; siehe dazu den Abschnitt „Unsere scholastische Bildung“ in: Constantin Brunner: Vom Einsiedler Constantin Brunner. Potsdam 1924, S. 55– 76. Als „Vogelscheuchen“ bezeichnet Brunner zum Beispiel viele Spinozaphilologen. Siehe zum Beispiel Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 248. Die Philologie überhaupt kritisiert Brunner in: Spinoza gegen Kant (wie Anm. 2), S. 70. Zu Brunners Kritik am Akademischen und an der Bildung siehe Jürgen Stenzel: Brunners Spinozarezeption vor dem Hintergrund seiner Bildungskritik. In: Philosophia Activa 3, Heft 3 (1992), S. 4–20 und: Brunners psychologisch-pädagogischer Ansatz einer aktiven Philosophie. In: Philosophia Activa 4, Heft 3 (1993), S. 34–50. 6 Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 447. 7 Es sind unzählige Dokumente in der Constantin Brunner Collection im Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum in Berlin überliefert (im Folgenden „LBI/JMB“), die dies belegen.

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Vor diesem Hintergrund musste es zunächst einmal zwei Brunnerrezeptionen geben: Eine Möglichkeit war, sich zu Brunners Ansatz zu bekennen, was aber letztlich hieß, sich dem lebensändernden Anliegen nicht zu verschließen. Die Auseinandersetzung konnte dadurch nur persönlich werden und die kritische Distanz zum Gegenstand musste verschwinden. Solche Menschen – nicht selten aus Brunners persönlichem Umfeld in Potsdam und vor allem in Berlin, aber auch aus dem Czernowitzer Kreis um Friedrich Kettner – haben in der Regel Brunners Nähe gesucht, und sie wurden von ihm auch sehr persönlich aufgenommen und in ihren Anliegen so nachhaltig gefördert, dass sie ihm lebenslang dankbar waren. Nicht wenige wurden zunächst von der Emphase in Brunners Lehre8 angezogen und bezeichneten den Autor als „Meister“. Zum Teil entstanden hagiographische Schriften, die allerdings im Anhängerkreis selber umstritten blieben. Zumeist versuchten die Anhänger in ihren Schriften Brunners Gedanken im Kontext seines Systems nachzuvollziehen und sich dadurch selber klarer darüber zu werden.9 Brunner hielt sich zwar prinzipiell von Versammlungen seiner Anhänger fern, ließ sich aber Ehrungen gefallen, da er der Auffassung war, dass es darin gar nicht um ihn persönlich ginge, sondern um „die Sache der geistigen Wahrheit“,10 der auch er diene. Nicht-„Brunnerianer“ reizte solches Verhalten nicht selten zu Spott und Hohn: Gustav Landauer zum Beispiel bezeichnete Brunners Anhänger

Sichtbar wird es nicht zuletzt an Lotte Brunners Aufzeichnungen über Begegnungen Brunners und über Gespräche mit ihm (Lotte Brunner: Constantin Brunner im Tagebuch von Lotte Brunner. LBI/ JMB: I, 2, 1, 9 f.; online zugänglich unter http://archive.org/stream/constantinbrunne11leob#page/ n37/mode/1up) sowie an Brunners Briefwechsel: Brunner, Briefe (wie Anm. 1). 8 Brunner, Lehre (wie Anm. 2). 9 Die Namen der Brunner-Verehrer sind Legion. Im Brunner-Archiv befinden sich neben Dokumenten von Brunner auch unzählige Manuskripte von Mitgliedern des Brunnerkreises (siehe LBI/JMB: I) sowie Korrespondenzen zwischen ihnen (siehe LBI/JMB: III). Als „Meister“ wurde Brunner häufig von ehemaligen Mitgliedern des Ethischen Seminars in Czernowitz bezeichnet, später auch zunehmend von zentralen Personen des Berliner Brunnerkreises, zum Beispiel Magdalena Kasch. Das gedankliche Ringen der Kreismitglieder ist an den Manuskripten im BrunnerArchiv abzulesen, die vielfach unveröffentlicht blieben. Die meisten Publikationen zu Brunner sind zwar wenig kritisch, aber von ernstem Bemühen getragen. Es gibt darüber hinaus auch viele persönliche Bekenntnisse, zum Beispiel unter den Dokumenten mit dem Titel Wie ich zu Constantin Brunner kam. Hagiographische Züge tragen zum Beispiel die Publikationen von A. Mœbius (Constantin Brunners Lehre, das Evangelium für die Gemeinschaft der geistig Lebendigen. Eine Studie. Berlin [vermutlich 1911]), der hofft, dass Brunners Werk „die Bibel einer kommenden Gemeinschaft der Geistigen“ wird (S. 75), oder auch die Brunner-Biographie der langjährigen Sekretärin des Internationaal Constantin Brunner Instituut in Den Haag, Magdalena Kasch (Constantin Brunner, sein Leben und Wirken. Aktive Philosophie. Den Haag 1970). 10 So lautet auch der Untertitel der Schrift Spinoza gegen Kant (wie Anm. 2).



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pauschal als „Jünger und Meistersager“, Martin Buber sprach von „Apostelnaturen zweiten Grades“.11 Wer noch „Brunnerianer“ kennengelernt hat, wird diese Urteile angesichts des ethischen Ernstes dieser Menschen hart und einseitig finden. Brunner selber hat seine Anhänger – fanatische Übersteigerungen Einzelner abgerechnet – immer verteidigt, weil er ihre Bereitschaft zum Denken und zur Selbstwerdung über die nüchtern-distanzierte Betrachtung seiner Denkergebnisse stellte: „Darin geht es mir wirklich wie Christus: Nur die amme haarez dürften zu mir kommen, einfache, unwissenschaftliche, unbegabte, zuverlässige Menschen.“12 Angesichts solcher Forderungen an den Rezipienten musste es schwierig sein, Brunners Philosophie wissenschaftlich-distanziert als ein Objekt zu betrachten, ein zu analysierendes Phänomen, mit dem man sich sachlich-nüchtern und kritisch auseinanderzusetzen versucht. Die wenigen zeitgenössischen Bemühungen dieser Art verebbten oder führten zur Abwendung, nicht selten auch begleitet von Kommentaren, in denen das gesamte Anliegen Brunners und des Brunnerkreises diffamiert wurde.13 Verbreitet war eine Ignoranz, Brunners Philosophie überhaupt nur zur Kenntnis zu nehmen. Im zeitgenössischen philosophischen Schrifttum gibt es kaum jemals einen Hinweis auf ihn, geschweige denn eine fundierte und ernstzunehmende Auseinandersetzung mit seiner Philosophie.14

Zur Bewunderung der Persönlichkeit und Philosophie Brunners Es gab aber nicht nur Verehrer und Ignoranten, sondern noch eine dritte, ebenfalls recht große Lesergruppe: diejenigen, die zwar nicht regelrechte Anhänger wurden und auch nicht zum Brunnerkreis im engeren Sinne gezählt werden können, die aber doch von Brunner sehr stark beeindruckt waren. Zu nennen

11 Siehe den Brief Gustav Landauers an Constantin Brunner vom 22. März 1911. In: Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 206, sowie Martin Bubers Artikel: A. M. und Constantin Brunner. In: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum 12, 4 (April 1912), Sp. 333. 12 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 24. Juni 1921. 13 Das ist besonders an Brunners Auseinandersetzung mit dem zunächst sehr begeisterten Gustav Landauer abzulesen (siehe die Briefe Nr. 38–41, 43–46, 48, 56 f. in: Brunner, Briefe [wie Anm. 1]), aber zum Beispiel auch an dem zunächst euphorischen, später dann sehr kritischen Spinozisten Leo Tamari (siehe Brunner, Briefe [wie Anm. 1], S. 534 f.). 14 Zu einigen Bezügen, die sich finden lassen, siehe meinen anderen Beitrag in diesem Band: Constantin Brunners „Fakultätenlehre“ im Kontext der Philosophiegeschichte.

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sind hier zum Beispiel Gustav Landauer, Lou Andreas-Salomé, Martin Buber, Walther Rathenau, Ludwig Stein, Max Nordau, Hermann Kasack, Ludwig Holländer, Joseph Norden oder auch Moses Barasch.15 Später haben zum Beispiel Werner Heisenberg, Leo Baeck, Max Horkheimer, Albert Schweitzer, Albert Camus, André Breton oder auch Yehudi Menuhin mit großer Anerkennung und zum Teil Verehrung von Brunner gesprochen.16 Wie kommt es zu dieser Zustimmung so Verschiedener: Kulturphilosophen, Schriftstellern, Theologen, Rabbinern, Politikern, Künstlern? Zum Teil dürfte dies an den vielen Ansatzmöglichkeiten liegen, die Brunners Werk bietet. Brunner ist ein Philosoph, der sich mit den klassischen Grundfragen auseinandersetzt: Metaphysik und Ontologie, Erkenntnistheorie und Psychologie, Ethik, Gesellschaftslehre und Staatsphilosophie. In seinen Anwendungen bezieht er sich ebenso auf aktuelle physikalische Diskussionen wie auf politische Probleme: zum Beispiel den Antisemitismus, die sogenannte „Judenfrage“, auch die Rassentheorie und die Nationalstaatsdiskussion. Weiterhin diskutiert er das Verhältnis von Liebe und Ehe, von Mann und Frau, geht in einigen Aufsätzen auf literarische Fragen ein, auf die Medizin und die Psychiatrie.17 Seine Werke sind reich an hellsichtigen Beobachtungen und Kommentaren, die oft nicht zu den weitverbreiteten zeitgenössischen Meinungen passen. Und er schreibt wie ein Schriftsteller, veranschaulicht sein Denken mit Geschichten, ja Märchen, entwickelt Dialoge und literarische Gespräche. Spaß hat er daran, den Zionisten Jakob Klatzkin im Himmel vor dem jüdischen ‚Landesgott‘ auftreten zu lassen,18 oder auch, in seinem letzten Werk Unser Charakter oder Ich bin der Richtige!, mit dem personifizierten Charakter, einem „trockenen, plüschgrauen Gesellen“ eine Diskussion über die Frage zu führen, warum der Mensch sich nur so schwer ändern lasse.19 Es ist eine lebendige, vielfältige, überraschende Welt, die Brunner vor dem Leser ausbreitet; so urteilt auch ein früher Rezensent in der Kölnischen Zeitung: Hier ist kein trockener Gelehrter, der uns seine Weltanschauung vordoziert, wie er sie sich in seiner Studierstube, abseits vom Leben, zurechtgezimmert hat, sondern hier steht der

15 Diese Beziehungen sind in der Brunner-Briefausgabe (wie Anm. 1) belegt. 16 Dokumente, die dies belegen, vor allem Briefe, finden sich im Brunner-Archiv (LBI/JMB: III). 17 Zu Brunners Themen, der Systematik seines Denkens und biobibliographischen Kontexten siehe Stenzel, Philosophie als Antimetaphysik (wie Anm. 1), S. 17–40. 18 Constantin Brunner: Von den Pflichten der Juden und von den Pflichten des Staates. Berlin 1930, S. 80–98; siehe auch Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 430–435. 19 Constantin Brunner: Unser Charakter oder Ich bin der Richtige! [1939]. 2. Aufl. Stuttgart 1964, S. 62.



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Prophet einer eigenartigen Wirklichkeitsauffassung vor uns, der uns mit Begeisterung für seine Sache das predigt, was er sich als sein Letztes und Höchstes im Strom der Welt erkämpft hat.20

Hieran wird schon deutlich: Es sind nicht nur die philosophischen Einzelheiten, die Brunner für viele zu einer faszinierenden Figur machte, sondern es ist seine Persönlichkeit insgesamt. Schon die Rezensenten seines ersten Werkes, der Lehre von den Geistigen und vom Volk, empfanden sie als etwas Besonderes: „Wir haben es hier mit einem Manne zu tun, dem es eine heilige Sache darum ist, denen, die ihn hören wollen und können, die Wahrheit zu verkünden, so wie er sie in seiner philosophischen Lebensarbeit erkannt hat.“21 Und ein anderer Rezensent schreibt: „Was dieser temperamentvolle Denker [...] zu uns sagt, dringt einem wie Schwerter in die Seele. In dem Buch lebt ein Geist, der mächtig anzieht und nicht mehr losläßt.“22 Angesichts der Selbststilisierung, die man besonders zu Anfang seines philosophischen Schaffens bei ihm beobachtet, ist es vielleicht nicht übertrieben zu sagen, dass sich Leo Wertheimer – so hieß Brunner ja von Geburt – selber zu der Kunstfigur Constantin Brunner gemacht hat. Dieser Constantin Brunner sei der „Mann eines einzigen Buches“, sagt er öfter einmal: der Lehre von den Geistigen und vom Volk, und dieser Idee, diesem Werk wolle er dienen.23 Daher kommt es, dass Brunner sich als bescheiden, ohne Größenwahn und Hochmut verstand; er schaffe geradezu „unpersönlich“ an seinem Werk.24 Das Pathos der Persönlichkeit Constantin Brunners – und mit ihr die Einheit von Werk und Person, denn Brunner hatte eigentlich kein Privatleben mehr – ist fast schon ein literarisches Produkt, hinter dem Leo Wertheimer völlig verschwindet.

20 [Anonym]: Die Geistigen und das Volk. In: Kölnische Zeitung Nr. 1174 (8. November 1908). S. 2. 21 [Anonym], Die Geistigen (wie Anm. 20). 22 Rudolf Bilke: Neue Bücher. In: Breslauer Morgen-Zeitung 569 (4. Dezember 1908). 23 Constantin Brunner: Zum fünfundfünfzigsten Geburtstage. In: Brunner, Charakter (wie Anm. 19), S. 9. Brunner wollte ursprünglich nur ein einziges großes, mehrbändiges Buch schreiben, das gemäß seiner „Fakultätenlehre“ drei Teile hat und die Theorie des praktischen Verstandes, die des Geistes und die des Aberglaubens umfassen sollte. In dieser Form erschienen ist nur das Buch über den praktischen Verstand, das er 1908 unter dem Titel des Gesamtprogramms Die Lehre von den Geistigen und vom Volk publizierte (wie Anm. 2). Die anderen Themen hat Brunner eher beispielhaft und in verschiedene Kontexte eingebettet behandelt, so etwa seine Theorie des Geistes am Beispiel von Jesus in: Unser Christus oder das Wesen des Genies [1921]. 2. Aufl. Köln, Berlin 1958). 24 Siehe Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 535.

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Zudem hatte Brunner eine sehr tiefe, unerschütterliche Überzeugung von dem, was wahr ist und was falsch, und er hat beides sehr stark ausgesprochen und in allumgreifenden Prinzipien zu erfassen versucht. Sein Bild von Gott, Welt und Mensch, von Natur und Geist, von Ich, Gesellschaft, Staat und vom Werden in der Geschichte ist differenziert und zugleich in einem insgesamt recht einfachen System geschlossen: Im Wesentlichen sind es zwei Theorien, die „Fakultätenlehre“ und die „Lehre von den Geistigen und vom Volk“, von denen er schon 1908 ausgeht und die er in den folgenden dreißig Jahren immer weiter expliziert und auf verschiedene Lebensbereiche anwendet.25  Brunner spricht ohne Zögern, meist nicht sachlich-nüchtern, sondern mit einer unendlichen Begeisterung von der „geistigen Wahrheit“ und bezeichnet demgegenüber das Falschdenken polemisch als „Aberglaube“, den es nicht nur sachlich zu beschreiben, sondern in seinen vielen Äußerungsformen dingfest zu machen und zu bekämpfen gelte. Seine Schriften sind Kampfschriften für dieses Programm, eine „philosophia militans“.26 Und hinter ihnen steht eine Persönlichkeit, die stets fest, geradezu unabänderlich bleibt, ohne Kompromisse und Rücksicht auf eigene Nachteile. Brunner steht wie ein Monolith im aufbrechenden, zweifelnden, fragenden, die Wahrheit nicht mehr erfassen könnenden Denken des frühen 20. Jahrhunderts und bietet Orientierung in dieser immer chaotischer werdenden Welt. Diese Bestimmtheit und Kraft der Persönlichkeit ist es wohl vor allem, die zum Beispiel auch Walther Rathenau in Brunners Bann zog. Der folgende Brief Rathenaus aus dem Jahre 1919 belegt sehr eindrücklich, welche Wirkung von Brunner ausgehen konnte: Ihr Wort beglückt mich, wie Alles was Sie schenken, mir und Allen, Ihr Sein und Werk, wie der Abend an Ihrem Wasser.27 Es ist das einzige Glück der Einsamkeit und der Gestirne: zu fühlen, dass man nicht allein ist. Als ich Ihren Bannkreis betrat, den Bereich Ihres Auges und Wortes, der Abendsonne auf den schwellenden Bäumen, stand ich auf einer Insel des Geistes, gelöst von der Gebundenheit des Zufalls, archimedisch frei. Alles, was war und

25 Neuere systematische Darstellungen der Philosophie Brunners finden sich bei Hendrik Matthes: Constantin Brunner. Eine Einführung. Düsseldorf 2000 (zur Hälfte eine Brunner-Anthologie) und bei Jürgen Stenzel: Die Philosophie Constantin Brunners. Essen 2003 (Brunner im Gespräch 7). 26 Brunner, Lehre (wie Anm. 2), S. 764. Wie bewusst Brunner hier den Begriff Paulsens übernimmt (siehe Friedrich Paulsen: Philosophia militans. Gegen Klerikalismus und Naturalismus. Fünf Abhandlungen. Berlin 1901), ist unklar. 27 Rathenau hatte Brunner am 23. oder 24. März 1919 in Potsdam besucht (siehe Lotte Brunner, Tagebuch [wie Anm. 7]) 24. März 1919). Brunner wohnte mit Blick auf den Tiefen See, einer Ausbuchtung der Havel.



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geschah, war organisch nothwendig, nicht anders zu denken. Die Stunde der Dichtung, die Stunde der Ihren. Ja, Lieber, kommen Sie, und bald. Ich kann Ihnen, ausser meiner Verehrung und Liebe, nur das eine bieten, Freiheit. Ich lebe allein; und die Bewegtheit des Tages, die mich nicht berührt, wechselt mit der Stille des Abends, die mir gehört und Sie erwartet. [...] Es tröstet mich, daß Sie da sind. Ich glaubte, es sei niemand mehr da. (Wie in einem Traum: wenn Alle abgereist sind.) Die Zeit scheint mir wieder wohnbar. Ich drücke Ihnen von Herzen die Hand.28

Auch Gustav Landauer, dessen Freundschaft mit Brunner gleichwohl zunehmend Risse bekam, hob den starken Eindruck hervor, den Brunners Lehre und seine, wie er fand, „vehemente Persönlichkeit“29 auf ihn gemacht hat: Nein. Das ist kein Buch, das man ge­lesen hat. Ich lese es. Ich lese es immer wieder und lese es auch, wenn ich nicht die Augen darauf habe. Und seit ich es lese, ist ein ewiges Arbeiten in mir, ein Hin- und Widersprechen, ein heftiges Aufbäumen und eine Hingerissenheit. Es reißt mich hin und es zerreißt mich. Und manchmal ist mir, als sehe ich vor Augen und spüre es, wie auch der Verfasser sich vor mir zerreißt, um mir sein Herz und in ihm die Wahrheit zu zeigen.30

Ähnlich bewegt war Lou Andreas-Salomé, nachdem Landauer sie auf Brunner aufmerksam gemacht hatte. Sie las mehrfach hintereinander Brunners Lehre und besuchte den Philosophen schließlich in Berlin-Tempelhof. In ihr Tagebuch schrieb sie: „Wie zwei Flammen.“31 Lotte Brunner berichtet von der Begegnung: Den stärksten Eindruck ihres Lebens nennt sie die Lehre. Alles in ihr ist ganz neu davon geworden, alles Alte umgeworfen, und ihr ganzes Leben soll nun im Dienste der Lehre stehn – in welcher Art und Form, das weiß sie noch nicht. Schreiben ist ihr vorläufig unmöglich, sie will überhaupt nichts mehr schreiben, nur noch lesen, die Lehre lesen.32

Selbst für Martin Buber, dem Brunners Grundkonzeption fremd blieb und der insbesondere die Unterscheidung von Geistigen und Volk kritisierte, war Brunner

28 Brief Walther Rathenaus an Constantin Brunner vom 28. März 1919. In: Walther-RathenauGesamtausgabe. Band V, 2, Briefe: 1914–1922. Hg. von Alexander Jaser, Clemens Picht und Ernst Schulin. Düsseldorf 2006, S. 2145. 29 Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 197. 30 Gustav Landauer: Die Lehre von den Geistigen und vom Volke. Ein Gespräch zwischen einem Gebildeten und einem Lernenden. In: Die Zukunft 18, Nr. 3 (16. Januar 1909), S. 98 f. 31 Lou Andreas-Salomé: Tagebucheintragung vom Oktober 1910. Internationaal Constantin Brunner Instituut, NL Leo Sonntag (Abschrift). 32 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 11. Oktober 1910.

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„ein ernster und leidenschaftlicher Denker“.33 Ähnlich sah das Hermann Kasack, der 1924 im Gustav Kiepenheuer-Verlag verantwortlich für die Herausgabe von Brunners Einsiedler34 war. 1932 notiert er in sein Tagebuch, dass er die Schrift durch Zufall in seiner Bibliothek wiederentdeckt habe und nun davon sehr beeindruckt war: Dieses Buch, insonderheit die zweite Hälfte: Vom Unglück unseres deutschen Volkes und unsere Völkischen ist eine ganz erstaunliche Sache! Die Wurzeln des National-Sozialism, der heute so grausig gross geworden ist, sind hier –  1924! – bis ins kleinste aufgeklärt – mit Erkenntnissen, die sich z.T. ganz mit meinen eigenen decken, mit Voraussagen, die heute eingetreten sind: die Herrschaft der Verrücktheit über Deutschland. Es sind Sätze von erschütternder Richtigkeit darin, ganz einwandfrei: Formulierungen und Denkergebnisse. [...] Ein sehr wertvolles, eigenbrötlerisch-tiefes und gültiges Büchlein, das schon 1924 erkannte, dass die wirkliche Regierung bei Hitler und nicht bei der offiziellen dtsch. Regierung war. Sehr gut auch der Satz vom Egoismus als Lebensprinzip der Menschen, als Naturgesetz – was sich so vollkommen mit meiner „Ich“-Theorie deckt! Das Buch liess mich nicht los, ich musste es in einem Zug herunterlesen. Ein reifer, denkender Mensch hat es geschrieben.35

Kasack besuchte daraufhin Brunner in Potsdam, las ihm Kafka vor, den Brunner nicht kannte, und notierte in sein Tagebuch: „Das Wissen ist wohl komplett bei ihm.“36 Offenbar war es schwer, sich dieser charismatischen Persönlichkeit zu entziehen – wenn man denn mit ihr in Kontakt kam. Die große persönliche Nähe, die Brunner dabei stets und zu vielen Menschen aufbaute, belegt sein Briefwechsel und das Tagebuch, das seine Stieftochter Lotte geführt und in dem sie Brunners Begegnungen und Aussprüche festgehalten hat.37 Wir sehen dort, dass die wichtigen Beziehungen Brunners alle sehr persönlich und meist auch recht leidenschaftlich waren. Das beginnt bei seinen frühen Verhältnissen zu Johanna Löwenthal und ihrer Tochter Frida Mond sowie der literarischen Tätigkeit in den 1890er Jahren in Hamburg, hier zum Beispiel sein Verhältnis zu Leo Berg und Ernst Altkirch, und reicht bis zu Ärzten wie Eduard Bäumer, Abraham Buschke, Borromäus Herrligkoffer, Künstlern wie Georg Wienbrack, Fritz Ringler, Moses Barasch oder auch Schriftstellern wie Johannes Gaulke, Fritz Ritter und Rose

33 Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 180. 34 Brunner, Einsiedler (wie Anm. 5). 35 Hermann Kasack: Tagebuchnotiz vom 24. August 1932. Zitiert nach: Heribert Besch: Dichtung zwischen Vision und Wirklichkeit. Eine Analyse des Werkes von Hermann Kasack mit Tagebuchedition (1930–1943). Diss. Saarbrücken 1991. 36 Kasack, Tagebuchnotiz (wie Anm. 35). 37 Brunner, Briefe (wie Anm. 1); Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7).



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Ausländer. Auffällig ist insgesamt eine sehr starke Rezeption bei Frauen, die Brunner vielfach aufsuchten und oft zeitlebens von diesem Eindruck durchdrungen blieben. Trotz dieser Verehrung wurde Brunner weiteren Kreisen nur partiell bekannt. Eine intensivere Auseinandersetzung mit seiner Philosophie wurde von fachphilosophischer Seite nicht geleistet und blieb auch von Seiten seiner Anhänger eher rudimentär – abgesehen von einer Analyse der Spinoza-Rezeption Brunners.38

Der umstrittene Brunner Anders als die Schriften zur theoretischen Philosophie wurde allerdings Brunners Auffassung des Jüdischen und seine Analyse des Antisemitismus von seinen Zeitgenossen durchaus wahrgenommen.39 Brunner hat sich hier deutlich politisch positioniert und sogar durch Zeitungsartikel in die aktuellen Debatten eingegriffen. Über politische Fragen hatte er sich schon intensiv mit Gustav Landauer auseinandergesetzt, dessen sozialistischem Anarchismus er von Anfang an nicht folgen konnte. Mit Martin Buber gab es Diskussionen über das jüdische Wesen, mit Jakob Klatzkin über den Zionismus, mit Joseph Norden über die Jesusfrage im Judentum. Dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, insbesondere dessen Direktor Ludwig Holländer, stand Brunner nahe, auch wenn er ihn insgesamt zu inkonsequent fand. Da für Brunner klar war, dass der Zionismus dem Nationalsozialismus in die Hand spiele, fand er gelegentlich Zuspruch im rechten Lager; aber er vermied hier Kontakte. Schon sehr früh hatte Brunner Rassismus und „teutonischen“ Nationalismus als Wahnideen gebrandmarkt, und er verließ Deutschland nicht ohne Grund schon im April 1933. Die meisten politischen Organisationen blieben Brunner gegenüber skeptisch oder behandelten ihn doch eher mit Vorsicht – so etwa auch der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens.40 Brunners Antizionismus und seine radikale Assimilationsforderung wurden weitgehend zurückgewiesen; selbst der Verein zur Abwehr des Antisemitismus bediente sich nicht der Waffen,

38 Fast alle Brunneranhänger wandten sich auch Spinoza zu und beinahe alle akademischen Arbeiten über Brunner betreffen seine Spinoza-Deutung. Siehe dazu das Literaturverzeichnis in Stenzel, Philosophie als Antimetaphysik (wie Anm. 1), S. 479–500. 39 Das belegen jedenfalls die zahlreichen Briefe in Brunners Briefwechsel, die diesem Thema gewidmet sind. Siehe: Brunner, Briefe (Anm. 1). 40 Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 339.

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die Brunner ihm schon 1918 mit seinem Buch Der Judenhaß und die Juden41 in die Hand gab. 1931 brachte die Redaktion ihre Position, die viele Juden teilten, auf den Punkt: Wir können die leidenschaftliche Diffamierung des Zionismus ebenso wenig gutheißen, wie wir etwa von der totalen Emanzipation die Lösung der Judenfrage oder auch nur das Verblassen ihrer negativen Projektion, des Antisemitismus, erhoffen, abgesehen davon, daß wir eine restlose Emanzipation im Sinne einer völligen Ausmerzung jeder Art von jüdischer Gemeinsamkeit und jüdischer Eigenart für unmöglich halten.42

Ähnlich sah das auch Eva Reichmann, die die Zurückhaltung des Centralvereins gegenüber Brunners Assimilationsforderung – angesichts der heraufziehenden Katastrophe tragisch – so begründete: Auch um das Erlöschen des Judenhasses, um unsere Erlösung von unserer Judennot zu erringen, wäre uns der Preis zu hoch, der da gefordert wird: denn er bedeutet nichts anderes als unseren Untergang als Juden.43

Insgesamt ist festzustellen, dass man damals bei jüdischen Themen Brunner durchaus zur Kenntnis nahm. Es gab vor 1933 zahlreiche Publikationen und Artikel über seine Behandlung der „Judenfrage“, deren Lösung vielen zu radikal schien.44 Eine Kritik an Brunners Philosophie und insbesondere auch an seinem persönlichen Duktus und Pathos gab es schon seit dem Erscheinen der Lehre; einer der schärfsten Kritiker war 1909 der Rezensent Emil Lucka: Der Autor tritt, in den Mantel des Propheten gehüllt, vor die Menschheit hin und hebt an, in üppiger Rede zu predigen, von sich und von der Wahrheit (was beinahe dasselbe zu sein scheint). [...] Man weiß nicht, was man zu diesem völlig gedankenarmen, aber um so wortreicheren Gebaren sagen soll. [...] Brunners Haß gegen alles Tiefsinnige und daher nicht ganz leicht Verständliche hat sich gegen Kant konzentriert, in dem er mit instinktiver Sicherheit den Erbfeind des rüden Naturalismus erblickt. Der ungeheure Widerstreit zwischen Kant und Spinoza wird deutlich eingesehen, und so ist das ganze Buch (von den pri-

41 Constantin Brunner: Der Judenhaß und die Juden [1918]. 5. Aufl. Berlin, Wien 2004. 42 Vorbemerkung der Redaktion zu dem Aufsatz von Karl Borromäus Herrligkoffer: Der Antisemitismus im Lichte Constantin Brunners. In: Abwehrblätter 41, Nr. 8/9 (Dezember 1931), S. 238. 43 Eva Reichmann: Leben oder Untergang? Eine Antwort an Constantin Brunner. In: C.V.-Zeitung 10, Nr. 42 (16. Oktober 1931), S. 495 f. 44 Siehe dazu Jürgen Stenzel: „Die Schlechten sind anders – die Andern sind schlecht!“ Constantin Brunners Antisemitismustheorie. In: Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944. Hg. von Hans-Joachim Hahn und Olaf Kistenmacher. Berlin 2014.



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vaten Schmähvergnügungen und Stilübungen abgesehen) für gewisse populäre Lieblingsmeinungen symptomatisch, die Brunner in ihren letzten Grund, in Spinozas Philosophie, zu verankern sucht [...]. Brunner mißversteht seine Gegner ununterbrochen. [...] An dem ganz überflüssigen Buche fällt einzig auf, daß Brunner keiner jener harmlosen Dilettanten ist, denen einmal irgendetwas einfällt und die ihren Einfall zu einem philosophischen Buch aufbauschen. Er weiß vielmehr genau, wer alles schon gesagt hat, und legt ungewöhnliche Literaturkenntnis an den Tag. Dies muß ihm als belastendes Moment angerechnet werden, denn wer nichts weiß, ist eher zu entschuldigen, wenn er selbst ausgeheckten Unsinn wichtig nimmt. Aber hier wird alles Wissen durch einen geradezu krankhaften Größenwahn zur Unfruchtbarkeit verdammt.45

Ähnlich wie Lucka, wenn auch weniger scharf, hat auch Gustav Landauer 1910 von Brunner gefordert, mit dem „Ankündigen“ und der „Propaganda“ aufzuhören und endlich mit dem Vortrag seiner Philosophie des Geistes zu beginnen.46 Diese, nicht zuletzt 1922 in Unser Christus oder das Wesen des Genies niedergeschrieben, erscheint Paul Baudisch, der den Titel des Buches „marktschreierisch“ nennt, „peinlich“.47 Der Leser werde „überschwemmt von geschwätzigen Phrasen voller pfiffiger Naivität, dozierender Gelehrsamkeit, klügelnder Philosophie im Tonfall eines Wunderdoktors.“ Ein weiteres Jahrzehnt später erneuert Fritz Heinemann in der Frankfurter Zeitung die Kritik an Brunners Stil und macht ihn auch persönlich lächerlich:48 „Der Herr Wertheimer nennt sich Brunner“, amüsiert sich Heinemann. „Der Flug der Worte“ gehe mit ihm durch, „viele Stellen lallen ins Leere, gültige Maßstäbe für sich und andere vermag das Temperament nicht zu setzen. Brunners „zu simple“ Philosophie sei „oedester Materialismus, der sich aber für äußerst ,aktuell‘ hält.“ Brunners „platonische[r] Weg des Verstehens als Ergreifen der absoluten Wirklichkeit“ sei unverständlich, seine Behandlung der „Judenfrage“ unzulänglich, marottenhaft, „ein Verdrängungsphänomen, für das die Psychoanalyse zuständig ist“, und seine Theorie des Judenhasses vereinfachend: „Wie glücklich wäre die Welt, wenn sich die äußerst komplexen, durch eine lange Geschichte belasteten und durch soziale, wirtschaftliche und geistige Momente differenzierten Probleme so einfach lösen ließen.“ Heinemann resümiert:

45 Emil Lucka: Die Lehre von den Geistigen und vom Volk (Rez.), in: Die Zeit, Nr. 2339 (28. März 1909), S. 21 f. 46 Brief Landauers an Brunner (wie Anm. 11), S. 197, 202. 47 Paul Baudisch: Constantin Brunner „Unser Christus oder das Wesen des Genies“ (Rez.). In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 269 (11. Juni 1922), S. 8. 48 Fritz Heinemann: Ein „aktueller“ Philosoph der Zeit. In: Frankfurter Zeitung 64, Nr. 24 (14. Juni 1931), S. 19.

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Eine Persönlichkeit? Zweifellos. Aber ein Original, ein philosophierendes Temperament, das zwischen den Grenzen des Kauzhaften und Primitiven dauernd hin- und hergeworfen wird [...]. Nicht entfernt nach dem Vorgang seiner Anhänger […] mit Nietzsche zu vergleichen, keine Hauptfigur der europäischen Geistesgeschichte, aber doch eine Nebenerscheinung, die in der Oekonomie der Schöpfung wahrscheinlich auch zur Erheiterung des Schöpfers beiträgt.

Dass man das alles ganz anders sehen konnte, wird an einem Artikel im Berliner Tageblatt sichtbar, den der Journalist Leo Hirsch, der schon vorher mehrere Bücher Brunners rezensiert hatte, 1932, anlässlich von Brunners 70. Geburtstag, veröffentlichte und darin die zeitgenössische Rezeption der Philosophie und Persönlichkeit Brunners insgesamt umriss: Brunner ist endlich einmal wieder ein Philosoph, den der Laie lesen kann. Sein Hass gegen alle philosophische Schulmässigkeit und Fachsimpelei ist ein guter Hass, denn Brunner philosophiert fürs Leben und vom Leben, nicht in der Meinung, die Welt zu verbessern, aber in der Zuversicht, sie zu erkennen. Er rückt Vorurteilen auf den Leib, mit einer Heiligkeit und Tiefe, die eines grösseren Auditoriums würdig sind, als dieses Deutschland ihm heute sein kann. Wer heute liest, was Brunner vor acht Jahren gegen den deutschen Nationalismus geschrieben hat, muss betroffen sein von dieser prophetischen Treffsicherheit; all die komplizierte Primitivität der scheinbar nationalen Bewegung, die erst in den letzten vier Jahren gross geworden ist, hatte Brunner nicht nur vorausgeahnt, sondern im Vorhinein auch bis auf die Wurzeln blossgelegt, blossgestellt, und noch von den heutigen Gegnern ist keine ebenbürtige Entlarvung geschrieben worden. Brunners grosses Werk über den Judenhass, vor dreizehn Jahren erschienen, wird für immer die endgültige Formulierung alles dessen bleiben, was je über Antisemitismus zu sagen ist. Man sollte meinen, dass schon die Tendenz diesen Werken und diesem Autor eine enorme Hörerschaft sichern mussten. Tatsächlich gibt es eine Brunner-Gemeinde, die für ihren Meister wirbt und wirkt, aber nur im kleinen Kreise, während die grosse Oef­fentlichkeit nichts von ihm weiss. Tatsächlich ist nicht zu leugnen, dass Brunner ein unbequemer Schriftsteller ist, weil er nicht nur gegen den Antisemitismus, sondern auch gegen jüdische Bewegungen die Konsequenzen zieht, weil er nicht nur den Universitätsprofessoren, sondern auch Kant an den Kragen geht, weil er nicht nur die Theologen aller Fakultäten, sondern auch all ihre Götter von den Thronen stürzt und dazu ein Gelächter anzustimmen versteht, wie es homerischer seit Jahrhunderten kaum noch gehört wurde. Die Folge ist, dass alle Steifleinenen, alle Fachleute ihn totschweigen, dass keine Universität dem gewiss eigensten deutschen Philosophen dieser Zeit ein Ehrendoktorat anbot, geschweige denn eine Professur. Nun, es ist nicht unsere Sache, hier die ewigen Richter zu spielen und Brunners Philosophie auf etwaige Widersprüche zu prüfen. Die gleichen Professoren, die ihn heute nicht kennen, werden das in hundert Jahren mit riesigen Wälzern besorgen. Aber eins bleibt gewiss: es gibt in Deutschland heute keinen besseren Schriftsteller als diesen unbequemen Outsider. Es gibt keinen, der solche Pamphlete schreiben könnte, wie sie Brunner gewissermassen als Blumenstücke seinen grossen Predigten einverleibt, und es gibt keinen Moralisten und keinen sachlichen Darsteller sonst mit einer solchen lutherhaft starken Diktion. Brunner schreibt klar, scharf, bedeutend – und es sollte doch mit



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dem Teufel zugehen, wenn nicht alles für einen Mann zu sagen wäre, gegen den so vieles spricht.49

Brunner im Abseits: Die Rezeption nach 1933 Zu seinem 70. Geburtstag im August 1932 hatte Brunner noch Hunderte von Zuschriften erhalten, der Brunner-Kreis, mit Zentren in Czernowitz, Bukarest, Wien und Berlin, stand in seiner größten Blüte, die 1925 gegründete Constantin Brunner-Gemeinschaft in Berlin, die Schriften von und über Brunner herausgab und Vorträge organisierte, hatte sich etabliert. Ein halbes Jahr später emigrierte Brunner in die Niederlande, wo er zwar noch einige Aufsätze und Bücher verfasste, aber nichts mehr publizieren konnte. Nach und nach emigrierten auch die Berliner Freunde, zunehmend sogar nach Palästina, obgleich sie sich mit dem Zionismus zunächst schwer taten. Brunner pflegte weiterhin einen großen Briefwechsel, bekam aber nur noch wenig Besuch. Als er 1937 starb, war es einsam um ihn geworden. Für seine Familie und seine Freunde stand das Schlimmste erst noch bevor. Nicht wenige wurden wie seine Frau Leoni und seine Stieftochter Lotte deportiert und ermordet. Andere konnten sich mit Mühe retten. Nach dem Zweiten Weltkrieg sortierte sich der Brunner-Kreis neu und schloss sich unter der Leitung von Magdalena Kasch, die den Nachlass Brunners unter größtem persönlichen Einsatz vor den Nazis gerettet hatte, zum Internationaal Constantin Brunner Instituut (ICBI) zusammen. Das Zentrum war und blieb Brunners Exil und letzter Wohnort: Den Haag. Die Brunnerfreunde waren inzwischen in alle Welt zerstreut worden, mit Schwerpunkten in Israel, Rumänien, Kanada, Frankreich und natürlich den Niederlanden. Gemeinsame Treffen waren im Grunde nicht zu organisieren; daher entstand ein umfangreicher Briefwechsel zwischen ihnen, in dem die weiterhin große lebenspraktische Bedeutung Brunners für die Kreismitglieder sichtbar wird, aber auch die Bemühungen um eine Verbreitung von Brunners Denken.50 Veranstaltungen und Publikationen blieben meist intern, so auch die 1946– 1954 in Israel erschienene Zeitschrift Die Constantin Brunner-Gemeinschaft oder auch die 1977–1990 in Den Haag erschienene Philosophia sive Ethica. Üblich waren Abende, an denen gemeinsam aus Brunners Schriften gelesen oder Refe-

49 Leo Hirsch: Constantin Brunner. In: Berliner Tageblatt 61, Nr. 410 (30. August 1932), S. 3. 50 Im Brunner-Archiv (LBI/JMB: III) befinden sich etwa 26.000 Briefe der Mitglieder des Brunnerkreises, die die Geschehnisse und Bestrebungen dokumentieren.

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rate über Brunners Denken vorgetragen wurden. Bei all diesen Aktivitäten blieb man eher unter sich. Und es bestand dabei auch kein richtiges Interesse an einer Einbettung von Brunners Denken in die philosophischen und zeitgenössischen Kontexte. So wunderte sich einst Hans Goetz, als er im Brunner-Kreis in Tel Aviv einen Vortrag über Brunner und Husserl halten wollte, dass man den Namen Husserl dort nicht kannte und offenbar auch nicht sehr an einem Vergleich beider Positionen interessiert war – ein Phänomen, das seinerzeit schon Lothar Bickel beobachtet hat, als er sich vergeblich bemühte, mit der Bukarester Studiengruppe Locke zu lesen. Allerdings gelang es, Neuauflagen der vergriffenen oder in Hitler-Deutschland vernichteten Werke Brunners drucken zu lassen – eine beeindruckende Leistung des Brunner-Instituts, das große Druckkostenzuschüsse für die Herausgabe bei Cotta und Kiepenheuer&Witsch zusammenbrachte. Materialismus und Idealismus51 wurde allein von dem kanadischen Arzt Tullio Laufer finanziert, Unser Christus oder das Wesen des Genies52 von Yehudi Menuhin, der Brunner als seinen „geistigen Mentor“ verehrt hat.53 In den 1960er Jahren wurden auch Brunners Hauptwerk, Die Lehre, und seine anderen philosophischen Schriften neu herausgegeben. Auch erschienen zunehmend Übersetzungen von Aufsätzen oder Anthologien in englischer, französischer, hebräischer und spanischer Sprache sowie Sekundärschriften und Zeitungsartikel über Brunner.54 Dies alles wurde zwar von der Presse durchaus wahrgenommen; aber da diese Publikationen fern jeder akademischen Beteiligung erschienen, fanden sie dort auch keinen Anschluss. Eine Ausnahme bildet nur die Rezeption in Frankreich. Dort entstand nicht nur eine ganze Reihe von Brunner-Übersetzungen, sondern es gab auch eine Diskussion, teilweise in führenden Fachzeitschriften, an der sich zum Beispiel Ferdinand Alquié, André Breton oder auch Albert Camus beteiligten. Viel beachtet wurde die Themennummer Constantin Brunner, un philosophe hors les murs (1862–1937) der von Jean Ballard herausgegebenen

51 Constantin Brunner: Materialismus und Idealismus [1928]. 2. Aufl. Köln, Berlin 1959. 52 Brunner, Christus (wie Anm. 23). 53 Zur Rezeption Yehudi Menuhins siehe: Musik im Dienste der Humanität. Zur Brunnerrezeption Yehudi Menuhins. Hg. von Johannes Peters. Essen 2002 (Brunner im Gespräch 6). 54 Eine Bibliographie der Übersetzungen von Brunnertexten findet sich im Anhang. Eine Bibliographie der Sekundärliteratur siehe unter http://www.constantinbrunner.net/Deutsch/ Literatur_files/Gesamtbibliographie%20Constantin%20Brunner.pdf (18.6.2013).



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Zeitschrift Cahiers du Sud.55 Hervorzuheben ist nicht zuletzt auch das Buch von Michaël Baraz La Révolution inespérée, Constantin Brunner.56 Neben Yehudi Menuhin urteilten vereinzelt auch andere sehr positiv über Brunner. So Albert Schweitzer, der in Brunner einen „Gesinnungsgenossen“ sah,57 oder auch Leo Baeck, wenn er äußerte: „Constantin Brunner stand mir geistig immer nahe. Er war ein Mann von eigenem Gepräge und von dem Mute, immer in allem Wechsel und Wandel an sich festzuhalten.“58 Ähnlich urteilte Werner Heisenberg, der zwar Brunners physikalische Anschauungen als zeitbedingt zurückwies, sein philosophisches Anliegen aber durchaus positiv bewertete: Auch beim genaueren Lesen hat sich mir der Eindruck bestätigt, daß es sich um einen Philosophen handelt, der die menschlichen Probleme mit großem Ernst durchdenkt und der jede Achtung verdient. Brunner scheint mir manchmal in seinem Urteil reichlich apodiktisch zu sein – so als ob er nicht wüßte, wie schwer die berühmte Frage des Pilatus „Was ist Wahrheit“ zu beantworten ist – aber wahrscheinlich hat er diese Form nur gewählt, um seine Leser aufzurütteln und zum Denken zu zwingen.59

Und Max Horkheimer, eine Ausnahme unter den Fachphilosophen, gab seiner Verehrung für Brunner recht unumwunden Ausdruck: Wenngleich ich emeritierter Professor der Philosophie und Soziologie bin, wurde ich erst in den letzten Jahren mit einigen Schriften von und über Constantin Brunner bekannt. Da ich von dem, was ich da las, zutiefst berührt war, habe ich in mehreren Vorträgen darauf Bezug genommen. [...] Es ist mir eine Freude, Ihnen meine Verehrung für den grossen Denker zu bestätigen.60

Auch Hugo Bergmann hielt Brunner für einen bedeutenden jüdischen Phi­lo­ sophen,61 und so verwundert es nicht, dass er 1960 zusammen mit Martin Buber, Max Brod, David Ben-Gurion und zahlreichen anderen israelischen Intellektuel-

55 Constantin Brunner, un philosophe hors les murs (1862–1937). D.i.: Cahiers du Sud (51me Année, No. 375, Tome LVII, Déc. 1963 – Janv. 1964). 56 Michaël Baraz: La Révolution inespérée, Constantin Brunner. [Paris] 1986. Zur französischen Rezeption siehe auch: Leo Sonntag. Ein jüdisches Emigrantenschicksal. Hg. von Jürgen Stenzel. Essen 1994 (Brunner im Gespräch 1). 57 Brief Albert Schweitzers an Magdalena Kasch vom 31. März 1956. LBI/JMB: III, 1, 13, 2. 58 Zitat aus einem Brief Leo Baecks. LBI/JMB: I, 1, 1, 1 (Abschrift). 59 Brief Werner Heisenbergs an Gerhard Berger vom 30. Juli 1959. LBI/JMB: III, 1, 16, 5. 60 Brief Max Horkheimers an Magdalena Kasch vom 21. Februar 1972. LBI/JMB: III, 1, 28, 7. In den publizierten späten Vorträgen Horkheimers findet sich allerdings kein Hinweis auf Brunner. 61 Brief Hugo Bergmanns an das Cultural Advisory Committee, Conference for Jewish Claims vom 6. Mai 1955. LBI/JMB: III, 1, 12, 2.

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len für eine Neuveröffentlichung der vernichteten Werke Brunners eintrat: „Wir sind überzeugt, daß hiermit eine Tat von weitreichender kultureller Bedeutung geschehen würde“, hieß es da.62 Bergmann setzte sich auch für eine hebräische Übersetzung ein.63 Als sich dann aber Siegfried Unseld 1976 für eine Inverlagnahme des Brunnerschen Œuvres interessierte und Gershom Scholem um seine Einschätzung bat – fiel das Urteil vernichtend aus: Brunner [...], dessen meiste Schriften ich gelesen habe, gehört zu den mir widerwärtigsten Autoren der deutsch-jüdischen Sphäre. Seine Schriften sind mir unerträglich, seine Haltung als praeceptor mundi, besonders praeceptor Judaeorum, lächerlich, wenn nicht geradezu abscheulich, und seine Stellung als Sektenhaupt (einer der manchen deutschjüdischen Sekten, die leugneten eine zu sein) mobilisierte seit je alle meine Anti-Stoffe!64

Scholems Kritik entzündete sich vor allem an Brunners Haltung zu jüdischen Fragen, und er hat damit auch andere (bis in unsere Gegenwart) beeinflusst. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Brunners „Judenbücher“ nicht mehr ernsthaft und öffentlich diskutiert.65 Einer der Gründe dafür war sicher auch, dass diese Bücher nicht wieder in den Buchhandel kamen. In ihnen hatte Brunner seine Anthropologie, Gesellschafts-, Staats- und Geschichtsphilosophie am Beispiel der „Judenfrage“ dargelegt und sich dabei in äußerst scharfen Polemiken sehr klar zwischen die Stühle gesetzt: Er kämpfte sowohl gegen die Deutschnationalen und den Nationalsozialismus als auch gegen den Zionismus. Seine Staatsauffassung, in der rassische und religiöse Gründe, sowie unterschiedliche Herkünfte der Bürger keine Rolle spielen, ist zwar sehr modern, aber seine häufig wiederholte, heftige Zurückweisung des Zionismus war schon in seiner Gegenwart umstritten und musste nach der Gründung des Staates Israel erst recht problematisch erscheinen. Selbst im Brunnerkreis war seine antizionistische Position schwierig. In Israel hatte sich die größte Brunnergruppe etabliert, und sie drohte dem Internationaal Constantin Brunner Instituut in Den Haag bei Verbreitung und Neuveröffentlichung der „Judenbücher“ mit Bruch. So kam es, dass Brunners Nachlassverwalter Lothar Bickel schon 1951 Brunners 1932/33 geschriebenes Manuskript Der entlarvte Mensch von – seiner Meinung nach – zeitbedingten und nach dem Krieg

62 Aufruf des Internationaal Constantin Brunner Instituut zur finanziellen Förderung des Wiederabdrucks der Werke Brunners. Archiv des Internationaal Constantin Brunner Instituut. 63 Brief Bergmanns an das Cultural Advisory Committee (wie Anm. 61). 64 Brief Gershom Scholems an Siegfried Unseld vom 3. Juni 1976. In: Gershom Scholem: Briefe. Bd. III: 1971–1982. Hg. von Itta Shedletzky. München 1999. S. 137 f. 65 Eine Ausnahme bildet ein Aufsatz von Frederick Ritter: Constantin Brunner und seine Stellung zur Judenfrage. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts, Neue Folge 14, Nr. 51 (1975), S. 40–79.



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nicht mehr gültigen Auffassungen bereinigt herausgab, während die vollständige Fassung von Magdalena Kasch nur in einem Privatdruck erschien – ebenso wie das Vermächtnis, eine Sammlung von nachgelassenen Aufzeichnungen, in denen Brunners Überzeugung deutlich wird, dass Hitlers Machtübernahme nichts an seiner Einstellung zur „Judenfrage“ und zum Zionismus geändert hat.66 Auch die über den Krieg geretteten Restexemplare des Einsiedlers und des Pflichten-Buches kamen nicht in den Buchhandel.67 Ebenso Der Judenhaß und die Juden, Der Judenhaß und das Denken und Höre Israel und Höre Nicht-Israel (Die Hexen), die zwar von Magdalena Kasch in den siebziger Jahren fotomechanisch nachgedruckt wurden, aber nur auf Anfrage beim Brunner-Institut zu beziehen waren.68 Dagegen kamen die Neuauflagen von Aus meinem Tagebuch und Memscheleth sadon zwar direkt in den Handel, es wurden darin allerdings antizionistische Passagen einfach weggelassen: Im Falle des Tagebuchs ohne Kennzeichnung, im Falle von Memscheleth sadon mit einer Begründung des Herausgebers Heinz Stolte, die der Auffassung Bickels ähnelt.69 Auffallend ist also, dass die Brunner-Herausgeber eine Zeitbedingtheit Brunners und seine antizionistische Position in den Hintergrund drängen wollten.70 Erst Anfang der neunziger Jahre gab die israelische Brunnergruppe ihren Widerstand auf und die noch vorhandenen „Judenbücher“ wurden im Verzeichnis lieferbarer Bücher gelistet, beziehungsweise, wie Der Judenhaß und die Juden,71 dann auch neu herausgegeben. Das Zurückhalten dieser Schriften hat schon Hermann Levin Goldschmidt 1974 scharf kritisiert: Brunners „Anprangerung des Judenhasses als Hasses, für den die Juden nur zum Vorwand dienen“, sei „bahnbrechend“. Gerade weil Brun-

66 Constantin Brunner: Der entlarvte Mensch. Hg. von Lothar Bickel. Den Haag 1951 (gekürzte Ausgabe). Mit einem Geleitwort von Magdalena Kasch hg. vom ICBI. Den Haag 1953 (vollständige Ausgabe). – Constantin Brunner: Vermächtnis. Hg. vom ICBI. Den Haag 1952. 67 Brunner, Einsiedler (wie Anm. 5). – Brunner, Pflichten (wie Anm. 18). 68 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 41), Nachdruck [o.O.] 1974. – Constantin Brunner: Der Judenhaß und das Denken [1922]. Nachdruck [o.O.] 1974. – Constantin Brunner: Höre Israel und Höre Nicht-Israel (Die Hexen) [1931]. Nachdruck Den Haag 1974. 69 Brunner, Aus meinem Tagebuch (wie Anm. 3). – Constantin Brunner: Memscheleth sadon. Letztes Wort über den Judenhaß und die Juden [1920]. Neuauflage unter dem Titel: Die Herrschaft des Hochmuts (Memscheleth sadon). Letztes Wort über den Judenhaß und die Juden. Mit einem Geleitwort von Heinz Stolte hg. vom ICBI. Stuttgart 1969. 70 Eine Zeitbedingtheit wurde auch dadurch zu vermeiden versucht, dass man in den Neuausgaben die Rechtschreibung und zum Teil auch veraltete Begriffe modernisiert hat. 71 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 41).

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ners „Judenbücher“ auch viel Zeitgebundenes enthielten, seien sie „besonders aufschlußreich“ und müssten daher vollständig ediert werden.72 In den letzten Jahren wird Brunner in einschlägigen Werken zur Judenfrage häufiger genannt, etwa bei Barkai und Hambrock,73 wenn es auch immer noch keine grundlegende Arbeit über seine Auffassung des Jüdischen und seine Antisemitismuskritik gibt. Das gilt natürlich erst recht auch für Brunners eigentliches Anliegen: seine Philosophie. Es gibt zwar inzwischen übersichtliche Darstellungen seines Denkens,74 aber kritische Detailanalysen und die Untersuchung der Frage, wie Brunners Philosophie in die zeitgenössischen und die aktuellen philosophischen Diskurse passt, fehlen noch fast völlig. Immerhin ist festzuhalten, dass heute keine Rezeptionsbarrieren mehr bestehen. Der Kreis der Brunnerverehrer, der wesentlich von Brunners direktem charismatischen Einfluss geprägt war, existiert nicht mehr. Damit ist auch das Interesse weggefallen, ein bestimmtes Brunner-Bild zu zeichnen und gewisse Aspekte zu unterdrücken. Über Brunners Antizionismus darf nunmehr gesprochen werden, Brunners Schriften sind über den Buchhandel erhältlich und sein Nachlass ist online zugänglich. Zudem hat von Seiten der Brunner-Stiftungen eine Annäherung an die akademischen Methoden stattgefunden. Wissenschaftliche Untersuchungen wurden gefördert und durchgeführt – das ist ohnehin das erklärte Ziel der 1975 in Hamburg etablierten zweiten Brunner-Stiftung, dessen Vorsitzender bis zu seinem Tod 1992 der Literaturprofessor Heinz Stolte war. Einer der Meilensteine auf diesem Weg war 1982 die akademische Abschlussarbeit von Hans Goetz, aus Kopenhagen, die unter dem Titel Leben ist Denken 1987 auch in Deutschland sowie 1995 in englischer Übersetzung in den USA erschien.75 Mit der Versachlichung – keine pathetischen Bekenntnisse mehr, in denen Brunner zum größten Philosophen aller Zeiten hochstilisiert wird, aber auch keine emotionalen Ablehnungen mehr, wie wir sie noch von Scholem kennen – gelang seit den neunziger Jahren immer öfter auch eine akademische Anbindung,

72 Hermann Levin Goldschmidt: Behutsame Halbheit. Constantin Brunners „Judenbücher“. In: Allgemeine jüdische Wochenzeitung 37, Nr. 39 (13. September 1974), S. 56. 73 Avraham Barkai: „Wehr dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893–1938. München 2002, S. 238–245. – Matthias Hambrock: Die Etablierung der Außenseiter. Der Verband nationaldeutscher Juden 1921–1935. Köln 2003, S. 47 f. und S. 420–422. 74 Zum Beispiel Matthes, Brunner (wie Anm. 25) und Stenzel, Philosophie (wie Anm. 25). 75 Hans Goetz: Liv er tænkning. Hovedlinier i Constantin Brunners filosofi og erkendelsesteori. København 1982. Dtsch.: Leben ist Denken. Eine Schrift zur Renaissance der Philosophie des deutschen Denkers Constantin Brunner. Hg. von Heinz Stolte. Frankfurt a.M. 1987. Engl.: To Live is to Think. The Thought of Twentieth-Century German Philosopher Constantin Brunner. Middletown 1995.



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abzulesen unter anderem an den Teilnehmern der Brunner-Tagung, die 1995 in Hamburg stattfand.76

Fazit Mit seinem lebenspraktischen Ziel, eine geistige Besinnung anzustoßen, hat Brunner, besonders zu Lebzeiten, eine sachlich-distanzierte Rezeption seines Denkens erschwert. Zugleich hat er sich außerhalb der zeitgenössischen philosophischen Debatten gehalten und diese auch kaum rezipiert. Umgekehrt wurde Brunners Denken in der Fachphilosophie schon damals und bis heute fast nicht zur Kenntnis genommen – eine Ausnahme bildet nur seine Spinoza-Rezeption. Hinsichtlich seiner politischen Philosophie verhält sich die Rezeption fast umgekehrt: Brunners Schriften zur „Judenfrage“ wurden von seinen Zeitgenossen durchaus wahrgenommen und diskutiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien jedoch vor allem seine antizionistische Position problematisch – sogar für Teile des Brunnerkreises. Seit den neunziger Jahren sind die „Judenbücher“ Brunners wieder zugänglich, und gerade diese Aspekte von Brunners Denken finden seitdem verstärkt Beachtung. Wirkungsreich war auch Brunners Persönlichkeit, die von Freunden, aber auch von Kritikern seines Denkens als bemerkenswert eingeschätzt wurde. Brunner war ein Monolith mit charismatischer Wirkung. An seinem philosophischen Ernst, der Lebensnähe seines Denkens, seinem sittlichen Ethos und der literarischen Qualität seiner sehr persönlichen Schriften bestand und besteht kein Zweifel.

76 Siehe dazu den Sammelband der Vorträge (wie Anm. 1).

II. Kulturkritik

Peter Sprengel

„Da sollte einmal erbarmungslos aufgeräumt werden“. Die literarische Moderne im Visier des Zuschauers Erkenne Dich Selbst! – unter diesem wahrhaft apollinischen Titel vertrieb ein geschäftstüchtiger Verleger des späten 19. Jahrhunderts Gedenkalben, die sich vom gängigen Poesiealbum durch ein akribisches Fragebogen-Schema unterschieden – mit einem weiten Spektrum, das von der Lieblingsspeise bis zum Lieblingsberuf reichte. Aus dem Besitz von Brunners späterer Frau Rosalie (Leoni) Müller-Auerbach haben sich zwei derartige Alben erhalten, die einen gleichsam voyeuristischen Einblick in die mentale Ausgangslage vor und bei der Gründung der Hamburger Zeitschrift Der Zuschauer 1893 erlauben. Denn wichtige Freunde Brunners haben hier – zum Teil sogar wiederholt – recht ungeschützte Auskünfte über ihre persönlichen Vorlieben und Abneigungen gegeben und nicht zuletzt Brunner selbst, der allerdings gleich doppelt gegen den Schema-Zwang revoltierte, den apollinischen Auftrag der Selbstbefragung und -erkenntnis dabei letztlich um so ernster nehmend. Auf die Seite, die eigentlich für sein Porträtphoto vorgesehen war, schreibt er ein Sonett über die Veränderlichkeit und Vielfalt seiner Identität: „Ein Bild von meinem Wesen willst Du schauen? / Kennst Du das weite Meer […].“1 Schließlich gibt er nach einer Bemerkung über den „Erzschlaukopf“ von Album-Herausgeber das vorgegebene Frage-Antwortschema zugunsten einer rhapsodischen Darstellung seiner charakterlichen Paradoxien gänzlich auf. Schon seine vorherigen Eintragungen zeigen jedoch eine bemerkenswerte Gespaltenheit, vor allem in Fragen der Bildung und Literatur. Als Lieblingsschriftsteller nennt Brunner die „großen Ironiker, die Universalheiligen“; auch möchte er einen Augenblick aus sich herausgehoben sein, um sich selbst von außen zu betrachten und über das Verhältnis Subjekt–Objekt „eine Zeile in das Buch der Weltlitteratur [zu] schreiben.“ Andere Bausteine der Selbstcharakteristik dagegen stellen den Wert der Bildung und der Literatur radikal in Frage. Auf die Frage „Wo möchtest Du leben?“ antwortet er: „Wo’s keine Litteratur und keine Bücher giebt.“ Seine „unüberwindliche Abneigung“ gilt der „Cultur“ und „Bildung“

1 Jüdisches Museum Berlin / Archiv des Leo Baeck Instituts New York, Constantin Brunner Collec­ tion 1866–2010 [im Folgenden: LBI/JMB], I, I, 6, 2.

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(letztere von Brunner selbst in Anführungszeichen gesetzt) und hier wiederum – was die aktuelle kulturelle Situation betrifft – den „erbärmlichen Realismiaden der impotenten, unverschämten ‚Naturalisten‘“ (dieses Wort gleichfalls in Anführungszeichen) sowie dem „pestilenzialischen Geruch ihrer Dramen“. Die Bildungskritik, die er als Philosoph später systematisiert und weiterverfolgt hat,2 klingt auch in der Antwort an, die Brunner seinerzeit auf die Frage nach seiner „Idee von Unglück“ gibt: „Unsere Erziehung“. Merkwürdig allerdings ist die Fortsetzung: „und Bergs grünliche [oder: grämliche?] Charakteristik meiner Person auf seinem Blatt in diesem Album.“ Brunner bezieht sich dabei auf die Aussagen seines Freundes und angehenden Herausgeberkollegen Leo Berg in dessen zweitem Gedenkalbumeintrag vom 29. November 1892. Ein knappes Vierteljahr vor dem Erscheinen des Zuschauers hatte Berg darin seine Vorstellung des Unglücks mit sehr verschiedenen Beispielen veranschaulicht: „Ein verlorenes Schuhband, der Dalles, mit verdorbenen Augen vor einer Flasche Cliquot sitzen, mit tauben Ohren dazu sitzen, wenn Bülow eine Symphonie von Beethoven dirigiert“ – nach einem Gedankenstrich fügte er als fünftes, speziell an die Besitzerin des Albums und ihren Verehrer adressiertes Beispiel an: „einen so liebenswürdigen u. begabten Kerl wie unseren gemeinsamen Freund Leo Wertheimer sich in kleinlichen Augenblicks-Geniestreichen und Witzeleien verzetteln zu sehen.“ Offenbar hatte Berg einiges vom gesellig-humoristischen Treiben im Hamburger Verein Atta Troll3 und den „Blödsinnsverhältnissen“ mitbekommen, die den dreißigjährigen Brunner mit frühen Freunden wie Otto Ernst und Ernst Müller-Holm verbanden.4 Brunner scheint sich die Mahnung des Kritikers zu Herzen genommen zu haben. Nicht umsonst umschreibt er seine Wunsch-Identität in der dasselbe Gedenkbuch abschließenden Selbstcharakteristik mit „ein Mann von Energie, ein ganzer Kerl“. Im gleichen Sinn antwortet er dort auf die Frage „Welcher Beruf scheint Dir der beste?“ mit der Erklärung: „Der eines Vereinsgründers zur Ausrottung der Cultur.“ Und genau das scheint er mit der Gründung des Zuschauers angestrebt zu haben: eine Abschaffung der herrschenden „Cultur“ in Anführungszeichen. Auf der anderen Seite war die kurzlebige Zeitschrift natürlich ein typisches Produkt jenes literarischen Lebens, gegen das sich Brunner mit den zitierten kulturkonservativen oder kulturrevolutionären Bemerkungen wandte. Sie war ein wirtschaftliches Unternehmen und als solches nur möglich durch eine erheb-

2 Vgl. Constantin Brunner: Unsre scholastische Bildung. In: Vom Einsiedler Constantin Brunner. Potsdam 1924, S. 55–76. 3 Vgl. Constantin Brunner: Vom Geist und von der Torheit. Hg. vom ICBI. Hamburg 1971, S. 93 f. 4 Vgl. Brunner, Einsiedler (wie Anm. 2), S. 27 f.



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liche finanzielle Beteiligung des Hamburger Zigarrenfabrikanten Georg Müller, eines Großneffen Brunners (und damaligen Ehemanns der uns bereits bekannten Gedenkalbumbesitzerin); mit der Auflösung ihrer Ehe und der zunehmenden Hinwendung Leonis zu Brunner war selbstverständlich auch das Ende der geschäftlichen Verbindung vorgezeichnet. Dass sich damals zu Brunners Leidwesen kein Käufer für die Zeitschrift fand,5 sagt wohl Einiges über ihre ökonomische Entwicklung. Als Mittel zur Erlangung beruflicher Unabhängigkeit erwies sich Der Zuschauer somit ebenso als Fehlschlag wie das Litterarische VermittlungsBureau, die knapp anderthalb Jahre zuvor – gleichfalls in Hamburg – gegründete (und bis 1894 von Georg Müller als Geschäftsführer geleitete) Literaturagentur, über die Brunner 1891 rechtfertigend gegenüber seiner „mütterlichen Freundin“ Johanna Löwenthal schrieb: Warum aber sollte ich nicht ein Unternehmen willkommen heißen, das mir nach einiger Zeit (vielleicht schon nach einem Viertel- oder halben Jahre) alle schweren materiellen Sorgen abzunehmen verspricht und dabei solcher Art ist, daß es in engster Weise mit meinem eigentl. Berufe zusammenhängt, mir die Bekanntschaft der für denselben gewichtigsten und maßgebenden Persönlichkeiten ungezwungen vermittelt und somit meine eigenen Angelegenheiten fördert. Ich zweifle kaum daran, daß ich nun auch mit meinen eignen großen Arbeiten schneller durchdringen werde, da ich ein großes Organ geschaffen habe, welches für mich arbeiten wird so gut wie für Fremde.6

Sollte der Briefschreiber dabei wirklich nur an seine unvollendete Dissertation gedacht haben?7 Eher verweisen diese Sätze doch auf eine Betätigung im eigentlichen literarischen Feld. In dieses „vermittelt“ sich Brunner der Intention nach ebenso durch das Litterarische Vermittlungs-Bureau wie ab 1893 durch den Zuschauer, und das gilt in besonderer Weise für das ehrgeizigste Projekt, das er darin verfolgte: die anfangs wohl als Anleitung für die von der Agentur betreuten Autoren angelegte Schrift Zur Technik des künstlerischen Schaffens, für die Brunner in Form einer Umfrage tatsächlich mit den „gewichtigsten und maßgebenden Persönlichkeiten“ der literarischen Szene in Kontakt trat. Mochte Leo Wertheimer von Ländern träumen, „wo’s keine Litteratur und keine Bücher giebt“ – für Constantin Brunner traf das damals nicht so ganz zu.

5 Vgl. seine Briefe an Leo Berg vom 13.3.1895 u. [1895] (LBI/JMB, II, 1, 9). Ich danke Dr. Jürgen Stenzel, Universität Göttingen, für die Mitteilung einer vorläufigen Transkription des Briefwechsels sowie für weitere grundlegende Hinweise im Vorfeld meines Vortrags. 6 An Johanna Löwenthal, 7.8.1891. In: Constantin Brunner: Ausgewählte Briefe 1884–1937. Hg. von Jürgen Stenzel und Irene Aue-Ben-David. Göttingen 2012, S. 59. Zur Bedeutung der Adressatin für Brunner vgl. den Kommentar zu seinem Brief vom 2.1.1884: ebd., S. 45. 7 So der Kommentar in: Brunner, Briefe (wie Anm. 6), S. 59.

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Der Zuschauer erschien knapp zwei Jahre lang: vom 15. Februar 1893 bis zum 3. Februar 1895, und zwar im Unterschied zu anderen erfolgsarmen Journalprojekten in immer kürzeren Abständen, nämlich im ersten Jahrgang als Monatsschrift, im zweiten als Halbmonatsschrift und in den letzten fünf Heften als Wochenschrift; ab Anfang 1894 ist jeder zweiten Nummer die satirische Beilage Pasquino beigegeben. Als Verlag wird zunächst das Litterarische Vermittlungs-Bureau, später Der Zuschauer selbst genannt, aber mit derselben Adresse (2. Durchschnitt 16 im damaligen Vorort Rotherbaum8). Über das wechselnde Gesicht der Zeitschrift und ihre Verbindung mit dem Hamburger Kulturleben hat Günter Wirth 1995 aus historischer Perspektive eine gründliche Studie vorgelegt.9 Die folgenden Ausführungen verstehen sich als Ergänzung aus literarischer oder literaturgeschichtlicher Perspektive, und da lohnt es sich, im Grunde schon beim Titel anzufangen, dessen vollständige Form im ersten Jahrgang lautet: Der Zuschauer. Monatsschrift für Kunst, Litteratur, Kritik und Antikritik. Den Obertitel erklärte Brunner seiner Stieftochter Lotte drei Jahrzehnte später quasi autobiographisch, nämlich als Reflex seines einstigen Abschieds vom Dichtertraum: „ich bin da doch nur Zuschauer gewesen; ich habe auch nicht umsonst die Zeitschrift Der Zuschauer genannt.“10 Wesentlich plausibler nimmt sich demgegenüber Wirths Hinweis auf die anfangs erkennbare Theater-Orientierung des Blattes aus,11 ein Argument, das auch angesichts der Parallele zu Lessings Hamburgischer Dramaturgie Gewicht erhält. Überhaupt scheint das 18. Jahrhundert als historischer Bezugspunkt Bedeutung zu besitzen. Zunächst einmal erweist sich der Obertitel als schlichte Übersetzung des Titels des international einflussreichsten moralischen (wie man damals sagte) Periodikums des Aufklärungszeitalters, nämlich der von Joseph Addison, zeitweilig zusammen mit Richard Steele, herausgegebenen Tageszeitung The Spectator (1711–1714, mit Unterbrechung 1712). In einem Aufsatz, der das Verhältnis des Zuschauers zum Publikum zum Thema, also

8 Schon 1916 war das „Haus, worin das literarische Büro gewesen, nicht mehr festzustellen“ (Lotte Brunner: Constantin Brunner im Tagebuch von Lotte Brunner. LBI/JMB: I, 2, 1, 9 f., Eintrag vom 10. Oktober 1916). 9 Günter Wirth: Mehr als ein Hamburger „Zuschauer“. Constantin Brunner und die von ihm inspirierte Zeitschrift vor 100 Jahren. In: „Ich habe einen Stachel zurückgelassen …“ Beiträge zum Constantin-Brunner-Symposion Hamburg 1995. Hg. von Jürgen Stenzel. Essen, S. 33–81. Die Studie ist ohne Kenntnis der heute im Jüdischen Museum Berlin befindlichen Hefte des Jahrgangs 1895 entstanden. 10 Aufzeichnung vom 10.2.1924 in: Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 8), S. 498. 11 Wirth, „Zuschauer“ (wie Anm. 9), S. 42 f.



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gewissermaßen programmatischen Charakter hat,12 zitiert Brunner sogar ausführlich aus einem Spectator-Artikel Addisons. Wie stark sich der durch die Hamburger Lokalität nahegelegte Rückbezug auf Lessings Kunstrichtertum und die aus seinen Literaturfehden bekannten Repliken und Dupliken auswirkte, zeigt erst recht der Untertitel Monatsschrift für Kunst, Litteratur, Kritik und Antikritik, der im Editorial der ersten Nummer wie folgt begründet wird: Wir geben freiester Meinungsäußerung das Wort. Wir wollen der Kritik die Antikritik beigesellen. Wir glauben auf diese Weise nicht nur das Vertrauen zu der Unbefangenheit unsres Urteils zu stärken, sondern dadurch auch einer Verständigung zwischen den streitenden Parteien eher die Wege zu bahnen. Freilich müssen wir dabei auch auf ein williges Entgegenkommen und eine maßvolle Haltung von seiten der Schriftsteller rechnen, denn es liegt wahrlich nicht in unsrer Absicht, dieses Blatt zu einem Tummelplatz für wüste litterarische Fehden zu entwürdigen […].13

Die Einrichtung eines sogenannten „Sprechsaals“ für Leserzuschriften allgemein und Entgegnungen rezensierter Schriftsteller insbesondere geht sicher zunächst auf den Mitherausgeber Berg zurück, der schon 1886 in einer von ihm selbst redigierten Zeitschrift Kritische Betrachtungen über die Kritik veröffentlichte und zwei Jahre später unter der provozierenden Überschrift Haben wir überhaupt noch eine Litteratur? melancholische Überlegungen zum gründerzeitlichen Verfall des aufklärerischen Kommunikationsmodells von Autor, gleichberechtigtem Kritiker und Leser anstellte.14 Auf der anderen Seite entsprach diese selbstreflexive Thematisierung der Kritik auch einem primären Interesse Brunners, der sich in einem Rückblick von 1910 sehr offen über die mangelnde Kritikfähigkeit seines verstorbenen Freundes, des Lyrikers Detlev von Liliencron aussprach: „Liliencron war unkritisch überhaupt, und also auch gegenüber der Lyrik. Es fehlte ihm an der kritischen Anlage, nicht etwa nur an der Schulung […]. Er war unkritisch gegen sich selbst […] – und er war unkritisch gegen andere.“15 So unkritisch, dass er jeden Möchtegern-Lyriker, der ihm Gedichte zusandte, in den Himmel hob – weshalb Brunners einschlägiger, durch die Veröffentlichung von Liliencrons Briefen (1910)

12 Constantin Brunner: An unseren lieben Freund Publikum. In: Der Zuschauer 2, 6 (15.3.1894), S. 268–270, hier: S. 269. Das 1773 in Matthias Claudius’ Zeitschrift Der Wandsbecker Bothe erschienene Gedicht Der Autor mit den Zeilen „Was wär’ ich / Ohne Dich, / Freund Publikum!“ wurde zeitweise Goethe zugeschrieben; vgl. Weimarer Ausgabe XXXVI, S. 66. 13 Die Redaktion des Zuschauers: [Ohne Titel]. In: Der Zuschauer 1, 1 (15.2.1893), S. 1. 14 Vgl. Leo Berg: Im Netzwerk der Moderne. Briefe 1884–1891. Kritiken und Essays zum Naturalismus. Hg. von Peter Sprengel. Bielefeld 1910, S. 14 u. 23. 15 Brunner, Geist (wie Anm. 3), S. 89.

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ausgelöster Essay auch den bezeichnenden Titel Liliencron und alle seine unsterblichen Dichter trägt. Er benennt darin auch einen einleuchtenden Grund für das Defizit seines Freundes: nämlich dessen spontane dichterische Erregbarkeit, die ihn jeden fremden Text um- und weiterdichten ließ, damit aber jede objektive Analyse ausschloss. Die Betrachtungen zum Auftrag und zur aktuellen Lage der literarischen Kritik, die Brunner im Oktoberheft des Zuschauers 1893 anstellte, scheinen dagegen von einem Spannungsverhältnis zwischen Poesie und Reflexion nichts zu wissen, setzen sich vielmehr vehement für ein versöhnliches Zusammenwirken von Dichter und Kritiker ein: „Kunst kann nicht ohne Kritik sein.“ − „Die beste Kritik, die ein Autor erfahren kann, ist die Selbstkritik. Nächst dieser aber ist der einsichtsvolle Kunstrichter sein getreuester Freund.“ Brunners Polemik wendet sich sowohl gegen die Verteufelung der öffentlichen Meinung, wie er sie in der Philister-Schelte der Romantiker wie der Naturalisten wiederzufinden glaubt, als auch gegen die aggressive Zuspitzung der Kritik ins Verletzende und Ungerechte. Denn letzten Endes hat sich nach Brunners damaliger Meinung die Kritik dem Kunstwerk unterzuordnen: Wenn sich vor ihm das Heiligtum der Poesie aufschließt, da wird auch kein für die Schönheit empfängliches Gemüt darauf aus sein, dem Hohenpriester in die künstlerischen Eingeweide zu gucken, da wird der echte Jünger der Kritik selbstvergessen lauschen, und wenn er anderen davon erzählt, wird er wie ein begeisterter Apostel des Meisters erscheinen, auf dessen Antlitz noch ein verklärender Wiederschein [sic] ruht und dem sich die Rede selbst zum Gesange erhebt.

Solch ehrfürchtige Zurückhaltung ist für Brunner aber nur gegenüber dem absoluten Meisterwerk geboten. Da es in der Kunst, wie er zwei Absätze später erklärt, keinen Mittelstand gibt, muss der Kritiker konsequent zwischen Spreu und Weizen sondern und drohenden Geschmacksverirrungen mit Entschiedenheit entgegentreten: „Der Kritiker ist der litterarische Nachtwächter, der auszurufen hat, welche Stunde es geschlagen auf der litterarischen Uhr, und der das arglose Publikum vor gefährlichen Eindringlingen bewahren soll.“16 Im Folgenden ist zu fragen, ob sich Der Zuschauer bewusst war, welche Stunde es im Zeitraum 1893/94 auf der literarischen Uhr geschlagen hatte, und wie er seine Verantwortung für das Publikum wahrzunehmen versuchte. Was die

16 Constantin Brunner: Auch für allerlei Leute. In: Der Zuschauer 1, 9 (15.10.1893), S. 277–283, hier S. 278–280.



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literarhistorische Konstellation angeht,17 so hatte der Naturalismus als die erste große epochale Bewegung der Moderne zur Zeit des Zuschauers seinen Höhepunkt erreicht oder eigentlich schon überschritten. Hauptmanns Weber, 1892 im Druck erschienen, wurden 1894 erstmals öffentlich aufgeführt. Bereits 1893 aber kam vom selben Autor Hanneles Himmelfahrt auf die Bühne, ein Drama mit Musik, das von einem naturalistischen Ausgangspunkt her den Übergang zu Traumwelt und religiösen Mythen erprobte – und damit auch eine Brücke schlug zu anderen Stilrichtungen der Moderne wie Symbolismus oder Décadence, die damals etwa von Stefan George, Hofmannsthal oder dem bald noch zu nennenden Max Dauthendey vertreten wurden. Wie man sieht, präsentierte sich die literarische Moderne – übrigens auch international − von Anfang an als stilpluralistisches Phänomen; das gilt letzten Endes auch für ihre Koexistenz mit dem auslaufenden Bürgerlichen oder Poetischen Realismus. Tatsächlich haben ja Vertreter der realistischen Erzählprosa wie Fontane oder Raabe noch in den 1890er Jahren bedeutende Spätwerke vorgelegt, die jedoch bei genauerem Hinsehen schon Spuren der neuen Zeit erkennen lassen. Das gilt zum Beispiel für das diskrete Hervortreten der Sozialen Frage oder der Macht der Sexualität in Fontanes Romanen Der Stechlin und Effi Briest oder für das Brüchigwerden der Ich-Identität in Raabes Fragment Altershausen. Gerade diese Beeinflussung der eigentlich natürlich an ihrem ursprünglichen ästhetischen Konzept festhaltenden großen Realisten durch die aktuellen Strömungen der Moderne zeigt so deutlich wie nichts anderes, dass 1890 in der Literatur wirklich eine neue Stunde geschlagen hatte. Herausgeber und Beiträger des Zuschauers scheinen dies jedoch nur begrenzt zur Kenntnis genommen zu haben oder nehmen zu wollen und verhalten sich gegenüber wesentlichen Teilen der andrängenden Moderne wie ein Nachtwächter, der zum Schutze der von ihm behüteten Spießbürger das Stadttor versperrt. Natürlich ist dabei im Einzelnen zu differenzieren. Die größte persönliche Nähe zur Moderne, und hier besonders zum Naturalismus, sollte man sich von Leo Berg versprechen, dem schon mehrfach erwähnten Mitherausgeber des ersten Jahrgangs, ohne den die Zeitschrift wahrscheinlich gar nicht gegründet worden wäre. „Sie sind überhaupt Schuld“, schreibt ihm Brunner Ende 1894, „daß ich in die verwünschte Litteratur hineingeraten bin.“18 Berg hatte schon in seiner ersten Berliner Zeit 1892 zwei Gedichte Brunners in die Anthologie Moderne Lyrik auf-

17 Vgl. auch Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998. 18 An Leo Berg, 12.12.1894 (LBI/JMB, II, 1, 8).

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genommen.19 Brunner hatte Berg daraufhin nach Hamburg an das Litterarische Vermittlungs-Bureau geholt und hoffte ihn mit dem gemeinsamen Zeitschriftenprojekt noch fester an die Hansestadt zu binden. Das scheiterte wohl nicht zuletzt an der Cholera-Epidemie des Sommers 1893, vor der Berg nach Bad Oldesloe auswich, um schließlich wieder nach Berlin zurückzugehen. Brunner nahm die räumliche Trennung und seine dadurch bedingte persönliche Arbeitsüberlastung Ende 1893 zum Anlass für den handstreichartigen Austausch des Mitherausgebers Berg durch den Hamburger Volksschullehrer Otto Ernst. Vielleicht stand hinter diesem abrupten Partnerwechsel, der der Freundschaft mit Berg und dessen Produktivität als Lieferant von (mindestens 56) Zuschauer-Artikeln erstaunlicherweise keinen merklichen Abbruch tat, aber auch der Versuch einer publizistischen Kurskorrektur: weg von der intellektualistischen Literaturauffassung des Nietzscheaners Berg zu volkstümlichem Humor und politischer Satire, wie sie im zeitgleich eingeführten Beiblatt Pasquino gepflegt wurden. Gerade im Umgang mit einer Nietzsche-Parodie – nämlich mit Curt Grottewitz’ Also sprach Clara Thustra20 − traten im Herbst 1893 erstmals deutlichere Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden primären Herausgebern, ja die „allerböseste Divergenz“ hervor.21 Der Nietzsche-Kritiker Brunner setzte den Druck der Parodie, die er für ein „Meisterwerk“ hielt, gegen das ausdrückliche Votum Bergs durch und verletzte damit gewisse „Grenzlinien“, die dieser offenbar mit seinem Partner festgelegt hatte.22 Anscheinend wurden diese Grenzlinien nicht oder wesentlich weniger tangiert durch die noch im Einzelnen darzustellende Naturalismus- und Moderne-Schelte Brunners. Denn Berg, der als Begründer und einer der Vorsitzenden der literarischen Vereinigung „Durch!“ (1886/87) entscheidenden Anteil an der Formierung des Berliner Naturalismus besaß und seither in freundschaftlichem Kontakt zu vielen seiner Vertreter stand, hatte sich längst von der vordersten Frontlinie der literarischen Auseinandersetzung

19 Constantin Brunner: Indianerweisheit; Der thörichte Knabe. In: Moderne Lyrik. Eine Sammlung zeitgenössischer Dichtungen. Hg. von Leo Berg und Wilhelm Lilienthal. Berlin 1892, S. 35 f. Die Publikation widerlegt Brunners spätere Behauptung, niemand könne ihm „bestimmte Gedichte nachsagen“ (wie Anm. 2, S. 94). 20 Der Zuschauer 1, 9 (15.10.1893), S. 270–272. 21 An Leo Berg, 29.10.1893 (LBI/JMB II, 1, 8). 22 Vgl. Brunners Brief an Leo Berg, 30.10.1893 (LBI/JMB II, 1, 8): „Ich weiß übrigens auch nicht, was Sie, lieber Berg mit dem Komödiespielen u.s.w. zwischen uns und den ‚Grenzlinien‘, die denn doch feststehen etc. meinen. Ich weiß wohl, daß Sie derlei mit mir gemacht haben und bin scheinbar mit gleicher Art darauf eingegangen. Aber im Ernst: es wird Ihnen nur zu oft gelungen sein, mich zu täuschen. Ich bin nicht fein genug, derlei zu merken, und ich habe Ihnen oft genug gesagt, daß ich kein festes Urteil über Jemanden bilden und festhalten könne.“



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um neue Formen und Inhalte zurückgezogen und einem weiteren Moderne- und Naturalismusverständnis zugewandt, zu dem eigentlich alles gehörte, was in der Geschichte der Literatur gut und teuer war. Entsprechend traditionslastig fallen die Listen seiner „Lieblingsschriftsteller“ in den oben erwähnten Gedenkalben aus. Die erste beginnt mit dem Nibelungenlied, die zweite lautet: „Die Giganten wie Aeschylos und Kleist, die freien hellen Geister wie Heine und Nietzsche und die prächtigen Naturburschen wie Liliencron.“23 Dass Berg den Geist der Moderne nicht ganz vergessen oder verraten hat, zeigt allerdings die Antwort auf die Frage nach seinen Lieblingscharakteren in der Poesie: „Les décadents, so da sind von Goethe [!] und den Naturalisten, besonders wenn sie Psychologie und Humor im Leibe haben.“24 Eine „moderne Zeitschrift“, wie Wirths Vortragsveröffentlichung in einer Zwischenüberschrift den Zuschauer nennt,25 war dieser also ungeachtet Bergs Mitarbeit (oder nicht einmal ungeachtet ihrer) der literaturpolitischen Ausrichtung nach eindeutig nicht. Wie ein roter Faden zieht sich vielmehr durch Brunners Artikel – neben und vor der Zurückweisung der antisemitischen Publizistik26 – die Polemik gegen die moderne Literatur im Allgemeinen und den Naturalismus im Besonderen, der bei ihm entsprechend der zeitgenössischen Terminologie meist als „Realismus“ erscheint. So bemerkt er am Ende seiner überwiegend kritischen Besprechung eines Sammelbands von Max Beyer, einem absolut randständigen Schriftsteller, von dem es noch zu viel gesagt wäre, dass man ihn heute vergessen habe: In der Vorrede verschwört sich unser Autor ingrimmig mit Haut und Haaren dem „Realismus“. Allerdings, wenn er fortfährt, solche blutrünstige Phantasieen zu schreiben wie Die Hochzeitsnacht, die dem Herrn wie allem Volke ein Greuel sein müssen, wenn sie ruchbar würden im Lande, − dann allerdings wird ihn eines Tages der „Realismus“ holen im furchtbaren Wetter der rabenfinstern Nacht, und kein Mond wird dazu scheinen. Max Beyer, denk auf das Heil deiner armen Seele bei Zeiten! Dieser „Realismus“ ist ein leeres Wort, ein Kinderglaube, ein wesenloser Spuk und Schatten für eine freie mutige Dichterseele: weß Herz aber klein ist und wer daran glaubt, muß elend zu Grunde gehen.27

23 LBI/JMB, I, I, 6, 3 (dat. 29.11.1892). 24 LBI/JMB, I, I, 6, 2. 25 Wirth, „Zuschauer“ (wie Anm. 9), S. 41. 26 Vgl. vor allem seine kritischen Stellungnahmen zu Heinrich Pudor, einem Propagandisten der Freikörperkultur, in: Der Zuschauer 1, 2 (15.3.1893), S. 52; 1, 3 (15.4.1893), S. 87 f. 27 Constantin Brunner: Max Beyer: Unterm Lindenbaum. Skizzen und Gedichte (Rez). In: Der Zuschauer 2, 18 (15.9.1894), S. 284–286, hier S. 286.

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Gleich im ersten Heft seiner Zeitschrift wartet Brunner mit einem einschlägigen Paukenschlag auf, der ihm viel Aufmerksamkeit, aber auch Feindschaft eintragen sollte:28 einer Sammelrezension mehrerer Lyrikbände unter dem Titel Unsere Lyrik und die „Aufbrütesamen“.29 Das letzte Wort ist, das sei zur Vermeidung von Missverständnissen gleich hinzugefügt, als Adjektiv in Analogie zu „seltsam“, „wundersam“ etc. aufzufassen; es handelt sich um ein Zitat aus einem Gedicht von Franz Held, in dem in einer zugegebenermaßen kaum nachvollziehbaren Weise von einem Segel gesagt wird, dass es „aufbrütesam zum Sternlein“ auftauche.30 Franz Held, der eigentlich Franz Herzfeld hieß, war ein leicht anarchistisch angehauchter Schriftsteller aus dem weiteren Umkreis des Berliner Naturalismus, der vom Redakteur Leo Berg früh gefördert wurde;31 sein wichtigerer Beitrag für die Entwicklung der Moderne in Deutschland bestand aber zweifellos in seinen Söhnen John Heartfield, dem Montagekünstler, und Wieland Herzfelde, dem Leiter des Malik-Verlags. Da andere Verse von Franz Held damals schon in der Presse als Lachnummer herumgereicht worden waren, kann man es nicht als sonderlich mutig oder originell bewerten, dass Brunner ausgerechnet eine sprachliche Marotte dieses Autors zum Aufhänger seiner Moderne-Kritik nimmt. Sie gilt ihm freilich nur als Pars pro toto einer grundsätzlichen Tendenz, die er auch in anderen Beiträgen des Modernen Musen-Almanachs auf das Jahr 1893 wiederfindet – namentlich hebt Brunner Texte von Peter Hille und Max Dauthendey hervor32 – und zum Ausgangspunkt einer allgemeineren Betrachtung nimmt. Diese Betrachtung verdient ein ausführlicheres Zitat einerseits wegen der Grundsätzlichkeit, mit der hier eine Position umrissen wird, zu der sich Brunner auch später bekannt hat33 – andererseits wegen der durchaus zeittypischen,

28 So stellt es Brunner selbst im Brief an Fitger vom 17.9.1893 (Staatsarchiv Bremen, Nachl. Fitger, Sign. 7,79–69) dar, zugleich eine noch schärfere programmatische Abrechnung mit der Moderne in Aussicht stellend, die jedoch nicht erfolgte. 29 Der Zuschauer 1, 1 (15.2.1893), S. 9–16. 30 Franz Held: Mondaufgang auf dem Lido. In: Moderner Musen-Almanach auf das Jahr 1893. Hg. von Otto Julius Bierbaum. München [1892], S. 116. 31 Vgl. Berg, Netzwerk (wie Anm. 14), S. 18, 22 u. 40. 32 Nämlich Dauthendeys Prosagedicht Auferstehung und Hilles unmittelbar anschließende Novellette Herodias (wie Anm. 30, S. 261–263 u. 264–271). Dauthendeys Text wird zu Belegzwecken sogar vollständig zitiert (wie Anm. 29, S. 12). 33 So plant Brunner noch im August 1919 eine Fortsetzung oder Aktualisierung unter gleichem Titel: „Da will ich im Anschluß an die Hauptsätze des alten Zuschauer-Aufsatzes einmal solche Leute wie Dehmel und Stefan George gründlich totschlagen [!] und den besseren Leuten zu zeigen suchen, wie tief sich Deutschland zu schämen hat einer solchen Lyrik, nachdem wir Liederdichter der schönen Einfachheit gehabt haben an Goethe und Heine“ (Aufzeichnung vom 14.10.1919 in: Lotte Brunner, Tagebuch [wie Anm. 8], S. 380).



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deshalb aber keineswegs weniger bedenklichen pathologisierenden und letzten Endes eliminatorischen Tendenz der hier geübten Moderne-Kritik: Das Aufbrütesame ist die schwere Dämmerung, die den lichten Tag des Genius scheidet von der trostlosen Nacht des Irrsinns. […] Der merkwürdige Proceß in diesen Leuten ist wohl zu verstehen. Es ist ein hochgesteigertes Wollen in ihnen, dem keine Kraft entspricht; […] sie haben eine förmliche Wut nach dem Tiefen, ihr Auge rollt beständig im Wahnsinn, es sind wahre Berserkerpoeten. Und woher rührt das? Von der „modernen“ Psychologie, von all den „neuen“ unerhörten Problemen und Anforderungen, daran werden sie verrückt. […] […] Man sieht, derlei gehört eigentlich für den Psychiater. Dennoch ist das Aufbrütesame keineswegs zu identifizieren mit der eigentlichen Geistesgestörtheit, wenn es auch seinem Wesen nach mit psychischer Exaltation und partieller Verrücktheit zusammenhängt. Es ist eine Abnormität und endlich eine Perversität des ganzen Gemütslebens, es gedeiht am Besten im Sumpfe einer unreinen, stickigen und quallenden Phantasie, einer verschrobenen Psychologie, der Decadence, in der Atmosphäre der Nachtcafés. […] […] Das Aufbrütesame ist ein bedenkliches Symptom in der Psychose unserer Zeit. Ganz besonders in der Litteratur und hier vorwiegend wieder in der Lyrik spielt es eine verhängnisvolle Rolle. Da sollte einmal erbarmungslos aufgeräumt werden.34

Lombroso (Genie und Wahnsinn) und Nordau (Entartung) lassen grüßen! Auch wenn Brunner eine eindeutige Festlegung vermeidet und zwischen der Krankheit als Vergleich und der Krankheit als Befund hin und her schwankt, läuft sein Essay letzten Endes doch auf die Einweisung der modernen Literatur in eine psychiatrische Anstalt hinaus. Noch 1910 sollte es übrigens zwischen Nordau und Brunner ungeachtet ihrer gegensätzlichen Haltung zum Zionismus zu einer bekenntnishaften Verständigung kommen.35 Der Widerspruch der Betroffenen blieb nicht aus, und im Grunde waren sie durch die Prinzipien, die sich Der Zuschauer selbst verordnet hatte, auch dazu aufgefordert. Franz Held schrieb eine, wie Brunner ironisch gegenüber Berg bemerkte, „reizende Karte“,36 die im „Sprechsaal“ jedoch nicht zum Abdruck kam. Stattdessen gab Brunner schon im Februarheft (also demselben, in dem der Angriff auf die „Aufbrütesamen“ erfolgte) eine Stellungnahme Bierbaums wieder, dem offenbar vorab ein Abzug der Kritik zur Verfügung gestellt worden war. Darin lehnte dieser eine künstlerische Verantwortung für die in seinem Almanach abgedruckten Werke ab – er schlage als Herausgeber nur eine „freie Bühne“ des Schaffens auf. Er lud damit nicht nur Brunner zu der ironischen Duplik ein, dass

34 Der Zuschauer 1, 1 (15.2.1893), S. 12 f. 35 Vgl. Brunner, Briefe (wie Anm. 6), S. 162–166. 36 An Leo Berg, [Anfang April 1893] (LBI/JMB, II, 1, 8).

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man sich dann wohl künftig den Herausgeber sparen und die deutschen Dichter und Dichterlinge ihre Manuskripte gleich bei der Druckerei abgeben könnten.37 Bierbaums Opportunismus rief überdies Franz Held auf den Plan, der alsbald im Kunstwart anhand von Briefzitaten nachwies, dass der Herausgeber des Almanachs gerade sein strittiges Gedicht Mondaufgang auf dem Lido gelobt und den noch zögerlichen Autor eigentlich erst zum Abdruck überredet habe.38 Brunners Rechnung war in gewisser Weise aufgegangen. Das schwere Geschütz, das er gleich in der ersten Nummer seiner Zeitschrift auffuhr, hatte dieser das wünschenswerte Aufsehen gesichert und dafür gesorgt, dass der einflussreiche Kunstwart in seinem zweiten Märzheft 1893 zwei Seiten lang aus der Attacke gegen die „Aufbrütesamen“ zitierte – mit dem einigermaßen überraschenden Zusatz übrigens, es sei „dankenswert, daß Brunner, selbst einer der ‚Jungen‘, sich ehrlich [lies: endlich?] gegen die besprochene Erscheinung“ richte.39 Mit den „Jungen“, zumal wenn sie (wie hier) in Anführungszeichen gesetzt wurden, bezeichnete man in den 1890er Jahren weniger ein Generations- als ein Richtungs­ phänomen, nämlich in der Sozialdemokratie die linken Abweichler und in der Literatur – eben die Modernen. Der kulturkonservative Herausgeber Ferdinand Avenarius konnte den Newcomer Brunner anscheinend noch nicht so recht einschätzen und ließ sich durch dessen Kooperation mit Berg auf eine falsche Fährte lenken. Damit aber nicht genug: Schon das nächste Kunstwart-Heft kommt auf die „Aufbrütesamen“ zurück: durch den Abdruck von Helds „Antikritik“, die nun wiederum die Redaktion des Zuschauers nicht sonderlich gut aussehen lässt. Zunächst kostet Held dort den Widerspruch aus, dass eine Zeitschrift, die sich ausdrücklich als Organ für „Kritik und Antikritik“ bezeichnet, seiner Entgegnung keinen Platz eingeräumt habe: „Hiermit ist also festgenagelt, daß der Zuschauer den Autoren die Antikritik nicht einräumt, daß sie vielmehr das ‚Zuschauen‘ haben.“ Er schreitet weiter zu der Feststellung, dass ihm die eliminatorische Tendenz von Brunners Kritik – in Helds Formulierung: „raus aus der Literatur mit den Aufbrütesamen!“ – von Bierbaum in gewisser Weise vorausgesagt worden sei. Mit Bezug auf die frühere Verunglimpfung von Helds Gedicht Groß-Natur in der Presse hatte jener ihm nämlich im November 1892 geschrieben: „daß Sie viele Widersacher haben – schadt nixen, im Gegenteil, gsund is. Aber daß auch die Wackerseelen es nicht ansehen können, wenn zwei Blumen nebeneinander blühen. ,Rrrrraus mit der Einen!‘ brüllen sie und wüsten, wie Hunnen und Tartaren.“ Den bajuwarischen Tonfall seines Münchner Herausgebers aufneh-

37 Der Zuschauer 1, 1 (15.2.1893), S. 22. 38 Der Kunstwart 6, 13 (1. Aprilheft 1893), S. 203. 39 Der Kunstwart 6, 12 (2. Märzheft 1893), S. 181 f., hier S. 182.



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mend, bemerkt Held dazu höhnisch in Richtung Hamburg und Berlin, Brunner und Berg: „Das ist mir doch mal ’ne treffende Antikritik. Ja, wo so’n Einödbauer hinhaut – g’schellt hot’s!“40 Dass Brunner von dieser „Antikritik“ tatsächlich getroffen war, zeigt der Brief an Berg, in dem er von einer öffentlichen Entgegnung abrät und mitteilt, dass er selbst gegenüber der Kunstwart-Redaktion auf eine solche schon verzichtet habe. Der nächste Absatz des Briefs lässt jedoch erkennen, welches Ausmaß an Aggression sich im Herausgeber des Zuschauers angestaut hat. Der Kritiker des Antisemitismus reagiert selbst mit einem antisemitischen Tiefschlag. In Anspielung auf Herzfelds jüdische Herkunft glossiert Brunner: „Übrigens habe ich mich darüber amüsiert, wie das Berliner Jidchen plötzlich vom Geist getrieben auf Oberbayrisch zu mauscheln anhebt!“41 Im Abstand von 27 Jahren hat Brunner gegenüber seiner Stieftochter Lotte die Naivität, ja Ahnungslosigkeit betont, mit der er seinerzeit im Zuschauer die Polemik gegen bestimmte Züge der modernen Literatur losgetreten habe, ohne diese doch eigentlich zu kennen: Und ich schrieb drauflos meine Aufsätze und Kritiken – wie im Traum, im Rausch, in Trance, so daß ich auch jede Verantwortung dafür ablehne −, ich sprach mit Achtung von Hauptmann und Sudermann, ich fing an, Die Weber zu lesen, ich kam nicht weiter damit, ich kannte nichts, ich, der ich so gewissenhaft bin, ich betrog hierin – aber unschuldig, ich wußte nichts davon. Ich setzte gleich ein mit meinem Aufsatz über „die Lyrik und die Aufbrütesamen“, und hatte doch keine Idee von Schreiben überhaupt.42

Man wird nicht jedes Wort dieses Rückblicks auf die Waagschale legen dürfen, aber grundsätzlich ist hier etwas Richtiges angesprochen. Brunners literaturkritischen Beiträgen zum Zuschauer eignet etwas Außenseiterisches, Quereinsteigerhaftes, im besten Sinne Dilettantisches. Hier schreibt jemand, der schreiben und denken kann, aber eigentlich nicht dazu gehört, außerhalb der Zunft steht und sich daher auch eine gewisse Unprofessionalität erlauben darf. So stellt Brunner im Aprilheft 1893 (also der dritten Nummer seiner Zeitschrift überhaupt) einen Lyriker namens Georg Kleineke groß heraus, von dem man nie vorher und nie nachher etwas gehört hat. Seine Begeisterung und Kaufempfehlung resultieren nur daraus, dass er in Kleineke einen „modernen Vaganten“ zu erkennen vermeint, das heißt einen Nachfolger der mittelalterlichen Vagantenlyrik, mit der er sich in seiner Studentenzeit, offenbar auch in Form eigener Übersetzungsversu-

40 Der Kunstwart 6, 13 (1. Aprilheft 1893), S. 203. 41 An Leo Berg, [April 1893] (LBI/JMB, II, 1, 8). 42 Aufzeichnung vom 19.3.1920 in: Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 8), S. 391.

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che, befasst hatte. Dass ein professioneller Kritiker seine Akzente anders setzen und einem derartigen no name-Lyriker ohne besonderen Anlass oder KarriereVerdacht nie einen eigenen Essay widmen würde, versteht sich von selbst. Eine solche Unprofessionalität im besten und erfrischendsten Sinn zeichnet auch die in eine Umfrage mündende Artikelserie Die Technik des künstlerischen Schaffens aus, die in vier umfangreichen Teilstücken von Mai bis August 1893 im Zuschauer erscheint43 und Grundbedingungen des ästhetischen Schaffensprozesses eruieren soll. Es ist hier nicht der Platz, das einigermaßen eindrucksvolle Scheitern dieses Projekts oder auch nur die widersprüchlichen theoretischen Bausteine von Brunners vorausgehenden Artikeln näher zu erläutern.44 Stattdessen soll nur auf einen Nachzügler seiner Moderne-Kritik hingewiesen werden, der sich in einer längeren Fußnote zum ersten Teil findet und übrigens noch eine weitere grundsätzliche Auseinandersetzung mit aktuellen literarischen Tendenzen aus Brunners Feder erwarten lässt, die freilich unterblieb, wie überhaupt das Engagement des Zeitschriftengründers nach dem ernüchternden Ausgang der großangekündigten Enquête schnell abgeflaut ist. Anlass und Bezugspunkt des nachfolgend wiedergegebenen polemischen Seitenhiebs ist die an Aristoteles anknüpfende Feststellung: „Der Dichter ahmt die Natur nach“, der Brunner als Spiegelung und Negativ die zweite These folgen lässt: „Der falsche Künstler aber ahmt (wie der Alltagsmensch) die Nachahmung nach. […] Denn seine Worte entbehren jener Macht der natürlichen Wahrheit und rührenden Einfachheit, die die Sprache der Natur selbst zu sein scheint.“ Hierzu nun führt Brunner in einer Fußnote mit antimodernistischer Stoßrichtung Folgendes aus: Im Gegenteil, er [sc. der falsche Künstler] bläht sich auf im geheimen Bewußtsein seines Mangels und bauscht sein ganzes Wesen in die Höhe, er sucht durch ein krauses Wortgemengsel und blöde Satzverrenkungen darüber hinwegzublenden, daß es ihm an wahren [sic] Inhalt fehlt. Gerade jetzt pfuschen diese jämmerlichen Stümper und Sprachverhunzer bei uns an allen Ecken und Enden in der Litteratur herum, daß einem oft die Haare zu Berge und die Augenachsen parallel stehen. Ein Hund redet mit seinem Schwanze deutlicher wie so ein erbärmlicher Scribifax mit seinem [lies: seinen] unnatürlichen und aufgeschwollenen Salbadereien. […] Wir werden in diesen Blättern den Kampf gegen diese Sprachverrenker und Geschmacksverderber schonungslos fortsetzen. Sie werden uns durch ihre Masse

43 Constantin Brunner: Die Technik des künstlerischen Schaffens. Einleitung. Teil I. In: Der Zuschauer 1, 4 (15.5.1893), S. 110–115; Teil II. In: Der Zuschauer 1, 5 (15.6.1893), S. 135–140; Teil III. In: Der Zuschauer 1, 6 (15.7.1893), S. 169–175; Teil IV (Schluß der Einleitung). In: Der Zuschauer 1, 7 (15.8.1893), S. 212–220. 44 Vgl. meine ergänzende Publikation: Zwischen Moderne-Schelte und Kreativitäts-Enquête: Constantin Brunners Zeitschrift Der Zuschauer (1893–1895). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 2, 38 (2013), S. 336–358.



„Da sollte einmal erbarmungslos aufgeräumt werden“ 

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gefährlich. Ich werde in nächster Zeit auf diese traurige Erscheinung näher eingehen, ich werde sie in ihren Ursachen aufzudecken suchen und ich werde dabei leider zu zeigen haben, daß selbst einige der fähigsten unter unseren jüngeren Dichtern nicht ganz frei geblieben sind von den verderblichen Einwirkungen jener wüsten Stillosigkeit und Verwilderung, die man bei uns, seitdem der Pseudo-Naturalismus in deutschen Landen niedergegangen ist, als den neuen Stil hat etablieren wollen.45

45 Der Zuschauer 1, 4 (15.5.1893), S. 113 f.

Bernd Auerochs

Philosophia perennis. Constantin Brunners Lehre von den Geistigen und vom Volke „das ist die Wahrheit“ Thomas Bernhard

I Antihistorismus Das Wörtchen „Krise“ hat sich in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg auf sehr viele Dinge beziehen lassen müssen – es wäre einem Wunder gleichgekommen, wäre das historische Denken davon ausgenommen gewesen. Ernst Troeltschs umfängliche, aber Fragment gebliebene Studie Der Historismus und seine Probleme von 1922 setzt mit einem Kapitel ein, das den Titel trägt „Die heutige Krisis der Historie“. Die „Krisis der Geschichtswissenschaft“, von der man Troeltsch zufolge „heute“ – 1922 – vielfach reden hört, ist für ihn „weniger eine solche der historischen Forschung der Gelehrten und Fachleute“ (die munter tut, was sie tut) „als eine solche des historischen Denkens der Menschen im allgemeinen“.1 Troeltschs Buch und seine Person waren ein Fokus zumindest der akademischen Debatte um den Historismus – und ein beliebtes Angriffsziel. Denn Troeltsch zeigte zwar die Aporien des Historismus auf, war jedoch zugleich der Überzeugung, dass diese Aporien nur selbst wieder mit den Mitteln der Historie zu beheben seien. Dass Der Historismus und seine Probleme, verschuldet durch den überraschend frühen Tod seines Autors, nach einer langen, echt historistischen Darstellung der Genese der gegenwärtigen Situation weit entfernt von Lösungsvorschlägen abbrach, konnte von Kritikern geradezu als Symptom der Krise des Historismus aufgefasst werden. 1932 erschien mit Karl Heussis gleichnamigem Buch die erste zusammenfassende Darstellung der Krisis des Historismus.2 Sie ist in jüngster Zeit wieder vermehrt mit Aufmerksamkeit bedacht worden – ich nenne exemplarisch Charles Bambachs Studie Heidegger, Dilthey, and the Crisis of

1 Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes (einziges) Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (Gesammelte Schriften 3). Tübingen 1922, S. 1. 2 Karl Heussi: Die Krisis des Historismus. Tübingen 1932.



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Historicism.3 Und sie war ein Experimentierfeld für das Projekt einer sogenannten „shared history“ – für den Versuch also, im Ausgang von gemeinsamen Problemlagen zu untersuchen, wie moderne jüdische und moderne christliche Religionsgeschichte miteinander verzahnt waren – ich nenne David Myers’ Buch Resisting History zu einigen wichtigen deutsch-jüdischen Antihistoristen des frühen 20. Jahrhunderts sowie die seit kurzem gesammelt vorliegenden Studien Friedrich Wilhelm Grafs zur protestantischen Theologie der Weimarer Republik.4 Der Antihistorismus der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg ließe sich auf verschiedenen Kulturgebieten verfolgen: in der Geschichtswissenschaft selbst, etwa anhand der monumentalen Geschichtsschreibung, die aus dem Georgekreis hervorging, oder auf religiösem Gebiet. In den beiden bedeutendsten Vertretern des religiösen Antihistorismus (ich meine Karl Barth und Franz Rosenzweig, beide Jahrgang 1886) zeigt die Auseinandersetzung mit dem Historismus ein deutlich weniger akademisches Gesicht als etwa bei Troeltsch oder später bei Heidegger. Sowohl die erste wie die zweite Auflage von Karl Barths Römerbrief (von 1919 respektive 1922) sind von ihrem Duktus her eher harsche expressionistische Predigten als wissenschaftliche Abhandlungen; die erste Auflage des Römerbriefs entstand, als Barth als Pfarrer im kleinen schweizerischen Safenwil amtete. Und Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung ist ein Buch, das den Anspruch erhebt, seinen Lesern den Weg ins Leben zu weisen,5 und stammt von einem Verfasser, der die akademische Karriere bewusst verschmähte, um in Frankfurt stattdessen das Jüdische Lehrhaus zu begründen. Es geht dem religiösen Antihistorismus wesentlich um die Wiedergewinnung von Denkkategorien, die durch die Dominanz des geschichtlichen Denkens im 19. Jahrhundert schleichend oder offen entwertet worden waren: Ewigkeit, Offenbarung, Umkehr (μετάνοια, ‫)תשובה‬, Tradition.

3 Charles R. Bambach: Heidegger, Dilthey, and the Crisis of Historicism. Ithaca 1995. 4 David N. Myers: Resisting History. Historicism and its Discontents in German-Jewish Thought. Princeton 2003; Friedrich Wilhelm Graf: Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik. Tübingen 2011. 5 Vgl. Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung. Mit einer Einführung von Reinhold Mayer und einer Gedenkrede von Gershom Scholem. Frankfurt a.M. 1988, S. 472. – Die Stelle, die den Stern der Erlösung beschließt, ist in ihrer Deutung umstritten. Nahum Glatzer, Rosenzweigs Biograph, las sie als Rosenzweigs Affirmation des Alltagslebens, in das der Leser des Sterns nach der Lektüre des Buchs wieder entlassen wird. (Nahum Glatzer: Franz Rosenzweig. His Life and Thought. New York 1953, S. XXVI.) Mara H. Benjamin hat demgegenüber mit beherzigenswerten Argumenten – Dt. 34, 5 mit der zugehörigen midraschischen Tradition! – plausibel zu machen versucht, dass Rosenzweig an dieser Stelle vom Übergang zum ewigen Leben spricht und damit die am Ende des Sterns ohnehin erreichte Dimension der Ewigkeit nochmals akzentuiert. (Mara H. Benjamin: Rosenzweig’s Bible. Reinventing Scripture for Jewish Modernity. Cambridge 2009, S. 30–32) Wie auch immer – der antiakademische Impuls passt zu beiden Deutungen.

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Antihistorismus gibt es aber auch in der Philosophie. Aus der jüngeren Generation, deren Denken sich erst während des Ersten Weltkriegs und in den Jahren danach herauszubilden begann, wäre hier Leo Strauss zu nennen. Leo Strauss entwickelt in den zwanziger Jahren die Denkfigur der „zweiten Höhle“, unterhalb der platonischen ersten, in die sich die Modernen verirrt haben.6 In dieser „zweiten Höhle“, in der wir alle leben, ist man so von der Unausweichlichkeit des historischen Denkens überzeugt wie die Menschen im platonischen Höhlengleichnis von der Realität der Schattenbilder, die sie umgeben. Man muss erst wieder aus der „zweiten Höhle“ in die erste zurückfinden, um wieder dort zu stehen, wo Platon stand, um mit dem echten philosophischen Fragen wieder von vorne beginnen zu können. So wie Ernst Troeltsch seine ersten Diagnosen der Krisis des Historismus schon vor dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte, gibt es aber philosophischen Antihistorismus auch schon in der älteren Generation, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg publizierte. Ich denke an Husserls Logische Untersuchungen und seinen Versuch, Philosophie als eine reine Phänomenologie neu zu etablieren. Und ich denke an unseren Mann, Arjeh Yehuda Wertheimer, Leo Wertheimer, Constantin Brunner, mit seinem Hauptwerk von 1908, Die Lehre von den Geistigen und vom Volke. In der Philosophie kann der Antihistorismus an eine große Tradition anknüpfen: die Lehre oder Vorstellung von der philosophia perennis. Ihr zufolge hat es immer nur eine Philosophie gegeben, ihre Grundfragen und Probleme sind immer dieselben gewesen, recht betrachtet war die Philosophiegeschichte im Grunde immer eine Fußnote zu Platon. In Constantin Brunners Worten: Der Himmel bewahre mich davor, dass ich eine neue Philosophie bringen wolle! Das wäre noch dreiunddreißigmal wahnsinniger als wollte Einer eine neue Physik, eine neue Chemie aufbringen; die Volksvorstellung von verschiedenen Philosophien hat keinen Raum in demjenigen, der die Philosophie kennt; verschiedene Philosophien für möglich halten ist vollkommen gleichbedeutend mit der Leugnung der Philosophie.7

6 Erstmals öffentlich gemacht von Strauss in seiner 1931 in der Deutschen Literaturzeitung erschienenen Rezension der Rostocker philosophischen Antrittsvorlesung Über die Fortschritte der Metaphysik von Julius Ebbinghaus. (Leo Strauss: Philosophie und Gesetz. Frühe Schriften. Hg. von Heinrich Meier. Stuttgart, Weimar 1997, S. 437–439). Danach in der Einleitung zu Philosophie und Gesetz von 1935 (ebd., S. 13 f.) u.ö. – Vgl. auch Heinrich Meier: Die Denkbewegung von Leo Strauss. Die Geschichte der Philosophie und die Intention des Philosophen. Stuttgart, Weimar 1996, S. 22. 7 Constantin Brunner: Die Lehre von den Geistigen und vom Volke. Berlin 1908, S. 122. (Im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl in Klammern im fortlaufenden Text zitiert).



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Es gehört zur Lehre der philosophia perennis dazu, dass nur wenige sich mit ihr befassen mögen und können und dass sie den Vielen, dem „Volke“ grundsätzlich verschlossen ist – eine Auffassung, die in der philosophischen Tradition weithin geteilt wird und die man erst im 18. Jahrhundert, und selbst dann vielfach sehr zögerlich, aufzugeben beginnt. Nicht nur für das Volk aber ist die philosophia perennis unzugänglich, auch in der Philosophiegeschichte ist sie immer wieder verschüttet gewesen, und nicht jeder, der als großer Philosoph gilt, hat darum auch schon Teil an ihr gehabt. Im Extremfall ist der Philosoph völlig vereinzelt. Er weiß, „daß die großen Offenbarungen der Wahrheit mit den Wahrheiten der Zeiten nichts zu schaffen haben sondern, wie außer aller Zeit, erfolgt sind“.8 Er hat die ganze Wahrheit entdeckt, die manch anderer vielleicht vor ihm schon geahnt, aber jedenfalls nicht so klar ausgesprochen hat, wie sie nun artikuliert werden soll. Ist das geleistet, so müsste die Philosophie als großes menschheitliches Projekt eigentlich definitiv abgeschlossen sein. Es gibt, wie wir alle wissen, sehr wohl solche Philosophen und solche Werke in der Philosophiegeschichte. Gerne sind sie ohne sichtliche Rücksicht auf Vorgänger geschrieben, dicht, knapp, nüchtern, in merkwürdig durchsichtiger Sprache gehalten, von strenger Gedankenführung und imponierendem Aufbau. Spinozas Ethik und Wittgensteins Tractatus wären vielleicht die besten Beispiele.

II Der vereinzelte Philosoph Der vereinzelte Philosoph ist eine andere Figur als der vereinzelte religiöse Denker, wie ihn uns im 19. Jahrhundert exemplarisch Kierkegaard vor Augen geführt hat. Aus seiner radikalen Vereinzelung heraus spricht Kierkegaard – am deutlichsten in den Erbaulichen Reden – seinen Leser in seiner Vereinzelung an. Es ist nichts Allgemeines, was er mitzuteilen hat, und es ist wesentlich, unendlich wichtig, dass der Mensch sich als radikalen Einzelnen (mit dem Komplement des individuellen Gottesverhältnisses) versteht. Anders der vereinzelte Philosoph. Dass er womöglich der Einzige ist, der die ganze Wahrheit erkannt hat, oder der Einzige, der sie in der Gegenwart erkennt, ist Zufall, freilich ein durchaus wahrscheinlicher Zufall. Er ist dem Umstand geschuldet, dass die Doxa, der die Menschen anhängen, eine übermächtige Macht ist, und dass die große Anstrengung, bis zur Wahrheit durchzudringen, immer nur von wenigen unternommen wird, viel-

8 Brief Brunners an Ernst Altkirch vom 28. Dezember 1903. In: Constantin Brunner: Ausgewählte Briefe. Hg. von Jürgen Stenzel und Irene Aue-Ben David. Göttingen 2012, S. 118.

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leicht auch nur von Einem. Insofern hat der vereinzelte Philosoph zugleich sehr große und nicht die geringste Bedeutung. Große Bedeutung hat er, weil einer die Aufgabe übernehmen muss, auf ihm liegt damit die schwerste denkbare Verantwortung, denn übernähme er die Aufgabe nicht, bliebe sie vielleicht ungeleistet. Andererseits kommt es auf ihn als Person überhaupt nicht an: er denkt das Allgemeinste, das im Prinzip jeder Geistesmensch denken könnte, er ist nichts weiter als das Sprachrohr, durch das hindurch sich die ewigen großen Gedanken artikulieren. Es gibt eine programmatische Passage in der „Ankündigung“ zu der Lehre von den Geistigen und vom Volke, in der sich Sendungsbewusstsein und Unscheinbarkeit in eben dieser paradoxen Weise durchdringen. Hier ist sie. Die geistigen Männer werden mich nicht richten so wenig wie sie ihre eigne Sache richten werden, denn wenn auch die Andern dies nicht erkennen: sie müssen erkennen, daß hier kein Buch von winzigem Bemühen und Wesen nach Art der gewöhnlichen Bücher herausgeht, wobei es mit dem Schreiben auf den Nutzen und die Eitelkeit des Schreibers abgesehen ist und auf den Schreiber ankommt und auf die Art wie er schreibt. Hier ist kein Buch wie andre Bücher zu lesen oder nicht zu lesen; dieses Buch gehört wieder zu einer ganz andern Litteratur als unter uns gewöhnlich ist, zur wahrhaften Litteratur des Lebens; hier ist lebendiges, schöpferisches Leben, Kampf ums Leben, Kampf der Macht gegen Macht, Wahrheit will Recht, Recht will Macht werden, – dies ist kein Werk zur Befriedigung der Neugier, auch nicht der Wissbegier: das Wissen um des Lebens willen, die Gedanken der Wirklichkeit, die von Leben zu Leben führen, sind sein Inhalt; es ist kein Werk von jener Litteratur neben dem Leben. Sie sind es, die erkennen müssen, daß es hier um die Sache der ganzen Menschheit zu tun ist und daß hier, ganz unpersönlich, vor allem und zum ersten Male, ihre eigne Sache und ihr Leben durch mich spricht. (42)

Dass es nicht „auf den Schreiber ankommt und auf die Art wie er schreibt“ – auch das kennen wir aus der philosophischen Tradition. Häufig ist dort der Versuch, das eigene Denken gegen Kontingenz zu immunisieren („kein Buch wie andre Bücher zu lesen oder nicht zu lesen“), ebenso wie die Auffassung, Schreiben sei eine Art Verunreinigung des Denkens und die Sprache die unbotmäßige Gegnerin des Philosophen, die man zu den Zwecken des Denkens gewaltsam disziplinieren muss statt sich von ihr küssen zu lassen. Würde Brunner nicht vielfach ein klares Bewusstsein seiner besonderen „Schreibart“ zeigen,9 man könnte hier von

9 Besonders aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist eine längere Passage in seinem Brief an seine Mäzenin Frida Mond von Anfang 1903. Hier sieht Brunner seine Sprache als geradezu schicksalhaft über sich verhängt an („gegen meine Schreibart sind wir machtlos“). Er bekennt sich zu dem Projekt, die philosophische Sprache, „diese halb unsinnig gewordene Sprache“, deutsch reden zu machen und sagt: „Mit dem liebendsten Herzen voll Bewunderung und Glück über das Markige, Wuchtige des Deutschen verbindet sich in mir das jüdische Temperament.“ Dieses „Judendeutsch“, das Luther geschrieben hat und das er selbst zu schreiben gedenkt, zieht



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seinem grundsätzlichen Selbstmissverständnis sprechen. Jedenfalls war kaum ein Philosoph jemals so ungeeignet, als lauteres Medium seiner Lehre zu dienen, wie dieser. Es kommt nicht nicht auf die Art an, wie Brunner schreibt. Im Gegenteil: in seinen Schreibweisen enthüllt sich uns, wenngleich auf indirekte Weise, das Bild des vereinzelten Philosophen, der gegen das Volksbewusstsein kämpft, klarer und schärfer, als wenn wir seine Lehre nachzuzeichnen versuchen.

III Brunners Schreibweisen Ich fange, um Brunners Schreibweisen zu charakterisieren, mit einer eher unscheinbaren Beobachtung an. Dieser Philosoph tritt stets über die Ufer, er entfaltet seine Gedanken breit und scheint gerne in ihnen zu kreisen. Auch auf der Ebene einer mikrologischen Stilanalyse bevorzugt er die Ausführlichkeit. Er hat eine gewisse Scheu davor, Nomina durch Pronomina zu ersetzen, und verleiht immer wieder Schlüsselvokabeln eine besondere semantische Intensität, indem er sie zum Gegenstand von Wortwiederholungen macht und sie zu Gegensätzen konfiguriert.10 Man beachte, wie er in der folgenden Passage – die dazu dient, die Philosophie als eigentlichen Ort der Klarheit gegenüber der Wissenschaft auszuzeichnen – das Wörtchen „exakt“ herumtreibt und die Philosophie gegenüber der Wissenschaft in eine pointierte Vorzugsstellung bringt. Es wird nicht erläutert, was „Exaktheit“ in Philosophie bzw. Wissenschaft denn eigentlich heißen soll, aber der Gedanke, dass das einzig Exakte an der Wissenschaft das Philosophische sei, wird in ein intensives semantisches Kreisen versetzt: Denn, um mit einem Worte die ungeheuer klingende Ketzerei herauszusagen: das Denken der Philosophie steht nicht der exakten Behandlung der einzelnen Wissenschaften entgegen, steht ihr auch nicht auf irgend eine besondere Weise gegenüber, vielmehr ist das

er dem durch Goethe etablierten „Griechendeutsch“ vor. Brunner, Briefe (wie Anm. 8), S. 109. Neben Luther nennt Brunner noch Abraham a Sancta Clara als Stilvorbild (ebd., S. 113) – also zwei ausgesprochen derbe (und, im Vorübergehen gesagt: unphilosophische) Schriftsteller. 10 Was bereits Gustav Landauer auffiel und was Landauer tadelte: „Du nimmst ein Wort, ‚Gleich­ heit‘ zum Beispiel, siehst nicht und willst gar nicht sehen, dass dies Wort in einem bestimmten Zeitpunkt in einem ganz spezifischen historisch erwachsenen Sinn genommen worden ist, und bekämpfst nun etwas mit wilder Masslosigkeit, was von all den Repräsentanten der Richtung, die du ganz im allgemeinen totschlägst, keiner als Ziel gehabt hat.“ (Zitiert von Brunner in seinem überlangen Brief an und gegen Landauer vom 22. April 1911, in: Brunner, Briefe [wie Anm. 8.], S. 213) Der Kern von Landauers Vorwurf an dieser Stelle besteht in der Ausweisung des Rabiaten als des Pauschalen, das nicht trifft.

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Denken der Philosophie das einzig existierende Exakte und dasjenige Exakte, was die einzelnen Wissenschaften, soweit sie nun vorhanden sind, hervorgetrieben hat und was sie erhält und voranbringt; was Exaktes in den Wissenschaften zu finden ist, das ist das von den Philosophen Entwickelte und Formulierte, und anderes Exaktes ist in den Wissenschaften nicht zu finden. (33)

Oder folgende Passage, in der man die Wörter „Gedanken“, „Menschen“ und „machen“ beobachten sollte: Wir machen keine Gedanken, überhaupt machen nicht die Menschen ihre Gedanken, sondern die Gedanken sind es, die die Menschen machen. Und eben diese menschenmachenden Gedanken, die die Menschen und die Menschenwelt machenden Gedankenprinzipien zu entdecken, zu erkennen und ihnen für die Bewußtheit und die innere Betrachtung Gestalt und Form und Formulierung zu geben, so daß wir die Menschen und ihre Welt wieder als Gedanken vor uns haben, sie uns wieder zu Gedanken machen, darum handelt es sich. (119)

Dieses Verfahren der semantischen Intensivierung durch Wiederholung gibt nicht nur den Worten ein eigentümlich dingliches Gewicht und verringert so ihre geschmeidige Funktionalität, die mancher von den Worten im philosophischen Sprachgebrauch erwarten mag. Es begünstigt auch zwei charakteristische Denktendenzen Brunners, die zugleich schriftstellerische Tendenzen sind. Zum einen bevorzugt Brunner die Form der Tirade und bringt sie in Gestalt der polemischen Tirade gegen andere Philosophen oder gegen Zeittendenzen gelegentlich zur Höchstform. Zum andern kennt er zwar und praktiziert sowohl die begriffliche Explikation und die sachliche Argumentation mit Gründen. Jedoch fällt es ihm immer wieder nur allzu leicht, von dieser basalen Ebene der philosophischen Auseinandersetzung auf eine häufig sehr populär bebilderte Metaebene zu wechseln, wo er die begrifflichen Klärungen hinter sich gelassen hat und ein zunehmend dinglicher werdendes Vokabular philosophische Kämpfe ausficht. Ich zitiere aus einer seiner zahlreichen Polemiken gegen Kant, den er – was man ihm kaum verübeln kann – für einen selbstwidersprüchlichen Philosophen hält: Man erwäge aber alles was Kant sagt, – es ist viel; alles, was dieser und jener als von Kant Gesagtes behaupten wird, alles Entgegengesetzte, ist tatsächlich von ihm gesagt; und darum erwäge man nicht zuletzt auch dieses von mir eben Gesagte: daß Kant eigentlich gar nicht sagt, was er zu sagen behauptet. Was von ihm gesagt wird, sind nur Widersprüche, und Widersprüche sind doch nichts Gesagtes. […] Es ist unerträglich, wie bei Kant fortwährend der Raum als angeschauter Inhalt mit der Form, worin wir diesen Inhalt denken, in einen Topf geworfen wird und wie man immerwährend genötigt ist, zwischen dem angeschauten Rauminhalt und der diesen Inhalt zum Bewußtsein bringenden Form des Denkens, die Kant mit seiner Spiegelfechterei für Anschauungsform ausgibt, hin und her zu springen. Mit allen seinen Ausdrücken setzt er sich zwischen die zwei Stühle, und der Kern der ganzen



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Auseinandersetzung ist ja die Radoterie, Raum und Zeit würden angeschaut oder erfahren ohne alle sinnliche Anschauung oder Erfahrung, als wären Anschauung und Nichtanschauung oder Erfahrung und Nichterfahrung, Auweh und Juchhe! ganz dasselbe. […] Kant hat in allen Hauptfällen, worauf wir noch genug stoßen werden, das von ihm Zurechtgemachte immer nur während des Zurechtmachens festzuhalten gewußt und konnte es in der Anwendung gar nicht festhalten, weil es ein bloßes spitzfindiges, für alle Anwendung unbrauchbares Nichts war, als welches wir hier seine beiden apriorischen Anschauungsformen enthüllen und sie ebenso ‚aus dem Fenster werfen’ wie Schopenhauer, der Kantianer Schopenhauer, mit elf von den zwölf Kantischen apriorischen Verstandeskategorien getan hat. Es steht schlimm mit Kants Sache, denn seine ganze Sache steht auf den zwölf apriorischen Verstandeskategorien und den zwei apriorischen Anschauungsformen, wozu noch drei Vernunftideen (von Gott, Welt und Seele) hinzukommen. So möge mir aber dieses Werk gelingen, wie ich es für gerecht und gut halte, daß Schopenhauer elf Apriorische zum Fenster hinausgeworfen hat, und so möge mir auch dieses, zum Werke Dazugehörige gelingen: die noch übrigen von den siebzehn Grundnichtsen, die Kant ebenso wohl als Nichtse wie als Etwasse aufführt, zum Fenster hinaus, die ganze apriorische ausgehungerte siebzehnschwänzige Kantische Philosophie zum Fenster hinaus nachfolgen zu lassen. Amen! (217 f.)

Um nicht missverstanden zu werden: Es geht mir nicht vorrangig darum, dass Brunners Kantkritik unsachlich sei oder sachlich nicht eingeholt werden könne. Brunner ist wahrlich nicht der einzige, der an Kant kein gutes Haar gelassen hat. Bereits im Kreis der Frühromantiker war es Gemeingut, dass Kant ein selbstwidersprüchlicher Philosoph sei, und Schleiermacher hat in seinen – bis heute zu wenig gelesenen – Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) eine umfassende, luzide und hoch ironische Kantkritik vorgelegt, die ungleich schulmäßiger und differenzierter durchgeführt ist als diejenige Brunners, im Ergebnis jedoch nicht weniger desaströs ausfällt.11 Es geht mir vielmehr um die emotionale Erregtheit, die sich in Brunners Schreiben abbildet. Sie treibt Brunner von der Argumentation gegen Kant auf die Metaebene zum Sprechen über die Kantische Philosophie überhaupt und damit in eine Bilderwelt hinein, in der am Ende wie in einer Teufelsaustreibung die Kantische Philosophie als verhexte schwarze Katze aus dem Fenster hinaus geworfen wird. Diese emotionale Erregtheit ist nicht punktuell, verschafft sich nicht allein in akuten Ausfällen z.B. gegen Kant oder ebenso akuten Lobreden z.B. auf Spinoza Luft.12 Sie grundiert Brunners gesamten Text, so dass man den Eindruck eines langen philosophischen Monologs erhält, der in und mit seinem umfänglichen Text gehalten wird und in dem sich

11 Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. In: Ders.: Schriften aus der Stolper Zeit (1802–1804). Hg. von Eilert Herms, Günter Meckenstock und Michael Pietsch. Berlin, New York 2002, S. 27–357. 12 Vgl. etwa Brunner, Lehre (wie Anm. 7), S. 576 f.

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– geradezu auf einer physiologisch-leibhaften Ebene – das philosophische Leben des Constantin Brunner vollzieht. Brunner scheint sich dessen auch durchaus bewusst zu sein, wie besonders jene schönen Stellen zeigen, an denen er sich zu beruhigen versucht und aus der ihn immer wieder übermannenden philosophischen Erregtheit in die philosophische Ruhe zurückzukehren bedacht ist. So wollen wir denn hier eine ruhige kleine Betrachtung über die Mode zwischenstellen. Ein etwas stillerer Gang – das wird uns einmal gut tun. Denn ich fühle es wohl, meine Rede ist unruhvoll. Das ist aber die Unruhe und die Aufregung, die auf mir liegt angesichts des Zustandes vom allgemeinen Denken, in den ich hinaus soll. Die Wucht der ungeheuren Hindernisse will dem Strome der Gedanken kein ruhiges Dahinfließen zulassen, und er schäumt, wo er über Felsen muß. (84)

Die Selbstreflexion über sein Schreiben und über seine Rolle als Schreibenden begleitet ihn ständig. Die Leseranreden, an einen universalisierten Leser oder an spezifische Lesergruppen, die vielen Versprechen, später von etwas ausführlicher zu handeln, wozu jetzt nicht Raum und Zeit ist, die flehentlichen Bitten, einen überaus vernünftigen, wenngleich leider etwas ungewohnten Sprachgebrauch zu akzeptieren, der wiederkehrende Hinweis auf die Größe und Schwierigkeit der eigenen Aufgabe, das immer wieder aufbrechende Entsetzen vor dem Aberglauben – all das hat bei der Lektüre den Effekt, dass wir nicht so sehr (wie wir es beim Lesen von Spinozas Ethik täten) konzentriert der Ausfaltung eines Gedankengangs beizuwohnen scheinen. Vielmehr sind wir immer in der Gesellschaft einer Figur, deren Eigentümlichkeiten sich wieder und wieder in den Vordergrund drängen: der Figur des vereinzelten Philosophen, der eine radikale philosophische Rede führt und in dieser Rede, die sein Leben ist, philosophisch lebt.

IV Noch einmal: der vereinzelte Philosoph Die Aufmerksamkeit auf die Schreibweisen der Philosophen lenken, heißt in der Konsequenz, die Philosophie als eine Untergattung der Literatur aufzufassen. Diese Auffassung, so sehr sie gegenwärtig innerhalb der Philosophie selbst an Boden gewinnt,13 stößt dennoch bis heute bei vielen Philosophen auf nicht allzu

13 Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die beachtliche Nachwirkung der Werke von Jacques Derrida und Richard Rorty innerhalb der Geschichtsschreibung der Philosophie. Beide Philosophen haben auf je unterschiedliche Weise dazu beigetragen, dass die Philosophiegeschichte sich nicht mehr ausschließlich in den Gefilden der Doxographie bewegt, sondern Praxis und Varianten des „philosophical writing“ als zu ihren zentralen Gegenständen gehörig erkannt hat.



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große Gegenliebe. Ich nehme an, dass Constantin Brunner in ihr wenig mehr gesehen hätte als die Untergrabung des Ernstes seines Anliegens. Philosophie für eine Untergattung der Literatur zu erklären, relativiert die traditionellen Geltungsansprüche der Philosophie in einer Weise, die mit dem Gedanken der philosophia perennis schlechthin unvereinbar ist. Indes zeigt die Figur des Philosophen, die sich uns in Constantin Brunners Schreibweisen zeigte, verblüffende Ähnlichkeit mit einem Figurenensemble, das das Werk eines wichtigen österreichischen Schriftstellers des 20. Jahrhunderts bevölkert: den „Geistesmenschen“ im Œuvre von Thomas Bernhard. Der Stilisierungsgrad der radikalen Rede dieser „Geistesmenschen“14 ist in der Prosa Thomas Bernhards höher als bei Brunner. Das sollte uns nicht verwundern, denn schließlich dominiert bei Bernhard der literarische Stilwille des Autors den philosophischen Wahrheitswillen seiner Figuren, während bei Brunner der Primat des philosophischen Wahrheitswillens ganz ungebrochen ist, nur eben durch seine Schreibweisen unterwandert wird. Aber die sprachliche Physiognomie und die stilistischen Verfahren sind ganz dieselben: die geistige und emotionale Erregtheit als Grundstimmung, die kontinuierliche Selbstreflexion, das uferlose Kreisen der Gedanken, die Technik der intensiven Wortwiederholung mit der Folge der semantischen Intensivierung, die Verdinglichung des Schlüsselvokabulars, der leichte Übergang auf eine häufig mit Bildern statt mit Begriffen operierende Metaebene, der polemische Ausfall gegen diejenigen, die nicht „Geistesmenschen“ sind oder nur vorgeben es zu sein – schließlich der apodiktische Duktus der radikalen Rede der Geistesmenschen: „das ist die Wahrheit“ ist nicht umsonst zum geflügelten Thomas Bernhard-Wort geworden. Eingebettet in narrative Zusammenhänge, war die radikale Rede der Geistesmenschen bei Bernhard immer schon auf gewisse Weise relativiert, und vor allem der späte Bernhard hat glanzvoll die exzentrische Komik im Geistesmenschen herauszuarbeiten verstanden.15 Zugleich aber hat er niemals die Prämisse aufgegeben, dass der Geistesmensch Wesentliches zu artikulieren hat, auch wenn er sich vor der Welt lächerlich macht, auch wenn er vielleicht nur einen einzigen Mentor hat, der ihn selbst zum Geistesmenschen erweckt hat, und einen einzigen Schüler, an den er seine Geistigkeit weitergeben kann.16

14 Das Wort kennt auch Brunner (z.B. Brunner, Lehre [wie Anm. 7], S. 101), obwohl er sehr viel häufiger von den „Geistigen“ oder den „geistigen Menschen“ zu sprechen pflegt. 15 Exemplarisch: Thomas Bernhard: Wittgensteins Neffe. Frankfurt a.M. 1982. 16 Man denke an das Verhältnis von Franz-Josef Murau und Gambetti in: Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt a.M. 1986.

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Lehrt uns diese Parallele nun etwas über Constantin Brunner? Trägt sie irgend etwas bei zu der Frage: Wer war Constantin Brunner? Vielleicht dies: wer, wie Brunner, in einem durch und durch historischen Zeitalter die Lehre von der philosophia perennis zu erneuern sucht, wird mit einer gewissen Notwendigkeit in einem exzentrischen Licht erscheinen, ein Licht, das nur verstärkt, nicht aber künstlich erzeugt wird, wenn wir Brunner zu den Geistesmenschen Thomas Bernhards gesellen. Zugleich aber schützt die Lehre von der philosophia perennis den Philosophen auch davor, über seine exzentrische Stellung in der historisierenden Moderne in Verzweiflung zu verfallen. Denn sie begründet ja einleuchtend, weshalb die Wahrheit nur den Wenigen zugänglich ist und den Vielen unzugänglich bleiben muss, und erklärt den vereinzelten Philosophen zur Norm, der in seiner Zeit mit der Wahrheit, die er erkannt hat, allein ist. Drei Tröstungen hat der vereinzelte Philosoph zu seiner Verfügung. Er darf auf die kleine, verborgene und heimlich wachsende Gemeinde hoffen, an die er zu ihrer Erbauung und Stärkung Sendschreiben richtet, so wie Paulus nach Rom oder Korinth schrieb oder Maimonides in den Jemen.17 Er darf aber auch, da er Platon und Spinoza als Vertreter der philosophia perennis hochgehalten und zu wiederholen versucht hat, darauf hoffen, dass ein ferner, zukünftiger Philosoph, der im Namen der philosophia perennis sich erneut auf Platon und Spinoza besinnt, dabei auch Constantin Brunner nicht vergessen wird. Doch letztlich wird es ihn am meisten und am besten trösten, dass es auf den vereinzelten Philosophen, sei er bedeutend oder unbedeutend, und seine Unsterblichkeit nicht ankommt und dass die philosophia perennis trotzdem – nicht sterben kann.

17 Man vgl. die der Gattung des Sendschreibens zugehörigen Briefe Brunners an die Czernowitzer vom 14. Januar und vom 29. März 1923 sowie noch den Brief an Lothar Bickel vom September 1935. Brunner, Briefe (wie Anm. 8), S. 342–347, S. 348–353, S. 528–531.

Martin Rodan

Constantin Brunners Lehre von den Geistigen und vom Volk als Philosophie der Geschichte Constantin Brunner ist einer der letzten systematischen Denker in der modernen, nachhegelianischen Philosophie.1 In seinen Werken hat er mittels einer holistischen, alles verknüpfenden Wahrheitsintuition verschiedene Aspekte seines enzyklopädischen Wissens logisch und schöpferisch verbunden, durchdacht und belebt. Auch Brunners Auffassung der Geschichtsphilosophie, besonders sein Konzept der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte, lässt sich ohne Kenntnis seiner Grundtheorien, der „Fakultätenlehre“ und der „Lehre von den Geistigen und vom Volk“, nicht richtig verstehen. Aber das gilt auch umgekehrt: Ohne eine tiefgehende Kenntnis der Kultur Europas, ohne eine Begeisterung für die griechische Kunst, für den hebräischen Prophetismus, für die neuzeitliche, hauptsächlich von Spinoza inspirierte Philosophie, hätte Brunner sein philosophisches Weltbild nicht entwickeln können. Den besten Beleg dafür finden wir in einem autobiographischen Brief, den er 1910 an den Schriftsteller und Philosophen Max Nordau geschrieben hat. Hier erläutert er, wie er zur Grundidee seiner Philosophie gekommen sei: beim Anblick der „Tauschwestern“, einer Torsoskulptur des Parthenongiebels im Londoner British Museum: „Plötzlich fand ich mich vor den ,Tauschwestern‘ – ja, hier fand ich mich im innerlichen Erleben eines erschütternden Augenblicks, worin ich alle verborgene Wahrheit wunderbar zu schauen vermeinte. Dies war nun der Beginn meiner innerlichen Umkehr, meiner Umkehr ins Innerliche.“2 So können wir mit Erstaunen feststellen, dass Brunner ein einziges, noch dazu stark beschädigtes Kunstwerk aus der fernen griechischen Vergangenheit zu seinem umfassenden philosophischen System angeregt hat. In seiner Geistesphilosophie meint er später, dass sich durch einen einzigen starken und außergewöhnlichen, durch Kunst oder Liebe modifizierten Sinneseindruck das Wesentliche der Philosophie in einem Augenblick erfassen, begreifen und erleben lässt, andererseits jede einzelne Bemerkung nur innerhalb des ganzen Lehrgebäudes

1 Das hat schon Heinz Stolte 1968 hervorgehoben: Heinz Stolte: Vom Feuer der Wahrheit. Der Philosoph Constantin Brunner. 3. Aufl. Husum 1990, S. 10. 2 Constantin Brunner: Zum 55. Geburtstag, Unser Charakter oder Ich bin der Richtige! Kurze Rechenschaft über die Lehre von den Geistigen und vom Volk. Stuttgart 1964, S. 21. Es handelt sich bei der Skulpturengruppe um die Elgin Marbles.

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verständlich wird, denn kein Einzelding lasse sich ohne das ganze System des Denkens richtig erfassen.3 Es ist genau dieser ganzheitliche Ansatz, den Brunners Denken auszeichnet.

I Aber wie ist nun Brunners Vorstellung der Geistes- und Kulturgeschichte mit seiner „Fakultätenlehre“ verknüpft? „Fakultäten“ nennt Brunner die rigoros voneinander zu unterscheidenden Denkweisen „praktischer Verstand“, „Geist“ und „Aberglaube“. Während der praktische Verstand die „relative Wirklichkeit“ in den Formen des Fühlens, Wissens und Wollens denkt, erfasst das geistige Denken die „absolute Wahrheit“ und modifiziert den praktischen Verstand in den Formen der Kunst, Philosophie und mystischen Liebe. Der Aberglaube stellt eine Verbindung der ersten beiden Fakultäten dar: er verabsolutiert die relative Wirklichkeit zu illusorischen und lügnerischen Scheinbildern einer fiktiven absoluten Wahrheit; dies äußert sich, so meint Brunner, in religiösen, metaphysischen und moralischen Formen.4 Bezüglich der Geschichtsbetrachtung bedeutet diese Annahme: Um die Geschichte richtig zu verstehen, muss man zwischen ihrer praktischen und geistigen Dimension unterscheiden.5 Nüchtern betrachtet ist die Geschichte nach Brunner immer ein Interessen- und Machtkampf zwischen dem Individuum und der Gesellschaft – oder mit anderen Worten: „Die Radikalien des Egoismus“ sind die „Basis der Gesellschaft“.6 Zwar sollten sich die Menschen auch in einer individualistischen, liberalen, gut funktionierenden Gesellschaft für praktische und gerechte Ziele einsetzen, zum Beispiel für die Verteidigung der Menschenrechte oder für die Gleichheit aller Bürger eines Staates. Aber Brunner meint, dass dies häufig durch eine abergläubische Verabsolutierung pseudoreligiöser oder pseudowissenschaftlicher Wahnvorstellungen verhindert wird, so dass faktisch ein

3 Constantin Brunner: Materialismus und Idealismus [1928]. 2. Aufl. Köln, Berlin 1959, S. 29. 4 Zur Fakultätenlehre siehe Brunner, Rechenschaft (wie Anm. 2), S. 217–229; siehe auch Jürgen Stenzel: Die Philosophie Constantin Brunners. Essen 2003, S.  109–129; Hans Goetz: Leben ist Denken. Eine Schrift zur Renaissance der Philosophie des deutschen Denkers Constantin Brunner. Hg. von Heinz Stolte. Frankfurt a.M. 1987, S. 11–102; Hendrik Matthes: Constantin Brunner. Eine Einführung. Düsseldorf 2000, S. 19–41. 5 Siehe Stenzel, Philosophie (wie Anm. 4), S. 139–145; Goetz, Leben (wie Anm. 4), S. 148–155; Matthes, Brunner (wie Anm. 4), S. 28–30. 6 Stenzel, Philosophie (wie Anm. 4), S. 61.



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Kampf der Menschen, die solche Wahnideen vertreten, mit den geistig denkenden Menschen stattfindet. Mit vielen Beispielen aus der älteren und neueren Menschheitsgeschichte zeigt Brunner im Detail, dass der Kampf der „Geistigen“ zwar nie vollständig erfolgreich sein kann, aber doch geführt werden müsse. Seiner Meinung nach sind die größten Genies der Menschheit, – er nennt Sokra­ tes, Jesus und Spinoza –, zugleich auch immer ihre mutigsten Verteidiger des „Geistes“ gegen den „Aberglauben“. „Geistig“ betrachtet sei die Menschheitsgeschichte daher etwas ganz anderes als ein ständiger Kriegszustand, in dem jeder gegen jeden kämpfe, um Habe, Frau und Ehre: Die Geschichte sei eine Geistesgeschichte: die Arena einer nie entschiedenen Auseinandersetzung zwischen dem abergläubisch denkenden „Volk“, dessen Gedanken lediglich weltlich bzw. Weltliches verabsolutierend seien, und den „Geistigen“, die zwar innerhalb der Volksgemeinschaft leben müssten, dabei aber doch stets dem Geist zugewandt blieben. Die Konfrontation zwischen dem Volk und den Geistigen ist für Brunner von einer durchgängigen historischen Bedeutung, und so werde sie auch an der Kulturgeschichte Europas sichtbar, weshalb Brunner sie in seiner „Lehre von den Geistigen und vom Volk“ exemplifizieren konnte.7 Das heißt: Für Brunner bedeutet die europäische Kulturgeschichte etwas anderes als man sich gemeinhin darunter vorstellt: Sie ist nicht nur eine unendliche Sammlung heterogener, mehr oder weniger wertvoller, sehr oft auch kurioser und skurriler Ereignisse und Artefakte, die dann alphabetisch, geographisch oder chronologisch sortiert dem bildungsbürgerlichen Betrachter präsentiert werden, sondern sie besteht für ihn aus den großen Werken und Taten einer kleinen Anzahl geistiger Schöpfer. Die vorbildliche Lebensweise dieser seltenen künstlerischen, philosophischen und mystischen Genies und ihre Meisterwerke bilden ein unschätzbares und unersetzbares Kulturkorpus, die ,echte‘ Kulturgeschichte der Menschen aller Zeiten und Nationen. Damit möchte sich Brunner vor allem gegen die Idee einer allgemeinen Bildung absetzen, die vom „Volk“ oder den „Massen“ bestimmt werde: „Ich aber, als ein arger Ketzer gegen die allgemeine Stimme, muß dem europäischen Götzen, dem ,Geist‘ des Volkes: Opfer und Anbetung versagen. Ich bin gegen dieses hölzerne Eisen, gegen diesen Geist des Volkes und gegen die geistige Bildung für jedermann – im Namen des Geistes und im Namen der wahrhaft geistigen Bildung!“8

7 Zu Brunners „Lehre von den Geistigen und vom Volk“ siehe Constantin Brunner: Die Lehre von den Geistigen und vom Volk [1908]. 3. Aufl. Stuttgart 1962, S. 3–118; Brunner, Rechenschaft (wie Anm. 2), S. 229–241; Goetz, Leben (wie Anm. 4), S. 119–140; Matthes, Brunner (wie Anm. 4), S. 22–24; Stenzel, Philosophie (wie Anm. 4), S. 129–150. 8 Brunner, Lehre (wie Anm. 7), S. 42.

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Die genialen Schöpfer und ihre Werke, die der Gegenstand der „wahrhaft geistigen Bildung“ sein sollen, würden zwar weithin verehrt, so meint Brunner weiter, aber diese Nachahmungen seien meist nur „ungeistige“ Interpretationen. So versteht Brunner dann auch die Geschichte insgesamt: „Denn was sonst können wir mit einigem Fug und Recht Geschichte der Menschheit nennen als ihr Verhältnis der Nachahmung zu ihren Genien?“9

II Die ganze Geistesgeschichte des neuzeitlichen Europa ist für Brunner in einem gewissen Sinne lediglich ein Übernehmen der griechischen und hebräischen kulturellen Werte.10 Um diesen Standpunkt besser verstehen zu können, müssen wir mit Brunner fragen, warum die reiche, vielfältige und multi-ethnische Kulturgeschichte des Abendlandes gerade in Athen und in Jerusalem gestaltet und hervorgebracht wurde. Die unvergleichbare Wirkung der griechischen Kunst und Philosophie erklärt Brunner weder wie Winckelmann als ein „Wunder“ noch wie Hegel als „klassische Stufe der Kunstgeschichte“ und auch nicht wie Nietzsche als den Gegensatz von „Apollinischem und Dionysischem“. Brunner erklärt sie durch die einfache Tatsache, dass die Grundtexte dieser Kultur, Ilias und Odyssee, von einem Genie, Homer, geschaffen worden seien.11 Solch ein Werk eines Genies bleibe unabhängig vom Zeitpunkt seiner Entstehung für immer bestehen, neu und vollkommen. Brunner bemerkt: „So könnte es unserer ganzen Zeit ergehen, daß sie namenlos verrollt und versinkt. Ganze Zeiten sind versunken und völlig vergessen, wie z.B. die Zeit Homers, aber Homer wird nicht vergessen.“12 Der homerische Geist habe den Geist der griechischen Künstler und Philosophen entzündet, die dann selber geistige Meisterwerke produziert hätten. So seien nicht nur das Epos und die Lyrik, sondern auch das Drama und die bilden-

9 Constantin Brunner: Unser Christus oder das Wesen des Genies [1921]. 2. Aufl. Köln, Berlin 1958, S. 163. Dieser Gedanke Brunners ist das Motto meines französisch geschriebenen Buches über die Geschichte der europäischen Kultur: Notre culture européenne, cette inconnue. Bern 2009, siehe S. 7. 10 Brunner, Lehre (wie Anm. 7), S. 82. 11 Über die griechische Dichtung und Philosophie siehe Brunner, Lehre (wie Anm. 7), S. 917– 920. Siehe auch Michaël Baraz: La révolution inespérée. Constantin Brunner. [Paris] 1986, S. 119 und 196. 12 Brunner, Christus (wie Anm. 9), S. 163.



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den Künste, besonders die Skulptur, vom homerischen Geist belebt worden.13 In seiner Lehre schreibt Brunner dazu: Wer mit [der griechischen Plastik] vertraut ist, wird nicht in Abrede stellen können, daß sie in der hier angegegeben Weise Alles was männermöglich und Alles was weibermöglich, daß sie Alles was menschenmöglich ist umspannt, vom Alleredelsten bis zum Allerniedrigsten und bis zu jenen Zwittergeschöpfen hin, darin die Geschlechter ineinander überzugehen scheinen. [...] [Die griechische Plastik] macht mit allen ihren Hauptgestalten den Eindruck des zwingend Notwendigen; ganz absurd wird auf der Stelle Alles, wenn wir versuchen, den innerlichen Charakter des einen Leibes dem andern tauschweise zu leihen, wenn wir einen Herakles als Apollon denken oder eine Hera als Aphrodite Pandemos oder auch selbst als Aphrodite von Melos.14

Wir haben eingangs an den „Tauschwestern“ die ungeheuere geistige Einwirkung gesehen, die ein einziges griechisches Kunstwerk auf Brunners Leben haben konnte. Der homerische Geist hat aber nicht nur Künstler, sondern auch Denker inspiriert. In einem der eindrucksvollsten Kapitel seiner Lehre –„Die Bewegungslehre bei den griechischen Denkern“ – das den Vorsokratikern gewidmet ist, bemerkt Brunner: „Bei den eigentlichen originalen Denkern Griechenlands finden wir von den ersten bis zu den letzten, was wir suchen, in der größten Deutlichkeit.“15 Die Vorsokratiker haben, wie Bunner ausführlich erläutert, als erste die Basis des wissenschaftlichen Denkens herausgestellt: die Abstraktion der Bewegung und den daraus abgeleiteten Atomismus,16 und diese Gedanken haben dann später die Entwicklung der Wissenschaft ermöglicht. Brunner bewies damit vor Heidegger, mit einfacherer Terminologie und überzeugenderen Argumenten, die unvergleichbare Einzigartigkeit und Relevanz der vorsokratischen Denker für die Gegenwart.17 Sokrates, „durch sein Daimonion gestellt auf die Beziehung zur Tiefe seiner Innerlichkeit“,18 sei schon zu seiner Zeit als der weiseste Grieche betrachtet

13 Über die geistige Eigentümlichkeit der griechischen Kunst und Kultur siehe Brunner, Lehre (wie Anm. 7) S. 442–448. 14 Brunner, Lehre (wie Anm. 7), S. 1078 f. 15 Brunner, Lehre (wie Anm. 7), S. 348; siehe dazu auch das ganze Kapitel, S. 374–391. Über die Wichtigkeit der Atomtheorie der Vorsokratiker siehe auch: Martin Rodan: Camus, Bickel, Brunner – une rencontre ou une révolution. In: Etudes camusiennes 4 (2000), S. 100–116; übersetzt ins Deutsche: Camus, Bickel, Brunner – Zufall oder Revolution. In: Internationaal Constantin Brunner Instituut. Jahrbuch 2001. Essen 2001 (Brunner im Gespräch 5), S. 73–87. 16 Brunner, Lehre (wie Anm. 7), S. 348–364 und S. 423–448. 17 Über Brunner und Heidegger siehe Goetz, Leben (wie Anm. 4), S.  160–164, und Baraz, La révolution (wie Anm. 11) S. 291. 18 Brunner, Christus (wie Anm. 9), S. 90.

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worden. Wie Sokrates in Platons Menon aus einem ganz ungebildeten Sklaven die Grundbegriffe der Geometrie hervorgeholt habe, so könne er jedem zur Wahrheit verhelfen, meint Brunner.19 Die „beabsichtigte, verstellte Naivität oder Ironie“ sei „das Hauptmittel seiner Äußerung“ gewesen; dadurch habe Sokrates, obwohl er nicht schrieb, jedem Gesprächspartner seine Weisheit, seine emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten, nahegebracht.20 Doch die sokratische Ironie ist nach Brunner auch die tragische Ironie der Geistesgeschichte. Sokrates habe jeden geliebt und verstanden; das Volk aber habe ihn zwar auf seine Art und Weise geschätzt, jedoch nie wirklich verstanden. Aus solchem Unverständnis heraus könne Sympathie in Hass umschlagen, so dass Sokrates, der weiseste der Griechen, schließlich zum Tode verurteilt worden sei.21 Nur die Geistigen, hauptsächlich seine philosophischen Schüler, seien ihm gewissermaßen treu geblieben. Dennoch habe Sokrates nicht nur diese Wenigen beeinflusst, die ihm folgten, sondern die Geschichte stark mitbestimmt: Unermeßlich scheint des Sprechers Sokrates allgemeine Wirkung in die Geschichte. Fast ausschließlich von dem einzigen Sokrates aus gehen alle diejenigen griechisch-römischen Kulturmomente, die sich später mit den christlichen zusammengeschlossen, solcherart noch nachträglich weisend auf den merkwürdigsten Griechen mit solchem gewissen Geiste [...].22

III Einen ähnlichen Prozess musste nach Brunners Ansicht auch das Judentum überstehen, um jene überzeitliche Bedeutung erhalten zu haben, die auch die griechische Antike auszeichne. Das Judentum habe noch stärkeren Einfluss auf die abendländische Geschichte als die griechische Antike, da das Judentum nicht wie die Antike ästhetisch oder philosophisch, sondern direkt auf das Leben mys-

19 Brunner, Lehre (wie Anm. 7), S. 932. 20 Brunner, Christus (wie Anm. 9), S. 178; siehe weiterhin zu Sokrates, Christus und ihre Nachahmung durch das „Volk“ S. 259–279. Siehe auch Lothar Bickel: Aus den ersten Schriften: Zur Renaissance der Philosophie. Studien zu einigen Dialogen Platons. Hg. von Michaël Baraz. Zürich 1975, S. 102–103. 21 Siehe Constantin Brunner: Vom Geist und von der Torheit. Hg. vom ICBI. Hamburg 1971, S. 25–28; Brunner, Christus (wie Anm. 9), S. 258 f.; siehe auch George Goetz: Philosophie und Judentum. Vorträge und Aufsätze aus den Jahren 1924–1968. Hg. von Hans Goetz. Husum 1991, S. 79. 22 Brunner, Christus (wie Anm. 9), S. 263; siehe auch Constantin Brunner: Sokrates, in: Vom Geist (wie Anm. 21), S. 33.



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tisch gewirkt habe und wirke.23 Die mystische Liebe bewege am meisten und aus ihr stamme auch die Kraft des Judentums. Brunner schreibt: Und vor drei Jahrtausenden bereits blühte unter diesem einen Volke die hohe Literatur des sittlichen Gewissens und der Liebe und war diesem ganzen Volke, den Juden, „heilige Schrift“. Juda war die Nachtigall, von winzigem Leibe nur, die so mächtigen Gesang hat hören lassen, davon die Völker bezaubert wurden. Barbaren, Nomaden, und Menschenfresser waren unsre Völker, die übrigen Völker aber waren krank und ihr großer Pan war tot – jene heilige Schrift, die Seele des Judentums, gab den hellen Klang, wodurch das Abendland geweckt und emporgerichtet wurde; und auf der Juden Schöpfung gründet sich alle Kultur bis auf den heutigen Tag. Das Judentum ist das neue Salz der Erde geworden, das Judentum hat die antiken Staaten aufgelöst und war an sich selber das Prinzip neuer Staatenbildung, neuer Rechtsordnung, neuer Politik und einer gänzlich veränderten Kultur, zu welcher es auf eine in der Welt noch nicht dagewesene Art die verschiedenen Staaten und Nationalitäten verband, in ihnen allen je ihre tiefste Eigentümlichkeit aufregend.24

Dieser immense Einfluss liege in einem einzigen Buch begründet, der Bibel: Unermeßliches, ganz Unermeßliches – ja, wahr ist, daß kein Wort der Bibel, worauf nicht ein Berg gesetzt wäre. Die Bibel ist wirklich die Bibel, das Buch, die einzige Weltliteratur im wahrhaft eigentlichen Sinne. Keine Literatur haftet in den Gemütern wie die biblische, keine andre verbindet sich gleich ihr mit dem reinen Geist des Naturlebens und dem Naiven im Menschen, dem Beharrenden in aller Veränderung der Kultur und dem durch keine Verschiedenheit der Bildung zu Widerlegenden; keine andre Literatur als die biblische erweckt so das Gefühl der herzlichen Nähe und trifft so, mit großartigem Wirklichkeitssinn, die Grundtatsachen und die Grundbedürfnisse des Lebens – darum verbindet sie sich mit der Natur der Menschen von aller Art und aller Zeiten, weil sie die literarisch ernsteste, vollbeseelteste und unschuldigste Literatur ist, die immer nur um der Sache willen sagt, dabei unabhängig von jeglicher Gelehrsamkeit und durch keine Mythologie am freien lyrischen Aufschwung der Seele gehindert.25

Ihren unvergleichbaren Wert verdankt die Bibel nur wenigen: Moses und einigen von ihm und seinem Geist inspirierten Propheten. Das ,echte‘ Judentum sei in erster Linie die prophetische Lehre des Moses. Seine durch das Geistige motivierten Taten bildeten bis heute nicht nur den wesentlichen Teil der Geschichte seines Volkes, sondern der gesamten Menschheitsgeschichte. Moses, der große Wegbereiter, habe sein Volk zu dem Ort geführt, an dem es leben sollte, und ihm gezeigt, wie es leben sollte. Die von seiner Lehre inspirierten Propheten hätten seinen Geist unter den Israeliten erhalten und weiter verbreitet. Daher hält Brunner die

23 Siehe auch Matthes (wie Anm. 4) S. 54–55. 24 Constantin Brunner: Der Judenhaß und die Juden [1918]. 5. Aufl. Berlin, Wien 2004, S. 284 f. 25 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 24), S. 285 f.

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Propheten für „die Geistigen in Israel“,26 für Genies. Er entrüstet sich, dass sie in der Literatur über die Genies nicht vorkommen und möchte dies mit seinem Werk über „das Wesen des Genies“ nachholen: […] die ganz großen mystisch prophetischen Genies sind es, welche das Leben der Menschheit aus den Angeln heben und im eigentlichen Sinne die Geschichte machen. Angesichts der Tatsache solcher überragenden Bedeutung der prophetischen Genialität und angesichts der ferneren Tatsache, daß keine andern genialen Menschen solche großartig lebendigen Schilderungen von der genialen Inspiration gegeben haben wie die Propheten, würden wir gänzlich verzweifelnd an jeglicher Erklärung stehen vor der dritten Tatsache, daß die Schreiber über das Wesen des Genies die Propheten auslassen und an sie überhaupt nicht denken, – wenn uns nicht die Macht der Sprache bekannt wäre, das Denken totzuschlagen. Die Schreiber über das Genie haben an das nicht gedacht, woran wir in diesem Werke „Unser Christus oder das Wesen des Genies“ denken wollen, – sie haben daran nicht gedacht: weil die Propheten Propheten heißen und nicht Genies. Trotzdem sind die Propheten genial und schildern, wie gesagt, die Zustände der genialen Inspiration auf die wahrhaftigste und mächtigste Art […].27

An Moses zeigt Brunner, dass Propheten auch Volkstribunen sein konnten, die durch ihre Weisheit und ihr Charisma großen politischen Einfluss im alten Israel und in Judäa ausübten. Dennoch seien die biblischen Propheten wegen ihrer „Entrückung“, ihrer „Vergessenheit des Egoismus“ und ihrem „Schauen der Zusammenhänge“ in erster Linie Mystiker des Geistes.28 Zu diesen zählt Brunner auch Jesus. Auch er sei lediglich ein Prophet unter anderen, allerdings der größte von allen: Und Christus war ein Prophet, ein Feuer; nach langer Zeit der Unterbrechung des Prophetismus ihr himmelgewaltigstes und heiligstes Feuer. Er schrieb nicht, er hätte wahrscheinlich gar nicht schreiben können; und, weil er nicht schrieb, war Sprechen das fortwährende Bedürfnis seiner im allergrößten Sinne genial schöpferischen Natur. Er mußte sprechen, sei es auch zu den Nichtverstehenden, die doch aber wenigstens fühlten bei seinem Sprechen. Das sahen sie: diese Gottlosigkeit war fromm, diese Weltfreiheit Macht, und seine Seligkeit war ihnen heilig.29

Vor diesem Hintergrund meint Brunner, dass man die Botschaft Christi ausschließlich im Kontext des Judentums auffassen müsse.30 Brunner behauptet,

26 Brunner, Christus (wie Anm. 9), S. 462. 27 Brunner, Christus (wie Anm. 9), S. 114 f. 28 Brunner, Christus (wie Anm. 9), S. 216. 29 Brunner, Christus (wie Anm. 9), S. 86. 30 Zu Brunners Christusbild siehe Brunner, Christus (wie Anm. 9).



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dass Christus die Verwendung des Wortes „Gott“ absichtlich vermieden und sich nicht als moralisches Vorbild für die Gesellschaft betrachtet habe. Er sei kein Messias gewesen, habe sich auch nicht um Dogmen gekümmert und habe zudem das Gebet verworfen.31 Denn das, was Jesus eigentlich getan habe, sei für den Verstand der Nicht-Geistigen nicht greifbar. Dies liege an der Homonymie der Sprache.32 Brunner meint, dass die Begriffe der Geistigen zwei Bedeutungen haben, eine weltliche und eine geistige. Letztere könne vom Volk nicht erfasst werden. Das heißt, wenn Jesus von seinen Jüngern in der Sprache des Volkes unbedingte Liebe fordere, so bedeute dies in der Sprache der Geistigen die Aufforderung zum Streben nach einem geistigen Leben. Sein geistiges Leben, seine Worte und seine Taten hätten Jesus zum Ideal der Menschheit gemacht, mit anderen Worten zum Wesen des Genies, meint Brunner. Das geistige Vor- und Urbild, das Jesus mit seinem Leben und seinem Tod verwirklicht habe, fasst Brunner in den drei Worten Weltfremdheit, Gottlosigkeit, Seligkeit zusammen.33 Das Christentum habe diese drei geistigen Werte in ihr Gegenteil umgekehrt: statt Weltfremdheit erscheine Jesus hier als ringend um die weltliche Herrschaft, statt Gottlosigkeit sei Jesus zum Gott gemacht worden und statt Seligkeit sei er zum Bestandteil einer Religion unendlichen Leidens geworden.34 Wie Sokrates werde auch der geniale Stifter des Christentums, Jesus, von einem großen Teil seiner Anhänger zwar meist bedingungslos verehrt, aber sehr schlecht verstanden, besonders wenn sie sich einbilden, dass Liebe zu ihrem Religionsgründer Hass gegenüber denen verlange, die ihn nicht ehren. Brunner war weit davon entfernt, den Einfluss der Geistigen in der allgemeinen Geschichte nur positiv zu bewerten; in seinem Buch Liebe, Ehe, Mann und Weib vergleicht er die geistige Liebe mit dem sexuellen Trieb.35 Wie sexuelle Liebe führe die geistige zu schönsten und erhabensten Gefühlen. Zugleich könne aber die physische Liebe, durch Eifersucht verworren, auch zu Mord und schlimmsten Verbrechen verleiten. Ebenso könne die geistige Liebe, durch Aberglauben irregeleitet, die grausamsten und verrücktesten Gewalttaten hervorrufen.36

31 Siehe Brunner, Christus (wie Anm. 9), S. 19, 82 f., 96, 294, 311, 313. 32 Über die Homonymie der Sprache siehe Brunner, Lehre (wie Anm. 7), S. 1032; Brunner, Rechenschaft (wie Anm. 2), S. 230; Brunner, Christus (wie Anm. 9), S. 18; Stenzel, Philosophie (wie Anm. 4), S. 138. 33 Brunner, Christus (wie Anm. 9), S. 86, siehe auch S. 13–16. 34 Über Jesus und die christliche Religion siehe Brunner, Christus (wie Anm. 9), S.  309, 427, 523. 35 Constantin Brunner: Liebe, Ehe, Mann und Weib [1924]. 2. Aufl. Stuttgart 1965, S. 108 f., 118. 36 Siehe Brunner, Lehre (wie Anm. 7), S. 456; Brunner, Christus (wie Anm. 9), S. 61–62. Über die Eifersucht siehe Liebe (wie Anm. 35), S. 38–39.

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IV Brunners Betonung der geistigen Genies und seine Hochachtung für die griechische Antike und die jüdischen Propheten setzt sich dann auch in seinen weiteren kulturhistorischen Studien fort. Nicht zufällig beginnt für ihn die europäische Geistes- und Kulturgeschichte mit der Renaissance und dem Humanismus. Diese Bewegung hätte die echten, lebendigen Quellen des Griechen- und des Judentums wiederentdeckt, und durch ihre Verschmelzung sei unsere moderne Welt entstanden. Hendrik Matthes schreibt über diesen Aspekt bei Brunner: Brunner bemüht sich, die geistige Emanzipation der Menschheit in der Geschichte zu verfolgen. Das original geistige Denken der Griechen, das größtenteils in der Scholastik des Mittelalters verloren ging, wurde dann in der Renaissance des Humanismus wiederbelebt. Es vollzog sich damals ein völliger Umschwung in Denkart und Praxis. Das wiedergeborene griechische Denken erlöste die Christenmenschen von ihrem falschen Glauben an die fiktiv absoluten, transzendenten Ursachen und machte sie mit der echten Ursächlichkeit bekannt. Ursache denken heißt: die Bewegung und die Bewegungsverwandlung erkennen.37

Nur durch diese Erkenntnis sei die Entwicklung der Wissenschaft möglich geworden. Spinoza sei dann der erste gewesen, der die westliche, weltliche Form des Laizismus im philosophischen sowie auch im politischen Sinne formuliert und gelebt habe: Er habe sich mit voller Bewusstheit außerhalb jeglicher Religionsgemeinschaft gestellt.38 Spinozas gesellschaftliches und politisches Denken stütze sich, wie sein Theologisch-politischer Traktat beweise, auf den mosaischen Prophetismus,39 und seine Philosophie beruhe, wie seine Ethik zeige, auf dem geistigen Fundament des griechischen Weisheitsmodells;40 damit habe er „die Erlösung vom Christentum vollendet, die durch die Bekanntschaft mit den Griechen in den ersten Tagen der Renaissance begann und die Michelangelo in dem großen steinernen Symbole der Kunst gefeiert hat“.41 Nicht nur die Philosophie, auch die genialen Schöpfer der europäischen Kunst, der Poesie, der Musik und sogar der Plastik und der Malerei hätten – wie Michelangelo – für ihre Meisterwerke die Inspiration aus dem Geiste der griechischen und biblischen Vergangenheit benötigt. Brunner meint, dass die Kunst

37 Matthes, Brunner (wie Anm. 4), S.  56. Siehe hierzu auch Brunner, Lehre (wie Anm. 7), S. 450, 559, 639 f. 38 Brunner, Christus (wie Anm. 9), S. 310. 39 Brunner, Christus (wie Anm. 9), S. 227. 40 Siehe hierzu Brunner, Lehre (wie Anm. 7), S. 467–531. 41 Siehe hierzu Brunner, Lehre (wie Anm. 7), S. 470.



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ohne das Feuer des Geistes entweder zur spröden Nachahmung der durch Tradition geschaffenen formellen Archetypen der Schönheit führt – wie wir es im akademischen Neoklassizismus sehen –, oder zur besessenen Suche nach Originalität um jeden Preis – wie es sich bei den modernen Kunstwerken zeigt.42 Doch den Geist in der Kunst zu erkennen sei für das allgemeine Publikum fast so schwer, ja unmöglich, wie bei den Werken der Philosophie und der Mystik.43 Ein eindrückliches Beispiel ist für Brunner Matthias Grünewald, der bis zu seiner Wiederentdeckung am Ende des 19. Jahrhunderts durch den französischen Schriftsteller J.-K. Huysmans ganz in Vergesssenheit geraten war und nun von Brunner und seiner Zeit gefeiert wird: „Soeben erst haben wir Deutsche die Schande zu verzeichnen, daß wir auf den einzigen deutschen Maler, der diesen Namen im erheblichsten Sinn verdient, daß wir auf Matthias Grünewald erst jetzt eben, nach vierhundert Jahren, aufmerksam zu werden begannen.“44 Aber auch weltberühmte Künstler, deren Größe anerkannt ist, würden sehr oft aus den falschen Gründen verehrt. Brunner erklärt in seinem höchst interessanten Artikel über Michelangelo dessen künstlerische Einzigartigkeit dadurch, daß Michelangelo keine Welt kennt, sondern nur das Ich des Menschen, genau gesagt des Mannes; [...]. Kaum daß in seinem Werk etwas vorkommt von dem Aussehen der Welt. Keinen Himmel und keine Landschaft gibt es, für Pflanzenleben ist kein Herz da [...]. Nichts als ganz allein nur die Kraft und der Mann; Michelangelos Welt, das sind die Männer. Ha, welche Männer! Von jenem Kampfjüngling David an bis zu diesem Mann der Männer Moses, Geist und Wille der schaffenden Gewalt!45

Doch die Mehrheit der Menschen erkenne gerade dies alles nicht; sie ziehe jeden Schund und Kitsch den Werken großer Künstler und Schriftsteller vor, statt sich bei ihren Lektüren auf Meisterwerke der großen Autoren wie Shakespeare, Goethe oder Dostojewski, beim Musikhören auf Komponisten wie Bach und Beethoven oder bei der Malerei auf Künstler wie Michelangelo, Grünewald oder Rembrandt zu konzentrieren.

42 Siehe Constantin Brunner: Zur Technik des künstlerischen Schaffens. In: Vom Geist (wie Anm. 21), S. 98–152. Siehe auch Brunner, Lehre (wie Anm. 7), S. 1047 und Constantin Brunner: Aus meinem Tagebuch [1928]. 2. Aufl. Stuttgart 1967, S. 218–222. 43 Brunner, Tagebuch (wie Anm. 42), S. 130. 44 Brunner, Christus (wie Anm. 9), S. 389 f. Siehe hierzu Martin Rodan: Matthias Grünewald, „le plus forcené“ des peintres selon Joris-Karl Huysmans. In: Bulletin du Centre de recherche français à Jérusalem [Online], 24 | 2013. http://bcrfj.revues.org/7129 (20.8.2014). 45 Constantin Brunner: Michelangelo. Meinem Lothar Bickel zugeeignet. In: Brunner, Vom Geist (wie Anm. 21), S. 346.

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 Martin Rodan

Werke, Worte und Taten genialer Künstler, Denker und Mystiker bilden zusammen das, was Brunners Bewunderin, die Dichterin Rose Ausländer, den „Raum des Geistes“46 nennt, ein sozusagen geistiger Weltenraum aller großen Schöpfer der Menschheit. Derjenige, der geistig zu leben beabsichtige, obwohl er mit seinem Körper lediglich in seiner Zeit nur an einem einzigen Ort weilen könne, solle sich mit seinem geistig modifizierten Leben und Denken in diesem „Raum des Geistes“ einquartieren. Mit Jürgen Stenzel gesagt: „Die Geistigen sind die Gemeinschaft der Zeitlosen gegenüber der Gemeinschaft der Zeitmenschen.“47 Brunners Geistesgeschichte ist daher keine bildungsbürgerliche Chronik, die den vergänglichen Zeitgeist verschiedener Zeitalter enzyklopädisch dokumentiert. Sie ist auch nicht systemisch und historisch entwickelnd. Brunner untersucht keine Abläufe, keine notwendigen kulturgeschichtlichen Vorgänge, sondern bestimmte historische Konstellationen. Er richtet sein Augenmerk auf die ewige Gegenwart des Geistes, der die Menschheit immer von Neuem erweckt, bewegt und inspiriert habe. Brunners Blick auf die Geschichte ist daher nur punktuell. Er hebt eine Handvoll „geistiger Genies“ hervor: Moses und die Propheten, Homer, Sokrates, Jesus, Spinoza, Shakespeare, Michelangelo, Rembrandt, Bach, Beethoven oder auch Goethe. Indem er ihre Geistigkeit aufzeigt, aber auch ihr Missverstanden- und Verfolgtwerden durch das „Volk“, will Brunner den Leser dazu bewegen, das Geistige in sich selber zu suchen und hervortreten zu lassen. Hiervon erhofft Brunner, wie er metaphorisch einmal schreibt, eine geistige „Modifikation“: „Wie Öl über Wasser, so breitet sich der Geist über das Leben.“48

46 Rose Ausländer: Constantin Brunner. In Memoriam. In: Rose Ausländer: Die Erde war ein atlasweißes Feld. Gedichte 1927–1956. Hg. von Helmut Braun. Frankfurt a.M. 1990, S. 191. 47 Stenzel, Philosophie (wie Anm. 4), S. 323. Bezug: Brunner, Lehre (wie Anm 8), S. 57. 48 Brunner, Materialismus (wie Anm. 3), S. 193.

David J. Wertheim

How Jewish was Constantin Brunner’s Spinozism? As an ardent admirer of Spinoza, Constantin Brunner seems a typical product of the era of German Jewish emancipation. Throughout this era, German Jews rehabilitated, admired and even celebrated their renegade ancestor. It had been a lengthy process that began cautiously at the dawn of the German Enlightenment, with Moses Mendelssohn’s involvement in the Pantheismusstreit. It culminated – symbolically – with Spinoza’s 300th birthday at the very end of this era, just a few weeks before Hitler’s rise to power. To mark the occasion true Spinozafeier were celebrated all over the Jewish press, in lectures, and even with an exhibition in the community building of the Oranienburger Strasse Synagogue in Berlin. The admiration of Spinoza was shared by Jews from almost all ideological and denominational backgrounds, although there were exceptions: Some orthodox voices, and a few intellectuals – not the least ones, it should be admitted – like Hermann Cohen and Franz Rosenzweig, vehemently opposed the Jewish celebration of what they considered an enemy of Judaism. But they were clearly a minority and Brunner certainly was not one of them. Constantin Brunner was well aware of this massive Jewish interest in Spinoza, and as a Jew, who did not only write about Spinoza, but, it is fair to say, worshipped him, he could easily be viewed as a participant. He himself, however, begged to differ. In one of his letters, addressed to George Goetz and dated November 12th 1925, he distanced himself sharply from the bulk of Jewish Spinozism, writing: „Von hundert Juden, die sich mit Spinoza herummachen, sind neunundneunzig radicitus unfähig zu ihm. Sie tun es rein aus gebliebenem Ghetto-Patriotismus, – weil er ein berühmter Jude ist.“1 It was a double-edged remark. By arguing that many Jews were unworthy of celebrating Spinoza, he simultaneously argued that Spinoza needed to be celebrated, but that those who did so had better not. Brunner’s complex relation with the rest of the German Jewish Spinozism of his time sheds an interesting light, not only on the motivation of his Spinozism, but also on what distinguished him as a thinker more generally. To come to a better understanding of this we will have to dig more deeply into what Brunner

1 Constantin Brunner: Ausgewählte Briefe 1884–1937. Hg. von Jürgen Stenzel und Irene Aue-BenDavid. Göttingen 2012, p. 394.

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wrote on Spinoza, and how this compares to the major trends in German Jewish Spinozism of his time.2 Brunner’s admiration for Spinoza permeates most of his Die Lehre von den Geistigen und vom Volke contains a serious discussion of Spinoza. This article, however focuses on the texts he wrote that were exclusively devoted to Spinoza, and written to generate interest for Spinoza among larger audiences. These included a number of articles, but most of all his concise book: Spinoza gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit.3 It was originally written as an introduction to the German translation of Meinsma’s classic work: Spinoza en zijn kring.4 But in 1910 it was also published separately in book form.5 On the surface, it is just a lengthy laudation of Spinoza at the expense of Kant. But Brunner has a broader perspective. Brunner’s actual concern is not Spinoza nor Kant, but the worlds they represent. So it is better to say that Brunner explains – and defends – in his book the world Spinoza represents by opposing it to the world Kant represents. The book is ultimately about a description of these opposing worlds, and with it the superiority of the world represented by Spinoza to that of the world represented by Kant. So what are these worlds? What is it that Kant represents, and what is it that Spinoza represents, which is so superior, and even its cure? Brunner first of all distinguishes these worlds by designating the people who make up these worlds. To Brunner the world of Spinoza consists of the “Geistigen”, that of Kant, of the “Volk”, (hence the subtitle of the book). It is Brunner, who identifies these two kinds of people with Spinoza and Kant. He bluntly admits that many people he labels Kantians or Spinozists in his book hardly know anything about Kant or about Spinoza. But to him this does not matter, it is just a means to show the superiority of the one over the other. This juxtaposition itself, however, does not

2 I am concentrating in this article on Brunner’s positions on Spinoza in the context of the contemporary Jewish reception of Spinoza. Brunner’s general reception of Spinoza has been analyzed several times, most recently by Jürgen Stenzel: Philosophie als Antimetaphysik. Zum Spinozabild Constantin Brunners. Würzburg 2002 (here besides others the history of the impact of Spinoza from Brunner’s perspective, p. 357–384, an overview of the reception of Brunner’s reception of Spinoza, pp. 397–445 as well as a bibliography of these works, pp. 479–500). 3 Constantin Brunner: Spinoza gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit [1909]. 2. Aufl. Assen 1974. Idem: Goethes Verhältnis zu Spinoza [1912]; idem: Das Lamm Benedikt Spinoza [1913]; idem: Ein Idealporträt Spinozas [1913]. In: Idem: Vom Geist und von der Torheit. Hg. vom ICBI. Hamburg 1971, pp. 72–75; pp. 38–50; pp. 51–71. 4 Koenraad Oege Meinsma: Spinoza und sein Kreis. Historisch-kritische Studien über holländische Freigeister. Deutsch von Lina Schneider. Vorher: Constantin Brunner: Spinoza gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit. Berlin 1909. 5 Constantin Brunner: Spinoza gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit. Berlin 1910.



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bring us very far. It is merely, an expression of Brunner’s elitism, as obviously Brunner, in identifying with Spinoza, suggests that he considers himself as one of the few “Geistigen”. It does not give much of a clue as to why Spinoza’s world needs so desperately be privileged over Kant’s. To understand Brunner’s reasons for admiring Spinoza, which he finds so much better than those of his contemporary Jews, a natural first step would be to look for Brunner’s interpretation of Spinoza’s philosophical contribution. However, in spite of what one might expect in a book whose aim it is to convince readers of the genius of Spinoza, Brunner, even though it is clear, from Spinoza gegen Kant, and more clearly his other work, that he studied Spinoza’s work thoroughly, devotes in this Streitschrift, written to convince readers of the enormous value of Spinoza, preciously little space to any discussion of the details of Spinoza’s writings, or ideas. There are a number of quotations but serious discussions of Spinoza’s central concepts or of his philosophical system cannot be found. The same holds good for the person featured in the book as Spinoza’s – in Brunner’s eyes overrated – antagonist: Kant. An elaborate discussion or interpretation of his philosophy is even more lacking than that of Spinoza. Rather than discussing Spinoza’s philosophical system, Brunner focuses on other – interrelated – aspects of Spinoza: his influence, his messianic power, and the way he led his life. And for all Brunner’s annoyance by the general Jewish praise for Spinoza, these very aspects, may offer more parallels among Brunner’s contemporary Jewish admirers of Spinoza than Brunner would have cared to admit. Brunner extensively discusses the influence Spinoza had exerted on the great thinkers of German culture. That the greatest of these great thinkers had been a Spinozist is made clear from the very beginning of the book. Its opening quotation is by Goethe, “der Spinozist und Nichtkantianer,” as Brunner immediately informs his readers. Brunner devoted an entire article to Goethe’s Spinozism in Die Zukunft.6 And in another place he argued that there was a resemblance in the external features of Spinoza and Goethe. They shared, for instance, “Die Asymmetrie in der […] rechts schmaleren Wangenseite.”7 But Goethe was by no means the only German thinker who had testified to the greatness of Spinoza and was invoked by Brunner. In a section titled “Zeit der großen deutschen Spinozisten” he referred to the wonderful things a great number of other classic German philosophers, including Leibniz, Herder, Schelling, Fichte, and Hegel had said about

6 Brunner, Goethes Verhältnis (see fn. 3). In: Die Zukunft 21, Nr. 12 (21. Dezember 1912), pp. 386– 389. 7 Brunner, Idealporträt (see fn. 3), pp. 61, 66 f.

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Spinoza – all in order to demonstrate “in welchem einzigen Verhältnis der Mann Spinoza zur Philosophie stand.”8 In pointing out Spinoza’s significance for the German tradition of thought, Brunner was hardly unique. Few Jewish texts celebrating Spinoza could resist the temptation to demonstrate how Spinozism was – as Heine9 had once described it – the hidden religion of Germany. They too listed quotations by Goethe, Hegel, Schleiermacher and many more on the greatness of Spinoza. The rabbis Max Grunwald and Leo Baeck even devoted complete studies on the topic of Spinoza’s influence on German thought.10 And references to the influence of Spinoza – testifying to his greatness – can already be found in the mid-eighteenth century, when Moses Mendelssohn argued that Leibniz’ notion of pre-established harmony was rooted in Spinoza’s thought.11 In many cases this reference to non-Jewish German Spinozism, was a way to point out the Jewish contribution to German culture. Often it went, therefore, together with an emphasis on Spinoza’s Jewishness. The argument then runs that, as the Zionist Felix Weltsch put it, in the Breslau Jewish newspaper: “Durch Spinoza hat der jüdische Geist, der Geist unseres Stammes und unseres Blutes, der Geist jüdischer Religion und des Talmuds, die ganze Philosophie der neueren Zeit und die Blütezeit der deutschen Literatur befruchtet und entscheidend beeinflußt.”12 This quotation shows that it is certainly true, as Brunner states, that Jews celebrated Spinoza for national reasons. They wanted to claim him, and his fame, for Judaism, and many made the effort of Judaising the once banned heretic. “Er ist unser”13, was exclaimed by Max Grunwald. And most famous is Joseph Klausner’s dramatic revocation of the ban at the Hebrew University on Mount Scopus in 1927, that ended with an attempt to revoke the Spinoza’s ban with a triple exclamation “Unser Bruder bist du! Unser Bruder bist du! Unser Bruder bist du!”14

8 Brunner, Spinoza gegen Kant (wie Anm. 3), p. 17. 9 Heinrich Heine: Werke und Briefe. Hg. von Hans Kaufmann. Bd. V. Berlin 1980, p. 235. 10 Leo Baeck: Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland. Berlin 1895; Max Grunwald: Spinoza in Deutschland. Reprint Aalen 1986. 11 Reinier Munk: Moses Mendelssohn’s metaphysics and aesthetics. Dordrecht 2011, http://site. ebrary.com/id/10505193 (23.06.2013). 12 Felix Weltsch: Jüdische Gestalten: Baruch d’Espinoza. In: Jüdische Zeitung für Ostdeutschland (Jüdische Volkszeitung) 4, Nr. 8 (25. Februar 1927), p. 8. 13 Max Grunwald: Der Jude Spinoza. In: Israelitisches Gemeindeblatt. Offizielles Organ der israelitischen Gemeinden Mannheim und Ludwigshafen 10, Nr. 11 (23. November 1932), pp. 1–4. 14 Joseph Klausner: Der jüdische Charakter der Lehre Spinozas. In: Spinoza-Festschrift. Zum 300. Geburtstage Benedict Spinozas (1632–1932). Heidelberg 1932, pp. 114–146.



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This, of course, is precisely the “Ghetto Patriotism” Brunner rejected. Brunner does not want to claim Spinoza for Judaism in the way Weltsch and Klausner did. For him Spinoza was not Jewish, but something greater. Still, it is hard to believe that to Brunner, who wrote and corresponded extensively on Jewish matters, and often used a Jewish frame of reference, the fact that Spinoza was Jewish by birth was – in spite of his belief that Jewish philosophy was not an existing category – not significant. The suspicion that Spinoza’s Jewish background has at least some relevance for Brunner is supported by the way he argues how Spinoza’s features, more specifically his nose, betrayed both racial Jewish and German elements. At least in the nose as it had been sculptured, to Brunner’s delight, in Brunner’s day by Georg Wienbrack. Stolz und edelste Leidenschaftlichkeit verrät auch die ganz prachtvolle, ganz feste, ganz männliche, ganz heldenhaft großartige Nase mit den weitgeöffneten, fein geschwellten Nasenlöchern [...]. Im oberen, knöchernen, konstruktiv unverändlichen Teile zeigt sich prägnant und präzis die jüdische Rasse, [...] in der Mitte, an der breitesten Stelle des herrlich breiten Nasenrückens, verliert sich die Krümmung in eine sanfte Wellung, hört die Nase auf eine Rassennase zu sein und tritt mehr die individuelle Eigentümlichkeit heraus.15

We find a similar ambiguity at the second – related – motivation for Brunner’s admiration of Spinoza, his messianic power. Acquiring a following is often viewed as one of the hallmarks of messianic power. The fact that so many people think someone is the messiah, is taken as a sign that indeed he is. It is arguable that some of this argument is already present in the emphasis Brunner put on Spinoza’s following of German cultural heroes, but it is certainly there in the way he compares Spinoza with one of his other heroes: the (also Jewish born) Christ. In Spinoza gegen Kant, Brunner compares Spinoza many times with Christ. Not only do both represent to him “die geistige Wahrheit”, and does he name them together with the unambiguously Jewish Moses as “die großen Männer der Wahrheit”16, he also argues they were very alike: “Spinoza ist dem Christus so ähnlich!”17 In one of the articles Brunner wrote on Spinoza in Die Zukunft, “Das Lamm Benedikt Spinoza”, he dealt with the denunciation of Spinoza as a sacrificial lamb. He was only willing to accept this analogy in the way Christ was considered such a lamb:

15 Brunner, Idealporträt (see fn. 7), p. 31. 16 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 14. 17 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 66.

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rather a lion who had forced himself into being a lamb.18 It made, Brunner wrote, Spinoza into a true brother of Christ.19 Brunner sees Meinsma’s Spinoza und sein Kreis, the book on Spinoza’s network of friends, for which Spinoza gegen Kant was an introduction, also in the light of this comparison.20 The members of Spinoza’s circle of friends, described by Meinsma, are to Brunner his apostles. The parallel goes even further. One of the main sources for Spinoza’s biography is a book on Spinoza by the Lutheran preacher Johannes Colerus.21 Colerus was a Christian enemy of Spinoza, but this makes his information on Spinoza only a more credible testament to Brunner, as Colerus, because of this, had no reason to make Spinoza look better than he was. And since Brunner finds many arguments for Spinoza’s greatness in this biography he compares it to the biblical Bilaam’s words intended to curse the Israelites but, in spite of his will, bless them. In Brunner’s eyes, the same had happened to Colerus with respect to Spinoza. His book was also intended as a curse, but resulted in a blessing. Brunner expresses the authority this brings by referring to the biography of Spinoza by Colerus as the Gospel of Colerus: Evangelium Coleri. Again this way of celebrating Spinoza is a recurring theme in German Jewish writings on Spinoza, where Spinoza’s influence on German culture but also on culture in general makes him into a messianic figure, usually through metaphors, or comparisons, often with Jesus. We see this for example in the famous Spinoza novel written by Berthold Auerbach in 1832.22 In the novel’s epilogue an apparition appears to Spinoza in a dream. He explains how by rejecting Jesus, he had been condemned to eternal wandering and suffering. He reveals his name, Ahasveros, and tells Spinoza that because of Spinoza’s appearance in the world, his suffering has come to an end. The story is of course a clear reference to the legend of the wandering Jew, who could end his suffering only by the return of Christ. Thus this epilogue compares Spinoza directly to Jesus. Heine too had compared Spinoza to Jesus’s writing, “Konstatiert ist es, daß der Lebenswandel des Spinoza frei von allem Tadel war, und rein und makellos wie das Leben seines göttlichen Vetters, Jesu Christi. Auch wie dieser litt er für seine Lehre, wie dieser trug er die Dornenkrone. Überall wo ein großer Geist seinen Gedanken ausspricht, ist Golgatha.”23

18 Brunner, Lamm (see fn. 3), p. 43. 19 Brunner, Lamm (see fn. 3), p. 43. 20 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 66. 21 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 68. 22 Berthold Auerbach: Spinoza, ein historischer Roman. Stuttgart 1837, pp. 294–300. 23 Heinrich Heine: Werke und Briefe. Hg. von Hans Kaufmann. Bd. V. Berlin 1980, p. 226.



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There have also been Jews who attributed messianic power to Spinoza without comparing him to Christ. The best example is the Zionist Felix Theilhaber, who in his book with the telling name, Dein Reich komme! Ein chiliastischer Roman aus der Zeit Rembrandts und Spinozas, makes Spinoza into a messianic figure, who transforms the world as well. But in this case Theilhaber compares Spinoza to Shabbatai Zevi, the illustrious messiah, who, before his conversion to Islam, had aroused enthusiasm throughout the early modern Jewish world. This Spinozist messianism is epitomized in a passage at the ending of the book, where Spinoza is made to prophesize the return of the Jews to Palestine, giving his version of messianic Spinozism an explicit Zionist flavour, which must have been very much to the dislike of Brunner, who was an anti-Zionist.24 Brunner’s comparison of Spinoza with Christ may seem to represent a clear break with any wish to claim Spinoza for Judaism. After all, Christ is the classic enemy of the Jewish people, the false messiah in whose name Jews were persecuted and killed. But in spite of Brunner’s problems with Zionism, with “Ghetto-Patriotismus,” and his comparisons of Spinoza with Christ, Brunner had quite much in common with his contemporary Jews.25 Brunner’s reverence for Christ is all but a reverence for Christianity. To him, Christ is not the Christian Christ, but – as he put it – the Christ of the Gospels.26 Using this phrase he intends to restore Christ to his historical origin, and cut him loose from the burden of Christian theology. Brunner admired Christ as he admired Spinoza, but never to sympathize with Christianity. It makes his admiration of Christ a provocative critique of Christianity: It was he, rather than the Christians, who truly knew how to appreciate Christ. As a critique of Christianity, Brunner’s admiration of Christ therefore, dovetails with more traditional Jewish critiques of Jesus – and at the same time it parallels other Jewish interpretations of Christ as a Jew. Brunner’s comparison of Spinoza with Christ brings us to the final, third, and most important motive of Brunner’s celebration of Spinoza. One of the similarities between Spinoza and Christ was that both Spinoza and Christ had been victims of people willing to, as Brunner put it, crucify the one, and to excommunicate the other by “Volksindividuen” who could not bear the divine in other people, as it

24 Felix A. Theilhaber: Spinoza und die Kabbala. In: Israelitisches Familienblatt 29, Nr. 8: Aus alter und neuer Zeit, illustrierte Beilage (24-2-1927): 546 f. Idem: Dein Reich komme! Ein chiliastischer Roman aus der Zeit Rembrandts und Spinozas. Wien, Leipzig 1924. 25 On Brunner on Christ see Hans-Rüdiger Schwab: Genialität, Mystik, Judentum. Drei zeitgenössische Diskursebenen in Constantin Brunners Unser Christus, in this volume. 26 Constantin Brunner: Unser Christus oder das Wesen des Genies [1921]. Köln‬, Berlin 1958, p. 587.

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was dead within themselves.27 But it was the way Spinoza and Christ dealt with this, that most impressed him. Both Spinoza and Christ never compromised on their ideas. They committed their lives to them and were ready to die for them. It was this authenticity, meaning that Spinoza led his life in service of his teaching, for which Brunner, in the end, most respects Spinoza. Brunner argues that Spinoza had used his life like an artist used his material. He molded it according to his thoughts. Central to this molding were the sacrifices Spinoza had made to live it the way he wanted to live it. To Brunner, it was not the precise content of Spinoza’s thought, but the way he had lived his thought that mattered. Brunner warns that one should not think too lightly about this living according to one’s thinking. “Hier ist mehr als Philosophie”, Brunner wrote, “das ganze Denken der Wahrheit strahlt uns entgegen aus seinem Leben.”28 As a result, where to Brunner, Spinoza’s philosophical system seems of minor importance, his biography – or the scarce facts that were (believed to be) known about Spinoza’s biography, became – at the expense of the details of his philosophical system – meaningful. Brunner, for example, found significance in Spinoza’s indifferent reaction to the ban imposed upon him by his Jewish community. Brunner argued that Spinoza’s refusal to renounce his heretical ideas in the full knowledge that this meant he would be convicted to a life of poverty, ill health, and loneliness, while always being persecuted by “tödlicher Hass”29, was heroic. Brunner discovered the same mentality in the famous story about the way Spinoza had comforted his landlord in 1673. That year, after having returned from a trip over enemy lines, Spinoza was suspected of being a spy. He told his worried landlord that if a mob would come to his house he would leave the house, even if it would mean the mob would kill him the brutal way the de Witt brothers had been killed (they too had been suspected of treason and they had been lynched by an angry mob the same year).30 To Brunner the story proved again, that Spinoza was much more willing to give his life, than to compromise on his ideas.31 In the end, Brunner argued, Spinoza feared death only in so far as it risked his ability to complete his life’s work, the Ethics. Here as well, there are strong parallels with the reasons other German Jews had for their admiration of Spinoza. They too constantly praised Spinoza for the fact that he lived a life true to his thoughts. They did so, for example, by marvel-

27 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 67. 28 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 66. 29 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), S. 59. 30 Steven Nadler: Spinoza a Life. Cambridge 1999, p. 318. 31 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 74.



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ing at the anecdote that Spinoza had been offered a professorate at the University of Heidelberg, but had refused it only to protect his intellectual freedom.32 It was recounted many times in articles celebrating Spinoza to emphasize Spinoza’s strength of character. As the Jewish journal Menorah wrote: Spinoza was “der arme Glasschleifer, dem die Philosophie nicht Beruf, aber Berufung war, der eine Lehrkanzel ausschlug, die ein Schopenhauer gierig angenommen hätte”.33 “Die Motive seiner Lehre rechtfertigen sich in der Wahrheit seines Lebens”,34 wrote Leo Baeck, and Hans Rosenkranz invoked Goethe’s Wilhelm Meister, to show that living according to one’s thought is something extraordinary: “Handeln ist leicht, Denken ist schwer, nach dem Gedanken handeln unbequem.”35 This was Spinoza’s great achievement. Brunner’s argument that Spinoza had to be admired for having lived a life in accordance with his thinking not only corresponds with other Jewish celebrations of Spinoza, but epitomizes it. Brunner took it to a philosophical level. Not only did he argue that “Übereinstimmung von Leben und Denken ist etwas ganz überwältigend Großes, und keiner hat das erfüllt als nur Spinoza: alle die anderen leben in Wahrheit uneinstimmig mit ihren Gedanken”.36 To him living according to one’s thinking was the meaning of Spinoza’s thought itself. It was “das Sich Wissen im großen einheitlichen Grundleben der Welt, das Sich Eines Wissen mit der Welt”.37 Only here Brunner gives some interpretation of Spinoza’s philosophy. Brunner argues that Spinoza’s famous equation of God and Nature – deus sive natura – stood for the equation of the finite and the infinite and as such for life and his thinking.38 And it is here that Brunner needs Kant. Kant was responsible for the scarcity of this kind of true philosophy. It is impossible, Brunner quipped, to live a life in accordance with “zwei apriorischen Anschauungsformen, zwölf apriorischen

32 David J. Wertheim: Salvation through Spinoza: A Study of Jewish Culture in Weimar Germany. Leiden, Boston 2011, p. 46. 33 Wilhelm Löwinger: Spinoza: anläßlich der 250. Wiederkehr seines Todestages 21. Februar 1677. In: Menorah: Jüdisches Familienblatt für Wissenschaft, Kunst und Literatur V, Nr. 2 (Februar 1927), pp. 117–124. 34 Leo Baeck: Sein deutsches Echo. In: Israelitisches Familienblatt 34, Nr. 49 (24. November 1932), p. 10. 35 Hans Rosenkranz: Baruch Spinoza, zum 21. Februar 1927. Aufsatz für die Teilnehmer des Spinoza-Abends, den die Soncino-Gesellschaft Berlin anläßlich der 250. Wiederkehr von Spinoza’s Todestag veranstaltete. 1927. 36 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 57. 37 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 58. 38 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 62.

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Verstandeskategorien, vier Antinomien und drei Postulaten“.39 Brunner offers his readers a lengthy inventory of ills he believed his era was infested with and which had to be associated with Kant’s philosophical project. To Brunner, they represented attitudes that, in his eyes, were not only mistaken, but also misguiding. To begin, Brunner associates Kant with scholasticism. This era, was in Brunner’s words, “die allerscholastischste Zeit”40, and to him, scholasticism stands for an attitude completely opposite of thinking in accordance with living. He defines scholasticism as, “von dem Raffinement der Form ohne jeglichen Inhalt des lebendigen Geistes und ohne jegliche Beziehung darauf, vielmehr mit entschiedener Beziehung auf den Aberglauben”41 or even stronger: “Scholastik ist der Pedantismus in demjenigen Denken, welches zu Leben und Wahrheit ohne Beziehung ist.”42 It signifies to him the false academic, or scholarly, jargon and theories that pretend to bring people closer to the truth, but, in fact, like superstition, just help to obscure it. He also blamed Kant for his skepticism, the philosophical notion that not all knowledge is to be known. Brunner understood Kant’s thought as a form of skepticism and it is not difficult to understand why he did so. Central to Kant’s philosophical method, the critical method, indeed is this acquiescence, that reality can never fully be known. Kant argued that the world we know is the world mediated by our perception of it. The true world [Welt-an-sich] cannot be known, because we can never rid ourselves of the ways we perceive it. To Kant, awareness of this was necessary to arrive at important philosophical insights on morality, the divine, immortality, or freedom. To Brunner, however, Kant’s critical method was a charade. In his eyes, such philosophical insights were what Kant’s philosophy revolved around, but which – thanks to this criticism – could never really be addressed.43 After all they were the result of Kant’s skepticism, his conviction that truth cannot be fully known. Spinoza, instead, had not been afraid to uncover reality, and had moreover by living out his philosophy, addressed these most important things in the world, directly and seriously. Another of the attitudes Brunner so dislikes is what he calls “superstition” – a term frequently used by Spinoza as well. The term has, of course, a long history, and was mostly known to signify pseudo-religious beliefs in demons and spirits. But it is also a term frequently used by Spinoza to describe certain, in his eyes,

39 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 58. 40 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 35. 41 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 35 42 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 52 43 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 16.



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unfounded religious dogmas of Judaism and Christianity, such as the belief in miracles or angels. Brunner borrows it from Spinoza – again – to target Kantianism. He takes issue with the Kantian project of developing philosophical certainties from the critical perspective that certain knowledge is never to be acquired. This in his eyes has to lead to superstition, which, he argues, amounts to elevating the relativity of the material world to absolute status.44 The outcome of this, supposedly, wrong way of philosophical thinking, he finds most prominently in another illness of his age: the materialist philosophical conclusions that were drawn from evolutionary theory and which, for Brunner, symbolized the dangers of Kantianism. Brunner does not elaborate on these theories, but it is probable that he blames them for contributing to the growing popularity of racist thinking in his era behind both the rising anti-Semitic sentiments and also Jewish nationalism, which he attacked simultaneously in several publications.45 Brunner well realizes that superstition stands in opposition to skepticism. The skeptic does not want to believe anything, the superstitious wants to believe in things, for which there is no (rational) ground. It gives him yet another reason to despise Kantianism, which, he argues, is – adding insult to injury – because of this, not only false, but also inconsistent.46 Brunner held that Spinoza did not suffer from these tempting ills. His ability to live his thinking showed it was “zu Ende denken”47 and, according to Brunner, as such protected him from these ills. His truth was not a truth that obscured the real truth. He did not commit the fallacy of elevating the relative world to an absolute status but was capable of true “geistiges Denken”. He was the “einzige Mensch, der am hellsten und vollkommensten so gedacht hat wie die geistigen Menschen denken, der die ganze, immer und überall mit sich selbst übereinstimmende Wahrheit gedacht hat”.48 As we saw, for Brunner Spinoza and Kant represented different worlds. Kant epitomized the all-present superstition, philology, scholasticism, and relativism. Spinoza was the “Wahrhaftigkeit der Wahrheit”49 that was its antidote. His emphasis on the importance of trueness, Spinoza’s true trueness, as opposed to Kant’s false truth, reveals not only what is at the heart of Brunner’s admiration of Spinoza; it also indicates that his thought corresponds to the general atmosphere

44 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 8. 45 Constantin Brunner: Der Judenhaß und die Juden [1918]. Berlin, Wien 2004. Constantin Brunner: Memscheleth sadon. Letztes Wort über den Judenhaß und die Juden [1920]. Stuttgart 1969. 46 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 15. 47 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 62. 48 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 10 f. 49 Brunner, Spinoza gegen Kant (see fn. 3), p. 59.

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of his time, which saw many forms of Lebensphilosophie, searching for wholeness in a fragmenting world, be it cultural, political, or philosophical, from Buber’s eclipse of God to Heidegger’s authenticity. Again, there is an interesting Jewish dimension to this. The problem of a fragmenting, estranged, world was blamed upon the Jews. According to the era’s anti-Semites Jews were inauthentic, incapable of making genuine art, or producing anything of true value. They were always dancing around money, their Golden Calf and the epitome of in-authenticty, and their influence also corrupted non-Jewish culture. The emphasis on authenticity of Jews, particularly assimilating Jews, such as Spinoza and Brunner himself, should be understood as a response to this: Jews too could be authentic. This applied in particular to Jews, such as Brunner, who championed assimilation. After all, how easy is it to view assimilation as the source of all inauthenticity, as a form of not thinking according to one’s being. But again in this Brunner was not unique. As a reviewer of the Jewish Spinoza exhibition of 1932 wrote: “Er [Spinoza] befreit uns von der Verleumdung, wir seien nur Mittler und Vermittler, Händler, Importeure und Exporteure auch im Geistigen. Auch der Verstoßene hat also für die Ehre des Judentums gezeugt. Auch den feindlichen Bewegungen unserer Tage kann so Spinoza manche Antwort erteilen.”50 Brunner’s admiration for Spinoza, again, may therefore not have been so different. One of the most original – and provocative – aspects of Brunner’s philosophy was that he took pride in his assimilationism. His was not a fainthearted assimilation, born out of the frustrations of the social challenges a Jewish descent brought with it. Brunner embraced assimilation as a necessary element in the progress of mankind, hence his rejection of “Ghetto-Patriotism,” and his self-identification as an ex-Jew, not a non-Jew. For him too, Spinoza symbolized the possibility of seeing authenticity in assimilation. And it may also come as no surprise that the section of Spinoza gegen Kant in which Brunner discussed the correspondence between Spinoza’s life and thought found its way in 1932 to a profoundly Jewish context of the Jüdische Liberale Zeitung, as part of its celebration of the 300th year anniversary of Spinoza’s death.51 Interestingly Brunner, who called himself an atheist ex-Jew, and who opposed Zionism, used the same arguments to praise Spinoza as was done by both religious Jews, and the Zionists. Brunner distinguished himself from other

50 S. Rawidowicz: Die Spinoza-Ausstellung in Berlin. In: Israelitisches Familienblatt 52, Nr. 34 (29. Dezember 1932), p. 11. 51 Constantin Brunner: Von Benekdikt Spinozas seligen Leben. In: Jüdisch-liberale Zeitung 12, Nr. 15 (1. November 1932), p. 3.



How Jewish was Constantin Brunner’s Spinozism? 

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Jewish Spinoza devotees through his unwillingness to claim Spinoza for Judaism; but his admiration of Spinoza in many ways paralleled the Jewish celebrations of Spinoza. Brunner claimed Spinoza not for Judaism, but for the elite of “Geistigen”. So is it purely incidental that Brunner chose born Jews as his heroes? I do not think so. I would like to argue that, for Brunner, to gain admittance to the elite of Geistigen, it helped to have had, like Spinoza, (Christ, and Brunner himself), a Jewish background, and overcome it to dedicate one’s life to the pursuit of truth. Here lies the core of Brunner’s admiration for Spinoza and its originality.

III. Philosophie

Jürgen Stenzel

Brunners „Fakultätenlehre“ im Kontext der Philosophiegeschichte Brunner hat ein relativ abgeschlossenes philosophisches System vorgelegt. Es besteht aus zwei übergeordneten Theorieelementen: der „Fakultätenlehre“, einer systematischen Ontologie, und der „Lehre von den Geistigen und vom Volk“, einer empirisch begründeten praktischen Philosophie (siehe die graphische Übersicht).1 Diese Strukturen habe ich schon an anderer Stelle genauer untersucht.2 Hier möchte ich den ontologischen Ansatz, also die Fakultätenlehre, mit anderen philosophischen Theorien, insbesondere den zeitgenössischen, vergleichen, um so eine Einordnung dieser Theorie in die Philosophiegeschichte zu versuchen, denn hierzu gibt es bisher nur sehr punktuelle Ansätze.3

1 Entwickelt hat Brunner sein System 1908 in: Die Lehre von den Geistigen und vom Volk [1908]. 3. Aufl. Stuttgart 1962, S. 3–118. Eine kurze Zusammenfassung hat er 1911 in einem Aufsatz gegeben: Kurze Rechenschaft über die Lehre von den Geistigen und vom Volk [1911]. In: Zum 55. Geburtstag, Unser Charakter oder Ich bin der Richtige!, Kurze Rechenschaft über die Lehre von den Geistigen und vom Volk. Hg. vom ICBI. Stuttgart 1964, S. 215–241. Weiter ausgeführt hat Brunner seine Theorie des praktischen Verstandes vor allem in der Lehre, S. 123–1064, seine Philosophie des Geistes vor allem in: Unser Christus oder das Wesen des Genies [1921]. 2. Aufl. Köln, Berlin 1958, besonders S. 11–79, und in: Materialismus und Idealismus [1928]. [3. Aufl.] Den Haag 1976; seine Theorie des Aberglaubens oder Analogons hat Brunner immer parallel hierzu entwickelt, sie findet sich, verstreut, an denselben Stellen. Die Opposition zwischen Geistigen und Volk erläutert Brunner anhand vieler Beispiele, vor allem am Gegensatz von Spinoza und Kant (siehe Lehre, passim, sowie Constantin Brunner: Spinoza gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit [1909]. 2. Aufl. Assen 1974), von Jesus und den jüdischen Pharisäern bzw. den christlichen Theologen (siehe Christus, S. 192–186) sowie an dem Verhalten der Anitsemiten und Nationalsozialisten gegenüber den Juden (in allen seinen „Judenbüchern“, grundlegend schon in: Der Judenhaß und die Juden [1918]. 5. Aufl. Berlin, Wien 2004). 2 Alle wesentlichen Theorieelemente habe ich zusammengefasst und erläutert in: Die Philosophie Constantin Brunners. Essen 2003 (Brunner im Gespräch 7); ähnlich schon in: Philosophie als Antimetaphysik. Zum Spinozabild Constantin Brunners. Würzburg 2002 (Schriftenreihe der Spinoza-Gesellschaft 10). 3 Die wenigen systematischen Vergleiche der Philosophie Brunners mit anderen Theorien erwähne ich passim im Kontext.

I. Fakultätenlehre Drei Auffassungsweisen des Seins

Seinsebene Wirklichkeitsform

Denkfakultät

Äußerungsweisen

ABSOLUTES

RELATIVES

FIKTIV-ABSOLUTES

Absolutes Wesen der Wirklichkeit immanentes Denkendes

Erscheinung der Wirklichkeit Gedachtes = Welt und Ich

Fiktives Wesen der Wirklichkeit transzdent-dualist. Auffassungen

GEIST absoluter Idealismus

PRAKTISCHER VERSTAND relativer Materialismus

ABERGLAUBE (ANALOGON)

Kunst Philosophie Mystik (Liebe)

Fühlen Wissen Wollen

Religion Metaphysik Moral

Denkinhalt

Geistige Besinnung: Erkenntnis der Relativität der Dinge und Denken des immanenten Seins, d.h. der Einheit allen Seins im Absoluten.

Relative dingliche Anschauungsinhalte, die sich wissenschaftlich deterministisch in einer Bewegungslehre beschreiben lassen.

Verabsolutieung der Relativität: Relative Dinge werden zu Absolutem erhoben (z.B. Gott, Materie, Ich).

Praktische Folgen

In der geistigen Modifikation erscheint der Egoismus gemäßigt, weil die individuellen Interessen nicht verabsolutiert, sondern ganzheitlich betrachtet werden. Daraus entsteht (geistige) Liebe.

Denken der Dinge um unsrer eigenen Dinglichkeit willen, d.h. Lebensfürsorge, die sich im Bedürfnis nach Interessenbefriedigung äußert (Formen: sexuelle Liebe, Besitz, Ehre/Eitelkeit).

Verabsolutierung des Egoismus (z.B. Vorstellung eines Lebens nach dem Tod; Gott als Wunscherfüller; Hochmut, d.i. Verabsolutierung des eigenen Ich)

II. Lehre von den Geistigen und vom Volk

II. Die Lehre von den Geistigen und vom Volk

Anthropologie

Allgemeine Ziele

Politische Konsequenzen

Historische Konsequenzen

Faktisch denkt jeder den praktischen Verstand durchweg auf dem Grunde des Geistes oder auf dem Grunde des Aberglaubens.

GEISTIGE Denken den praktischen Verstand auf dem Grunde des Geistes

HYBRIDEN Mischnaturen zwischen Geistigen und Volk

VOLK Denkt den praktischen Verstand auf dem Grunde des Aberglaubens

Streben nach Umsetzung des geistigen Ideals in die Lebenspraxis: Bekämpfung der abergläubischen Ideen und des "Volkes"

Streben nach Umsetzung des abergläubischen Ideals in die Lebenspraxis: Bekämpfung der geistigen Ideen und der Geistigen

Da keine kollektive Gemeinschaft der Geistigen möglich ist, kann politisch keine Anarchie erstrebt werden. Daher fordern die Geistigen einen Rechtsstaat, der die Menschen voreinander schützt und weitestgehende Freiheit garantiert. Zentrale Werte und damit Grundlagen des Rechtsstaates sind: Gleichberechtigung aller Menschen, individuelle Freiheit, Sicherheit voreinander.

Das Volk kämpft parteiisch für die Umsetzung seiner abergläubischen Ideen und gegen die geistigen Ideale der Gleichberechtigung und der Liebe. Dadurch entstehen politische Machtkämpfe und Hetzen, in denen die sexuellen, die Besitz- und Ehrinteressen der „Anderen“ missachtet und damit auch ihre Freiheiten beschnitten werden (z.B. in der Judenverfolgung, im Kommunismus und Faschismus).

ANTAGONISMUS Der Antagonismus zwischen Geistigen und Volk ist letztendlich nicht auflösbar, weil das Volk nicht geistig wird und der Konflikt daher nicht beigelegt werden kann. Die Geschichte zeigt, dass sich das Geistige höchstens phasenweise durchsetzt: Die Menschheit als Ganze wird offenbar nie geistig werden. Utopien, in denen dies anders gesehen wird, sind ideologisch und gefährlich.

Abb. 1: Schema der Philosophie Constantin Brunners

© Jürgen Stenzel

Psychologische Analyse



Brunners „Fakultätenlehre“ im Kontext der Philosophiegeschichte 

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Brunner und die philosophische Tradition Brunner erhebt mit seiner Fakultätenlehre nicht den Anspruch, eine neue Philosophie entwickelt zu haben; er sagt selber, er habe die immerwährende Philosophie nur neu formuliert.4 Bei der Unterscheidung von „Geist“ und „praktischem Verstand“ als systematisch zu trennende Fakultäten des Denkens handelt es sich um die Differenz zwischen dem Absoluten und dem Relativen, Ewigen und Endlichen, Sein und Seienden, wie wir sie bei vielen, um nicht zu sagen den meisten Philosophen der abendländischen Tradition antreffen. In seiner Bewertung dieser Differenz vertritt Brunner einen entschiedenen, absoluten Idealismus: Die Dingwelt, das Materielle, Endliche erscheint seiner Auffassung nach zwar in einem lückenlosen kausalen Zusammenhang –  eben diese Sphäre des Denkens nennt Brunner praktischen Verstand –, aber dies hält er insgesamt nur für das „Gedachte“ des absoluten „Denkenden“, wie uns in der geistigen Besinnung bewusst werde.5 Neu ist bei Brunner die Ausarbeitung einer Theorie, in der eine hiervon abweichende und damit für Brunner falsche Auffassung der Differenz von Absolutem und Relativem systematisch in einem Prinzip – einer dritten Fakultät des Denkens – erfasst wird: das heißt eine Theorie des sich in verschiedenen Formen äußernden, nicht logisch-formalen, sondern „materialen“ Falschdenkens, das Brunner „Aberglaube“ oder „Analogon“ nennt.6 Dieses falsche Denken sei „analogisch“, weil es durch eine „Verkehrung“ der geistigen Wahrheit zustande komme; hier werde „in absoluter Weise“ bejaht, „was die geistige Erkenntnis verneint: die Relativität“.7 Zwar haben viele Philosophen ihr Denken anhand der Kritik anderer philosophischer Systeme begründet, aber mit einer systematischen Theorie des materialen Falschdenkens steht Brunner offenbar allein. Selbst die Stoiker, deren Unterscheidung von Weisen und Toren Brunners Lehre von den Geistigen und vom Volk ähnelt, haben keine ausgearbeitete Theorie des Denkens der Toren vorgelegt. Anklänge lassen sich vermutlich nur in der Idolen-

4 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 7. 5 Am deutlichsten hat Brunner dies ausgeführt in: Christus (wie Anm. 1), S. 23–48. Dort kommt auch (1921) das Begriffspaar Denkendes/Gedachtes zum ersten Mal vor. 6 Zur Unterscheidung von materialem und logischem Falschdenken siehe Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 12 und 17. 7 Brunner, Rechenschaft (wie Anm. 1), S. 223. Siehe hierzu auch die Darstellung von Hendrik Matthes: Die Verkehrung des Denkens und der Ursprung des Bösen nach Brunners Lehre. In: Philosophia Activa 5, Heft 1 (1994), S. 5–32.

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 Jürgen Stenzel

lehre Roger Bacons finden, auf die sich Brunner aber nicht bezieht.8 Obgleich es kaum eine historische Parallele zu dieser Theorie gibt, meint Brunner, das abergläubische Denken sei „von immerher gekannt“ worden. Man habe es nur nicht erkannt als Teil des Denkens „mit besonderem Prinzip und besonderem Inhalte, deren Sphäre von den Sphären der übrigen beiden Fakultäten völlig getrennt blieb, denen sie also auf gleicher Linie hätte untergeordnet werden müssen“. Die Ausarbeitung dieser dritten Fakultät des Denkens, durch die „das Grundschema der Einteilung unserer Gedanken“ vollkommen werde, sieht Brunner daher als seine eigene originelle philosophische Leistung und Aufgabe an.9 Mit seiner Bestimmung des Verhältnisses von Relativem und Absolutem sieht Brunner sich selber in der Tradition Spinozas und in starker Opposition zu Kant.10 Er nennt Spinoza in einem Atemzug mit Platon, was keineswegs unmittelbar einleuchtet, aber durch die besondere Platon- und Spinozainterpretation verständlich wird, die Brunner vorträgt.11 Platon ist für ihn kein Dualist; Brunner sieht Ideen- und Schattenwelt so eng miteinander verbunden, dass eigentlich nur vom selben Einen die Rede sein kann, das sich nur für uns Menschen als zweierlei zeigt. So erscheint Platon hier als idealistischer Monist. Die Ideen, die weder bloß subjektivistische Vorstellungen noch objektivistisch reale Entitäten im Jenseits seien, hält Brunner für in uns liegende Formen oder Strukturen unseres Denkens; er nennt sie „Gattungen von innen“. Wie Platon geht Brunner also davon aus, dass es eine sozusagen apriorische Welt in unserem Denken gibt, die wir anläss­

8 Roger Bacon: Neues Organon [1620]. Lt./dt. Hg. von Wolfgang Krohn. Hamburg 1990, Aphorismen 38–68. Brunner zitiert zwar einmal das Neue Organon (Der entlarvte Mensch. Hg. vom ICBI. Den Haag 1953, S. 161), jedoch nicht die Idolenlehre. In der Lehre (wie Anm. 1) kritisiert Brunner vor allem Bacons induktivistischen Ansatz des Öfteren (S. 566, 634–636, 1068 f.). In Spinoza gegen Kant (wie Anm. 1) bezeichnet er die analogischen Denkinhalte als „Idole des Volksaberglaubens“ (S. 39), allerdings ohne Bezug zu Bacon. 1941 rezipiert Lotte Brunner die Idolenlehre Bacons, ohne sie jedoch mit Brunners Theorie in Verbindung zu bringen (siehe Lotte Brunner: Tagebuch 21. XII. 1940 – 17. VIII. 1942, Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum Berlin, Constantin Brunner Collection [= LBI/JMB]: I, 2, 1, 3 sowie Brief Lotte Brunners an Lothar Bickel vom 3. Juni 1941, LBI/JMB: III, 1, 5, 3). 9 Brunner, Rechenschaft (wie Anm. 1), S. 222, 228 f. 10 Brunner hat diese Opposition besonders in seiner Lehre (wie Anm. 1) an unzähligen Stellen deutlich gemacht und dann in Spinoza gegen Kant (wie Anm. 1) noch einmal polemisch zugespitzt und ergänzt. 11 Die Parallele zwischen Platon und Spinoza ist eines der zentralen Themen in Brunners Buch Materialismus (wie Anm. 1).



Brunners „Fakultätenlehre“ im Kontext der Philosophiegeschichte 

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lich der konkreten Erfahrung von Dingen auf diese anwenden, wodurch allein Denken möglich ist.12 Seine Auffassung der Gattungen von innen vergleicht Brunner nicht nur mit Platons Ideenlehre, sondern auch mit Spinozas Attributen der Substanz.13 Spinozas Substanz sei das Insein der Welt, nicht eine andere, eine Gegenwelt. Er identifiziert sie mit seiner Deutung des Absoluten als „das Denkende“ und interpretiert Spinoza dadurch idealistisch. Auch die beiden uns Menschen bekannten Auffassungsweisen der Substanz, die Attribute Denken und Ausdehnung, deutet Brunner auf ungewöhnliche Weise: Da Denkinhalte und Denkakte immer korrelieren, handle es sich hier eigentlich nur um ein einziges Attribut, meint er: „dingliches Denken“. Das dingliche Denken – das ist der praktische Verstand – sei die Auffassung der Substanz durch die menschliche Gattung. Daher ist Spinozas Substanz für Brunner nicht etwas Transzendentes oder Metaphysisches. Wer die Substanz richtig erkenne, der erfahre, dass sie zwar weder physisch noch psychisch, aber trotzdem diesseitig ist, und er verstehe, dass die Modi der Attribute, das heißt die Einzeldinge, die Substanz selber sind – nur in einer bestimmten, menschlichen Auffassung, die stets relativ bleibt.14 Von hier aus ist mehr als verständlich, dass Brunner Kant kritisiert. Zwar ist deutlich zu erkennen, dass er methodisch und auch in seiner Behandlung der Themen dem Kantianismus weit nähersteht, als man vermuten könnte und er selber glauben machen will.15 Aber richtig an seiner fundamentalen Kritik ist, dass Kant keinen Zweifel an seinem dualistischen Ansatz gelassen hat: Sinn-

12 Brunner, Materialismus (wie Anm. 1), S. 21, 152, 156, 158. Brunners Bezug zu Platon wurde öfter hervorgehoben, am ausführlichsten von Lothar Bickel: Aus den ersten Schriften: Zur Renaissance der Philosophie. Studien zu einigen Dialogen Platons. Zürich 1975. Die Bedeutung Platons für die Brunnerrezipienten wird zum Beispiel auch daran deutlich, dass einige BrunnerStudiengruppen, die aus dem Czernowitzer „Ethischen Seminar“ entstanden, sich „Platonica“ nannten (zum Beispiel die Gruppe in Wien). 13 Brunner, Materialismus (wie Anm. 1), S. 158; siehe überhaupt S. 126–193 den Abschnitt „Die Attribute“. Außerdem Stenzel, Antimetaphysik (wie Anm. 2), S. 85–120 (der Abschnitt: „Die Attribute als Gattungen von innen“). 14 Zu den Einzelheiten der Spinozadeutung Brunners siehe Stenzel, Antimetaphysik (wie Anm. 2); dort auch S. 479–500 eine Bibliographie über die Literatur, in der Brunners Interpretation der Philosophie Spinozas diskutiert wird. Brunners Spinozadeutung ist das beherrschende Thema der Sekundärliteratur zu Brunner; zum Beispiel haben sich bisher auch alle Dissertationen über Brunner damit befasst. 15 Das wird zum Beispiel an Brunners erkenntnistheoretischen Fragestellungen sichtbar, die die Lehre durchziehen. Er beginnt sogleich mit einer Analyse der dinglichen Vorstellungen, diskutiert die Begriffe Schein und Erscheinung und setzt sich intensiv mit der Frage nach Raum, Zeit und Kausalität auseinander, wobei er immer auch die Position Kants diskutiert.

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lichkeit und Verstand sind prinzipiell Verschiedenes, die von völlig Differentem zeugen: von einer Welt der Dinge an sich und von einer Welt der Vernunft. Ähnlich bei Brunner ist, dass auch er meint, dass das Denken nur möglich ist aufgrund von sozusagen Apriorischem: „Ohne apriorischen Inhalt wäre gar kein relatives Denken des Verstandes möglich und könnte auch weder die Wahrheit noch die Verkehrtheit als ein Absolutes gedacht werden“.16 Allerdings leuchtet es Brunner nicht ein, hier von inhaltsleeren Formen zu sprechen. Der Begriff der apriorischen Form sei im Denken nicht vollziehbar, da unser Verstand prinzipiell Dinge, das heißt Inhalte denken müsse; alles andere sind für Brunner Fiktionen.17 Dementsprechend ist für ihn Kants transzendentalphilosophischer Ansatz unhaltbar. Das Apriorische, von dem Brunner spricht, ist nichts Formales in unserem Denken, sondern ein materialer Inhalt: eben die platonischen Ideen oder Gattungen von innen. Brunner mag diese Voraussetzungen des Denkens, die nicht empirisch-induktiv aus der Erfahrung abgeleitet werden können, wegen Kants Reduktion des Apriorischen auf transzendentale Formen nicht apriorisch nennen, sondern spricht hier von „Antezedenzien der Erfahrung“.18 Aber ähnlich wie bei Kant liegen sie in uns und werden aus Anlass der dinglichen Erfahrung gedacht: „Sie entwickeln sich [...] an unsrer Erfahrung zum Bewußtsein.“ Damit sind sie nach Brunner aber keineswegs unanschauliche Formen; auch das begriffliche Denken sei grundsätzlich anschaulich, was Kant jedoch nicht erkannt habe, und so kritisiert Brunner Kants erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt mit ähnlichen Argumenten wie Hegel: „Es gibt keine Erkenntnis und keine Kritik des Denkens im eigentlichen Sinne, keine Untersuchung des Denkinstrumentes, wie Kant sie geliefert zu haben glaubte.“19 Ein anderer Unterschied zu Kant ist hinsichtlich der Dingauffassung festzustellen. Kant geht davon aus, dass unsere Erfahrung subjektiv ist: Unabhängig von uns existierende „Dinge an sich“ werden den Anschauungsformen unserer Sinnlichkeit und den Kategorien unseres Verstandes gemäß zu Gegenständen synthetisiert, so dass am Ende die Dingvorstellung entsteht, die wahrscheinlich mehr mit unserer Subjektivität als mit dem tatsächlichen Ding an sich zu tun hat. Brunner ist ganz anderer Ansicht über die Genese von Dingen.20 Er kennt keine Dinge an sich. Dinge sind für ihn ausschließlich Vorstellungen, das heißt Gedach-

16 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 17. 17 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 193–195, 203–206, 223, 332 f., 507. 18 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 335. 19 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 131 f. 20 Zu Brunners Dingbegriff siehe Lehre (wie Anm. 1), S. 122–129; zur Kritik des Dinges an sich siehe S. 218 f., 413, 846 f.



Brunners „Fakultätenlehre“ im Kontext der Philosophiegeschichte 

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tes unseres Denkens. Die von uns vorgestellte Welt ist für ihn daher auch weder eine Scheinwelt noch eine Welt der Erscheinungen, sondern sie ist nichts weiter als unsere „relative“ Auffassung des Absoluten.21 Das Eine, Absolute werde sozusagen „zerdacht“ in die Vielheit der Dinge.22 Das bedeutet, dass hinter den von uns wahrgenommenen Dingen keine wirkliche oder wahre Welt eigentlicher Dinge steckt, sondern das „An-sich“ der Dinge jenes Absolute ist, das Brunner das Denkende nennt.23 Diese Denkfigur – die wie der Begriff des Denkenden auch schon bei Fichte vorkommt und bei Hegel, was Brunner aber nicht erwähnt – unterscheidet sich stark von der Kants, jedenfalls von der in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, in der Kant sich deutlich vom absoluten Idealismus, insbesondere von Berkeley distanziert hat. Brunners Dingauffassung ist ontologisch und monistisch, während die Kants erkenntnistheoretisch und dualistisch ist. Berkeley ist ein gutes Stichwort: Denn Brunner selber hebt an zentraler Stelle hervor, dass er seine Philosophie auch an Berkeley hätte anschließen können.24 Mit seinem Beharren auf der Existenz von Dingen an sich wollte Kant den absoluten Idealismus Berkeleys vermeiden: Es könne nicht sein, dass alles Dingliche nur in unserem Denken existiere – „esse est percipi“ hatte Berkeley formuliert. Brunner hingegen hält genau dies für die richtige Auffassung der Wirklichkeit, folgt dann allerdings nicht Berkeleys Rückführung des Denkens auf das Subjekt (und schon gar nicht seiner weiteren Rückführung auf Gott): Ich sage nicht nach der gewöhnlichen Meinung von unsrem Denken der Dinge, daß es das subjektive Abbild der objektiv vorhandenen Dinge sei. Ich sage nicht mit Berkeley, daß, was unsrem Denken Objekt der Dinge erscheint, nichts als Produkt unsres Subjekts sei. Ich sage nicht mit Kant, daß es Wechselprodukt von Objekt und Subjekt sei. Ich sage, unser Denken der Dinge ist der Dinge Denken in uns Dingen, und mache damit auch nicht Objekt und Subjekt zu einer Einheit. Ich kenne garnicht Objekt und Subjekt, so wenig wie Produkt

21 Zu diesem Unterschied zwischen Kant und Brunner siehe Lothar Bickel: Die Begriffe Subjektiv und Relativ. In: Ders.: Das Leben – eine Aufgabe. Gesammelte Aufsätze. Hg. von Moshe Sterian. Zürich-Konstanz 1959, S. 51–75. Siehe auch Israel Eisenstein: Die Philosophie Constantin Brunners im Zeichen der Auseinandersetzung mit Kant. In: Ders.: Constantin Brunners Philosophie in ihrem Verhältnis zu Spinoza, Kant und Hegel. Hg. von Jürgen Stenzel und Hans Goetz. Essen 1995 (Brunner im Gespräch 2), S. 101–191. 22 Brunner teilt Martin Kleins Auffassung, der Verstand sei „das Zerdenken Gottes zur Vielheit der äußeren und inneren Welt“. Brief Brunners an Martin Klein vom 26. Januar 1929. In: Constantin Brunner: Ausgewählte Briefe 1884–1937. Hg. von Jürgen Stenzel und Irene Aue-BenDavid. Göttingen 2012, S. 426. Klein publizierte seine Deutung später in seinem Buch: Von der All-Einheit im Ich. Eine paradogmatische Philosophie. München 1939, S. 20 f. 23 Brunner, Materialismus (wie Anm. 1), S. 91. 24 Brunner, Materialismus (wie Anm. 1), S. 62.

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oder Wechselprodukt, sondern nur dieses Eine und Einzige unsres Denkens, d.h. unsres Fühlens, Wissens, Wollens der Dinge.25

Die Ablehnung des Subjekt-Begriffs erklärt wohl auch, warum Brunner sich hier so wenig auf Hegel bezieht – und auch kaum auf Fichte, dessen Auffassung des absoluten Ich Brunners Begriff des Denkenden sehr nahe kommt.26 Immerhin vergleicht er Fichtes Ich mit dem ursprünglichen jüdischen und christlichen Gottesgedanken,27 den er mit seiner Auffassung des Absoluten identifiziert und von der „abergläubischen“ Verkehrung in der jüdischen und christlichen Religion abgrenzen möchte, weswegen er den Begriff Gott ebenso ungern benutzt wie den Begriff des absoluten Ich. Das Ich ist für Brunner eher etwas Passives, keine Substanz, schon gar keine Seele; daher spricht Brunner hier nicht vom Subjekt. Es ist für Brunner ein notwendiges Produkt des faktischen Denkvorganges, wie es sich im Lebensvollzug in der kindlichen Entwicklung irgendwann sozusagen automatisch ergibt. Aber schon bei der Analyse des praktischen Verstandes und erst recht in der geistigen Besinnung wird für Brunner klar, dass es kein tieferes, eigentliches Ich oder Selbst oder Subjekt gibt, sondern die Individualität hier gerade verschwindet. Brunner kennt also nur ein empirisches Ich, so wie Hume,28 und vermutlich ist es diese Ich-Auffassung, wegen der er selten über seine Affinität zum Deutschen Idealismus spricht, die doch durch die Leugnung von Kants Ding an sich und die Nähe zu Berkeley offensichtlich ist. Allerdings hebt er ganz allgemein hervor, Fichte, Hegel und Schelling seien „die besten philosophischen Köpfe, die Deutschland hervorgebracht hat“, und zwar, weil sie sich an Spinoza orientiert hätten.29 Am häufigsten nennt Brunner Hegel, aber man wundert sich doch, dass es gerade Hegel ist, denn dialektische Denkformen findet man bei Brunner nicht, ja er kritisiert sie zusammen mit Hegels Geschichtsphilosophie, da von einem immer stetigeren Zu-sich-selber-Kommen des Geistes in der Geschichte keine

25 Brunner, Materialismus (wie Anm. 1), S. 79 f. 26 Brunner nennt Fichte als Theoretiker zwar selten, aber stets positiv, so zum Beispiel in der Lehre (wie Anm. 1), S. 246, 466, in Spinoza gegen Kant (wie Anm. 1), S. 15–22 und in Aus meinem Tagebuch ([1928]; 2. Aufl. Stuttgart 1967), S. 18. Sehr kritisch sieht er Fichtes übersteigerten Patriotismus in Judenhaß (wie Anm. 1), S. 137 f., 333 f. 27 Brunner, Christus (wie Anm. 1), S. 214, siehe dazu auch S. 488. 28 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 974. Die Parallele zu Hume zieht Brunner in diesem Zusammenhang nicht. Brunners Kritik des Kausalitätsbegriffs Humes (in: Lehre [wie Anm. 1], S. 504– 509) hat Lothar Bickel ausführlich diskutiert: Zum Probelm der Kausalität (Hume und Brunner). In: Ders., Das Leben (wie Anm. 21), S. 221–252. 29 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 644 und: Spinoza gegen Kant (wie Anm. 1), S. 15–22.



Brunners „Fakultätenlehre“ im Kontext der Philosophiegeschichte 

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Rede sein könne.30 Hegel habe gezeigt, dass geschichtliche Erscheinungen „nicht nach dem Interesse des eignen Standortes“, sondern vielmehr „nach der Notwendigkeit ihrer Zeit und ihrer besonderen Umstände zu messen“ seien, aber diese historische Kritik sei durch die psychologische der Lehre von den Geistigen und vom Volk zu ergänzen. Wegen des sich durch die Geschichte ziehenden innerlichen Unterschiedes und Gegensatzes zwischen den geistigen Naturen und den Volksnaturen sei Hegels Entwicklungslehre falsch.31 In diesem Zusammenhang bewertet Brunner auch Hegels Kritik der Religion ambivalent. Einerseits habe er die von Brunner sehr geschätzte Kritik Feuerbachs vorbereitet32 und auch zu Recht Schleiermachers Bezeichnung des religiösen Gefühls als Abhängigkeit von Gott zurückgewiesen.33 Andererseits sei er selber ein gnostischer Religionsphilosoph gewesen – das meint Brunner abwertend –, weil er das Absolute nicht getrennt genug von der Welt gehalten habe.34 Hier sieht Brunner den Hauptfehler Hegels: Auch diese und gerade diese gnostische Entwicklungslehre spukt nicht nur bei den Gnostikern, sondern, seit ihnen, in aller Welt herum bei allen möglichen Idealisten. Daß auch Hegel mit seiner das Absolute in die Bewegung hineinziehenden und zur weltgeschichtlichen Entwicklung machenden Entwicklungslehre dasselbe lehrt und gerade in dieser Hinsicht ein Gnostiker genannt werden muß, dessen dialektische Momente des Begriffs nichts andres sind als die kosmogonischen und theogonischen Wandlungen und so denn auch, trotz aller dialektischen Baugewalt Hegels, nicht weniger wüst als diese, das ist ganz unbestreitbar. Wo Hegel solcherart spekuliert, da spricht nicht der Philosoph, da ist er ohne Absolutes. Denn da bedarf sein Absolutes der Welt, wie die Welt des Absoluten bedarf; da wird dem Absoluten sein Absolutsein erst vermittelt durch die Welt, das Absolute wird wesentlich erst dadurch, daß es in Welt sich verwandelt [...], die Welt ebenso wird wesent-

30 Brunner hat Hegel gründlich studiert (siehe: Materialismus [wie Anm. 1], S.  115); darauf lassen auch verschiedene, verstreute Stellen in seinen Schriften schließen, an denen er Hegel zitiert oder diskutiert. So distanziert er sich zum Beispiel in der Lehre (wie Anm. 1) von Hegels Präferierung der Gattung vor dem Einzelding (S. 139), lobt seine Wahrheitsdefinition (S. 320) und hebt hervor, dass seine Philosophiegeschichte die beste sei, die es gäbe, wenn sie auch entstellt sei durch die „Entwicklungskonstruktion“ (S. 350). Zu Brunners Hegeldeutung siehe auch Israel Eisenstein: Constantin Brunners Verhältnis zu Hegel. In: Ders., Brunners Philosophie (wie Anm. 21), S. 193–218. 31 Constantin Brunner: Von den Pflichten der Juden und von den Pflichten des Staates. Berlin 1930, S. 9 f. 32 Brunner, Christus (wie Anm. 1), S. 469. Die Leistung Feuerbachs würdigt Brunner S. 22 f. ausdrücklich, weist allerdings seine „Identifikation des Gottesbewußtseins mit dem Bewußtsein der menschlichen Gattung“ zurück und nennt Feuerbachs materialistische Konsequenzen daraus „absurd“. 33 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 754. 34 Brunner, Christus (wie Anm. 1), S. 469.

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lich durch ihre Verwandlung in das Absolute. Das heißt aber, beide sind unwesentlich, relativ. Zwei Relative werden nimmer Ein Absolutes.35

Die dialektische, aber auch jede andere Vermischung von Relativem und Absolutem hält Brunner für falsch – es ist für ihn ein Kennzeichen der dritten Denkfakultät, des Aberglaubens. Auch Schopenhauer wirft er, aus dem gleichen Grund wie Hegel, abergläubisches Denken vor. Schopenhauer hat zwar Kants Ding an sich als überflüssige Fiktion entlarvt, auch er versteht sich als Idealist und sympathisiert mit Berkeley, auch für ihn gibt es keine transzendente Welt hinter den vorgestellten Dingen. Allerdings hat Schopenhauer den Begriff des Dinges an sich in freier Umdeutung weiter benutzt für das immanente Prinzip der Welt, aus dem alles Dingliche ableitbar sei: den Willen. Es wurde viel darüber diskutiert, ob Schopenhauer den Willen als das Absolute ansah – Brunner ist dieser Auffassung.36 Damit sei das Absolute aber verkehrt bestimmt, denn es werde darin ein Teil des relativen Bewußtseins zum Absoluten gemacht,37 und das ist es ja, was Brunner Aberglaube nennt. Mit dieser Zurückweisung des Willens als Absolutem kritisiert Brunner auch Schopenhauers Pessimismus: „Die Wahrheit weint nicht und lacht nicht.“38 Dahinter steht Brunners Auffassung, dass es prinzipiell unmöglich sei, „das Was der Welt und des Geistes enträtseln und erklären“ zu wollen.39 Das Absolute lasse sich nicht „begreifen“: „An der Welt gibt es so wenig zu begreifen wie am absoluten Geist [...]. Das Absolute ist und bleibt unbegreiflich, [...] da das Absolute keine ursachliche Erscheinung, sondern das ursachlose Sein“ ist.40 Ebenso wie Schopenhauer hält Brunner auch Nietzsche für im Relativen stecken geblieben.41 Dass Nietzsche genau wie er selber die Illusion der Hinterwelten kritisiert hat, sieht er nicht, sondern hebt stattdessen hervor, dass Nietz-

35 Brunner, Christus (wie Anm. 1), S. 479 f. 36 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S.  207 f. Heinz Stolte war der Meinung, dass Brunner Schopenhauer hier fehlinterpretiert: Die Auseinandersetzung mit Schopenhauer in der Philosophie Constantin Brunners. In: 53. Schopenhauer-Jahrbuch für das Jahr 1972. Hg. von Ewald Buchner. Frankfurt a.M. 1972, S. 202–219, hier S. 212 f. 37 Constantin Brunner: Liebe, Ehe, Mann und Weib [1924]. 2. Aufl. Stuttgart 1965, S. 98. 38 Brunner, Liebe (wie Anm. 37), S. 96 f. 39 Constantin Brunner: Gespräch. Das Denken und das Gedachte. In: Vom Geist und von der Torheit. Hg. vom ICBI. Hamburg 1971. S. 213. 40 Brunner, Gespräch (wie Anm. 39), S. 213 f. 41 Brunner kritisiert Nietzsche an vielen Stellen seines Werkes, zum Beispiel in: Tagebuch (wie Anm. 26), S.  45–49. Siehe auch E. C. Werthenau [i.e. Lotte Brunner]: Constantin Brunner und Friedrich Nietzsche. Mit: Fritz Blankenfeld, Hamlet. Ein Deutungsversuch auf Grund von Brunners Lehre. Hg. von der Constantin Brunner-Gemeinschaft Berlin. Potsdam 1928, S. 3–52.



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sche skeptisch – und das heißt für Brunner zugleich sophistisch – jede Wahrheitserkenntnis geleugnet habe.42 Solche Skepsis ist für Brunner per se absurd, denn dadurch werde das Absolute relativiert. Hinzu kommt für Brunner aber noch ein zweiter kapitaler Fehler Nietzsches: die Verabsolutierung des eigenen Ich. Diese führe zu einer hochmütigen Selbstauffassung und zur Vorstellung des „Übermenschen“ – für Brunner ist das abergläubisches Denken, da er das Ich als relativ ansieht. Die Fakultätenlehre ermöglicht Brunner eine Scheidung der Gedanken und eine plausible Einordnung in die philosophische Tradition. Durch seine Differenzierung von immanentem, nicht dinglich denkbarem, sondern nur geistig erfassbarem Absolutem und dem Relativen, das er als materiell, dinglich und endlich betrachtet, als unsere menschliche Auffassung des Absoluten, wie es uns im Fühlen, Wissen und Wollen des praktischen Verstandes erscheint, ist Brunners Selbstpositionierung in der platonischen und der spinozistischen Tradition verständlich. Eine andere Auffassung des Verhältnisses von Absolutem und Relativem ist für Brunner abergläubisch, weil hier von fiktiv Absolutem ausgegangen werde; seine Kritik an Kant und Nietzsche wird von hier aus nachvollziehbar. Ebenso erscheint Brunners ambivalente Haltung gegenüber dem Deutschen Idealismus und Schopenhauer plausibel, da er bei diesen Autoren eine Vermischung der Sphäre des Absoluten mit der des Relativen erkennt.

Zeitgenössische Diskussionen Die zeitgenössische philosophische Diskussion hat Brunner nur zum Teil wahrgenommen. Er positioniert sich aber durchaus – allerdings nur an wenigen Stellen in seinem Werk und zum Teil nur implizit – gegenüber dem Nietzscheanismus, dem Darwinismus, dem Neukantianismus, dem materialistischen Monismus, der Lebensphilosophie und der Psychoanalyse. Die Nietzscheaner bilden für Brunner den Typus des „allgemeinen hochmütigen Skeptikers“, den „vornehmen Bildungsesel mit dem Löwenfell“, den „Typ des modernen ranzigen Bildungsphilisters“, dem gegenüber ein „Pack“ angenommen werde, eine „Masse“ – und jeder wolle sich in seinem das Ich verabsolutierenden „Ästhetizismus“ über die anderen erheben.43 Brunner sieht hier

42 Constantin Brunner: Nachwort zu meinem Testament. In: Vermächtnis. Hg. vom ICBI. Den Haag 1952, S. 203 f. 43 Brunner, Tagebuch (wie Anm. 41).

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nicht nur den Größenwahn einzelner Dichter am Werk, sondern eine gesellschaftliche Strömung sich etablieren, in der ein übersteigerter Nationalismus und auch der Antisemitismus aufblühen konnten.44 1935 macht Brunner den „kranken“ Nietzsche indirekt mitverantwortlich für die gesellschaftlichen Veränderungen und die Herrschaft des Nationalsozialismus, auch wenn er der Ansicht ist, dass Nietzsche diese Wirkungen nicht beabsichtigt habe: „Nietzsche ahnte nichts von seiner Rolle, Hauptmitarbeiter zu sein am geschichtlichen Werk der Sophistik, der Lüge und souveränen Ungerechtigkeit, und daß er für den sophistischen Staat an Stelle des Rechtsstaates die sakramentalen Worte hergeben würde.45 Ähnliche Verabsolutierungen wie bei den Nietzscheanern, wenn auch mit geringeren Konsequenzen für die Gesellschaft und Politik, kritisierte Brunner von Anfang an beim Darwinismus. Der „auf Entwicklungslehre gegründete materialistische Monismus“ ist eines der Hauptfeindbilder, die er in seinem ersten philosophischen Werk, der Lehre von den Geistigen und vom Volk, 1908 formuliert. Es handele sich hier um den modernen Aberglauben seiner Gegenwart, die „Philosophie des Volkes“, einen „orthodoxen Glaubensartikel“.46 Die Entwicklungslehre sei ein „Zauberwort“, mit dem alles zu erklären versucht werde, ein auf „ein Prinzip der kausalen Mirakelerfahrung“ gegründeter „Glaube an ein fiktiv Absolutes“.47 An anderer Stelle nennt Brunner die Evolutionstheorie „Abstammungsmetaphysik“. In seiner Kritik stützt er sich auf Karl Ernst von Baer, Herbert Spencer Jennings, Wilhelm Johannsen und Gregor Mendel.48 Brunners Kritik war damals nicht unüblich. Als Mendels Arbeiten um 1900 wiederentdeckt wurden, galten sie zunächst als Beweis gegen Darwins Evolutionstheorie. Erst in den 1930er Jahren gelangen Vermittlungsversuche der Mendelschen Vererbungslehre mit der Darwinschen Selektionstheorie. Brunner aber blieb stets der Meinung, dass Mendels „Lehre von der Vererbung ohne Variation“ keine Entstehung der Arten auseinander zulasse.49 Aber die Kritik des Darwinismus ist noch in anderer Hinsicht für Brunner wichtig: für seine philosophische Systematik. Denn da nach Brunners platonischidealistischer Wirklichkeitsdeutung die Welt nur das Gedachte des Denkenden ist und die Gattungen von innen sozusagen die systematischen Strukturen dieses

44 Aus diesem Grund überwarf Brunner sich auch mit seinem langjährigen Freund Otto Ernst. Siehe den Brief Brunners an Otto Ernst vom 9. Juli 1916. In: Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S. 284. 45 Brunner, Nachwort (wie Anm. 42), S. 203 f. 46 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 57–64, 306, 377. 47 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 351, 487. 48 Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S. 412–415. 49 Brunner, Tagebuch (wie Anm. 26), S. 96.



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Denkens, wäre ein Übergang der Gattungen oder Arten ineinander von hier aus recht problematisch für Brunners Erklärungsansatz unseres Denkens, denn dies würde bedeuten, dass die systematischen Strukturen veränderbar wären, wodurch sie nicht mehr als allgemeingültig bezeichnet werden könnten. Eine genetische Erkenntnistheorie, wie sie von hier aus in den fünfziger Jahren (zuerst formuliert von Jean Piaget) entstanden ist, hat Brunner für absurd gehalten.50 Brunners Kritik der Deszendenztheorie ist also sowohl biologisch als auch philosophisch motiviert. 1937 fördert er begeistert das nur in wenigen Exemplaren ausgelieferte Buch Israel Eisensteins Irrtum und Wahrheit der Biologie. Kritik der Abstammungslehre, weil es seine These in dieser doppelten Hinsicht hervorragend stützt.51 Zurückgewiesen hat Brunner auch eine dritte große Strömung seiner Zeit: den Neukantianismus – allerdings ohne sich hier explizit mit den vorherrschenden Positionen, etwa Rickert, Windelband oder Natorp, auseinanderzusetzen. Lediglich Hermann Cohen erwähnt er gelegentlich. In seinem Buch Von den Pflichten der Juden und von den Pflichten des Staates kritisiert er Cohens jüdisch motivierte Spinoza-Kritik: Er bezeichnet Cohen als „Tempeljuden“, da er das Judentum von Spinoza reinigen wolle.52 Aber eine Auseinandersetzung mit Cohens Kantianismus finden wir nicht. Gegenüber Buber bekennt Brunner 1917: „Ich kenne ihn nur aus einigen seiner Darlegungen und Selbstbezeugungen von seiner philosophischen und logischen Unfähigkeit und aus dem damit übereinstimmenden Angehen gegen Spinoza und dessen Theologisch-Politischen Traktat.“53 1930 konstatiert Brunner: „Cohen hat seine unbestreitbaren Verdienste um den Kantianismus“, aber gerade dies kennzeichne ihn „als subalterne Personnage und Handlanger im Dienste eines Herrn. Das heißt hier: er ist kein originaler Philosoph.“54

50 Siehe hierzu Brunner, Materialismus (wie Anm. 1), S. 126–193. 51 Israel Eisenstein: Irrtum und Wahrheit der Biologie. Kritik der Abstammungslehre. Wien, Leipzig, Bern 1937. Zu Brunners Förderung siehe Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S. 517, 543, 572– 574. Eisenstein hielt seine Kritik auch später noch aufrecht; er wiederholte sie mit Berücksichtigung aktueller Forschungsergebnisse 1975 noch einmal: Ist die Evolutionstheorie wissenschaftlich begründet? Das Artproblem in biologischer und philosophischer Sicht. In: Philosophia Naturalis 15, Nr. 4 (4. Vierteljahr 1975), S. 241–292 und S. 404–445. 52 Brunner, Pflichten (wie Anm. 31), S. 37–42, hier: S. 37. 53 Brief Brunners an Martin Buber vom 7. Januar 1917. In: Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S. 287– 289, hier S. 288. 54 Brunner, Pflichten (wie Anm. 31), S. 37.

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Interessant wäre, Brunners philosophischen Ansatz in Verbindung zu bringen mit dem von Kant ausgehenden „kritischen Realismus“ Alois Riehls.55 Zum einen, weil Brunner bei Riehl, der den Studenten offenbar sehr schätzte, studiert hat,56 zum anderen, weil es – bisher noch nicht näher untersuchte – Parallelen im philosophischen Ansatz zu geben scheint.57 Wie Brunner empfand Riehl die Betonung des Rational-Apriorischen bei Kant als zu einseitig und hob dagegen das Reale der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnis stärker hervor. Beide verstehen die Philosophie einerseits nicht als Weltanschauungslehre – „Weltanschauung ist nicht Philosophie“58 –, gehen aber andererseits von der Empfindung aus. Das dingliche Sein ist für beide ein determiniertes Bewegungsgeschehen, in das auch unser Wille eingebunden ist. Die Einheit des Bewusstseins und auch das Ich entstehen nicht durch eine zugrundeliegende substanzielle Einheit, sondern aufgrund von Erfahrungen, und mit diesen ändern sie sich auch. Trotz dieses empirischen Ausgangspunktes sind beide keine Positivisten, sondern gehen von Apriorischem aus, das nicht zeitlich, sondern logisch zu fassen sei. Und sie sind der Auffassung, dass es einen einheitlichen Grund der körperlichen und geistigen Erscheinungen gibt, der aber nicht als solcher erkannt werden könne. Eine andere Parallele lässt sich zwischen Brunner und dem gelegentlich als Neukantianer bezeichneten Begründer der Kant-Studien ziehen: Hans Vaihinger, der 1911 in seiner Philosophie des Als Ob die Auffassung vertrat, dass unsere Vorstellung von der Welt ein Gewebe von Fiktionen beinhaltet, die Zusammenhänge erklären können, aber nicht wahr sein müssen. Wir denken diese Fiktionen, „als ob“ sie wahr sind und finden uns so zurecht in der Welt. Diese Auffassung, die eine Parallele zum amerikanischen Pragmatismus und zum späteren Konstruktivismus aufweist, finden wir auch bei Brunner. Er spricht drei Jahre vor Vaihinger in seiner Lehre sehr ausführlich von „freien fiktiven Konstruktionen“ – als Beispiele nennt er das Geld, die Sprache, die Atome (auch Vaihinger übrigens bringt das Atombeispiel)59 – die wir aus pragmatischen Gründen annehmen müssten, um uns im Leben zurechtzufinden oder wissenschaftliche Lücken zu schließen, obgleich wir im Grunde wissen, dass sie keinen eigentlichen Wahrheitsgehalt

55 Alois Riehl: Der philosophische Kritizismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft. Geschichte und System. 3 Bde. Leipzig 1876–1887. 56 Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S. 163. 57 Die entsprechenden Positionen Brunners finden sich in: Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 122 f., 650–892, 974, 568 f. und in: Brunner, Materialismus (wie Anm. 1), S. 126–193. 58 Brief Brunners an Frida Mond vom Mai 1901. In: Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S. 102. 59 Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als-ob. 7. und 8. Aufl. Leipzig 1922, S. 101–105. Siehe hierzu auch den Beitrag von Tobias Fox: Zu Constantin Brunners Atomkritik (in diesem Band).



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besitzen.60 Brunner selber wundert sich darüber, dass Vaihingers Ansatz so viel Beachtung fand, während seine Ausführungen zu diesem Thema unbekannt geblieben seien: Es ist doch wirklich, als ob ich gar nicht da wäre, und ich mag sein, wer ich will, aber eine Kraft spür ich doch! Wird da ein Wesen gemacht von dem Als-ob des Vaihinger – mein Buch war erschienen, bevor er herauskam, und meine „Konstruktionen“ hat niemand beachtet. Aber ich hab Zeit, und auf diese Generation hab ich von vornherein nicht gerechnet.61

Vaihinger mag Brunner nicht zur Kenntnis genommen haben (sein Buch ist ohnehin schon 1876/78 entstanden), für die Kant-Gesellschaft insgesamt gilt dies jedoch nur zum Teil. Ihr langjähriger Vorsitzender Arthur Liebert hat sich aktiv um eine Diskussion der Philosophie Brunners bemüht.62 Liebert publizierte einen positiven Artikel über Brunners „Spinozarenaissance“63 und lud ihn zu einem Vortrag in die Kant-Gesellschaft ein. Wie immer lehnte Brunner ab, bot aber an, seine Stieftochter Lotte einen seiner Texte vorlesen zu lassen. Liebert stimmte zu. Allerdings hatte der Veranstaltungsabend offenbar nicht den gewünschten Erfolg. Einer der Zuhörer konstatierte: „Ein Kantianer wird eher zu einem Strick greifen als zu einem Buch von Constantin Brunner.“64 Gleichwohl war dann verschiedentlich von Brunner in den Kant-Studien die Rede, und in Eislers sehr an Kant orientiertem Philosophen-Lexikon kommt Brunner an einigen Stellen vor.65 Noch 1938 gab Liebert in seiner Belgrader Exilzeitschrift Philosophia Arbeiten von und über Brunner heraus.66 Aber das alles ändert natürlich nichts daran, dass Brunners Philosophie mit dem transzendentalphilosophischen und dua-

60 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 225–234, 977 f. 61 Lotte Brunner: Constantin Brunner im Tagebuch von Lotte Brunner. Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum Berlin, Constantin Brunner Collection (= LBI/JMB): I, 2, 1, 9 f., Eintrag vom 27. Mai 1913. 62 Zu diesen Vorgängen siehe die Briefe Brunners an Arthur Liebert vom 21. Oktober und 9. November 1924. In: Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S. 363–366. 63 Arthur Liebert: Spinoza-Renaissance. In: Berliner Tageblatt 53, Nr. 581 (7. Dezember 1924), S. 19. 64 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 61), 26. Februar 1925. 65 Ernst Levy: Über Constantin Brunners Lehre. In: Kant-Studien 30, Nr. 3/4 (1925), S. 578–585; Lothar Bickel: Erkenntniskritik und Relativitätslehre bei Constantin Brunner. Zu seinem 70. Geburtstag am 28. August 1932. In: Kant-Studien 37, Nr. 3/4 (1932), S. 310–313; Brunner, Constantin. In: Philosophen-Lexikon. Hg. von Rudolf Eisler. Berlin 1912, S. 79. 66 Lothar Bickel: Constantin Brunner †. 1862–1937. In: Philosophia 2 (Dezember 1937), S. 292– 299; Constantin Brunner: Das Denken und das Gedachte (aus dem Nachlass). In: Philosophia 3 (1938), S. 204–219.

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listischen Ansatz Kants nicht vereinbar ist. Brunners Zurückhaltung war daher ebenso verständlich wie die Distanz der Kantianer. Zurückgewiesen hat Brunner auch die materialistischen Strömungen seiner Gegenwart. Nicht nur die materialistische Spinozadeutung, wie sie im Marxismus und in seinem eigenen Anhängerkreis beispielsweise bei Leo Tamari sichtbar wird,67 sondern auch den um die Jahrhundertwende viel diskutierten und schon erwähnten materialistischen Monismus, beispielsweise Ernst Haeckels, der sich ebenfalls auf Spinoza stützte.68 Auch Brunner dachte zweifelsohne monistisch, aber da für ihn die Materie nur das Gedachte des Denkenden ist, versteht er den materialistischen Monismus als eine Verabsolutierung des Dinglichen, der Welt, mithin als Aberglaube. Haeckel wird daher von Brunner in seiner Lehre heftig angegriffen.69 Besonders erzürnt ihn die seiner Ansicht nach falsche Deutung Spinozas durch Haeckel und andere materialistische Monisten, denn hier würden wieder einmal die Fakultäten Geist und praktischer Verstand nicht richtig auseinandergehalten: Der materialistische Monismus Spinozas ist nicht etwa seine Philosophie – er ist nichts anderes als das prinzipielle Wissen des praktischen Verstandes, die Lehre von der dinglichen Bewegung. [...] Was bei Spinoza dahintersteht, die wirkliche Philosophie des Geistes, davon gewahren sie nichts. Sie kennen nicht den Unterschied zwischen den Fakultäten des praktischen Verstandes und des Geistes, und was noch weit schlimmer: sie denken nach der Fakultät des Analogon. Deswegen eben hypostasieren sie das Relative zum Absoluten. Die Monisten tun dies genau so wie es die Monotheisten taten und tun. [...] Es ist in ihnen ewige Verwechselung zwischen dem relativen praktischen Verstande und dem geistigen Denken, zwischen der Weltanschauung und der Philosophie.70

Von hier aus erscheint es wohl auch schwierig, Brunner als einen Vertreter der Lebensphilosophie anzusehen, auch wenn er selber einmal schreibt: „Zur Philosophie müssen wir zurück, zur Lebensphilosophie; wir müssen wieder Philosophie in uns säen und von uns ernten.“71 Brunner verwendet hier einen Begriff der Lebensphilosophie, der um 1800 der rationalistischen Aufklärung gegenübergestellt wurde. Es ging um eine Gleichstellung von Denken und Leben, die in theoretischen Modellen wie zum Beispiel Kants Kritiken vermisst wurde. Anders

67 Siehe hierzu die Herausgebererläuterungen zu Brunners Brief an Leo Sonntag vom Herbst 1935. In: Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S. 534 f. 68 Ernst Haeckel: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie. Bonn 1899. 69 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 541–547. 70 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 541–543. 71 Brunner, Tagebuch (wie Anm. 26), S. 213.



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als in der Romantik mündet dieser Ansatz bei Brunner jedoch nicht in einen Antirationalismus. Trotz seiner Hervorhebung der „geistigen Besinnung“, die er an Spinozas dritte Erkenntnisgattung, die intutio, anschließt,72 kann Brunner nicht als antirationalistischer Kulturkritiker betrachtet werden. Sein philosophisches System, insbesondere seine Fakultätenlehre, ist rational nachvollziehbar und erlaubt rational begründete Entscheidungen über die Richtigkeit von Gedanken und Handlungen. Unabhängig davon passt der psychologische Ausgangspunkt und der Versuch, auf spinozistische Weise die Subjekt-Objekt-Spaltung zu überwinden, auf den ersten Blick durchaus zur zeitgenössischen Lebensphilosophie. Mit Wilhelm Dilthey, bei dem Brunner als Student Vorlesungen gehört hat,73 den er aber in seinen Werken nirgends erwähnt, verbindet Brunner die Aufwertung des Alltags und die Hervorhebung der Bedeutung des Fühlens und Wollens neben dem kognitiven Denken, also eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die Denken und Leben in Einklang bringt und den lebendigen Menschen ins Zentrum setzt. Das, wofür Dilthey heute steht, eine Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften und eine hermeneutische Theorie, findet man bei Brunner allerdings nicht, jedenfalls nicht explizit. Naheliegender scheint eine Parallele zum lebensphilosophischen Vitalismus Henri Bergsons zu sein. Brunner, der Bergson in seinen Werken nirgends erwähnt, hat 1912 eines seiner Bücher gelesen und seiner Ehefrau dazu in einem Brief mitgeteilt: „Lese Bergson, dabei aber mehr mich.“74 Die Stelle ist schwer zu deuten. Meint Brunner, dass Bergson hier dasselbe ausdrückt, was er schon in seiner Lehre dargestellt hat? Parallelen lassen sich durchaus erkennen: Bergson geht wie Brunner vom unmittelbaren Bewusstsein aus und kritisiert wie dieser

72 Siehe die Diskussion bei Stenzel, Antimetaphysik (wie Anm. 2), S. 253–292. 73 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 61), 20. April 1929. 74 Brief Brunners an seine Ehefrau Leoni vom 12. Juli 1912, LBI/JMB: II, 2, 14. Bei dem Buch Bergsons könnte es sich um die Einführung in die Metaphysik (Jena 1909) handeln. Denkbar wären auch das womöglich gerade erschienene Buch Die schöpferische Entwicklung (Jena 1912) oder auch das im Vorjahr erschienene Buch Zeit und Freiheit (Jena 1911). Auf einige Parallelen und Unterschiede zwischen Brunner und Bergson hat schon Israel Eisenstein hingewiesen (Brunners Philosophie [wie Anm. 21], S. 21). Hendrik Matthes hat hervorgehoben, dass Bergson (1889 in seinen Essai sur les données immédiates de la conscience), ähnlich wie Brunner mit dem analogischen Denken, mit dem „vice originel“ einen „Urfehler“ des Menschen annehme, eine krankhafte Anlage. Matthes erläutert: „Der Mensch ist als geistiges Wesen geschaffen, aber in ihm steckt ein heimliches Virus, das ihn in den meisten Fällen unerbittlich zur Verkehrung seines eigentlichen Denkens verführt.“ Matthes (wie Anm. 7), S. 10. Zu Brunner und Bergson siehe auch Andreas Kilcher: „Das Gebot der Anpassung“. Constantin Brunners Ausweg aus dem Judentum (in diesem Band).

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den absoluten Materialismus, Positivismus und Dualismus. Auch sind beide der Auffassung, dass der Verstand nur ein Instrument der menschlichen Lebenspraxis ist, das weder fähig noch dazu bestimmt ist, das eigentliche Wesen der Dinge zu ergründen. Die Wissenschaften seien auf das Relative begrenzt, während das Absolute metaphysisch und vollkommen sei, jedoch nicht wissenschaftlich-diskursiv, sondern nur philosophisch erfasst werden könne. Auch Bergson spricht hier von einer „intuitiven“ Erkenntnis: einer Erfahrung dieser Seinskraft, die höher ist als der Verstand. Wie für Brunner besitzt die Materie auch für Bergson keine absolute ontologische Relevanz, sondern ist nur eine Wahrnehmungsform, und Bergson bezieht sich hier auch auf Berkeley. Anders als Brunner allerdings bezeichnet Bergson das absolute Sein dann aber weiter als „Leben“, das sich im Fluss des Werdens, in der Dauer der Zeit, befindet. Die „Gesamtwirklichkeit“ sei vom „élan vital“ durchdrungen, einer Lebenskraft, die alles trägt, gestaltet und durchwaltet. Das klingt pantheistisch – und kann für Brunner keine zutreffende Beschreibung des absoluten Seins sein, denn der élan vital bleibt damit ein sozusagen innerweltliches Prinzip, so etwas wie Brunners Grundgesetz der Bewegung.75 Das absolute Denkende aber lässt sich gerade nicht biologistisch verstehen. Daher müsste Brunner auch Bergsons Auffassung als eine Verabsolutierung von Relativem bezeichnen. Die Vorstellung des sich in die Materie verströmenden élan vital müsste er ähnlich bewerten wie Hegels Dialektik von Sein, Nichts und Werden: als eine Vermischung von Relativem und Absolutem. Denn das Absolute bleibt für Brunner stets das ganz Andere; es geht nicht ein in die Welt. Dementsprechend passt auch Bergsons Verständnis der „natura naturans“ als Ziel, auf das der élan vital hinstrebt, nicht zu Brunners Deutung dieses auch schon für Spinoza wichtigen Begriffs. Die natura naturans ist für Brunner das Denkende ohne Gedachtes: Es ist omnipräsent und entwickelt sich nicht in der Zeit.76 Dagegen war Bergson der Auffassung, dass sich die metaphysische Einheit in die Vielheit der Erscheinungen verströme. Diese Divergenz beider Denker bezüglich ihrer Auffassung des Verhältnisses von Absolutem und Relativem wird noch größer durch Bergsons Ansicht, dass das Schöpferische unbegrenzt und frei ist. Brunner dagegen schließt an Spinozas Vorstellung an, dass die Substanz Unendliches auf unendliche Weisen schaffen muss, mithin der Notwendigkeit unterworfen sei.77 Zudem sei die dingliche Welt nur spezifisch menschlich und es gäbe noch andere, uns völlig unbekannte

75 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 271. 76 Brunner, Christus (wie Anm. 1), S.  565. Siehe hierzu auch Stenzel, Antimetaphysik (wie Anm. 2), S. 78–81. 77 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 380.



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Auffassungsweisen des Seins.78 In diesen unterschiedlichen Ausgangspunkten dürfte begründet liegen, dass Bergson sich später einem persönlichen, freien Schöpfergott zuwandte –  für Brunner eine abergläubische Vorstellung von der Substanz und ihrem Verhältnis zur Welt. Die Parallele zwischen Brunner und Bergson wird dadurch insgesamt fraglich, denn vor diesem Hintergrund darf man auch skeptisch sein, ob beide unter intuitiver Erkenntnis dasselbe verstanden haben: Bergson geht von einer unmittelbaren, „intuitiven“ Erfahrung der Seinskraft aus, während Brunner die „geistige Besinnung“ nicht auf konkrete Inhalte bezieht, vor allem nicht auf das Leben insgesamt oder eine Lebenskraft, sondern auf das merkmallos Eine des Denkenden, von dem aus das praktische Denken modifiziert werde;79 so interpretiert er auch Spinozas „intuitio“.80 Die starke Betonung des Lebens in der Lebensphilosophie passt insgesamt nicht zu Brunners Ansatz. Das Leben ist für ihn nur ein Phänomen neben anderen, wenn auch für uns Menschen die Lebensfürsorge der Dreh- und Angelpunkt unseres Daseins ist.81 Daher würde Brunner auch dem lebensphilosophischen Wahrheitsbegriff nicht zustimmen, wie ihn etwa Georg Simmel versteht, bei dem Brunner in seinem Studium ebenfalls Vorlesungen gehört hat.82 Nach Simmel ist wahr, was sich in der Selektion im Laufe der Evolution als zweckmäßig erwiesen hat. Für Brunner kann etwas nur wahr sein, wenn es in der geistigen Besinnung gegründet ist, also im Einheitsgedanken, und nicht bloß in sozusagen „weltlichen“ Nützlichkeiten. Zudem hält er eine Veränderung der Prinzipien und damit auch der Wahrheit des Denkens durch evolutive Vorgänge für eine unsinnige Auffassung; es liegt für ihn im Begriff der Wahrheit selber, dass sie immer gleich ist. Das Problem der Lebensphilosophen, eine Metaphysik aus dem Lebendigen ableiten zu wollen – so wie es Bergson aus der Biologie versucht und Dilthey aus dem historischen Prozess –, hat Brunner nicht, da er Geist und praktischen Verstand von vornherein strikt getrennt hält. Daher gibt es für ihn auch keinen Weg von den Einzelwissenschaften, die den praktischen Verstand systematisieren, zum Geist. Diese Differenz nicht erkannt zu haben, wirft er dann zum Beispiel auch Ludwig Klages vor. Er gehöre „zu unsren Kulturreaktionärrischen

78 Brunner, Materialismus (wie Anm. 1), S. 85. 79 Auf diesen Unterschied zu Bergson hat auch schon Israel Eisenstein hingewiesen: Brunners Philosophie (wie Anm. 21), S. 21. 80 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 916. Siehe auch Brunner, Materialismus (wie Anm. 1), S. 161 f. und Stenzel, Antimetaphysik (wie Anm. 2), S. 253–292. 81 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 703–724. 82 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 61), 20. April 1929.

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[...], die den Geist nicht gewahren können und glauben, die Welt käme besser aus ohne ihn“.83 Brunner denkt also mehr vom Absoluten her als die Lebensphilosophen. Er ist kein Pantheist und versteht auch Spinoza nicht als Pantheisten.84 Der Pantheismus verkenne Spinozas zentralen Denkansatz, dass das Absolute in der Welt nicht erscheine, sondern dass die Welt unsere Auffassung des Absoluten sei – eine der unendlich vielen Möglichkeiten, das Absolute aufzufassen. Brunners Kulminationspunkt ist daher eher ein monistisch-mystischer Spinozismus wie er seit 1900 vielfach virulent geworden ist. Die stärksten Parallelen lassen sich hier wohl zu Fritz Mauthners „gottloser Mystik“85 und Landauers Vorstellung einer „ewigen Gegenwart“86 ziehen. Mauthner und Landauer gemeinsam ist auch eine große Nähe zu Spinozas Einheitslehre und den hiervon ausgehenden lebenspraktischen Intentionen. Dieser Ausgangspunkt zentriert sich bei Brunner, Mauthner und Landauer gleichermaßen in einer besonderen Auffassung der Mystik, die sie alle bei Meister Eckhart am deutlichsten ausgeprägt finden; und sie sympathisieren von hier aus auch alle mit dem ,ethischen Genie‘ Jesus.87 So verwundert es vielleicht nicht, dass der sonst so zurückhaltende Brunner 1903 mit Landauer Kontakt aufnahm,88 als er dessen Übertragung der mystischen Schriften Meister Eckharts und insbesondere auch Landauers Einleitung dazu gelesen hatte.89 Obgleich Brunner Landauers im selben Jahr erschienene Schrift

83 Brief Brunners an Borromäus Herrligkoffer vom 22. August 1935, LBI/JMB: II, 4, 16. 84 Brunner, Materialismus (wie Anm. 1), S. 85. Siehe hierzu auch Stenzel, Antimetaphysik (wie Anm. 2), S. 81–84. 85 Siehe zum Beispiel Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Bd. 4. Neuausgabe Frankfurt a.M. 1989, S. 416–447. 86 Siehe zum Beispiel Gustav Landauer: Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluss an Mauthners Sprachkritik. 2. Aufl. Köln 1923, S. 19. 87 Die Bedeutung des Mystik-Begriffs wird für Landauer schon am Titel seiner Schrift Skepsis und Mystik (wie Anm. 86) offenbar, bei Mauthner wird sie besonders sichtbar in seinem Lexikonartikel Mystik (in: Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 2. München, Leipzig 1910, S. 115–134) und bei Brunner in seinem ersten Kapitel des Christus (wie Anm. 1), das den Titel „Die Mystik“ trägt (S. 11–79). In allen Fällen wird in diesem Zusammenhang auch eine Parallele zu Jesus, Meister Eckhart und Spinoza gezogen. Auf Parallelen zwischen Brunner und Landauer hat schon Thorsten Hinz hingewiesen: Mystik und Anarchie. Meister Eckhart und seine Bedeutung im Denken Gustav Landauers. Berlin 2000, passim. 88 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 61), 25. Oktober 1903. Zur Entwicklung und zum späteren Bruch der Freundschaft siehe Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S.  26, 30, 120 f., 139–160, 184–242, 309 f., 382. 89 Meister Eckharts Mystische Schriften. In unsere Sprache übertragen von Gustav Landauer. Berlin 1903 (Verschollene Meister der Literatur 1).



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Skepsis und Mystik insgesamt nicht sehr positiv beurteilte,90 dürfte er wohl gegen Landauers mystische Beschreibung einer „ewigen Gegenwart“ nichts einzuwenden gehabt haben: Nur das unendliche All, die naturende Natur, der Gott der Mystiker, kann im Sinne Berkeleys und Fichtes Ich zu sich sagen. [...] Der Lauf des Entwickelungsstromes kommt aus der Quelle, die in der Ewigkeit entsprungen ist, die Kette ist nirgends abgerissen, nur kann freilich der Strom nicht zurückfließen, und das Oberflächendenken unseres Menschenhirns kann sich nicht auf den Grund zurückbesinnen, auf dem es erwachsen ist, kann die Quelle nicht äußerlich wahrnehmen, nicht als Objekt erkennen, die ihm im Innern selbst, in der ewigen Gegenwart fließt, die es selbst als Teil des Lebendigen ist.91

Landauer und Brunner fühlten sich schnell persönlich sehr verbunden; so sehr, dass die 1911 zum Bruch der Freundschaft führende Divergenz in politischen Anschauungen – während Brunner der Auffassung war, dass die Menschheit als Ganze nie geistig werden könne, arbeitete Landauer an eben dieser Etablierung einer „geistigen“ anarchistischen Gesellschaft – für beide sehr schmerzlich war.92 In ihrem Briefwechsel lässt sich nachvollziehen, dass die Philosophie Spinozas und ihre Anwendung auf die Frage nach den Dingen, Raum und Zeit, Denken und Materie, ein zentrales Gesprächsthema war.93 Landauer äußerte sich auch mehrfach begeistert öffentlich über Brunners Lehre.94 Mit Mauthner wurde Brunner nicht persönlich bekannt, obgleich Landauer die beiden, mit denen er gleichermaßen befreundet war und deren Hauptwerke er lektoriert hatte, vermutlich gerne zusammengebracht hätte. Brunner war skeptisch, weil er Mauthners sprachphilosophischen Ansatz, jedenfalls so wie er ihn verstand, nicht teilte.95 Im Schlusskapitel der Lehre wendet er sich – den Bezug zu Mauthners Sprachkritik hat er nach seiner Diskussion mit Landauer vor der

90 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 61), 29. Oktober 1903. 91 Gustav Landauer: Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluss an Mauthners Sprachkritik. 2. Aufl. Köln 1923, S. 19. 92 Brunners Perspektive des Konfliktes wird gut sichtbar in seinen letzten Briefen an Landauer in: Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S. 184–242. 93 Siehe dazu den Briefwechsel zwischen Brunner und Landauer insgesamt: Leo Baeck Institute, New York, Gustav Landauer Collection: II, 1, 6–7 und Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam, Gustav Landauer Papers: 83–84 und 114. 94 Gustav Landauer: Volk und Publikum. In: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde 12, Heft 17 (1. Juni 1910), Sp. 1205–1210. Ders.: Die Lehre von den Geistigen und vom Volke. Ein Gespräch zwischen einem Gebildeten und einem Lernenden. In: Die Zukunft 18, Nr. 3 (16. Januar 1909), S. 98–106. 95 Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S. 142–146.

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Drucklegung gestrichen96 – gegen „die moderne Rede“ einer „Identität des Sprechens und Denkens und das Gejammere über die versagte Erkenntnis darum, weil all unser Denken doch nur Sprechen sei“. Die Sprache sei keineswegs identisch mit dem Denken. Sprache ist für Brunner ein natürliches Erzeugnis, eine „Konstruktion des praktischen Verstandes“. Wörter seien „Ausdrucks- und Erinnerungsmittel“ für das anschaulich Gedachte, aber nicht unmittelbar Anschauungen des Wirklichen selber. Zwar liefen Vorstellungen und Wörter einander parallel, aber das bedeute nicht, dass wir in Wörtern denken: „Niemals spricht das Sprechen das Denken aus!“ Damit wendet Brunner sich gegen den Sprachnominalismus: Die Sprachskeptiker seien mit den Vernunftskeptikern eine „Bruderschaft der Verworrenheit“ eingegangen. „Die wahrhaft ärgste Scholastik ist nun erst geworden in diesen Sprachscholastikern, den wahrhaft vollendeten Erznominalisten.“97 Landauer hielt diese Auffassung wohl zu Recht für eine Fehlinterpretation Mauthners: Mit Ausnahme der Theorie von den Gattungen und Abstraktionen – hier war Mauthner zweifellos im Gegensatz zu Brunner Nominalist – seien beide zu ähnlichen philosophischen Ergebnissen gekommen.98 Dass Mauthner einen Mystik-Begriff hat, der jenseits der Identifikation von Denken und Sprechen angesiedelt ist, dass er das Absolute von allen Verengungen durch die Sprache reinigen wollte und das Verhältnis von Gott und Welt genauso monistisch mystischspinozistisch dachte wie Landauer und er, konnte Brunner vermutlich noch nicht sehen. Mauthner hat dies vor allem 1910 in seinem Wörterbuch der Philosophie und dann 1923 im letzten Band seines Werkes Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande deutlich ausgesprochen.99 Er lässt keinen Zweifel daran, dass die mystische Sphäre für ihn sozusagen sprachlos ist: Die Welt ist nicht zweimal auf der Welt. Es gibt nicht den Gott neben der Welt, es gibt nicht die Welt neben dem Gott. [...] In der höchsten mystischen Ekstase empfindet das Ich, daß es Gott geworden ist [...]: das Ich ist eine Täuschung, die Einheit des Individuums ist eine Täuschung. Wenn ich nicht Ich bin, trotzdem aber bin, dann darf ich wohl auch von allen andern Wesen glauben: sie sind nur scheinbar Individuen, sie unterscheiden sich nicht von mir, ich bin Eins mit ihnen, sie und ich binnen Eins. Sind das nur philosophische Wortfolgen? Spiele der Sprache? Nein. Was ich erleben kann, ist nicht mehr bloß Sprache. Was ich erleben kann, das ist wirklich. Und ich kann es erleben, für kurze Stunden, daß ich nichts

96 Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S. 145. 97 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 1004, 1008, 1010. 98 Brief Gustav Landauers an Brunner vom 13. Dezember 1907. In: Gustav Landauer: Sein Lebensgang in Briefen. Hg. von Martin Buber und Ina Britschgi-Schimmer. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1929, S. 177. 99 Mauthner, Wörterbuch (wie Anm. 87). Ders., Atheismus (wie Anm. 85).



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mehr weiß vom principium individuationis, daß der Unterschied aufhört zwischen der Welt und mir.100

Die Nähe zu Brunner, besonders auch zu seinem mystischen Ansatz im 1921 erschienenen Christus-Buch,101 ist frappant. Aber auch Mauthner erwähnt Brunner diesbezüglich nicht.102 Über Landauer kam Brunner auch in Kontakt mit Martin Buber,103 dessen Publikationen zum Chassidismus er begrüßte –  sicher wegen des mystischen Aspektes darin; denn als religiöse Äußerungsform weist Brunner den Chassidismus deutlich zurück.104 Eine gründliche Auseinandersetzung mit Bubers philosophischen Ansätzen, zum Beispiel seiner Dialogik in Ich und Du, findet sich bei Brunner nicht. Und auch Buber hat sich wohl nur am Rande mit Brunners Fakultätenlehre auseinandergesetzt. Allerdings benutzt er 1923 in Ich und Du eine Terminologie, die der in Brunners 1921 erschienenem Christus-Buch sehr ähnlich ist, wenn er schreibt: „Die Versenkungslehre fordert und verheißt die Einkehr in das Eine Denkende, ,das, wovon diese Welt gedacht wird‘; in das reine Subjekt. Aber in der gelebten Wirklichkeit gibt es kein Denkendes ohne Gedachtes, vielmehr ist hier das Denkende auf das Gedachte nicht minder als dieses auf jenes angewiesen.“105 Über diese Dinge haben Brunner und Buber offenbar nicht diskutiert; eine Debatte fand eher im Bereich der Frage nach dem Wesen des Judentums statt sowie in der anthropologischen Frage nach den Geistigen und dem Volk. Buber konnte sich dieser Unterscheidung – ob er sie richtig verstanden hat, mag hier dahingestellt bleiben – nicht anschließen.106

100 Mauthner, Wörterbuch (wie Anm. 87), S. 131 f. 101 Brunner, Christus (wie Anm. 1). 102 Brunner wird bei Mauthner nur an einer einzigen Stelle genannt: Mauthner, Atheismus (wie Anm. 85), Bd. 2, S. 333, wo er Brunners Schrift Spinoza gegen Kant als „ebenso geistreich wie eitel“ bezeichnet. In einem Brief an Landauer äußert Mauthner sich zu Brunners sprachkritischen Bemerkungen am Ende der Lehre: „Er verhöhnt auf 80 Seiten die ‚Sprachkritik‘. Ohne mich zu nennen, aber grob. Ich werde mir Mühe geben, daraus womöglich zu lernen“ (Brief Fritz Mauthners an Gustav Landauer vom 13. Juli 1908. In: Gustav Landauer – Fritz Mauthner. Briefwechsel 1890–1919. Bearbeitet von Hanna Delf. München 1994. S. 184). 103 Siehe Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S. 185. Zu Brunners Verhältnis zu Buber siehe auch dort S. 180–182, 254–256, 287–289, 382–384. Siehe hierzu auch den Beitrag von Paul Mendes-Flohr in diesem Band. 104 Zu Brunners Kritik des Chassidismus siehe Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S. 350–353. 105 Martin Buber: Ich und Du. In: Ders.: Das dialogische Prinzip. 6. Aufl. Gerlingen 1992, S. 5–136, hier S. 91. Siehe dazu Brunner, Christus (wie Anm. 1), S. 34–52. 106 Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S. 180 f.

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Ebenfalls über Landauer entstand ein Kontakt zwischen Brunner und Lou Andreas-Salomé, die 1910 mehrfach Brunners Lehre gelesen hatte und ihn dann in Berlin besuchte. Die Begegnungen waren intensiv; zu einer anhaltenden Freundschaft kam es aber aus perönlichen Gründen nicht.107 Klar ist jedoch, dass die gefühlte geistige Übereinstimmung auch hier wieder etwas mit Spinoza, seinem Gottesbegriff und seiner Leib-Seele-Auffassung, zu tun hatte.108 Noch 1915 hebt Lou Andreas-Salomé gegenüber Martin Buber hervor: „Diesmal begriff ich zugleich besser, warum Sie im Brunner’schen Spinoza nicht dasselbe fanden wie ich, und warum wir beide nicht dasselbe meinen, wenn wir ,Dualismus‘ gelten lassen.“109 1911 wurde Lou Andreas-Salomé Mitarbeiterin Freuds. Ob und wie sehr Brunners Psychologie,110 die sie kurz zuvor mehrfach intensiv studiert hatte, in ihrer psychoanalytischen Tätigkeit eine Rolle spielte, ist nicht belegt. Offenbar hat sie Freud nichts darüber berichtet, denn noch 1931 gesteht Freud, Brunner und seine Philosophie nicht zu kennen, während er eine Abhängigkeit von Spinoza einräumt.111 Brunner dagegen hat sich verschiedentlich mit Freud auseinandergesetzt. Eine direkte Freud-Lektüre lässt sich zwar nicht belegen, gleichwohl äußerte er sich an mehreren Stellen zu Freud – insgesamt ambivalent.112 Denn Freuds Auffassung des Menschen als Triebwesen liegt von Spinozas Determinismus aus natürlich nahe: Auch für Brunner ist der Mensch im praktischen Verstand ausschließlich mit seiner egoistischen Lebensfürsorge beschäftigt. Eine reine geistige oder vernünftige Sphäre wie bei Kant kennen weder Brunner noch Spinoza noch Freud; auch die Vernunft ist nur ein Affekt. Von daher hebt Brunner Freuds Triebtheorie positiv hervor, kritisiert aber dann die weitere Aus-

107 Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S. 174–180. Siehe auch Claudia Weinzierl: Die Begegnung Lou Andreas-Salomés mit Constantin Brunner (in diesem Band). 108 Siehe hierzu Leo Sonntag: Lou Andreas-Salomés Stellung zur Philosophie Spinozas. In: Spinoza in neuer Sicht. Hg. von Leo Sonntag und Heinz Stolte. Meisenheim am Glan 1977, S. 172– 178. 109 Brief Lou Andreas Salomés an Martin Buber vom 12. März 1915. In: Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Hg. von Grete Schaeder. Bd. 1. Heidelberg 1972, S. 387. 110 Der dritte Abschnitt der Lehre heißt „Natur und Bedeutung des praktischen Verstandes“ und er beinhaltet Brunners somatologische Psychologie des Fühlens, Wissens, Wollens sowie seine Theorie des Ich: Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 650–995. 111 Brief Sigmund Freuds an Lothar Bickel vom 28. Juni 1931. In: Spinoza (wie Anm. 108), S. 169. 112 Am ausführlichsten hat Brunner seine Position gegenüber Freud 1928 in dem Abschnitt „Keine Psychiatrie und die Psychoanalyse“ in Aus meinem Tagebuch dargelegt (in der Neuausgabe des Buches von 1967 [wie Anm. 26] wurde dieser Abschnitt weggelassen; er ist als separater Aufsatz gedruckt worden in: Brunner, Geist [wie Anm. 39], S. 264–273). Zu Brunners Auseinandersetzung mit Freud siehe auch Weinzierl, Begegnung (wie Anm. 107).



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formulierung Freuds: einerseits die Psychoanalyse, andererseits Freuds Deutung aller menschlichen Bestrebungen als Sexualität –  Brunner bezeichnet dies als „Fanatismus auf Erotik“.113 Die Lebensfürsorge erstreckt sich, so meint Brunner, nicht nur auf die sexuellen Interessen, sondern auch auf den Besitz und die Geltung (Ehre und Eitelkeit): Diese drei Interessensbereiche unseres Handelns –  Brunner nennt sie „Radikalien des Egoismus“ – hält er für so verschieden, dass sie sich nicht aufeinander zurückführen lassen und daher nebengeordnet werden müssten.114

Nicht stattgefundene Diskurse Nicht stattgefunden haben Diskussionen zwischen Brunner und Vertretern der im weiteren 20. Jahrhundert wirkmächtigen philosophischen Strömungen seiner Gegenwart: der Phänomenologie, Existenzphilosophie und analytischen Philosophie. Offenbar hat er diese überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Brunner steht außerhalb dieser Diskurse und Terminologien. Namen wie Husserl, Scheler, Hartmann, Heidegger, Jaspers, Frege, Carnap, Russell, Wittgenstein sucht man bei ihm vergebens. Und andersherum ist es genauso: Man findet auch bei diesen Autoren keinen Hinweis auf Brunner, geschweige denn eine fundierte und ernstzunehmende Auseinandersetzung mit seiner Philosophie. Heißt das, dass Brunners Denken an diese zeitgenössischen Strömungen nicht anschließbar war? Ich möchte im Folgenden ein paar Parallelen aufzeigen, die sich meines Erachtens ziehen lassen. Daraus ergibt sich, dass Brunner zwar meist den Terminologien, aber durchaus nicht immer den Fragestellungen und Lösungen fern stand. Dass Brunners Ansatz der Phänomenologie Edmund Husserls ähnelt, haben schon Heinz Stolte und Hans Goetz betont.115 Zwar hat Albert Einstein Brunners Theorie des praktischen Verstandes 1940 als „schwach fundierten Psychologis-

113 Brunner, Geist (wie Anm. 39), S. 271. 114 Constantin Brunner: Die Herrschaft des Hochmuts (Memscheleth sadon). Letztes Wort über den Judenhaß und die Juden [1920]. 2. Aufl. Stuttgart 1969, S. 8. 115 Heinz Stolte: Vom Feuer der Wahrheit. Der Philosoph Constantin Brunner. 3. Aufl. Husum 1990, S. 21. Hans Goetz: Leben ist Denken. Eine Schrift zur Renaissance der Philosophie des deutschen Denkers Constantin Brunner. Mit einem Geleitwort hg. von Heinz Stolte. Frankfurt a.M. 1987, S. 168–175 und passim. Ausführlich in: Ders.: Warum Philosophie? Vergleich der Konzeptionen von Brunner und Husserl. in: Ders.: Philosophie als Lebensqualität (Aufsätze und Vorträge). Hg. von Jürgen Stenzel und Burkhard Scheepers. Münster 2006, S. 294–343.

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mus“ bezeichnet116 – was bedeuten würde, dass er unter Husserls Psychologismuskritik fallen müsste –, aber dies ist eine Fehleinschätzung. Der von Husserl kritisierte Psychologismus geht davon aus, dass die Strukturen des Denkens aus den seelischen Vorgängen abgeleitet werden können. Husserl hat 1900 in seinen Logischen Untersuchungen gezeigt, dass eine solche Ableitung nicht möglich ist, sondern die logischen Strukturen apriori gegeben sein müssen. Einstein hat offenbar nur den Anfang von Brunners Lehre gelesen, in dem durch die starke Betonung der Erfahrung und Kritik des Apriorismus Kants durchaus der Eindruck entstehen kann, dass Brunner Empirist und Positivist ist. Doch es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Brunner hier genauso argumentiert wie Husserl. Er setzt (die oben genannten) Antezedenzien der Erfahrung voraus, zu denen die logischen Gesetze, aber auch die Gattungen von innen gehören. Diese Gattungen von innen entsprechen Husserls Auffassung apriorisch vorhandener „regionaler Ontologien“. Der Unterschied zu Kant ist bei beiden, dass diese keine bloßen Formen des Denkens sind, sondern Erfahrungen, aber eben nicht Erfahrungen von einzelnen sinnlichen Eindrücken, sondern sozusagen Allgemeinerfahrungen. Eine weitere Parallele zu Husserl ist überhaupt der phänomenologische Ausgangspunkt. Brunner benutzt zwar den Begriff des Phänomens nicht, der von Husserl bis Sartre an die Stelle der Vorstellung gesetzt wird, die auf ein dahinter liegendes transzendentes Ding verweist: Das Phänomen ist ein sich ausschließlich selbst anzeigendes Hier und Jetzt; es verweist nur auf sich selber und nicht auf eine hinter ihm liegende Welt an sich. Genau diesen Gedanken macht Brunner in seinem Begriff des Dinges stark, den er zu Anfang seiner Auseinandersetzung der Theorie des praktischen Verstandes formuliert: Ich frage: Was sind Dinge? und antworte geradezu: Dinge sind die mit Vorstellungsbildern verbundenen Sensationen unsrer Sinne [...]. Wir sagen wohl, daß wir all unser Fühlen auf Dinge beziehen [...]; wir betrachten die Dinge als die Ursachen unsres Fühlens [...]. Was wir aber solcherart Dinge nennen, das sind eben nur die Vorstellungen, die vor dem Denken, außerhalb desselben als vorhanden angenommenen.117

Brunners Auffassung der Welt und der Dinge ist daher ohne Frage phänomenologisch im Sinne Husserls, der diesen Ausgangspunkt die „natürliche Einstellung“ genannt hat.118 Wenn Brunner dann auch im Folgenden bei der Untersuchung

116 Brief Albert Einsteins an Willy Aron vom 2. November 1940, Library of Congress, Washington, Willy Aron file. 117 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 122. 118 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie [1913]. 4. Aufl. Tübingen 1980, S. 48 (§ 27).



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der konkreten Denkinhalte mit seiner Bewegungslehre zu einem anderen Ergebnis kommt als Husserl, so ist doch der methodische Ansatz bei beiden gleich: Brunner und Husserl analysieren die dinglichen Phänomene hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten und versuchen immer schon mitgedachte Begriffe freizulegen. Sie stehen dadurch in einer auffallenden Nähe zum Wegbereiter der analytischen Philosophie, Gottlob Frege, der zwar die phänomenologische Wende nicht mitgemacht hat, aber 1918 neben der empirischen Erfahrung von Einzeldingen ein apriorisches „Reich der Gedanken“ annimmt, das Husserls vorgängigen Ontologien und Brunners Antezedenzien der Erfahrung sehr ähnelt.119 Der „Gedanke“ ist für Frege kein psychisches Phänomen, nichts Empirisches und nichts Subjektives, sondern er ist etwas Allgemeines und gehört – das klingt alles sehr platonisch –  einer unsichtbaren, zeitlosen Sphäre an. Solche „Gedanken“ sind notwendig und wahr. Wir können sie erfassen und haben so teil an ihrer Wahrheit. Ein Beispiel ist der Satz des Pythagoras: Er ist zeitlos gültig und war dies schon, bevor Pythagoras ihn formulierte. Die Philosophen und Wissenschaftler müssen solche ewigen Wahrheiten ,ent-decken‘ oder, so formuliert es Frege: „erfassen“, um sie dann konkret auf das Dingliche anzuwenden. Wie bei Husserl und Brunner sind die allgemeingültigen Begriffe bei Frege nicht aus empirischen Einzelerfahrungen ableitbar, sondern gehen diesen voraus. Freges Schüler Rudolf Carnap, der einflussreiche Begründer des Wiener Kreises und damit der analytischen Philosophie, folgt Frege in dieser Hinsicht nicht. Dennoch verbindet Brunner einiges mit dem Wiener Kreis: insbesondere die scharfe Metaphysikkritik.120 Wie Carnap und Hans Reichenbach versucht Brunner seine Theorie des praktischen Verstandes nach naturwissenschaftlichem Vorbild und sogar mit einer Bewegungslehre explizit als eine Philosophie der Physik auf eine klare, metaphysikfreie, wissenschaftliche Grundlage zu stellen.121 Auch bei Brunner stehen „Beobachtungssätze“ am Anfang. Was nicht beobachtet werden kann, ist metaphysisch und damit sinnlos, denn Aussagen darüber sind – das meinen die analytischen Philosophen und Brunner gleichermaßen – nichtssagende Schein­sätze, die aus der Philosophie verbannt werden

119 Gottlob Frege: Der Gedanke. Eine logische Untersuchung. In: Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus 2 (1918/19), S. 58–77, hier S. 69. 120 Zu den Ausgangspunkten des Wiener Kreises siehe zum Beispiel Rudolf Carnap: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Leipzig 1931 (Erkenntnis 2) oder auch das spätere Buch von Hans Reichenbach: Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie. Berlin 1951. 121 Brunner stützt seine Theorie des praktischen Verstandes auf eine Bewegungslehre, die er auch auf das Denken anwendet. Siehe zum Beispiel das „Grundgesetz des Denkens und der Bewegung“ in: Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 893.

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müssen. Brunner schreibt: „Unsre Männer der Erfahrungswissenschaften dürften sich keine Hypothese gestatten, von der es weder Erfahrung gibt oder geben kann noch Erfahrung auch nur denkbar ist.“122 Wie Carnap und Reichenbach polemisiert Brunner von hier aus generell gegen metaphysische Aussagen: „Ich wende mich gegen [...] die Verbindung der Physik mit dem Unsinn und Aberglauben [...], ich wende mich nur gegen die Metaphysik, welches Wort bei mir immer den Gegensatz zur Philosophie bezeichnet.“ Die Metaphysik sei zusammen mit der Religion zu „begraben“, da in ihr „alles Denken aufhört und eine Wortmacherei von den Nichtsen beginnt“ – für Brunner ein Indiz für abergläubisches Denken, wie wir gesehen haben.123 Die Auffassung Brunners allerdings, dass die Allgemeinbegriffe zwar Erfahrungen sind, aber dass sie nicht empiristisch konstruiert werden können, sondern in unserem Denken entdeckt werden müssen, widerspricht der Auffassung des Wiener Kreises und bringt ihn in die Nähe des Kritischen Rationalismus. Brunners Ausgangspunkt ist zunächst etwas anders als der Karl Poppers, wenn er vom Wissenschaftler verlangt, sich den „geistigen“ Gedanken zu vergegenwärtigen, dass alles Eins ist. Für Brunner ist das wichtig für eine vorurteilsfreie Analyse der Wirklichkeit, denn der abergläubische Wissenschaftler durchlöchere die Wirklichkeit mit absoluten Scheingebilden, von denen er sie abhängig mache und denke eben dadurch dualistisch.124 Die Auffassung des Absoluten bestimmt also, so meint Brunner, ganz wesentlich das Denken des praktischen Verstandes mit. Die Wissenschaft habe von der Einheit der Natur auszugehen: „Die ganze Größe, die ganze Schönheit und Herrlichkeit des Einen dieser ungeheuren und ewigen Lebensmetamorphose der Natur, als wäre sie die Wahrheit! In wem nicht dieser Gedanke glüht und leuchtet, der kommt nicht an das Ziel, wo die Wahrheit, die Einheit des absolut Wirklichen sich auftut.“125 Das wissenschaftlich-abstrakte Denken führt zum Einheitsdenken, meint Brunner, indem es die Täuschung des dinglich Vielen und Verschiedenen, das kausal aufeinander bezogen ist, in einen einheitlichen Bewegungszusammenhang auflöst, und zum anderen das Zweierlei von Denken und Dinglichem, das gerade nicht kausal aufeinander wirkt, aufhebt. Die wissenschaftliche Abstraktion, mit Hilfe derer dies geleistet wird – die der Bewegung –, ist für Brunner die Wahrheit des Einen relativ Wirklichen, die auf den Geist hinzeigt, auf die Wahr-

122 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 229 f. 123 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 60, 62 f., 209, 1052. 124 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 16. 125 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 955.



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heit des Einen absolut Wirklichen.126 Da nur der Wissenschaftler das Viele der Welt richtig denke, der es auf den Einen absoluten Grund bezieht, ist Brunner der Ansicht, dass wissenschaftliche Theorien nicht durch bloße Beobachtung aus der Erfahrung gewonnen werden können. Es muss immer eine Leitlinie der Forschung geben, einen Begriff, oder, wie Brunner sich ausdrückt: eine Abstraktion, die auf die Erfahrung angewendet wird. Die Wissenschaftler haben die Aufgabe, solche Anwendungen durchzuführen und die im Denken gewonnenen Abstraktionen dadurch zu erproben. Damit formuliert Brunner im Grunde genommen dieselbe Methode, die später Karl Popper unter Zurückweisung des Positivismus für die wissenschaftliche Forschung beschrieben hat. Wie Brunner meint Popper, Wissenschaft funktioniere nicht wie ein „Kübel“: Der Wissenschaftler sammle nicht einfach wahllos empirische Daten und induziere daraus Begriffe und Theorien, sondern die Wissenschaft funktioniere wie ein „Scheinwerfer“: Der Wissenschaftler erdenkt Hypothesen, so meint Popper, und erprobt sie deduktiv in Experimenten an der Erfahrung.127 Brunner formulierte einen solchen wissenschaftstheoretischen Ansatz bereits 1908: Der sogenannte Positivismus setzt die ganze Philosophie herunter zu einer Sammlung der durch die Einzelwissenschaften gewonnenen Erkenntnisse! So viele und berühmte Männer es nun auch behaupten, daß wir durch Erfahrung, d.i. durch Beobachtung und Versuch und durch Kombination der Tatsachen, also induktiv methodisch zu Theorien und Hypothesen gelangen, es entspricht nicht der Wirklichkeit, sondern umgekehrt verhält es sich wirklich: daß die besonderen Erfahrungen die entsprechenden Abstraktionen in uns erwecken, daß alle Erfahrung sich nur als induktive Begründung der Abstraktionen darstellt, und daß also das Deduktive aus dem Abstrakten vor der Induktion vorhanden ist.128

Anders als Popper aber, für den Theorien grundsätzlich nicht wahr, sondern nur „wahrscheinlich“ sind, weil wir nie sicher sein können, ob nicht irgendwann noch eine Widerlegung möglich ist, ist Brunner der Überzeugung, mit der „Bewegungslehre“ eine unwiderlegliche wissenschaftliche Grundtheorie und Wahrheit erkannt zu haben. Dass er hier von Wahrheit und nicht von falsifizierbaren Sätzen spricht, liegt nicht an einer anderen Methode, sondern an Brunners Auffassung, dass die Bewegungslehre nicht falsifiziert werden kann, weil sie durch alle wissenschaftlichen Experimente bestätigt wird.129

126 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 956. 127 Karl Popper: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Hamburg 1973. 128 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 568 f. 129 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 311.

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Wenn heute viele Physiker der Auffassung sind, dass sie in ihren Theorien gar nicht die Wirklichkeit erfassen, sondern lediglich beobachtete Phänomene mit Modellen beschreiben,130 so passt dies dennoch gut zum Status und der Funktion, die Brunner seiner Bewegungslehre insgesamt zuschreibt. Denn in der Bewegungslehre werde nicht die absolute Wirklichkeit erkannt, sondern sie beschreibe und erkläre nur unsere Auffassung dieser absoluten Wirklichkeit: die relative Welt der Dinge und dinglichen Vorgänge. Daher besitzt die Bewegungslehre für Brunner nur einen „heuristische[n] Wert für die Praxis der Wissenschaften“.131 Der praktische Verstand ist für ihn kein erkennendes Denken, sondern nur jene Welt, die wir vorfinden und in der wir uns mithilfe unserer wissenschaftlichen Theorien orientieren, um unsere Lebensfürsorge zu verbessern. Das abstrakt Theoretische unseres praktischen Denkens ist daher kein Erkenntnistheoretisches: Unsere Erkenntnisse sind nicht wahr, sondern „nützlich“.132 Brunners Theorie ist in dieser Hinsicht dem heute so populären Konstruktivismus ähnlich: Das absolut Wirkliche wird mit dem praktischen Verstand nie erkannt, sondern es werden nur nützliche Annahmen gemacht, mit denen wir uns in der Phänomenwelt zurechtfinden können. Von hier aus wird auch noch einmal die oben erwähnte Parallele zu Hans Vaihinger und dem Pragmatismus verständlich. Damit wird Brunner aber keineswegs zu einem postmodernen Philosophen. Sein monistischer Ausgangspunkt lässt sich nicht mit der Auflösung des Wahrheitsbegriffs vereinbaren. Schlüssigkeit ist für ihn nur dort vorhanden, wo alles auf letzte, einfachste Prinzipien zurückgeführt wurde und keine Widersprüche mehr sichtbar sind. Nichts anderes hat Brunner philosophisch mit seiner Bewegungslehre versucht. Dementsprechend gibt es für ihn nur eine einzige Wahrheit, die sich allerdings kulturell und individuell sehr unterschiedlich ausprägen mag. Durch seine Nebenordnung und Gleichsetzung von Kunst, Philosophie und mystischer Liebe lässt Brunner so vielfältige Ausdrucksformen als gleichberechtigt zu wie etwa Paul Feyerabend – aber nur, weil sie lediglich akzidentelle Erscheinungen des einen und gleichen wesenhaften geistigen Grundes sind. Diese Auffassung bringt ihn in die Nähe von Philosophen, die von einem der Welt zugrundeliegenden Sein ausgegangen sind, das als solches zwar unerkannt bleibe, aber sich uns doch vermittelt zeige. Karl Jaspers hat diese Vorstellung 1961 sehr deutlich in seiner Chiffrentheorie dargestellt.133 Ähnlich wie Brunner geht Jaspers von einem umgreifenden Sein aus, das er, anders als Brunner, „transzen-

130 Siehe Erhard Scheibe: Die Philosophie der Physiker. München 2007. 131 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 311, siehe auch 299. 132 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 741, 743. 133 Karl Jaspers: Chiffren der Transzendenz. Eine Vorlesung aus dem Jahr 1961. München 1970.



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dent“ nennt. Unsere Berührung mit diesem Transzendenten sei niemals rein, sondern abhängig von den Lebensformen, den kulturellen Antworten, in denen wir uns verstehen würden. Das Umgreifende stelle sich uns daher nur in Chiffren dar; es selber bleibe uns verborgen, meint Jaspers. Auch Brunner ist der Auffassung, dass sich das absolute Sein nur vermittelt zeigt, und doch meint er, dass es dieselbe Wahrheit des Einen ist, die sich in diesen unterschiedlichen Äußerungsformen „offenbart“.134 Obgleich Brunner das Eine und das Viele, Geist und Welt spinozistisch als zwei Seiten desselben ansieht, lässt er keinen Zweifel an ihrer ontologischen Differenz.135 Die Entzogenheit des absoluten Seins denkt Brunner dabei ebenso radikal wie etwa Ludwig Wittgenstein in seiner 1921 erschienenen Logisch-philosophischen Abhandlung.136 Für Wittgenstein hat die Welt keinen Sinn: Sie ist, wie sie ist. Andererseits kommen wir mit unserem Denken nicht aus ihr heraus, so dass sich nicht über Transzendentes oder Metaphysisches spekulieren lässt; unsere Sprache, die nur Weltverhältnisse angeben kann, reicht nicht dazu aus. Dennoch spricht Wittgenstein am Ende der Abhandlung über eine sozusagen „mystische“ Erkenntnis: Das Unaussprechliche könne sich im „Dass der Welt“ zeigen. Es offenbare sich im „Gefühl“ der Welt „als – begrenztes – Ganzes“. Die Ähnlichkeit zu Brunners Ansatz liegt auf der Hand, zum Beispiel wenn dieser schreibt: „Du kannst von allem Möglichen auf der Welt Sinn und Bedeutung angeben; Das ist nach unsrem praktischen Denken. Aber, warum die Welt auf der Welt ist [...], das weißt du [...] nicht.“137 Unser Denken der Welt hat für Brunner lediglich lebensfürsorgliche Gründe und bezeichnet nicht unser Letztes und Höchstes; es ist kein Denken von Absolutem. Im Begriff der Totalität der Welt, auf „dieser Höhe der letzten Abstraktion des praktischen Verstandes“, zeige sich, dass das Dingliche und selbst noch die in der Bewegungslehre erfasste wissenschaftliche Einheit des Dinglichen „relativ“ und „negativ“ sind. Dann aber werde „wie ein weggezogener Vorhang das absolut Positive vor uns enthüllt“, das ganz

134 Brunner, Christus (wie Anm. 1), S.  56. Siehe auch die Diskussion in Stenzel, Philosophie (wie Anm. 2), S. 91–109. Siehe auch Jürgen Stenzel: Wahrheit und Charakter. In: Der Mensch in seiner Welt (Vorträge). Hg. vom ICBI. Husum 1991 (Beiträge zur Constantin-Brunner-Forschung 1), S. 122–151. 135 Zu Brunners Auffassung des Denkenden und Gedachten siehe Stenzel, Philosophie (wie Anm. 2), S. 15–26; mit Bezug zu Spinoza siehe Stenzel, Antimetaphysik (wie Anm. 2), S. 51–84. 136 Ludwig Wittgenstein: Logisch-philosophische Abhandlung. Leipzig 1921 (Annalen der Naturphilosophie 14). Später unter dem Titel Tractatus logico-philosophicus erschienen. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Abschnitte 5.6–5.641 und 6.4–6.54. 137 Brunner, Materialismus (wie Anm. 1), S. 9.

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Andere.138 Brunners Denkendes wird in der Welt nicht sichtbar, es ist – wie bei Wittgenstein – gerade nichts Psychologisches, da auch dies, wie die materiellen Dinge, zur Welt gehört. Daher kann das Denkende auch mit weltlichen Attributen nicht beschrieben werden; es bleibt uns insofern entzogen. Dennoch ist es Brunner wichtig zu zeigen, dass er damit keine Transzendenz des Absoluten annimmt.139 Denkendes und Gedachtes sind nicht nur radikal getrennt, sondern in anderer Hinsicht auch dassselbe: Dies das 1 X 1 des Denkens […]: daß nämlich nur einmal Eins. Das Eine ist der Inhalt der Philosophie: ihr sollt wissen, daß Denken und Dinge der Welt Eines ist, und sollt keine abergläubischen Hinterweltler sein, die, hinter der Welt, den Geist glauben; die Einheit der Welt ist die relative Auffassung von der Einheit des Absoluten.140

Wie Wittgenstein sein „metaphysisches Subjekt“ als „ausdehnungslosen Punkt“ bezeichnet, über den man nur schweigen könne, so bezeichnet Brunner das Denkende als „das völlig merkmallos absolut Geistige“, damit aber weder als ein absolutes Subjekt noch Gott, wie wir gesehen haben. Brunner meint diese Auffassung trotzdem an den mosaischen Gottesgedanken anschließen zu können: „Du sollst Dir kein Bild machen“ und der Name Gottes darf nicht ausgesprochen werden; denn jedes Wort rufe ein Bild in uns hervor.141 Die „deutlichste Rede“ über das Denkende sei: „Es läßt sich darüber nicht reden.“ Von diesem „Hauptwort“ könne eigentlich nichts gesagt werden als dieses Hauptwort selber – und, so schreibt Brunner, daß es im Grunde das einzige Wort der Philosophie ist. Man muß Das denken, worauf dieses Wort hinzeigt; worauf es nur hinzeigen und was es selber nicht eigentlich sagen kann. [...] Wir haben daran ein uneigentliches Wort, das Wort der alleruneigentlichsten Bedeutung; womit wir uns an das einzig und allein Positive unsrer letzten Besinnung, an unser absolut wirkliches Wesen, so nah als möglich heranzusprechen versuchen.142

Hier trennen sich die Wege Wittgensteins, der ein solches Heransprechen an die Wahrheit nicht versucht, und Brunners, der den linguistic turn nicht mitgemacht hat, und mit seinen Schriften immer wieder für eine Inslebensetzung der Sphäre des Geistigen wirbt. Landauer gegebenüber hatte er schon 1907 gegen Mauthners skeptische Sprachphilosophie hervorgehoben: „Ich preise die Sprache

138 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 961. 139 Brunner, Materialismus (wie Anm. 1), S. 32. 140 Brunner, Materialismus (wie Anm. 1), S. 75 f. 141 Brunner, Materialismus (wie Anm. 1), S. 10. 142 Brunner, Materialismus (wie Anm. 1), S. 9.



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als so vollendet wie den Verstand und als wundergroß, da sie solcher Modifikation fähig ist, daß sie das Machtmittel wird, uns in die geistige Besinnung hineinzuversetzen.“143 Das hat Wittgenstein, von seinem sprachphilosophischen Ansatz aus, natürlich ganz anders gesehen. In dieser Hinsicht rückt Brunner weit mehr in die Nähe der Existenzphilosophie. Es drängen sich, neben Jaspers, besonders auch Parallelen zu Martin Heidegger auf.144 Ähnlich wie Heidegger ist Brunner der Auffassung, dass sich in den historischen Prozessen, von uns meist unbemerkt, eigentlich nur das Sein selber offenbart – wenn auch nicht, wie Hegel dachte, in einer dialektischen Entwicklung: Die Geistigkeit der Welt oder, wie man mit Heidegger sagen könnte, das „Seinsbewusstsein“ kann zunehmen, aber auch wieder abnehmen. Die ontologische Grundüberlegung scheint bei Brunner sehr ähnlich zu sein: Was er das Gedachte nennt, ist bei Heidegger das „menschliche Dasein in der Zeit“. In diesem leben wir, und dadurch wird das Zugrundeliegende – bei Heidegger das Sein, bei Brunner das Denkende – verdeckt. Im Sinne Heideggers schreibt Brunner: „Du lebst durch dein Wissen ein Dasein, wodurch du dauernd abgezogen wirst von der Tiefe deines Seins, durch das, was vom Dasein du weißt und lebst. Das Lebensbewußtsein ist ein Vorhang um das wirkliche Sein.“145 Heidegger nennt ein solches Leben „uneigentlich“: Wir richten uns in unserem Dasein ein und tun, was „man“ tut. Das Ziel ist für ihn, die uneigentliche Existenzweise aufzuheben. Das geht nur, wenn wir die Seinsvergessenheit überwinden, indem wir uns dem Sein zuwenden und unser Dasein von dort aus denken. Auf diesem Wege – „achtsam“ auf das Sein, „wach“ und offen für das „Ereignis“ – befreien wir uns vom Uneigentlichen und vom bloßen Funktionieren in dem, was „man“ tut und verändern so unser „Dasein“. Ganz in diesem Sinne schreibt Brunner in seinem letzten Buch: Dasein, da sein, weist auf Sein. Dasein aber ist Sache des Wissens, des Kennens –: Sein ist mehr, ist alles, und in unsrem Grundgefühl lebt das Seinsbewußtsein, welches kein Wissen ist, kein Kennen ist gleich dem Daseinsbewußtsein der Relativität. Bewußtsein (besser wäre Bewußtheit zu sagen) mit seinem Fühlen, Wissen, Wollen ist die sich denkende Bewegung des relativ Seins, ist Werdensbewußtsein als praktischer Verstand, verdeckend das Seinsbewußtsein; Besinnung auf den Grund des Seinsbewußtseins (unter dem Werdensbewußtsein), die Wahrheit vom Sein ist erweckbar nur durch Modifikation des praktischen Denkens, als ein Gefühl wie ohne Wissen, das auch mit den Gefühlen des praktischen Verstandes keine Ähnlichkeit zeigt. [...] Das Sein ist unermeßlich viel umfassender als das Wissen; das wirk-

143 Brunner, Briefe (wie Anm. 22), S. 143. 144 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Halle 1927. Ansätze zu einem Vergleich finden sich bei Goetz, Leben ist Denken (wie Anm. 115), S. 160–164. 145 Brunner, Charakter (wie Anm. 1), S. 69.

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liche Sein ist überall die Totalität und die Ewigkeit und das Geheimnis, aus welchem das Wissen erwächst. Die oberirdischen Teile des Baumes hängen ab von seinen unterirdischen Teilen –: so stehen wir mit unsrem Daseinsbewußtsein auf dem Grunde unsres Seinsgefühls. Das ist das Gefühl der Tiefe, erweckbar in der geistigen Modifikation.146

Obwohl Brunner, wie wir gesehen haben, auch sehr wissenschaftlich denkt, geht es ihm in seiner Philosophie, ähnlich wie Heidegger, letztlich um diese lebens­ praktischen Intentionen: einen „Vertiefungs- und Reinigungsprozeß“.147 Das Ziel ist die „geistige Modifikation“, das heißt ein Denken der Dinge, also unsres Daseins, auf dem Grunde des wirklichen, eigentlich nicht benennbaren und weiter bestimmbaren absoluten Seins. Dass dieses Sein nicht logisch erschließbar und intersubjektiv ausweisbar ist, sieht Brunner genauso wie Wittgenstein. Aber eine „Besinnung“ darauf hält er dennoch für möglich.

Fazit Vieles spricht also dafür, Brunner philosophiegeschichtlich in der Nähe der Exis­ tenzphilosophie zu verorten. Eine genauere Untersuchung dürfte aber auch Unterschiede offenbaren. Heideggers sprachlicher Duktus, das Gründelnde, aber auch seine Provinzialität und die politischen Verirrungen in den Nationalsozialismus sind Brunner fremd.148 Anders als Jaspers ist Brunner sehr eindeutig in seiner Ablehnung religiöser Äußerungsformen und hier auch wenig tolerant. Mit Sartre149 verbindet ihn eine ähnliche Bestimmung des Phänomens bzw. Dinges, aber vermutlich hätte Brunner Sartres Auffassung des Subjekts, der Endlichkeit und der Freiheit als Verabsolutierungen angesehen, ganz zu schweigen

146 Brunner, Charakter (wie Anm. 1), S. 68 f. 147 Brunner, Charakter (wie Anm. 1), S. 211. 148 Hierauf hat schon Hans Goetz hingewiesen: Heideggers Nazismus. Resultat einer verfehlten Philosophie? In: Ders., Philosophie als Lebensqualität (wie Anm. 115), S. 125–128. 149 Über Leo Sonntag und Maurice Merleau-Ponty wurde Sartre 1952 mit Brunners Schriften bekannt. Er publizierte eine französische Übersetzung des Abschnitts „Zeugnis“ aus Brunners Der entlarvte Mensch (wie Anm. 7, S. 124–138): Constantin Brunner: Témoignage. Traduction de Marthe Robert. In: Les Temps Modernes (Juin 1952), p. 2173–2194. Zu Merleau-Pontys und Sartres Interesse an Brunner siehe: Leo Sonntag. Ein jüdisches Emigrantenschicksal. Hg. von Jürgen Stenzel. Essen 1994 (Brunner im Gespräch 1), S. 46 f. Auch Albert Camus zeigte sich interessiert an Brunner; siehe ebenda S. 50 f. Auf Parallelen zwischen Brunner und Camus hat Martin Rodan hingewiesen: Martin Rodan: Camus, Bickel, Brunner – Zufall oder Revolution? In: Internationaal Constantin Brunner Instituut. Jahrbuch 2001. Essen 2001 (Brunner im Gespräch 5), S. 7



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von politischen Divergenzen; denn Brunner betrachtete den Kommunismus als „Freiheitswürger“.150 Auch die Parallelen Brunners zur Wissenschaftstheorie und Sprachphilosophie haben eine Kehrseite: Einerseits hat er den linguistic turn nicht mitgemacht, andererseits hält er an einer absoluten und in einer geistigen Besinnung erfassbaren Wahrheit fest, wodurch sein Denken mit konsenstheoretischen und postmodernen Wahrheitsauffasungen sicher nicht in Einklang zu bringen ist. Auch die Parallelen zu kohärenztheoretischen, pragmatischen und konstruktivistischen Positionen betreffen nur bestimmte Aspekte, vor allem den Status von Brunners Theorie des praktischen Verstandes. Treffender scheint es mir, Brunners Position als mystischen Spinozismus zu bezeichnen; das kommt auch der Verortung, die Brunner selber vorgenommen hat, am nächsten. Wegen dieser Gründung in einer absoluten Substanz bleibt Brunners Philosophie unvereinbar mit absolut materialistischen Theorien; der praktische Verstand ist für ihn nur „relativ“ materialistisch. Anders als zeitgenössische Materialisten wie Haeckel, aber auch Positivisten, etwa Comte, denkt Brunner aus einem geistigen monistischen Einheitsgedanken heraus. Nicht zuletzt wegen seiner Begriffstheorie lässt sich eine Nähe zu Freges Auffassung einer „Gedankenwelt“ erkennen, wenn auch dessen Sprachanalyse und Annahme einer realen Außenwelt, die sich in unserem Bewusstsein abspiegele, Brunners Auffassungen zuwiderlaufen. Mit Husserl verbindet ihn der phänomenologische Ansatz. Aber Husserls weitere logische Analysen bleiben Brunner fremd, nicht zuletzt weil sie zu weit weg von seinen eigenen lebenspraktischen Bemühungen erscheinen. Brunners eigene Verortung in der spinozistischen und zugleich der platonischen Tradition erscheint treffend, auch wenn er Spinozas Rationalismus und Platons Dualismus weitgehend ignoriert. Dass sein Denken mit Kant und Nietzsche wenig gemein hat, ist ebenfalls evident. Kants Auffassung eines FormalApriorischen und überhaupt seine Idee einer Transzendentalphilosophie lässt sich mit Brunners Ansatz nicht vereinen. Dass Brunner und Nietzsche trotz des lebenspraktischen Impetus – hierfür ist bei beiden nicht zuletzt Schopenhauer wirksam gewesen – das meiste trennt, hat Brunner richtig gesehen. Nietzsches Kritik des Wahrheitsbegriffs macht ihn für Brunner zu einem Sophisten und seine Ich-Auffassung verstand er als Verabsolutierung, aus der eine „egoistische Ethik“ folgt, die Brunner von seiner Einheitsperspektive aus nicht gutheißen kann.151

150 Brunner, Nachwort (wie Anm. 42), S. 196. 151 Zur praktischen Philosophie Brunners – Ethik, Gesellschafts- und Staatslehre – siehe die Übersicht bei Stenzel, Philosophie (wie Anm. 2), S.  61–109 und S.  139–150. Siehe auch Hans

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 Jürgen Stenzel

Überschauen wir die Diskussion mit seinen Zeitgenossen, so fällt auf, dass Brunner sich eher nur punktuell und allgemein auf andere Autoren bezieht, und dies auch nur hinsichtlich weniger Aspekte seines Denkens und an wenigen Stellen seiner Werke. Ein größerer Einfluss der zeitgenössischen Philosophen auf seine Theorien lässt sich nicht feststellen und auch umgekehrt wurde er kaum von diesen wahrgenommen. Brunner war ein monologischer Denker, auf den die Selbsttitulierung „Einsiedler“ durchaus passt.152 Er denkt aus einer älteren, besonders der platonischen, spinozistischen und idealistischen Tradition heraus, die er an einigen Stellen allerdings durchaus ähnlich wie seine Zeitgenossen deutet und artikuliert, so dass seine Philosophie an die zeitgenössischen Kontexte vielfach anschlussfähig ist und bemerkenswerte Lösungen liefert bzw. unerwartete Verbindungen ermöglicht. Folgt man Brunners Auffassung der geistigen Wahrheit und seiner Kritik an Aberglauben und Scheinwissen, dann erweist sich seine Fakultätenlehre als eine sehr konsequente Theorie, die er selber erfolgreich auf die Bewertung anderer philosophischer Systeme angewendet hat und die damit zugleich auch seine eigentümliche wie eigenständige philosophiehistorische Position ausmacht.

Goetz: Ethischer Egoismus. Individuum, Gattung, Gesellschaft, Staat. Essen 1993 (Kleine Arbeiten zur Philosophie 37). 152 Constantin Brunner: Vom Einsiedler Constantin Brunner. Potsdam 1924.

Tobias Fox

Zu Constantin Brunners Atomkritik Wenn ich realistisch bin Geh’ ich nicht raus, Wenn ich realistisch bin Verlaß’ ich grundsätzlich nicht das Haus. Die Sterne, Wir sind reines Dynamit

In der als sein Hauptwerk geltenden Lehre von den Geistigen und vom Volk vertritt Constantin Brunner im Jahr 1908 etwas für uns heutige Leser Überraschendes, nämlich eine skeptische Haltung gegenüber der Existenz von Atomen der Physik.1 Ist das eine Nebensache, vielleicht nur ein historischer Unfall, der in Würdigung seines gesamten Systems milde übersehen werden kann? Oder ist es das erste Anzeichen einer Philosophie in Schieflage? – Atome, so assoziiert man, sind doch heute Schulwissen. Atome zeigen nach heute gefestigtem Verständnis zahlreiche merkwürdige Eigenschaften: Sie sind beispielsweise spaltbar, obwohl sie als Unteilbare dies nicht sein sollten; mit ihnen hängen unintuitive Quantenphänomene zusammen, so dass Atome möglicherweise philosophische Interpretationsprobleme mit sich bringen, die ein Denker vor einhundert Jahren sehr gut angerissen haben könnte. Ein einfaches Abtun von Brunners Haltung ist bei näherem Hinsehen also nicht ratsam. Aus diesem Grunde sollen seine Argumente gegen eine realistische Deutung von Atomen in der folgenden Untersuchung nachgezeichnet und an anderen Standpunkten in der Philosophie und in der Physik gemessen werden. Brunners Skepsis, so zeigt sich, hätte bereits damals ihre Berechtigung behalten und behält sie auch in unserer Gegenwart mit ihren ausreichend nachgewiesenen Elementarteilchen.2

I Brunners Gegenreden zum Atom Die Atomfrage ist nicht das wichtigste Thema der 1908 erstmalig erschienen Lehre von den Geistigen und vom Volk. In dem Buch wird vielmehr der „prakti-

1 Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich im Wesentlichen auf dieses Buch: Constantin Brunner: Die Lehre von den Geistigen und vom Volk [1908]. 3. Aufl. Stuttgart 1962. 2 Ich danke Dana Fox, Florian Braun, Nico Naeve und Björn Henning für wertvolle Verbesserungsvorschläge zum Text.

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 Tobias Fox

sche Verstand“ als eine von drei sogenannten „Fakultäten“ des menschlichen Denkens vor dem Leser ausgebreitet, was verdeutlichen soll, wie das eigentliche Denken als geistige Tätigkeit strukturiert ist. Bei dem Versuch, wissenschaftliche Erkenntnisse und Alltagserfahrungen miteinander zu vereinbaren, gelangt Brunners Weltanschauung zu einer „relativen Wirklichkeit“, in der man eine sichere, d.h. mit den Mitteln wissenschaftlicher Physik bruchfest gemachte Aussage über die Existenz von Atomen nicht mehr treffen kann. Das wohl wichtigste Argument in der Lehre in Bezug auf die Atome liegt darin, dass der Begriff des Atoms als kleine harte Kugel – unabhängig vom Vorhandensein zusätzlicher Häkchen oder anderer Formteile – genau dann widersprüchlich wird, wenn man Atome als unteilbar vorstellt. Schließlich wären Kugeln gedanklich stets in kleinere Abschnitte teilbar: „Gerade deswegen ist das Atom unvorstellbar, weil ich mir die Dinge immer kleiner vorstellen kann und niemals dahin gelange, ein ausgedehntes Ding mir vorzustellen, das ich mir nicht noch kleiner vorstellen kann, als ich es mir vorgestellt habe.“3 An einem anderen Ort: „Es gibt bei keiner angenommenen Kleinheit der Atome ein Stillehalten, da wir sie immer noch kleiner annehmen könnten und niemals im Denken zu jenem wirklichen einfachen Elementarkörperchen von Unteilbarkeit gelangen.“4 In einer abermals alternativen Formulierung sagt Brunner, Atome wären nicht denkmöglich, da sie als ein dinglich Ausgedehntes, d.h. also als eine Masse von einer gewissen Dichtigkeit, Gestalt, Größe unmöglich einfach, unveränderlich und unzerstörbar gedacht werden können, denn damit sind sie nicht allein unsrem Erfahrungsgebiete ganz und gar fremd und zuwider, sondern bleiben auch bei der Annahme einer noch so fein gesteigerten Sinneswahrnehmung immer eine denkunmögliche Voraussetzung.5

Hier wird bereits eine bemerkenswerte Harmonie zwischen Erfahrungswissenschaften und einer rein logischen Betrachtungsweise herangezogen. Ursprünglich entstammt die nicht vorhandene Unveränderlichkeit und Unzerstörbarkeit bisheriger materieller Gegenstände dem Bereich der Empirie („unsre Erfahrungsgebiete“); eine Denkunmöglichkeit hat hier gar keinen Platz, denn man schaut einfach in der Natur nach, ob es fragliche Objekte gibt oder nicht. Gleichzeitig kann die Einfachheit selbst von unveränderlichen und unzerstörbaren Korpuskeln nicht gedacht werden, sobald sie eine räumliche Ausdehnung haben und somit mehrere Raumteile zur selben Zeit einnehmen. Wer mit anderen Worten an

3 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 222. 4 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 294. 5 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 229.



Zu Constantin Brunners Atomkritik 

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kleine Kugeln oder Würfel denkt, denkt unvermeidbar an ihre räumlichen Teile und kann die Ausgangsobjekte nicht mehr atomistisch nennen. In ganz wenigen Strichen also stellt Brunner ein Bild seiner Atomkritik vor seine Leser hin. Es kann als ein klassisches philosophisches Argument gegen die Existenz von Atomen bezeichnet werden und ist unabhängig von empirischen Erkenntnissen, welche auch immer das sein mögen. Das Argument ist fast ein rein logisches oder begriffsanalytisches anstatt ein philosophisches, jedenfalls ist es unabhängig von philosophischen Denkschulen, wenn man einmal außer Acht lässt, dass manche Denkschulen wie der Empirismus dieses Argument unangetastet, aber auch unangewendet lassen würden. Ferner nutzt es die Voraussetzung, dass Begriffe, auf die nicht nur ein philosophisches System, sondern das Weltbild einer Naturwissenschaft aufgebaut ist, in sich widerspruchsfrei sein müssen. Eine beispielhafte Anwendung dieses Arguments finden wir in der Leibniz-Huygens-Debatte von 1692/93.6 Der Mathematiker und Physiker Christian Huygens vertrat auf vorsichtige Weise eine befürwortende Haltung, was die Existenz von Atomen betrifft. Für Leibniz, der eine Reihe von metaphysischen Argumenten gegen Atome hätte vorbringen können und der innerhalb seines philosophischen Systems der wenigen Grundprinzipien sogar ein Atomismusgegner sein musste, sprach nicht zuletzt ein logischer Grund gegen die Existenz von Atomen. Wenn es Atome in Form von kleinen, ausgedehnten Körpern gäbe und sie unendlich hart wären, dann würden die Stoßgesetze an ihnen ihre Gültigkeit verlieren. Denn stießen zwei solcher Atome frei jeder Elastizität aneinander, blieben sie schlicht ruhend nebeneinander liegen und prallten nicht wie zwei Billardkugeln wieder voneinander ab. Wäre dem nicht so, dann herrschte nach kurzer Zeit in einer Welt aus solchen anfänglich bewegten Atomen ein nicht mehr änderbarer Stillstand, anfänglich unbewegte Atome blieben weiterhin ruhen und nichts mehr würde sich ereignen. Dies ist aber in unserer Welt offensichtlich nicht der Fall. Hätten jedoch die angenommenen Atome eine Elastizität, dann würde dies bedeuten, dass sich Teile von ihnen relativ zueinander bewegen könnten – womit die Einfachheit und Unteilbarkeit von Atomen vom Tisch wäre. Wie man es auch wählt, es folgen gemäß Leibniz aus der Atomhypothese Widersprüche. Brunner hat zudem erkannt, dass Billardkugel-Analogien und Ähnliches von Anfang an in die falsche Richtung weisen. Die Atome als kleine Materieballungen zu denken, hieße nach Brunner, sie selbst als Dinge – wenn auch unerkennbar kleine – anzunehmen, die als solche gar keine hinreichende Erklärung für die großen, sichtba-

6 Gottfried Wilhelm Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Hg. von Ernst Cassirer. Bd. 1. Hamburg 1996, S. 291–304, insbesondere S. 303.

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ren Dinge um uns herum sein könnten, da sie selbst zu den Dingen zählen, die einer Erklärung bedürfen.7 Unter Atomen kann auch etwas anderes als kleine Masseausdehnungen verstanden werden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist das Modell von Punktteilchen immer beliebter geworden. Atome wären demnach ausdehnungslose Punkte, die sich nur durch die Wirkung abstoßender und anziehender Kräfte auf die Außenwelt, die dann auch nur aus Punktteilchen bestünde, bemerkbar machten. Auf die physikalische Aktualität dieses Konzeptes der Kraftzentren kommen wir weiter unten zu sprechen; tatsächlich sah sich Brunner dazu gebracht, im Zeitraum der Niederschrift von der Lehre, also am Ende des 19. Jahrhunderts, auch dazu kritisch Stellung zu nehmen, und sei es auch nur in einer Fußnote. Dies bildet einen zweiten Standpunkt gegen Atome, denn Brunner bewertet auch punktartige Objekte als Undinge. Eine Ansammlung von ausdehnungslosen Punkten könne keine Ausdehnung erzeugen, doch bräuchten wir selbstverständlich eine Räumlichkeit, da wir unstrittig von ausgedehnten Objekten umgeben sind. Ein Punkt dagegen, so erinnert uns Brunner, sei nichts weiter als ein mathematischer Begriff.8 Es ginge dabei nicht um einen Kategorienfehler, wonach eine mathematische Entität keine physikalischen Objekte erklären könne. Vielmehr seien angenommene reale Punkte nutzlos, da mit ihnen ganz einfach keine Ausdehnung erzeugt werden könne. Etwas spöttisch sagt Brunner: „Diese Rechnung aber 2 x 0 = 2, dieses Nichts, das in der Summierung Alles ergeben soll, dieses ausgedehnte Ding oder Dingpunkt – das ist ja das reine Ding-an-sich, das nichts vom Dinge an sich hat.“9 Dies trotz Brunners anerkennender Hinzunahme, dass Atome in diesem Gedankengang nicht bloß als eigenschaftslose Punkte, sondern als Kraftmittelpunkte vorgestellt werden. Dadurch aber, durch die Befähigung der Punkte zur Kraftausübung, können Befürworter der Punktatome einen Ursprung der Ausgedehntheit benennen: Ausdehnung ist der Abstand der Punkte im Kräftegleichgewicht zueinander. Größere Dinge entsprechen somit einer Gitterstruktur, wobei die Gitterstäbe unsichtbare Kräfteverbindungen sind und die Kreuzungspunkte des Gitters eben die ausdehnungslosen Atome. Zu Brunners Zeiten war diese Atomkonzeption, wie bereits angedeutet, nicht mehr neu. Zurück geht sie bereits auf Inspirationen von Roger Boscovich und dem vorkritischen Immanuel Kant im 18. Jahrhundert.10 Für Naturwissenschaftler bot

7 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 293. 8 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 294 u. S. 295, Fußnote. 9 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 294, Fußnote. 10 Roger Boscovich: A Theory of Natural Philosophy. Open Court, London 1922. Immanuel Kant: Monadologia Physica. Frankfurt a.M. 1996, S. 545–580. (Abschnitt II), oder: Kants gesammelte



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dieser Ansatz einige Vorteile. Zum einen kam in deren chemischen und vor allem elektrischen Modellen eine Form oder Größe von zunächst theoretischen Atomen gar nicht vor; zum anderen erfuhren sie die scheinbar unbegrenzte Fruchtbarkeit des Kraftkonzepts bei gleichzeitiger Auflösung des Härtebegriffs. Man denke nur an den Wechsel von Aggregatzuständen von allem Stofflichen, in welchem Härte selbst beliebig erzeugt und vernichtet werden kann. Brunner schien nur zu ahnen, wie prominent die Punktatome bald noch werden würden. Seine Kritik mag etwas kurz gegriffen wirken, doch auch die Vertreter von Punktteilchen geraten in begriffliche Widersprüche. Ausgedehntheit beispielsweise, also das, was wir als Materialität, als fühlbaren Widerstand von Dingen kennen und für selbstverständlich halten, wird verworfen. Stattdessen hätten wir es mit einem reinen Kräftenetzwerk zu tun. Der alltägliche Vorgang, einen Gegenstand vom Boden mit der Hand aufzunehmen und ihn wieder abzulegen, bestünde nur noch in der Abstoßung und Anziehung eines ganzen Schwarmes von Kraftzentren, die selbst aber unkörperliche „Nichtse“ (Brunner)11 seien. Die wiederum involvieren das philosophisch gleichermaßen problematische Konzept des Vakuums, denn nun besteht die gesamte Welt nur aus leerem Raum mit zahllosen Wirbeln von Kraftmittelpunkten. Ebenso ist durch die allwaltenden Kräfte nicht viel erklärt. Wie wird zum Beispiel eine Kraft vermittelt? Die Physik führt dafür das Kraftfeld ein, eine (nun doch wieder) Ausdehnung, die allerdings nicht als materiell gedacht werden soll. Das Feld wirft daher neue Interpretationsschwierigkeiten auf. Ganz zu schweigen von der offenen Frage, wodurch Kräfte von etwas ausgehen, wie sie an etwas anhaften, das nicht als dingliches Körperchen vorgestellt wird, sondern als Punkt. Diese Atome sind sowohl Ausgangsort der eigenen Kräfte als auch Angriffspunkt äußerer Kräfte, ohne aber, dass ihre Punkthaftigkeit uns irgend einen Schlüssel in die Hand geben könnte, beides zu trennen; der Begriff der Punktteilchen ist von Anfang an brüchig. Es ist, als ob die begrifflichen, anschaulichen und logischen Probleme, die ausgedehnte Atome aufwerfen, durch Punktteilchen nicht gelöst, sondern durch andere ersetzt werden. Dazu niemand anderes als Friedrich Nietzsche, bereits 1886: Ungefähr nach dem gleichen Schema suchte die ältere Atomistik zu der ,Kraft‘, die wirkt, noch jenes Klümpchen Materie, worin sie sitzt, aus der heraus sie wirkt, das Atom; strengere Köpfe lernten endlich ohne diesen ,Erdenrest‘ auskommen, und vielleicht gewöhnt

Schriften. Hg. von der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 1. Berlin 1902 ff., S. 483–524. 11 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 294, Fußnote.

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man sich eines Tages noch daran, auch seitens der Logiker ohne jenes kleine ,es‘ (zu dem sich das ehrliche alte Ich verflüchtigt hat) auszukommen.12

Brunners Fußnotenkommentar weist in dieselbe Richtung. Unsere Betrachtung wäre jedoch unvollständig, wenn wir die adäquate Würdigung der Atome durch Brunner unerwähnt ließen. Seine Atomkritik richtet sich nicht gegen die Bestrebungen der Naturwissenschaften im allgemeinen – das könnte ein Philosoph gegenüber einer empirischen Tätigkeit auch gar nicht. Vielmehr schätzt Brunner das Atom als theoretischen Hilfsbegriff, der natürliche Phänomene zu erklären hilft, sofern Atome nicht als real oder den Dingen zugrundeliegend angenommen und dadurch überschätzt werden: „Die Bewegungslehre auf Grund der Atomistik erklärt alles, [...] und darum ist die Atomhypothese die Hypothese, keine andre kann neben ihr in Betracht gezogen werden. Sie leistet alles, was wir verlangen müssen, darum halten wir an ihr.“13 Die Leistungen bestanden aus der Sicht der Naturwissenschaft des späten 19. Jahrhunderts beispielsweise in der genauen Maßberechnung bei chemischen Reaktionen oder erfolgreichen gaskinetischen Gesetzen, ohne die letztlich jede auf der Dampfmaschine basierende Technik nicht modellierbar wäre (mehr dazu im kommenden Abschnitt). Brunner hält Atome, wie wir sehen, für nützliche Gedankendinge, ebenso wie es mathematische Objekte und – einmal ein ganz anderer Vergleich – die grammatikalisch bestehenden, niemals aber gesprochenen Wurzeln der Wörter unserer Sprache sind.14 Auch diese seien nützlich, würden aber in ihrer Erklärungsreichweite klugerweise nicht überschätzt. Insofern ist Brunners Titulierung von Atomen als „fiktive Konstruktionen“ des abstrakten Denkens nicht abwertend gemeint.15 Es ist uns geläufig, mathematische Entitäten nicht als Teil der Natur anzusehen. Dass in der Welt kein einziges gleichseitiges Dreieck oder keine ideale Gerade anzutreffen ist, bedeute nicht, dass diese Dinge aus der Mathematik eliminiert werden müssten. Auch Wurzeln der Wörter sind nicht Teil einer aktiven Sprache, aber sie erklärten wichtige Zusammenhänge. Gleichermaßen seien Atome eben keine „Urdinge“, also Entitäten, die das Wesen der üblichen Dinge wie Mobiliar, Kleidung, Tiere, Pflanzen, Häuser, erklären können, und die das unveränderliche Materielle wären, das unserer veränderlichen dinglichen Welt zugrunde läge.16

12 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Neuauflage München 1999, § 17. 13 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 232, ähnlich auch S. 308. 14 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 227. 15 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 225f. 16 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 227.



Zu Constantin Brunners Atomkritik 

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Noch vor der Zusammenführung dieser Standpunkte mit seiner zeitgenössischen Physik und mit späteren Materiemodellen sind wir in der Lage, diese Haltung erstmalig zu bewerten. Brunner stand im Ergebnis mit seiner Kritik alles andere als alleine da. Es sind wenige Philosophen bis zur vorletzten Jahrhundertwende zu finden, die ausdrückliche Anhänger eines realistischen Atomismus waren. Reine demokritische Schulen gab es im 19. Jahrhundert natürlich nicht mehr. Der bereits genannte Leibniz ist dagegen ein vehementer Kritiker physikalischer Atome. Antiatomistisch argumentierte auch Hans Vaihinger in seiner 1877 geschriebenen, aber erst nach Brunners Lehre erschienenen Philosophie des Als-Ob.17 Es gab auch philosophische Versuche, die chemische und physikalische Atomistik mit der Philosophie zu versöhnen, so wie es Theodor Fechner getan hat.18 Doch blieb dies ein Einzelversuch. Gleichzeitig hatte sich eine realistische Interpretation von Atomen nicht einmal in der Physik selbst durchgesetzt. Ernst Mach muss hier genannt werden, da er bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts die Speerspitze der physikalischen Antiatomisten darstellte.19 Brunner war also nicht nur nicht allein oder gar ein Exot in Betreff der Atomhypothese, er hätte seinen Standpunkt durch namhafte Referenzen auch leicht untermauern können. Dass er dies unterlassen hat, ist wiederum kein Mangel. Wer auf geistige Vorgänger Bezug nimmt, sollte die entsprechenden Teile der fremden Denkgebäude in sein System schlüssig importieren, oder aber er setzt sich dem berechtigten Vorwurf des Eklektizismus aus. Brunner – in anderen Teilen der Lehre ein Spinozist – tat also gut daran, seine kritische Haltung gegenüber der gegenwärtigen Atomistik nicht mit der Metaphysik Leibnizens oder dem Sensualismus Ernst Machs in Verbindung zu bringen.

II Die naturwissenschaftlichen Hypothesen zur Atomistik im 19. Jahrhundert Mehr als mit Philosophen beschäftigt sich Brunner, wenn er gegen die realistische Auslegung von Atomen spricht, mit Physikern und Chemikern seiner Zeit. Dies hat auch damit zu tun, dass es die Naturwissenschaften des 19. Jahrhun-

17 Hans Vaihinger: Philosophie des Als-Ob. Neudruck der 9./10. Aufl. (Leipzig 1927) Aalen 1986. Hier übrigens werden Atome – ganz im Sinne Brunners – als nützliche wissenschaftliche Fiktion eingestuft. 18 Theodor Fechner: Atomenlehre. 2. Aufl. Leipzig 1864. 19 Zum Beispiel Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. 3. Aufl. Leipzig 1905, S. VII.

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derts gewesen sind, die den lange tradierten Atomgedanken wieder aufgegriffen haben. Der zunehmende Erfolg des Atombegriffs – in einer weiter unten zu bewertenden Bedeutung – zwang die Philosophie überhaupt erst dazu, sich in neuer Form mit der Haltung des Atomismus auseinanderzusetzen.20 Was geschah genau in den Jahrzehnten vor Brunners Niederschrift der Lehre? Eine ganz kurze Übersicht: Um 1800 formulierte John Dalton, ausgehend von Vorarbeiten Antoine-Laurent Lavoisiers, Massengesetze zu den Mischungs­ verhältnissen chemischer Reaktionen. Diese fußten auf dem Modell chemischer Stoffarten, die jeweils aus elementaren Teilchen eines bestimmten, für jeden Stoff typischen Gewichtes bestehen. Atome waren damit weder nachgewiesen noch näher beschrieben. Es handelte sich nur um ein nützliches Modell. Amedeo Avogadro beschäftigte sich etwas später mit der Anzahl von modellartig angenommenen Teilchen, die in einem standardisierten Volumen eines Gases enthalten sein müssten. Auf ihn geht daher seit 1811 die nach ihm benannte Avogadro-Konstante zurück. Die Thermodynamik des 19. Jahrhunderts konnte beständig die Vorstellung durcheinanderwirbelnder Atome nutzbar machen, um Zusammenhänge von Druck, Temperatur und Volumen von Gasen zu bestimmen – nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ. Der Gasdruck selbst wurde als ein statistisch berechenbares Prasseln von Atomen gegen beispielsweise eine Behälterwand interpretiert. Diese Ansätze gerieten keineswegs ins Stocken, sondern trugen Stück für Stück zu einer neuen, naturwissenschaftlichen Sicht über die Materiestruktur in kleinen Dimensionen bei. Chemische Elemente wurden weiterhin entdeckt und geordnet. Schließlich wurde nach verschiedenen Ordnungsversuchen 1869 das Periodensystem nach Mendelejew aufgestellt. Es nimmt nicht wunder, dass gewisse Phänomene der Elektrizität und des Magnetismus ebenso mit atomistischen Teilchen erklärt wurden, nämlich mit einer vagen Art von Ladungs- oder Magnetpolträgern. Josef Thomson und andere Forscher beanspruchten 1897 dann für sich die Entdeckung von Elektronen mit der Untersuchung von Kathodenstrahlen, die in Magnetfeldern eine gebogene Bahn beschreiben. Brunner war also Zeuge einer erfolgreichen Karriere des Atommodells, wenn auch die Eigenschaften dieser Entitäten nach Belieben erweitert oder abgeändert wurden. Noch einmal Nietzsche, wiederum früh, nämlich 1887: „Unsre ganze Wissenschaft steht noch, trotz aller ihrer Kühle, ihrer Freiheit vom Affekt, unter

20 Als allgemeine Übersicht dazu siehe Andreas van Melsen: Atom gestern und heute. Freiburg 1957; sowie George Goetz: Zur Geschichte der Atomistik. Verwechslung der Atome der Philosophie mit den Atomen der Physik. Ein wissenschaftlicher Essay (1948). Hg. von Hans Goetz. Münster 2009, S.40–77.



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der Verführung der Sprache und ist die untergeschobenen Wechselbälge, die ,Subjekte‘ nicht losgeworden (das Atom ist zum Beispiel ein solcher Wechselbalg, insgleichen das Kantische ,Ding an sich‘).“21 Offensichtlich hat Brunner die naturwissenschaftlichen Entwicklungen verfolgt. Er erwähnt und kritisiert mehrere Wissenschaftler im Zusammenhang mit der getadelten Überbewertung von Atomen; neben dem genannten Thomson auch den Astronomen Angelo Secchi.22 Letzterer fing mittels Teleskopen das Licht einzelner Sterne ein und vermaß deren Spektrallinien. Secchi kam zu dem Ergebnis, dass Sterne wie auch unsere Sonne hauptsächlich aus Wasserstoff bestehen. Weiterhin kritisiert: Josef Redtenbacher, ein Chemiker, der Beiträge zur Abschätzung des Atomgewichts von Kohlenstoff leistete und dadurch Daltons Ansätze fortführte. Oder auch André Marie Ampère, der sich als einer der ersten den elektrischen Strom als Fluss von „Molekülen“ vorstellte, sowie Michael Faraday, welcher Elementarladungen, Ionen und Anionen als Ursprünge von elektrischen Feldern ansah.23 In den Arbeiten dieser „Wissenschaftsmänner“ sieht Brunner eine „ärgste Kompetenzüberschreitung“, natürlich nur bezüglich der Deutung von Atomen.24 Sie leisteten, „soweit sie die wirkliche Denkmöglichkeit der Atome erweisen wollen, völlig unnütze Arbeit“.25 Dies sind sehr selbstbewusste und scharfe Worte. Sie sind jedoch mit Brunners Anerkennung der Atome als Hilfskonstruktionen in ein Verhältnis zu setzen. Nicht überraschend ist, dass auch innerhalb der Physik eine Klärung der Frage, ob Atome tatsächlich existierten, unumgänglich wurde. Darüber kulminierte schließlich eine Debatte des bereits erwähnten Ernst Mach mit dem Physiker Ludwig Boltzmann. Mach war in erster Linie gegen die realistische Auslegung der Atomistik, weil sie sich fast per Definition der Sinneswahrnehmung entziehen, da man sie – salopp gesprochen – nicht sehen kann. Anschließend daran wären Atome aus einer physikalischen Theorie herauszustreichen, und zwar in einfacher Anwendung des Ökonomieprinzips, das Mach als einen Leitsatz bei der Beschreibung der Natur heranzog: Überflüssiges würde von Naturwissenschaftlern richtigerweise intuitiv eliminiert:

21 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Neuauflage München 1999, § 1–13. 22 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 309. 23 Redtenbacher wird auf S.  309 der Lehre (wie Anm. 1) erwähnt, Ampère und Faraday auf S. 294. 24 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 422. 25 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 309.

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Atome können wir nirgends wahrnehmen, sie sind wie alle Substanzen Gedankendinge. Ja, den Atomen werden zum Theil Eigenschaften zugeschrieben, welche allen bisher beobachteten widersprechen. Mögen die Atomtheorien immerhin geeignet sein, eine Reihe von Thatsachen darzustellen, die Naturforscher, welche Newton’s Regeln des Philosophirens sich zu Herzen genommen haben, werden diese Theorien nur als provisorische Hülfsmittel gelten lassen, und einen Ersatz durch eine natürlichere Anschauung anstreben. Die Atomtheorie hat in der Physik eine ähnliche Function, wie gewisse mathematische Hülfsvorstellungen, sie ist ein mathematisches Modell zur Darstellung von Thatsachen.26

Auch hier fällt auf, dass ein Atomkritiker die zeitgenössische Physik nicht grundsätzlich tadelt, sondern den „Atomtheorien“ zahlreiche Meriten zubilligt. Ausdekliniert hieße das, Atome wären wiederum von theoretischer Nützlichkeit, sie wären heuristische Fiktionen, und das kommt in Wortwahl und Ergebnis Brunner sehr nahe. Ludwig Boltzmann bezog auf der anderen Seite Stellung und sprach sich für die Existenz von Atomen aus.27 Aus seiner Sicht sind Atome zunächst eine Modellannahme (also nichts anderes als eine „nützliche Fiktion“), wie es die Vorstellung eines kontinuierlichen Aufbaus der Materie aber auch ist. Ein kontinuierlicher Weltaufbau liegt den in der Physik ebenso erfolgreichen Differentialgleichungen zugrunde wie der bereits genannten kinetischen Gastheorie ein atomistischer. Für Boltzmann ist dann aber etwas anderes ausschlaggebend: Wollen wir uns [...] vom Kontinuum ein Bild in Worten machen, so müssen wir notwendig zuerst eine große endliche Zahl von Teilchen denken, die mit gewissen Eigenschaften begabt sind, und das Verhalten des Inbegriffs solcher Teilchen untersuchen. Gewisse Eigenschaften dieses Inbegriffs können sich nun einer bestimmten Limite nähern, wenn man die Anzahl der Teilchen immer mehr zu-, ihre Größe immer mehr abnehmen lässt. Von diesen Eigenschaften kann man dann behaupten, dass sie dem Kontinuum zukommen, und dies ist meiner Ansicht nach die einzige widerspruchsfreie Definition eines mit gewissen Eigenschaften begabten Kontinuums.28

Dies ist ein neuartiges Argument. Atome besitzen nun die Kraft, als einzige ohne Inkonsistenzen die Eigenschaften eines Kontinuums wie Gasen oder Flüssigkeiten zu beschreiben, die wir dann mit Differentialgleichungen berechnen würden. Folglich, so intendiert hier Boltzmann, sind auch die Anhänger eines kontinuierlichen Materieaufbaus auf die Annahme von Atomen angewiesen.

26 Ernst Mach: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. 5. Aufl. Leipzig 1904, S. 532 f. 27 Siehe z.B. Erhard Scheibe: Die Philosophie der Physiker. München 2006, S. 88. 28 Ludwig Boltzmann: Über statistische Mechanik. In: Ders.: Populäre Schriften. Nachdruck der Originalausgabe (Leipzig 1905) Braunschweig 1979, S. 206–224, hier S. 219.



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Wir wollen hier nicht darauf eingehen, dass dies zwar ein sehr elegantes Argument ist, jedoch nicht weit genug trägt, um die angesprochene Notwendigkeit und Alternativlosigkeit von Atomen in der physikalischen Weltbeschreibung zu beweisen. Historisch gesehen endete die Mach-Boltzmann Debatte nicht mit einem argumentativen K.O. oder einem Punktesieg für einen der beiden Beteiligten. Vielmehr wurden Mach und andere Atomskeptiker durch weitere suggestive Befunde in der Physik nahezu überrollt. Mehr dazu im nächsten Abschnitt. Wenn nun Brunners Haltung mit den Erkenntnissen und den Positionen innerhalb seiner zeitgenössischen Physik zu bewerten sind – Mach und Boltzmann etwa empfanden sich selbst mehr als Physiker denn als Philosophen –, dann bleibt als erstes festzuhalten, dass Brunner auch in der Physik keineswegs als Einzelgänger in Sachen Atomistik wahrgenommen worden wäre. Die Physik hat mit der adäquaten Behandlung von Atomen nachgerade gerungen, denn sie konnte nicht wissen, was in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch daraus wurde. Brunner ist argumentativ mit Mach jedoch nicht zu vergleichen. Er würde niemals mit fehlender Beobachtbarkeit oder mit einem Ökonomieprinzip argumentieren. Seine Kritik am Atomkonzept ist grundsätzlicherer Art und daher auch, wie wir weiter unten sehen werden, dauerhafter gegenüber weiteren Erkennt­ nissen der Physik. Ein Widerpart vom Schlage Boltzmanns wiederum hätte gut dazu führen können, dass sich die Fronten verhärtet hätten, bis die Debatte auf einem höheren Niveau, wohin sie eigentlich gehört, fortgeführt worden wäre. Gemeint ist folgendes: Boltzmann betont die begrifflich-erklärende Kraft von Atomen. Atome wären in dieser Hinsicht nicht nur einfach nützlich, ein glücklicher Einzelfall, sondern ein zentraler Begriff vieler physikalischer Bereiche. Sie bilden einen erstmals in der Geschichte der Physik und Chemie erkennbaren Zusammenhang zwischen zuvor getrennten Modellen. Dagegen hätte Brunner in einer fiktiven Auseinandersetzung darauf beharren können, dass Atome als ausgedehnt und hart weiterhin denkwidersprüchlich seien. Eine Einigung wäre nicht in Sicht, obwohl man beiden Positionen Recht geben möchte. Was ist also zu tun? Die Antwort liegt darin, ein Missverständnis endlich aufzuklären. Die Physik hat zwar bestimmte unsichtbar kleine Dinge Atome genannt, meint damit aber nicht das, was Philosophen dabei denken. Es liegt ein Fall von Homonymie vor. Selbst ohne Kenntnis unseres heutigen Atommodells und seinen empirischen Motivationen hätte man bereits im 19. Jahrhundert festhalten können (und an mancher Stelle auch müssen), dass aus Sicht der Physik und Chemie die Atome keineswegs als eine Art letzte oder unteilbare Körperchen aufgefasst werden müssen, sondern eben nur als sehr kleine und daher für das menschliche Auge und die meisten Mikroskope unsichtbare Gegenstände, aber eben doch als Gegenstände, die in ihrer Dinghaftigkeit den Objekten unseres Alltags nach

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bestem Wissen gleichkommen. Ein Fingerzeig aus dem Umfeld Brunners auf genau dieses Problem liegt in Form eines Essays des Brunner-Schülers George Goetz von 1948 vor: „Man hätte das, was man damals als Atome bezeichnete, weil man es für Atome hielt, und was man leider heute noch immer als Atome bezeichnet: man hätte schon damals die physikalisch-chemischen Atome keinen Augenblick länger ,Atome‘ nennen dürfen!“29 Ob physikalische Atome nun existieren, wäre dann eine Frage an weitere empirische Fortschritte oder an eine Wissenschaftstheorie, die das Verhältnis von Theorie und Messdaten zu ontologischer Konsequenz auslotet, jedwede weitere naturphilosophische oder metaphysische Relevanz allerdings unbeachtet lässt. In dieser Hinsicht kann Brunner seinen Standpunkt also verteidigen, inklusive seiner hörbaren Kritik an Physikern, die ihre Kompetenz überschreiten – sofern es diese in großer Zahl gegeben hat. Er wäre auch nicht auf etwas anderes angewiesen, das dem Leser auffallen muss: an zahlreichen Stellen der Lehre wettert Brunner, wie den genannten Zitaten zu entnehmen ist, gegen die Atomistik – hätte nicht ein zentraler Ort genügt? Durch die Anhäufung wird ein gewisses Abmühen erkennbar, ein Anreden gegen taube oder für taub gehaltene Ohren.30

III Brunners Haltung gegenüber der Karriere der Elementarteilchen im 20. Jahrhundert Brunners Buch wird im Rückblick am Fuße des physikalischen Durchbruchs der Atomtheorie veröffentlicht. An nahezu allen offenen Enden der Forschung erweist sich die Annahme von Atomen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als Fortschritt. Beispiele dieser Art: Radioaktive Phänomene wurden erstmals als Zerfall von Atomen beschrieben.31 Die länger bekannte Brownsche Bewegung mikroskopischer Teilchen wurde als Kollisionseffekt einzelner Atome gedeutet. Neuartige Detektoren erlaubten es, die elementare elektrische Ladung in Einzelgrößen zu messen oder Spuren aufzuzeichnen, die wie Bahnen einzelner Atome, Ionen oder Elektronen aussehen. Das Resultat bestand Anfang des 20. Jahrhunderts (etwa 1913) in der Festigung des nach dem Physiker Niels Bohr

29 Goetz, Geschichte (wie Anm. 20), S. 19. 30 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 225, 308, 425, 1070. 31 Brunner ahnte die Bedeutung der Radioaktivität für atomistisch geprägte Physiker: Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 1070.



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benannten Atommodells, das heute noch zum Schulbuchwissen gehört. Chemische Elemente sind demnach aus Atomkernen aufgebaut, die aus einer bestimmten Anzahl von Neutronen und Protonen – nochmals kleineren Elementarteilchen also – bestehen. Um den Atomkern herum befinden sich Elektronen. In der weiteren Entwicklung der Teilchenphysik wurden weitere Subteilchen postuliert und ihre Effekte regelmäßig auch experimentell nachgewiesen. Nicht nur Materie, auch Licht wird als ein Strom von partikulären Ballungen, den Photonen, angenommen.32 Der Erfolg des Atom- oder genauer: des Teilchenbegriffs war so enorm, dass eine Debatte über ihre Existenz gar nicht mehr für interessant gehalten wurde, obgleich ihr Nachweis immer indirekter wurde und daher von einer direkten Beobachtbarkeit nicht mehr gesprochen werden kann. Auch von philosophischer Seite wurde eine Diskussion nicht mehr angestrengt. Sie kehrte erst in Form der Realismusdebatte auf der wissenschaftstheoretischen Ebene wieder. Dafür traten mit Elementarteilchen, wie oben angedeutet, neue Interpretationsprobleme auf. Denn so anschaulich das Bohrsche Atommodell ist, es ist in mehrerer Hinsicht irreführend. Zunächst umkreisen Elektronen den Atomkern nicht wie der Mond die Erde; sie haben genau genommen keine definierte raum-zeitliche Bahn. Dies ist die Erkenntnis der Quantenmechanik, die parallel zum Atommodell reifte und grundsätzliche dingliche Vorstellungkategorien in Bezug auf Elementarteilchen in Frage stellt. Zweitens sind weder Elektronen noch die Bestandteile des Atomkerns als ausgedehnte Kügelchen oder Klumpen zu denken, sondern als punktartig, sofern besondere Teilchenexperimente nicht eine Struktur dieser Punkte erkennen lassen. Damit sind wir wieder bei einem oben bereits ausgebreiteten Problem. Zufällig, wenn auch leichtfüßig, hat Brunner hier bereits einen Grundansatz moderner Teilchenphysik kritisch angesprochen. Und bei aller heuristischer Fruchtbarkeit der Punktteilchen: die Anschauung von Teilchenprozessen bedarf eines „Erdenrestes“ (Nietzsche) in jedem Szenario. Drittens ist das Bohrsche Atommodel fehlleitend, weil Teilchen die Eigenschaft aufweisen, nach statistischen Gesetzen in andere Teilchen überzugehen. Auch die Radioaktivität ist mittelbar ein Phänomen solcher Umwandlungsprozesse. Übergänge dieser Art sind uns in unserer alltäglichen Welt aber nicht bekannt. Es gibt schlicht gesagt keine Objekte in der sinnlich erfahrbaren Welt, die einfach mal so zu einem anderen Gegenstand werden. Anders sieht es natürlich aus, wenn wir uns diese Objekte als aus Teilen zusammengesetzt vorstellen

32 Eine physikalisch-historische Darstellung findet sich umfassend in Abraham Pais: Inward Bound. Of Matter and Forces in the Physical World. Oxford 1986.

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und den Übergang des einen zu einem anderen Objekt grundsätzlich nur als räumliche Umordnung der (viel) kleineren Objektteile. Nichts anderes bedeutet der demokritische Atomismus bei dem Verständnis zum Beispiel der starken Veränderung einer Pflanze während ihres Wachstums oder beim Verbrennen von Holz zu Asche. Da Elementarteilchen jedoch als punktartig und strukturlos – eben teillos – angenommen werden, ist die demokritische Erklärung nicht möglich und die Verwandlungsprozesse sind, obgleich in Teilchenexperimenten nachweisbar, unverstehbar oder, etwas milder ausgedrückt, noch ungedeutet. Bei allem empirischen Erfolg der Quantenmechanik und den allgemeineren Quantenfeldtheorien ist nicht bestreitbar, dass diese Auslegungsschwierigkeit bis heute bestehen blieb. Bewerten wir Brunner angesichts der von ihm nicht vorhersehbaren Karriere der Teilchenphysik: Nicht nur, dass seine Kritik an Atomen in gleicher Weise formulierbar wäre, er könnte zudem auf die Ironie hinweisen, mit der sich die physikalischen Atome als teilbar erwiesen haben und deren Teile wiederum aus Teilen zu bestehen scheinen. Zwar gibt es nun einen Kanon elementarer Teilchen, die nach heutigem Kenntnisstand nicht mehr teilbar sind, doch ist dies eine empirische und damit grundsätzlich vorläufige, von experimenteller Beobachtung abhängige Unteilbarkeit. Kein Physiker könnte heute seriöserweise behaupten, dass etwa das Elektron niemals teilbar sein wird, a priori. Gleichzeitig wird Brunners Antiatomismus auch aus zwei weiteren Richtungen gestützt, oder genauer gesagt, vom physikalischen Materiemodell entkoppelt (und ist damit allerdings auch nicht mehr allzu brisant). Erstens besteht die Homonymie weiterhin, wonach Physiker von Elementarteilchen sprechen, aber nicht die philosophischen Atome meinen. Sie nehmen das Teilchenkonzept als heuristischen nietzscheanischen Wechselbalg auf und variieren seinen Bedeutungsumfang je nach empirischer Sachlage. Letztlich unterliegen den beiden Atombegriffen verschiedene Fragen. Die Physik erkundet damit, was wir entdecken werden, wenn wir Materie wieder und wieder zerkleinern, zerstückeln. Dies ist eine empirische Aufgabe, auf die niemand – selbst Philosophen nicht – im vorhinein eine Antwort zu geben wissen. Dafür sind Experimente da. Zweitens sind Elementarteilchen abstrus in vielen Eigenschaften und werden selbst in der Physik zum Teil nur noch als mathematische Objekte angesehen. Nicht in vertiefender, sondern lediglich provozierender Absicht sollen hier als Stichworte diese Teilchen genannt werden: virtuelle Teilchen, Resonanzteilchen, Quarks oder auch Neutrinos.33

33 Der Autor erwähnt absichtlich die gegenwärtig spekulativen, aus philosophischer Sicht noch heikleren Entitäten wie Strings, supersymmetrische Teilchen oder dunkle Materie nicht.



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Atome und Teilchen mögen Dinge sein wie Planeten, Häuser, Pflanzen, nur erklären sie nicht die Dinghaftigkeit selbst, sondern bedürfen ihrerseits dieser Erklärung, denn wie kommt es beispielsweise dazu, dass ein Photon mit einem Atom „wechselwirkt“, wie es metaphorisch in der Physik heißt? Warum verschwindet das Photon, was genau geschieht in dem Augenblick der Absorption? Was außer mathematischen Größen entweicht wohin und kann sich anschließend wieder zusammensammeln und als Photon, welches einmal Welle, einmal Teilchen zu sein vorgibt, emittiert werden? Was ist das für ein Stoff? Brunners Erkenntnis, wonach die Physik die Dinge nicht erklärt, scheint weiterhin verfechtbar zu sein.34 Erklärungen dieser Art muss die Physik ohnehin nicht anstreben, solange sie die edle Aufgabe der Ordnung und Vorhersage messbarer Phänomene in der Natur zu erfüllen vermag. Auch Brunner sah das so.

IV Schlussbetrachtung Wir haben gesehen, dass Brunners Kritik an der Auslegung von Atomen zu seiner Zeit, aber auch heute noch überzeugen kann. Dies bedeutet keinen Mangel der physikalischen Experimente und Theorien selbst, die selbstverständlich als wesentliche Elemente einer empirischen Naturwissenschaft gegen Kritik von philosophischer Warte aus immun sind. Die physikalischen Atome sind jedoch nicht ohne weiteres als existierend und als experimenteller Nachweis eines demokritischen Atomismus zu deuten. Auch die Bestätigung unserer aktuellen Elementarteilchen ist dafür kein Index. An dem in Brunners Lehre ausgebreiteten System mag man etwas kritisieren, doch nicht die Einschätzung der Atomfrage. Man könnte es auch weiträumiger ausdrücken: Im System Brunners erhält man eine dauerhafte Opposition zu jeder empirischen Erkenntnis zu Atomen oder atomgleichen Bestandteilen der Materie.35 Brunner stützt sich dabei auf die genuin philosophische Forderung der Widerspruchslosigkeit aller Begriffe, auf die das System zum Beispiel eines Bildes von der Welt oder vom menschlichen Geist aufgebaut ist. Atome können diesem Kriterium nicht entsprechen. Auch Brunners Schweigen zu ähnlich atomkritischen

34 Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. 293. 35 Ähnlich fasst es auch 1962 eine Bemerkung des niederländischen „Internationaal Constantin Brunner Instituuts“ im Geleitwort zur Neuherausgabe der Lehre zusammen; Brunner, Lehre (wie Anm. 1), S. IX.

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Philosophen und Physikern (Leibniz, Mach) ist nicht als Schwäche auszulegen, da Referenzen zu Brunner fremden Philosophierichtungen entstanden wären. Doch er hätte zusätzlich noch präziser sein können, indem er aufgewiesen hätte, dass physikalische Atome wiederum aus Teilen zu bestehen scheinen und somit eine grundlegend neue Bedeutung erhalten. Dadurch wird die Benennung physikalischer Entitäten als Atome ein historischer Fehlgriff, der nun durch die Gleichnamigkeit verschiedener Dinge philosophische Missverständnisse auslöst. Kurz: philosophischer Atomismus und physikalische Atomistik haben nichts miteinander gemein; insbesondere hängt von dem Erfolg der physikalischen und chemischen Atomistik kein Erfolg des philosophischen Atomismus ab. Zudem hätte Brunner dramaturgisch geschickter sein können, indem er seine dauerhaften und von der Empirie unabhängigen Argumente gegen die Existenz von Atomen nicht verstreut, sondern in konzentrierter Form an einer Stelle der Lehre vorgebracht hätte und weiter fortgefahren wäre mit seiner Systementfaltung.

Hans Goetz

Brunners Auffassung von Kunst und Religion Auf den ersten Blick könnte man geneigt sein, Theorien wie die Brunners als eine Art Kunstreligion zu bezeichnen, denn die Kunst ist für Brunner Ausdruck der absoluten Wahrheit; sie zeugt von einer „geistigen Besinnung“ und ist zugleich Aufruf, sich dieser zuzuwenden. Die künstlerische Schöpfung, so meint Brunner, geht „heraus aus der relativen Welt des dinglich Vielen“, sie ist „Besinnung unseres Lebens auf das Absolute, geistig Eine“.1 Trotz dieser Höhe der Kunst bezeichnet Brunner sie jedoch nicht als religiös, sondern behauptet ganz im Gegenteil, dass die Religion ein abergläubisches Zerrbild sei, das der Kunst als eine pervertierte Fratze gegenüberstehe.2 Wie „geistiges“ und „abergläubisches“ (oder „analogisches“) Denken nach Brunner entgegengesetzt sind, so auch Kunst und Religion: „Die Formen, in denen Geist sich äußert, sind: Kunst, Philosophie und Liebe. […] Die Formen, in denen das analogische Denken sich äußert, sind: Religion, Metaphysik und Moral.3 – Wie kommt es zu dieser unterschiedlichen Bewertung und Entgegensetzung von Kunst und Religion? Wenn Brunner von Kunst spricht, so meint er immer nur „die echte, die wahre“ Kunst und nicht etwa jede ästhetische Betätigung.4 Heute mag uns diese Unterscheidung angesichts der Relativierung aller Werte schwierig erscheinen: Brunner hält diese Unfähigkeit, „Kunst von Unkunst zu unterscheiden“, für eine „Bildungsbarbarei“.5 Kunst wird von Menschen geschaffen. Sie ist für Brunner vor allem das Produkt eines besonderen Fühlens: „Kunst ist wesentlich modifiziertes Fühlen.“6 Das Fühlen gehört für Brunner zum Denken des Menschen. Er hat einen erweiterten Begriff des Denkens: „Denken“ umfasst für ihn alle Sphären des Bewusstseins; es gliedert sich in die „Spezifikationen“ Fühlen, Wissen und Wollen.7 Der Künstler ist zunächst einmal jemand, bei dem das Fühlen stärker vorherrscht als das Wissen und Wollen, und so unterscheidet er sich auch vom „Philosophen“

1 Constantin Brunner: Künstler und Philosophen. In: Ders.: Vom Geist und von der Torheit. Hg. vom ICBI. Hamburg 1971, S. 15. 2 Siehe Constantin Brunner: Die Lehre von den Geistigen und vom Volk [1908]. 3. Aufl. Stuttgart 1962, S. 108. 3 Brunner, Lehre (wie Anm. 2), S. 114 f. 4 Brunner, Lehre (wie Anm. 2), S. 454. 5 Brunner, Lehre (wie Anm. 2), S. 443. 6 Constantin Brunner: Aus meinem Tagebuch [1928]. 2. Aufl. Stuttgart 1967, S. 127. 7 Brunner, Lehre (wie Anm. 2), S. 126 f.

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und vom „Liebenden“ oder (wie Brunner synonym sagt) vom „Mystiker“ –  all diese Begriffe sind bei Brunner terminologisch.8 Damit bezeichnet Brunner aber keineswegs alle stark Fühlenden als Künstler, sondern nur diejenigen, deren fühlendes Denken eigentümlich „geistig“ vertieft ist. Nur diese geistige Vertiefung, die ein Fühlender erlebt und ausdrückt, macht ihn zum Künstler. Und dabei ist die schöpferische Produktion von Kunstwerken, sei es musikalischen, bildnerischen oder poetischen, für Brunner der nachschöpferischen Reproduktion dieser Werke völlig analog. Künstlerisches Schaffen und das Erleben von Kunstwerken ist gleich – jedenfalls wenn dieses Fühlen geistig gegründet ist.9 Wann ist dies der Fall? Es ist der Fall, wenn der Mensch ein Gefühl der Einheit des Vielen erlebt. Der „echte“ Künstler, nicht anders als das „wahre“ reproduzierende Kunstpublikum, fühlt die Einheit von allem. Der Künstler schafft daraus seine Kunst, ohne dass dies Gefühl in sein Wissen zu treten und von ihm intellektuell verstanden zu werden braucht: „Die Kunst hat eine undeutliche Bedeutung; die durch sie erweckten Gedanken sind gestaltlos oder doch ohne ihre Energie.“10 Allerdings meint Brunner, dass Intellekt und Gefühl aufeinanderzu drängen, da […] die Gefühle erhoben sein wollen in die Sphäre des intellektiv abstrakten Denkens: wie dieses auch wiederum ganz und gar zurückwill in das Gefühl, als in unser eigentliches Erleben und Leben, und wie namentlich die bedeutenden theoretischen Gedanken, von starkem Gefühle an sich selbst begleitet, eben deswegen Beschwichtigung erstreben in dem Allgemeinen des Fühlens, worin sie zugleich ihre Verklärung und Vertiefung finden. Nicht blos nämlich sucht man dies für ein einzelnes Gefühl, z.B. für eine große Freude, für eine große Trauer, etwa in der Musik, für eine Trauer auch durch Versenkung in Poesie oder in ein Werk der bildenden Kunst oder im Anschauen bedeutender Szenen der Natur, sondern auch, von einem großartigen theoretischen Gedanken erfüllt, treibt es uns oft mit Gewaltsamkeit sehnsüchtig hinaus in die Natur oder zum Werke der Kunst: dem erhabenen Gedanken die Weihe des großen Fühlens zu geben, in dieses einzutauchen, in seinen Frieden unterzutauchen.11

Einheit bedeutet hier, dass die „Relativität“, d.h. die Welt der im Bewegungsgeschehen erscheinenden Dinge und die Vorstellungen von ihr, alles Materielle also, am Beispiel von Formen und Farben, von (modifizierter) Sprache oder von physischen Schwingungen: Tönen, Harmonien, Klängen, als ein einziger kosmischer Zusammenhang gedacht wird. Diese Einheit ist nichts Transzendentes,

8 Brunner, Lehre (wie Anm. 2), S. 100, 114 f. 9 Brunner, Lehre (wie Anm. 2), S. 100. 10 Brunner, Tagebuch (wie Anm. 6), S. 127. 11 Brunner, Lehre (wie Anm. 2), S. 748 f.



Brunners Auffassung von Kunst und Religion  

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Jenseitiges. Der Künstler verabsolutiert hier die Dinge unserer Relativität nicht, sondern er „modifiziert“12 sie nur: Er entnimmt sie den relativen Kontexten, den endlichen Relationen, denkt sie aber in einem grundlegenderen, doch weiterhin diesseitigen Zusammenhang. Die Exaltation des Bewußtseins und die Empfindung von Heiligkeit, die dabei […] aufkommt […], ist Zeichen dafür, daß es hier geht nicht etwa rein negativ um unsre Unheiligkeit als egoistische Einzelexistenzen, sondern, mit völliger Erschütterung und Zerschlagung des relativ gedachten Vielen in der Bewegung, um das Positive des undinglich Einen absoluten Seins.13

Darin sieht Brunner das Wahre und Allgemeingültige der echten Kunst. Der Künstler erlebt die Einheit des Kosmos, also auch die Einheit mit dem Kosmos, und dieses Erlebnis ist die Inspiration zu seiner schöpferischen Arbeit und zu seinem Werk, das übrigens vom Egoismus der „ungeistigen“ Menschen oft als Provokation empfunden wird. Das „echte“ Publikum ist individuell nachschöpferisch, wenn es durch das Kunstwerk die Inspiration des Künstlers nachfühlt und dadurch die Einheit des Kosmos, folglich auch die Einheit der Menschengattung erlebt. Dies geschieht allerdings, so meint Brunner, recht selten: „[…] die Zahl derer, die wirklich denken auch nur wirklich wollen, umfaßt eine kleine Auslese der Geister. […] Kunst, Philosophie, Liebe haben recht eigentlich gar kein Publikum; denn sie sind nicht publice: sie sind im Innerlichen des Wesens, nicht in der Welt, sondern im Sein.“14 Bei diesen Wenigen wird das künstlerische Erlebnis der absoluten Wahrheit zugleich ein Erlebnis der allgemeingültigen Wahrheit der Menschheit. Der Einzelne erlebt sich hier als Teil der Gattung, mit Spinoza zu reden, als „Modus“ seiner Art, und so erlebt er diese allgemeingültige Wahrheit auch als individuelle Wahrheit. Damit wird dies Erlebnis auch zum Gefühl der Gemeinschaft, zum Gefühl des Reichtums – es ist ein positives, damit für Brunner aber nicht ein „religiöses“ Gefühl. Brunner sieht durchaus eine Parallele zwischen Kunst und Religion: beide sind durch ein starkes menschliches Fühlen gekennzeichnet. Allerdings ist Religion für Brunner ein sozusagen falsches, er nennt es „abergläubisches“ oder „analogisches“ Fühlen: Wenn das zur Rettung der Religion gesagt wird, was dann zugleich zum Angriff gegen die Nichtreligiösen dient: Religion sei, über die Richtigkeit des Denkens hinaus, Bedürfnis des menschlichen Gefühls, – so müssen wir diese Lästerung des menschlichen Gefühls mitsamt

12 Brunner, Tagebuch (wie Anm. 6), S. 127. 13 Constantin Brunner: Materialismus und Idealismus (1928). 3. Aufl. Den Haag 1976, S. 31. 14 Brunner, Tagebuch (wie Anm. 6), S. 128–130.

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dem frechen Vorwurfe der Gefühllosigkeit gegen alle diejenigen, die nicht so fühlen, scharf zurückweisen. Es kann hier höchstens vom Bedürfnis des Gefühls derjenigen Menschen die Rede sein, die eben der Histörchen von der verstandlosen Mirakelerfahrung bedürfen, und die bei der Wahrheit nichts zu denken und nichts zu fühlen imstande sind.15

Das religiöse „Gefühl“, so meint Brunner, führt nicht zur Einheit, sondern zu einer Absonderung, Isolation, Schwäche und Angst – es ist ein negatives Gefühl.16 Der Grund dafür sei, dass der Religiöse Weltliches, Endliches verabsolutiere. Er sei der Auffassung, die Welt müsse, wie alles andere, einmal angefangen haben, d.h. geschaffen worden sein. Da kein Mensch und noch weniger ein Tier der „Weltschöpfer“ gewesen sein könne, müsse eine Art übermenschliches Wesen dafür verantwortlich sein, d.h. ein Gott. Gott werde sozusagen als ein absoluter Mensch gedacht. Durch diese Vorstellung werde Gott nicht richtig erfasst, meint Brunner, sondern hier würde nur der Egoismus des Menschen verabsolutiert: Gott ist ein Gedankending, welches der Egoist denkt, wie er andre Dinge denkt: um seiner (des Egoisten) Dinglichkeit willen, und welches er liebt, weil es ihm nützen soll im Diesseits und im Jenseits –: die Egoisten lieben sich selbst praktisch und abergläubisch; sie suchen ihren Egoismus in der Zeit und in der Ewigkeit. Sie wünschen in einem noch ganz viel schöneren Zustande als in der hiesigen Relativität, ihr geliebtes Menschdingsein verabsolutiert […]. Dafür ist, weil sie es doch nicht selber besorgen können, dieser sehr praktisch eingerichtete Gegenstand da, dieser (ihnen darum) liebe Gott, der liebe Gott mit den langen Händen. Der will es auch besorgen: weil er auch seinerseits den lieben Egoisten liebt – dazu wird er ja vom Egoisten gedacht! Er liebt ihn, wenn nämlich dieser ihn, den lieben Gott, liebt und ehrt, hauptsächlich ehrt – alles, was recht und ordinär ist im lieben Egoismus: wie du mir, so ich dir; und was ich dir gebe, mußt du mir bezahlen.17

Die Gottesvorstellung gründet nach Brunner also, wie aller Aberglaube, im Interesse des Menschen. Im letzten von ihm noch fertiggestellten Buch, Der entlarvte Mensch, stellt er dem Menschen ein „Zeugnis“ aus, in dem er die Religion neben der Metaphysik und der Moral zu den „Hauptverrücktheiten“ zählt, denn Religion bestehe „in Halluzinationsdenken, in der freien Fiktion von Ursachen, in dem Glauben an gar nichts Vorhandenes als an Vorhandenes, welches in sein Leben hineinwirke“.18 Schon in seinem ersten philosophischen Werk hatte Brunner mit

15 Brunner, Lehre (wie Anm. 2), S. 398. 16 Brunner, Lehre (wie Anm. 2), S.  377 und Constantin Brunner: Der entlarvte Mensch. Den Haag 1953, S. 126. 17 Constantin Brunner: Unser Christus oder das Wesen des Genies [1921]. 2. Aufl. Köln, Berlin 1958, S. 31 f. 18 Brunner, Mensch (wie Anm. 16), S. 126.



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Bezug zu seiner Theorie der Relativität allen dinglichen Seins den Grund dafür genannt: Die Glaubenswahrheiten Gott und Unsterblichkeit sind von so vernunftwidrigem Denkinhalte wie nur irgend welche andre Glaubenswahrheiten und historisch gewesene oder zu erwartende Mirakelvorgänge; die Fundamentalartikel der Religion widerstreiten den Fundamentalsätzen des Denkens nicht anders als andre Mirakeltatsachen, und sind ebenso unwahr. Wer kein Schwachkopf ist, kann sich das deutlich machen und wird verstehen.19

Die religiösen Vorstellungen sind für Brunner bloße Fiktionen ohne realen Seinsgrund. Er bezeichnet das religiöse Fühlen daher mit einer scharfen antireligiösen Diktion als „Lügenverrücktheit“.20 Zudem zeige sich das mangelhafte Einheitsdenken auch in der Praxis: durch die Intoleranz der Gläubigen und die fanatischen Auswüchse der Religion, wie sie die Geschichte nur zu oft offenbare: Er findet sich bereit, sein Leben hinzugeben für die überlebensgroße Verrücktheit; und wird ihm die angetastet, so verfällt er in praktische Raserei, wovon in seiner Geschichte derart viel zu lesen steht, daß man nicht länger fragen dürfte, ob er ein Tier sei, da man ja sehen kann, daß er ein so wildes Tier ist, und verübt, der große Lügner, staunenswürdige Greuel an den Widersachern der Wahrheit. Immer sind ihm die andern Egoisten Feinde der Wahrheit, und er, nur um die Wahrheit zu retten, schreit er gegen sie Feurio; so verworren, so verlogen, so feig ist er. Dabei bringt ihn doch die Wahrheit, die wirkliche Wahrheit, nur in Wut, und er streitet für andres niemals als für seinen persönlich animalischen, immer hungrigen Egoismus, auch doch, wenn er für seine Partei oder für seinen transzendenten Unsinn streitet; der eben deswegen das Gegenteil von harmlosem Unsinn ist, weil so tief verbunden und eins mit seinem Egoismus, dessen ganze unbändige Gierde und Ungeduld zum Ausdruck bringend. Hier-lch! Ich will befriedigt sein!21

Wegen der fehlerhaften Gottesvorstellung und der verheerenden ethischen Folgen, die Brunner bei allen Religionen beobachtet, seien sie allesamt „Götzendienst“ und „jeder Götzendiener hält natürlich seinen Götzen für Gott“.22 Das gelte nicht nur für die westlichen Religionen, sondern zum Beispiel auch für den Hinduismus, den Brunner ebenfalls für eine fanatische, vernichtende Religion hält, gegen die Gandhis Kampf „wie das Blasen eines Mundes gegen die Sonne“ sei.23

19 Brunner, Lehre (wie Anm. 2), S. 397. 20 Brunner, Mensch (wie Anm. 16), S. 127. 21 Brunner, Mensch (wie Anm. 16), S. 127 f. 22 Brunner, Mensch (wie Anm. 16), S. 18. 23 Brunner, Mensch (wie Anm. 16), S. 17.

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Religionen sind für Brunner aber auch deshalb Formen des abergläubischen Denkens, weil sie in ihren Traditionen unvermeidlich erstarren.24 In der religiö­sen Institution, zum Beispiel der Kirchen- oder Synagogengemeinde, werde es den Beamten oder Rabbinern oder Pfarrern bis hinauf zum Papst sowie den Gemeindemitgliedern überlassen, den Glauben auszulegen und den Umgang mit Gott zu regeln. Nicht nur der Verlauf der Gottesdienste werde dort festgelegt, sondern letztlich das ganze Leben der Gemeindemitglieder. Statt der Wahrheit seien Religionen und Bekenntnisse von Widersprüchen durchzogen und ihre Regeln selbst widersprüchlich. Für besonders irreführend hält Brunner zudem die unterschiedlichen Gottesvorstellungen. Während in der jüdischen Religion das Hauptdogma sei, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen habe, woraus folge, dass Gott ein übermenschliches Wesen sei, habe das Christentum in der Trinität von Gottvater, Gottsohn und Heiligem Geist die Vielgötterei wieder aufgenommen. Diese „Unterscheidung des Nichtzuunterscheidenden“, d.h. die Absurdität des „Polytheismus, der doch Monotheismus sein soll“ habe zu nichts anderem führen können „als zur absurden scholastischen Streittheologie“.25 Abergläubisch am sich selbst missverstehenden Egoismus der Religiösen sei schließlich auch noch der moralische Aspekt: Moral ist für die Religionen der immer nur an die anderen gerichtete Anspruch, altruistisch sein zu sollen. Brunner sieht in dieser Moral der Religionen nur Hochmut und Hass.26 Das selbstgerechte Unterscheiden von Gut und Böse ist es, dessentwegen schon nach dem Alten Testament der Mensch zum Sterben verurteilt und aus dem Paradies vertrieben wurde. Für Brunner ist dies alles nicht Religion, sondern Aberglaube, der von Demagogen geschürt wird und immer wieder zum Machtinstrument im Dienst wirtschaftlicher und politischer Interessen verkomme.27 Beispiele sind die Verurteilung Sokrates‘, Spinozas und nicht zuletzt der Justizmord an Jesus. Aber auch die Religionskriege, Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, Rassenverfolgungen wurden und werden aus „Idealismus“ begangen, so Brunner, was wenig zu den eigentlichen Idealen der Religion passt:28 Die Tatsächlichkeiten der Geschichte, der Zivilisation, der abergläubischen Formen, Bräuche, Murmeleien und alles dessen, was die Menschen in den Bund mit ihrem Gott hineintra-

24 Vgl. hierzu und zum Folgenden das Kapitel „Christus und das pharisäische Judentum – Geist und Tradition“ in: Brunner, Christus (wie Anm. 17), S. 192–345. 25 Brunner, Christus (wie Anm. 17), S. 145. 26 Brunner, Christus (wie Anm. 17), S. 471, 539, 543. 27 Brunner, Christus (wie Anm. 17), S. 335. 28 Brunner, Christus (wie Anm. 17), S. 135, 333.



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gen und damit vereinbar halten, ihres Benehmens gegeneinander, die ganze Art, wie von ihnen die Grundgier nach Besitz, geschlechtlicher Liebe und Ehre-Eitelkeit befriedigt wird, die Ketzer- und Hexenverfolgungen, Inquisitionen, Kriege, Judenhaß, – das alles stimmt schlecht zum Geist Christi. Es konnte nicht anders werden für die Menschen; denn für sie, in ihrer Nachahmung, sind Phrasen, die nicht in ihr Leben dringen, was für Christus Leben und Wesen war, wegen der Allgegenwart seines Denkens in seinen Worten.29

Eben deswegen formuliert Brunner seine Religionskritik genauso scharf wie sein unmittelbarer zeitlicher Vorläufer Friedrich Nietzsche, der 1885 in Also sprach Zarathustra den Tod Gottes mit heftigen Worten proklamiert hatte und schon 1882, zu Beginn des fünften Buches der Fröhlichen Wissenschaft, äußerte, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden sei und dass diese Vorstellung bereits seine ersten Schatten über Europa geworfen habe.30 Brunner ist in seinem Kampf gegen den Glauben an Gott ein paar Jahrzehnte nach Nietzsche vielleicht noch leidenschaftlicher als dieser. Angesichts solcher Äußerungen mag es überraschend erscheinen, dass Brunner den Religionen neben all diesem Aberglauben doch auch eine durch ihre Verirrungen hindurch erkennbare „Prophetie“ zuschreibt. Die Propheten seien „die Geistigen in Israel“.31 Unter Prophetie versteht Brunner „Mystik“: „Die Propheten sind Mystiker“,32 schreibt er und setzt damit die mystische Prophetie von der abergläubischen Religion ab. Es ist einer der wichtigsten Punkte der Brunnerschen Philosophie, dass er die Mystik nicht, wie es vor ihm getan wurde und von vielen auch heute noch geschieht, als eine bestimmte Form der Religion betrachtet, sondern dass er sie als „geistiges“ Denken der „abergläubischen“ Religion entgegenstellt – oder mit anderen Worten: Die Religion ist das, was die abergläubisch Denkenden an der Mystik missverstanden haben.33 Jenseits von Synagoge und Kirche, die er rundweg ablehnt, hat Brunner daher durchaus ein positives Bild der Bibel, und zwar sowohl des Alten wie des Neuen Testaments. Seine mystische Auffassung der Bibel nennt Brunner „Geist des Judentums“, womit er immer zugleich Judentum und Christentum meint.34 Im Grunde ist Brunners scharfe Kritik der Gottesvorstellung und Religion daher nur eine Kritik der Vorstellung eines transzendenten und personalen abso-

29 Brunner, Christus (wie Anm. 17), S. 169. 30 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft [1882], Fünftes Buch, Aphorismus 343. 31 Brunner, Christus (wie Anm. 17), S. 462. 32 Brunner, Christus (wie Anm. 17), S. 215. 33 Siehe das Kapitel „Mystik“ in Brunner, Christus (wie Anm. 17), S. 11–79. 34 Constantin Brunner: Der Judenhaß und die Juden [1918]. 5. Aufl. Berlin, Wien 2004, S. 261, 283–287.

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luten Wesens, von dem sich der Gläubige abhängig fühlt und vor dem er sich fürchtet. Weil diese Vorstellung so weit verbreitet ist, möchte Brunner, dass sie und damit auch der Name Gott verschwindet.35 An seine Stelle setzt er eine immanente Gottesvorstellung im spinozistischen Sinne, die er mit der mosaischen Gottesvorstellung, so wie er sie interpretiert, für vereinbar hält: Du sollst dir kein Bild von diesem Jahve machen, hatte Moses gesagt, keine Vorstellung davon, d.h. es ist das, was nicht gedacht werden kann wie die Dinge, als hätte es Sein nach Art des Seins der Dinge – Ich bin, was ich bin! (2. Mos. 3, 14). Jahve, das Seiende: die Bezeichnung für das völlig abstrakt Geistige; es liegt darin gar keine Beziehung auf die relative Welt. Das Jahve ist ganz groß gemeint. Es meint dasselbe, was in dem größeren und allergrößten Ausdruck Spinoza meint mit dem Ens constans infinitis attributis; und Jahve Zebaoth, Jahve der unendlichen Mächte ist nichts andres als der mystische Ausdruck für das Gleiche, was wir im Ens constans infinitis attributis philosophisch ausgedrückt finden. Die ganze ungeheure Sache des Judentums liegt in diesem Wort Jahve echad, in diesem einzigen Wort Jahve, welches schließlich gar nicht ausgesprochen werden durfte, welches auszusprechen eine Todsünde war.36

Solange man bei Gott in diesem so von ihm interpretierten mosaischen Sinne an ein absolutes Prinzip denkt, das Sein selber, hat Brunner nichts gegen die Annahme eines Gottes. Des Öfteren betont er, dass diese richtige Auffassung dem Judentum ursprünglich zu Grunde gelegen habe: Das Judentum spricht: Du sollst von Gott nichts aussagen; was du von Gott sagst, das ist von einem Götzen gesagt, denn von Gott läßt sich nichts sagen. Du sollst Gott nicht vergleichen, denn er ist unvergleichlich, du kannst deine Vorstellungen unter einander, aber nicht mit Gott vergleichen, mit keiner Vorstellung blickst du hinein in Gottes Wesen, – du sollst dir keinen Gott machen nach deinem Ebenbilde. Daß du es umkehren und sagen konntest, Gott hätte dich, dein Ich, nach seinem Ebenbilde geschaffen, ist das naivste Eingeständnis deiner Ursünde des Gott nach deinem Ebenbilde Schaffens, deines anthropomorphistischen Schandglaubens: weil dein Leben in einem Ich-Bewußtsein besteht, auffaßt und mit ihm arbeitet, müsse auch Gott ein Ich sein; und du betest dieses verschaffene Ich-Ungeheuer eines tierischen Gottes an, du Tieranbeter, – ist deine Narrheit größer oder dein Hochmut?37

Wenn Brunner sich daher als Atheisten bezeichnet38 und Religion als Aberglaube, so darf nicht außer Acht gelassen werden, dass er damit nicht den von ihm so genannten Geist des Judentums und die Mystik kritisiert, sondern diese

35 Brunner, Christus (wie Anm. 17), S. 39. 36 Brunner, Christus (wie Anm. 17), S. 226 f. 37 Brunner, Mensch (wie Anm. 16), S. 29. 38 Constantin Brunner: Von den Pflichten der Juden und von den Pflichten des Staates. Berlin 1930, S. 132.



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im Gegenteil als die der Religion gegenüberstehende „geistige Wahrheit“ anerkennt. Ja, er hält die so aufgefasste Bibel geradezu für die bedeutendste Kulturleistung unserer Tradition. Interessanterweise vergleicht Brunner sie direkt mit den Werken eines bedeutenden Künstlers: Shakespeare, so dass sich hier wieder eine Parallele ergibt – nicht zwar zwischen Kunst und Religion, wohl aber zwischen „wahrer Kunst“ und „mystischem Geist“. In der Bibel werde genauso wie in Shakespeares Dichtung das menschliche Wesen geistig erfasst, wodurch beide Werke zu den bedeutendsten und nachahmenswertesten Kulturleistungen geworden seien: […] worin liegt denn, mit einem Wort bezeichnet, die ungeheure Macht und Bedeutung der Bibel? Darin, daß in ihr der Mensch spricht, als Sprecher Selbsterforscher und Künder seines Wesens. Hat ein Mensch wirklich gesprochen? O wie selten ist das! Aber in der Bibel ist das; aus den Propheten, diesem alleredelsten Menschenguß aus Liebe und Zorn, hat der Mensch gesprochen. […] Wenn nicht noch Shakespeare gekommen wäre, hätte man glauben können, es sei dem Menschen bisher nur das einzige Mal beschieden gewesen diese unangestrengte Natürlichkeit des Ausdrucks für die immer wirklichen Gegenstände und so völligst die Sprache mit sich zu führen in alle Tiefe und Breite seiner Natur und so von sich selbst zu sprechen, ohne daß er sein Bild fälschte. Über alle Bücher und alle Dichtung geht die Wahrheit vom Menschen durch die Bibel und durch Shakespeare, wo die ungemessene Hoheit seines Bildes zu erblicken, die Worte fallen um den erhabenen Gedanken wie ein Königsmantel, und er andrerseits illusionslos geschildert wird nach der niedrigen Wirklichkeit seines nackt egoistischen Lebens. Bibel und Shakespeare sind, was den Menschen betrifft, die Illustrationen zum Resultat der Philosophie, die beim Studium der Philosophie nicht aus der Hand zu lassenden Handatlanten.39

Von hier aus wird verständlich, warum Kunst, Philosophie und Mystik für Brunner zwar unterschiedliche Äußerungsformen des geistigen Denkens sind, aber letztendlich auf dasselbe Ergebnis herauskommen. Religion, Metaphysik und Moral dagegen sind diesen Formen zwar analog, aber das heißt für Brunner, dass in ihnen der Geist nicht absolut gedacht wird, sondern in fiktiven Verabsolutierungen, so dass er hier von „Aberglaube“ spricht. Dem Geistigen aber gegen den Aberglauben Kraft und Wahrheit zu geben, war Brunners Anliegen.

39 Brunner, Mensch (wie Anm. 16), S. 46.

Hans-Rüdiger Schwab

Genialität, Mystik, Judentum. Drei zeitgenössische Diskursebenen in Constantin Brunners Unser Christus Unser Christus oder das Wesen des Genies war das erste von Constantin Brunners Büchern, das nach dem Zweiten Weltkrieg neu aufgelegt wurde, 1958, was nicht zuletzt auf die Initiative Yehudi Menuhins zurückging, der Ende der dreißiger Jahre auf den Philosophen aufmerksam geworden war und ihn seither als seinen geistigen Mentor verehrte.1 Wie schon bei der Erstausgabe von 1921 erregte das Werk nicht übermäßig viel Aufsehen, wenn man die spärlichen (dazu meist eher entlegenen) Rezensionen betrachtet.2 Hier und da war es auch in der Fachwissenschaft zur Kenntnis genommen worden,3 der protestantisch-christlichen zumal. Die beiden interessantesten Zeugnisse sind Dissertationen später recht bekannt gewordener Theologen aus den Niederlanden und Schweden. So ordnet Kornelis Heiko Miskotte 1932 in seiner „phänomenologischen Wesensbestimmung“ des liberalen Judentums der Moderne Brunner zwischen Ernst Bloch und Franz Kafka den „extremen“ Vertretern jüdischen Lebensgefühls zu.4 Auch für Gösta Lindeskog, nachmals erster Direktor des „Institutum Judaicum Aboense“, ist sechs Jahre darauf (mit Blick auf ein dort sich wandelndes Christus-Bild) das Interesse am binnenjüdischen Verständigungsprozess leitend, innerhalb dessen er Brunners

1 Jürgen Stenzel: Philosophie als Antimetaphysik. Zum Spinozabild Constantin Brunners. Würzburg 2002, S. 444. 2 Ermittelbar sind Besprechungen im Berliner Börsen-Courier, Nr. 269 (14. Juni 1922), S. 8, sowie in: Höre Israel, Hamburg (Juli 1926), S. 15. Bezogen auf die Neuausgabe in: Kommende Bücher/ Beilage zu: Das Antiquariat, Wien, 9, Nr. 11/12 (1958); Tagesspiegel, Nr. 4109 (15. März 1959); Der kleine Bund (Bern) 110, Nr. 354 (21. August 1959), S. 5 f.; Neue Zürcher Zeitung (10. Dezember 1959); Literaturanzeiger (Freiburg) Nr. 3 (1959); Buchanzeiger für öffentliche Büchereien (Reutlingen) 12, Nr. 132 (Februar 1959); Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland (11. März 1960); Israelitisches Wochenblatt für die Schweiz (15. April 1960); Mitteilungsblatt der Juden (Tel Aviv) Nr. 20 (13. Mai 1960); Sonntagsblatt, Staatszeitung und Herold, New York (26. Juni 1960); Bücherei und Bildung 12 (Dezember 1960), S. 748. 3 So im Berliner Tagblatt, Dezember 1924, der Neukantianer Arthur Liebert (vgl. Stenzel, Philosophie [wie Anm. 1], S. 423 f., auch ebd., S. 30). 4 Kornelis Heiko Miskotte: Het wezen der Joodsche Religie. Vergelijkende studie over de voornaamste structuren der joodsche godsdienstphilosophie van dezen tijd. Amsterdam 1932, S. 393– 406; zum Autor vgl. Martin Kessler: Kornelis Miskotte: a biblical theology. Selinsgrove 1997; Ursula Heinemann: Grenzgebiet Theologie und Literatur im Werk Kornelis Heiko Miskottes. Hamburg 2004.



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„inhaltsschweres Buch“ einen Sonderstatus jenseits der theologischen Debatten einräumt.5 Bis heute ist dieser stattliche Wälzer terra incognita geblieben, selbst im Rahmen der Beschäftigung mit Brunner, von einer Zuwendung durch nachfolgende Reflexion ganz zu schweigen. Angesichts der zahlreichen produktiven Reibungsflächen, die es bietet, möchte man sich darüber verwundert die Augen reiben. Brunner schrieb hier seine Lehre von den drei „Fakultäten des Denkens“ fort. Seine Auffassung der zweiten facultas, des „geistigen Denkens“ (besser: des Denkenden in uns, als jener Äußerung des Geistes, in der allein Nicht-Relatives zum Ausdruck komme), exemplifiziert er nun an Christus, den er im Tagebuch früher schon als eines der drei „klassischen Objekte“ zur Erforschung seiner dauerhaften Grundkonstellation bezeichnet hatte, des „Verhältnisses zwischen den Geistigen und dem Volk“.6 Geschrieben ist der Text mit dem Ziel, die Menschen „aus der fiktiven Ehe mit Gott zu einem reinen Liebesverhältnis“ zu retten.7 Brunner betreibt das Projekt einer Umwertung. Die wohl wirkmächtigste Gestalt der Menschheitsgeschichte überhaupt nämlich ist ihm zufolge auch am anhaltendsten „abergläubisch“ verstanden, ja von den „Abergläubischen“ geradezu „geraubt“ worden8 – so gleich im ersten Satz die polemische Wortwahl, mit welcher der Autor Religion, Moral und Metaphysik als (vermeintlich illusionäre, teils egoistische) Projektionen überzieht. Im Christentum (von dem es ihn loszulösen gelte) sei es zur theistischen Entstellung Christi selbst samt seiner Lehre gekommen. Wie es andernorts heißt, habe man aus ihm „so lange einen Gott gemacht [...], bis es nun fast unmöglich zu fallen scheint, daß man endlich den Menschen aus ihm mache, den wir nötig haben“.9 Nach einer programmatischen Grundlegung („Die Mystik“ [11–79]) wird Chris­tus – ganz bewusst verwendet Brunner ständig diesen Hoheitstitel (79) – in den sechs folgenden Teilen des Buchs als überragender Repräsentant des „geistigen Menschen“ behandelt („Christus“, „Das Genie“ [80–191]). Jene Wahrheit einer antimetaphysischen Einheitslehre des Seins („Ontologie“ [492]), welche auf Spinoza verweise, den anderen der „beiden Hauptpersonen unserer Gattung und

5 Gösta Lindeskog: Die Jesusfrage im neuzeitlichen Judentum. Ein Beitrag zur Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. Uppsala 1938, S. 124. 6 Constantin Brunner: Aus meinem Tagebuch [1928]. 2. Aufl. Stuttgart 1967, S. 242 f. 7 So Brunners Stieftochter Lotte in ihrem Tagebuch vom 7. April 1921 (zit. n. Stenzel, Philosophie [wie Anm. 1], S. 29). 8 Constantin Brunner: Unser Christus oder Das Wesen des Genies [1921]. 2. Aufl. Köln, Berlin 1958, S. 11. Zitatnachweise daraus künftig in Klammern. 9 Constantin Brunner: Vom Geist und von der Torheit. Hg. vom ICBI. Hamburg 1971, S. 43.

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Geschichte“,10 habe er nicht nur verkündet, sondern durch sein Leben bekräftigt. Beispielhaft sind die Konflikte, die dieser Typus gewärtigen müsse, wenn er sich gegen (zumal durch eine Oberklasse sanktionierte) Traditionen stellt („Christus und das pharisäische Judentum“, „Geist in der Welt – die Kreuzigung“ [192–422]). Schließlich wird ausgeführt, dass zwischen den beiden Ausprägungen der Gattung, den „Geistigen“ und den Angehörigen des „Volks“, ein naturwüchsig antagonistisches Verhältnis bestehe („Geist trotz Welt – Die Lehre von den Geistigen und vom Volk“ [423–486]). Der Gestus dieser Darstellung birgt ein elitäres Gegenüber sozusagen von us und them. Für sich selbst reklamiert Brunner, ein „Geistiger“ zu sein – deswegen schreibt er auch über „unseren Christus“, der ihm zum Kronzeugen nicht zuletzt für die Forderung des (unspezifiziert bleibenden) „Rechts“ der Geistigen dient (476 f.), wobei ein Nebensinn hinsichtlich des gemeinsam Jüdischen durchschimmert. Mit der Konstruktion dieser Gestalt verfolgt der Autor eine zweifache Stoßrichtung: gegen die sie vereinnahmende Religion ebenso wie gegen die rational verblendete „Kritik“ (310), welche in einem „Anhang“ attackiert wird (487–571). Dabei legt er selbst einerseits zwar Wert auf den „Beweis“-Charakter seiner (im Detail sehr wohl durch Fachliteratur gestützte) Einlassungen, immunisiert die eigene „Wissenschaft“ (310) aber andererseits, indem er leitenden Maßstäben jener Kritik die Anerkennung verweigert. Während etwa die Exegese schon eingangs des 20. Jahrhunderts die literarische Formung der Evangelien herausgearbeitet hatte, geht sein Umgang mit den Quellen sogar noch von der gleichwertigen Authentizität des Johannes-Evangeliums und der Synoptiker für eine ipsissima vox Jesu aus. (Heute besteht vielfach Konsens darüber, dass es verlorene Liebesmüh sei, dieses ‚echte Wort‘ herausfiltern zu wollen, da die überlieferten Texte wohl durchgehend literarisch und theologisch stilisiert sind.) Bei alledem handelt es sich um eine zusätzliche Spielart außer- und gegenchristlicher Jesusbilder innerhalb der im weitesten Sinne „spirituell“ affizierbaren Gemengelage der frühen Moderne11 – um nur an das des „großen Symbolisten“ (in Nietzsches Antichrist) zu erinnern, das des Psychopathen,12 des

10 Constantin Brunner: Spinoza gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit [1910]. 2. Aufl. Assen 1974, S. 54 f.; zu denen sich wahlweise noch Sokrates oder Moses gesellen können. 11 Einen guten Überblick bietet Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch. Deutschland 1870– 1918. München 1988; vgl. auch Justus H. Ulbricht: Religiosität und Spiritualität. In: Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Hg. von Diethard Kerbs und Jürgen Reulecke. Wuppertal 1998, S. 495–498, ferner die Beiträge zu einzelnen Aspekten dieser Gläubigkeit: ebd., S. 499–609. 12 Vgl. z.B. Georg Lomer: Jesus Christus vom Standpunkte des Psychiaters. Eine kritische Studie für Fachleute und gebildete Laien. Leipzig 1905; Emil Rasmussen: Jesus. Eine vergleichende psychopathologische Studie. Leipzig 1905; Heinrich Schaefer: Jesus in psychiatrischer Beleuchtung.



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Sozialrevolutionärs,13 an das gnostisch-esoterische der Theosophie14 oder an das einer bloß mythischen Fiktion.15 Mithin sehen wir uns auf bestimmte Kontexte verwiesen. Meine Absicht im Folgenden ist es, das scheinbar so erratische Buch an drei unterschiedliche, in sich wiederum verzweigte Diskurse der Zeit anzudocken, um seine Stellung darin kenntlich zu machen und so eine kultur- wie mentalitätsgeschichtliche Positionsbestimmung zu ermöglichen. Auch wenn Brunners Denken nicht aus aktuellen Bedingtheiten begriffen sein möchte, sondern aus jenem Grund, aus dem für ihn die eine, nicht fortschreitende, sondern ewige Wahrheit zum Vorschein kommt,16 hat es doch seine erhellenden (von ihm, im Interesse eines impliziten Anspruchs als Solitär, womöglich bewusst verschwiegenen) Nachbarschaften und Voraussetzungen. Am Anfang soll der umfassendste jener drei Bezüge beleuchtet werden, dessen Relevanz Brunner schon mit der Wahl des Titels zum Ausdruck bringt.

I Christus als Genie In ihrem Buch Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958) tadelt Hannah Arendt rückblickend jene „oft ausgesproche götzendienerische Verehrung, die die Neuzeit dem Genie entgegengebracht“ habe.17 Sie greift jene Kategorie an, die

Eine Kontroverse. Berlin 1910. Über die Grundlagen von Gerhart Hauptmanns Jesus-Roman von 1910 („Der Narr in Christo Emanuel Quint“), in dem sich diese Sicht niedergeschlagen hat, informiert breit Peter Sprengel: Die Wirklichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschriftlichen Nachlasses. Berlin 1982, S. 73–138. 13 In manchen Schattierungen zwischen Tolstoi (Worin besteht mein Glaube? Eine Studie. Berlin 1885) und Karl Kautsky (Der Ursprung des Christentums. Eine historische Untersuchung. Stuttgart 1908). 14 Vgl. Rudolf Steiners Vortragszyklen von 1913/14: „Christus und die geistige Welt“ und „Christus und die menschliche Seele“ (Buchausgaben: Dornach 1960). 15 So bei Arthur Drews: Die Christusmythe. Jena 1909/1911; Samuel Lublinski: Das werdende Dogma vom Leben Jesu. Jena 1910; Ders.: Falsche Beweise für die Existenz des Menschen Jesus. Leipzig 1910. Als Kuriosität im Netz findet sich übrigens ein längerer Aufsatz, der gegen Brunner wütet, weil er diese Theorie geringschätze (Jacob Aliet: On Constantin Brunner: A Rejoinder to Jesus Myth Critics. [26p] October 2006 http://www.angelfire.com/empire/intensity/brunner2ver1.pdf [16.7.2013]). 16 Vgl. etwa Constantin Brunner: Der Judenhaß und die Juden [1918]. 5. Aufl. Berlin, Wien 2004, S. 282; auch Hendrik Matthes: Constantin Brunner. Eine Einführung. Düsseldorf 2000, S. 17. 17 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. 9. Aufl. München 2010, S.  268. Ebd., S. 377, spricht sie davon, dass „Produktivität und schöpferische Genialität“ deren „Götter und Götzen“ seien.

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Brunners ebenso zentrales wie emphatisches, jedenfalls nicht im Geringsten angefochtenes Kriterium darstellt, auf das er sich autoritativ beruft. Unverkennbar wird es gegen erkenntnistheoretische Skepsis in Stellung gebracht. Er überantwortet sich damit einer Begrifflichkeit, deren herkömmliche Schattierungen vielfältig sind. Parallel zum Einsatz seines Schaffens war sie zu neuer Virulenz gelangt, die nicht zuletzt auf die Politik ausstrahlte. In Jochen Schmidts zweibändiger Geschichte des Genie-Gedankens (deren dritte, verbesserte Auflage 2004 Brunner nach wie vor verschweigt!) ist nachzulesen, wie die Bezeichnung für einen schöpferischen Ausnahmemenschen sich seit 1890 zu verändern beginnt und eine „Wendung ins Autoritäre“ nimmt, woran (bei Schmidt mit Überspringung der Zeit der Weimarer Republik) unter anderem Vorstellungen vom Machthaber als Genie oder einer „kollektiven Genialität der Rasse“ anknüpfen können.18 (Dazu später mehr.) Noch der Führermythos Hitlers ist ja „ein politisch instrumentalisierter Geniemythos“,19 nicht untypisch zudem insofern, als hier der Bezug auf das schöpferische Vermögen des Künstlers durch das Konzept vom Heros überlagert wird, dessen gewaltiger Wille nicht allein sein eigenes Schicksal schmiedet. Während die Herleitung der dem Begriff zugrunde liegenden Idee aus Christus bekannt ist, hat die Forschung seine Applikation auf ihn selbst, jene Linie also, die Brunner teils fortsetzt und von der er teils eigenständig abweicht, bisher noch nicht eingehend untersucht. Dass es sich bei dem Mann aus Nazareth um ein Genie gehandelt habe: diese Variante neuzeitlicher Deutungsmuster beginnt in Deutschland mit dem Aufkommen des Terminus, der ab 1760 einer ganzen Epoche den Namen gab. Von hier an findet eine (kulturphilosophisch-)ästhetische Denkform Aufnahme in die Theologie, wobei die Richtung des Einflusses zunächst noch von dort nach hier

18 Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750 – 1945. 3. Aufl. Darmstadt 2004. Bd. 2, S. 180, 194, 213. Vgl. ferner die Stichwort-Artikel von Eberhard Ortland. In: Ästhetische Grundbegriffe. Hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius und Dieter Schlenstedt. Stuttgart, Weimar 2001. Bd. 2, S. 661–709; Bernhard von Fabian, Joachim Ritter und Rainer Warning. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter. Bd. 3. Basel, Stuttgart 1974, Sp. 279–309. 19 Birgit Schwarz: Geniewahn. Hitler und die Kunst. 2. Aufl. Wien, Köln, Weimar 2011, S. 88; vgl. ebd. auch den Hinweis, dass Hitler 1920/21 für Deutschland „eine Diktatur des Genies“ forderte. Als Vorarbeiten zu einem umfassenden Projekt über dieses Thema, an dem der Verfasser arbeitet, sind erschienen: Wolfram Pyta: Charisma und Geniezuschreibung – Strategien der Herrschaftslegitimation Hitlers. In: Herrscherkult und Heilserwartung. Hg. von Jan Assmann und Harald Strohm. München 2010, S. 212–234; ders.: Hitler’s (Self-)Fashioning as a Genius. The Visual Politics of National Socialism’s Cult of Genius. In: Pictorial Cultures and Political Iconographies. Approaches, Perspectives, Case Studies from Europe and America. Hg. von Udo J. Hebel und Christoph Wagner. Berlin 2011, S. 163–176.



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verläuft. Ihr Schrittmacher ist Johann Georg Hamann. ‚Genie‘ gilt dem ‚Magus aus dem Norden‘ als Chiffre für das Wirken Gottes in der Welt. Ihr zufolge setzt Gott seine Schöpfung im Menschen fort, die in der Inkarnation des Sohnes gipfelt. Daher gehört das Genie des kreativen Menschen letztlich nicht ihm selbst zu, sondern Christus.20 Wie dieser erfährt der Künstler nicht nur die Kraft göttlicher Inspiration, sondern hat am Lebensprinzip Gottes selbst teil, die sich in seinem Werk unmittelbar und mit einem privilegierten Offenbarungsanspruch äußert. (Keineswegs allein bei Herder oder Goethe sind Fortschreibungen dieses Denkens dingfest zu machen.21) Früh schon deutet sich innerhalb des idealistischen Paradigmas ein Rückkoppelungseffekt an.22 So platziert der protestantische Theologe und Dichter Ludwig Gotthard Kosegarten 1799 Christus aus der göttlichen Sphäre als „Genie“ in die irdische Gemeinschaft ausgezeichneter Menschen wie Homer, Ossian und Shakespeare.23 Denkt man dieses Modell konsequent weiter, ist der Grund zu einer neuen Christologie gegeben, die sich von der transzendenten Heilsbedeutung des Erlösers auf kreative Vollzüge in der Immanenz verlagert.24 Innerhalb der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts ist es just dieser Perspektivwechsel, der dort weitreichende Säkularisierungsprozesse anzeigt wie befördert: „immer“, so übertreibt dessen Kritiker Martin Kähler gegen Ende des Zeitraums nur wenig, habe man es „in der Christologie mit dem religiösen Genie Jesus zu tun“.25

20 Vgl. Gerhard Sauder: Geniekult im Sturm und Drang. In: Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Hg. von Rolf Grimminger. Bd. 3. München 1980, S. 327–340, bes. 329 f. 21 Dazu näheres bei Christina Juliane Fleck: Genie und Wahrheit. Der Geniegedanke im Sturm und Drang. Marburg 2006, sowie Uwe Hayer: Das Genie und die Transzendenz. Untersuchungen zur konzeptionellen Einheit theologischer und ästhetischer Reflexion bei J. M. R. Lenz. Frankfurt a.M., Berlin 1995. 22 Gut beschrieben ist diese Entwicklung in Ernst Troeltschs Artikel „Idealismus, deutscher“. In: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Hg. von Albert Hauck. 3. Aufl. Bd. VIII. Leipzig 1900, S. 612–637. 23 Ludwig Gotthard Kosegarten: Memnons Bildsäule in Briefen an Ida. Berlin 1799, S. 15 („Das Genialische“). Möglicherweise handelt es sich beim „stillen Genius“ in Hölderlins um 1800 geschriebenen Elegie Brod und Wein ebenfalls um Christus (vgl. Friedrich Vosskühler: Kunst als Mythos der Moderne. Kulturphilosophische Vorlesungen zur Ästhetik von Kant, Schiller und Hegel über Schopenhauer, Wagner, Nietzsche und Marx bis zu Cassirer, Gramsci, Benjamin, Adorno und Cacciari. Würzburg 2004, S. 82). 24 Fichte etwa bezeichnet Christus als moralisches Genie, wie Sokrates ein wissenschaftliches, Machiavelli ein politisches gewesen oder Goethe ein ästhetisches sei (vgl. Die Sittenlehre J. G. Fichtes. Hg. von Christoph Asmuth und Wilhelm Metz. Amsterdam, New York 2006, S. 104). 25 Martin Kähler: Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert [1890/1912]. München 1962, S. 56. Nach wie vor am detailliertesten über diese Entwicklung informiert Ernst

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David Friedrich Strauß, durch den diese Bewegung Mitte der 1830er Jahre spektakulär an Tempo gewinnt,26 macht im späten Rückblick geltend, bereits durch Schleiermacher sei der Begriff der Genialität auf Jesus angewendet worden.27 Tatsächlich nimmt letzterer für dessen Sonderstellung vereinzelt die Analogie außergewöhnlicher Menschen zu Hilfe. Allerdings heißt es bei ihm einmal auch bündig: „Christus war nicht genialisch“.28 Jedenfalls wird der Begriff des Genius dann 1834 in der Abhandlung eines Schleiermacher-Schülers, des reformierten Theologen Alexander Schweizer, christologisch appliziert. Ihm zufolge bestehe die urbildliche „Dignität des Religionsstifters“ in der möglichst reinsten Auffassung des Absoluten im menschlichen Selbstbewusstsein, das so zur entscheidenden Instanz wird. Es käme nun darauf an, in Christus den aufzuweisen, welcher (wie es in einer Parallele zur Kunst heißt) religiöser Genius und Virtuose zugleich sei.29 Unter dem Eindruck der gegen seinen entmythologisierenden Ansatz gerichteten Kritiken erhebt Strauß den christlichen Heiland erstmals in der dritten Auflage seines Lebens Jesu (1839) zum Großgenie unter den religiösen Gründerfiguren (trotz seiner zukünftig vielleicht möglichen Überbietbarkeit).30 Widerspruch daran31 kontert er mit der ausdrücklichen Subjektivierung der kirchlich

Günther: Die Entwicklung der Lehre von der Person Christi im XIX. Jahrhundert. Tübingen 1911. 26 Zu seiner „Geniechristologie“ vgl. Jörg F. Sandberger: David Friedrich Strauß als theologischer Hegelianer. Mit unveröffentlichten Briefen. Göttingen 1972; Oliver Wintzek: Ermächtigung und Entmächtigung des Subjekts. Eine philosophisch-theologische Studie zum Begriff Mythos und Offenbarung bei D. F. Strauß und F. W. J. Schelling. Regensburg 2008, S. 131–135. 27 David Friedrich Strauß: Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte. Eine Kritik des Schleiermacher‘schen Lebens Jesu. Berlin 1865, S. 82. 28 Friedrich Schleiermacher‘s sämmliche Werke. III. Abt., Bd. 6. Berlin 1862, S. 482 („Zur Psychologie“, 1818). Zur Unterstützung von Strauß‘ These aus Schleiermachers Frühwerk und seiner „Glaubenslehre“ vgl. Günther, Entwicklung (wie Anm. 25), S. 44. 29 Alexander Schweizer: Über die Dignität des Religionsstifters. In: Theologische Studien und Kritiken 7 (1834), S.  521–571 u. 813–849. Vgl. dazu Günther, Entwicklung (wie Anm. 25), S.  70, sowie ders.: Bemerkungen zur Christologie von David Friedrich Strauß. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 18 (1908), S. 202–211, hier 210. Später versucht Schweizer, eine Geniechristologie mit einer Prinzipchristologie zu verbinden (vgl. Paul Schweizer: Freisinnig – positiv – religiössozial. Ein Beitrag zur Geschichte der Richtungen im schweizerischen Protestantismus. Zürich 1972, S. 77). 30 David Friedrich Strauß: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Dritte, mit Rücksicht auf die Gegenschriften verbesserte Auflage. Bd 2. Tübingen 1839, S. 771 f. In der vierten Auflage von 1840, nimmt er dies wieder zurück. 31 Carl Christian Ullmanna (Der Cultus des Genius. Sendschreiben an Gustav Schwab. Heidelberg 1839, S. 41–50) machte gegen Strauß unter anderem geltend, dass mit dem Begriff des Ge-



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seither verpflichtend gebliebenen christologischen Aussage des Konzils von Chalcedon aus dem Jahr 451. Die „innigste und [...] höchste Form“ der „Einheit göttlicher und menschlicher Natur, das höchste überhaupt zu Erreichende“ nämlich sei, „dass ein Mensch in seinem unmittelbaren Bewusstsein sich eins mit Gott wisse“,32 anders ausgedrückt: die Einheit „des menschlichen Selbstbewusstseins mit dem Gottesbewusstsein“.33 Christus habe diese „Idee [...] zuerst in die Menschheit“ eingeführt, jenes (noch einmal:) „Bewusstsein, der wesentlichen Einheit des wahrhaft Menschlichen mit dem Göttlichen“.34 Wie diese Theorie selbst, so liegt auch die Bezeichnung ihres Gegenteils bereits sehr nahe bei Brunner (der für den Verfasser des Lebens Jesu in seinem Buch übrigens nur eine kurze, seinen Rationalismus verwerfende Bemerkung findet [503]):35 „Das Dogma“, schreibt Strauß in seiner Christlichen Glaubenslehre (1841), „ist die Weltanschauung des idiotischen Bewußtseins.“36 Trotz nicht verstummender Vorbehalte gewinnt der Topos von der Genialität Jesu37 bei namhaften Vertretern des Fachs wie Christian Hermann Weiße oder

nies eine Unbestimmtheit verbunden sei, die den Verdacht auf Pantheismus nicht ausschließe. U. v. a. in der Debatte um Strauß vgl. auch Ferdinand Christian Baur: Die christliche Lehre von der Versöhnung und ihrer geschichtlichen Entwicklung von der ältesten Zeit auf die neueste. Bd. 2. Tübingen 1838, S. 621–623. Auch bei dem Streit um die Berufung von Strauß nach Zürich spielte die Kritik an seiner Gleichsetzung Christi mit dem Genie eine Rolle: vgl. etwa bei Friedrich Lücke: Dr. Strauß und die Zürcher Kirche. Eine Stimme aus Norddeutschland. Basel 1839, S. 10; oder August Boden: Geschichte der Berufung des Dr. Strauß an die Hochschule von Zürich. Ein Beitrag zur Chronik der neuesten kirchlichen Ereignisse, so wie zur Beurtheilung des Dr. Strauß nach seiner Lehre und Bedeutung für unsere Zeit. Frankfurt a.M. 1840, S. 14–16. Auch Karl Rosenkranz (in der zweiten Auflage seiner Encyklopädie der theologischen Wissenschaften [Halle 1845] lehnt die Kategorie des Genies für Christus als unangemessen ab (vgl. Günther, Entwicklung [wie Anm. 25], S. 150). 32 David Friedrich Strauß: Streitschriften zur Vertheidigung meiner Schrift über das Leben Jesu und zur Charakteristik der Gegenwärtigen Theologie. Bd. 1/III. Tübingen 1838, S. 73. 33 David Friedrich Strauß: Ueber Vergängliches und Bleibendes im Christenthum. Selbstgespräche. In: Zwei friedliche Blätter. Altona 1839, S. 59–123, hier: 127. 34 Strauß, Vergängliches (wie Anm. 33), S. 131. 35 Anders Brunner, Judenhaß (wie Anm. 16), S. 293, wo anerkennend hervorgehoben wird, dass für Strauß Spinoza „‚der Vater der Spekulation unserer Zeit‘“ sei. Vgl. auch ebd., S. 284. 36 David Friedrich Strauß: Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft dargestellt. Bd. II. Tübingen/Stuttgart 1841, S. 625. Was die Ansätze zur Mystik bei Strauß betrifft, vgl. Wintzek, Ermächtigung (wie Anm. 25), S. 144–157. 37 Aufgrund seines vollkräftigen Gottesbewußtseins, in welchem sich die religiöse Erfahrung zur inneren Offenbarung steigere. Christian Hermann Weiße: Philosophische Dogmatik. Bd. III. 1862, § 859 (zit. n. Günther, Entwicklung [wie Anm. 25], S. 212).

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Otto Pfleiderer,38 Adolf von Harnack39 oder Adolf Jülicher,40 bis zur Jahrhundertwende weiter an Boden. Zumal aus Sicht der Göttinger „religionsgeschichtlichen Schule“ um 1900 aber war der Mann aus Nazareth ein Genie, das nur mehr aussprach und vorlebte, was in jeder Religion gleichermaßen angelegt sei. Hier (so bilanziert Ernst Günther 1911) sei nun klar ausgesprochen, auf was die Würdigung Jesu unter dem besagten Gesichtspunkt hinaus laufe, eine anthropozentrische Theologie: „Das Subjekt der ‚Offenbarung‘ in Christus ist dann die Menschheit; es handelt sich dann um die Höhen der Menschheit, nicht mehr zuerst und zuletzt um die Tiefen Gottes“, einen transzendenten Bereich von dessen eigener Wirklichkeit.41 „Das Originale an Jesus ist mir immer der religiöse Genius“, schreibt Ernst Troeltsch, der Systematiker dieser Richtung an seinen Kollegen Wilhelm Bousset.42 Durch eine unableitbare Persönlichkeit und die im letzten nicht aufzuhellende Inkommensurabilität seiner Leistung, insofern er nämlich die Kultur durch seinen Gottesgedanken (als Konzentration und Reformulierung eines traditionellen Vorstellungsgehaltes) von Grund auf verändert habe, unterscheidet sich Jesus nach Troeltsch allerdings nicht nur graduell, sondern qualitativ von anderen religiösen Genies und markiert den Höhepunkt der gesamten Religionsgeschichte.43

38 Vgl. Günther, Entwicklung (wie Anm. 25), S. 361. 39 Nicht nur mit seiner Entgegensetzung von Jesus als dem vorgängigen „Genie“, und dem späteren „unvermeidlichen Theologen“ Paulus. In: Ulrich Barth: Aufgeklärter Protestantismus. Tübingen 2004, S. 389. 40 „Eine Redeweise von solcher Originalität und Würde“, schreibt er, könne „blos von einem Genie geübt worden sein“ (Adolf Jülicher: Die Gleichnisreden Jesu. Bd. I. 2. Aufl. Freiburg i. Br. 1899, S. 23). 41 Günther, Entwicklung (wie Anm. 25), S. 382 f. 42 Ernst Troeltsch. Briefe aus der Heidelberger Zeit an Wilhelm Bousset 1894–1914. Hg. von Erika Dinkler-von Schubert. In: Heidelberger Jahrbücher 20 (1976), S. 19–52, hier 41. Zu Troeltschs Geniechristologie vgl. Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie. Tübingen 1997, bes. ders.: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie. Tübingen 1997, bes. S. 159 f., 172, 175 f.; Echol Nix, Jr.: Ernst Troeltsch and Comparative Theology. New York 2010, bes. S. 77 f.; auch Hans-Georg Drescher: Ernst Troeltsch. Leben und Werk. Göttingen 1991, S. 71. 43 Gegen diese Konjunktur der entsprechenden Christologie veröffentlicht Ferdinand Katten­ busch, einer der „‚alten‘ Ritschlianer“ (die in Christus noch „eine eigentümliche und eine eigent­ lich supranaturale Manifestation Gottes“ sehen, ein Phänomen, das „‚von außen‘ in die Geschichte hineingetreten ist“ [In Sachen der Ritschlschen Theologie. In: Die Christliche Welt 12 (1898), S. 79]), neun Thesen unter dem Titel „Ist der Begriff des religiösen Genies auf Christus anwendbar?“ (In: ebd. 17 [1903], S. 1139 f.) Vgl. auch Emil Pfenningsdorf: Persönlichkeit. Christliche Lebensphilosophie für moderne Menschen. Schwerin 1906, bei dem ein Kapitel „Jesus – ein religiöses Genie?“ überschrieben ist.



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Selbst nach dem Ersten Weltkrieg, wo sie in der theologischen Wissenschaft durch andere Deutungen Christi ersetzt wird, scheint diese Zuschreibung noch so verbreitet, dass etwa Dietrich Bonhoeffer in einem Gemeindevortrag von 1928 mit dem Plädoyer für eine existenzielle Nähe zu Christus (in dem Gott sich dem Menschen in einer einzigartig bleibenden Weise zugewandt habe) dagegen polemisiert, ihn „nach ästhetischen Kategorien als religiöses Genie“ zu erklären. Wer sich in ein solches Verhältnis zu ihm setze (dem, Bonhoeffers Wertekompass zufolge, nur „relative [!] Bedeutung“ eignet), nehme ihn „nicht ernst, d.h. man bringt das Zentrum des eigenen Lebens nicht in Berührung mit dem Anspruch Christi, die Offenbarung Gottes zu sagen und zu sein“.44 Auch andere führende Vertreter der Disziplin wie Karl Barth, Rudolf Bultmann und Paul Tillich distanzieren sich von dem Begriff.45 Noch im vorletzten Kriegssommer hatte bereits der katholische Philosoph Ferdinand Ebner, dessen dialogisches Denken ebenfalls mit den intellektuellen Paradigmen des 19. Jahrhunderts bricht, seinem Tagebuch anvertraut: „Man hätte niemals von religiösen Genies sprechen sollen [...]. Die gibt es nicht.“46 Flankiert werden solche theologischen durch parallele Verschiebungen im Bereich von Malerei und Literatur. Dass Jesus „ein Genie oder Künstler“ sei – und zwar „nichts anderes“ als das –,47 gerät im deutschsprachigen Bereich um die Jahrhundertwende zum wiederkehrenden Motiv. Als solcher taugt er zur Projektionsfigur einer kreativen Hochgestimmtheit, die sich selbst in menschheitlicher Mission begreift. Max Klingers Christusidee etwa (liest man schon 1907) ist die vom „Triumph des siegenden Gedankens des großen, schöpferischen Einzelmenschen“ in Form einer „Tragödie des leidenden und erlösenden Genies [...] ohne [...] Metaphysik“,48 des Avantgardisten sozusagen, welcher ständig unverstanden bleibt. Einflüsse von Schopenhauers Diagnose eines grundsätzlichen „Mißverhältnisses nach außen, indem das Genie in seinem Treiben und Leisten meistens

44 Dietrich Bonhoeffer: Werke. Bd. 10. Hg. von Hans Ch.von Hase, Reinhart Staats, Holger Roggelin u.a. München 1991, S. 302 f. 45 Karl Barth: Der Römerbrief. (Zweite Fassung). [1922]. Zürich 2005, S. 78; Rudolf Bultmann: Jesus [1926]. Berlin 1929, S. 11 (ausgerechnet als Bd. 1 einer Reihe „Die Unsterblichen. Die geistigen Heroen der Menschheit in ihrem Leben und Wirken“!); Paul Tillich: In der Tiefe ist Wahrheit. Religiöse Reden. Stuttgart 1952, S. 110. Katholische Theologen wie z. B. Romano Guardini (Die religiöse Offenheit der Gegenwart. Gedanken zum geistigen und religiösen Zeitgeschehen [1933/34]. Ostfildern 2008, S. 93) folgen ihnen darin. 46 Ferdinand Ebner. Tagebuch 1917. Hg. von Matthias Flatscher und Richard Hörmann. Wien, Berlin 2011. Eintrag vom 1. Juli 1917, S. 210. 47 Sprengel, Wirklichkeit (wie Anm. 12), S. 110. 48 Paul Kühn: Max Klinger. Leipzig 1907, S. 328, 53.

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mit seiner Zeit im Widerspruch und Kampf steht“, machen sich hier bemerkbar.49 Auch wird als Bedingung des wegweisenden Künstlertums nicht selten die Identifikation mit der Passion Christi angesehen.50 So lässt Gerhart Hauptmann im gleichnamigen Drama von 1900 Michael Kramer die Verfolgung seines eigenen genialen Sohns Arnold durch die Kleinbürger mit dem Leiden des hyios theou vergleichen.51 „Jedes wahre Genie hat etwas von Jesus Christus“,52 hält der Autor schon vorher im Tagebuch dazu fest. Nicht ohne ironischen Unterton dagegen macht sein Christus-Roman (1910) an Dominiks Verehrung für Emanuel Quint den historischen Ursprung solcher Rückbindung deutlich: in „diesem Tischlersohn“ sieht der schwärmerische Jüngling „das geborene Genie“.53 Johannes Schlafs nach-naturalistische Betrachtung Christus und Sophie (1906) – die einem „humanistisch-sozietären, modernen oder sich vollendenden Christentum“ das Wort redet – hebt mit dem „Genialen, [...] schlechthin Göttlichen“ der „Idee“ Christi dessen „Mystik des tiefsten Weltwiderspruches“ hervor – wie bei „allen Großen und Einsamen“. Seine Selbstbezeichnung als „Sohn“ meint hier lediglich die „große schöpferische Individualität“ im „Verhältnis“ zum „ursprünglich schaffenden Geist“, der „mystisch schaffenden Kraft des Universums“. „Wir sagen und wissen neuerdings“, trumpft Schlaf auf: „Gott oder das letzte Mysterium ist nicht mehr außer uns, sondern es ist einzig in uns.“54 Ganz unübersehbar ist, in welcher Vorab-Nachbarschaft zu Brunner sich solche Sätze befinden.

49 Friedrich Gross: Vom Alltagsgetriebe fern: Der Große Einzelne in Klingers „Kreuzigung Christi“ und „Christus im Olymp“. In: Max Klinger. 1857–1920. Hg. von Dieter Gleisberg. Leipzig 1992, S. 72–83, hier: 74 f. (Das Schopenhauer-Zitat findet sich in dessen „Die Welt als Wille und Vorstellung II“, Ergänzungen zum dritten Buch, Kap. 31: „Vom Genie“.) Gross, S. 76, macht darauf aufmerksam, dass Richard Dehmel in seinem Gedicht Jesus und Psyche. Phantasie bei Klinger (1902) dessen Christus als Künstler-Genie deutet und ihn mit Beethoven, dem Maler, ja mit sich selber auf eine Stufe stellt. Zur Erlöserfunktion des schaffenden Genies in Klingers BeethovenSkulptur, ausdrücklich mit Verweisen auf Christus und eine mystische Programmatik, vgl. noch bei Kühn, Klinger (wie Anm. 48), S. 449 ff., 455 f. 50 Vgl. Eckhard Neumann: Künstlermythen. Eine psycho-historische Studie über Kreativität. Frankfurt a.M., New York 1986, S. 56, 69. 51 Vgl. Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke. Hg. von Hans-Egon Hass. Bd. 1. Frankfurt a.M., Berlin 1966, S. 1172. 52 Gerhart Hauptmann: Tagebücher 1897 – 1905. Hg. von Martin Machatzke. Frankfurt a.M., Berlin 1987, S. 243 (Eintrag vom 6. Januar 1899). 53 Hauptmann, Werke (wie Anm. 51), Bd. 5. Frankfurt a.M., Berlin 1962, S. 355. 54 Johannes Schlaf: Christus und Sophie. Wien, Leipzig 1906, S. 174, 143 (vgl. 178), 199 (vgl. 249, 252), 231 (vgl. 241), 246 u. 251. Übrigens geht der Autor auch von einer „arischen Blutmischung“ Jesu aus (136), ein Gedanke, welcher hier aber noch mit dem Internationalismus und Gedanken der Menschheits-„Brüderlichkeit“ seiner Lehre korreliert (171).



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Zumeist wenig andere Akzente weist die Gleichsetzung Christi mit einem Genie in Philosophie und Kulturwissenschaft der Zeit auf, wo sie sich mit der von Thomas Carlyle ausgehenden Heldenverehrung verbindet.55 Aus katholischen Anfängen heraus gewachsen, porträtiert Ernest Renan 1863 in seinem rasch zum internationalen Erfolgsbuch avancierten La vie de Jésus (auf das Brunner sich zustimmend beruft [507])56 „das schöne Genie Jesu“ als eine von allem Übernatürlichen befreite psychologische Entwicklungsgeschichte. Sein Schlusskapitel rühmt ihn als den Größten „unter den Menschenkindern“, dessen „erhabene Persönlichkeit“ über „das egoistische Wesen“ [!] seiner Gattung hinausging und es so „den weitesten Schritt zum“ auch hier als rein immanent angesehenen „Göttlichen hin“ machen ließ.57 Gegen solche ihn ungehörig, ja vulgär anmutenden Vorstellungen verteidigt Nietzsche den Nazarener in seinem Antichrist.58 Eine Nachlassnotiz aus dem Frühjahr 1888 stellt der Renanschen Semantik mit Bedacht die von Dostojewski gegenüber: „Kann man ärger fehlgreifen, als wenn man aus Christus, der ein Idiot war, ein Genie macht?“59 Anders sein „Geschwistergehirn“. In ihrem Essay Jesus der Jude (1896) folgt Lou Andreas-Salomé nämlich dessen gängig gewordener Subsumption unter die „religiösen Genies“.60 Wenn drei Jahre später Houston Stewart Chamberlain schreibt, „in Jesus Christus hatte das absolute religiöse Genie die Welt betreten“, klingt dies inzwischen vertraut. Gleichwohl macht sich bei ihm ein fataler Zungenschlag breit.61

55 Vgl. Neumann, Künstlermythen (wie Anm. 50), S.  84. Außer Betracht bleiben kann in unserem Zusammenhang Kierkegaards quer zu der skizzierten Entwicklungslinie stehende Unterscheidung des immer nur auf vorübergehende Weise neuen „Genie“ und dessen Abgrenzung vom „Apostel“ mit seiner transzendent unterfütterten Vollmacht zur Dauer, mit dem Ziel, die qualitative Differenz zwischen Ästhetik und Religion nachzuweisen. Vgl. Sören Kierkegaard: Der Einzelne und sein Gott. Hg. von Christiane Beetz. Hamburg 2012, S. 163–179. 56 Vgl. auch Brunner, Judenhaß (wie Anm. 16), S. 316. 57 Ernest Renan: Das Leben Jesu. Mit Einleitung und Anmerkungen von Franz Lüdtke. Berlin o. J. [1908], S. 28, 247 f. 58 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Hg. von Giorgio Colli und Mazziano Montinari. München 1999. Bd. 6, S. 199 f. Wie die neuere Forschung nachweisen konnte, wurde der Text bewusst als Kommentar zu und Auseinandersetzung mit Renan geschrieben (vgl. Christian Benne: Nietzsche und die historisch-kritische Philologie. Berlin 2005, S. 115). 59 Nietzsche, Werke (wie Anm. 58), Bd. 13, S. 409. 60 Lou Andreas-Salomé: Aufsätze und Essays. Bd. 1. Hg. von Hans-Rüdiger Schwab. 2. Aufl. Taching am See 2012, S. 175, vgl. auch 169. Zum „Geschwistergehirn“: Dies.: Aufsätze und Essays. Bd. 2. Hg. von Hans-Rüdiger Schwab. Taching am See 2010, S. 320. 61 Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts [1899]. 27. Aufl. München 1941, S.  749, vgl. 250. Vgl. auch Anja Lobenstein-Reichmann: Houston Stewart Chamberlain – Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung. Eine sprach-, diskurs- und ideo­logiegeschichtliche Analyse. Berlin 2008, bes. S. 130–139; auch Schwarz, Geniewahn (wie

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Der (wie Brunner ihn nennt) „Judenhaßgelehrte“62 betont die Nichtzugehörigkeit des so Gerühmten zur jüdischen Rasse und versucht ihn für das Ariertum zu vereinnahmen. Desto größere Bedeutung wächst dem insofern zu, als jede herausragend schöpferische Einzelperson hier immer auch den Inbegriff der schöpferischen Kraft eines Volkes bzw. einer Rasse markiert. Allein steht der aus England stammende Wagner-Verehrer damit keineswegs, hatte zuvor doch schon Paul de Lagarde in seinen Deutschen Schriften (1878) ausgeführt, in Jesus repräsentiere sich ein unvergleichliches „Genie“.63 Auf völkischer Seite wird der Topos bis hinein in die Vorgeschichte der „Deutschen Christen“ perpetuiert.64 Nicht antisemitisch, doch biologistisch, argumentiert der Mediziner Albert Reibmayr in seinem Aufsatz Die Züchtung des religiösen Talentes und Genies im israelitischjüdischen Volke.65 Vor diesem Hintergrund von dessen „Spezialität“ behandelt er Jesus als einen „genialen Reformator“ mit wesentlich „künstlerischen“ Zügen kurz vor dem Einsetzen eines kollektiven „degenerativen Prozesses“. Wohl niemand aber setzt sich im zeitgenössischen Umfeld vergleichbar gezielt mit dem Wesen des Genies (so sein Titel von 1888) auseinander wie der Weimarer Philosoph Hermann Türck, acht Jahre älter als Brunner und heute ungleich gründlicher verschollen als dieser. Sein 1897 erstmals erschienenes Buch Der geniale Mensch brachte es bis 1921 auf nicht weniger als zwölf Auflagen. Gemeint ist damit jemand, „in dessen Seele das mehr oder weniger klare Bewusstsein von der eigenen überweltlichen Existenz lebt“.66 Und andernorts: „Genialität

Anm. 19), S. 90 ff.; zum gesamten Kontext: Wolfgang Fenske: Wie Jesus zum „Arier“ wurde. Auswirkungen der Entjudaisierung Christi im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Darmstadt 2005. 62 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 16), S.  292. Bei seiner Darstellung der antisemitischen Spinoza-Rezeption fällt die Bemerkung, der Amsterdamer Philosoph lasse sich „nicht wohl, gleich Christus, zu einem Deutschen germanischer Herkunft machen“ (ebd., S. 291, vgl. 124). 63 Paul de Lagarde: Schriften für das deutsche Volk. Hg. von Karl August Fischer. München 1924. Bd. 1, S. 274 f. Vgl. Hans Walter Schütte: Lagarde und Fichte. Die verborgenen spekulativen Wurzeln des Christentumsverständnisses Paul de Lagardes. Gütersloh 1965, S. 36 („Das Jesusbild Lagardes“, 34–43). 64 Vgl. z.B. Friedrich Andersen: Der deutsche Heiland. Versuch einer Darstellung des deutschchristlichen Glaubens- und Kirchenideals. Neue, gänzlich umgearbeitete Auflage. Berlin 1932 [zurückgehend auf Veröffentlichungen von 1907 und 1921], S. 31, auch 36. 65 Albert Reibmayr: Die Züchtung des religiösen Talentes und Genies im israelitisch-jüdischen Volke. In: Politisch-anthropologische Revue 10 (1911), S. 169–192, 240–260 u. 280–301; hier 169, 283 f. Anders als „das pathologische Genie“ Paulus (286) repräsentiere Jesus den Typus des „positiven schöpferischen“ (287), des „gesunden, harmonischen Genies“ (ebd., S.  285–287). Vgl. auch Ders.: Die Entwicklungsgeschichte des Talentes und Genies. 2 Bde. München 1908. 66 Hermann Türck: Der geniale Mensch. Jena 1997, S. 84.



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ist [...] nichts anderes als das Hervortreten des göttlichen Wesens im Menschen, der [...] zu uneigennütziger Liebe fähig ist“ (den Egoismus also zu überwinden vermag). Bei „niemandem sonst“ sei beides so sehr der Fall wie bei Christus, dem „genialsten Sohn seines sittlich genialen Volkes“,67 dem Türck sich unter dieser Prämisse exemplarisch zuwendet.68 Faust – Hamlet – Christus heißt dieses ebenfalls weit verbreitete Buch, herausgekommen ist es 1917 (3. Aufl. 1923), und wer seinen dritten Teil, den über Christus, mit der Kenntnis von Brunner liest, wird manch überraschende Entdeckung machen. Angesichts des Wissensstands der Zeit nämlich hält Türck es in seinem Schlussplädoyer „von größter Bedeutung“ für die „kommende Reformation“, dass „die Lehre Spinozas wie die der deutschen Mystik mit zu Rate gezogen wird“. Beide setzt auch er zuvor in engen Bezug zu Christus, dessen „wahre Lehre“ (im Gegensatz zum Kirchenglauben) darauf hinauslaufe, dass Gott „alles in allem“ sei: „Es ist eine geistige Einheit, die das ganze unendliche All umfaßt“. Die Gottesauffassung Christi, Spinozas und der deutschen Mystik decken sich mithin. Türck beansprucht dafür prominente Rückendeckung aus der Religionswissenschaft: „Schon der Oxforder Gelehrte Max Müller“, fährt er fort, habe „nachdrücklich betont, daß man zu einem vollen Verständnis der wahren Lehre Jesu erst rückschließend aus der Lehre der deutschen Mystik gelangen könne. Und mit der Lehre der deutschen Mystik stimmt wiederum die Lehre Spinozas überein, daß es Gott selbst ist, der sich im freien, göttlichen Menschen selber liebt mit ewiger Liebe.“ Jener „Gott“ genannten, „einzig wahrhaft existierenden, ewigen und unendlichen Person“ des „Pantheismus, wie ihn die ursprüngliche, reine Lehre des Heilandes, ferner die deutsche Mystik und Spinoza vertritt“, spreche letzterer „ein unendliches Denken“ zu. In nuce bieten diese Sätze einen Vorgriff auf die zeitlich benachbarte Argumentation Brunners. Jedenfalls liegt hier ein Beispiel bemerkenswerter Gleichgestimmtheit von durchaus differenten Voraussetzungen her vor, die dadurch weiter gestützt wird, dass, wie später Brunner, schon Türck gegen die Theorie über Jesus als eines bloßen Mythos Stellung bezieht.69 Und um zuletzt noch dies wenigstens zu streifen, kommt im gleichen Jahr wie Brunners dickleibige Darstellung, 1921, nicht nur Hans Blühers von Genie-Attributen durchzogene Aristie des Jesus von Nazareth heraus, eine weil anti-theistische auch anti-jüdische „philosophische Grundlegung der Lehre und der Erscheinung Christi“ als Typus eines neuen Menschen, sondern auch der Essay Das Jesusproblem von Egon Friedell (der jüdischer Herkunft ist und 1897 zum evangelisch-

67 Hermann Türck: Faust – Hamlet – Christus. Berlin o. J. [1917], S. 395, 345 vgl. 348. 68 Hermann Türck: Mensch. Jena 1997, S. 186 ff. 69 Türck, Faust (wie Anm. 67), S. 404, 363, 365, 336, 388 u. 403 f.; vgl. 338 ff.

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lutherischen Glauben konvertiert war), geschrieben vom Standpunkt des „Supranaturalismus“, d.h. „jener Auffassung, die in Jesus ein göttliches Wesen erblickt“. (Ein Detailvergleich dieser beiden konträr ausgerichteten Schriften wäre höchst reizvoll!) Zu den Punkten, in denen er gleichwohl mit Brunner übereinstimmt, zählt, neben der Kritik zumal des Verstandes der „Entgeistigten“ der eigenen Zeit, abermals der Begriff des Genies, auf den seine Ausführungen reichlich zurückgreifen. Nur ist dieser „Genius“ bei Friedell nicht souverän, sondern „eine gottbegnadete Persönlichkeit“, die bestimmend „der Masse, den Vielen“ gegenübergestellt wird, deren „‚Geist‘“ jener „monistische, pantheistische ‚Gott‘“ mit seiner aktuellen Hochkonjunktur sei – wie man sieht, dreht er den Spieß nachgerade um. Die neuere „Selbstvergötterung“ erscheint Friedell als „äußerster Tiefpunkt menschlicher Ethik, [...] die krasseste Form der Irreligiosität“, und von typisch beschränkter Selbstüberhebung noch dazu, das: „‚Glaubensbekenntnis‘ für einen Werkschaftsbund, ein Bankkonsortium oder einen Kegelklub: Wir, wir sind die Krone des Daseins, der Sinn der Welt; allemal, wenn von Gott die Rede ist, sind wir gemeint!“70 In diese breite Strömung des skizzierten Transformationsprozesses seiner Person, die mit dem Diskursfeld von Christi vermeintlicher Genialität einhergeht, wäre Constantin Brunner einzubeziehen.71 Was sind aus seiner Perspektive nun die Kennzeichen des Genies, und warum vermag gerade Christus prototypisch so bezeichnet zu werden, in herausragender Weise sogar?72 Anders als diejenen, welche Brunner „Nachahmende“ nennt, zeichnet sich das Genie auch bei ihm dadurch aus, dass es „schöpferisch, naiv und original“ ist (137) – wobei man Letzteres nicht etwa mit „Neuheit“ verwechseln darf (164): so hebt er hervor, dass es sich bei zahlreichen von Jesu Aussprüchen um alttestamentliches und rabbinisches Gut handle. In erster Linie aber bedeutet es Präsenz von Geist mit Beziehung auf den Ursprung, das innerste Bei-sich-selbst-Sein des Denkens im „sich Eins-Wissen mit dem Absoluten“ (143), was den Analogen allenfalls partiell, am ehesten noch in der Liebe, erfahrbar wird, die im Genie mit dem Denken konvergiert.

70 Egon Friedell: Das Jesusproblem. Mit einem Vorwort von Hermann Bahr. Wien, Berlin, Leipzig, München 1921, S. 25, 69, 34 (2x), 68, 76 u. 66. 71 Ebenso wie in dessen Verschmelzung mit dem bürgerlichen Persönlichkeitskult der Verklärung des ‚großen‘ Subjekts: vgl. Edgar Zilsel: Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer historischen Begründung [1918]. Frankfurt a.M. 1990. Innerhalb des kulturellen Prozesses verweist er damit beide Male eher zurück als auf neue Diskurse nach dem Ersten Weltkrieg. 72 Als weitere Beispiele werden in seinem gesamten Werk sonst stets nur wenige überragende Künstler und Leitfiguren der Religionsgeschichte genannt: vgl. Stenzel, Philosophie (wie Anm. 1), S. 318.



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Als solches wahr- und wesenhaftes „Ich-Selbst“ (528, 565) ist das Genie reinste Geistes-Gegenwart jenseits aller historischen Bedingtheit (vgl. 208  f.). „Sein Denken“ wächst ihm als „revelatio interna“ (138) zu, „aus der Offenbarung durch das Denkende“ (137). Nicht ohne Pathos wird versichert, dass seine Befindlichkeit alles Begreifen übersteige: „fest“ stehe es „in seinem Geheimnis, das groß ist wie die Zukunft und wie die Ewigkeit und wie das Wesen des Alls; sein Wesen ist selber die Ein- und Allwesenheit“ (161). Doch sogar wenn es „Wunder“ vollbringe (152), vermöge es nichts über die „geistesvergessene“ (165) „Allgemeinheit“ (155), jedenfalls seiner unmittelbaren Gegenwart (vgl. 172). Zwischen ihm und der Welt bestehe vielmehr ein Verhältnis wechselseitigen „Kampfes“ (142). Für völlig abwegig hält Brunner, dass es sich beim Genie um ein pathologisches Phänomen handle (148), wie Cesare Lombroso (1887), Max Nordau (1885) oder William Hirsch (1894) behauptet hatten und Wilhelm Lange-Eichbaum (1928), Ernst Kretschmer (1929), auch Gottfried Benn (1930) wenig später aufs Neue behaupten werden.73 Ganz im Gegenteil sei es das Muster von Integrität, die ihre Gattung sowohl repräsentiere als auch übersteige – „ein ganzer Mensch: dadurch erst wird ihm Schaffen möglich, welches keine Ähnlichkeit besitzt mit dem gewöhnlichen Machen“ (151). Wie es generell seine Art ist, variiert Brunner diesen Gedanken mehrfach: „Jedes Genie ist eine neue Form, auf dem geraden Wege zum wahrhaften Selbst des Menschlichen zu gelangen und damit der ewigen Bedeutung des Seins inne zu werden.“ (151). Oder auch: „Die Genies sind die Wahrhaftigen und wahrhaft Richtigen in der Grundwahrheit des Menschen“ (155). Hinzu kommt, dass sie aus geheimnisvollem Vorzug bestehen, als „Naturgeheimnis“ (152, vgl. 154, 178). Da sie zugleich in das dinghafte Sein nicht ganz eingegangen, gleichsam „weltfrei“ sind, verfolgen sie keinerlei „egoistische“ Zwecke (136). Unter diesem allem aber tritt Christi Hauptmerkmal als Genie in der Hochschätzung seiner selbst zutage. Von einem ganz unerhörten „absoluten Selbstbewusstsein“ (182 f.) war er nach Brunners Lesart erfüllt und zugleich von dem entsprechenden „Willen“ (161). Beide Eigenschaften wirkten darin zusammen, dass er sich an die Stelle Gottes zu setzen vermochte (167). Darum sei er letztlich gottlos, Atheist: „das Genie ist an die Stelle der Gottheit getreten“ (527). „Vater“ habe Christus das in ihm wirksame „Denkende“ genannt (160, 565), als dessen „Sohn“ er sich identifizierte, und, sofern es sich offenbare, den „Heiligen Geist“. Da er auf diese Weise mit dem „Vater“ eins sei, reklamiere er mit recht: „Gott, das bin ich“, (238 f.) und leugne eben damit einen „Gott“ außer ihm selbst. Anders als im christlichen Verständnis ist ihm der Vater, dessen Macht sein Auftreten reali-

73 Vgl. beispielhaft Neumann, Künstlermythen (wie Anm. 50), S. 134 ff.

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sierte, in dieser Einheit kein personales Gegenüber. Bei der Interpretation biblischer Worte und Konstellationen mit Blick auf seine These – Brunner nimmt eine konsequente Ausdeutung der in den Evangelien berichteten Details vor – geht dies im Einzelnen (z.B. was das Gebet betrifft) nicht ohne Gewaltsamkeiten ab.74 Schon seit 1897 begegnet man in Brunners Briefen immer wieder der Kombination von Christus und Spinoza – „mehr als das Liebste und Köstlichste [...] lebendiger als die liebsten Menschen meines Umgangs“, wie er rückblickend versichert –, unter dem Aspekt der Verfolgung bzw. Tötung dieser offensichtlich freiesten Männer unserer Kultur zunächst. Von einem „Schaudern“ spricht Brunner, das ihn angesichts „der Nähe der Wahrheit“ überkommen habe – ihrer Lehren ebenso wie ihres gefährdeten Lebens. Beider Schicksal sei typisch für dasjenige, „der Geistigen unter dem Volke, vollzogen an ihnen durch die Volksvertreter“.75 Stets betrachtet er sie als gemeinsame Verkünder der „Wahrheit des Einen“,76 „von denen dieses Größte gesagt werden kann, was sich von Menschen sagen läßt: daß sie gewissen Geistes sind“ (565). Christus ist für Brunner weitaus mehr als nur weltanschauliches Leitbild. Dreimal in seinem Buch redet er ihn voller Emphase direkt an: O du mein mächtiger Bruder [...]. Ich habe keinen geliebt wie dich, Christus – ja, und den andern, Spinoza, aber was ich am andern geliebt, was war es andres, als was ich an dir geliebt! Ich küsse deine heiligen Hände, ich küsse deinen Mund des Segens; und nein! du weißt es, du Urfreund mein und mein Blut du, daß ich andres nicht rede als die Wahrheit, die du so bitter gelebt hast und gestorben bist. (474)

In diesem Zusammenhang wird allgemein bemerkt, Spinoza habe sich auf Christus berufen (475). Tatsächlich konnte Brunner gewisse Ansätze zur Interpretation seines Helden Äußerungen Spinozas selbst entnehmen (ebenso die Verwahrung

74 Zweifel wurden übrigens selbst aus dem Kreis von Brunners Bewunderern geübt: so kritisierte Friedrich Kettner in einer Umkehrung von dessen Vorwurf an das Christentum, er selbst habe das Anliegen Christi nicht verstanden und für die Idee von dessen Nachfolge keinen wesentlichen Sinn (vgl. Stenzel, Philosophie [wie Anm. 1], S. 413). 75 Constantin Brunner: Zum fünfundfünfzigsten Geburtstag: Unser Charakter oder Ich bin der Richtige! Kurze Rechenschaft über die Lehre von den Geistigen und vom Volk [1939]. 2. Aufl. Stuttgart 1964, S. 18 f., 25. 76 Constantin Brunner: Die Lehre von den Geistigen und vom Volk [1908]. 3. Aufl. Stuttgart 1962, S. 1056. Als Vertreter einer philosophia perennis geht Brunner davon aus, dass ein und derselbe Gedanke in unterschiedlichen Formen ausgedrückt werden kann, wie es im Falle von Moses, Christus und Spinoza mit Blick auf diese Wahrheit des Einen geschehen sei (vgl. Brunner, Judenhaß [wie Anm. 16], S. 251, 261, 291).



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gegen „Aberglauben“).77 So hält Anfang 1676 ein Brief des Amsterdamer Philosophen an Albert Burgh fest: „Bloß durch den Geist Christi können wir zur Liebe der Gerechtigkeit und Nächstenliebe geführt werden.“ Kurz vorher hatte er in einem Schreiben an Heinrich Oldenburg „jenen ewigen Sohn Gottes“ mit „Gottes ewiger Weisheit“ gleichgesetzt, „die sich am meisten im menschlichen Geiste und von allem am meisten in Christo Jesu kundgetan hat.“78 Spinozas Theologisch-politischer Traktat von 1670 (den Brunner schon in der Rede der Juden zitiert),79 war in seinen Folgerungen noch weiter gegangen. Hier ist davon die Rede, dass man sagen könne, „die Weisheit Gottes, d.h. eine Weisheit, die über alle menschliche ist, habe in Christus menschliche Natur angenommen und Christus“, der „mit Gott von Geist zu Geist verkehrte“, sei „der Weg des Heils gewesen“.80 Nicht von ungefähr gibt es Leser (sowohl jüdische wie christliche), die den Theologischpolitischen Traktat als einen christlichen Text interpretiert haben.81 Dass „Spinoza und Christus“ auf das engste miteinander verbunden werden, geht übrigens auf die ‚Genieepoche‘ im 18. Jahrhundert zurück: „nur in diesen Beiden“, schreibt Johann Friedrich von Dalberg an Herder, „liegt reine Gotteserkenntnis“.82 Aus der

77 Yitzhak Y. Melamed: „Christus secundum spiritum“: Spinoza, Jesus and the Infinite Intellect. In: Jesus among the Jews. Representation and thought. Ed. by Neta Stahl. London 2012, S.  140–151, bes. 143, 147 f.; rezeptionsgeschichtlich auf die USA bezogen: Harold Brackman: Jesus, Spinoza and Jewish Modernity. In: Midstream 51 (2005), S. 8–15; natürlich auch Koenrad O. Meinsma: Spinoza und sein Kreis / Constantin Brunner: Spinoza gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit. Berlin 1909. 78 Carl Gebhardt: Spinoza. Briefwechsel. Paderborn 2012, S. 285, 277 (76. und 73. Brief). 79 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 16), S. 304; auch wenn er ihn, jedenfalls in späterer Zeit, weniger schätzte (vgl. Stenzel, Philosophie [wie Anm. 1], S. 238). 80 Baruch de Spinoza: Werke. Bd. 2. Hamburg 2006, S. 21 f., vgl. 73. 81 Vgl. Melamed, Christus (wie Anm. 77), S. 141 f.; ebd. auch seine eigene Gegenposition. Ein Spinoza gegenüber – sein „Glaube war höher und reiner – das müssen wir rücksichtslos aussprechen – als der vulgäre Kirchenglaube aller Zeiten, der sich nicht scheut, den ewigen Gott zum Diener menschlicher Wünsche zu erniedrigen“ – besonders respektvoller christlich-theologischer Versuch knapp drei Jahrzehnte später erwähnt Brunner nicht (Hermann Schuster: Spinoza – Sokrates – Christus, der Menschensohn und die Philosophen. In: Veritati. Eine Sammlung geistesgeschichtlicher, philosophischer und theologischer Abhandlungen. Als Festgabe für Johannes Hessen zu seinem 60. Geburtstag dargebracht von Kollegen, Freunden und Schülern. Hg. von Willy Falkenhahn. München 1949, S. 96–115, hier 114). Stenzel, Philosophie (wie Anm. 1), S. 238, findet in Unser Christus einige im Theologisch-politischen Traktat niedergelegte theologische Überzeugungen Spinozas wieder, etwa den recht ähnlichen Begriff der Prophetie und der Propheten, die Erklärung von „Wundern“ oder auch überhaupt die kritische Weise, in der die „Heiligen Schriften“ zu betrachten seien. 82 Zit. n. Fritz Mauthner: Spinoza. Ein Umriß seines Lebens und Wirkens. 2. Aufl. Dresden 1921, S. 127.

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Zeit nach Brunner wird von Erwin Panofsky das Diktum überliefert, die Juden hätten eigentlich nur drei Genies hervorgebracht: Christus, Spinoza und Einstein.83 Vielleicht mehr als nur am Rande gehört auch die von Gilles Deleuze geprägte Wendung hierher: „Spinoza ist der Christus der Philosophen“.84 Klaus Müller, der heute von katholisch-theologischer Seite her aus seiner Faszination durch Spinoza keinen Hehl macht, erklärt sich die zustimmenden Bezüge gerade des Infragestellers der überlieferten Rede von einem personalen Gott auf Christus nicht unplausibel damit, dass er in Christus „so etwas wie ein Vorausbild und Richtmaß“ für jenes Problem gefunden habe, dessen Lösung „sein ganzes Lebenswerk in Anspruch nahm: die Frage, wie das Verhältnis von Endlichem und Absoluten angemessen zu denken sei“ – im Sinne eines „Vexierbildes“ gleichsam, „das dauernd zwischen zwei total verschiedenen Gestalten hin- und herkippt, obwohl, nein: weil es eigentlich eine ist“.85 In Brunners Perspektive entspricht dem das der christlichen Dogmatik entlehnte Modell einer „Communio naturarum“ (über die Vereinigung der göttlichen und der menschlichen Natur in der Person Christi), deren eigentliche „Wahrheit“ die „Genielehre“ sei – ebenso wie dem „Verhältnis zwischen Vater, Sohn und heiligem Geist [...] die überaus wichtige Frage nach dem Verhältnis im Genie zwischen dem Denkenden, dem Gedachten und der Inspiration aus dem denkenden absoluten Selbst in das Gedachte des relativen Ich [...] zum Grunde [...] liegt“ (145). Indes wird Christus durch Brunner weiter spezifiziert. Mit dem „höchsten Genie der Mystik“ (182, vgl. 76, 168) habe man es bei ihm zu tun, deren Begriff der Philosoph erst jetzt in sein Gesamtwerk einführt. Derlei (lässt sich mit Fug annehmen) könnte tatsächlich der Einsicht in die Unmöglichkeit einer Rationalisierung des ‚Geistes‘ geschuldet sein, zu dessen Erfassung es vielmehr anderer Kategorien bedarf. Eine Philosophie, deren Voraussetzung die absolute Substanz ist, mündet so naheliegenderweise in Mystik.86 Christus, heißt es – und die Hegelianischen Ursprünge dieser Denkfigur bei Strauß und ihre Anschlüsse sind bekannt –, hatte „sein wahrhaftes Selbst [...] gefunden, da in ihm das Gottesbewußtsein zum Selbstbewußtsein wurde“ (213). Im Rahmen der für Brunner maßgeblichen Koordinaten ist er mithin „der wahrhafte, der ganz wunderbar vollkommene“ (79) – und das bedeutet eben: durch jene innere Entdeckung des

83 Erwin Panofsky: Deutschsprachige Aufsätze. Hg. von Karen Michels und Martin Warnke. Berlin 1998, S. 971. 84 Gilles Deleuze: Was ist Philosophie? Frankfurt a.M. 2000, S. 68. 85 Klaus Müller: In der Endlosschleife von Vernunft und Glaube. Einmal mehr Athen versus Jerusalem (via Jena und Oxford). Berlin 2012, S. 100. 86 Vgl. Stenzel, Philosophie (wie Anm. 1), S. 30, 253 f., auch 70.



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vormals als transzendent angesehen Göttlichen, „der Gottloseste aller Mystiker“ (309). Christliche Mystik folge ihm darin nach, anstatt sich mit der als geistlos gebrandmarkten Religion zu begnügen. Wir sind damit bei einem zweiten Kontext angelangt, um Christus, wie Brunner ihn sieht, zu „‚verstehen‘“ (11), mehr noch aber die Voraussetzungen des Autors selbst.

II Meister Eckhart und das Spezifikum der Mystik als Erkenntnisform Die Annäherung an das damit evozierte Phänomen nimmt Brunner im Eingangsteil seines Buchs zunächst über einen anderen vor, welcher „die Wahrheit der Philosophie“ (13, vgl. 17) als Mystik richtig gefasst habe: den Inbegriff eines auf die Verschmelzung mit dem Absoluten gerichteten Denkens (in seiner Terminologie: die des Gedachten mit dem Denkenden). Parallel dazu ziele die mystische Liebe auf den „Untergang des relativen Daseins im ewig Einen“ (69). Erscheine die Mystik mit ihren Erkenntnismodi und Ausdruckweisen „für das gewöhnliche Bewußtsein und für den Aberglauben“ an sich schon „schrecklich“ genug, da sie „allen menschlichen Verstand auf den Kopf“ stelle (12), so gebe es (gleichwohl noch) einen Mann, welcher „der schrecklichste“ sei, „der mit seinem leidenschaftlich anschaulichen, reißenden Ausdruck in eine unvergeßliche Schule nimmt (eine herrliche Schule für jeden, der frei werden will), zugleich aber auch der feinste und spekulativ begabteste ist; wodurch er sich eignet, auf die wissenschaftliche Erfassung der mystischen Prinzipien uns hinzuführen“ (13). Gegenstand dieser Eloge ist Meister Eckhart, der namhafteste Repräsentant deutscher spekulativer Mystik des Hochmittelalters. Was der „gar fromme und verwegene Mann [...] redet“ – in der Doppelrichtung „über Gott – gegen Gott“ (13) –, resümiere sich in den drei Prinzipien „Gottlosigkeit“ (14), „Weltfreiheit“ (15) und „Seligkeit“, im Sinne „der Vereinigung, der Vergottung, [...] Seligkeit im absoluten Wesen, welches in der Seele gefunden wird. [...] darauf kommt in der Mystik alles hinaus“ (16). Jemanden wie ihn hält Brunner für höchst geeignet zur Einführung in sein eigenes Thema (und zugleich als dessen Beglaubiger). Vielleicht ohne es zu wissen befinde sich dieser Magister letztlich jenseits aller Religion mit ihren praktischen Übungen und Ritualen (71f.), „klar und mächtig“ dafür im Entscheidenden: „der geistigen Wahrheit“ (18) der Seele als des absoluten Wesens (19). Diese Seele „will bei Eckhart Gott sein und Gott heißen“ (21, vgl. 71) – bevor es unter kirchlichem Druck zum Widerruf gekommen sei, mit ungeschmälertem

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Recht (77). „Nachdem Christus gewesen“, habe sich das alles „nicht anders als in der Anlehnung an“ diesen „geben“ lassen (76, vgl. 169). Beispielhaft erwache bei Eckhart „das Denkgewissen“ (468). Sein „Gott“ sei derjenige des im „Gedachtwerden“ existierenden von Christus und Spinoza: „daß wir ihn denken, das ist sein Sein in uns und unser Sein in ihm“, heißt es in einer neuartigen Wendung des klassischen ontologischen Gottesbeweises, mit Spitzen gegen dessen Urheber Anselm von Canterbury sowohl wie gegen Kant, seinen Bestreiter: „wenn wir aber nur wirklich denken, müssen wir ihn denken (alles andre, was wir denken, denken wir nur relativ)“ (491). Unbedingt zähle „Eckhart“, begeistert sich Brunner in einer Aufwallung von Nationalstolz, zu „unsern großen deutschen Männern“, unter denen ihm freilich allemal „eine andre Stelle [...] als die bisherige“ gebühre: „seinen Schriften kommt für die deutsche Literatur mindestens die Bedeutung zu, wie sie das Nibelungenlied erlangt hat“, er „gehört in die philosophische Literatur und in die Weltliteratur“ (76). Diese Forderung beansprucht nicht nur eine gründliche Lektüre des Dominikaners für sich (nach welcher Brunner sein anfängliches Urteil, ihn für einen der „Hybriden“ gehalten zu haben, eine jener „Mischnaturen“ zwischen „Geistigen“ und „Volk“, die sowohl „mystisch“ als auch „abergläubisch“ reden, revidierte [73]), sondern insinuiert auch eine bestehende Fehleinschätzung, wo nicht gar Missachtung, des Belobigten. Unterstützend erwähnt Brunner allein Franz von Baaders Werben für Eckhart vor Hegel (76) und Johann Karl Ludwig Gieselers Kirchengeschichte von 1825/48 (285). Aktuelle Aneignungen des Magisters hingegen (von der rassebiologischen abgesehen), werden völlig ausgespart, obwohl – vielleicht gerade aber weil – sie sich in vielem mit den Anschauungen des Autors berühren. Tatsächlich gibt es, über die Eckhart-Rezeption hinaus, doch eng mit ihr verbunden, das (bisher zumal an der deutschsprachigen Literatur untersuchte) Phänomen einer „gottlosen Mystik der Jahrhundertwende“,87 so genannt in Anlehnung an den Titel des vierten Bandes der Geschichte des Atheismus (1923) von Fritz Mauthner.88 Einer auf Schopenhauer zurückgehenden Gepflogenheit

87 Vgl. Uwe Spörl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. Paderborn 1997; auch Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1989; Mystique, mysticisme et modernité en Allemagne autour de 1900 / Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900. Hg. von Moritz Baßler und Hildegard Châtellier. Strasbourg 1998. 88 Schon im Band zuvor hatte er ausgeführt, dass bei Eckhart die Grenzen zwischen Mystik und Gottlosigkeit „von uns rückschauend nicht scharf gezogen werden“ können. Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Bd. 3. Stuttgart, Berlin, S. 197.



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folgend,89 werden die Texte der mittelalterlichen Mystik hier im a-theistischen Sinne interpretiert, dem jener „Mysterien der Gottlosen“, von welchen Leopold Ziegler 1920 in seinem Gestaltwandel der Götter schrieb,90 überzeugt davon, dass unter den Bedingungen der säkularisierten Moderne einzig noch eine Religion ohne personal gedachten Gott möglich sei. Mit Reichweite bis hin zu extrem widersprüchlichen Anknüpfungen, ist Eckhart einer ihrer bevorzugten Gewährsleute. Die Renaissance des Magisters nach 1900 scheint von der Problemlage einer Generation nicht zu trennen, für die das Ungenügen an den naturwissenschaftlich-positivistischen Weltdeutungsmodellen mit der Zurückweisung des traditionellen Christentums einherging. Gleichermaßen kann sie als Reaktion auf diese Plausibilitätsverluste bei fortbestehender spiritueller Bedürftigkeit begriffen werden. Das virulente Erlösungsverlangen äußert sich als Option für eine neue, diesseitige Religion individueller Autonomie, grundiert von einem latenten Pantheismus (für den nicht zuletzt das zeitgenössische Kunstschaffen Beispiele bietet).91 Diese Befindlichkeit lässt sich fast bei allen namhaften Rezipienten Eckharts nachweisen. Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts steigt Eckhart zum „Modethema“ auf.92 Man popularisiert ihn als einen zur zeitgenössischen Mentalität passkonformen Denker, Modell und Zeuge „der letzten Einheit von Gott, Welt und“ eigener „Seele“.93 Eine Grundlage hierzu bieten zwei im gleichen Jahr 1903 erschienene Übertragungen aus dem Mittelhochdeutschen – von Gustav Landauer und Herman Büttner – mit dem Ziel einer Anverwandlung seiner Gedanken an den Geist der Moderne. Brunner benutzt in Unser Christus keine davon, sondern stützt sich auf die Quellenedition Franz Pfeiffers von 1857 (13, 76). Besonders nach dem Ersten Weltkrieg wird die Diederichs-Ausgabe von Herman Büttner nachgerade zu

89 Vgl. Ingeborg Degenhardt: Studien zum Wandel des Eckhartbildes. Leiden 1967, S. 228 f. 90 Leopold Ziegler: Gestaltwandel der Götter. 3. Aufl. Darmstadt 1922. Bd. 2, S. 753. 91 Vgl. jene „neue, außerkirchliche ‚vagierende‘ Religiosität“ um 1900, der Thomas Nipperdey (Religion [wie Anm. 11], S. 143), nachgeht. Bestätigt wird seine Diagnose durch die rezeptionsgeschichtliche Eckhart-Forschung (vgl. Degenhardt, Studien [wie Anm. 89], S. 226 f.; Willehad Paul Eckert: Eckhart-Rezeption und Umdeutung in der neueren deutschen Literatur. In: Freiheit und Gelassenheit. Meister Eckhart heute. Hg. von Udo Kern. München 1980, S. 183–197, hier 189; Kurt Flasch: Meister Eckhart. Philosoph des Christentums. 3. Aufl. München 2011, S. 194). Vgl. auch Ernst Troeltschs Auseinandersetzung mit einer nach-christlichen, monistischen „Religion der Zukunft“. „Der moderne Mensch“ habe „eine gewisse Hellhörigkeit für die Dinge der Allheit“, die er kritisch mit der modernen Erfahrung der Zersplitterung des Individuums und der sozialen Depersonalisierung in Verbindung bringt (zit. n. Claussen, Jesus-Deutung [wie Anm. 42], S. 181). 92 Flasch, Meister (wie Anm. 91), S. 194. 93 Degenhardt, Studien (wie Anm. 89), S. 230, 257.

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einem Bestseller.94 Via Eckhart, dem er als „‚Weggenosse und Führer‘ des modernen Menschen“ zur Wirksamkeit verhelfen wollte, stellt auch er die von Christus behauptete Wesensgleichheit und Ebenbürtigkeit mit dem Vater normativ einem „‚gegenständlichen, jenseitigen Gott‘“ gegenüber. Christi Verkündigung sei von den Aposteln und späteren Gemeinden umgedeutet worden. Eckhart gemäß bedürfe man nicht einer Religion aus zweiter Hand, da man Gott – will heißen: die Einheit des Seins – im eigenen Inneren (sozusagen als religiöse Urszene) erfahre. Tatsächlich wusste der auf diese Weise über sechs Jahrhunderte hinweg in eine andere Zeit verpflanzte Dominikaner, trotz mancher kühnen Formulierung, wohl um die Differenz zwischen Geschaffenem und Göttlichem und dass letzteres selbstverständlich nicht vollständig in der menschlichen Seele aufgehe. Grundzüge der neuen Religion in seinem Zeichen indes werden nun „die Lehre vom inneren Himmel, vom ewigen Leben in der Zeit“, sowie von „dem […] wesenseinigen Gott“.95 Ganz enorm ist die intellektuelle Resonanz, bis hin zu der Korrelation einer neuen Baukunst mit Gedanken des Mystikers etwa bei dem Architekten Bruno Taut.96 Ernst Bloch und Martin Heidegger, Georg Lukács und Karl Mannheim: sie alle sind Eckhart-Leser.97 „Wir haben seinesgleichen nicht wieder gehabt“, soll Georg Simmel 1905 seine Meister-Eckhart-Lektüre auf den Punkt gebracht haben.98 Weithin strahlt der Magister auf die Schriftsteller aus. In der (weniger verbreiteten) Ausgabe Landauers lesen ihn Hofmannsthal wie Musil, der um 1920

94 Mystik war der zentrale Inhalt des Verlagsprogramms von Eugen Diederichs, ein Angebot für „moderne Gottsucher“, Menschen, die „in sich eine geistige Wiedergeburt“ erleben (wollten; zit. n. Eckert, Eckhart-Rezeption wie [Anm. 91], S. 183). Vgl. Degenhardt, Studien (wie Anm. 89), S. 237. 95 Degenhardt, Studien (wie Anm. 89), S. 250–252. 96 Seine „Gläsernen Häuser der Andacht“ (1919) konzipiert Taut als „leere Gefäße eines noch unbekannten Glaubens“ und beruft sich dafür ausdrücklich auf Meister Eckhart (vgl. Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945. Göttingen 2007. Bd. 2, S. 1131). 97 Vgl. Karol Sauerland: Mystisches Denken zur Jahrhundertwende. Der junge Lukács, Mauthner, Landauer, Buber, Wittgenstein und der junge Broch. In: Literatur im Wandel. Festschrift für Victor Žmegač zum 70. Geburtstag. Hg. von Marijan Bobinac. Zagreb 1999, S. 175–190. Auch Arthur Drews nimmt (in einer Rezension der Büttnerschen Ausgabe) Eckhart für eine pantheistische Metaphysik oder, wie er es selbst nannte, seine Lehre vom „konkreten Monismus“ in Beschlag (zit. n. Degenhardt, Studien [wie Anm. 89], S. 256, vgl. 257). 98 Wie sich Margarete Susman erinnert. In: Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Hg. von Kurt Gassen und Michael Landmann. Berlin 1958; zum Kontext vgl. Alois Halbmayr: Mystik ohne Transzendenz: Georg Simmel als Leser Meister Eckharts. In: Mystik – Herausforderung und Inspiration. Gotthard Fuchs zum 70. Geburtstag. Hg. von Thomas Pröpper, Michael Raske und Jürgen Werbick. Ostfildern 2008, S. 285–303.



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in sein Tagebuch notiert: „Rationalität und Mystik, das sind die Pole unserer Zeit“ und in einem Essay von 1922 die Notwendigkeit der mystischen Erfahrung gegenüber einer nur verstandesmäßigen Erkenntnis betont.99 Gerhart Hauptmann bevorzugt die Edition Büttners.100 Schon 1903 hatte Franz Kafka brieflich von den Folgen der Beschäftigung mit Eckhart berichtet: „Manches Buch wirkt wie ein Schlüssel zu fremden Sälen des eigenen Schlosses.“101 Peter Hille ist ebenso ein Kenner der Schriften des Magisters wie (mit Nachhall in dessen Dramen) Ernst Barlach.102 Schließlich bringt es der Dominikaner gar zur Romanfigur – 1920 bei dem populären Autor Paul Gurk etwa oder 18 Jahre später in Erwin Guido Kolbenheyers Das gottgelobte Herz, in dem er als einsamer Pantheist gegen die Herrschaft der Kirche auftritt.103 Keinen neuen Befund bietet auch ein affirmativer Vers im Eckhart-Gedicht von Ernst Bertram: „Er lästert heidnisch: ‚Gott und Mensch ist Eins!‘“104 Von Joseph Bernhart (1914), Otto Karrer (1923) oder Alois Dempf (1930) abgesehen, die Eckhart Raum im Katholizismus verschaffen möchten und dabei keinen leichten Stand haben,105 ist er allgemein der Held einer weltlich-kirchenfernen, anti-dogmatischen, rein vermöge der Kraft der eigenen Seele generierten Spiritualität. Brunner steht hier alles andere als allein. Ein (von der Forschung zuweilen allzu gering geschätztes) Problem tut sich freilich dadurch auf, dass unterschiedliche ideologische Ausrichtungen in gleicher Semantik an dem Mystiker genau dasselbe als wünschenswert rühmen. Den spezifischen Volkscharakter der Religiosität des Dominikaners hebt Leopold Zieglers 1904 veröffentlichter Aufsatz Die philosophische und religiöse Bedeutung des Meister Eckhart hervor. Einen „Genius“ nennt er ihn, der den „Akzent der deutschen Christusidee für alle Zeit festgelegt“ habe. Gemeint sind damit

99 Zit. n. Eckert, Eckhart-Rezeption wie (Anm. 91), S. 191. Ganz aktuell vgl. auch Harald Gschwandt­ ner: Ekstatisches Erleben. Neumystische Konstellationen bei Robert Musil. München 2013. 100 Vgl. Sprengel, Wirklichkeit (wie Anm. 12), S. 108. 101 Franz Kafka: Briefe 1902–1924. Frankfurt a.M. 1975, S. 20 (an Oskar Pollak v. 9. November 1903). 102 Vgl. Anja Sroka: Söhne und Väter. Barlachs Drama – Barlachs Dramen. In: Barlach-Studien. Dichter, Mystiker, Theologe. Hg. von Wolfgang Beutin und Thomas Bütow. Hamburg 1995, S. 49–84. 103 Vgl. Wagner-Egelhaaf, Mystik (wie Anm. 87), S. 148–171. Das zweite der (unveröffentlichten) Spiele in Kolbenheyers späteren dramatischen Tetralogie Menschen und Götter (1944) trägt den Titel Eckhart (vgl. Franz Koch: Kolbenheyer. Göttingen 1953, S. 147 ff.). Held des Romans Amor Dei, der den Autor 1908 bekannt gemacht hatte, ist übrigens Spinoza. 104 Zit. n. Degenhardt, Studien (wie Anm. 89), S. 343. 105 Vgl. Flasch, Meister (wie Anm. 91), S. 193.

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eben „Eckharts Pantheismus, seine Häresie, aber auch sein Protestantismus“.106 Schon hier gerät der Mystiker zur nationalen Identifikationsfigur, zum Zeugen der deutschen Seele und ihrer Tiefe. Auch die nationalsozialistische Vereinnahmung findet ausdrücklich mit Blick auf „Mystik“ als „nicht Transzendenz, sondern Immanenz des Göttlichen“ statt (so der maßgebliche Eckhart-Forscher Josef Quint, Mitglied der NSDAP, 1939).107 Schon ein Jahrzehnt vorher hatte Alfred Rosenberg in seinem (unter einem Motto des Magisters stehenden) Mythus des 20. Jahrhunderts den Mann aus dem Mittelalter als ein in seiner Bedeutung unvergleichliches religiöses Genie identifiziert. Unter dem Titel Die Religion des Meister Eckehart (1934) wird das Kapitel daraus später auch separat gedruckt. Der führende und sicher belesenste Ideologe der Partei sah die Notwendigkeit eines neuen, postchristlichen Glaubens, den er im Zeichen Eckharts befördern wollte: dieser ist für ihn „der Schöpfer einer neuen Religion“. Mit seiner Darstellung der „frohen Botschaft der deutschen Mystik“ verfolgt Rosenberg vor allem eine Stoßrichtung gegen die offensichtlich lästige Konkurrenz der kirchlichen „Zwangsglaubenlehre“, weswegen es auch einleuchtet, dass er ausschließlich auf die katholische Eckhart-Literatur Bezug nimmt. Den grundsätzlichen Befund der modernen Eckhart-Faszination schreibt auch er fort. „In der eigenen Seele“ habe „der deutsche Mystiker [...] den ‚Starken von oben‘“ entdeckt, die in der Bewegung „rein zu sich selber“ zum „Gottesbewußtsein“ gelange. In ihr vollziehe sich das „Erschaffen“ der Gottesidee, was bedeutet, dass sie in ihrem „höchsten Selbstbewußtsein“ (welches seit David Friedrich Strauß in diesem Zusammenhang regelmäßig wiederkehrt) „frei ist von Gott“. Damit wird Eckhart zur Leitfigur, gelte es ihm zufolge doch, „den Gott im eigenen Busen zu erwecken“ (ja „herzunötigen“), „unser Ewiges“. So hätte sein von der Kirche hintertriebener Erfolg „die Absetzung Jahwes bedeutet“. Was hingegen Jesus betrifft, den auch Rosenberg als geistiges Vorbild behalten möchte, sei Eckhart dessen größter Nachfolger. Indes habe der Mystiker ein ganz neues Bild von ihm „vorgezeichnet“, das „noch nicht vollendet“ sei. Im „Grundbekenntnis alles arischen Wesens“108 jedenfalls konvergierten die vorgetragenen Aspekte. Erst mit dieser Folgerung, welche die individuelle als Rassenseele kenntlich macht, schert Rosenberg aus Diktion und Konsens der modernen Eckhart-Bewunderer aus.

106 Leopold Ziegler: Die philosophische und religiöse Bedeutung des Meister Eckhart. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 6. Hg. von Renate Vonessen. Würzburg 2007, S. 97–108, hier 97, 100. 107 Zit. n. Flasch, Meister (wie Anm. 91), S. 196. 108 Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit [1930]. 7. Aufl. München 1943, S. 239, 218, 222, 219, 221–223, 219, 234, 225, 247, 414 u. 222.



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Bereits gegen frühe Anzeichen einer Vereinnahmung des Dominikaners durch die Rassentheoretiker verwahrt Brunner sich energisch: „Hat man doch sogar versucht, den Meister Eckhart als unabhängig von Christus hinzustellen und über diesen zu erheben als den Deutschen. Das ist wahrhaft Schändung der beiden lautersten Geister und eines Verhältnisses, zu dessen Heiligkeit der gemeine und gehässige Sinn am wenigsten heranreicht. [...] Als gäbe es für den Geist und das Ewige Deutsch und Nichtdeutsch“ (545). Gleichwohl: in der Analyse der Spiritualität des Meisters samt der Betonung dessen, was ihm daran wünschenswert erscheint, weist auch er selbst Affinitäten zu ihnen auf. Eine besondere (wenn auch im Buch anonym bleibende) Bedeutung für ihn hat sicherlich die Eckhart-Rezeption Gustav Landauers, der im gleichen Jahr 1903, in dem Skepsis und Mystik erscheint, sein Hauptwerk, Eckhart, dessen Predigten er schon früher im Gefängnis las und der ihn bis in seine letzten Lebenstage hinein immer wieder beschäftigt,109 „mit der Freiheit, die Liebe und Verehrung gibt“, in einer eigenwilligen Auswahlübersetzung vorlegt („in unsere Sprache übertragen“, so der Untertitel). Meister Eckhart, betont er, „ist zu gut für historische Würdigung; er muß als Lebendiger auferstehen.“ Der Mann aus dem Mittelalter mit seiner „Genialität“ wird ihm Richtung weisend für den eigenen mystischen Anarchismus, welcher die existentielle Isoliertheit des modernen Individuums angesichts der Wirklichkeiten von Bürokratie und Maschine aufheben soll. Landauer sieht in Eckhart ebenfalls einen Pantheisten, aber fast in umgekehrtem Sinne als das, was man seit Spinozas Wiedererweckung darunter versteht. Dieser letztere Pantheismus löst – nicht im Sinne Spinozas freilich – den Gottesbegriff in der materiellen Welt auf; Eckhart dagegen löst die Welt und den Gott in dem auf, was er manchmal Gottheit nennt, was unaussprechbar und unvorstellbar ist, was aber jedenfalls etwas jenseits von Zeit, Raum und Individualisierung und etwas Seelenhaftes ist. […] Sein Pantheismus ist Panpsychismus.110

Wie Brunner hatte sich Landauer von der Religion seiner Väter gelöst, und ähnlich wie diesem scheint ihm der Glaube an „Gott“ ein unwahrer „egoistischdinglicher, materialistischer“ Begriffsglaube (30). Dabei verschiedene histori-

109 Eckert, Eckhart-Rezeption (wie Anm. 91), S.  187. Landauer ermutigt auch Fritz Mauthner zum Studium der Schriften Eckharts, die diesen im Konzept einer extremen Negativen Theologie bestärken. Im verborgenen Gott des Dominikaners glaubt er dasselbe zu entdecken, was das östliche Denken mit dem Begriff des Tao umschreibt (vgl. ebd., S. 189). Auch Martin Buber steht in seiner Jugend solchen Überlegungen nahe. Auf seinem Weg von der Weltimmanenz zur Trans­ zendenz entfernt er sich jedoch von ihnen. 110 Gustav Landauer: Vorwort. In: Meister Eckharts mystische Schriften. In unsere Sprache übertragen von G. L. Berlin 1903, S. 5–10, hier: 5 (2x), 8, 6 f.

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sche Konnotationen aufgreifend, wesentlich vor allem aber durch Spinozas Ethik beeinflusst, spricht auch er stattdessen von „Geist“, was nicht zuletzt dem Charakter der Welt als eines Unaussprechlichen gemäßer sei111 (was übrigens an zeitgleiche Theorien der Kunst erinnert, bei Kandinsky beispielsweise). In Brunners Buch Die Lehre von den Geistigen und vom Volk, dem Landauer 1908 zur Veröffentlichung verhilft, entdeckt er, mit großem Respekt vor der Leistung des acht Jahre Älteren, eine wechselseitige intellektuelle Verwandtschaft. Ungeschieden reiht seine Rezension Christus, Meister Eckhart, Platon und Spinoza als „Männer des Geistes“ aneinander.112 Auslöser dafür, dass Brunner die Initiative zum persönlichen Kontakt mit Landauer ergriff, war eben dessen Eckhart-Edition gewesen, genauer gesagt die kurze Vorrede.113 Im nicht zur Veröffentlichung gelangten „Geleitwort“ der durch Martin Buber besorgten zweiten Auflage114 apostrophiert Brunner seinen ehemaligen Freund selbst als „Mystiker, einen geistigen Mann, einen innerlich weltfreien“, der „die vorhandene Welt anders“ gewollt habe, „als sie ist: geistig! […] und nur seine mystische Natur gibt uns den Schlüssel für sein Verhältnis zur

111 Vgl. dazu die Untersuchungen von Bernhard Braun: Die Utopie des Geistes. Zur Funktion der Utopie in der politischen Theorie Gustav Landauers. Idstein 1991; ferner Thorsten Hinz: Mystik und Anarchie. Meister Eckhart und seine Bedeutung im Denken Gustav Landauers. Berlin 2000; Joachim Willems: Religiöser Gehalt des Anarchismus und anarchistischer Gehalt der Religion? Die jüdisch-christlich-atheistische Mystik Gustav Landauers zwischen Meister Eckhart und Martin Buber. Albeck b. Ulm 2001. 112 Zit. n. Hinz, Mystik (wie Anm. 111), S. 114 f. Vgl. auch bei Stenzel, Philosophie (wie Anm. 1), S. 401, das Zitat eines Briefes von Landauer an Brunner (17. Dezember 1907) mit der Aussage, auch für ihn gehörten Christus und Spinoza „in die Reihe der höchsten Menschen, die es mir giebt“. Ebd. auch die Empfehlung an seinen Freund, der Gefahr laufe, „bloß der stürmische, zürnende, wütende Prediger Jesu und Spinoza [sic!] zu sein“, „etwas weniger“ zu „schimpfen und wüten“ (11. August 1910). 113 Lotte Brunner, 15. Oktober 1903, zit. n. Stenzel, Philosophie (wie Anm. 1), S. 401; vgl. Hinz, Mystik (wie Anm. 111), S. 65. 114 Für die posthume Neuauflage von 1920 war Brunner vom Verlag um ein Vorwort gebeten worden, dessen Abdruck als Teil des Buchs Buber (der 1904 u.a. über den Dominikaner promoviert hatte, in dessen seit 1903 geplanten Ekstatischen Konfessionen [1909] sich gleichwohl kein authentischer Eckhart-Text findet) mit dem Hinweis auf eine Nachlassverfügung Landauers verhinderte, in der dieser ausschließlich eine unveränderte Auflage legitimiert haben soll. (Vgl. Hinz, Mystik [wie Anm. 111], S. 67) In den vorgeschlagenen Abdruck auf dem Deckel oder einen separaten Zettel mit dem „Geleitwort“ mochte Brunner nicht einwilligen. Die wenigen Sätze darin über Meister Eckhart, „diesen wahrhaften Nachfolger Christi und unvergleichlich größten Mann der spekulativen Mystik“ (zit. n. dem Erstdruck: ebd., S. 217) hat er teils in Unser Christus übernommen (76).



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sozialen Bewegung“.115 Derlei mutet wie eine nachgetragene Replik zum Grund ihres Zerwürfnisses an. 1911 endete die Freundschaft zwischen Brunner und Landauer in einem Streit über politische Fragen, als jener von diesem eine Bejahung seines Konzepts vom „Sozialismus“ forderte.116 Landauers verborgene Gegenwart in Brunners Buch verrät sich vielleicht in einer knappen beiläufigen Notiz: „Christus […] war […] mystischer Anarchist“ (441), lautet sie, und zu ergänzen wäre wohl: aber kein Revolutionär. Tatsächlich dürfte das Werk Landauer sicher mehr verdanken als bloß mit der Eckhart-Lektüre verbundene Anregungen. Um Mystiker handelt es sich für Brunner auch bei Moses und den Propheten Israels als Repräsentanten des echten Judentums, das seinem ursprünglichen Charakter nach ohnedies genuin mystisch sei – und deswegen keine Religion. Als deren Größter gehöre Christus zu ihnen: „das mystisch prophetische Genie in der Vollkommenheit“ (215). Somit sei er auch der „eigentliche Genius des Judentums“.117 Hier eröffnet sich ein dritter Kontext, den ich abschließend andeuten möchte.

III Die „Heimholung“ Jesu ins Judentum Früher schon wünschte Brunner sich „die erste rechte Ausgabe der Evangelien, von jüdischer Hand, die baldigst kommen möge und die zunächst nur Christus in seinen Zusammenhang nicht allein mit dem Alten Testament, sondern auch mit der rabbinischen Literatur stellen soll“.118 Im umfangreichsten der Kapitel seines Buchs, „Christus und das pharisäische Judentum“ (192), versucht er Letzteres dann selbst. Nun bedeutet die Einordnung Jesu in das zeitgenössische Judentum als des für jede Interpretation seines Auftretens konstitutiven Umfelds seit dem späten 19. und besonders dann im 20. Jahrhundert die Korrektur einer sehr lange bestehenden Gepflogenheit, welche ihn vom Judentum abgegrenzt und, je nachdem, ob aus christlicher oder jüdischer Perspektive, als dessen positiven ‚Überwinder‘ oder tadelnswerten Abweichler charakterisiert hatte. Innerhalb der christlichen Theologie hatte Julius Wellhausen 1905 prägnant formuliert, dass Jesus „kein

115 Zit. n. Hinz, Mystik (wie Anm. 111), S. 217. 116 Vgl. Hinz, Mystik (wie Anm. 111), S. 115. 117 Constantin Brunner: Von den Pflichten der Juden und von den Pflichten des Staates. Berlin 1930, S. 5. Vgl. Brunner, Judenhaß (wie Anm. 16), S. 279. 118 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 16), S. 326 f.

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Christ“, sondern „Jude“ gewesen sei.119 Anstoß hierfür gab die historisch-kritische Bibelwissenschaft, mit deren Methode das Christentum auf seine jüdischen Wurzeln zurückgeführt wurde. Auf jüdischer Seite beginnen die Versuche, Jesu Person und Lehre als integralen Bestandteil der eigenen Tradition zu begreifen – einen Vorklang bei Moses Mendelssohn ausgenommen – mit Abraham Geiger, dem er sich als liberaler Pharisäer darstellte (Urschrift und Übersetzung der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der inneren Entwicklung des Judenthums [1857]).120 Recht eigentlich Fahrt auf nehmen sie mit Joseph Klausner, dem im engeren Sinne Pionier der modernen jüdischen Jesus-Forschung, und dessen Aufsehen erregendem Buch Yeshu ha-Notsri (1922, dt. 1930: Jesus von Nazareth), in dem auf der Grundlage auch bis dahin unberücksichtigt gebliebener Quellen Jesus als Reformer im Kontext seines Volkes begriffen wird. Die Schwierigkeiten, mit denen der Gelehrte von beiden Seiten zu kämpfen hatte, fanden ein spätes Echo noch 2004 im Roman Eine Geschichte von Liebe und Finsternis seines Neffen Amos Oz.121 Weitere wichtige Namen aus der Pionierzeit der Fortschreibung eines Prozesses, welcher seither nicht mehr abriss, sind Claude Montefiore (The Synoptic Gospels [1927]), Leo Baeck (Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte [1938])122 oder Martin Buber (keineswegs nur, weil er 1950 zu Protokoll gibt, Jesus „von Jugend auf als meinen großen Bruder empfunden“ zu haben).123 Selten stößt man bei den referierten Stationen dieser Abfolge einmal auf Brunners Namen.124 So in Schalom Ben Chorins 1953 veröffentlichtem Aufsatz Das Jesus-Bild im modernen Judentum, der bereits auf einen stattlichen Ertrag

119 Vgl. Martin Hengel und Anna Maria Schwemer: Jesus und das Judentum. Tübingen 2007, S. 190. 120 Näheres bei Susannah Heschel: Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie. Berlin 2001. Zum Folgenden vgl. insbesondere die Übersichten von Schalom Ben Chorin: Das Jesus-Bild im modernen Judentum. In: Ders.: Im jüdisch-christlichen Gespräch. Berlin 1962, S.  61–65; Verena Lenzen: Jüdische Jesusbilder. In: Laetare Jerusalem. Festschrift zum 100-jährigen Ankommen der Benediktinermönche auf dem Jerusalemer Zionsberg. Hg. von Nikodemus C. Schnabel OSB. Münster 2006, S. 464–476; Walter Homolka: Jesus von Nazareth im Spiegel jüdischer Forschung. 2. Aufl. Berlin 2010, S. 41–97. 121 Vgl. Amos Oz: Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Roman. Frankfurt a.M. 2004, S. 104 f. 122 In dessen früher Arbeit Das Wesen des Judentums (1905) der Überzeugung Ausdruck verliehen wird, „das Wesen einer Religion“ könne am ehesten an dem religiösen Genie erforscht werden“, den Propheten z.B. (zit. n. Martin Stöhr: Leo Baeck und der Protestantismus. In: „Die Gemeinde als Ort von Theologie“. Festschrift für Jürgen Seim zum 70. Geburtstag. Hg. von Katja Kriener, Marion Obitz und Johann Michael Schmidt. Bonn 2002, S. 149). 123 Zit. n. Ben Chorin, Jesus-Bild (wie Anm. 120), S. 72. 124 Zu nennen wäre etwa Gerhard Jasper-Bethel: Stimmen aus dem neureligiösen Judentum in seiner Stellung zum Christentum und zu Jesus. Hamburg-Bergstedt 1958, S. 37–39.



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zurückblickt, auch in der Belletristik – um stellvertretend nur Sholem Asch oder Max Brod zu erwähnen. Selbst hatte er schon in einem Gedichtzyklus von 1935, Der Rabbi von Nazareth, Jesus als den „echtesten Sohn“ des jüdischen Volks bezeichnet.125 Ben Chorins frühes Interesse an Jesus war durch Brunner „verstärkt“ worden.126 Gleich eingangs erwähnt sein Aufsatz kurz diesen „jüdischen Outsider“ mit seinem Postulat „Gebt uns unseren Jesus wieder!“, in dem sich „jene neuzeitliche Bemühung um die Heimholung Jesu in das jüdische Volk“ resümieren lasse.127 Ben Chorin spielt an auf die Rede der Juden: Wir wollen ihn zurück!, Brunners erstes Werk überhaupt, vielleicht schon 1884 entstanden,128 als überarbeitete Fassung aber erst über ein Vierteljahrhundert später in Der Judenhaß und die Juden (1918) veröffentlicht. Die Argumentation des höchst bemerkenswerten Textes bewegt sich hier im aktuellen Spannungsfeld zwischen humanitärem Denken und Rassentheorie. Gegen die grassierende Judenfeindschaft verteidigt Brunner die Grundlagen der „modernen Kultur“ wie „Rechtsstaat“ und „Menschengleichheit“ als originär dem „jüdischen Urgedanken“ geschuldet. Dies ist die Hintergrundfolie, vor der er postuliert: „Christus war, Christus ist, Christus bleibt der Unsrige“.129 Folgt man dem ersten bedeutenden Werk eines anderen Philosophen, so entspricht der Gedanke einer solchen Re-Integration verbreitetem Meinen bei den jüngeren Juden. „Jesus“, jener „Prophet, der der Messias hätte sein können“, er kehrt endlich zu seinem Volk zurück“, heißt es zur selben Zeit, gleichfalls wenig orthodox, in Ernst Blochs Geist der Utopie (1918), „und sein Name, sogar seine Symbole sind leise und allmählich [...] in das Herz und die Gedanken der jungen, ernsten, nachdenklichen Generation eingegangen“.130 In Brunners Rede wird Christus als „der Auszug des jüdischen Geistes und Höhepunkt der prinzipiellen Vollendung des jüdischen Gedankens“ bezeichnet, dem „von der Einheit Jahwehs und von der Einheit des Menschengeschlechts“. Ohne diesen sei er schlechterdings nicht zu verstehen: „die leidenschaftliche Hingabe der Juden an diesen Gedanken hat diesen Menschencharakter Christus

125 Zit. n. Lenzen, Jesusbilder (wie Anm. 120), S. 475. 126 Vgl. Timo Vasko: Die dritte Position. Der jüdisch-christliche Dialog bei Schalom Ben-Chorin bis 1945. Helsinki 1985, S. 50. 127 Ben Chorin, Jesus-Bild (wie Anm. 120), S. 61. 128 Vgl. Stenzel, Philosophie (wie Anm. 1), S. 21. 129 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 16), S. 305, 302, 305 u. 319. 130 Ernst Bloch: Gesamtausgabe. Frankfurt a.M. 1971. Bd. 16, S. 378, 323. Zum Gnostizismus, der sich mit Blochs Judentum in diesem Buch verbindet, sowie zum Vorbehalt Gershom Scholems und Walter Benjamins seiner ‚Christologie‘ gegenüber vgl. Elke Dubbels: Figuren des Messianischen in Schriften deutsch-jüdischer Intellektueller 1900–1933. Berlin, Boston 2011, S. 160 f.

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hervorgebracht“. Mehr noch, im paradigmatischen und exklusiven Sinne gelte von ihm: er „ist und bleibt der Jude der Juden, der Jude mit der höchsten Kraft des Judeseins und recht eigentlich also die Spitze des Judeseins, zu der man nicht auf andere Art als am Judentum hinaufgelangen kann“.131 „Euer Christentum“, gibt er den Angehörigen der jüngeren Religion zu verstehen, „ist Judentum“, mit dem indes „Missbrauch“ getrieben werde. So bleibe ihnen nur die Alternative: „Ihr müßt euren Namen ändern oder euer Leben!“132 Unser Christus bezieht sich einige Male auf diesen Text zurück (z.B. 237 f., 430, 437). Unaufhebbar Jude nach „Abstammung“, damit „vom Geblüt und Gemüt seines“ – Christi – „Gedankens“,133 rechnet Brunner in religiöser Bedeutung sich selbst zu den „Exjudaei“, bei dennoch unverbrüchlicher Identifikation mit der jüdischen Schicksalsgemeinschaft und dem Engagement für sie.134 Ausgerechnet dieser ‚outsider‘ ist es, der früh eine Richtung vorgibt, von deren Bilanz er inzwischen nicht mehr wahrgenommen wird. Geschuldet ist dies wohl seinen höchst eigenwilligen Vorstellungen von dem, was „echtes Judentum“135 und Christentum bedeuten. Das Eigentümlich-Jüdische besteht für Brunner nicht etwa in der orthodoxen mosaischen Religion mit ihrer Verpflichtung auf den einzigen, persönlichen Gott, der Israel erwählt, es aus Ägypten herausgeführt, mit ihm einen Bund geschlossen, ihm seine Gebote gegeben und es in das verheißene Land geführt habe. Sein Kern sei vielmehr eine „Verkündigung des Geistes“136 oder „die Lehre der Geistigkeit“ (229). Wohl mit Bedacht sind die letzten Worte von Brunners Buch auf Hebräisch: das „Schemá Jisrael“ aus Deuteronomium 6, 4. Es endet also mit einem „Jahwe echad“ (571, vgl. 226). Dieser „Jahwe echad“ aber ist nicht der eine und einzige Gott, wie ihn sein Volk glaubt, sondern der Geist des einen und allen Seins: „Jahwe echad hatte Moses gerufen. Höre Israel, das Seiende ist unser Gott, das Seiende ist Eines!“ So lautet die Brunnersche Übersetzung des zentralen Bekenntnisses. Von ihm wird dieser Gott als „das Denkende im innersten Menschengeist“ identifiziert (234). Auf diese Weise enthüllt das ‚genuine‘ Judentum sich als a-theistische Mystik.137

131 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 16), S. 326. 132 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 16), S. 270 f. 133 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 16), S. 263. 134 Mehr dazu bei Matthes, Brunner (wie Anm. 16), S. 55. 135 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 16), S. 275. 136 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 16), S. 327. 137 Diesen Aspekt arbeitet schon Miskotte, Wezen (wie Anm. 4) in seiner ausgezeichneten Interpretation als den zentralen Gedanken Brunners heraus.



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Christus nun weise auf „Jahwe echad“ als auf den Kern der Wahrheit hin. Seine Forderung der Liebe zu ihm, die sich in der zu den Menschen erfülle, sei nichts als die Konsequenz aus jener Grundlegung des Einen in der Schrift: „Das mystisch zu erkennende Eine ist der Geist, und die Liebe ist die Modifikation des menschlichen Bewußtseins durch die geistige Erkenntnis.“138 Beides könne nicht voneinander getrennt werden. So sei Christus „gegründet auf das Ganze des jüdischen Geistes“. In ihm, dem „größten Propheten“ des Judentums,139 dessen Verkündigung „keinem kommenden Reich weder für die Erde noch für den Himmel“ gegolten habe – „das Reich [...] ist“ vielmehr „der Geist der Innerlichkeit“ (238) –, in ihm, diesem „jüdischsten aller wahrhaften Juden“ (228, vgl. 433), „war aufgebrochen mit Urgewalt der völlige Sinn des jüdischen Gottgedankens“ (214). Mit ihm gewinne „das Judentum sein Antlitz [...] für die Weltgeschichte“ (433). „Wahrhaft gottlos“ (was offensichtlich aufeinander verweist), sei er die Inkarnation dieses atheistischen Judentums und habe sich selbst auch so „gefühlt“ (238). In seinem „Christentum [...], auf dem höchsten Punkte des Judentums, spricht dieses endlich: Gott, steh auf vom Thron, laß den Menschen sitzen, den wahren Menschen!“ Nicht nur zeitgenössisch aber seien „die Juden“ selbst leider „etwas ganz andres als das Judentum“ gewesen – im „Aberglauben“ befangen eben – „und erkannten nicht die Stimme des Judentums in ihren Propheten, am wenigsten in ihrem größten Propheten: Christus. Christus ist das letzte Wort des Judentums, ob es auch die Juden bis auf den heutigen Tag noch nicht lesen.“ (434) Gerade angesichts der Wirkungsgeschichte von Jahrhunderten der Unterdrückung und Verfolgung in seinem Namen verhalte es sich so, dass „die Juden [...] den Namen Christi aus ihrem Gedächtnis“ permanent „verwischen [...] wollten“ (236), während auf der anderen Seite „‚die Christen‘ ebensowenig davon wissen, daß Christus der Jude der Juden war, vergessen, daß er überhaupt ein Jude war, und machen aus dem Christentum eine Verleumdung des Judentums“ (237). Das bestehende Dilemma ist also ein Doppeltes. Brunner lässt nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass die „Lehre des reinen Jesuismus [...] Judaismus“ in der von ihm wieder zurechtgerückten Urform gewesen sei. Damit aber wäre „der Geist des Christentums [...] kein andrer wie der des Judentums, des Juden Christus, der den Propheten folgte, und jener andern Juden, welche dem Juden Jesus Christus folgten.“ In diesem Zusammenhang bemerkenswert erscheint die Hochschätzung auch des Paulus durch Brunner, der für andere herkömmlicherweise erst die Juden- und Christentum voneinander scheidenden Elemente in letzteres eingeführt hat. So berufen sich die Christen zu Unrecht auf

138 Matthes, Brunner (wie Anm. 16), S. 54. 139 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 16), S. 272, 279.

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Christus, und die Juden, welche das Recht dazu hätten, verfehlen mit ihm ihr eigentliches geistiges Erbe. „Aufgefaßt werden“ dürfe Christus nämlich „einzig und allein [...] vom Standpunkt aus der Lehre von den Geistigen und vom Volke, [...] als […] Offenbarer der Wahrheit des Einen, so wundervoll übereinkommend mit dem, was Spinoza und was Moses gelehrt haben.“ Er selbst, versichert Brunner schon in der Rede der Juden, „predige damit“ eben nur „das alte: ‚Höre Israel, das Seiende ist unser Gott, das Seiende ist Eines‘“.140 Mit alledem geht Brunner über die Rückbezüge irgendeiner Traditionseinbettung weit hinaus. Worauf sein Postulat der ‚Heimholung‘ des mystischen Genies abzielt, ist eine umwälzende Reform, sowohl des Juden- als auch des Christentums, die Auflösung ihrer bisherigen Kernbestände, in der das „Heil für beide“ wäre. Über Person und Lehre Christi schließt er sie in einem Neuen, eigentlich aber von jeher wie künftig Bestehenden, zusammen. „Christus“ – gemeint ist damit jener „echte Christus des Judentums“, dessen Lehre „in ihrer Reinheit“ wieder herzustellen sei –, er „muß hinein in die Synagogen! Das ist der neue Weg der Vervollkommung, auf den ich die Juden weise, das ist mein Geschenk an sie“. Brunner fordert das gemeinsame Bekenntnis: „Jesus Christus der Jude!“ Diese „Wahrheit“ adressiert er auch an die (wie wir wissen) schon zeitgenössisch keineswegs so kleine Gruppe derjenigen, „welche sich an kein Dogma, an keine Konfession, an keine Religion mehr gebunden halten“, gehöre dieser Jude doch der ganzen Welt, da an ihn „die Grund- und Schwungkraft unserer Kultur geknüpft“ sei, die ihre Erfüllung im Gedanken der einen „Menschheit“ finde.141 Wenn man so will, träumt auch Brunner – und weitaus umfänglicher als alle anderen – auf seine Weise den Traum der deutsch-jüdischen Literatur von (mit einer Wendung Stefanie Leuenbergers) „der Erlösung durch Christus“.142 Die Tendenz, ihn selbst und seinen jüngeren Bruder im Geiste, Spinoza, aus dem Judentum zu eliminieren, „als wären sie nie dagewesen“, respektive sie als dessen „Schreckenskinder“ zurückzuweisen,143 kreidet Brunner nicht nur antisemitischen Hetzschriften, sondern mehr noch Texten jüdischer Autoren an. Skandalöserweise „fein abgeschirmt“, ja geradezu „verrammelt“ bleibe das Judentum vor Spinoza jedenfalls ebenso wie Christus gegenüber: „Den beiden größten Genien aus dem Schoß der Judenheit [...], in die der ganze Saft des Prophetis-

140 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 16), S. 272, 287, 263, vgl. 290 f., 310. 141 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 16), S. 269, 267, 280, 263 (vgl. 264), 318, 283 u. 295 (2x). 142 Stefanie Leuenberger: Schrift-Raum Jerusalem. Identitätsdiskurse im Werk deutsch-jüdischer Autoren. Köln 2007, S. 47 (mit Verweis auf Franz Werfel, Max Brod, Stefan Zweig und Else Lasker-Schüler). 143 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 16), S. 358, vgl. 36; Spinoza übrigens auch als Vertreter des „wahren Christentums“ (ebd., S. 310). Vgl. Stenzel, Philosophie (wie Anm. 1), S. 375 f.



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mus gefahren und aufgestanden erscheint, wird heute noch von den orthodoxen Juden geflucht.“144 Die spärlichen zeitgenössischen Reaktionen auf Brunners einheitsmystischatheistische Konvergenzphilosophie sind vorhersehbar ablehnend. Paul Althaus etwa, renommierter Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen und Präsident der „Luther-Gesellschaft“, kritisiert in einem 1930 veröffentlichten Aufsatz (Die Frage des Evangeliums an das moderne Judentum) Brunners Herangehensweise, welche für ihn, wie alle Mystik, die Begegnung Gottes mit dem Menschen im Gegenüber von Ich und Du verfehle: „Es wäre lehrreich und bedeutsam, wie hier ein Jude Christus sich aneignet und in den Mittelpunkt des Lebens stellt – wenn er es als Jude täte. Aber er tut es als Mystiker. Und Mystik ist nicht Judentum.“ Althaus, der mit dieser Unterscheidung wohl etwas Richtiges trifft, fährt fort: „Gegen diesen Juden müssen wir die Wirklichkeit des ganz unmystischen Judentums aufrufen; gegen diesen Versuch, Jesus als Mystiker in Anspruch zu nehmen, die ganz unmystische Wirklichkeit des Lebens Jesu.“145 Spiegelverkehrt fällt die nahezu parallele Kritik der Orthodoxen im „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ an des Autors „christologischer Orientierung“ aus. Auch hier stört man sich ganz überwiegend an Brunners mystischer Christusauffassung.146 Beide Male wird ihm abgesprochen, die Identität des jüdischen Glaubens zu repräsentieren. Unter den säkularen Intellektuellen jüdischer Herkunft hatte zuvor schon, von seinen eigentümlichen Prämissen her, Theodor Lessing Brunners „Bemühungen, Christus [...] durchaus für das Judentum in Anspruch zu nehmen“, knapp abgefertigt.147 „Du Christus, du lebst unter uns, die uralte, die glühneue Wahrheit, du lebendiger Christus; es ist nichts gestorben von dir als dein Leib, du ewig lebendiger Christus: Jesus Christus heri et hodie, ipse et in aeterna!“ (486). Direkt vor

144 Brunner, Pflichten (wie Anm. 117), S. 41. Eine „hagiographisch“ grundierte Verbindung von Spinoza und Christus findet sich übrigens schon in Berthold Auerbachs Spinoza-Roman von 1837. Vgl. Leuenberger, Schrift-Raum (wie Anm. 142), S. 47. 145 Zitiert nach Tanja Hetzer: „Deutsche Stunde“. Volksgemeinschaft und Antisemitismus in der politischen Theologie bei Paul Althaus. München 2009, S. 129. Der Aufsatz des Theologen beschäftigt sich über Brunner hinaus mit Martin Buber, Max Brod und Franz Rosenzweig, drei weiteren „durchaus modernen, literarisch und philosophisch geschulten Denkern“, die sich tiefgreifend mit dem Verhältnis von Judentum und Christentum auseinandersetzen (zit. n. ebd., S. 126). 146 Vgl. Avraham Barkai: „Wehr dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893–1938. München 2002, S. 238–245, bes. 238, 242. 147 Theodor Lessing: Jüdisches Schicksal 1926. In: Ders.: Wortmeldungen eines Unerschrockenen. Publizistik aus drei Jahrzehnten. Hg. von Hans Stern. Leipzig, Weimar 1987, S. 75 (ebenso wie die ganz andere Kennzeichnung Christi als durch Blüher sei dies „gezwungen, in Vorurteil befangen und – ein wenig lächerlich“).

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dem „Anhang“ des Buchs kulminiert die Christusverehrung Brunners in einem nicht kenntlich gemachten Zitat aus dem neutestamentlichen Hebräerbrief (13, 8). Ob ihm bewusst war, dass die von ihm kursiv gesetzte Formel in der wichtigsten Liturgie der Christenheit, jener der Osternacht, als Lobpreis Verwendung findet? Mit seinem Buch hat der Philosoph des a-theistischen einen Seins jedenfalls selbst eine Art überdimensionalen Christushymnus verfasst. Natürlich tritt in ihm (auf anfechtbare Weise) ein ganz anderer Christus und ein ganz anderes Judentum zutage als in der Forschung oder erst recht dem Bekenntnis der Gläubigen. Was bleibt, hat Gösta Lindeskog ebenfalls schon gesehen: die lohnende Herausforderung nämlich, ob in irgendeiner Form gleichwohl eine innere Verwandtschaft zwischen dem reinen Monotheismus des Judentums und ‚spinozistischem‘ Denken der Einheit des Seins bestehen könnte.148 Außerdem scheint über die mögliche (oder gar eine spezifische) ‚Religiosität‘ unter den Bedingungen der westlichen Moderne das letzte Wort noch lange nicht gesprochen. Wenn man ihn denn zur Kenntnis nähme, vermöchte dieser in die weltanschaulichen Diskurse seiner Zeit so eng verwobene Constantin Brunner zweifellos immer noch als Katalysator für offene Fragen zu wirken.

148 Lindeskog, Jesusfrage (wie Anm. 5), S. 125 f.

IV. Antisemitismus und Antizionismus

Irene Aue-Ben-David

Der leidende Patriot. Constantin Brunner und der Erste Weltkrieg* Lachen Sie nicht, wenn Sie mich, dem die Politik bisher so fremd lag, so ernsthaft über die augenblicklichen Tagesbegebenheiten reden hören. [...] Es stehen für uns die Rechte der Menschheit auf dem Spiele – die Rechte der Menschheit. Das ist eine Phrase, aber die Rechte, die unsere Berechtigung in der Gesellschaft bedingen, man will uns den Boden unter den Füßen in unerhörter Weise entziehen, es sind empörende Waffen, die man gegen uns schwingt; Waffen, gegen die uns der bloße Kampf entehrt, der Sieg keinen Ruhm bringen kann, Waffen, die es mich bitter & wie einen Fluch empfinden lassen, daß ich ein Deutscher Unterthan bin. Ich habe mein Deutschland lieb. Ich kenne seine Entwickelung & jeder Zoll seiner wachsenden Größe erfüllt mich mit Stolz, mit Begeisterung – aber ich beweine, was mein Vaterland so schmählig schändet & seiner Größe ein ewiger Schandflecken bleiben wird.1

Diese Passage stammt aus einem Brief des 22-jährigen Berliner Studenten Brunner, den dieser kurz nach den Reichstagswahlen im Oktober 1884 an seine Kölner Freundin und Förderin Johanna Löwenthal schrieb. Er schildert darin seine Eindrücke des Wahlkampfes und der Wahlen, aus denen unter anderem mit einem erheblichen Zuwachs an Sitzen im Reichstag die politische Heimat Adolf Stoeckers in diesen Jahren hervorgegangen ist: die Deutschkonservative Partei. Mit dem „wir“ und „uns“, in dessen Namen er spricht, meinte er die deutschen Juden.2 Der „Schandfleck“, der das deutsche Vaterland laut Brunner ewig schände und ihn sein Land beweinen lässt, ist der Antisemitismus, den er in diesen Tagen als „vollkommen organisirte Partei, deren gewaltiger Uebermacht wir über kurz oder lang erliegen werden“,3 wahrnahm. „Der leidende Patriot. Constantin Brunner im Ersten Weltkrieg“ lautet der Titel dieses Beitrags – anhand dieser kurzen Briefpassage kann man jedoch sehen, dass Brunner nicht erst und nicht nur im Ersten Weltkrieg litt. Bereits dreißig Jahre bevor

* Für Kommentare und Hinweise danke ich Elisabeth Gallas (Wien) sowie Gerhard Lauer und Jür­gen Stenzel (Göttingen). 1 Brief von Constantin Brunner an Johanna Löwenthal vom 30. Oktober 1884, abgedruckt in: Constantin Brunner. Ausgewählte Briefe 1884–1937. Hg. von Jürgen Stenzel und Irene Aue-BenDavid. Göttingen 2012, S. 48–52, hier S. 50 f. 2 Dies erläutert er in einem anderen Brief an Johanna Löwenthal vom 11. November 1884, abgedruckt in: Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 53 f., hier S. 53. 3 Brief von Constantin Brunner an Johanna Löwenthal vom 11. November 1884, abgedruckt in: Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 53 f., hier S. 53.

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Brunner sich publizistisch zu diesem Themenkomplex äußerte, kämpfte er mit zwiespältigen Gefühlen gegenüber seinem deutschen Vaterland und bereitete ihm der Antisemitismus, den er in Berlin beobachtete, größte Sorge. Brunners in seinen Schriften und Briefen zum Ausdruck kommende Vaterlandsliebe, diese emotionale und kulturelle Bindung an sein Land, stellt jedoch nur eine Facette dessen dar, was er als Patriotismus bezeichnet hat. Überdies maß er ihm eine zentrale Funktion für die Aufrechterhaltung des Rechtsstaates bei – seine Forderung nach einer positiven Bindung an das Land und seine Institutionen führt damit also direkt in seine staatsphilosophischen Vorstellungen hinein, die er vor dem Ersten Weltkrieg formulierte, aber erst 1918 veröffentlichen konnte.4 Constantin Brunners staatspolitische Positionen und seine Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg sind durchaus eigenständig und eigenwillig. In der bisherigen Forschungsliteratur ist dies gänzlich unberücksichtigt geblieben.5 Wie Brunner mit seinen spezifischen politischen und staatstheoretischen Perspektiven auf die Zäsur des Ersten Weltkriegs reagierte, der einerseits ein Höhepunkt des deutsch-jüdischen Patriotismus war, mit der Zählung der jüdischen Kriegsteilnehmer im Oktober 1916 aber andererseits für viele jüdische Staatsbürger eine tiefe Krise in der Stellung zu ihrem Heimatland auslöste, soll im folgenden aufgezeigt werden.6 Inwiefern die Ereignisse sein Denken beeinflußt haben, gilt es dabei im Besonderen zu berücksichtigen.

Der Patriotismus der deutschen Juden Brunners Patriotismus war nicht außergewöhnlich, sondern ein in der jüdischen Bevölkerung des Kaiserreichs und darüber hinaus weit verbreitetes Phänomen.7

4 Constantin Brunner: Der Judenhaß und die Juden [1918]. 5. Aufl. Berlin, Wien 2004. 5 So fand er zum Beispiel bei Ulrich Sieg keinerlei Erwähnung. Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe. Berlin 2001. 6 Sieg, Intellektuelle (wie Anm. 5). Zur sogenannten „Judenzählung“ siehe Werner T. Angress: The German Army‘s „Judenzählung“ of 1916. Genesis – Consequences – Significance. In: Leo Baeck Institute Yearbook 23 (1978), S. 117–135; Jacob Rosenthal: „Die Ehre des jüdischen Soldaten“: die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen. Frankfurt a.M. 2007. Ulrich Sieg weist darauf hin, dass sich nur wenige Reaktionen jüdischer Intellektueller zu der Armeeerhebung finden lassen – sie hätten eine öffentliche Auseinandersetzung dazu für sinnlos erachtet: Sieg, Intellektuelle (wie Anm. 5), S. 87–96, hier S. 92–95. 7 Siehe Erik Lindner: Patriotismus deutscher Juden von der napoleonischen Ära bis zum Kaiserreich: zwischen korporativem Loyalismus und individueller deutsch-jüdischer Identität. Frank-



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Diese „Liebe zu einer Kultur und einem Land, das die jüdische Bevölkerung seit Jahrhunderten aus religiösen und später antisemitischen Gründen diskriminierte und verfolgte“, wie Erik Lindner treffend schreibt, mag in der Tat „auf den ersten Blick überraschend“8 sein. Eine den Landesautoritäten gegenüber loyale Haltung unter den Juden kann in vielfältigen Ausprägungen schon in früheren Zeiten festgestellt werden, so etwa während des Absolutismus, als gute Beziehungen zum Landesherren einen wichtigen Schutz in Zeiten rechtlicher und sozialer Diskriminierung bieten konnten. Zur Zeit der Aufklärung entstand eine politisch-idealistische Einstellung gegenüber dem Gemeinwesen und der Idee einer deutschen Kulturnation. Im Zuge der Akkulturation der deutschen Juden und der mit ihr einhergehenden Bildungsadaption wurde gerade dieser kulturelle Aspekt des Patriotismus wichtig – der im Übrigen auch in Brunners Patriotismus deutlich hervortritt. So etwa in seiner ausgeprägten Liebe zur deutschen Sprache, für Luthers „Deutsch“ – und der entsprechenden Kränkung, als der Sprach- und Literaturwissenschaftler Eduard Engel ihn öffentlich für die Verwendung von Fremdwörtern kritisierte.9 Während der rechtlichen Gleichstellung im Laufe des 19. Jahrhunderts war der Patriotismus in seiner politischen Dimension auch Demonstration des Integrationswillens der deutschen Juden und ab der Reichsgründung dann Ausdruck ihres neuen staatsbürgerlichen Selbstbewusstseins, welches offenbar auch für den jungen Brunner nachhaltig prägend war: Hier war ein circa 200 Jahre geführter Kampf um Emanzipation zu seinem erfolgreichen Abschluss gekommen.10 War die bürgerliche auf nationale Einheit drängende Nationalbewegung vor der Reichsgründung durchaus ein Forum, in dem deutsche Juden sich stark engagierten, wurden die Stimmen von Nationalisten vor allem nach der Reichsgründung schnell laut, die den Juden ihre Zugehörigkeit zur Nation sowie ihre Integrationsfähigkeit in die deutsche Gesellschaft – zunächst aufgrund der religiösen Differenz, später aus rassistischen Gründen – absprachen. In der Gründerkrise der

furt a.M. 1997; David Aberbach: European Jews, Patriotism and the Liberal State 1789–1939: A Study of literature and social psychology. London [u.a.] 2012. Zum jüdischen Patriotismus in Deutschland, S. 38–67. 8 Lindner, Patriotismus (wie Anm. 7), S. 13. Auf Lindner aufbauend auch die folgende Darstellung. 9 Siehe Eduard Engel: Deutsche Stilkunst. Wien 1911, S. 151. Siehe auch Brunners Brief an Engel, abgedruckt in: Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 182–184 sowie in einem Brief an seine Stieftochter Lotte Brunner, abgedruckt in: Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 259–262, hier S. 261 f., Anm. 6. 10 Siehe Peter Pulzer: Rechtliche Gleichstellung und öffentliches Leben. In: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hg. im Auftrag des Leo Baeck Instituts von Michael A. Meyer unter Mitwirkung von Michael Brenner. Bd. 3: Umstrittene Integration 1871–1918. Hg. von Steven M. Lowenstein u.a. München 1997, S. 160–165.

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1870er Jahre gab man die Schuld für die ökonomische Situation den Juden und 1880/81 fanden sich 250.000 Menschen, um die sogenannte Antisemiten-Petition zu unterschreiben, in der die Aufhebung der rechtlichen und sozialen Gleichstellung der Juden gefordert wurde. Antisemtische Parteien wurden gegründet, die ihre Forderungen bis in den Reichstag trugen – bei den Wahlen 1893 erzielten sie 2,9% der Stimmen und 16 Sitze. Dies hatte aber keinen Einfluss darauf, dass viele deutsche Juden weiterhin Partioten waren – ihr zugleich Deutsch- und Judesein nicht in Frage stellten.

Brunners Auffassung vom Patriotismus Die spannungsvolle Beziehung der deutschen Juden zum deutschen Staat beschäftigte Constantin Brunner nicht nur in seiner privaten Korrespondenz. Laut seiner Stieftochter Lotte hat er schon in seinen früheren Jahren ein „Judendrama“ verfasst, das zeitlich um 1870 angesiedelt war und in dem Judentum und Patriotismus die hauptsächlichen Themen gewesen sein sollen.11 Auf dasselbe Jahr 1893, als er die Arbeit an der Herausgabe der Zeitschrift Der Zuschauer aufnahm und sich in der Kritik der literarischen Moderne übte,12 wird auch die Abfassung seiner Rede der Juden: Wir wollen ihn zurück! datiert, mit dem uns ein früher Text Brunners zum Thema Christentum und Judentum vorliegt. Es ist eine wütende, bisweilen kämpferische Rede gegen den Antisemitismus, in der Brunner die Ignoranz der Christen gegenüber den jüdischen Grundlagen ihres Glaubens anklagt sowie fordert, dass man Christus als Juden anerkennen solle. Auch Brunners Selbstverständnis als deutsch-jüdischer Staatsbürger findet hier Ausdruck: Und desgleichen widersprechen wir der Idee des christlichen Staates. Als Deutsche widersprechen wir ihr – denn wir sind Deutsche, wie ihr Deutsche seid, und sind Juden, wie ihr Juden seid, – was unser beiderseitiges Verhältnis zur ewigen Wahrheit betrifft, ist der Unterschied nur, daß wir, bei genauerer Kenntnis unserer Abstammung, auch mit unsrer Herkunft und Geschichte an dieser ewigen Wahrheit Haft und Halt haben. Als Deutsche widersprechen wir der falschen Theokratie, weil die der Idee unseres deutschen Staates widerspricht, und weil bei ihr die Staatshoheit, die Staatseinheit, die Staatsgesundheit nicht besteht – der Staat muß in solchem Verhältnis zu allen Staatsbürgern sein, daß sie

11 Ein Manuskript ist leider nicht erhalten geblieben. Lotte Brunner: Es gibt kein Ende. Die Tagebücher. Hg. von Leo Sonntag und Heinz Stolte. Hamburg 1970. S. 64, Eintrag vom 20. Januar 1911. 12 Siehe dazu den Beitrag von Peter Sprengel in diesem Band.



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in Freiheit ihre Kräfte zum eignen Nutzen und zum Nutzen der Gesamtheit entwickeln und entfalten können.13

Hier wird in Ansätzen schon deutlich, worin Brunner sich von anderen deutschen Juden absetzte: er argumentierte als Deutscher, nicht als deutscher Jude – und sollte später auch nur noch von „Deutschen jüdischer Abstammung“ sprechen. Gleichwohl forderte er einen Staat ohne konfessionelle Prägung, der all seinen Staatsangehörigen die Freiheit gebe, „zum eigenen Nutzen und zum Nutzen der Gesamtheit“ leben zu können. Diesen Text veröffentlichte Brunner nicht 1893, sondern erst 25 Jahre später, als letztes Kapitel seines schon genannten Buches Der Judenhaß und die Juden nach Kriegsende im Jahr 1918.14 Das Buch ist eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, den Brunner als Form des Menschenhasses ansah und als Judenhass bezeichnete. Es ist zugleich eine erste Darstellung seiner staatstheoretischen Vorstellungen und Konzeptionen, aus denen deutlich wird, was seine Vorstellung des (deutschen) Staates war und warum er unter anderem die Idee des christlichen Staates ablehnte.15 Laut Brunner ist jeder Mensch Egoist und die Ungleichheit der Menschen ein natürlicher Zustand. Der Staat ist für ihn „die Verkörperung des unentbehrlichen Gemeinschaftsegoismus oder des Rechts, wodurch verhindert wird, daß die Egoisten, die Menschentiere, einander fressen, und wodurch das Gleichgewicht der Egoismen erhalten wird“16 – hierin liegt auch der Grund für Brunners Ablehnung sozialistischer und anarchistischer Positionen.

13 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 289. 14 Wir wissen Dank Lotte Brunner, dass der Text vor der Drucklegung überarbeitet wurde – in welchem Umfang dies geschah, ist jedoch nicht bekannt. Lotte erwähnt lediglich, dass Brunner seine Rede in der Rückschau zu „kalt“ erschienen sei, und er befürchtete, dass dies die Wirksamkeit des Textes herabsetze. Auch habe er den Begriff Gott gestrichen, da er sich sorgte, dass „gute Leute“ davon abgeschreckt werden könnten. Lotte Brunner, Tagebücher (wie Anm. 11), 24. Juli 1913, S. 93. Überhaupt hatte Brunner laut Lotte einige Erwartungen an dieses Buch zum Judenhass, an dem er seit 1911 gearbeitet hatte und das 1913 weitestgehend abgeschlossen war. Er erhoffte sich davon einen „weitgreifenden Erfolg“, der helfen solle, „das Hauptwerk – Die Lehre von den Geistigen und dem Volk – vorwärtszustossen“. Lotte Brunner, Tagebücher (wie Anm. 11), S. 88, Eintrag vom 28. Oktober 1912. 15 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 94–132. Zu Brunners Rechts- und Staatsphilosophie siehe Manfred Walther: Recht, Zwang und Freiheit oder: Der Rechtsstaat als Egoismus zweiter Stufe: Brunners Rechts- und Staatsphilosophie. In: „Ich habe einen Stachel zurückgelassen...“ Beiträge zum Constantin Brunner-Symposium Hamburg 1995. Hg. von Jürgen Stenzel. Essen 1995 (Brunner im Gespräch 4), S. 119–140. 16 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 98.

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Das Verhältnis von Staat und Nation benennt Brunner wie folgt: Die Nation sei „das Innen, die Seele, das Leben [...] zu dem Außen, dem Körper Staat.“17 Oder anders formuliert: Eine Nation bilden die durch eigengeartetes Gemeinschaftsbewußtsein und durch Verantwortungsgefühl untereinander verbundenen und für einander einstehenden Bürger eines Staates, – die nach außen und nach innen (für die Freiheit der Nation und des einzelnen, Imperium et Libertas) und damit für die Erhaltung des Staates einstehenden Bürger; der Staat ist der Gemeinschaftsegoismus oder die einheitliche Organisation solcher Einrichtungen und zwangsweise ausführbaren Bestimmungen, durch welche das Leben der Staatsbürger, d.i. der einzelnen Egoisten, als ein Leben des Rechts und der Freiheit möglich wird.18

Der Staat sei „die Organisationsform, in der die Nation als die Gesamtheit derer lebt, die aus politischem Willen zusammenleben wollen“.19 Er sei der allgemeine oder zweite Egoismus, ohne welchen der erste des einzelnen Menschen und also überhaupt menschliche Lebensfürsorge unmöglich wäre. Dem Kampfe aller Lebewesen gegen alle Lebewesen, woraus die völlige Lebensunmöglichkeit der einzelnen Egoisten sich ergibt, steht gegenüber die Hilfe aller durch alle. Indem die Natur dem menschlichen Egoisten vorzugsweise den Trieb zum gesellschaftlichen und geselligen Leben und zum Leben im Staat einpflanzte, hat sie damit seine Gattung mehr als andre Gattungen von Lebewesen auf die gegenseitige Hilfe der Individuen gestellt, ohne daß darum diesen ein anderes Prinzip als das des Egoimus eigen wäre; ihr Egoismus, ihre Lebensfürsorge schließt das Leben in der Geselligkeit und im Staate wesentlich in sich.20

Dem Patriotismus kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung zu, ist er laut Brunner doch der Ausdruck der Bürger, eine Nation sein zu wollen; er hält somit die Gemeinschaft zusammen. Manfred Walther hat hervorgehoben, dass der Rechtsstaat vor allem für die Juden von zentraler Bedeutung sei, da sie als „die geschichtlich fixierten anderen [...] im Recht und im Staat die einzigen Garanten ihrer [...] Gleichheit [haben]; ihr eigenes Interesse ist daher mit einem solchen modernen Rechtsstaat, der die Rechtsgleichheit institutionalisiert, in besonderer Weise verbunden.“21 Der Glaube an den Rechtsstaat und seine Institutionen bildete entsprechend die Grundlage des spezifisch deutsch-jüdischen Patriotismus, so auch Brunners. In diese Überzeugung fügte sich auch seine Ablehnung des Zionismus, der dem deutsch-jüdischen Integrationsprojekt zur

17 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 98. 18 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 99. 19 Walther, Recht (wie Anm. 15), S. 134. 20 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 97. 21 Walther, Recht (wie Anm. 15), S. 134.



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Gefahr zu werden drohte.22 Aber auch den „falschen Patriotismus“23 der Nationalisten und Alldeutschen sah Brunner als großes Problem des staatlichen Gemeinwesens an: In Der Judenhaß und die Juden beschreibt er die Gefahren dieser „verwirrten Vaterlandsliebe“: „Vaterlandsliebe, welche soweit sie Gefühl ist und ohne die Erleuchtung durch den Gedanken bleibt, kann um so eher verwirrt und betäubt werden.“24 Hier formulierte Brunner auch zugleich, worin er seine politische Aufgabe sah: Ist die Vaterlandsliebe ein Gefühl ohne Gedanken, „so sind die Philosophen verpflichtet, sie wiederum zu wecken, zu stärken, zu klären durch die wahrhafte Aufklärung über den natürlichen Grund, auf welchem sie steht in der menschlichen Natur, und ihre Wurzeln zu nähren.“25 Während Staat und Nation also quasi durch das Naturgesetz oder den Trieb zur gemeinsamen Lebensfürsorge funktionieren und im besten Fall Recht und Freiheit für seine Bürger schaffen, ist nach Brunner die Beziehung zwischen den Staaten durch „Nichtrecht, Gewalttätigkeit, Naturzustand, Selbsthilfe, welche keine Schranken kennt als die von der Natur gesetzten“,26 gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund sind kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Nationen nicht zu vermeiden und die Vorstellung, dass ein Völkerrecht Kriege vermeiden könne, in Brunners Augen absurd und ohne jede Grundlage.27

Brunner im Krieg Was wird, wer kanns wissen? Ich meine eine leise Stimme zu vernehmen, die spricht: Noch Größeres wird für unser Vaterland, als gewesen! Die allgemeine Erhebung ist wunderbar; wunderbarer wie die von 70 und selbst die von 13.28

22 Zu Brunners Zionismuskritik siehe den Beitrag von Jacques Aron in diesem Band. 23 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 15), S. 374. 24 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 97. 25 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 97. 26 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 107. 27 Eine Position, mit der Brunner offenbar keineswegs alleine war: Ulrich Sieg zufolge haben weite Teile des deutschen Bürgertums das Völkerrecht für wertlos erachtet. Sieg, Intellektuelle (wie Anm. 5), S. 69. 28 Brief von Constantin Brunner an Ernst Altkirch vom 19. August 1914, abgedruckt in: Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 273. Zu Brunners Kriegsbegeisterung in den ersten Wochen des Krieges siehe vor allem die Korrespondenz mit Ernst Altkirch und Borromäus Herrligkoffer vom August 1914. Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 272–275.

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Die Euphorie der ersten Kriegstage hatte auch Constantin Brunner in ihren Bann gezogen, wie aus diesen Zeilen an seinen Freund Ernst Altkirch deutlich wird.29 Die heraufbeschworene Einheit der Nation, die Wilhelm II. mit den Worten auf den Punkt brachte, er kenne keine Parteien mehr, er kenne nur noch Deutsche,30 traf einen zentralen Punkt in Brunners Haltung zum Staat – mit dem „Burgfrieden“ schien für einen Moment eine Einheit Deutschlands Wirklichkeit geworden zu sein, die er sich so sehr für sein Land wünschte.31 Brunner war aufgrund seines Alters nicht an der Front, obwohl er offenbar gerne dabei gewesen wäre.32 Er lebte damals 52-jährig mit seiner Frau Rosalie (genannt Leoni) und Stieftochter Lotte in Potsdam. Von dieser häuslichen ‚Heimatfront‘ aus verfolgte er das Kriegsgeschehen. Schnell legte sich seine Euphorie der ersten Tage. Für Brunner sollten die Kriegsjahre Jahre des Schreibens, aber nicht des Publizierens werden.33 Gründe waren der Papiermangel, die

29 In der Historiographie wurde lange Zeit unhinterfragt von der „jüdischen Kriegsbegeisterung“ bis zur Zählung der jüdischen Kriegsteilnehmer in der deutschen Armee im Jahr 1916 ausgegangen. Ulrich Sieg wies – basierend auf neueren Forschungen zum „Augusterlebnis“ – darauf hin, dass die Realität „vielstimmig[er] und komplizierter“ sei als man bisher angenommen habe. Sieg, Intellektuelle (wie Anm. 5), S. 53. Zum August 1914 siehe unter anderem Jeffrey Verhey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Hamburg 2000. Zum deutschen Judentum im Ersten Weltkrieg: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916–1923. Ein Sammelband. Hg. von Werner E. Mosse unter Mitwirkung von Arnold Paucker. Tübingen 1971 (Schriftenreihe des Leo Baeck Instituts 25); Clemens Picht: Zwischen Vaterland und Volk. Das deutsche Judentum im Ersten Weltkrieg. In: Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. Hg. von Wolfgang Michalka. München 1994. S. 736–757; Peter Pulzer: Der Erste Weltkrieg. In: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hg. im Auftrag des Leo-Baeck-Instituts von Michael A. Meyer unter Mitwirkung von Michael Brenner. Bd. 3: Umstrittene Integration 1871–1918. Hg. von Steven M. Lowenstein u.a. München 1997, S. 355–380. 30 Zum Ausspruch dieser Worte am 1. August, dem Tag der Mobilmachung, sowie erneut in seiner Thronrede am 4. August 1914 siehe Verhey, Geist von 1914 (wie Anm. 29), S. 118, S. 261. 31 Zur Bedeutung der „Burgfriedenrede“ des Kaisers im deutschen Judentum siehe Sieg, Intellektuelle (wie Anm. 5), S. 63. Siehe auch Peter Pulzer, der zu der Einschätzung kam, dass „[d]ie Verkündung des Burgfriedens in Deutschland [...] Juden mehr moralischen Auftrieb als irgendein anderes Ereignis seit Inkrafttreten der Gleichberechtigung 1869 [gab].“ Pulzer, Weltkrieg (wie Anm. 29), S. 358–362, 352. 32 Brief von Constantin Brunner an Ernst Altkirch vom 19. August 1914, abgedruckt in: Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 273: „Mein Lieber, wenn Sie noch mitkönnen, glücklich werden Sie sein. Ich wollte, ich könnte auch. Nichts Andres brennt mir jetzt im Herzen als Vaterland und Krieg.“ 33 Aber auch daheim fällt es Brunner nicht leicht zu schreiben, wie aus den Aufzeichnungen Lotte Brunners zu erfahren ist, die sich sorgt, dass Brunner sein Hauptwerk nicht weiterführt. Dieser wollte sich mit abstraktester Theorie beschäftigen – als „Medikament“, wie er schreibt (S. 144). Es gelingt ihm aber nicht immer. Gegen Ende des Krieges begann er an seinem ChristusBuch zu arbeiten (Unser Christus oder das Wesen des Genies. Berlin 1921), erste Überlegungen



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Zensur34 und der Hass, der die Berichterstattung auf allen Seiten in zunehmendem Maße charakterisierte. Schon im Oktober 1914 schrieb er an Ernst Altkirch: Ich auch selber hätte heißgern mich geäußert in diesen großen Tagen. Aber da kann ich nicht mit. Der Ton der Presse ist roher als der des Krieges draußen; und wer nicht mitjohlt, Deutschland ist die Tugend und die andern Länder sind die Verbrecher, der gilt als ein Vaterlandverräter. Das treibt mich zurück ins Schweigen, und so mögen alle die kleinen Fichtes reden.35

Dass Brunner dieses Schweigen keineswegs leicht fiel, er nach Möglichkeiten suchte, seine Texte auch trotz der Zensur zu verbreiten36 und damit rang, wie sein Beitrag zu den politischen Ereignissen aussehen könnte, hat Lotte Brunner in ihrem Tagebuch festgehalten.37 Brunners Positionen zum Krieg lassen sich vor allem zwei während und nach den Kriegsjahren entstandenen „Vorworten“ zu

dokumentiert Lotte Brunner im November 1917 (S. 277 f.). Im März 1918 machte er sich erste konzeptionelle Gedanken für sein 1924 erschienenes Buch Liebe, Ehe, Mann und Weib (S. 285). Die Seitenangaben beziehen sich auf Lotte Brunner, Tagebücher (wie Anm. 11). 34 Lotte Brunner, Tagebücher (wie Anm. 11), 30. Dezember 1915: „Vaters Aufsatz Deutschenhaß und Judenhaß (das Vorwort zum Judenbuch) ist von der Zensur derart beschnitten worden, daß überhaupt alles auf den Judenhaß unmittelbar Gesagte, sogar die zweite Hälfte des Titels, weggestrichen ist. Infolgedessen hat Vater natürlich von einer Veröffentlichung in Nord und Süd Abstand genommen.“ Zur Zensur im Ersten Weltkrieg siehe Wilhelm Deist: Zensur und Propaganda in Deutschland während des Ersten Weltkriegs. In: Ders.: Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preussisch-deutschen Militärgeschichte. München 1991, S. 153–163. 35 Brief von Constantin Brunner an Ernst Altkirch vom 8. Oktober 1914, abgedruckt in: Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 274 f., hier S. 275. Auf den besonderen Loyalitätsdruck, dem sich die Minderheit der deutschen Juden ausgesetzt fand, hat Ulrich Sieg hingewiesen: Sieg, Intellektuelle (wie Anm. 5), S. 61. 36 Siehe dazu den Tagebucheintrag von Lotte Brunner: „In den letzten Wochen beschäftigt Vater der starke Wunsch, seinen Aufsatz Deutschenhaß und Judenhaß der Zensur zum Trotz bekanntzumachen. ‚Denn es könnte doch dieser oder jener dadurch zur Besinnung gelangen, und vor allem könnte manchem Juden Trost dadurch werden. Wie ein Kranker sich beruhigt fühlt, wenn er die Gesetzmäßigkeit seiner Krankheit erkennt; denn hiermit ist sein Fall aus der Isoliertheit ins Allgemeine erhoben. Alles Erlösen ist nichts als ein Klarmachen. Und gerade die Einfachheit meines Gedankens und wie er so einfach entwickelt ist, muß wirken. Das Wahre ist ja immer einfach und immer das Ei des Kolumbus.‘ – Vater ist auf die Idee geraten, den Aufsatz in fünfhundert oder tausend Exemplaren herzustellen und diese privatim an zuverlässige Leute zu verschicken, die sie weitergeben sollen. Aber ehe er so etwas unternimmt, muß er sich genau vergewissern, in welchem Grade er sich durch eine derartige Umgehung der Zensur strafbar macht, wenn überhaupt.“ Lotte Brunner, Tagebücher (wie Anm. 11), 31. August 1916. 37 Siehe zum Beispiel Lotte Brunner, Tagebücher (wie Anm. 11), 4. Januar 1917: „Sollte das geschehen, was ich freilich nicht erwarte, daß Deutschland zerschmettert wird – dann muß ich sprechen und an meinem Teil versuchen, ihm wieder aufzuhelfen, heute muß ich fast ganz

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seinem 1918 veröffentlichten Der Judenhaß und die Juden entnehmen.38 Ergänzend finden sich in den Tagebuchaufzeichnungen Lotte Brunners und der Korrespondenz Brunners weitere Kommentierungen der Geschehnisse sowie Einblicke in das Privatleben an der ‚Heimatfront‘.39 „Aller Krieg war Friede gegen diesen“, so Brunner, und, er sei ein „riesenentsetzliches Naturereignis, welches jemals auskam in der Menschheit.“40 Dass der Erste Weltkrieg eine neue Qualität hatte, schien Brunner von Beginn an bewusst gewesen zu sein. Er sah ihn von zentraler Bedeutung für Deutschland: „Nach seiner politischen Bedeutung geht es mit diesem Kriege um die Befestigung von Deutschlands Großmacht unter den Großmächten und um die Anerkennung Deutschlands nach seiner Eigentümlichkeit – der Dreißigjährige Krieg der konfesionelle, dieser der politische Toleranzkrieg.“41 Zu einem tiefen Einschnitt in seiner Haltung zum Krieg führte dann jedoch schon früh die Schlacht von Gorlice-Tarnów Anfang Mai 1915. Den Mittelmächten war es damals gelungen, die russische Armee zurückzuschlagen. In der Folge wurde ganz Russisch-Polen besetzt. Für Brunner hätte mit dem Sieg über die Russen der Krieg beendet werden müssen, die deutschen Eroberungen kritisierte er daher aufs Schärfste: „An die Möglichkeit, daß wir solche Politik treiben würden, die uns zu Fall bringen mußte, konnte ich so wenig denken wie an Selbstmord.“42 Die Schuld für diese Politik gab Brunner den „eroberungslüsternen Alldeutschen“, den „inneren Feinden, die schlimmer sind als die äußeren“.43 Deutschland habe sich lenken lassen von der Partei „mit der schlechtesten Politik und dem falschen Patriotismus.“44 Und Deutschland werde dafür einen hohen

schweigen und will sogar gerade jetzt beginnen, meine Gedanken wieder für mein eigentliches Arbeiten zu sammeln.“ 38 Brunner, Unter dem Krieg. In: Ders., Judenhaß (wie Anm. 4), S. 333–361. Der Text ist in weiten Teilen identisch mit seinem Text: Deutschenhaß, Judenhaß und die Ursache des Krieges, in: Nord und Süd 41, Bd. 160, Nr. 508 (Januar 1917), S. 46–65. Er entstand zwischen Mai 1915 und September 1917. Brunner, Unter dem Frieden. In: Ders., Judenhaß (wie Anm. 4), S. 361–387 (verfasst bzw. abgeschlossen im Juli 1919). 39 Die Rede ist von Essensmangel, Gewichtsabnahme Brunners und Teuerung – gar ein Umzug in eine günstigere Wohnung wird erwogen. Die finanzielle Unterstützung durch Brunners in London lebende Mäzenin Frida Mond kommt in den Kriegsjahren zum Erliegen. Freunde schicken stattdessen Geld und Lebensmittelpakete – Würste und Schinken lösen Freudenstürme aus. Lotte Brunner, Tagebücher (wie Anm. 11), S. 125–299. 40 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 333 f. 41 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 345. 42 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 334. 43 Lotte Brunner, Tagebücher (wie Anm. 11), 9. August 1918. 44 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 374.



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Preis zahlen müssen: „Unser Reich geht nicht unter, sondern kommt zur hohen und höheren Herrlichkeit wieder auf. Aber die Meisten von uns, vielleicht wir Alle, die wir den Krieg gelitten haben, werden ihn leiden bis an unser Ende und werden den Haß und die Rache dieses Krieges leiden bis an unser Ende, und die gestorbene Freiheit wird uns jeden Tag von neuem sterben, bis an unser Ende.“45 Der Erste Weltkrieg war in vielerlei Hinsicht gänzlich verschieden von vorhergehenden Kriegen – er wurde als moderner Krieg bezeichnet, unter anderem aufgrund des Einsatzes und der Menge von neuen Waffen, der Verwendung von Giftgas und auch einer sich der neuen Medien wie dem Film bedienenden folgenreichen Kriegspropaganda, die die Welt bis dato noch nicht gesehen hatte.46 Nach dem Einmarsch des Deutschen Reichs in das neutrale Belgien und Nordfrankreich im August und September 1914 und dem Bekanntwerden der von der Deutschen Armee dort verübten Kriegsverbrechen an Zivilisten, wurden diese Ausgangspunkt einer ausgeprägten „Greuelpropaganda“ der Westmächte gegen Deutsch­land:47 „‚Belgium‘ became shorthand for the moral issues of the war.“48 Der darin ausgedrückte Deutschenhass sowie die etwa von Frankreich und den Vereinigten Staaten formulierten ‚moralischen‘ Kriegsziele, einer Befreiung der Welt vom deutschen Militarismus und der Vermeidung weiterer Kriege, zogen Brunners besondere Aufmerksamkeit auf sich.49 Zu den Ereignissen in Belgien verlor er hingegen kein Wort, so auch nicht zu anderen vieldiskutierten Themen des Krieges wie beispielsweise der Frage, ob man einen uneinge-

45 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 335. 46 Dass die von staatlicher Seite organisierte Kriegspropaganda zunehmend an Bedeutung gewann, zeigt Wolfgang Kruse: Der Erste Weltkrieg. Darmstadt 2009, S. 84–89. Brunner kommentiert diese „neue“ Qualität des Krieges in einem Brief an Ernst Altkirch im November 1914 folgendermaßen: „Ich habe so meine eignen Gedanken bekommen über das neue Wie und Was der Entscheidung in modernen Schlachten, auch überhaupt über den modernen Krieg, der vielleicht entgenialisiert und völlig philologisiert worden ist!“ Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S.  276–278, hier S. 276. 47 Kruse, Weltkrieg (wie Anm. 46), S. 86. Zur späten und aufgrund der Quellenlage schwierigen – und, wie einige der Besprechungen zeigen, bis heute umstrittenen Beurteilung des Ausmaßes der deutschen Kriegsverbrechen siehe John Horne und Alan Kramer: Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit. Aus dem Englischen von Udo Rennert. Hamburg 2004. Dazu die kritische Besprechung von Peter Hoeres in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 http://www. sehepunkte.de/2004/07/6108.html (15.07.2013). 48 Sophie de Schaepdrijver: Occupation, Propaganda and the Idea of Belgium. In: European Culture in the Great War. The Arts, Entertainment and Propaganda 1914–1918. Ed. by Aviel Roshwald and Richard Stites. Cambridge 1999, S. 267–294, hier S. 268. 49 Zum „Krieg der Geister“ siehe Kruse, Weltkrieg (wie Anm. 45), S. 76–84.

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schränkten U-Boot-Krieg führen solle.50 Brunners Schriften während des Krieges sind nicht primär als eine Kommentierung der Ereignisse zu verstehen. Vielmehr bezog er sich selektiv auf die Kriegsereignisse und -folgen, um seine Theorien und Gedanken weiter zu verdeutlichen und auszufeilen. Seine Analyse des Judenhasses nahm dabei eine zentrale Stellung ein.51

Deutschenhass und Judenhass Der die antideutsche Propaganda durchziehende Hass veranlasste Brunner zu der Aussage, man möge diesen Krieg keinen politischen nennen, „sondern in eine Klasse mit den Kreuzzügen, mit den Hexenverbrennungen, mit den Ketzergerichten, mit den Judenverfolgungen aus religiösen oder rassentheoretischen Motiven“ rechnen.52 Ausführlich beschreibt er die hasserfüllten Darstellungen der Deutschen in aller Welt – „satanische Scheußlichkeiten verüben sie, ‚denen die Bosheit tierähnlicher Wesen eignet‘, vergiften Brunnen, schlachten Kinder, üben Verrat, Treubruch, Hintertücke jeder Art bis zu den fürchterlichsten Graden“53.

50 Einzig in Lotte Brunners Tagebuch findet sich ein Eintrag aus der Zeit vor dem Einmarsch, vom 6. August 1914: „Was unsre Regierung jetzt beschließt, billigt Vater aus Herzensgrund – besonders, daß mit dem Durchmarsch durch das neutrale Belgien dem Völkerrechtchen so schön auf den Bauch getreten werden soll. Sehr richtig. Für uns gilt jetzt beißen und kratzen.“ (Lotte Brunner: Constantin Brunner im Tagebuch von Lotte Brunner, Manuskript im Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum Berlin, Constantin Brunner Collection I, 1-2). Ulrich Sieg hat darauf hingewiesen, dass viele Deutsche den Einmarsch in Belgien als „Notwehr“ betrachtet hätten. Sieg, Intellektuelle (wie Anm. 5), S. 69 f. Es ist nicht davon auszugehen, dass man an der deutschen ‚Heimatfront‘ nichts von den Vorwürfen der Westmächte gegen das Verhalten der deutschen Armee in Belgien gewusst habe. Ausdruck dessen ist beispielsweise der „Aufruf an die Kulturwelt“ vom 4. Oktober 1914, in dem sich Repräsentanten des deutschen kulturellen Lebens gegen die Vorwürfe der Westmächte wandten. Jürgen und Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf „An die Kulturwelt!“ Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Stuttgart 1997. 51 Auch hier muss darauf hingewiesen werden, dass Brunner selbst bei diesem Thema selektiv blieb. Die Erhebung der jüdischen Beteiligung am Militärdienst vom 11. Oktober 1916, die für viele deutsche Juden einschneidende Folgen für ihr Verhältnis zum deutschen Staat und dem Krieg hatte, bleibt bei Brunner unerwähnt. 52 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 349, Anm. 198. 53 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 336. Mit dem „Schlachten von Kindern“, das Brunner hier nennt, ist vermutlich das Abhacken von Händen belgischer Kinder gemeint, dessen man deutsche Soldaten beschuldigte und das wiederholt in der antideutschen Propaganda erwähnt wurde. So unter anderem im vom britischen War Propaganda Bureau herausgegebenen Bryce Report, in dem die Kriegsverbrechen der deutschen Armee in Belgien unter anderem auf Basis von



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Die Wortwahl deutet hier schon an, was Brunner kurz darauf explizit macht – die Darstellung der Deutschen ähnelte in seinen Augen zutiefst jener, die die Antisemiten für die Juden gefunden hatten: „Der Judenhaß sieht dem Deutschenhaß ähnlich wie ein Wasser dem andern –: dieselbe erbärmliche moralische Kritik und Klatscherei, dieselbe Entstellung des Bildes von den Gehaßten, dieselbe Verleumdung ihres Geistes und Gemüts bis in den letzten tiefen Grund, dieselbe Mythologie der Verleumdung.“54 „Wurden die Deutschen in Juden verdreht?“, fragte sich Brunner. „Gehen die Juden aus? Sind ihre Seelen in die Leiber der Deutschen gefahren? Wer die deutsche Judenhaßliteratur kennt, greift sich an den Kopf vor dieser Deutschenhaßliteratur: da ist ja kein Unterschied; kein überhängendes Wort weder dort noch hier.“55 Nachdem er in seinem Der Judenhaß und die Juden den Antisemitismus als Judenhass und das Hassen psychologisch-anthropologisch begründet hatte, exemplifizierte er diese Argumentation anhand der zeitgeschichtlichen Ereignisse des Krieges. Er beschreibt in weitgehender Parallelisierung des Deutschenhasses mit dem Judenhass, welche Auswirkungen ersterer haben könnte; von der Zerstreuung der Deutschen unter die Völker ist die Rede, von „Ghetti“, „Deutschengassen“, in die man die Deutschen pferchen würde, von der Schwierigkeit einer späteren Emanzipation und vom Betrug an ihren Rechten. Da aber die Deutschen zahlenmäßig den Juden in Judäa so sehr überlegen seien, werde der „Deutsche Krieg“ nicht enden wie damals der „Jüdische Krieg“.56

Zeugenaussagen dokumentiert wurden. Der Bericht des Historikers James Bryce wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und gezielt propagandistisch verbreitet. Vor allem in den Vereinigten Staaten erzeugte er einen starken Widerhall. James Bryce. The Bryce Report on Alleged German Outrages. 12. Mai 1915, http://www.firstworldwar.com/source/brycereport.htm (7.7.2014). 54 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 345. Brunner war nicht der einzige, der eine Parallele zwischen Juden- und Deutschenhass sah und zog. Auch Eugen Fuchs (1856–1923), einer der Mitbegründer des Centralvereins, deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens sah im Hass gegen die Juden eine Parallele zum Deutschenhass. Eugen Fuchs: Kriegsvortrag (vom 23.11.1914). In: Ders.: Um Deutschtum und Judentum. Gesammelte Reden und Aufsätze (1894–1919). Im Auftrage des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens hg. von Leo Hirschfeld, Frankfurt a.M. 1919, S. 141–155, S. 153: „Der Haß, dessen sich die Juden erfreuen, ist etwas, was sie mit den Deutschen teilen. Wir haben jetzt einen Haß gegen das Deutschtum gesehen, dem nur noch ein Haß der Weltgeschichte gleicht, der Haß gegen die Juden. Diese Gemeinsamkeit des Hasses wird ihnen zeigen, daß die meistgehaßten Menschen nicht die schlechtesten sind, daß jüdische und deutsche Eigenart sehr geistesverwandt ist; man möchte das Wort prägen, daß die Deutschen die Juden unter den Völkern sind.“ 55 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 338 f. 56 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 343–345.

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Mit seiner Analyse wollte Brunner zeigen, dass dem Antisemitismus in Deutschland nach dieser ‚deutschen Erfahrung‘ jegliche Berechtigung fehle und appellierte dementsprechend an das Land selbst: „Wenn irgendwann, dann, du Vaterland, ist heute der Tag, dich zu besinnen über den Judenhaß und zu lernen, daß der Haß nicht nur und nicht immer schlimm ist für den Gehaßten, sondern auch und immer für den Hassenden; denn ein Leiden ist der Haß, welches auch andere will leiden machen.“ Und er fährt fort: Du Vaterland du, du gehaßtes und hassendes: nach dem Maße der Erfahrung an dir selber in diesen großen Tagen des Geschehens, der Geschichte, steht von nun an auch der Judenhaß grundloser da als bisher und ebenso viel schlechter zu verteidigen und will aufgegeben sein. Oder scheust du noch diese Gemeinschaft mit Zusammenstellung Deutschenhaß und Judenhaß, so hör frisch auf, sie zu scheuen, und kein Mucks! fortan und beiß dir auf die Zunge, mit anderem Worte als mit dem häßlichen Worte Hassen deine häßliche Krankheit zu benennen oder von der Schuld der Juden zu sprechen; damit ist‘s quitt für immer, seitdem mit den gleichen Worten von der Schuld der Deutschen gesprochen wird. Eine Wage her zum Gericht – die Schuld der Juden in die eine, die Schuld der Deutschen in die andere Schale – sie weiß keinen Unterschied!57

Hier kommt zum Ausdruck, wie sehr die rhetorische Figur des Vergleichs von Deutschen- und Judenhass Brunners Blick auf den Ersten Weltkrieg dominierte. Diese Perspektive war von seiner Sorge um den Antisemitismus und die Inklusion der Juden in Deutschland geprägt. Um diese Parallelisierung aufrecht erhalten zu können, stellt er die Deutschen primär als Opfer der Propaganda dar – für eine Auseinandersetzung mit der Kriegsführung der Deutschen und dem realen Gehalt der Propaganda der Kriegsgegner an der deutschen Kriegsführung blieb hierbei kaum Raum.

Moral und Krieg Der auf den britischen Autor und Kommentator H. G. Wells zurückgehende Slogan, der Krieg gegen die Deutschen sei der „war to end all wars“ bringt eine moralische Haltung der Westmächte im Krieg gegen Deutschland auf den Punkt, der Brunner zutiefst widersprach. Kriege waren nach Brunners Verständnis nicht vermeidbar, er beschrieb sie als letztes Mittel der Politik58: „Rasse, Nationalität, Verfassung, Wirtschaft,

57 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 342. 58 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 349, Anm. 198.



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gesellschaftliche Gliederung, um das alles bleibt Kampf und Verwirrung, mit dem Kampfe verbunden bleiben Haßerscheinungen und Vorurteile, welche die Menschheit niemals überwinden wird, und dieser Krieg wird nicht der letzte Krieg sein.“59 Zudem kann nach Brunners Verständnis die Politik – und damit der Krieg als Teil von ihr – aufgrund der „unveränderlichen Menschennatur“60 niemals moralisch sein. Vor diesem Hintergrund machte er sich auch keine Illusionen darüber, dass ein Völkergericht ein Beitrag zu einer gerechteren, kriegsärmeren Welt sein könnte: [N]immer kann den Kriegen durch ein Völkergericht der Gerechtigkeit Einhalt geboten werden, so hübsch auch gleich diejenigen, welche diesen Gerichtshof einführen wollen, mit Gerechtigkeit gegen uns anzufangen gedenken, mit Gerechtigkeit, Bestrafung und Belehrung. Es wird nach diesem Kriege nicht so bald wieder Krieg sein, auch ohne Völkergericht: aber Krieg wird wieder sein, trotz Völkergericht.61

Seiner Meinung nach werde der Völkerbund hingegen nicht in der Lage sein, Kriege zu verhindern, er stellte in Brunners Augen eine Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln dar: [W]ozu braucht denn eigentlich ihr Menschen mit dem Palmenzweige, wozu braucht ihr übrigen, ihr moralischen Völker, einen Völkerbund? Zunächst wohl gegen uns. Dieser Völkerbund ist zunächst nur gegen uns die Friedenshaßentente. Mit ihrem Palmenzweig wollen sie uns vollends den Rest geben; das ist für sie die rechte Friedenspolitik: Fortsetzung des Krieges mit andern Mitteln, mit wirksameren. Gerechtigkeit ist ein vernichtenderes Mittel als Giftgas, Unterseekrieg und Aushungerung. Dieser Völkerbund bedeutet zunächst nur, daß unsre Feinde dauernd zusammenhalten wollen zu unserer Niederhaltung und daß sie das Himmelreich auf Erden und in Deutschland die Hölle einrichten möchten.62

Der Völkerbund führe zu einer Verschlechterung der Verhältnisse und schaffe die Basis für den nächsten Krieg: „Niemals war ein Krieg gewisser als der nächste Krieg, der Zweite Deutsche Krieg.“63 Nach dem Kriegsende sei deutlich geworden, dass Deutschland mit dem Friedensvertrag von Versailles keinen Frieden machen könne und eine derartige Entmachtung eines so großen Volkes nicht möglich sei. Brunner benennt dabei unmissverständlich, wie Deutschland wieder an die Macht kommen werde: „Deutschland wird Macht und Recht wiedererlangen,

59 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 353. 60 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 360. 61 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 353. 62 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 367. 63 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 367.

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aber nicht durch Völkerbund und Gerechtigkeit: durch Krieg, durch den Zweiten Deutschen Krieg.“64 Brunner bot keine Perspektiven für eine bessere, friedlichere Welt an. Aber im Juni 1918 beschreibt er das Szenario eines anderen Umgangs mit dem Krieg und stellt dieses seiner Gegenwart gegenüber: Ein altes Buch schildert ein Reich, in dessen Geschichte es an Kriegen nicht fehlt, aber: die vaterländischen Jahrbücher erwähnen von diesen Kriegen nicht allzuviel; sie beschränken sich hauptsächlich auf Erzählung von friedlichen Begebenheiten, Gesetzen, Einrichtungen und Erfindungen. Und die aus dem Kriege heimkehrenden Sieger werden nicht wie bei uns mit Illuminationen, Siegesgepränge, Freudengeschrei und Te Deums empfangen. Vielmehr verleben sie einige Zeit in tiefer Zurückgezogenheit und Stille, gleichsam als schämten sie sich ihres mit dem Blut ihrer Mitmenschen erkauften Sieges. Danach wird vom ganzen Lande ein Fest begangen mit ernsten Gedanken über das, was die Menschen zur Uneinigkeit und zum Streit bewegt und sie zu Ursachen des fremden und eignen Unglücks macht; und alle Parteien und alle Vertreter der verschiedenartigen Vaterlandsgenossen bekunden feierlich und nachdrücklich den entschiedensten Willen zum Frieden und zur Duldsamkeit untereinander.65

„Zurückgezogenheit und Stille“ statt Siegesparaden sind Brunners präferiertes Szenario nach einem Krieg, und er schlägt ein Fest „mit ernsten Gedanken“ vor, auf dem die Einheit des Landes unter anderem durch das Dulden der „verschiedenartigen Vaterlandsgenossen“ beschworen wird. Eine Einheit des Landes war seines Erachtens nur durch den Patriotismus aller Deutschen, unabhängig welcher Herkunft sie seien, zu erreichen – und gerade darin sah er das größte Manko Deutschlands: vor und nach dem Krieg. Noch im Oktober 1918 diagnostizierte Brunner: „Es fehlt unsrem Vaterlande an der Vaterlandsliebe, an der Vaterlandsleidenschaft. Darum geschieht ihm nun dies, was ihm sonst nimmer geschehen könnte – denn es würde weiterleben in seiner Kraft oder kämpfend untergehen – aber nein, es würde weiterleben in seiner Kraft!“66 Staatspädagogik und Nationalpädagogik seien von größter Bedeutung, denn die „Bewußtheit über den Staat und über den besonderen Staat der eigenen Zugehörigkeit“ müssten geschärft werden. Als Ideal beschrieb er einen „in allen seinen Gliedern bewußt organische[n] Staat, d.h. eine vom Bewußtsein und dem Geiste ihres Staates durch und durch erfüllte und ganz und gar der Arbeit für ihn lebende Nation.“67

64 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 167. 65 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 360 f. 66 Brief von Constantin Brunner an Arthur Kirchhoff vom 23. Oktober 1918, abgedruckt in: Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 294 f., hier 294. 67 Brief Brunners an Kirchhoff (wie Anm. 66), S. 294 f.



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Den Ausgang des Krieges reflektierend sah er zentrale Gründe für die Kriegsniederlage in der „schlechtesten Politik“ der Deutschnationalen und ihrem „falschen Patriotismus“: Deutschland hat gesiegt und ist zusammengebrochen. Es hat den Krieg nicht gewollt, es hat keine Eroberungen gewollt: als aber der Krieg gekommen und Deutschland im Siegen war, da konnte es nicht genug kriegen [...], schwollen in seiner Phantastie und Gelüst die Grenzen des Landes immer mehr an; da ließ es sich lenken von der Partei mit der schlechtesten Politik und dem falschen Patriotismus.68

Zu dieser Partei zählte er Militärs, Junker, Oberlehrer und einige Studentenverbindungen. Sie würden sich als deutschnational bezeichnen, und damit das exklusive Recht in Anspruch nehmen, die „eigentlichen Deutschen zu sein“: „Die übrige deutsche Nation kennen sie nicht, anerkennen sie nicht als deutsch.“69 Vom politischen Wandel, der Ausrufung der Weimarer Republik versprach sich Brunner das Ende der Macht der Deutschnationalen. Nun könne sich nicht mehr eine Partei als die eigentliche Nation darstellen und das Vaterland für sich reklamieren: „Das hat aufzuhören in Deutschland, das hat aufgehört in Deutschland. Die Sozialdemokraten sind nun auch Deutsche, die Liberalen sind nun auch Deutsche, und die Deutschen von Abstammung jeglicher Art, eingeschlossen die von jüdischer Abstammung, sind nun auch Deutsche.“70 Die Herkunft und ursprüngliche Abstammung sei völlig unerheblich dafür, ob jemand Deutscher sei oder nicht – hier lehnt Brunner erneut rassistische Definitionen des Deutschseins ab. Deutscher, so erklärt er, sei lediglich ein „politisch-nationaler Begriff“.71 Mit der jungen Republik verband Brunner auch die Hoffnung, dass sie dem rassistischen Antisemitismus ein Ende in Deutschland bereiten würde – ohne sich dabei der Illusion hinzugeben, dass dies zum Ende des Judenhasses führen würde – für diesen würden sich immer neue Gründe finden.72 Es war ihm bewusst, dass es nur zeitlich begrenzt ‚keine Parteien und keine Konfessionen‘ mehr in Deutschland geben würde: Und unter uns, sobald nur die Zuchtrute weggetan, kommt wieder die Verhärtung im Üblen: es beginnt von neuem die Raufzeit der Parteien und Rotten wie vor dem Kriege und entdeckt sich, daß der Haß im Lande schwieg nur, weil er auf andres draußen gescheucht und abgelenkt und weil „Kriegszustand“ war, d.h. die Bestie im Käfig. Comment suspendu; danach

68 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 374. 69 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 375. 70 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 377. 71 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 377. 72 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 377.

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(es muß nicht gleich nach dem Friedensschluß sein, aber gleich nach dem Schluß mit dem Kriegszustande!) kommt der einheimische Ferienhaß, der ausgeruhte wieder an die Reihe – das Maß, das Riesenmaß Haß, vom Anfang her den Menschen zugeteilt, weicht nicht aus seinem Orte und vermindert sich nicht.73

Diese wenig optimistische Einschätzung brachte Brunner zu keiner anderen Analyse als vor dem Kriege – im Gegenteil. Von hier ausgehend formulierte er seine Forderung nach Patriotismus an die „Deutschen jüdischer Abstammung“ nur noch schärfer. Diese seien mit dem Aufkommen des Deutschenhasses „von heute an doppelte Juden geworden – auch als Deutsche“. Nach der Erfahrung des Krieges und des „doppelten Hasses“ sollten sie nun ihrem „Vaterland ordentlich dienen“ – im Dienst am Vaterland sah er eine Möglichkeit des Schutzes vor dem Judenhass.74 Zugleich jedoch auch eine „nationale Pflicht“: „Kein Deutscher jüdischer Abstammung [...] hat das Recht zum Zionismus, vielmehr hat jeder die nationale Pflicht zum Kampf gegen den nationalfeindlichen und staatsfeindlichen Judenhaß. [...] Und darum verletzt der Deutsche jüdischer Abstammung als Zionist seine Staatsbürgerschaft und schädigt andere Staatsbürger.“75 Brunners Plädoyer galt deutlich der Republik, der er am ehesten die Fähigkeit zutraute, einen Rechtsstaat zu begründen. Eine deutliche Absage erteilte er hingegen der Revolution, „die nicht weniger fürchterlich und zu fürchten [...] [ist] als [...] [der] Krieg.“76 Brunner betrachtete die Revolutionäre als gefährliche „Glücklichmacher“, da sie der Menschheit die „Illusion der Moral“ lehren wollen – Gleichheit und Gerechtigkeit waren zwar auch für Brunner Ideale, aber er glaubte nicht, dass sie realisierbar seien. Insofern seien Krieg und Revolution hier gleichermaßen unwirksam: „Der Krieg schafft keine Gerechtigkeit, und die Revolution schafft keine Gerechtigkeit. Was schafft dann die Revolution? Unten nach oben, wie wir gesehen haben; weiter nichts. Haben und Behaltenwollen und auf der andern Seite Nichthaben und Bekommenwollen, darum dreht sich

73 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 339. Dass der Antisemitismus während des Ersten Weltkriegs keineswegs zum Erliegen gekommen ist, sondern im Zuge der sich verschlimmernden Kriegslage im Gegenteil an Bedeutung gewann, zeigt Werner Jochmann: Die Ausbreitung des Antisemitismus. In: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916–1923. Ein Sammelband. Hg. von Werner E. Mosse unter Mitwirkung von Arnold Paucker. Tübingen 1971 (Schriftenreihe des Leo Baeck Instituts 25), S. 409–510. 74 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 347. Eine Position, die Brunner keineswegs allein vertrat: Zum Patriotismus der deutschen Juden als Schutz vor Antisemitismus siehe David Engel: Patriotism as a Shield. The Liberal Jewish Defense against Antisemitism in Germany during the First World War. In: Leo Baeck Institute Yearbook 31 (1986), S. 147–171. 75 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 378. 76 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 368.



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alles.“ Und er fährt fort: „Die Revolution ist der Egoismus des Volkes, Gerechtigkeit und Gleichheit seine dazu gebrüllte Moral.“77 So sehr Brunner auch eine Veränderungsfähigkeit des Menschen verneinte, erhoffte er sich von seiner aufklärenden Analyse des Hasses und seiner Darstellung der fatalen Folgen des „falschen Patriotismus“ während des Krieges doch durchaus eine Wirkung: Für die Leidenden bietet sie Trost und Arznei des Vergleichens und Seelenerhebung in das Allgemeine, und auch von den Nichtleidenden – dieser und der dürfte einen Stoß in das Entgegengesetzte empfangen und gewaltsam wenigstens bis an die Türe gebracht werden, hinter der nichts anderes eingesehen wird als das Richtige, und gewollt nur Gutes, und vom Rechte verlangt, daß es mit dem Recht übereinstimme.78

Ausblick Rückblickend auf den Beginn des Krieges konstatierte Brunner, dass die Aussage, wir kennen keine Parteien mehr, „Betrug“ gewesen sei: Liberale, Sozialdemokraten, unter ihnen natürlich auch solche von jüdischer Abstammung, glaubten wirklich, daß von Stund an sie das echte deutsche Hurra vollberechtigt mit den herrschenden Deutschen würden mitschreien dürfen; das schien Vielen gewaltig begehrenswert. Man ließ sie in dem Wahn, bis man sie hatte und ihrer sicher war, daß sie nicht wieder davon konnten und helfen mußten.79

Als auch damit der Krieg nicht zu gewinnen war, sei dieses „echte Nationalgefühl der Parteien“ schnell verschwunden und vom falschen Patriotismus der deutschnationalen Partei ersetzt worden. Brunner resümierte: „Aber im Ganzen fehlt uns dieses nur alles zu sehr, fehlt uns Nationalgefühl und Einigkeit.“80 Erst wenn Deutschland den falschen Patriotismus ablege, könne es wieder aufkommen – „im Zweiten Deutschen Kriege“. Und Brunner erläuterte, was er sich davon erhoffte und grenzte sich gegen Kriegsphantasien ab, die nicht die seinen sind:

77 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 369. Entsprechend deutlich und gleichwohl erstaunlich emotionslos hatte Brunner die Ermordung seines früheren Freundes Gustav Landauer bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik kommentiert. Siehe Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 309, Anm. 2. 78 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 347. 79 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 383. 80 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 383.

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Ja, wir, die wir wahrlich nicht durch einen Krieg reaktionäre Wünsche zu erfüllen gedenken, nicht uns rächen wollen, keinen Haß kennen (auch nicht aus Leidenschaft für unser Vaterland) gegen die andern Nationen [...]; wir, die wir den Krieg und alles was mit ihm zusammenhängt, so grundtief verabscheuen – wir erbärmlich Friedfertigen müssen nun ersehnen mit inbrünstiger Liebesglut und segnen diesen verfluchbaren Zweiten Deutschen Krieg, der kommt, uns unser Recht, das ist unsre Macht und unsre Freiheit wieder zu geben.81

Brunner sah nicht, dass dieser Krieg zu seinen Lebzeiten stattfinden würde, insofern sah er für sich nur die Perspektive weiterhin ein leidender Patriot zu bleiben: „Ich muß dich lieben in deiner Schmach und Trauer, mein Deutschland.“82 „Wenn Patriotismus eine Routinefrage oder eine Übungssache wäre, dann müßten wir das patriotischste Volk auf der Welt sein“, so schrieb Hannah Arendt 1943 in ihrer Kritik am Patriotismus der deutschen Juden und ihrer Assimilisationsbereitschaft. Die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens verdeutlichte sie am Beispiel des jüdischen Flüchtlings „Herr Cohn“, der in jedem Land, in dem er vergeblich nach Aufnahme und Schutz suchte, seinen Patriotismus neu unter Beweis zu stellen versuchte.83 Constantin Brunner verließ Deutschland im April 1933 und ging mit seiner Familie ins Exil in die Niederlande, wo er bis zu seinem Tode im Jahr 1937 lebte. War er dort ein „Herr Cohn“ im Arendtschen Sinne? Änderte Brunner seine Auffassung von der Notwendigkeit des Patriotismus durch diesen Lebenseinschnitt? In dem zwischen April und Juni 1933 entstandenen Text Am 6. März äußerte Brunner sich nicht nur deutlich zu den politischen Ereignissen in Deutschland, sondern kam auch auf seine Beziehung zu Deutschland und den Patriotismus zu sprechen.84 Er machte sich keine Illusionen darüber, dass ein Verbleiben in Deutschland zu diesem Zeitpunkt für ihn möglich gewesen wäre: Es ist in mir der Mensch, der ohne sein Maß Recht und Freiheit nicht leben und auch seiner Gabe nicht leben und nicht schaffen kann; es ist in mir der deutsche freie Mensch, für den sein über alles geliebtes Land unbewohnbar geworden. Und im letzten Augenblick noch kam ich davon, nicht als ein Flüchtling, äußerlich bedroht in meiner Person [...], und doch wie ein Flüchtling im Entsetzen über mein eignes, mir feindliches Land kam ich, kam im letzten Augenblick noch dieser Rest von einem Manne davon mit dem Gefühl: So schlimm

81 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 385. 82 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 387. 83 Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge. In: Dies.: Zur Zeit. Politische Essays. Hg. von Marie Luise Knott. Berlin 1986, S. 7–21, hier S. 18. Erstauflage: We Refugees, in: Menorah Journal 31 (1943), S. 69–77. 84 Constantin Brunner: Am 6. März. In: Ders.: Vermächtnis. Hg. vom Internationaal Constantin Brunner Instituut mit einem Vorwort von Magdalena Kasch. Den Haag 1952, S. 49–113.



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es mir geht und so schlimmen Körperzuständen ich entgegen lebe, – ich will doch tausendmal herzlieber in die Hand Gottes fallen als in die Hände der Menschen. Alt, krank, halb blind und ein ganzes rasendes Volk hinter mir her – – – ja doch, auch hinter mir her, wie hinter den Andern her. Hinter Millionen Deutschen her; Deutsche hinter Deutschen her!85

Mit dieser Haltung setzte Brunner sich von vielen partiotischen deutschen Juden ab, die die Emigration aus Deutschland als Versagen oder Betrug am Vaterland aufgefasst hätten und im Land verblieben.86 Für Brunner bedeutete dieser Schritt jedoch keineswegs, an seinem Selbstverständnis als Deutscher zu zweifeln. Er versuchte aber auch nicht, ein patriotischer Niederländer zu werden. Er anerkannte das nationalsozialistische, „dieses“ Deutschland schlichtweg nicht: „Jetzt will der Deutsche heraus aus diesem Deutschland. Dieses Deutschlands Boden ist von Verlogenheit, Verschlagenheit und Greueltaten entweiht [...], das ist nicht Deutschland. Er aber will, muß Deutschland. Sein Herz ist in Deutschland, darum kann er ohne Deutschland nicht leben. Sein Deutschland ist ihm nötig.“ Und weiter: „Das ist nicht Deutschland, das wird nicht anerkannt als Deutschland von mir, der ich Deutschland kenne, weil ich Deutschland bin, ein Stück Deutschland; denn Deutschland besteht doch wohl aus den Deutschen. Das Einzige, was Deutschland entschuldigt, ist, daß Dies nicht Deutschland ist.“87 Auch hier setzte er sich deutlich von anderen national eingestellten deutschen Juden, beispielsweise im Umfeld von Max Naumann ab, die Hitler gewählt hatten und ihren Platz in der NSDAP suchten.88 Hitler war für Brunner ein Despot und das, was man im nationalsozialistischen Deutschland als Patriotismus darstellte, kritisierte Brunner aufs Schärfste: Ich will glauben, daß Deutschland betrogen wird wie noch nie und, daß in Deutschland der Patriotismus ein Geschäft geworden wie noch nie [...], aber – ich selber bin ein Patriot genannt worden (auch von Deutschnationalen und Nationalsozialisten). Und auf jeden Fall verstehe ich vom Patriotismus genug und zu viel, um glauben zu können, Deutsch-

85 Brunner, März (wie Anm. 84), S. 61. Verwiesen sei hier auf Moshe Zimmermanns Arbeit Deutsche gegen Deutsche, der an diesem Punkt ähnlich wie Brunner argumentiert: „Man darf nicht vergessen, dass es nach 1933 und auch nach 1938 ausschließlich aus der Sicht von Antisemiten bei der Beziehung zu deutschen Juden um eine Konfrontation zwischen Deutschen und Juden und nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Deutschen ging.“ Moshe Zimmermann: Deutsche gegen Deutsche. Das Schicksal der Juden 1938–1945. Berlin 2008, S. 14. 86 Aberbach, Jews (wie Anm. 7), S. 64. 87 Brunner, März (wie Anm. 84), S. 59 f. 88 Aberbach, Jews (wie Anm. 7), S.  64. Zu Max Naumanns Verband der nationaldeutschen Juden siehe Matthias Hambrock: Die Etablierung der Außenseiter. Der Verband nationaldeutscher Juden 1921–1935. Köln, Weimar, Berlin 2003. In der Verbandszeitschrift Der nationaldeutsche Jude war wiederholt positiv auf Brunner Bezug genommen worden. Siehe Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 442, 454.

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 Irene Aue-Ben-David

land sei nun patriotisch. Ein ganzes Volk kann nur in gehobenen geschichtlichen Momenten patriotisch beseelt sein; anders läßt sich vom Patriotismus eines Volkes nicht reden, auch nicht von dem meines deutschen Volkes. Die Deutschtümelei steht auf der Höhe ihres Heuchelwesens und – bei einem fast unbegreiflichen Tief- und Schiefstand des Urteils und Geschmacks findet sich die allgemeine Affenübung am Werk zu einem geradezu scheusäligen Patriotismus. Deutschland hat es immer schwer gehabt, zwischen sklavischer Nachahmung des Fremden und krankhaftem Umsichschlagen in Teutomanie, den wirklich eigenen Charakter zu finden und zu halten.89

Trotz alledem fühlte sich Brunner ‚seinem‘ Deutschland auch weiterhin derartig verpflichtet, dass er die Pflicht zum Patriotismus selbst in dieser Stunde hoch hielt. Dies ging so weit, dass er sich sogar in der Verpflichtung sah, selbst der nationalsozialistischen Regierung gegenüber eine gewisse Loyalität walten zu lassen: Er versagte es sich und anderen „Deutschen von jüdischer Abstammung“, das Land öffentlich zu kritisieren: Die Deutschen von jüdischer Abstammung werden nicht vergessen, daß auf heute ein Morgen folgt, und wie Schlimmes sie durch den vom Staat bedienten neuen Aberglauben erfahren haben: daß ihnen ihr Deutschtum und ihre Ehre könne genommen worden sein, das mögen andre in Sinn und Glauben haben; sie selbst werden das nimmer glauben, keine Gewalt und Macht bringt sie dazu. [...] Beides freilich verliert, wer – er mag persönlich noch so hart betroffen sein – gegen Deutschland hetzt, auch wenn er, weit entfernt von der Gesinnung und Absicht, gegen Deutschland zu hetzen, nur gegen dessen jetzige Regierung hetzt; denn es trifft Deutschland. Ich bin mir meiner Pflicht selbst gegen die jetzige Regierung bewußt und denke nicht an Veröffentlichung dieser Schrift, die zunächst für mich entstand in der Art meiner Tagebuch-Aufzeichnungen. Ja, wenn ich dreinschlagen könnte in die Tollheiten der Zeit und Deutschland wieder zu einem Rechtsstaat machen könnte, – ich würde mein Leben geben. Aber diese Schrift jetzt geben, könnte das geringste nicht nützen.90

Brunner ging nicht davon aus, dass es schnelle politische oder gesellschaftliche Änderungen geben könne und betonte wiederholt lange historische Perspektiven. Er machte auch zu diesem Zeitpunkt keinerlei optimistische Aussagen über einen möglicherweise bevorstehenden Wandel zum Guten. Das Schlimmste, was geschehen könne, war in seinen Augen, den Deutschen zu verwehren, Deutsche zu sein:

89 Brunner, März (wie Anm. 84), S. 60. Auch Deutschnationale und Nationalsozialisten suchten die Nähe Brunners, so zum Beispiel der Volksschullehrer und Publizist Wilhelm Schwaner oder auch der Journalist Friedrich Meyer-Schönbrunn. Die Briefe sind abgedruckt in: Brunner, Briefe (wie Anm. 1), S. 427 f., 442–444. Siehe auch den Brief an seinen Freund Borromäus Herrligkoffer vom 7. Mai 1934, in dem er von der Anerkennung schreibt, die ihm von rechter Seite zuteil geworden sei: ebd., S. 502 f. 90 Brunner, März (wie Anm. 84), S. 105 f.



Der leidende Patriot 

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Und sollte dieser Zustand sich verlängern und das deutsche Volk ewig nicht seine Juden zu den Deutschen rechnen, so müßten doch die Juden Deutschlands zum Deutschen Volk sich rechnen, es ist kein andres, zu dem sie gehören, und – ich bitte, die nun folgenden Worte wohl zu bedenken: ihr Unglück würde nicht darin bestehen, Juden zu sein (denn es gibt keine Juden mehr), sondern Deutsche zu sein, die keine Deutschen sein sollen.91

Interessanterweise ist beim ‚Deutschen jüdischer Abstammung‘ Constantin Brunner die Auseinandersetzung mit dem Judenhass so zentral gewesen, dass sie einerseits in seiner Parallelisierung von Deutschenhass und Judenhass zu einer seiner wesentlichen Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg geworden ist, andererseits gab er sich zu keiner Zeit der Illusion hin, dass der Judenhass beendet werden könne. Dies mag auch erklären, warum die Judenzählung von 1916 offenbar im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Juden keinen nachhaltigen Eindruck auf Brunner machte. Seine Vorstellung vom Patriotismus als zentralem Bestandteil zur Gewährleistung der Einheit – und damit der Macht – des Staates ließ ihn trotz seines durchaus konservativen Weltbildes und politischer Einstellungen eine Position einnehmen, die ihn vor deutschnationalem Chauvinismus bewahrte. Der Zionismus war keine politische Alternative für ihn. Brunner verstand sich einzig als deutscher Staatsbürger und nicht als Jude – gleichwohl konnte er die Sorge um die Lage der deutschen Juden nie wirklich abstreifen, sie war vielmehr ein Dreh- und Angelpunkt seines politischen Denkens.

91 Brunner, März (wie Anm. 84), S. 107.

Elisabeth Conradi

Eine Erörterung der „Antisemitenfrage“ bei Constantin Brunner I. „Kein Antisemit ist ein Antisemit“ Heinrich von Treitschke hatte in seinem Artikel Unsere Aussichten im Jahre 1879 behauptet, es sei erklärtes Ziel der Juden, das öffentliche Leben zu beherrschen, und seiner Befürchtung Ausdruck verliehen, dass dies zunehmend der Fall sei. Constantin Brunner untersucht, was Personen des öffentlichen Lebens dazu veranlasst, solche Befürchtungen zu haben und als ihre „Aussichten“ zu verbreiten.1 Für seine Analyse wählt Brunner den Titel „Die Antisemitenfrage“ und steht mit dieser Wahl nicht allein.2 So bedient sich etwa der Student Max Spangenberg in seiner Gründungsrede für die „Freie Wissenschaftliche Vereinigung“, einer „Berliner anti-antisemitischen Studentenorganisation“, 1881 dieses Ausdrucks und formuliert die für ihn damit verbundene Problemstellung: „Wir haben den Zolltarif zum Schutz der nationalen Arbeit, wir haben die Antisemitenfrage zum Schutz der nationalen Gesinnung. Ich wiederhole: Antisemitenfrage, denn die nächste Frage ist jetzt die, was die Antisemiten eigentlich wollen.“3 Die von Max Spangenberg benannte Frage, „was die Antisemiten eigentlich wollen“, hat Constantin Brunner intensiv erörtert. In seinem Buch Der Judenhaß und die Juden, das er noch vor dem Ersten Weltkrieg verfasst hatte und 1918 erstmals veröffentlichte, widmet er dieser Frage ein eigenes Kapitel. In der Mitte des Buchkapitels setzt Brunner zwei Mal ein, um zu erläutern, worin für ihn das Fragliche besteht. Zunächst bricht er den Satz ab, in dem er schreibt, wie „die

1 Jürgen Stenzel danke ich für vielfache Hinweise und Hans-Peter Kunz für freundliche Unterstützung. 2 Schriften über das Thema sind beispielsweise: Hans Bleibtreu: Die Teilung der Erde: Ein offenes Wort zur Antisemiten-Frage. Zweibrücken 1891; Josef Popper-Lynkeus: Fürst Bismarck und der Antisemitismus. Wien 1886. Siehe darüber Christian Stiller: Die Reichsgründung 1871 und die „Antisemitenfrage“. Jüdische Perspektiven auf das Zweite Deutsche Reich. In: Literatur und Nation. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Klaus Amann und Karl Wagner. Wien 1996, S. 343–368. 3 Stud. phil. Max Spangenberg: Unsere Ziele. Gründungsrede, gehalten am 4. Juli 1881. In: Freie Wissenschaftliche Vereinigung. Eine Berliner anti-antisemitische Studentenorganisation stellt sich vor – 1908 und 1931. Hg. von Manfred Voigts. Postdam 2008, S. 20–28, hier S. 24.



Eine Erörterung der „Antisemitenfrage“ bei Constantin Brunner  

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Antisemitenfrage [...] formuliert werden“4 muss und lässt hier eine Reihe von Querstrichen im Text stehen, denen der lapidare Hinweis folgt: „Hier war auch im Schreiben eine Pause.“5 Statt seinen Untersuchungsgegenstand präziser zu umreißen, setzt Brunner sich nunmehr zunächst eingehend mit einer ganzen Reihe von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auseinander, die als Vereins- und Parteigründer aktiv waren sowie feindselige Pamphlete verfassten und verbreiteten. Er erwähnt den Theologen und Politiker Adolf Stoecker (1835–1909), den Verleger und Schriftsteller Theodor Fritsch (1852–1933) sowie den Bibliothekar, Publizisten und Politiker Otto Boeckel (1859–1923). Genannt werden auch die Lehrer Bernhard Förster (1843–1889) und Ernst Henrici (1854–1915), zwei Mitinitiatoren der an den preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck gerichteten „Antisemitenpetition“, die 1880 im preußischen Abgeordnetenhaus diskutiert und mit der gefordert wurde, die rechtliche Emanzipation von 1869 rückgängig zu machen: Die deutsche Nation müsse sich der Herrschaft der Juden entledigen, deren Einwanderung sei zu begrenzen und sie sollten von Beamtenstellen ausgeschlossen werden. Diese und weitere seiner ressentimentgeladenen Zeitgenossen bezeichnet Brunner als die „allermaßgebendsten Persönlichkeiten“.6 Im Hinblick auf die Reichweite ihrer Vorstellungen waren die Meinungsmacher untereinander zerstritten und standen in einer Art Wettkampf um die inhaltliche Ausrichtung ihrer Politik. Einerseits wurden antisemitische Äußerungen zur Unterstützung und Zuspitzung sozialpolitischer Anliegen vorgetragen, andererseits wurden Gesetze gefordert, mit deren Hilfe Jüdinnen und Juden benachteiligt werden sollten. Brunner weist nach, dass diese Autoren einander gegenseitig vorwarfen, was auch von der Presse behauptet wurde, sie hätten einen „undeutschen, jüdischen“ Geist.7 Dass jeden der zentralen Protagonisten, durch einen jeweils anderen oder durch journalistische Urteile in Tageszeitungen, ein ebensolcher Vorwurf trifft, führt Brunner zu einer Argumentationskette, an deren Ende die hypothetische Folgerung steht: „Kein Antisemit ist ein Antisemit“.8 In ihr verbergen sich eine Reihe von Thesen: Erstens überböten sich die von ihm als die „Allermaß-

4 Constantin Brunner: Der Judenhaß und die Juden [1918]. 5. Aufl. Berlin, Wien 2004, S. 3–18, hier S. 10. 5 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 10. 6 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 10. 7 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 10. 8 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 12.

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gebendsten“ bezeichneten Persönlichkeiten in ihren Anforderungen aneinander, so dass zum Schluss keiner den Ansprüchen genügen könne.9 Zweitens gerierten sich die benannten Persönlichkeiten zugleich als Opfer, sie hielten sich „für die unterdrückte Minderheit im Lande, für die edlen Geknechteten, von der Last ihres Grames über Deutschlands Unglück Zerquetschten.“10 Diese Deutung Brunners scheint unter anderem auf die Behauptungen des Historikers Heinrich von Treitschke gemünzt zu sein, der einerseits in seinem Artikel Unsere Aussichten vom „Unglück“ sprach. Andererseits suggerierte von Treitschke in seinem Artikel, er sei eine Art Verfolgter, mindestens durch die Presse, die ihn durch Verhängung eines Tabus daran hindere, bestimmte Behauptungen zu tätigen.11 Brunner beschreibt, was aus der Perspektive seiner ressentimentgeladenen Zeitgenossen das Problem darstellt. Ausführlich schildert er, inwiefern die erwähnten und weitere Personen des öffentlichen Lebens sich „beengt“ fühlten „durch ein Zuviel an Juden“, erläutert, wodurch sie sich übervorteilt, geschädigt sowie bedroht sehen und inwiefern das ihr „Hauptärgernis“ darstellt.12 Brunner kennzeichnet diese Position als antisemitisch. Die hypothetische Folgerung, „Kein Antisemit ist ein Antisemit“, bedeutet für Brunner neben dem gegenseitigen sich wetteifernd Übertrumpfen der zentralen Protagonisten und neben deren vermessener Einbildung, sie würden unterdrückt, drittens auch noch etwas anderes: Im Kapitel seines Buches Der Judenhaß und die Juden, das er der „Antisemitenfrage“ widmet, weist Brunner eine rhetorische Strategie nach, mit deren Hilfe ein Problem nicht nur ‚klein geredet‘ sondern gar der Versuch unternommen wird, es durch geschickte Definition zu eliminieren. Diejenigen, die den Judenhass in ihren Schriften schüren, leugnen zugleich, dass sie dies tun. Sie versuchen durch das Leugnen den Gegenstandsbereich ihrer Kritiker aufzulösen, und wollen auf diese Weise eine Untersuchung darüber vermeiden, was Personen des öffentlichen Lebens veranlasst, derartige Ressentiments zu verbreiten. Das geschieht, indem diejenigen, die antisemitische Schriften verbreiten, das Vorhandensein antisemitischer Schriften bestreiten. Die Behauptung eines Autors, die von ihm verfasste Schrift enthalte keine antisemitischen Äußerungen, und er kenne darüber hinaus auch keine Publikation, in der

9 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 10. 10 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 12. 11 Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten. In: Preußische Jahrbücher 44 (1879), S.  559– 576, hier S. 572. Dieser Artikel und weitere Beiträge zum Konflikt wurden wiederabgedruckt und interpretiert in: Karsten Krieger: Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition. München 2003, S. 6–16. 12 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 3.



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sich antisemitische Aussagen finden, stellt eine rhetorische Strategie des ‚Wegdefinierens‘ dar. Mithilfe dieser Strategie versucht der Autor, seine Kritiker zum Schweigen zu bringen, indem er den Gegenstand der Kritik scheinbar auflöst und damit nicht nur ein Problem unsichtbar macht, sondern seine Lösung verunmöglicht oder zumindest erschwert. Mit Brunners drittem Hinweis, dass durch das Verhehlen eines Problems dessen Lösung erschwert werde, hängt ein vierter Punkt zusammen: Die Autoren antisemitischer Schriften leugnen nicht nur das Vorhandensein antisemitischer Schriften, sondern bestreiten darüber hinaus auch die Existenz von Antisemiten als Urheber solcher Pamphlete. Was in der Behauptung des Antisemiten gipfelt, kein anderer und auch keinesfalls er selbst sei ein solcher. Der Versuch des Autors, sich zu verbergen, unterbindet eine Kritik seiner Thesen. Brunner fasst dies in einem Satz über die „Maßgebenden“ zusammen, der in einer Frage mündet: „Sie beweisen, daß nur Juden leben; gleich wie es in der Natur keinen leeren Raum gibt, so gibt es in der Menschheit keinen nichtjüdischen Menschen: und ich wollte ein Buch schreiben, welches die Existenz von Antisemiten zur Voraussetzung hat?“13 Brunner schöpft nun aus seiner freilegenden Darstellung der rhetorischen Strategie weitere Argumente. Als Reaktion auf diesen vierten Punkt vollzieht er eine Kehrtwende. Im Zuge einer Drehung um hundertachtzig Grad versucht er einen neuen Ansatz: „Indem ich mir aber so sage, sehe ich auch schon Licht und Rat: Die Maßgebenden werden nicht maßgebend sein.“14

II. Die Neudefinition des Problems und der Blick auf die Verursacher Die von Brunner vorgelegte Interpretation des hypothetischen Satzes, „Kein Antisemit ist ein Antisemit“, lässt ihn die Leugnung des Problems kritisieren und aufzeigen, dass der Autor als Problemerzeuger bemüht ist, sich selbst darin unsichtbar werden zu lassen. Weitergehend wirft Brunner fünftens die Frage nach Beurteilungskriterien auf, indem er denen, die sich selbst für maßgebend halten und auch von anderen so gesehen werden, die Relevanz und Kompetenz abspricht. Damit verschiebt er die Definitionsmacht über das Problem. Brunner richtet sein kritisches Augenmerk darauf, dass ein Autor hier über sich selbst im Plural spricht und dies tut, ohne zu explizieren, wer die anderen sein könnten,

13 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 13. 14 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 14.

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die er zu dieser Mehrzahl rechnet. Es handelt sich dabei weniger um einen pluralis auctoris, sondern vielmehr um eine Art pluralis maioris, indem nämlich der Sprecher für sich beansprucht, für ‚alle‘ oder zumindest für die allein relevante Mehrheit zu sprechen, indem er ‚manche‘ von ‚allen‘ unterscheidet und abgrenzt. Brunner schenkt weiter sechstens dem Umstand Beachtung, dass eine Person über sich selbst als ‚unser‘ sprechen kann, ohne dass von ihr ein Aufschluss über das ‚unser‘ erwartet würde, so etwa wenn Heinrich von Treitschke seinen Artikel mit Unsere Aussichten betitelt15 und zugleich ausführlich über ein fiktives ‚euer‘ spricht. Brunner kritisiert die Leugnung des Problems und den Versuch der Problemerzeuger, sich zu verbergen: Er zeigt auf, wie einzelne Autoren suggerieren, sie würden mehr als eine persönliche Meinung äußern. Durch Verwendung eines pluralis maioris können sie über sich selbst reden, ohne explizieren zu müssen, wen sie zur fiktiven Mehrzahl zählen, in deren Namen sie zu sprechen vorgeben. Mit diesen Einwänden autorisiert Brunner sich, das Problem umzudefinieren und seine Verursacher in den Blick zu rücken. Der von Brunner vollzogene Perspektivenwechsel, der bisher kaum wahrgenommen wurde, wird auch in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Theoriebildung des ausgehenden 20. Jahrhunderts etwa in der Kritischen Weißseinsforschung oder der Geschlechterforschung als Ausgangspunkt der Analyse vorgeschlagen: Eine als hegemonial zu beschreibende Position, die unverortet, unbenannt und damit auch unsichtbar bleibt, fungiert zugleich als ein allgemein bekanntes, normativ wirkendes und Geltung beanspruchendes Ideal, das für selbstverständlich gehalten wird.16 Die Privilegien einer solchen Position, deren Erreichung durchaus großer kultureller, sozialer und gesellschaftlicher Anstrengungen bedarf, werden dadurch gesichert, dass ‚Andere‘ als Abweichung vom Ideal verortet, benannt sowie ‚markiert‘ und damit sichtbar gemacht werden. Sie gelten als Ausnahme von der Selbstverständlichkeit.17 Entsprechend gab es im zwanzigsten Jahrhundert verschiedene gesellschaftliche Kämpfe um die Definitionsmacht: Die Auseinandersetzung wurde um Fremdzuschreibungen und die mit ihnen verbundene Bewertung physiologischer

15 Treitschke, Aussichten (wie Anm. 11), S. 572. 16 Ruth Frankenberg: White Women, Race Matters. The Social Construction of Whiteness. In: Theories of Race and Racism. Hg. von Les Back und John Solomons. New York, London 2000 [1993], S. 447–461. 17 Elisabeth Conradi und Jorma Heier: Towards a Political Theory of Care. In: Moral Boundaries Redrawn. The Significance of Joan Tronto’s Argument for Political Theory, Professional Ethics, and Care as Practice. Hg. von Gert Olthuis, Jorma Heier und Helen Kohlen. Leuven 2014, S. 29–50, 35–37.



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Merkmale geführt, bestimmte Zuschreibungen wurden als diskriminierend kritisiert.18 Diese Kämpfe stellten zugleich auch einen entschiedenen Einsatz für eine Selbstdefinition dar, etwa hinsichtlich der Frage, welche Merkmale vorzuliegen hätten, damit eine Person sich selbst als zu einer Wir-Identität gehörig ansieht. Denn der Eigentümlichkeit ihrer Persönlichkeit können sich Menschen einerseits im Hinblick auf ihre Ich-Identität bewusst werden, wobei es dann etwa um eine nur sie selbst betreffende einzigartige Kombination von Merkmalen geht. Die Eigentümlichkeit der eigenen Persönlichkeit können Menschen andererseits auch hinsichtlich einer Wir-Identität wahrnehmen. Dabei geht es dann insbesondere um Merkmale, die sie mit anderen Menschen teilen, die wiederum im Hinblick auf diese Eigenschaften einer Gruppe zuzurechnen sind.19 In wohlwollender Analyse der gesellschaftlichen Kämpfe um eine Selbstdefinition der Identität oder in kritischer Distanz zu ihnen haben sich an den Universitäten neue wissenschaftliche Positionen, Überzeugungen und sogar Disziplinen etabliert. So sind etwa in der Geschlechterforschung die ‚standpoint epistemologies‘ bekannt,20 die im Anschluss an Hegels Dialektik von Herr und Knecht sowie die Weiterführung durch Marx, Engels und Lukács behaupten,21 dass Menschen,

18 Siehe Elisabeth Conradi: Kosmopolitische Zivilgesellschaft. Inklusion durch gelingendes Handeln. Frankfurt a.M. 2011, S. 27–68. 19 Die Spannung zwischen Fremdzuschreibungen und Selbstdefinition erörtert Hannah Arendt in ihrem zwischen 1933 und 1938 verfassten Buch Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik (München, Zürich 1981) indem sie vorschlägt, die Jüdin möge als bewußte Paria leben. Unter Bezug­nahme auf Heinrich Heine, Bernard Lazare, Charlie Chaplin und Franz Kafka reflektiert Hannah Arendt die Paria-Kategorie auch in ihrem 1944 auf englisch pub­lizierten Artikel Die verborgene Tradition. (In: Hannah Arendt: Die verborgene Tradition. Acht Essays. Frankfurt a.M. 1976). Siehe dazu Elisabeth Conradi: Anderssein als Makel oder Auszeichnung? Hannah Arendts Thesen zur widersprüchlichen Existenz am Rande der Gesellschaft. In: Tätiges Leben. Pluralität und Arbeit im politischen Denken Hannah Arendts. Hg. von Elisabeth Conradi und Sabine Plonz. Bochum 2000, S. 21–43. 20 Siehe Dorothy E. Smith: Eine Soziologie für Frauen. In: Denkverhältnisse. Femi­nismus und Kritik. Hg. von Elisabeth List und Herlinde Studer. Frankfurt a.M. 1989 [1979], S. 353–422. Smith konstatiert, dass Wissenschaftlerinnen „außerhalb des Bezugsrahmens“ plaziert waren und dies als Chance nutzen konnten, die Perspektive des Außenbereiches zu einem eigenen Standpunkt auszubauen (S. 369, 390). Diese wissenschaftstheoretische Position wurde als ‚standpoint epistemology‘ breit rezipiert. 21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Werke. Bd. 3. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1984 [1807], S. 145. Friedrich Engels: Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891. MEW. Bd. 22. Hg. von Hildegard Scheibler. Berlin 1963, S. 232. Karl Marx, Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. MEW. Bd. 3. Hg. von Hildegard Scheibler. Berlin 1962, S. 26. Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik. Berlin 1923.

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die diskriminiert werden, besonders kompetent sind hinsichtlich der Bedingungen ihrer Diskriminierung.22 Dabei wird angenommen, dass ein durch diese Erfahrungen privilegiert zugängliches Wissen weit über die Analyse der eigenen Diskriminierung hinausgeht. Die kritische Weißseinsforschung hat wiederum entscheidende Impulse durch Toni Morrisons Buch Playing in the Dark erhalten, das an Michel Foucaults Überlegungen anknüpft.23 Morrison richtete ihr Augenmerk vom Objekt zum Subjekt der Zuschreibungen, also „von den Beschriebenen und Imaginierten zu den Beschreibenden und Imaginierenden“.24 Das sorglose Ausleben hegemonialer Körperlichkeit und gesellschaftlicher Geringschätzung wird auf diese Weise thematisiert.25 Dazu ist es nötig, Vorteile zur Kenntnis zu nehmen: Es stellt ein Privileg dar, wenn jemand als eine umfassende Persönlichkeit wahrgenommen und behandelt wird, anstatt auf bestimmte Merkmale reduziert zu werden. Weiter ist es ein Privileg, dass jemand den Schutz der Anonymität genießen kann, statt immerzu ein Übermaß an Beachtung zu finden, schließlich auch, einen Beruf auszuüben, den man gewählt hat, und in einem Stadtteil zu wohnen, der einem gefällt.26 Eine Denkbewegung, die in der Geschlechterforschung und in der Weißseinsforschung des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts wesentlich ist, findet sich schon in Ansätzen bei Constantin Brunner, noch vor Georg Lukács, der ideengebend auf die ‚standpoint epistemologies‘ wirkte, und zeitlich erheblich früher als entsprechende Überlegungen Michel Foucaults, der die Weißseinsforschung beeinflusst hat. Der denkerische Impuls Brunners liegt aber zeitlich auch vor der Entwicklung einer „gesellschaftskritischen Forschungstradition“. Als solche identifiziert Samuel Salzborn, der sich unter anderem auf die Ansätze von Freud, Parsons, Sartre, Simmel, Arendt, Horkheimer und Adorno bezieht, diejenige Theorie, die „den Antisemitismus nicht als Problem der Jüdinnen und Juden

22 Siehe beispielsweise Sandra Harding: Feministische Wissenschaftstheorie. Hamburg 1990, S. 158. Siehe auch Patricia Hill Collins: Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness and the Politics of Empowerment. New York, London 1990, S. 24. 23 Toni Morrison: Playing in the Dark: Whiteness and the Literary Imagination. Cambridge, Mass. 1992. Siehe auch Susan Arndt: Weißsein. Die verkannte Strukturkategorie Europas und Deutschlands. In: Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Hg. von Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba and Peggy Piesche [u.a.]. Münster 2005, S. 26. 24 Toni Morrison: Im Dunkeln spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination. Essays. Dt. von Helga Pfetsch und Barbara von Bechtolsheim. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 125. 25 Bini Adamczak, Bine Flick: décadence naturelle. rassismus / sexismus / antisemitismus oder die perversen ränder des hegemonialen körpers. In: diskus. Frankfurter Student_innen Zeitschrift, Heft 2 (Februar) 2002, http://www.copyriot.com/diskus/ (17.7.2013). 26 Ursula Wachendorfer: Weiß-Sein in Deutschland. In: AfrikaBilder – Studien zu Rassismus in Deutschland. Hg. von Susan Arndt. Münster 2001, S. 87–101, S. 93.



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begreift […] sondern ‚als ein Problem der Antisemiten‘“.27 Es ist also umso deutlicher hervorzuheben, dass es Brunner frühzeitig gelingt, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen, das von ihm untersuchte Problem neu zu definieren und sein Augenmerk auf die Verursacher des Problems zu richten.

III Die Antisemitenfrage Brunner hatte seine Formulierung der Problemstellung unterbrochen, um die hypothetische Schlussfolgerung: „Kein Antisemit ist ein Antisemit“ auszudeuten. Er zeigte die Konkurrenz der „Allermaßgebendsten“ untereinander auf; erörterte deren Anmaßung, sich als Verfolgte zu gerieren; wies nach, wie sie sich mithilfe des ‚Wegdefinierens‘ bemühten, den Gegenstand der Kritik aufzulösen; analysierte den Versuch der Autoren, sich selbst als Problemerzeuger unsichtbar werden zu lassen; deutete an, wie die Sprecher versuchten, sich als Mehrheit zu geben und die Frage der eigenen Positionierung zu umgehen. Mit dieser Analyse gelingt es Brunner, die ‚Maßgeblichkeit’ umzudeuten, die Definitionsmacht über das Problem zu verschieben und seine Verursacher in den Blick zu rücken. Er konstatiert, dass „die Antisemiten, mit ihrem schweren Hauptärgernis an den Juden, von diesen beherrscht sich zeigen, von ihnen besessen sind.“28 Hier setzt Brunner zum zweiten Mal ein, um „die Antisemitenfrage“ folgendermaßen zu formulieren: „Wie und wie weit läßt sich den bejammernswerten Leuten helfen, die an den Juden verrückt geworden sind, und auf welche Art können in Zukunft andre vor dem gleichen Unglückslose bewahrt werden?“29 Brunner greift die Anmaßung der öffentlichen Persönlichkeiten auf, sich als Verfolgte zu geben und sich darüber hinaus zu Sprechern anderer zu machen, denen sie ähnliche Sorgen für die Zukunft vorhersagen. Während Brunner jedoch zunächst den gezielten Einsatz bestimmter rhetorischer Strategien durch die Prota­ gonisten kritisierte, unterbreitet er nun den Vorschlag, davon auszugehen, dass es eine „Psychopathia antisemitica“30 gibt: „Man könnte allen Ernstes die Antisemiten oder Judenverrückten als besondere Klasse der Verrückten unterscheiden;

27 Samuel Salzborn: Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich. Frankfurt a.M. 2010, S. 42. 28 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 3. 29 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 14. 30 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 15.

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die sich – ebenso wenig wie andere Verrückte – auf keine Art ihre Wahnideen ausreden lassen.“31 Brunner beschreibt diese psychische Krankheit, indem er wiederum den Ausdruck „Unglück“ verwendet. Im Hinblick auf die Antisemiten sei Hilfe zu suchen „gegen ein Unglück, gegen das Unglück einer Krankheit, die sie selber, ob auch nur durch ihre bloße Existenz, verschuldet haben.“32 Die Krankheit des Antisemitismus sei, so Brunner, „nicht heilbar“33 und darin vielleicht dem Wahn des Aberglaubens, von dem Brunner an anderer Stelle spricht, vergleichbar. Ein weitergehendes Problem sieht Brunner darin, dass der Antisemitismus darüber hinaus auch noch ansteckend sei wie etwa Tollwut.34 Brunner beklagt, dass die meisten Menschen sich allein gegenüber körperlichen Krankheiten vor einer Ansteckungsgefahr fürchten und betont mit Verweis auf eine entsprechende Aussage Goethes, dass die „Ansteckungsgefahr durch kranke Seelen“ nicht ernst genug genommen würde.35 Beides jedoch, das Wahnhafte und das Ansteckende des Antisemitismus soll, so Brunner, nicht daran hindern, seine Strategien denkerisch zu durchdringen und praktisch gegen ihn vorzugehen. Obwohl Brunner davon ausgeht, dass es sich um eine Art seelische Krankheit handelt, so schlägt er doch vor, sie nicht mit einem wissenschaftlich klingenden Fremdwort zu bezeichnen, sondern es zu übersetzen: Der erste Schritt, den Antisemitismus genauer kennen zu lernen, ist, daß man die dummbarbarische Wortverfertigung Antisemitismus übersetze in das vorhandene deutsche Wort, wodurch ehrlich und ohne Umschweif die Krankheit bezeichnet wird: Judenhaß. Judenhaß – eine bitterschlimme Krankheit. Denn Judenhaß ist Menschenhaß.36

Der letzte Satz drückt einen zentralen Gedanken des Brunnerschen Denkens aus: Bei der Auseinandersetzung mit der „Antisemitenfrage“ handelt es sich weder um eine philosophische Spitzfindigkeit noch sind von ihr lediglich ein paar wenige Marginalisierte betroffen. Vielmehr geht es um eine, wenn nicht sogar die wesentliche Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang von Menschen miteinander: Es geht um ihre Hoffnungen, Wünsche, ihren Alltag und ihre Rechte.

31 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 14. 32 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 15. 33 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 15. 34 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 15. 35 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 16. 36 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 17.



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Eine positive Gestaltung dieses Wesentlichen wird durch einen innergesellschaftlichen Hass unterlaufen und verunmöglicht. Bevor Brunner deutlich herausstellt, was er unter Hass versteht, erklärt er deutlich, dass die Rassentheorie ein Ausdruck des Hasses sei, auch wenn die scheinbare Wissenschaftlichkeit des Ansatzes dies verhülle. Worum es sich handelt, wenn man von Hass spricht, ließe sich, so Brunner, „am klarsten“ sagen, wenn man bei den Philosophen suche: „Am besten natürlich durch den besten, durch Spinoza“.37 Brunner kompiliert eine längere Textpassage aus der Ethik Spinozas: Haß ist Unlust, verbunden mit der Vorstellung von der äußeren Ursache dieser Unlust. Der Hassende ist bestrebt, […] von dem Gegenstande, den er haßt, alles das zu bejahen, wovon er sich vorstellt, daß es ihn mit Unlust erregt, und dagegen alles das zu verneinen, wovon er sich vorstellt, daß es ihn mit Lust erregt, und wird von dem gehaßten Gegenstande eine geringere Meinung haben als recht ist, so wie er wohl von sich und dem geliebten Gegenstande eine größere Meinung hat als recht ist (Hochmut und eine Art Wahnwitz – er betrachtet alle seine Einbildungen als Wirklichkeit und bläht sich darob). Ferner wird der Hassende, so viel er vermag, danach streben, daß alle das hassen, was er selber haßt.38

Spinoza beschreibt hier die Aufwertung all jener Merkmale und Eigenschaften, die Menschen als ihnen vertraut und geliebt imaginieren sowie die gleichzeitige Abwertung dessen, was sie – ebenfalls auf der Grundlage von Imaginationen – verneinen. In seiner Beschreibung verdeutlicht er, wie sich die Einschätzung der Wahrnehmung äußerer Phänomene, etwa, wenn eine Person mir groß erscheint und ich das negativ beurteile, unterscheidet von der Einschätzung lediglich der Imaginationen, wenn ich mir also lediglich einbilde, die Person sei groß und ich dies negativ beurteile. Der Unterschied zwischen Fehlwahrnehmungen und irrigen Imaginationen ist insofern von Bedeutung, als fehlerhafte Wahrnehmungen leichter zu korrigieren sind als irrtümliche Imaginationen, zumal wenn diese Imaginationen für „Wirklichkeit“ gehalten werden und sich der imaginierende Mensch darauf zusätzlich auch noch etwas einbildet. Genau diesen Sachverhalt charakterisiert Spinoza als Hochmut. Als Begriff hat er für Brunners Analyse des Judenhasses im Weiteren eine wichtige Bedeutung.

37 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 17. 38 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 17; präzise Hinweise auf Spinozas Text, finden sich bei Jürgen Stenzel: Philosophie als Antimetaphysik. Zum Spinozabild Constantin Brunners. Würzburg 2002, S. 246.

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IV Hochmut als eine wesentliche menschliche Eigenschaft In seinem zweiten hier von mir thematisierten Werk, dem Buch mit dem Titel Memscheleth sadon. Letztes Wort über den Judenhaß und die Juden39 behandelt Brunner ebenfalls die „Antisemitenfrage“. Seine Untersuchung der Frage ist anfangs eingebettet in Aussagen zur Entstehung von Urteilen sowie zur Bedeutung der Ehre. Das ist auch insofern interessant, weil Autoren des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts wieder von „honor“ sprechen, so etwa Richard Sennet in seinem Buch Respect: The Formation of Character in an Age of Inequality und Avishai Margalit in seinem Buch The Decent Society.40 Ausgehend von der Ehre entfaltet Brunner seine Gedanken über den Hochmut, den er zunächst als Interesse „der Geltung“ charakterisiert sowie als „Ehre-Eitelkeit, die Menschen trennt und gegeneinander treibt“.41 Das Geltungs-Interesse führt, so meint Brunner, nicht nur zu Hochmut, sondern auch zu „Verachtung, Neid und Streit“ sowie „Trug, Haß, Verfolgung“ und schließlich zu „Kriegen“.42 Brunner erläutert eingehend, dass Menschen einerseits den Wunsch und das Interesse der „Zugehörigkeit zur Gesellschaft“ haben, andererseits in der Gesellschaft Mitglied unterschiedlicher Gemeinschaften sind.43 Zwar möchten Menschen innerhalb der Gemeinschaft auch von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft höher geachtet werden „als andre Leute“, aber insgesamt herrscht innerhalb der Gemeinschaft eher eine Art Gleichheit vor. Anders ist dies in Bezug auf die Außenseite: Es sei, so Brunner, ein charakteristisches Merkmal von Gemeinschaften, sich gegeneinander abzugrenzen und im Zuge dieses Demarkationsprozesses einerseits Stolz auf die eigene Gemeinschaft zu entwickeln, andererseits „Hochmut und Verachtung gegen andre Gemeinschaften“ auszudrücken.44 Brunner beschreibt das „Streben nach [...] gutem Ruf und Lob für Vorzüge und Leistungen“.45 Das Streben schlage leicht um „in die Eitelkeit, welche übermäßige Anerkennung und Bewunderung verlangt für Vorzüge und Leistungen von

39 Constantin Brunner: Memscheleth sadon. Letztes Wort über den Judenhaß und die Juden. Berlin 1920 (im Folgenden aus dieser Auflage zitiert). 40 Richard Sennet: Respekt im Zeitalter der Ungleichheit. Berlin 2002. Avishai Margalit: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Aus dem Amerikanischen von Gunnar Schmidt. Berlin 1997. 41 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 4. 42 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 4. 43 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 4. 44 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 7. 45 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 8.



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Wert“.46 Es geht aber nicht mehr nur um das übertriebene Interesse an Anerkennung für lobenswerte Leistungen. Sondern, und dies charakterisiert für Brunner den Hochmut, Menschen wünschten sich Bewunderung für „Vorzüge und Leistungen [...] ohne Wert und für eingebildete Vorzüge und Leistungen“.47 Wenn der Mensch hochmütig würde, so sei er infolgedessen „verblendet in bezug auf den eignen Wert mit unbändigem Verlangen nach Anerkennung und mit Geringschätzung und Verachtung Anderer“.48 Den Hochmut beschreibt Brunner als ein fehlgeleitetes Interesse an Beachtung und Wertschätzung sowie als Anmaßung, die Konflikte verursacht. Denn kaschierte Ambitionen zeigen sich in Form von „Hochmut gegen seinesgleichen“ und insbesondere auch als „Hochmut gegen andersgleichen“.49 Drei von Brunner analytisch herausgearbeitete Vorgehensweisen möchte ich hier aufgreifen: Erstens seine Unterscheidung zwischen der Interpretation einer Imagination und der Interpretation einer Wahrnehmung, zweitens seinen Hinweis auf eine Bewertung in Relation sowie seine Darstellung der klassifizierenden Gruppenzuordnungen und drittens die damit verbundene Frage nach der kollektiven Identität.50 Im Anschluss an Spinoza unterscheidet Brunner erstens zwischen der Einschätzung wahrgenommener Phänomene und einer Beurteilung, die sich lediglich auf deren Imagination richtet. Dabei beschreibt er drei Zustände: die Hoffnung auf ein angemessenes Maß an Anerkennung für beachtliche Eigenschaften und Taten; das Ansinnen, eine außerordentliche Würdigung für mittelmäßige Eigenschaften und Taten zu erhalten und den Wunsch nach Bewunderung für nicht vorhandene Eigenschaften und wenig überzeugende Taten. Dieser Wunsch ist Brunner zufolge ein Ausdruck von Hochmut und Verblendung, die überdies mit der Abwertung anderer verknüpft sind. Verblendung und Abwertung gehen Hand in Hand: Als Teil ihres alltäglichen Umgangs miteinander nehmen Menschen das Aussehen und Verhalten anderer wahr und interpretieren es. Das ist als Faktum nicht unbedingt zu hinterfragen, wenn alle Beteiligten dabei zugleich in eine soziale Interaktion miteinander eintreten, die auch Möglichkeiten der Korrektur einschließt. Zu einem Problem wird die Bezugnahme auf andere vor allem dann, wenn anstelle der Wahrnehmung von Aussehen und Verhalten überwiegend oder sogar ausschließlich deren Ima-

46 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 8. 47 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 8. 48 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 8. 49 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 9 siehe auch S. 44. 50 Siehe hierzu ausführlich Conradi, Zivilgesellschaft (wie Anm. 18), S. 69–86.

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ginationen interpretiert werden.51 Auf diese Weise machen sich vor dem eigenen inneren Auge stereotype Bilder bemerkbar, eine Person nimmt also an einer anderen Person nicht deren Eigenschaften wahr, sondern weist ihr bestimmte Merkmale zu. Sie deutet ein Bild, das lediglich vor ihrem inneren Auge erscheint. Sie interpretiert also statt ihrer Wahrnehmung lediglich eine Imagination. Zwar kann davon ausgegangen werden, dass diese Imagination durch Aussehen und Verhalten inspiriert wurde. Gleichwohl ist die Interpretation einer – wodurch auch immer inspirierten – Imagination etwas anderes als die Deutung der Wahrnehmung von Aussehen und Verhalten. Dieser Unterschied zwischen der Interpretation einer Imagination und der Interpretation einer Wahrnehmung ist hier von Belang. Er wird sowohl von Spinoza vorgeschlagen als auch von Brunner aufgegriffen. Beide thematisieren aber nicht nur die Problematik der Interpretation einer Imagination, sondern erörtern zweitens auch die Frage der Bewertung in Relation: Der eben beschriebene Vorgang der Eigenschaftszuweisung wird durch ein weiteres Prozedere ergänzt: Neben den Vorgang der Interpretation – entweder der tatsächlichen Wahrnehmung von Aussehen und Verhalten oder aber auch der stereotypen Imaginationen – tritt der Prozess der Bewertung von Eigenschaften. Dabei impliziert die Bewertung der Eigenschaften einer anderen Person auch eine Bewertung eigener Eigenschaften. Brunner beschreibt eine solche Bewertung als Abwertung der Eigenschaften der anderen Person bei gleichzeitiger Aufwertung der eigenen Eigenschaften. Diese Bewertung erfolgt nicht entlang ausgewogener Standards und Kriterien, nicht wohlüberlegt und aus bestätigter guter Erfahrung. Die Bewertung geschieht nicht unbefangen, sondern sie erfolgt voreingenommen. Anstelle einer unbefangenen Begegnung findet eine Art Vorverurteilung statt.52 Während eine Person einer anderen stereotype Eigenschaften zuschreibt, bewertet sie zugleich auch sich selbst. Denn die Bewertung von Eigenschaften findet immer in Relation

51 Colette Guillaumin erwähnt diesbezüglich „phantasmatische Merkmale“. Colette Guillaumin: Zur Bedeutung des Begriffs ‚Rasse‘. In: Theorien über Rassismus. Hg. von Nora Räthzel. Hamburg 2000, S. 34–42, hier S. 39. 52 Robert Miles spricht von „signification“, was mit „Bedeutungskonstitution“ übersetzt wurde. Die signification umfasst die Zuschreibung einer Bedeutung an „Objekte“, die sie zugleich zu Trägern einer Reihe von Merkmalen macht. Darüber hinaus schließt die signification auch eine Selektion ein: Im Falle des Rassismus wählt das Subjekt der signification biologische oder somatische Merkmale im Sinne eines Phänotyps aus. Das Subjekt verbindet im Zuge der signification den gewählten Phänotyp mit spezifischen kulturellen Merkmalen zu einem nicht wieder differenzierbaren imaginierten Konglomerat. Robert Miles: Bedeutungskonstitution und der Begriff des Rassismus. In: Theorien (wie Anm. 51), S. 17–33, hier S. 18.



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statt: Eigenschaften werden miteinander verglichen und zueinander in ein Verhältnis der Auf- und Abwertung gesetzt. Ebenso wie die bewertende Person ihr Gegenüber entweder auf der Basis von Zuschreibungen oder auf der Grundlage von Wahrnehmungen interpretiert, folgt auch die Selbsteinschätzung entweder der tatsächlichen Wahrnehmung (ihrer eigenen) Eigenschaften oder beschränkt sich auf Imaginationen. In der Regel werden die eigenen Eigenschaften – seien sie bloß imaginiert oder tatsächlich wahrgenommen – aufgewertet gegenüber den der anderen Person zugesprochenen Eigenschaften. Neben der Interpretation einer Imagination und der Bewertung in Relation wirft Brunner drittens auch die Frage der kollektiven Identität auf. Es ist nicht nur der individuelle Wunsch nach Anerkennung, sondern insbesondere auch das Interesse der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe und das Verfahren der klassifizierenden Abgrenzung der eigenen Gruppenzuordnung anderen Gruppen gegenüber, auf die Brunner hinweist. Mit der Klassifizierung ist eine weitere Art der Interpretation von Verhalten und Aussehen (oder der Interpretation von deren Imagination) benannt: Eine Person klassifiziert sich selbst und eine andere Person als Gruppenzugehörige, wobei die exkludierende Person sich selbst einer bestimmten Gruppe zuordnet und andere Menschen als Angehörige einer davon wesentlich verschiedenartigen Gruppe ansieht.53 Beide Gruppen werden als einander ausschließende und zueinander komplementäre Kontrastgruppen arrangiert. Dieser Vorgang geschieht entlang der in der Gesellschaft durchaus üblichen und weitgehend akzeptierten Gruppeneinteilungen. Bei einer solchen Klassifizierung werden nicht mehr nur einzelne Eigenschaften, wie beispielsweise, dass eine Person alt oder jung sei, zugesprochen und dies bewertet. Überdies wird dem Gegenüber eine Kombination bestimmter Eigenschaften angedichtet, die als typisch für eine ganze Gruppe gelten kann. Eine Person spricht also ihrem Gegenüber eine kollektive Identität zu. Die Kontrastgruppe und die Eigengruppe werden als wesentlich verschiedenartige, einander ausschließende und zueinander komplementäre Gruppen arrangiert, sie sind insofern vollständig disjunkt.54 Wie erwähnt beschreibt Brunner den Hochmut einerseits als ein individuelles Interesse an Beachtung und Wertschätzung sowie andererseits als Überheblichkeit und Dünkel, die zueinander in einer paradoxen asymmetrischen Spannung stehen. Brunner hält beide Aspekte des Hochmuts für universal

53 Siehe auch Anja Weiß, die von Klassifikation spricht. Anja Weiß: Rassismus wider Willen. Ein anderer Blick auf eine Struktur sozialer Ungleichheit. Opladen 2001, S. 23, S. 26 f. 54 Robert Miles spricht für den Rassismus von einem „dialektischen Verhältnis von Ausschließung und Einschließung“. Miles, Bedeutungskonstitution (wie Anm. 52), S. 24.

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anthropologisch gegeben. Er schreibt von der „Allgemeinheit und Macht des Hochmuts“,55 spricht die diesbezügliche Eigenschaft „sämtlichen Menschen“ zu,56 hält sie für „jedermanns Sache“,57 und behauptet, „alle Menschen ohne Ausnahme“ seien so, „auch die, die da meinen, daß sie nicht gemeint sind“.58 Er lässt seine Überlegungen kulminieren in dem Satz: „Der Hochmut ist der faule Fleck im Menschentier.“59 Brunner konstatiert, dass auch das „positive Ehrinteresse innerhalb der Gemeinschaft“ im Sinne eines „Zugehörigkeitsinteresses“ sich bei genauerer Betrachtung als ein Anspruchsdenken erweist, das sich nur verdeckt zeige und zwar in Form von „Hochmut gegen andersgleichen, gegen andre Gemeinschaften“.60 Der Stolz auf die eigene Gruppe mündet in der Verachtung gegenüber anderen Gruppen.

V Das Verschwinden der Herrschaft des Hochmuts Constantin Brunner gibt diesem seinem zweiten Buch über den Judenhass den Titel Memscheleth sadon. In der Schrift selbst erläutert Brunner nirgendwo den hebräischen Ausdruck, spricht allerdings an einer Stelle vom Hochmut. Vermutlich ist dies der Grund dafür, dass die Herausgeber der posthumen Neuausgabe des Buches 1969 dann den Titel Die Herrschaft des Hochmuts gefunden haben. „Memscheleth sadon“ ist eine Genitiv-Verbindung, bei der memschala, als Herrschaft oder Regierung, mit sadon verbunden wird, das für Böswilligkeit steht. Der Ausdruck findet sich in der Liturgie zweier bedeutender jüdischer Feiertage: Dem Neujahrstag Rosch Haschana und dem Versöhnungstag Jom Kippur. Indem Brunner diese Wendung wählt, stellt er seine Überlegungen in den Kontext von Buße und Umkehr. Es sind Tage der Ehrfurcht, in denen die Menschen Gott um Vergebung für eigene Fehltritte bitten.61 Darüber hinaus ist aber auch das Verhältnis zu den Mitmenschen von Belang:

55 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 9. 56 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 9. 57 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 10. 58 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 8. 59 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 8. 60 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 9. 61 Rabbiner Berel Wein: Heilige die Zeit! Wie die Tage der Ehrfurcht uns verändern können. In: Jüdische Allgemeine (17. September 2009), http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/ id/1409 (24.04.2013).



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Die Mischna erläutert die Bedeutung von Jom Kippur und lehrt, daß Jom Kippur nur die Sünden zwischen Mensch und Gott sühnt, daß aber die Sünden in den zwischenmenschlichen Beziehungen an Jom Kippur erst dann vergeben werden, wenn der Mensch das an seinem Nächsten begangene Unrecht selbst wiedergutgemacht hat. Rosch Haschana und die darauffolgenden Tage der Umkehr rufen den Menschen auf, seine Beziehungen zu den Mitmenschen zu überprüfen, in Ordnung zu bringen und seine Nächsten um Verzeihung zu bitten. Erst dann kann er am Jom Kippur vor Gott hintreten und um die Vergebung all seiner Sünden bitten.62

Die Gebetszeile, der Brunner den Ausdruck memscheleth sadon entnimmt, findet sich an Rosch Haschana und an Jom Kippur in einem Mussafgebet, also einem Gebet, das an bestimmten Tagen ergänzend hinzugefügt wird sowie ebenfalls gleichlautend im Neila genannten Schlussgebet für Jom Kippur. Es heißt in deutscher Übersetzung von Samson Raphael Hirsch: „Und somit werden Gerechte sehen und sich freuen, Gerade werden jubeln, in Liebe Geweihte freudiglaut jauchzen und Gewalttätigkeit wird ihren Mund schliessen und alle Gesetzlosigkeit ganz wie Rauch vergehen, wenn Du die Herrschaft der Willkür von der Erde entfernst.“63 Diese Gebetszeile lautet in einer anderen deutschsprachigen Version: „Und so mögen die Gerechten es sehen und sich freuen, die Geraden jubeln und die Frommen mit Jauchzen frohlocken, das Laster wird seinen Mund schließen, und alle Bosheit insgesamt wird wie Rauch vergehen, wenn Du die Herrschaft des Frevelmutes von der Erde entfernst.“64 Samson Raphael Hirsch zufolge kommt in diesen Gebetszeilen folgender Wunsch zum Ausdruck: „die Umwandlung der Gesamtmenschheit, das Aufblühen alles Gerechten, Geraden und Menschlichen auf Erden und das Verschwinden aller Gewalt, aller Gesetzlosigkeit und Willkür von der Erde.“65

62 Zwi Braun, David Wasserstein: Rosch Haschana, Jom Kippur. München 1971, S. 15. 63 Siddur Tefiloth Yisra‘el. Israels Gebete. Übersetzt und erläutert von Samson Raphael Hirsch. Basel 1992 [1894], S. 623 (Rosch Haschana), S. 673 (Mussafgebet), S. 684 (Schlussgebet für Jom Kippur). 64 SIDUR SEFAT EMET. Mit dt. Übers. von Rabbiner Dr. S. Bamberger. Basel 1989. Text dt. u. hebr. S. 228 (Gebet für das Neujahrsfest), S. 239 (Mussafgebet für das Neujahrsfest) und S. 252 (Gebet für den Versöhnungstag). Dieses Gebetbuch, das von Wolf Heidenheim editiert wurde, ist auch als Rödelheim Siddur bekannt, denn es wurde im 19. Jahrhundert in vielen Auflagen bei Lehrberger in Rödelheim (bei Frankfurt a.M.) gedruckt und herausgegeben. Die gleiche Übersetzung findet sich auch im: Gebetbuch für den Versöhnungstag = Mahazôr le-yôm kippûr. Hg. von Wolf Heidenheim. Übers. von Selig Bamberger. Basel 1989, Text dt. u. hebr., S. 197 (Mussafgebet für den Versöhnungstag). Dieses Buch wurde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ebenfalls bei Lehrberger in Rödelheim gedruckt. 65 Siddur Tefiloth Yisra‘el (wie Anm. 63), S. 622.

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Das jüdische Jahr beginnt mit Rosch Haschana. Im Zentrum dieses Feiertages steht die Anerkennung der Maßgeblichkeit, Bedeutung und Macht Gottes. Zugleich ist Rosch Haschana ein Tag des Gerichts, an dem die Menschen ihre Fehler bereuen, sich aber währenddessen der Gnade Gottes bewußt sein dürfen. Die Zeitspanne vom Neujahrstag Rosch Haschana bis zum Versöhnungstag Jom Kippur ist geprägt von Reue und Buße. Mit dem Titel Memscheleth sadon stellt Brunner sein Buch in diesen liturgisch-rituellen Kontext, verweist damit zugleich aber auch auf entsprechende Zeilen im ‚Buch der Preisungen‘. Etwa wenn es in Psalm 145 heißt „ER hütet alle, die ihn lieben, aber alle Frevler vertilgt er“ oder in Psalm 104 „Möchten die Sünder vom Erdreich hinweg, der Frevler keiner mehr sein.“66 Dieser Wunsch, es mögen die Hochmütigen von der Erde verschwinden, wird in den Gebetszeilen der Feiertage entpersonifiziert: Nicht die Frevler sollen verschwinden, sondern die Herrschaft der Willkür und des Frevelmutes. Indem Brunner den vom gottesdienstlichen Gebet und Segen geprägten Ausdruck als Titel seines Buches wählt, verknüpft er die Mahnung zur Reue und die Aufforderung, Fehltritte innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen einzugestehen und zu bereinigen, mit der von ihm erörterten „Antisemitenfrage“. Das folgende Zitat belegt die einzige Textstelle des Buches, in der er den titelgebenden Ausdruck verwendet: „Der Kern der Judenfrage ist die Antisemitenfrage und der Kern der Antisemitenfrage der Hochmut, Memscheleth sadon!“67 Zwar verweist Brunner damit offensichtlich auf den Versöhnungstag, legt aber seinen Schwerpunkt – säkularisierend – nicht auf die Gnade Gottes gegenüber dem fehlerhaften aber seine Fehler bereuenden Menschen, sondern auf die in diesem Kontext ebenfalls bedeutsame Reflexion der Beziehungen zwischen den Mitmenschen, die ‚in Ordnung‘ gebracht und durch eine Bitte um Verzeihung gestaltet werden. Die Zeilen, die der Jude betet, offeriert Brunner den Gojim. Ähnlich wie im Kontext des Judenhaß-Buches vollzieht Brunner auch mit diesem Angebot eine Kehrtwende und versucht einen neuen Ansatz. Es scheint fast, als wolle er noch einmal den oben bereits zitierten Satz bestätigen: „Die Maßgebenden werden nicht maßgebend sein.“68 Maßstab sind nicht seine ressentimentgeladenen Zeitgenossen, deren feindselige Pamphlete und ihr hasserfülltes Tun. Maßstab ist vielmehr der Reichtum der jüdischen Tradition, die an den hohen Feiertagen zur Besinnung ruft.

66 Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Teil 4: Die Schriftwerke. 6. Aufl. der neubearb. Ausg. von 1962, Stuttgart 1992, S. 205, 153. 67 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 59 f. 68 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 14.



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In geradezu paradoxer Weise daran anknüpfend fordert Brunner den Antisemiten auf, er möge bereuen, den Hochmut aufgeben und den eingeschlagenen Weg verlassen. Insofern verbindet sich mit Brunners Wunsch, die Herrschaft des Hochmuts möge von der Erde verschwinden, die Hoffnung, der frühere Antisemit sei in Zukunft kein Antisemit mehr. Dies ist möglich durch die Einsicht in begangene Fehler, durch Reue und durch eine Bitte um Vergebung. Einsicht, Reue und die Bitte um Verzeihung sind mit Hochmut nicht vereinbar. Ganz anderes formuliert sein etwas älterer Zeitgenosse Ferdinand Tönnies, der im Text Nemesis, den er 1913 publizierte, ein vergleichbares Bild aufruft. Hier schreibt der holsteinisch-dänische Soziologe: Der Glaube, daß das Unrecht keinen Bestand habe, daß die Gerechtigkeit schließlich triumphiere, wird oft in Verbindung mit religiösem Glauben angetroffen, wohnt aber auch unabhängig von diesem in der Seele des Volkes. Die Schuld muß gelöst, der Frevel muß vergolten werden, das gestörte Gleichgewicht sich wiederherstellen. Der Glaube ist auch Forderung – Forderung der Vernunft und eines in ihr beruhenden Gefühls, des Rechtsgefühls und des Sinnes für Gerechtigkeit. Und so stellt sich das Recht allen Tatsachen trotzig entgegen.69

Für Tönnies sind nicht Einsicht, Reue und die Bitte um Vergebung die Wegweiser zu dem erhofften Zustand, in dem das Unrecht keinen Bestand mehr hat. Im Unterschied zu Brunner betont Tönnies, es gelte ein gestörtes Gleichgewicht durch Vergeltung wieder herzustellen. Die Vergeltung wiederum sieht er als einen Triumph der Gerechtigkeit an, zugleich auch als eine ‚Forderung der Vernunft‘, womit er einen Glauben und ein Gefühl in den Rang des Rechts erhebt.70 Auch Brunner setzt auf die Vernunft und erörtert die in Rede stehende Frage unter dem Begriff der Gerechtigkeit, bezieht dazu aber eine andere Position als Tönnies. Im Jahre 1924 veröffentlicht Constantin Brunner den Abschnitt Das Unglück unsres deutschen Volkes und unsre ‚Völkischen’ als dritten und ausführlichsten Teil seiner Autobiographie Vom Einsiedler Constantin Brunner.71 Hier heißt es: „Der Judenhaß ist ein Ungeheuer, das wenigstens theoretisch besiegt sein muß.“72 Diese Vorstellung erläutert Brunner weitergehend: „Aber ich verlange von den des Denkens Fähigen, für die des Denkens Fähigen ein gerechtes

69 Ferdinand Tönnies: Gesamtausgabe. Bd. 9 (1911–1915) Berlin 2000, S. 295. Der Text Nemesis wurde zuerst abgedruckt in: März. Eine Wochenschrift 7, 1 ([18. Januar] 1913), S. 94–97. 70 Tönnies, Gesamtausgabe (wie Anm. 69), S. 295. 71 Constantin Brunner: Vom Einsiedler Constantin Brunner. Potsdam 1924, S. 77–151, hier Abschnitt XV, S. 128–151. 72 Brunner, Einsiedler (wie Anm. 71), S. 128 f.

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Urteil, ein theoretisches, mag es auch praktisch nicht oder nicht völlig vollstreckbar sein, ein gerechtes Denken.“73 In seinem Buch Memscheleth sadon. Letztes Wort über den Judenhaß und die Juden hat Brunner gezeigt, dass eine sorgfältige Analyse, eine Prüfung von Sätzen auf ihre Widersprüchlichkeit und eine Kontrolle der Plausibilität von Aussagen, Elemente eines gerechten Denkens bilden können.

VI „Der Jude“ als Fiktion In seiner 1931 erscheinenden Broschüre Höre Israel74 greift Brunner – wiederum titelgebend – das ‚Schma Israel‘ auf, das als Glaubensbekenntnis in Ritual und Tradition von herausragender Bedeutung ist. Eine Zeile dieses Gebetes lautet: „ihr sollt nicht hinter andern Göttern hergehen, von den Göttern der Völker, die rings um euch sind“.75 Die darin liegende Aufforderung greift Brunner thematisch auf. In der ersten Hälfte der Broschüre, die sich an Juden richtet, verlangt er allerdings, sie mögen jeden Separatismus aufgeben.76 Die zweite Hälfte des Textes richtet sich an die Gojim, sie mögen „hören“, „sehen“ und sich „von den Bildern der Vergangenheit“ belehren lassen. Denn Brunner vergleicht hier „die Hexensache mit der Judensache“.77 „Der Jude“ sei, so Brunner in einer Manier, die an gegenwärtige konstruktivistische Positionen denken läßt, ebenso eine Fiktion, wie „die Hexe“. Solche Fiktionen entstünden dadurch, dass Menschen an Lügen glaubten, also etwa für wahr hielten, „was in den ‚Protokollen der Weisen von Zion‘ und ähnlichen Schriften zu lesen steht“.78 Brunner beharrt auf dem Vergleich beider Fiktionen, und fordert ein, die folgenschwere Fehlerhaftigkeit beider einzusehen und entsprechend auf sie zu verzichten. Wenn Menschen nicht als solche angesehen, sondern mithilfe fiktionaler Fremdzuschreibungen dämonisiert würden, hätte dies sehr reale lebensbedrohliche Konsequenzen: „Es gab keine Hexen und es gibt keine Juden – man verbrannte und verbrennt an ihrer

73 Brunner, Einsiedler (wie Anm. 71), S. 128 f. 74 Constantin Brunner: Höre Israel und Höre Nicht-Israel (Die Hexen). Berlin 1931. 75 Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Teil 1: Die fünf Bücher der Weisung. 10. verbesserte Aufl. der neubearb. Ausg. von 1954, Stuttgart 1992, S. 495. 76 Brunner, Höre Israel (wie Anm. 74), S. 11. 77 Brunner, Höre Israel (wie Anm. 74), S. 42. 78 Brunner, Höre Israel (wie Anm. 74), S. 42.



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Stelle Menschen.“79 Auch in diesem Text ist von Hochmut die Rede: er würde die Vernunft trüben, bis schließlich die Menschen an ihre eigenen Lügen glauben.80 Man könnte fast den Eindruck gewinnen, als hätte Sigmund Freud sich mit seinem Text Der Mann Moses und die monotheistische Religion an Brunners Vorschlägen orientiert. In seiner Argumentation spielt das ‚Schma Israel‘ ebenfalls eine Rolle, insgesamt setzt er sich mit der Entwicklung des Monotheismus auseinander.81 Nicht nur Brunner, auch Freud untersucht den Judenhass, fragt nach seinen Ursachen.82 Er benennt religiöse Motive des vormodernen Antijudaismus und fundiert auch „korrespondenztheoretische“ 83 Ansätze, indem er „den Jüdinnen und Juden eine wie auch immer geartete Mitverantwortung für den Antisemitismus, zumindest in Bezug auf die konkrete Aktivierung und Mobilisierung antisemitischer Ressentiments“84 zuschreibt. Darüber hinaus stellt Freud den Judenhass in einen Kontext mit der christlichen Religion: „Ich wage die Behauptung, daß die Eifersucht auf das Volk, welches sich für das erstgeborene, bevorzugte Kind Gottvaters ausgab, bei den anderen heute noch nicht überwunden ist, so als ob sie dem Anspruch Glauben geschenkt hätten.“85 So kommt Freud zu ähnlichen Schlüssen wie Brunner,86 wenn er behauptet: „Ihr Judenhaß ist im Grunde Christenhaß“.87 Freud fährt fort, indem er innerhalb des selben Satzes von seiner religionshistorischen Analyse zur Einschätzung der gesellschaftlichen und politischen Gegenwart übergeht und konstatiert: „[M]an braucht sich nicht zu wundern, daß in der nationalsozialistischen Revolution diese innige Beziehung der zwei monotheistischen Religionen in der feindseligen Behandlung beider so deutlich Ausdruck findet.“ Freuds über mehrere Phasen in Abschnitten verfaßte Schrift enthält verschiedentlich Hinweise auf seine Lebenssituation. Etwa, wenn er in der Vorbemerkung I zum ersten Teil des dritten Abschnitts „vor dem März 1938“ schreibt: „Wir leben in einem katholischen Land unter dem Schutz dieser Kirche,

79 Brunner, Höre Israel (wie Anm. 74), S. 43. 80 Brunner, Höre Israel (wie Anm. 74), S. 81. 81 Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Frankfurt a.M. 1950, S. 123. 82 Freud, Moses (wie Anm. 81), S. 196 f. 83 Klaus Holz: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg 2001, S. 62. 84 Salzborn, Antisemitismus (wie Anm. 27), S. 41 f. 85 Freud, Moses (wie Anm. 81), S. 197 f. 86 Etwa in Brunner, Höre Israel (wie Anm. 74), S. 44 f. 87 Freud, Moses (wie Anm. 81), S. 198.

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unsicher, wie lange er vorhalten wird.“88 Auch später enthält die Studie Hinweise auf seine Situation, wenn er dann in der Vorbemerkung II zum selben Abschnitt „im Juni 1938“, sich nunmehr bereits in seinem Londoner Exil befindend, schreibt: Die ganz besonderen Schwierigkeiten, die mich während der Abfassung dieser an die Person Moses anknüpfenden Studie belastet haben – innere Bedenken sowie äußere Abhaltungen – bringen es mit sich, daß dieser dritte, abschließende Aufsatz von zwei verschiedenen Vorreden eingeleitet wird, die einander widersprechen, ja einander aufheben. Denn in dem kurzen Zeitraum zwischen beiden haben sich die äußeren Verhältnisse des Schreibers gründlich geändert.89

Beide Positionen, die Freud entfaltet, eine religiöse Motivierung des Judenhasses und eine ‚korrespondenztheoretische‘ Position finden sich zuvor bereits bei Brunner. Denn Brunner konstatiert, er halte die Juden zwar nicht für die „bewirkende Ursache des Judenhasses“, wohl aber für die „veranlassende Ursache für den Ausbruch dieses Hasses“.90 Er weist auch in anderen Textpassagen, etwa in seinem Aufsatz Das Vorurteil und der Haß, darauf hin, dass nicht von einer Ursächlichkeit ausgegangen werden kann: Wer kein Antisemit ist, der wird nach den angeführten Zeugnissen, die sich noch um ungezählte andre vermehren ließen, die feste und für das, was uns beschäftigt, entscheidende Überzeugung gewonnen haben, daß der Haß der Antisemiten gegen die Juden keineswegs original sei, und daß er nicht von den Juden herrühre, die nicht seine Ursache, sondern seinen Anlaß bilden – so wie die Eiche nicht die Ursache des Blitzstrahles ist.91

Die Aussage Brunners ist klar: Der Hass der Antisemiten liegt in ihrer Verantwortung und entstammt ihren eigenen vielfältigen Problemlagen. Er wird keinesfalls von jüdischer Seite verursacht. Brunner verneint, „daß die Schuld für den Judenhaß an den Juden liegt“.92 Gleichwohl lässt Brunner auch Raum für Spekulationen. Es scheint, als akzeptiere er, dass Antisemitismus einen externen „Anlass“ haben müsse. Sein Bild der Eiche, das zunächst bestechend eindeutig den Antisemitismus auf Seiten der ressentimentgeladenen Zeitgenossen zu verorten schien, lässt dennoch zu, diese Klarheit zu durchbrechen:

88 Freud, Moses (wie Anm. 81), S. 157. 89 Freud, Moses (wie Anm. 81), S. 159. 90 Brunner, Einsiedler (wie Anm. 71), S. 131. 91 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S.  185. Siehe auch Brunner, Einsiedler (wie Anm. 71), S. 145. 92 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S.  185. Siehe auch Brunner, Einsiedler (wie Anm. 71), S. 145.



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daß der Haß der Antisemiten gegen die Juden keineswegs original sei, und daß er nicht von den Juden herrühre, die nicht seine Ursache, sondern seinen Anlaß bilden – so wie die Eiche nicht die Ursache des Blitzstrahles ist, aber freilich an sich hat, was macht, daß auf sie er eher herniederschlägt als auf andres. Was an der Eiche etwa die Gerbsäure (oder, ich weiß nicht, was sonst) für die in der Luft enthaltene Elektrizität ist, das ist die äußerlich auffällige Eigentümlichkeit des Juden für den in der Menschheit vorhandenen Haß.93

Brunner spricht nicht von Ursache, aber vom Anlaß. Er meint damit den Anlaß, einen bereits vorhandenen, in der Person des Hassenden liegenden und durch ihn bedingten und zu verantwortenden unspezifischen Hass, mehr oder weniger zufällig in eine bestimmte Richtung zu lenken. Brunner erklärt die Fixierung des vorhandenen Hasses mit der „äußerlich auffälligen Eigentümlichkeit“. Das ist insofern interessant, als hier offen bleibt, worauf er sich bezieht: auf die Zuschreibung vermeintlich ‚natürlicher‘ oder eher als ‚kulturell‘ verstandener äußerlicher Merkmale. Interessant ist weiterhin, dass Brunner mit dem Ausdruck „äußerlich auffällige Eigentümlichkeit“ ein heute als ‚hegemoniale Körperlichkeit‘ bezeichnetes Phänomen thematisiert: Es gibt Fremdzuschreibungen und eine mit ihnen verbundene Bewertung von Merkmalen, mithilfe derer Menschen ihre eigenen äußerlichen Eigentümlichkeiten für ‚unauffällig‘ halten und die äußerlichen Eigentümlichkeiten anderer für ‚auffällig‘.94 Das an dieser Stelle aufscheinende Thema der ‚hegemonialen Körperlichkeit‘ wird von Brunner hier allerdings nicht weiter vertieft. Drittens entfaltet Brunner aber die oben erörterte weitere Position, die sich als ‚konstruktivistisch‘ bezeichnen ließe und derzufolge ‚der Jude‘ eine Fiktion sei. Dies wird ergänzt durch seine Behauptung, der Antisemtismus sei ein Wahn. Obwohl Brunner eine „Psychopathia antisemitica“95 diagnostiziert und die „Judenverrückten als besondere Klasse der Verrückten“96 bezeichnet hatte, denen man ihren Wahn weder abgewöhnen noch ausreden könne, so betont er doch andererseits wiederholt, wie wichtig es sei, antisemitische Strategien mithilfe der Vernunft und Logik zu analysieren, ihre Irrationalität aufzuzeigen und so gegen sie zu kämpfen.

93 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S.  185. Siehe auch Brunner, Einsiedler (wie Anm. 71), S. 145. 94 Siehe Conradi, Zivilgesellschaft (wie Anm. 18), S. 40–44. 95 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 15. 96 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 4), S. 14.

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 Elisabeth Conradi

VII Einsicht Constantin Brunner kennzeichnet es als eine antisemitische Position, wenn Personen des öffentlichen Lebens äußern, sie würden „durch ein Zuviel an Juden“ „beengt“, übervorteilt, geschädigt sowie bedroht, und dies stelle ihr „Hauptärgernis“ dar. Er setzt sich mit dieser Position auseinander, indem er die hypothetische Folgerung, „Kein Antisemit ist ein Antisemit“ eingehend analysiert. Brunner weist nach, wie diese Protagonisten sich mithilfe des ‚Wegdefinierens‘ eines von ihnen selbst verursachten Problems bemühen, den Gegenstand der Kritik aufzulösen; er analysiert den Versuch der Autoren, sich selbst als Problem­ erzeuger unsichtbar werden zu lassen; deutet an, wie die Sprecher versuchen, sich als Mehrheit zu geben und die Frage der eigenen Positionierung zu umgehen, sich dabei zugleich aber auch selbst zu Sprechern anderer zu machen, denen sie demagogisch vorhersagen, dass auch sie die eigenen Befürchtungen in Zukunft teilen würden. Neben die problematischen Aussagen von Personen des öffentlichen Lebens stellt Brunner sich selbst als Denker, dem es mithilfe einer differenzierten Analyse dieser Aussagen gelingt, die ‚Maßgeblichkeit’ umzudeuten und die Definitionsmacht über das Problem zu verschieben. Das Problem ist der Hass. Brunner rückt die Verursacher des Problems in den Blick und konstatiert, dass sie sich als Hassende vom Hass beherrscht und besessen zeigen. Unter Bezugnahme auf Spinoza reflektiert Brunner den Judenhass, den er als Menschenhass ansieht und rückt ihn damit aus der Ecke der ‚Betroffenen‘ in den Fokus der ‚Allgemeinheit‘. Er greift Spinozas Vorschlag auf, die Auf- und Abwertung von Merkmalen und Eigenschaften als eine Form des Hochmuts zu untersuchen. Hochmut wiederum charakterisiert Brunner einerseits als ein individuelles Interesse an Beachtung und Wertschätzung sowie andererseits als Überheblichkeit und Dünkel. Während er den Hochmut für eine wesentliche Eigenschaft aller Menschen hält, so sieht er doch die beiden Aspekte des Hochmuts zueinander in einer paradoxen asymmetrischen Spannung stehen: Menschen suchen nach Anerkennung gerade von denen, die sie verachten. Brunner stellt den spezifischen Hochmut der Antisemiten und den allgemeinen Hochmut aller Menschen in einen Zusammenhang. Unter Aufgreifen der jüdischen Tradition schlägt er die Einsicht vor. Aufgrund von Einsicht erschließt sich die Möglichkeit, den eingeschlagenen Weg zu verlassen, so dass der frühere Antisemit, der sein Fehlverhalten erkennt, kein Antisemit bleibt. Einsicht und die Bitte um Verzeihung sind mit Hochmut nicht vereinbar. Die Einsicht wiederum basiert auf einem gerechten Urteil, einem gerechten Denken. Brunners Waffe ist das Wort. Mit seiner scharfen und gelegentlich polemischen Analyse bietet er jenen Menschen, die sich der Reflexion nicht verschlie-



Eine Erörterung der „Antisemitenfrage“ bei Constantin Brunner  

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ßen, die Möglichkeit der Einsicht. Die von Brunner analysierten Verfahren der Fremdzuschreibung und der Ausgrenzung zeigen Elemente eines gerechten Denkens auf, indem Brunner die Frage des Maßstabes in den Mittelpunkt rückt. Das Verschwinden der Herrschaft des Hochmuts, konkret die Vorstellung einer Gesellschaft, in der es keinen Antisemitismus mehr gibt, stellt für ihn eine veritable Vision zu aller Nutzen dar, die er als „Herrschaft der Gerechtigkeit“ fasst.97 Es gibt keinen Gerichtshof, vor dem die „Herrschaft der Gerechtigkeit“ auf dem Rechtswege einzuklagen wäre.98 Brunner will darüber hinaus aber auch darauf hinweisen, dass der von ihm anvisierte Wandel eine Veränderung der Gesellschaft und nicht in erster Linie eine Veränderung des Staates meint. Es geht darum, dass die Menschen einander verändern, dass die Transformationsprozesse sich innergesellschaftlich vollziehen.99 Brunner spricht in diesem Zusammenhang auch bestimmte gesellschaftliche Privilegien an. Die große „Ungerechtigkeit gegen die Juden“ drücke sich in „Angelegenheiten“ aus, die der „Allgemeinheit“ unsichtbar seien, etwa deshalb, weil sie sich nicht permanent mit gegen sie gerichteten Ressentiments auseinandersetzen müsse. Dennoch können andererseits Menschen, die solche Privilegien genießen, durchaus ein „Interesse an der Ungerechtigkeit“ und am Aufrechterhalten ungerechter gesellschaftlicher Zustände haben.100 Gegen diese Ungerechtigkeit können, so konstatiert Brunner, die Gerichte nichts bewirken.101

97 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 43. 98 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 43. 99 Iris Marion Young: Inclusion and Democracy. Inclusion and Democracy. Oxford 2000, S. 178. 100 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 44. 101 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 39), S. 43.

Jacques Aron

Brunners Antizionismus im historischen Kontext Wann, wie und warum kam Constantin Brunner auf den Gedanken, dem Zionismus einen Platz in seinen Schriften, um nicht zu sagen in seiner Philosophie einzuräumen, und wie ist seine antizionistische Position vor dem Hintergrund der innerjüdischen Debatten und des heraufkommenden Nationalsozialismus zu verstehen? Es dauerte ziemlich lange, bis Brunner die Notwendigkeit verspürte, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen – wahrscheinlich weil er sich sehr stark als Deutscher fühlte und die Emanzipation der Juden insgesamt erfolgreich verlief. Der Zionismus war Brunner daher von Anfang an fremd. Als er ihn schließlich als zunehmende Gefahr für die deutschen Juden und als destablilisierend für Deutschland insgesamt empfand, begann er, sich öffentlich gegen ihn zu positionieren. 1912: Brunner feierte im August seinen 50. Geburtstag. Er war vier Jahre zuvor, mit dem Erscheinen seines umfangreichen Werkes Die Lehre von den Geistigen und vom Volk, einer Analyse der menschlichen Denk-„Fakultäten“ im spinozistischen Sinne, in intellektuellen Kreisen als Philosoph zu einem gewissen Ruhm gekommen.1 Inzwischen hatte er begonnen, an einer breiten Ausein­ andersetzung mit dem sogenannten Antisemitismus zu arbeiten, welchen er als die neueste politische Wendung eines altherkömmlichen Judenhasses, bzw. Menschenhasses, betrachtete. Mehr als eine Judenfrage, gab es in Deutschland, seiner Meinung nach, eine Deutschenfrage, nämlich die „Antisemitenfrage“. Der 1862 in Altona bei Hamburg geborene Brunner hatte als Kind die Schaffung des Deutschen Reiches miterlebt und vor seinem 20. Geburtstag die ersten ernsten Manifestationen des Willens erfahren, die förmliche bürgerliche Gleichstellung der Juden im Lande rückgängig zu machen. Obwohl die vollständige Emanzipation den meisten deutschen Juden noch als politische Perspektive und erreichbares Ziel galt, hatte sich ihre gesellschaftliche Lage schon seit den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts geändert. „Antisemitismus“ war nicht nur die sprachliche Neubildung des Journalisten Wilhelm Marr (1819–1904), der den Ausdruck 1879 erfand. Dieser Begriff enthielt etwas ganz Neues, von außergewöhnlicher Kraft, einen „völkisch“ gesinnten Inhalt, nationalistisch und zugleich außerreligiös, mit unveränderlichen

1 Constantin Brunner: Die Lehre von den Geistigen und vom Volke [1908]. 3. Aufl. Stuttgart 1962.



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Merkmalen der Rasse abergläubisch verbunden. Nicht zufällig war diese Abwendung vom traditionellen christlichen Antijudaismus von Freidenkern verwirklicht worden. Das Buch eines hochgeehrten Universitätsprofessors hat stark zu dieser Neuorientierung beigetragen: Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage von Eugen Dühring. In der Vorrede (Oktober 1880) stellt er sich als Wissenschaftler dar, der sich seit Jahren mit der Erforschung des Rassencharakters der Juden beschäftigt hat. Dieses Buch machte zwölf Jahre vor der Dreyfus-Affäre auf Theodor Herzl einen großen Eindruck. Gleich am Anfang unterscheidet der Verfasser streng zwischen „Racenjude“ und „Religionsjude“: Die gründliche Auffassung, die im Juden nicht eine Religion sondern eine Race sieht, bricht aber schon vielfach durch. Nur bleibt sie noch immer von der Religionseinmischung mehr oder minder entstellt. Es liegt aber im Interesse einer edlen Menschlichkeit, also einer wahren Humanität und Cultur, dass dieser Obscurantismus der Religion, welcher bisher gerade die schlimmsten Eigenschaften der Juden mit seiner Nacht gedeckt und geschützt hat, vollständig weiche, so dass uns der Jude in seiner natürlichen und unveräußerlichen Beschaffenheit offenbar werde.2

Gegen diese gefährliche Tendenz, die 1893 bereits von 16 Abgeordneten im Reichstag vertreten wurde, hatte sich die Mehrheit der Juden zur Wehr gesetzt. In diesem Jahre hatten sie den Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (kurz gefasst CV) gegründet, welcher sich die Abwehr dieses feindlichen Angriffs als Hauptziel setzte, eine Abwehr, die unter dem Namen „AntiAnti“ schnell populär wurde und Erfolg hatte. Kaum ein Jahr später konnte sein Leiter, Dr. Eugen Fuchs (1856–1923), den Mitgliedern darüber Bericht erstatten unter dem Motto: „Im Kampfe sollst du dein Recht finden.“3 Ziemlich selbstbewusst schrieb er: „Nur wenn wir Gleichberechtigung und Emanzipation verteidigen, dürfen wir sagen, dass wir ihr würdig sind.“ Diese Grundeinschätzung vertrat auch Brunner, und er blieb ihr immer treu; die liberalen Juden, die mehrheitlich im repräsentativen Central-Verein vertreten waren, bildeten stets das Zielpublikum seiner Schriften. In diesem Zeitabschnitt, 1880–1893, war eine anti-emanzipatorische Reaktion auch in vielen anderen Ländern deutlich zu spüren. Diese Geschichte ist wohl bekannt und gut dokumentiert; so möchte ich nur einige charakteristische Punkte erwähnen, die den Kontext bildeten, in welchem die Gedanken Brunners

2 Eugen Dühring: Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage, mit einer weltgeschichtlichen Antwort. Karlsruhe, Leipzig 1881, S. 2. 3 Eugen Fuchs: Bericht der Rechtsschutz-Commission über ihre bisherige Tätigkeit, erstattet in der ordentlichen Versammlung vom 16. April 1894. Berlin 1894.

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zu diesem Gegenstand heranreiften. 1882, nach den ersten Pogromen, die einer schüchternen Liberalisierungsperiode im russischen Reich ein jähes Ende bereitet hatten, schrieb ein Arzt aus Odessa auf Deutsch ein Buch mit dem Titel Autoemanzipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden.4 Er schrieb „Stammesgenossen“ und nicht wie üblich „Glaubensgenossen“. Die Antwort in Deutschland ließ ein wenig auf sich warten, aber nicht lange. 1891 publizierte der junge Rechtsanwalt Max Bodenheimer (1865–1940), fast der Generation Brunners angehörend, zuerst anonym, eine Reihe von Aufsätzen und Flugschriften unter Titeln wie: Sind die russischen Juden eine Nation?5 Was soll aus den russischen Juden werden? Wohin mit den russischen Juden? Syrien, ein Zufluchtsort der russischen Juden. Größer als die Gefahr innerhalb Deutschlands, die man noch glaubte meistern zu können, wurde die Unruhe, die eine bereits begonnene Massenimmigration aus Osteuropa stammender Juden bei den integrierten deutschen Juden auslöste. Unter dem ständigen Druck der jüdischen Emigration aus dem Osten (nur ein Teil der inner- oder außereuropäischen Massenemigration jener Zeit) waren schon in ganz Mitteleuropa die Geburtswehen einer neuen Nationalbewegung zu spüren. Dieser untypischen, sich ihre Mittel und Ziele suchenden zerstreuten Bewegung hatte der Wiener Nathan Birnbaum (1864–1937) 1893 den Namen „Zionismus“ gegeben und forderte: Wir bitten nicht um politische Selbständigkeit für die in Palästina-Syrien auszusiedelnden Juden; wir bitten nur darum, dass dieselben in ihrem Boden eine wahre und wirkliche Heimat sehen dürfen, dass sie zu diesem Zwecke gegen Ausweisungen und Vertreibungen à la Europa staats- und völkerrechtliche Garantien erhalten.6

Eine nationale Ambition also, die hauptsächlich vom politischen Spiel und den Interessen der Großmächte abhängig war. Vier Jahre später wurde dieses Projekt offiziell vom ersten Zionistenkongress in die Öffentlichkeit getragen. Noch vor diesem Ereignis hatte sich bereits Widerstand gegen diese nationalistische Tendenz formiert. In allen Ländern, in denen die Emanzipation Fuß gefasst hatte, war die Mehrheit der Juden aus religiösen oder politischen Gründen dieser Bewegung gegenüber sehr misstrauisch. Der Zionismus, der beanspruchte im Namen der Gesamtheit des jüdischen „Volkes“ zu sprechen, hatte in diesen Jahren bereits all seine jüdischen Gegner zu Antizionisten herabgesetzt. Der

4 Anonym erschienen (der Verfasser war Leo Pinsker): Autoemanzipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden. Berlin 1882. 5 Die Menorah, Wochenzeitung Hamburg (27. März 1891). Nach Jehuda Reinharz, S. 23. 6 Nathan Birnbaum: Die Nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande, als Mittel zur Lösung der Judenfrage. Im Selbstverlage des Verfassers: Wien 1893, S. 39.



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gesellschaftliche Druck auf die Juden schlug sich so in inneren Spannungen und Gegensätzen nieder. Theodor Herzl behauptete: Auf dem Baseler Congress haben die Juden durch concludente Handlungen und ausdrückliche Erklärungen ihr Volkstum dargetan. […] Von nichtjüdischer Seite wird unser Volkstum überhaupt nicht in Abrede gestellt. […] Juden ist es vorbehalten, sich dagegen aufzulehnen; Juden gibt es, die sich mit aller Gewalt dagegen stemmen.7

Das Judentum, religiös betrachtet, wehrte sich früher gegen äußere Feinde, die Antisemiten. Als dagegen, einige Jahre später, Nordau sein Buch Der Zionismus und seine Gegner publizierte, waren die sogenannten Widersacher exklusiv Juden.8 Keine Ausdrücke waren verächtlich genug, um ihre Ehre zu verletzen: Assimilanten, Renegaten, Abtrünnige oder Verräter. Auch das Vokabular der Antisemiten wurde angepasst: Mauschel ist Antizionist! Wir kennen ihn schon lange, und es hat uns auch immer der Ekel gehoben, wenn wir ihn ansahen, wenn uns das Leben in seine Nähe oder gar in Berührung mit ihm brachte. […] Da trat der Zionismus auf – Jude und Mauschel mussten zu dieser Frage Stellung nehmen. Und jetzt, jetzt zum ersten Male hat Mauschel dem Juden einen moralischen Dienst von unverhoffter Größe erwiesen. Mauschel sagt sich von der Gemeinschaft los, Mauschel ist – Antizionist!9

Man muss sich diese politische Aggressivität bewusst machen, um die Reaktionen zu verstehen, als einige Jahre später die Zionistische Vereinigung für Deutschland versuchte, die Leitung der Gemeinden zu erobern. Sonst wäre auch die Stellung Brunners aus heutiger Sicht unbegreiflich. In seiner Streitschrift Eine Krone für Zion, unter dem Eindruck dieses anonymen, „Mauschel“ betitelten, Leitartikels der zionistischen Zeitschrift Die Welt, schrieb Karl Kraus: Der Ruf „Hinaus mit den Juden“ werde bald ein freudiges Verständnis bei arischen Antisemiten finden.10 Dieses ließ nicht lange auf sich warten. Bald nach dem ersten zionistischen Kongress schrieb ein protestantischer Theologe, Friedrich Heman (1839–1922), seit 1888 Philosophieprofessor an der Universität Basel, ein Buch über die national-jüdische Bewegung namens Das Erwachen der jüdischen Nation oder Der Weg zur endgültigen Lösung der Judenfrage. Heman erklärte darin:

7 Theodor Herzl: Der Baseler Congress. Wien 1897, S. 6. 8 Max Nordau: Der Zionismus und seine Gegner. Berlin [1898]. 9 Benjamin Seff (i.e. Theodor Herzl): Mauschel. In: Die Welt, Nr. 20 (15. Oktober 1897), S. 1. 10 Karl Kraus: Eine Krone für Zion. Wien 1898, S. 5.

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Ganz von selbst und ohne Mitwirkung der Juden wird sich die Situation im Orient und in den europäischen Staaten so gestalten, dass einerseits die Völker froh sein werden, in ihren Ländern der Juden und ihrer Konkurrenz los zu werden und andererseits die Weltmächte es als eine glückliche Lösung eines schwierigen Problems begrüßen werden, wenn sich in Palästina ein jüdischer Staat bilden wird und wenn die Juden bereit sind, dort solchen Staat zu gründen.11

Heman griff die fünf deutschen Hauptrabbiner heftig an, die den Kongress verurteilt hatten, so heftig wie Herzl, der sie „Protestrabbiner“ abgestempelt hatte, und wie Nordau, der sie als Komödianten12 zurückgewiesen hatte. So konnte dieser anständige Antisemit einige Jahre später unter der Schirmherrschaft Nordaus seine Anschauung genauer formulieren: Als nämlich die Assimilation gar zu arg ins Kraut schoss und die Juden schon am Ziel der ersehnten Bruderschaft mit den Deutschen zu sein meinten und sich als Herren der Situation in Deutschland zu gebärden anschickten, da bemächtigte sich aller Stände und Schichten des Volkes eine stille und tiefe Abneigung gegen die Juden. […] Der Antisemitismus wird solange volkstümlich bleiben, als es Assimilanten in Deutschland gibt. Das liegt in der Natur der Sache. Wenn einmal Chinesen aus Kiautschau13 oder Neger aus Kamerun in Deutschland sich als deutsche Brüder aufspielen werden, dann wird sich des deutschen Volkes ebenso ein Antimongolismus und Antiniggertum bemächtigen, wie sie im freien Amerika bestehen [eine Anspielung auf die deutschen Kolonialfeldzüge in Afrika und China, Anm. von J. A.]. Denn die Menschen sind überall gleicher Natur. Wird diese verletzt, so reagiert sie überall gleich. Nationalitäts- und Rassenunterschiede sind nun einmal Naturverhältnisse, die sich nicht ignorieren lassen.14

Der erste Zionistenkongress muss als ein einschneidendes Erlebnis angesehen werden, vor allem was seinen Niederschlag in Deutschland betrifft. Auf internationaler Ebene hatte sich Herzl mit seiner Kompromisslosung durchgesetzt: der Forderung einer öffentlich-rechtlich gesicherten „Heimstätte“ für die Juden in Palästina. Diese Politik setzte selbstverständlich einen zukünftigen Judenstaat voraus. Die zionistische Bewegung verkündete der Welt, dass das Judentum nicht bloß als Religion zu betrachten wäre, sondern zugleich mehr noch als einheitliche Nation, als Stamm oder Rasse, wie man damals gewöhnlich sagte. Neben den großen Gemeinden und Organisationen gründete sich die Zionisti-

11 Friedrich Heman: Das Erwachen der jüdischen Nation. Basel 1897, S. 9. 12 Max Nordau: Gegen die „Protestrabbiner“. In: Die Welt, Nr. 10 (6. August 1897), S. 8. 13 In diese Stadt (heute Qingdao) wurde die Kriegsmarine 1897 entsendet, um die deutschen Interessen in China zu unterstützen. 14 Friedrich Heman: Was soll man vom Zionismus halten? Gedanken eines Nichtjuden. In: Emil Kronberger, Zionisten und Christen. Leipzig 1900, S. 54.



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sche Vereinigung für Deutschland (ZVfD), deren Ziel so formuliert wurde: „Die ZVfD hat den Zweck, die zionistische Idee im Sinne des Baseler Programms unter den in Deutschland lebenden Juden zu verbreiten.“15 Keine zwei Monate später kam die Antwort des Leiters des Central-Vereins: „Eine Stärkung des jüdischen Volksgefühls und Volksbewusstseins ist mir unfassbar, denn ich kenne seit der Zerstörung des jüdischen Reichs ein jüdisches Volk und ein Nationalitätsprinzip nicht. Ich kenne nur eine jüdische Glaubensgemeinschaft und will auch, dass die Treue zur Glaubensgemeinschaft gestärkt werde, unbeschadet der Treue zum Vaterland.“16 Die Trennungslinie war scharf gezogen. Die ersten Versuche der Zionisten, in den deutschen Gemeinden Fuß zu fassen, scheiterten. Das Ziel schien im Allgemeinen zu phantastisch und utopisch. Erst anlässlich der Gemeindewahlen 1910 kam es in Deutschland zu einer regelrechten politischen Opposition um die Nationalfrage in jüdischen Kreisen. So war alles vorbereitet worden, was zur Spaltung der Lager führen musste. Ein Reichsverband zur Bekämpfung des Zionismus wurde 1912 ins Leben gerufen (später umbenannt in Antizionistisches Komitee) und fungierte fortan „als Sprachrohr des gesamten deutsch-jüdischen Liberalismus“.17 Für die liberalen deutschen Juden war die Idee eines lebendigen Judenvolkes nur eine Einbildung und ungeeignet dafür, die Juden aller Länder nach Palästina zu locken. Zudem sahen sie in der rassischen Begründung des Judentums eine gefährliche Nähe der zionistischen Lehre und jener der Antisemiten: So soll eine andere Macht in Betracht kommen müssen: Hier ist es nun die Idee der Rasse, die den Zionisten von den nationalistischen Strömungen entgegengebracht wurde. So war denn in der ersten Zeit ihres Aufblühens der Volksbegriff der zionistischen Bewegung ganz und ausschließlich erfüllt von der Idee der Rasse. […] Und hier, in dem Irrwahn von der alleinseligmachenden Kraft der absoluten Rassenreinheit liegt bis auf diesen Tag, die ebenso unleugbare gefährliche Gemeinsamkeit der zionistischen Lehre mit deren der Antisemiten.18

15 Statuten der ZVfD, 31. Oktober 1897. In: Jehuda Reinharz: Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus 1882–1933. Tübingen 1981, S. 48. 16 Eugen Fuchs: Enquete über den Zionismus. In: Berliner Vereinsbote (24. Dezember 1897). In: Eugen Fuchs: Im Deutschtum und Judentum, Gesammelte Reden und Aufsätze (1894–1919), im Auftrage des CV. Hg. von Leo Hirschfeld. Frankfurt a.M. 1919, S. 228. 17 Reinharz, Dokumente (wie Anm. 15), S. 125. 18 Schriften zur Aufklärung über den Zionismus, Nr. 1: „Zionistische Taktik“. Hg. vom Antizionistischen Komitee, Berlin (1912?), S. 17. Nr. 2 lautet: „Der Zionismus, seine Theorien, Aussichten und Wirkungen“, Berlin (1912–1913?).

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Diese Positionen sind jenen Constantin Brunners, die er in seinem 1918 veröffentlichten Buch Der Judenhaß und die Juden formulierte, überaus ähnlich. Das Buch stellt Brunners erstes wichtiges Eingreifen in diese Problematik dar. Den Zionismus verstand er hier als den krassen Gegensatz zur Emanzipation, die für Brunner immer die Zielperspektive blieb. In seinem ersten „Judenbuch“19 hatte Brunner der Rassentheorie einen zentralen Raum beigemessen. Die Texte der frühesten „Wissenschaftler“, die zur Debatte in diesem Bereich am meisten beigetragen haben, hat Brunner aufmerksam gelesen. Der einflussreichste hieß Ignaz Zollschan; die 500 Seiten seines zuerst 1909 erschienenen Buches Das Rassenproblem20 standen am Anfang einer außergewöhnlichen Karriere. Zionistisch gesinnt hatte er seiner Stellungnahme den Untertitel gegeben: „unter besonderer Berücksichtigung der theoretischen Grundlagen der jüdischen Rassenfrage“. Das Buch wurde bis 1925 fünfmal aufgelegt. Zollschan teilte alle von der Kolonisation stammenden rassistischen Vorurteile und Klischees seiner Zeit, die Idee höherer und niederer Rassen, deren Kreuzung unerwünscht war. Nur wollte er sie zum Vorteil der Juden anwenden.21 Ein Philosoph wie Brunner konnte diese dilettantische Pseudo-Wissenschaft nicht ernst nehmen: „Miserables Urteil der Gebildetsten! Was da alles pflegt in den Kuchen hineingemengt zu werden, und welch wunderbares Vermögen sie besitzen, wahrhaft Gegründetes und blödsinnigen Dunst mit gleicher Ernsthaftigkeit aufzunehmen und gebildet damit weiter zu leben!“22 Zollschan hatte er also gründlich gelesen; mit Jakob Klatzkin, dem großen Theoretiker des Zionismus, sollte er sich später auseinandersetzen. Brunner verurteilte die jüdisch-nationale Bewegung zutiefst: Der Zionismus und der Judenhaß hängen aber aufs engste zusammen, wie Wirkung und Ursache. Der Zionismus ist die verkehrte Reaktivität der Juden, der Hereinfall des Juden auf den rassentheoretischen Judenhaß, – solcher Juden, die nicht einsehen können, dass es mit der Emanzipation langsam geht und unmöglich ohne Rückfälle vorangehen kann; welche Rückfälle also, bei der Natur der Menschheit, von psychologischer und historischer Berechtigung und Notwendigkeit sind.23

19 Constantin Brunner: Der Judenhaß und die Juden. Berlin 1918. Im Folgenden zitiert nach der Neuausgabe Berlin, Wien 2004. 20 Ignaz Zollschan: Das Rassenproblem, unter besonderer Berücksichtigung der theoretischen Grundlagen der jüdischen Rassenfrage. Wien, Leipzig 1909. 21 Siehe zum Beispiel Max Besser: Die Juden in der modernen Rassentheorie. Berlin 1911; Alexander Schueler: Der Rassenadel der Juden. Berlin 1912. 22 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 19), S. 63. 23 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 19), S. 91.



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Zionismus war für Brunner eine Art Flucht aus dem Felde zu einem Ort, wo „der Weiterbestand und die Regeneration der jüdischen Blutgemeinschaft“ (Zollschan) stattfinden sollte. Diese „Blutgemeinschaft“ oder „Wirkung des eigenen Blutes“ sah er im Übrigen als ein sprachliches Zeichen modernen wissenschaftlichen Aberglaubens, der die Stelle des religiösen eingenommen hatte.24 So wie Brunner einst sein umfangreiches theoretisches Werk von 1908 in der Form einer „Kurzen Rechenschaft“ zusammengefasst hatte, nahm er die Themen seiner Kritik am „Judenhaß“ in einem ausgezeichneten Überblick wieder auf, welchem er absichtlich einen geheimnisvollen hebräischen Titel gab: Memscheleth sadon.25 Von ihm selbst ins Deutsche als „Das Reich des Hochmuts“ übersetzt, bedeutete dieses „Letzte[...] Wort über den Judenhaß und die Juden“ eine allgemeine Missbilligung des menschlichen Urteilsvermögens. Hochmut sieht er als die größte Gefahr der Gesellschaft, als die erste der Sieben Todsünden überhaupt.26 Der Philosoph, der sich als Atheist und Ex-Judeus beschreibt, hat seinen Titel einem Gebet des jüdischen Neujahrsfestes entnommen,27 als Grundsatz einer Ethik der immerwährenden persönlichen Verantwortung. Die Juden alle müssen aber heraus aus dem Ghetto und dürfen nicht fallen weder in die Konfusion vor dem Zionismus noch in die Verzweiflung nach dem Zionismus, nach der unausbleiblichen ungeheuren Enttäuschung; und ebenso müssen sie heraus aus aller Verkehrtheit über die Emanzipation, deren Wahrheit nicht ist, daß die Juden assimiliert, ununterscheidbar von den Nichtjuden, sondern daß sie nach ihrer Besonderheit allgemein anerkannt und von sich selber erfaßt werden nach der wahrhaften Eigentümlichkeit ihres Wesens. Die dürfen die Deutschen jüdischer Abstammung so wenig aufgeben wie andere Deutsche ihre Eigentümlichkeit aufgeben dürfen.28

Mit solchen Überlegungen bewegte sich Brunner ganz in innerdeutschen Verhältnissen; was aber erstaunlicher scheint, ist die Tatsache, dass er (als erster nichtzionistischer deutscher Jude?) die „Araberfrage“ zu den wichtigsten Hindernissen der Kolonisation zählte.

24 Zollschan hatte die Theorie des Neolamarckisten Richard Semon (1859–1918) übernommen, dessen Buch Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens 1904 erschienen war. Siehe: Veronika Lipphardt: Biologie der Juden, Jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Vererbung 1900­­–1935. Göttingen 2008, S. 99. 25 Constantin Brunner: Memscheleth sadon. Letztes Wort über den Judenhaß und die Juden. Berlin 1920. 26 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 25), S. 44. 27 Siehe dazu in diesem Band Elisabeth Conradi: Eine Erörterung der „Antisemitenfrage“ bei Constantin Brunner. 28 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 25), S. 98.

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Was früher der Himmel und Zion besorgte, das besorgt jetzt für viele in kleiner Seele Hoffnungsbedürftige, auch ohne den Lohn in der Himmelsmärchenwelt, der Zionismus, der aber schwerlich nach Zion oder wen nach was für einem Zion führt! Nicht die rechten Israeliter, sondern die unrechten, die das nicht wollen, was sie sollen und müssen: Zion muß man suchen überall in der Welt, nur nicht in Palästina so, wie es die Zionisten suchen. Dieses Zion ist nicht mehr, und nur das geistige Zion soll sein, nur der Geist des Judentums – was soll Schutzgeist des Judentums den Schutzjuden in der Kalkwüste, die übrigens seit beinahe 1300 Jahren den syrischen Arabern gehört?!29

Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Brunner schon voraussehen konnte, dass er mit diesen Bemerkungen das Hauptthema des nächsten zionistischen Kongresses, Karlsruhe 1921, vorwegnahm. Dieses Treffen, das erste nach Ende des Weltkrieges, nach der Balfour-Deklaration und den Resolutionen der Konferenz in San Remo, hätte sich auf eine Haltung gegenüber der Mandatsmacht und den arabischen Einwohnern einigen müssen. Mit der sogenannten neugebildeten „Demokratischen Gruppe“ hatte Jakob Klatzkin (in dessen Begleitung Brunner sich später bei Jahve zu Besuch einlud)30 eine Anzahl von Thesen und Forderungen als Aktionsprogramm geschrieben. Mit seinen Freunden (Nahum Goldmann, Hans Kohn usw.) drückte er die Hoffnung aus, „einen Zusammenschluss aller linken, sozialistisch gesinnten Fraktionen zu einheitlichem Auftreten auf dem Kongress herbeizuführen“.31 Die Resolution für friedliche Verständigung mit den Arabern verblasste ziemlich rasch zu Gunsten anderer Prioritäten: der Politik gegenüber England, der Erweiterung der „Jewish Agency“ und der Organisation der Wirtschaftspolitik. Auch Brunner widmete sich anderen Dringlichkeiten. Nach dem Erscheinen seines dritten umfangreichen Werkes im Jahre 1921, Unser Christus oder das Wesen des Genies32, schien Brunner eine Weile im Zweifel über die thematische Fortsetzung seiner Arbeit. Das Buch behandelte ebenso sehr seine philosophische Theorie des „Geistes“ wie die Wahrnehmung Christi durch Juden und Christen, eine alte Besorgnis, die ihn schon gezwungen hatte, seinem Buch über den Judenhass33 ein letztes, vom übrigen Inhalt ziemlich losgelöstes Kapitel anzufügen, nämlich die schon 1893 geschriebene „Rede der Juden: Wir wollen ihn zurück!“.

29 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 25), S. 108. 30 Siehe Constantin Brunner: Von den Pflichten der Juden und von den Pflichten des Staates. Berlin 1930, S. 80. 31 Jakob Klatzkin: Forderungen an den XII. Zionistenkongress. Heidelberg 1921, S. 2. 32 Constantin Brunner: Unser Christus oder das Wesen des Genies. Berlin 1921. 33 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 19).



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Kein Buch legt so deutlich Zeugnis ab von der Fülle und Verschiedenheit der Gedanken seines Autors wie die Schrift Vom Einsiedler Constantin Brunner.34 Es enthält drei Teile, wovon der letzte offensichtlich unter dem Druck der Aktualität geschrieben und alsbald publiziert wurde. Am 20. April 1924 zelebrierten Ludendorff und Nazileiter in Weimar den 35. Geburtstag Hitlers (der nach dem gescheiterten Putsch noch im Gefängnis saß), und im Mai erntete die Partei in Thüringen ihre ersten Erfolge bei den Reichstagswahlen. Am Anfang seiner Publikation hatte Brunner notiert: „Geschrieben Juni und Juli 1924“. So lag die Betonung unmissverständlich auf der wachsenden Gefahr für das Land und für seine Juden, „als wäre ganz Deutschland ein Judendorf und Ludendorff“.35 Brunner fuhr die „judenverrückten Jungen“ an, die ihren Kampf „für ideal und heldenhaft“ hielten.36 Am Rande dieser Zeile hat in meinem Exemplar des Buches ein anonymer Leser angemerkt: „Er liest dich aber gar nicht. Er liest ausschließlich: Die Geheimnisse der Weisen von Zion und ähnliches.“ Nie fühlte Brunner so ein Drängen wie in diesem Büchlein. Was die Kolonisation Palästinas betrifft, ging er noch einen Schritt weiter als drei Jahre zuvor, wahrscheinlich als Folge des nationalistischen Widerstandes der Araber und der dadurch in zionistischen Kreisen, zumeist in Deutschland, einsetzenden Auseinandersetzung. So schrieb er nun: Sie [die Juden] sind kein besonderes Volk; und selbst wenn sie eines wären, sie könnten es nicht sein, weil zu einem Volk ein Staat und ein Land gehört. In der alten kleinen Reliquie Palästina läßt sich doch kein moderner Staat errichten für die 16 Millionen Juden! Palästina ist nicht viel größer als meine Heimatprovinz Schleswig-Holstein, aber entfernt nicht so fruchtbar, und zählt zurzeit etwa ¾ Millionen Einwohner. Palästina kann umso weniger ein Judenstaat sein, als es nicht einmal den Juden gehört. Palästina gehört den syrischen Arabern, und wenn die Juden es diesen wegnehmen wollten, – ich kämpfte auf Seiten der Araber!37

Diese außergewöhnliche Stellungnahme unter den liberalen deutschen Juden – ich kenne kein vergleichbares Beispiel – darf meiner Meinung nach nicht als Provokation gedeutet werden, sondern als Ausdruck eines konsequenten Denkers. Der Aufschwung der deutschen Wirtschaft seit 1924, nach der Annahme des Dawes-Planes – einem internationalen Kredit in Höhe von 800 Millionen

34 Constantin Brunner: Vom Einsiedler Constantin Brunner, Mein Leben und Schaffen, Unsre scholastische Bildung, Das Unglück unseres deutschen Volkes und unsere Völkischen. Potsdam 1924. Der dritte Teil wurde von mir ins Französische übersetzt und eingeleitet; er erschien bei Didier Devillez Éditeur, Bruxelles 2008, in Zusammenarbeit mit Mémoire d’Auschwitz ASBL. 35 Brunner, Einsiedler (wie Anm. 34), S. 97. 36 Brunner, Einsiedler (wie Anm. 34), S. 119. 37 Brunner, Einsiedler (wie Anm. 34), S. 134 f.

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Goldmark –, führte zu einer relativen politischen Entspannung, die Brunner offenbar die Rückkehr an und die Weiterentwicklung seiner philosophischen Arbeiten gestattete. Er hatte schon in diesem Jahr mit dem Buch Liebe, Ehe, Mann und Weib38 einen sonderbaren Exkurs in den Bereich der geschlechtlichen Beziehungen gewagt. 1928 erschien Materialismus und Idealismus,39 ein Versuch der Synthese des materialistischen Verstehens der Dinge und der Ideal­ welt der Begriffe. Unter dem Einfluss der Gedanken Brunners publizierten im selben Jahr drei Bewunderer aus seinem Kreis ein kämpferisches Büchlein: Los vom Zionismus,40 dessen allgemeiner Grundton die aktive Verteidigung und Erweiterung der Emanzipation war. Damit nähern wir uns den letzten öffentlichen Interventionen Brunners in Deutschland vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933. Mit der Publikation eines neuen „Judenbuches“, Von den Pflichten der Juden und von den Pflichten des Staates,41 reagierte Brunner 1930 sehr schnell auf tiefgreifende Veränderungen der internationalen zionistischen Bewegung. Der 16. Zionistische Kongress, der im August 1929 in Zürich tagte, hatte eine „Jewish Agency“ als „Repräsentanz des Weltjudentums“ gegründet und beschlossen, diese auch für Nichtzionisten zu öffnen. So wurde ein Vertrag mit bekannten Persönlichkeiten unterzeichnet, die der Bewegung nicht angehörten. Unruhen entstanden bei den Arabern in Palästina, die ein parlamentarisches Regierungssystem forderten; in der zionistischen Bewegung setzte eine Krise ein. Das Buch Brunners konnte den Anschein einer Auseinandersetzung mit dem programmatischen Werk Klatzkins Krisis und Entscheidung im Judentum42 erwecken. Weit mehr als mit einer verspäteten Antwort auf dieses Buch vom Anfang der zwanziger Jahre war Brunner jedoch mit der offiziellen Erweiterung des Zionismus beschäftigt, d.h. mit Leuten, die die Judenemanzipation in ihren eigenen Ländern gegenüber dem Zionismus hätten vorziehen müssen. So wird der Titel von Brunners Buch klarer: Die deutschen Juden haben Pflichten zu erfüllen, wenn sie als Gegenleistung die Anerkennung und staatliche Gleichberechtigung verlangen. Den Juden, die mit den Zionisten zusammenarbeiteten, warf Brunner „politische Unreife“ vor. In seiner Analyse diente Klatzkin nur als Illustration und Erläuterung des fundamentalen

38 Constantin Brunner: Liebe, Ehe, Mann und Weib. Potsdam 1924. 39 Constantin Brunner: Materialismus und Idealismus. Potsdam 1928. 40 Fritz Blankenfeld, Kimchi (i.e. Emil Grünfeld), Ernst Ludwig Pinner: Los vom Zionismus. Frankfurt a.M. 1928. 41 Constantin Brunner: Von den Pflichten der Juden und von den Pflichten des Staates. Berlin 1930. 42 Jakob Klatzkin: Krisis und Entscheidung im Judentum. Berlin 1921.



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Gegensatzes zwischen Zionismus und Emanzipation. Mit seinem „Heinzelmännchen“, wie er ihn nannte, diesem „Jüdlein aus dem Ghetto“, hätte er sich kein besseres Beispiel wählen können.43 Aber dieses Buch schien Brunner noch nicht ausreichend, um sich einem breiten Publikum jüdischer und nichtjüdischer Deutscher verständlich zu machen. Ein Jahr später konnte er ein altes Projekt konkretisieren: den eindrucksvollen Vergleich zwischen dem verschwundenen Hexenwahn und dem von Tag zu Tag lebendigeren Judenwahn. Damit versuchte er zu verstehen zu geben: Die Inquisition ist mit dem Aberglauben an die Hexen und Teufelskrea­ turen restlos tot; die Judenhetze ist mit dem Glauben an fiktive und imaginäre Juden jedoch lebendig. Und immer noch schrieb Brunner den Juden eine Mitverantwortung für diesen Wahn zu, insbesondere im Hinblick auf den jüdischen Nationalismus: Das ist der unerhört verwegene Zionismus: er existiert überhaupt nicht, will aber die leidenden Juden mit seiner Existenz beglücken; er versteht, was ich nicht verstehe und umso höher denn bewundern muss, verduckt vor Staunen, – er versteht, die eingekörperten Juden zu entkörpern und ihrer herausgedrehten Judenseele Heimstätte und Heimatgefühl außerhalb ihrer Heime zu verlegen – nach dem Muster jenes Mannes, der so ungeheuerlich schnarchte, dass er genötigt war, auf Anraten seines Arztes, weit weg von seiner Wohnung sich ein Zimmer zu mieten, um ruhig schlafen zu können.44

Im August 1931 erschien noch, als letztes Eingreifen Brunners in das öffentliche Leben Deutschlands, ein Aufsatz in den „Preußischen Jahrbüchern“, betitelt: Über die notwendige Selbstemanzipation der deutschen Juden.45 Wieder beschrieb er den „zionistischen Separatismus“ als Hauptgefahr der Emanzipation. Er unterstrich dabei: „Ich rede hier nicht von den zionistischen Juden, sondern von dem latenten Zionismus in denjenigen Juden, die sich selbst nicht für Zionisten halten.“ Eine Antwort des Central-Vereins folgte bald aus der Feder von Eva Reichmann, ihrer „bedeutendsten neuen Ideologin“.46 Sie schrieb: Man ist nicht jüdisch-völkisch, weil man sein deutsch-jüdisches Sein, sein Eins- und doch Anderssein inmitten der deutschen Umwelt als etwas Lebenswertes empfindet; weil man

43 Brunner, Pflichten (wie Anm. 41), S. 70. 44 Constantin Brunner: Höre Israel und Höre Nicht-Israel (Die Hexen). Berlin 1931, S. 30. 45 Constantin Brunner: Über die notwendige Selbstemanzipation der deutschen Juden. In: Preußische Jahrbücher, Nr. 225, Heft 2 (August 1931). S. 132–141; wieder in: ders.: Vermächtnis. Hg. vom ICBI. Den Haag 1952, S. 114–125. 46 Nach Avraham Barkai: „Wehr Dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893–1938. München 2002, S. 243.

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zu dieser wundersamen, gedrückten und erhobenen, tausendfach vernichteten und immer wieder auferstandenen Schicksalsgemeinschaft sich bekennt.47

Brunner aber hatte nie die Existenz einer „Schicksalsgemeinschaft“ in Frage gestellt, sondern nur die Mitarbeit von Nicht-Zionisten des Central-Vereins an einer Politik kritisiert, die Brunner desto gefährlicher erschien, je mehr die Völkischen an Macht gewannen. Was Brunner aufmerksam beobachtete, war eine Annäherung der zionistischen und national-sozialistischen Thesen, das Streben nach einer gemeinsamen Sprache unter regelrecht nationalistischen Verteidigern ihrer jeweiligen Völker. Diese Tendenz, die sich schon in öffentlichen Auseinandersetzungen Bahn brach, wurde noch deutlicher, als die Nazis an die Regierung kamen. Bereits 1932 erklärte Robert Weltsch, der Chefredakteur der Jüdischen Rundschau: Die Juden [...] bilden [...] ein durchaus unvergleichbares „Hapax legomenon“ der Weltgeschichte [...]. Der Zionismus ist sich dessen bewusst, eine in der Geschichte präzedenzlose Tat vollbringen zu wollen. Er appelliert an das Verständnis und die Hilfe der Völker, die selbst unter der Judenfrage leiden. […] Sein Gefühl für eigenes Volkstum, für den unersetzbaren Wert der das tiefste Wesen bestimmenden Blutsgemeinschaft mit ihren Imponderabilien, befähigt gerade den national denkenden Juden zum Verständnis für echtes nationales Empfinden überhaupt. […] Nur wenn es gelingt, die Juden als eine charakteristische Gruppe dem Staatsganzen einzufügen, ohne sie innerlich zu verkrüppeln, kann das Zusammenleben von Deutschen und Juden im künftigen Reich, wie immer es aussehen möge, entgiftet werden. Vielleicht ist dazu nichts anderes nötig als mehr Selbstbewusstsein auf beiden Seiten.48

Als Hitler Reichskanzler wurde, entwickelte die zionistische Presse eine breite Kampagne, die sozusagen auf ein Judenkonkordat zielte: Die Zionisten seien die einzig zuverlässigen Partner unter den Juden und nur mit ihnen sei ein neuer politischer Vertrag zu verhandeln. Zwanzig Leitartikel der zionistischen Zeitschrift wurden als Buch herausgegeben. In seinem Vorwort schrieb Weltsch: Es ist sinnlos, in einer Welt, die sich zum Liberalismus in schärfsten Gegensatz stellt, als ‚liberaler‘ Jude leben zu wollen. Es gilt neu aufzubauen. Die erste Voraussetzung solchen Aufbaus ist aber die Erkenntnis der Wirklichkeit. […] Wir halten es für unfruchtbar, die Schuld an unseren schweren Erlebnissen nur anderen zuzuschieben; viel wichtiger ist es,

47 Eva Reichmann: Leben oder Untergang? Eine Antwort an Constantin Brunner. In: Zeitung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 10, Nr. 42 (16. Oktober 1931), S. 495. 48 Robert Weltsch: Judenfrage und Zionismus. In: Klärung. Zwölf Autoren und Politiker über die Judenfrage. Berlin 1932, S.  125. Zitiert in: ders.: An der Wende des modernen Judentums. Tübingen 1972, S. 8.



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unsere eigene Schuld zu erkennen, weil wir dort, wo wir selbst gefehlt haben, auch selbst wiedergutmachen können. Durch die Ereignisse sind wir nur formell Juden geworden; aus diesem Judentum eine innere Wirklichkeit zu machen ist unsere Sache. Dazu wollen diese Aufsätze aufrufen.49

Der politische Kurs führte die Zionisten dahin, sich bei „den verantwortlichen Instanzen des neuen deutschen Staates“ anzubiedern. Weltsch schrieb weiter: Ein Prinzip des Zionismus war stets der Wille, auch die aus der Judenfrage entspringenden Schwierigkeiten der nichtjüdischen Welt voll zu würdigen und die Juden zu einem handlungsfähigen Partner zu machen, der durch Aufbau eines neuen jüdischen Lebens auch den anderen Völkern aktive Hilfe bei der Lösung ‚ihrer‘ Judenfrage leistet.50

Wie weit solche Äußerungen vom Kampf der emanzipierten Juden entfernt sind, springt ins Auge. Als sich im Juni desselben Jahres in jüdischen Kreisen die Diskussion um „eine neue Emanzipation“ unter der NS-Herrschaft ausbreitete, hatte Brunner sein Leben bereits durch die Flucht in die Niederlande retten müssen. Texte aus Brunners Vermächtnis, erst nach dem Zweiten Weltkrieg publiziert, beschreiben die innere Erschütterung, die Brunner in diesen Tagen erlebte: „Jetzt bin ich gebissen“, schrieb er am Anfang eines nach den Reichstagswahlen vom 6. März 1933 begonnenen und im Juni im Exil in Den Haag abgeschlossenen Aufsatzes.51 Gleichwohl änderten die politischen Ereignisse und sein Exil nichts an seinen politischen Positionen wie er nachdrücklich betonte: Auf die Fragen, ob ich nach diesen Geschehnissen in Deutschland immer noch dächte, wie ich gedacht und geschrieben habe, schreibe ich: Allerdings, noch genau so und erst recht! Nur hätte ich die Wahrheit über die Judenemanzipation hundert Jahre früher sagen müssen, dann wäre sie längst durchgedrungen und das Unglück von heute unmöglich gewesen.52

Wie konsequent Brunner seinen universalistischen Prinzipien treu geblieben ist, zeigt sich wohl am besten, wenn man seine Reaktionen rückblickend betrachtet. Als kurz vor der Balfour-Erklärung die Möglichkeit der Schaffung eines jüdischen Staates zum ersten Mal realistisch erschien, schrieb Brunner, im September 1917, in seinem ersten, scharfblickenden Vorwort zu Der Judenhaß und die Juden:

49 Robert Weltsch: Vorwort. In: Ja-Sagen zum Judentum, eine Aufsatzreihe der Jüdischen Rundschau zur Lage der deutschen Juden. Berlin 1933, S. 5. 50 Weltsch, Vorwort (wie Anm. 49), S. 8. 51 Constantin Brunner: Am 6. März. In: ders., Vermächtnis (wie Anm. 45), S. 49–113, hier S. 49. 52 Brunner, Vermächtnis (wie Anm. 45), S. 99.

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[...] sollte, etwa durch diesen Krieg, das Kaleidoskop so geschüttelt werden, daß dabei tatsächlich ein neuer jüdischer Staat in Palästina herauskommt: so werden denn fortan in der Welt Juden und Juden sein, die Juden aber in Palästina weniger Juden als die außerhalb Palästinas, – weil sie ihrem Kampf in der Welt sich entziehen und, da die Tiefe ihrer Bestimmung ihnen nicht zum Herzen gelangen konnte, sich selber bestimmen wollen. Das Schicksal kommt nicht, das man ruft. Und nein, – viel Schlimmes eher als ‚ein jüdisches Volk‘ werden die neuen Schutzjuden in Palästina sein!53

53 Brunner, Judenhaß (wie Anm. 19), S. XXXI. Warum Brunner den letzten Satz in der Neuauflage von 1919 nicht übernommen hat, wissen wir nicht.

Andreas Kilcher

„Das Gebot der Anpassung“. Constantin Brunners Ausweg aus dem Judentum Als Constantin Brunner im Umfeld des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik mit historischem Sendungsbewusstsein, ja „mit prophetischem Pathos“1 seine Stimme im Diskurs der deutsch-jüdischen Moderne erhob, da befand sich ihr zentrales Projekt, das der Emanzipation und der Assimilation, in einer schweren Krise – dies nachdem es von deutscher Seite zur „Judenfrage“ deklariert wurde. Das große kulturelle und soziale Vorhaben, das das liberale Judentum seit der Aufklärung mit humanistischen und kosmopolitischen Idealen vorantrieb, der entschiedene Wille zu europäischer Bildung, Wissenschaft und Kultur sowie die darauf bauende Aussicht auf rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Integration – eben dieses Projekt der Moderne wurde in Deutschland schon bald nach seiner Formulierung im frühen 19. Jahrhundert, verstärkt aber seit der Gründerzeit nach 1870, mit wachsendem Unbehagen beobachtet – und als politische, gesellschaftliche und kulturelle Bedrohung dämonisiert.2 Was sich dabei herausbildete – und worauf die Generation Constantin Brunners notgedrungen reagieren musste –, kann als post-emanzipatorischer Antisemitismus bezeichnet werden, ein Antisemitismus mithin (eben unter dem polemischen Begriff der „Judenfrage“3), dessen Affekt insbesondere gegen die Ideen und Bestrebungen von Emanzipation und Assimilation gerichtet war – und damit auch gegen die Herausbildung einer deutsch-jüdischen Kultur. Seine polemische Argumentation war höchst widersprüchlich: Auf der einen Seite grenzte er die Juden als „starre“ und unintegrierbare „Fremde“ aus, auf der anderen Seite aber perhorreszierte er sie als identitätslose Verwandlungskünstler, und damit die deutsch-jüdische Assimilation als Versuch der Täuschung und Usurpation, deren Doppelbödigkeit jegliche eindeutige kulturelle und nationale Identität untergräbt. Gegen die deutsch-jüdische Mischkultur und ihre subversive Assimilation forderte er eine normative Assimilation, eine strikte Anpassung also an das

1 So nahmen ihn schon die Zeitgenossen wahr; vgl. Constantin Brunners Ruf an Juden und Nichtjuden. In: C.V.-Zeitung 10, Nr. 23 (5. Juni 1931), S. 290. 2 „Der Haß gegen das Judentum flammte auf in der Zeit nach 1870, also in der Zeit gesteigerten Volksgefühls“, so beobachtete schon Ernst Lissauer in seinem Beitrag zur Kunstwart-Debatte in: Der Kunstwart 25 (April 1912), S. 6–12, hier S. 9. 3 Vgl. Alex Bein: Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems. 2 Bde. Stuttgart 1980.

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Deutsche bei gleichzeitiger Auflösung des Jüdischen. Die Politik des post-emanzipatorischen Antisemitismus zielte damit auf die kulturelle und gesellschaftliche – auf die symbolische und letztlich auch auf die physische – Annihilation des Judentums. Ein einleitender Blick auf einige Leittexte der „Judenfrage“ und ihre polemische Interpretation der Assimilation ist schon deshalb gegeben, weil es eben diese waren, auf die die Generation deutsch-jüdischer Intellektueller, der Brunner angehörte, zu reagieren hatte. Ja es wird sich zeigen, dass Brunner in seinen zahlreichen Schriften zum Judentum in der Weimarer Zeit – darunter Der Judenhaß und die Juden (1918), Von den Pflichten der Juden und von den Pflichten des Staates (1930), Höre Israel und Höre Nicht-Israel! (1931), Über die notwendige Selbstemanzipation der Juden (1931) sowie das Spätwerk Der entlarvte Mensch (abgeschlossen 1933, erschienen posthum 1953) – Argumente jenes Diskurses der „Judenfrage“ kritisch dargestellt und abgewehrt, in einzelnen Wendungen aber auch – wenn auch unter gänzlich anderen Vorzeichen – aufgenommen hatte. Brunners Schriften zum Judentum sowie insbesondere sein Begriff der Assimilation, um den es im Folgenden hauptsächlich geht, muss daher zunächst vor dem Hintergrund des polemischen Diskurses der „Judenfrage“ verständlich gemacht werden.4

I Die Reaktion gegen die Emanzipation ist fast so alt wie sie selber. Schon gegen das preußische Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden von 1812 opponierten konservative nationaldeutsche Intellektuelle, indem sie das mittelalterliche inquisitorische Gewaltmuster ‚Tod oder Taufe‘ in der Alternative von „Ausrottung“ oder „Untergang“ durch Assimilation reformulierten. So jedenfalls äußerte sich der Berliner Historiker Friedrich Rühs in seiner Schrift Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht (1815), indem er gegen die behauptete irreduzible Fremdheit der Juden ihre radikale Assimilation forderte: „Es muss alles geschehen,“ um die Juden „zur wirklichen Aneignung der deutschen Volkseigenthümlichkeit zu veranlassen, um auf diese Art den Untergang des jüdischen Volks mit der Zeit zu bewirken.“5 Dieser Vernichtungsforderung durch Assimilation und Konversion pflichtete der mit ihm befreundete Kollege

4 Vgl. dazu Frederick Ritter: Constantin Brunner und seine Stellung zur Judenfrage. In: LBI Bulletin 51 (1974), S. 40–79. 5 Friedrich Rühs: Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht. 2. Aufl. Berlin 1816, S. 39.



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Ernst Moritz Arndt ebenso bei wie der Jenenser Mathematiker und Philosophieprofessor Jacob Friedrich Fries, der in seiner Schrift Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden (1816) unumwunden konstatierte: „Die bürgerliche Lage der Juden verbessern heißt eben das Judenthum ausrotten.“6 Auf solcher Basis formulierte der rechtshegelianische Theologe und Philosoph Bruno Bauer mit seiner Schrift Die Judenfrage (1843) einen locus classicus des post-emanzipatorischen Antisemitismus. Bauer argumentierte politischtheologisch: Er stellte die Emanzipation mit der Behauptung mangelnder Assimilationsbereitschaft der Juden im „christlichen Staat“ in Frage. Daraus folgerte er, dass die Juden eben dadurch den Antisemitismus auf sich zogen und daher für den Judenhass selbst verantwortlich seien – eine Argumentationsfigur, die – wie sich zeigen wird – bei Brunner an zentraler Stelle wiederkehrt. Während alle anderen Völker sich im Lauf der Geschichte entwickelten, so Bauer hegelianisierend, seien die Juden durch einen grundsätzlichen „Mangel an geschichtlicher Entwicklungsfähigkeit“ zu charakterisieren, ein „stationäres Volkswesen“,7 das sie letztlich immer als „Fremdlinge“ gelten lassen müsse.8 Dennoch seien die Juden, so die widersprüchliche Argumentation, charakter- und „haltlos“ und damit potenziell übermäßig assimilierend, was im Paradoxon gipfelt: „Der Jude ist starr und consequent, aber nur in der Haltlosigkeit und Inconsequenz.“9 Die politisch-theologische Forderung, die Bauer dagegen an die Juden „im christlichen Staat“ richtet, ist diejenige normativer Anpassung bis hin zur Selbstauflösung: „sich zu einem Nicht-Volk zu machen. […] für sich selbst soll es […] Nichts seyn.“10 „Ihre bodenlose Nationalität müssen sie zum Opfer bringen, ehe sie sich auch nur im Entferntesten in Stande setzen können, an wirklichen Staatsund Volksangelegenheiten aufrichtig und ohne geheimen Vorbehalt Theil zu nehmen.“11 Bauers Schrift fand in dem als Rezension entstandenen Essay Zur Judenfrage (1844) von Karl Marx eine prominente linkshegelianische Antwort. Während Marx die Beschränkung auf den „christlichen Staat“ kritisierte, mündet

6 Jacob Friedrich Fries: Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden. Heidelberg 1816, S. 10. Fries überbot sich in radikalen Formulierungen, wenn er an späterer Stellen nachdoppelte, dass diese „Judenkaste“ „mit Stumpf und Stiel ausgerottet werde, indem sie offenbar unter allen geheimen und öffentlichen politischen Gesellschaften und Staaten die gefährlichste ist.“ (S. 18). 7 Bruno Bauer: Die Judenfrage. Braunschweig 1843, S. 11. 8 Bauer, Die Judenfrage (wie Anm. 7), S. 32. 9 Bauer, Die Judenfrage (wie Anm. 7), S. 43. 10 Bauer, Die Judenfrage (wie Anm. 7), S. 55 f. 11 Bauer, Die Judenfrage (wie Anm. 7), S. 61.

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er doch in einer ähnlichen Forderung, die sich scharf gegen die Partikularität des Judentums richtet. Dabei gelangt er zu einer polemischen Umkehr des Emanzipationsbegriffs, die ebenfalls bei Brunner wiederkehren wird: Assimilation nicht als Integration, sondern als Annihilation: „Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum“, was in den Schlusssatz mündet: „Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.“12 Was Bauer und seine nationaldeutschen Vorgänger für den „christlichen Staat“ als Bedrohung erachteten, sah Richard Wagner in seinem kontroversen Essay Das Judenthum in der Musik (1850; erweitert 1869) auf dem Gebiet der deutschen Kultur. Brunner, mit Wagners Musikdramen ebenso vertraut wie mit der Problemfrage seines Antisemitismus, kannte die Edition von Wagners Judentum in der Musik (1914) sowie der Gesammelten Schriften (1914) durch Julius Kapp.13 Kern von Wagners Argumentation ist die erneut widersprüchliche Behauptung, dass „der Jude“ der zweitausendjährigen Diaspora, wiewohl er als „Einzelner“ abseits der „geschichtlichen Gemeinsamkeit“ Europas stand, keine eigene Sprache, keine eigene kulturelle Identität habe, sondern nur im Geborgten lebe und rede: Der Jude spricht die Sprache der Nation, unter welcher er von Geschlecht zu Geschlecht lebt, aber er spricht sie immer als Ausländer. […] Zunächst muß im Allgemeinen der Umstand, daß der Jude die modernen europäischen Sprachen nur wie erlernte, nicht als angeborene Sprachen redet, ihn von aller Fähigkeit, in ihnen sich seinem Wesen entsprechend, eigenthümlich und selbständig kundzugeben, ausschließen. […] In einer fremden Sprache wahrhaft zu dichten, ist nun bisher selbst den größten Genies noch unmöglich gewesen. Unsre ganze europäische Civilisation und Kunst ist aber für den Juden eine fremde Sprache geblieben […]. In dieser Sprache, dieser Kunst kann der Jude nur nachsprechen, nachkünsteln, nicht wirklich redend dichten oder Kunstwerke schaffen.14

Was Wagner für das Theater, die bildende Kunst und an Heine und Börne für die Literatur feststellte, das meinte er insbesondere auch für die Musik zeigen zu können – namentlich an Felix Mendelssohn-Bartholdy und Giacomo Meyer-

12 Vgl. Karl Marx: Zur Judenfrage. Berlin 1915, S. 49. 13 Vgl. Constantin Brunner: Der Judenhaß und die Juden. Berlin 1918. S. 176 f. Vgl. auch die Passagen zu Wagner in Lotte Brunners Tagebuch, darunter etwa: Lotte Brunner: Es gibt kein Ende. Die Tagebücher. Hg. von Leo Sonntag und Heinz Stolte. Hamburg 1970, S. 96. 14 Richard Wagner: Das Judenthum in der Musik. Leipzig 1869, S. 14 f. Zu Wagners Judentum in der Musik und der davon ausgelösten Debatte vgl. die Einführung von Jens Malte Fischer: Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus. Frankfurt a.M. 2000, S. 18–138.



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beer: die fehlende Originalität. Daraus folgerte er für „den Juden“ in der Kunst überhaupt: Er sei „an sich unfähig […], weder durch seine äußere Erscheinung, noch durch seine Sprache, am allerwenigsten aber durch seinen Gesang, sich uns künstlerisch kundzugeben.“15 Die dem entgegenstehende tatsächliche zu­nehmende Präsenz der Juden in der Kultur des 19. Jahrhunderts wertet Wagner wiederum als „Ablenkung und Fälschung unsrer höchsten Culturtendenzen“, ja als gefährliche „Assimilation“ eines „zersetzenden Elementes“, das auf „Spiel“, „Täuschung“, Unoriginalität und Nachahmung beruht und dem er in einer Weise entgegenzutreten aufruft, die Marx’ „Emanzipation vom Judentum“ zur „Erlösung“ überhöhnt. Darauf ist an späterer Stelle zurückzukommen, zumal diese Argumentation für Brunner in besonderem Maß wegweisend war.16 Was Bauer für den „christlichen Staat“ und Wagner für die „deutsche Kunst“ behaupteten, weitete der konservative preußische Historiker Heinrich von Treitschke – von Brunner nicht nur zitiert, sondern auch als Student der Geschichte und Philosophie in Berlin gehört17 – in einem nochmals verschärften Ton und nun im neuen Umfeld der Gründerjahre auf die gesamte deutsche Gesellschaft aus. Treitschke tat dies in dem streitbaren Aufsatz Unsere Aussichten (1879), der in dem berüchtigten Satz mündete: „die Juden sind unser Unglück!“18 Die Beschwörung der nationalen deutschen Einheit verband auch Treitschke mit einer Anprangerung der „nationalen Sonderexistenz“ der deutschen Juden, denen er – bei gleichzeitigem Unbehagen gegenüber ihrer Anpassungsfähigkeit – mangelnde Assimilationsbereitschaft vorhielt und forderte, dass sie „sich den Sitten und Gedanken ihrer christlichen Mitbürger“ anpassten, die ihnen doch „die Rechte des Menschen und des Bürgers geschenkt“ haben. Stattdessen „bestand man dreist auf seinem ‚Schein‘; man forderte die buchstäbliche Parität in Allem und Jedem und wollte nicht mehr sehen, dass wir Deutschen denn doch ein christliches Volk sind.“ Nicht integrierte Deutsche, sondern „Deutsch redende Orientalen“, hybride Schein- und Mischwesen also, glaubte Treitschke in den deutschen Juden zu sehen, um sodann von ihnen eine normative Anpassung einzufordern: „Sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen – unbeschadet ihres Glaubens und ihrer alten heiligen Erinnerungen, die uns allen ehrwürdig sind; denn wir wollen nicht, daß auf die Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur folge.“19

15 Wagner, Das Judenthum (wie Anm. 14), S. 17. 16 Wagner, Das Judenthum (wie Anm. 14), S. 57. 17 Brunner, Der Judenhaß (wie Anm. 13), S. 144. Brunner, Tagebücher (wie Anm. 13), S. 457. 18 Der Berliner Antisemitismusstreit. Hg. von Walter Boehlich. Frankfurt a.M. 1988, S. 13. 19 Boehlich, Antisemitismusstreit (wie Anm. 18), S. 10.

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Der post-emanzipatorische Antisemitismus wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend auch in sozialdarwinistische Begriffe übersetzt und dabei naturalisiert, wirkmächtig etwa in Eugen Dührings Schrift Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage (1881) – jenes Dühring, von dem Brunner an seinen Freund Gustav Landauer 1909 schrieb: „Ich habe fast Alles gelesen, was Dühring geschrieben hat; was dir zum Beweise dienen mag, dass ich ihn schätze;“20 ja mehr noch: Er tat dies ganz im Bewusstsein seines „Radauantisemitismus“: „nicht einmal nehme ich ihm übel, dass er Antisemit ist.“21 Wo Bauer die „Judenfrage“ als eine von Politik und Religion sah, Wagner als eine der Kultur, wurde sie bei Dühring zu einer biologischen bzw. biopolitischen. Nach ihm gehört es zur Überlebensstrategie der Juden, ihr Wesen hinter angenommenen Identitäten täuschend zu verbergen, um sich so der europäischen Kultur zu bemächtigen. Nicht die religiösen, sondern gerade die assimilierten, ja die getauften Juden – nach Dühring die bloßen „Racenjuden“ – „sind diejenigen, die ohne Hindernisse am weitesten in alle Canäle der Gesellschaft und des politischen Gemeindelebens eindringen. Sie haben sich gleichsam mit einem Passepartout versehen.“22 Das Problem der Moderne sieht damit aber auch Dühring in einer Durchmischung des Deutschen mit dem täuschenden Jüdischen, einer „Einstreuung des Racenjudentums in die Fugen und Spalten unserer nationalen Behausungen“, einer „Einimpfung der Eigenschaften der Judenrace in unsere Zustände“.23 Begünstigt ist diese Durchmischung, so auch Dühring (ähnlich wie Wagner), durch die grundsätzliche Unfähigkeit der „Juden“ zu Originalität und Genie, an deren Stelle er bei ihnen den „Handel mit fremden Ideen“ sieht.24 So fasst er die zeitgenössische deutsch-jüdische Literatur polemisch als „abgeblasste und leblose Schablone“, indem „im 19. Jahrhundert das jüdische Element deutsche Literatur gespielt hat.“25 Wie Wagner sah er beispielhaft in Heines Werken eine bloße „Copie“,26 eine „widerlich unsaubere Mischung der überall zusammengeholten Elemente“:27

20 Vgl. Constantin Brunner: Ausgewählte Briefe 1884–1937. Hg. von Jürgen Stenzel und Irene Aue-Ben-David. Göttingen 2012, S. 149. 21 Brunner, Briefe (wie Anm. 20), S. 151. 22 Eugen Dühring: Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage. Karlsruhe 1881, S. 3. 23 Dühring, Die Judenfrage (wie Anm. 22), S. 4. 24 Dühring, Die Judenfrage (wie Anm. 22), S. 48. 25 Dühring, Die Judenfrage (wie Anm. 22), S. 54. 26 Dühring, Die Judenfrage (wie Anm. 22), S. 55. 27 Dühring, Die Judenfrage (wie Anm. 22), S. 56.



„Das Gebot der Anpassung“ 

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Heines Fahne war […] aus allerlei Plunder zusammengestickt gewesen, den sich der jüdische Autor aus den verschiedensten Behausungen anderer, theils todter theils lebender Völker eingesammelt hatte. Mit diesen bunten Abfällen hatte er paradirt; aber nie und nirgend hatte er etwas Ganzes und Unabgerissenes sich auch nur anzueignen vermocht. Von der gediegenen und anständigen Kleidung anderer Völker erhielt er kein Stück; nur das Abgetragene und die Fetzen fielen seiner jüdischen Muse anheim.28

Das „Talent“, das Dühring den Juden zuspricht, ist reduziert auf eine negative Assimilation: das „der Aneignung und des Handeltreibens mit den geistigen Errungenschaften Anderer.“29 In den unterschiedlichen theologisch-politischen, kultur-politischen wie biopolitischen Varianten des Diskurses der „Judenfrage“ wird Assimilation damit zu einer gänzlich negativen Eigenschaft, die den Juden – paradox eben – gleichzeitig (als subversive Hybridisierung) vorgeworfen und (als normative Anpassung) abverlangt wird. Nicht mehr als Bildung und Garant von Fortschritt und Integration gilt sie hier, sondern als religiöse Abschottung, kulturelle Appropriation sowie biologische Selbstbehauptung durch trickreiche Aneignung und täuschende Mimikry. Die Assimilation wurde zur subversiven Hybridisierung, wie es auf dieser Linie auch der völkische Germanist Adolf Bartels 1903 formulierte: „Die Neigung zur Täuschung hat immer im jüdischen Volke gesteckt,“ da „die Juden das sehr große Talent für mimicry haben, fast alles Fremde nachmachen können.“30 Ihr entgegen stand die Forderung der Auflösung alles Jüdischen im deutschen Staat durch eine normative Assimilation.

II Die Heraufkunft der „Judenfrage“ im Jahrhundert der Emanzipation mit ihrem aggressiven Unbehagen gegenüber den Ambivalenzen der Assimilation war die große Herausforderung, ja Not für eine jüngere Generation deutscher Juden, die auf den anfänglichen Optimismus des liberalen Judentums des 19. Jahrhunderts folgten und im Zeitraum nach 1860 geboren wurden: beispielsweise 1860 Theodor Herzl, 1862 Leo Wertheimer alias Constantin Brunner, 1864 Nathan Birnbaum, 1867 Walther Rathenau und 1869 Heinrich Loewe, um nur einige Namen

28 Dühring, Die Judenfrage (wie Anm. 22), S. 57. 29 Dühring, Die Judenfrage (wie Anm. 22), S. 76. 30 Adolf Bartels: Kritiker und Kritikaster. Mit einem Anhang: Das Judentum in der deutschen Literatur. Leipzig 1903, S. 104.

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zu nennen. Ihre gemeinsame intellektuelle Ausgangslage war die Erfahrung der bedrohlichen Krise, in die das Projekt der jüdischen Moderne – der Emanzipation und der Assimilation – geraten war. Alle setzten sich daher mit jenem so widersprüchlichen post-emanzipatorischen Antisemitismus auseinander. Alle forderten daraufhin eine Reform der Emanzipation, die sie nunmehr unter dem neuen und emphatisch vorgetragenen Begriff der „Selbstemanzipation“ vortrugen. Allerdings war dieser neue Emanzipationsbegriff keineswegs eindeutig oder homogen. Vielmehr ließ er sich auf zwei diametral entgegengesetzte Arten ausdeuten. Ausgehend von Leo Pinskers programmatischer Schrift Auto-Emanzipation (1882) verstanden Herzl, Birnbaum und Loewe auf der einen Seite unter „Selbstemanzipation“ die grundlegende Umdeutung des Projekts der jüdischen Moderne im Sinne des entstehenden Zionismus als Überwindung der Assimilation. Dies tat etwa Nathan Birnbaum in seiner Zeitschrift Selbst-Emancipation (1885–1893), die eben jene Wende proklamierte: weg von der enttäuschten Erwartung bürgerlicher und rechtlicher Gleichstellung in Europa, weg von der „selbstmörderischen“ „Assimilerei“31 und „Assimilationssucht“,32 hin zur „erlösenden“ „nationalen Selbsthilfe“.33 Zu einer analogen Einschätzung kamen Herzl im Angesicht der Lektüre u.a. von Treitschkes und Dührings Schriften34 sowie auch Loewe u.a. in seinem Essay Antisemitismus und Zionismus (1884), in dem er als Antwort auf die „deutsche Judenfrage“ die Behauptung eines „gesunden jüdischen Selbstbewusstseins“ und darauf bauend die Bildung einer dezidiert „jüdischen“ Nation, Kultur, Sprache und Wissenschaft forderte.35 Auf der anderen Seite standen die liberalen bis konservativen deutschen Juden, die auf den post-emanzipatorischen Antisemitismus gerade umgekehrt reagierten und forderten, das Projekt der Assimilation nicht etwa aufzugeben, sondern im Gegenteil zu intensivieren, die Lösung der „Judenfrage“ folglich in einer verstärkten, ja weitest gehenden Integration in die deutsche Kultur und Gesellschaft sahen. Das taten u.a. Walther Rathenau und Constantin Brunner; auch sie analysierten den Antisemitismus, Rathenau in Essays seit der Jahrhundertwende, Brunner am ausführlichsten in der 1914 fertiggestellten und 1918

31 Nathan Birnbaum: Erlöschung-Erlösung. In: Selbst-Emancipation. Zeitschrift für die nationalen, socialen und politischen Interessen des jüdischen Stammes 1 (1885), S. 2. 32 [Nathan Birnbaum]: Die Assimilationssucht. Ein Wort an die sogenannten Deutschen, Slaven, Magyaren etc. mosaischer Confession von einem Studenten jüdischer Nationalität. [anonym] 1884. 33 Nathan Birnbaum: Selbst-Emancipation. Zeitschrift für die nationalen, socialen und politischen Interessen des jüdischen Stammes 1 (1885), S. 1. 34 Vgl. Jacques Kronberg: Theodor Herzl – From Assimilation to Zionism. Indiana 1993. 35 Heinrich Sachse [= Heinrich Loewe]: Antisemitismus und Zionismus. Eine zeitgemässe Betrachtung. Berlin 1884, S. 14.



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erschienenen Schrift Der Judenhaß und die Juden. Beide sahen als eine der Ursachen des Antisemitismus die nach wie vor mangelnde Assimilation der Juden – und stimmten darin, unfreiwillig, mit der Diagnose des post-emanzipatorischen Antisemitismus überein. Beide kritisierten in der Folge den Politik- und Kulturbegriff des Zionismus, der mit seinem neuen „Separatismus“ gerade in die falsche Richtung ziele und den Judenhass zwangsläufig verstärke. Dabei eben definierte Brunner den primär zionistisch geprägten Begriff der Selbst-Emanzipation grundlegend um: Ihm galt er als Zentralbegriff nicht etwa einer politischen und kulturellen Autonomisierung, sondern vielmehr einer konsequenten Verstärkung der Assimilation, radikalisiert bis hin zur Selbstauflösung des Judentums als Volk wie als Religion unter dem Namen „Juden“, der als symbolische Selbstaufgabe ebenfalls abzulegen sei. Brunners programmatischer Begriff der „Selbstemanzipation“ kehrte den zionistischen Wortsinn um 180 Grad um und meinte nicht etwa die Affirmation, sondern vielmehr die Negation eines jüdischen (politischen, kulturellen wie religiösen) Selbst, nicht Erlösung, sondern Auflösung des Judentums wie letztlich aller anderen Konfessionen auch. Für die zeitgenössischen jüdischen Leser waren die Texte von Brunner, wie die von Rathenau, daher hochgradig kontrovers, ob für den Zionismus, die Orthodoxie oder das liberale deutsche Judentum. Aufstörend war nicht nur, dass hier jüdische Intellektuelle von den Juden forderten, ihr Judentum weitestgehend abzulegen und sich gänzlich zu assimilieren, sondern auch, dass sie dies teils in Analogie mit den antijüdischen Argumenten von Bauer über Wagner bis Treitschke taten – und damit hart an die Grenze dessen stießen, was Anton Kuh 1921 und Theodor Lessing 1930 als „jüdischen Selbsthass“ diagnostiziert haben.36 Mit seiner Argumentation, die dem Judentum den Charakter als Volk, Nation und Religion absprach, lag insbesondere Brunner nur scheinbar im näheren Umfeld der Position des 1893 gegründeten „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (C.V.), der – so etwa in einer Resolution von 1913 – die „unbeirrte Pflege deutscher Gesinnung“ proklamierte und den Willen festigte, „als Deutsche an deutscher Kultur mitzuarbeiten“,37 so der Geschäftsführer des C.V. Ludwig Holländer, mit dem Brunner ab 1922 korrespondierte. Tatsächlich war Brunner deutlich radikaler: Während sich der Centralverein auf die Rückzugsposition des Judentums als eine Religion stützte und eine offene Konfrontation

36 Vgl. Anton Kuh: Juden und Deutsche. Berlin 1921, S. 68; Theodor Lessing: Der jüdische Selbst­ hass. Berlin 1930, S. 188 f. (zu Rathenau) und S. 213 (zu Brunner). 37 Ludwig Holländer: Zur Klarstellung. In: Im deutschen Reich 5–6 (Mai 1913), S. 194–200, hier: S. 200. Vgl. dazu etwa Ludwig Holländer: Glossen zur Zionisten-Resolution. In: Im deutschen Reich 7 (Juni 1913), S. 296–302.

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mit dem Zionismus lange Zeit vermied, lehnte Brunner beides strikt ab: Religion als Bestimmung des Judentums ersetzt er durch säkulare naturalisierte Kriterien wie Abstammung und „Rasse“; was von den Juden bei ihm bleibt, sind „Menschen von jüdischer Abstammung“.38 Im selben Atemzug erklärte er den Zionismus zu einer noch größeren Antipode der Emanzipation als den Antisemitismus, weshalb er dem Centralverein pointiert entgegenhielt: „Abwehr des Zionismus sei noch unendlich viel wichtiger als Abwehr des Judenhasses.“39 Dass dies zu Konflikten zwischen Brunner und dem Centralverein führte, kann nicht überraschen. So kam es nach dem Vorabdruck aus Von den Pflichten der Juden und den Pflichten des Staates am 28. März 1930 in der C.V.-Zeitung sowie dem Erscheinen dieses Buches Anfang Juni 1931 zu einer Aussprache im Haus von Holländer, deren Beiträge in der C.V.-Zeitung gedruckt wurden und deutlich machen, wie sehr Brunners radikale Assimilationsforderung die unterschiedlichen reformreligiösen bis bürgerlich-liberalen Positionen des Centralvereins herausforderte. „Niemals würden wir die Selbstpreisgabe billigen oder gar vollziehen können, die Brunner von uns fordere“, so der liberale Spandauer Rabbiner Arthur Löwenstamm.40 Eine ähnliche Replik provozierte Brunners Aufsatz Über die notwendige Selbstemanzipation der Juden, der im August 1931 in den von Heinrich von Treitschke mitbegründeten Preußischen Jahrbüchern erschien und seine Umkehr der zionistischen Selbstemanzipation bekräftigte. Auf den Aufsatz antwortete in der C.V.Zeitung die spätere Historikerin Eva Reichmann unter dem Titel Leben oder Untergang? Eine Antwort an Constantin Brunner. Denkbar scharf lehnte sie Brunners Schlussfolgerungen ab, deren Preis auch ihr viel zu hoch erschien, „der da gefordert wird: denn er bedeutet nichts anderes als unseren Untergang als Juden.“41 Dennoch war Brunner zumindest mit seiner antizionistischen Position auch im Umfeld des Centralvereins nicht alleine: Aus den eigenen Reihen radikalisierte er sich mit der Gründung des „Antizionistischen Komitees“ im Oktober 1912, das sich unter anderem Anfang Februar 1914 mit einer gedruckten Erklärung im Berliner Tageblatt gegen den „national-jüdischen Chauvinismus“ wandte und von zahlreichen, auch prominenten Namen unterzeichnet wurde, darunter Ludwig Geiger, Rudolf Mosse und Hermann Cohen sowie aus dem Centralverein neben

38 Constantin Brunner: Der entlarvte Mensch. [Nicht für den Buchhandel] Den Haag 1953, S. 46. 39 Brunner, Mensch (wie Anm. 38), S. 89. 40 Constantin Brunners Ruf (wie Anm. 1), S. 290 f. Vgl. Avraham Barkai: Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893–1938. München 2002, S. 238–243, hier S. 238. 41 Eva Reichmann: Leben oder Untergang? Eine Antwort an Constantin Brunner. In: C.V.Zeitung (16.10.1931), S. 495. Brunner wandte sich darauf an Eva Reichmann, vgl. Brunner, Briefe (wie Anm. 20), S. 460 f.



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anderen auch Ludwig Holländer – der Name Constantin Brunner aber fehlt in diesem Zusammenhang.42

III Bei diesem kontextuellen Heranblenden an Brunners Begriff der Assimilation ist noch ein letzter, allerdings nun ihm ganz naher Kontext in den Blick zu rücken. Denn mit seiner Argumentation schloss Brunner unmittelbar – teils bis in die Formulierung – an Walther Rathenau an, mit dem er von 1918 bis zu dessen Ermordung im Juni 1922 persönlich bekannt, ja befreundet war, so unterschiedlich die beiden auch waren: Rathenau, der vielbeachtete deutsch-jüdische Intellektuelle auf dem großen industriellen und politischen Parkett, Brunner, der EinsiedlerPhilosoph in Potsdam aus orthodoxem Haus in Altona.43 Rathenau und Brunner tauschten Briefe aus – als „geliebte Seele“ sprach ihn Brunner an –, besuchten sich gegenseitig und lasen wechselseitig ihre Schriften, insbesondere die zum Judentum. So war Rathenaus Anlass, sich an Brunner zu wenden, nicht nur die Drohbriefe, denen er als Teilnehmer der Reparationsverhandlungen mit den Siegermächten des Ersten Weltkriegs von rechter Seite ausgesetzt war, sondern auch die Lektüre von Brunners Der Judenhaß und die Juden.44 Brunner wiederum las Rathenaus einschlägige Schriften, allen voran den kontroversen Essay Höre Israel!, der 1897 erschienen war und bis dahin den radikalsten Appell eines deutschen Juden an seine jüdischen Mitbürger darstellte, sich zu assimilieren. Diese Lektüren sind schon an Brunners einschlägigen Titeln erkennbar, die er rund

42 Vgl. Matthias Hambrock: Die Etablierung der Aussenseiter. Der Verband nationaldeutscher Juden 1921–1935. Wien 2003, S. 214–222. Quellen zum Antizionistischen Komitee finden sich digitalisiert auf der Seite des Leo Baeck Instituts, darunter die genannte Erklärung http://archive. org/stream/leowolfff004#page/n51/mode/1up (16.6.2013). 43 Vgl. Renate Stolte: Walther Rathenau und Constantin Brunner. Aspekte einer außergewöhnlichen Beziehung. In: „Ich habe einen Stachel zurückgelassen ...“  Beiträge zum Constantin Brunner-Symposion Hamburg 1995. Hg. von Jürgen Stenzel. Hamburg 1995 (Brunner im Gespräch 4), S. 141–195; zum Brunner-Rathenau-Briefwechsel vgl. Walther-Rathenau-Gesamtausgabe. Bd. 2: Briefe: 1914–1922. Hg. von Alexander Jaser, Clemens Picht und Ernst Schulin. Düsseldorf 2006 sowie Brunner, Briefe (wie Anm. 20), S. 299–325 und öfter. Vgl. auch Shulamit Volkov: Walther Rathenau. Weimar’s Fallen Statesman. New Haven, London 2012, S. 187 f. 44 1922 erklärte Brunner dem Spinoza-Forscher Adolph Oko: „Bevor er den ersten der […] Briefe – nach der Lektüre meines Werkes ‚Der Judenhaß und die Juden‘ – an mich schrieb, bestand keinerlei Verbindung zwischen uns, weder direkte noch indirekte.“ Zitiert in Stolte, Walther Rathenau (wie Anm. 43), S. 153.

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zehn Jahre nach Rathenaus Ermordung durch konservative rechte Antisemiten verfasste. Vor allem zwei Schriften Brunners zeigen die Nähe zu Rathenau schon im Titel: Von den Pflichten der Juden und von den Pflichten des Staates (1930), die auf Rathenaus Essay Staat und Judentum (1911) rekurriert, sowie Brunners Essay Höre Israel und Höre Nicht-Israel! (1931), der Rathenaus Höre Israel! offensichtlich zitiert. Wenn Brunner Rathenaus radikal-assimilatorische Position reformulierte, so tat er dies allerdings im veränderten Umfeld der späten Weimarer Republik. Die Brisanz von Brunners Schriften zum Judentum aus der späten Weimarer Republik liegt damit nicht nur in den radikalen Thesen, sondern auch in der historischen Konstellation ihrer Äußerung am Ende der Weimarer Republik unmittelbar vor dem NS-Regime – 35 Jahre nach Rathenaus Höre Israel. Der Eindruck des Anachronismus ist noch markanter, ja ins Tragische gesteigert im Fall der posthumen Publikation von Der entlarvte Mensch: Schon bei seinem Entstehen 1932/33, erst recht aber bei seinem Erscheinen im Jahr 1951 (gekürzt) bzw. 1953 (ungekürzt, aber nicht für den Buchhandel) – nach dem Holocaust und der Gründung des Staates Israel – musste dieses Buch als ein erratischer Block aus vergangenen Konfliktlagen erscheinen, indem Brunner hier nur einmal mehr die unverrückbare und dezidiert formulierte Überzeugung wiederholte, dass der Antisemitismus nur durch vollständige Germanisierung der Juden aufzuhalten sei, der Zionismus dagegen den Antisemitismus nur amplifizieren werde. Es ist dies eine unzeitgemäß gewordene Position, die sich nicht wenigen schon nach dem ersten Weltkrieg,45 vielfach aber spätestens Anfang der dreißiger Jahre im Horizont des sich etablierenden NS-Regimes,46 vollends aber angesichts des Holocaust als der große tragische Irrtum des deutschen Judentums überhaupt herausgestellt hatte.47 Ungeachtet dieser historischen Verspätung erschließt sich Brunners Argumentation wesentlich auch aus der Perspektive von Rathenaus Texten aus der Wilhelminischen Zeit des Deutschen Kaiserreichs, insbesondere des Aufsatzes

45 Dazu zählte etwa Anton Kuh: Juden und Deutsche. Ein Resumé. Berlin 1921. 46 Vgl. etwa Arnold Zweig: Bilanz der deutschen Judenheit. Ein Versuch. Amsterdam 1934. 47 Vgl. prominent Gershom Scholem: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch. In: Auf gespaltenem Pfad. Für Margarete Susman. Hg. von Manfred Schlösser. Darmstadt 1964, S. 229–232. Entsprechend kritisch fällt daher auch Scholems Urteil über Brunner in einem Brief an Siegfried Unseld von 1976 aus: „Brunner […], dessen meiste Schriften ich gelesen habe, gehört zu den mir widerwärtigsten Autoren der deutsch-jüdischen Sphäre. Seine Schriften sind mir unerträglich, seine Haltung als praeceptor mundi, besonders praeceptor Judaeorum, lächerlich, wenn nicht geradezu abscheulich.“ Gershom Scholem: Briefe. Bd. 2: 1971–1982. Hg. von Itta Shedletzky. München 1999, S. 137 f.



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Höre Israel!, gedruckt 1897 in Maximilian Hardens Die Zukunft – jener Zeitschrift, in der auch Brunners frühe Spinoza-Aufsätze erschienen. Aufstörend an Rathenaus Höre Israel! waren die Radikalität der Forderung wie auch die partielle Analogie zu antijüdischen Positionen. Die Adressierung der Juden als Fremdkörper, die Erklärung des Judenhasses als selbstverschuldet, darauf bauend die eindringliche Forderung weitestgehender Assimilation, war hier teils in der Sprache des Diskurses der „Judenfrage“ formuliert. So greift Rathenaus Beschreibung der Exterritorialität der Juden – ostentativ gegen „die Philosemiten“ gerichtet – Treitschkes Rede von den Juden als „Deutsch redende Orientalen“ in der Wendung „auf märkischem Sand eine asiatische Horde“ auf: Sie seien „kein lebendes Glied des Volkes, sondern ein fremder Organismus in seinem Leibe“, so Rathenaus Diagnose.48 Zugleich kritisierte er bei den Juden eine falsche Assimilation, die er mit sozialdarwinistischen Begriffen eines Dühring als „Mimikry“, als tierische Anpassung degradierte, und ihnen vorwarf, „die Trachten der hageren Angelsachsen zu parodieren, in denen ihr aussieht, wie wenn ein Teckel einen Windhund kopirt“ und „am Strande durch Seemannskleider, in den Alpen durch Wadenstrümpfe die Natur rebellisch [zu] machen.“49 Gegen diese bloß physische Anpassung forderte Rathenau eine höhere, nämlich geistige Assimilation: Bildung. Doch selbst bei dieser Forderung ist Rathenaus Nähe zum sozialdarwinistischen Diskurs der „Judenfrage“ unübersehbar: Was also muß geschehen? Ein Ereignis ohne geschichtlichen Vorgang: die bewußte Selbsterziehung einer Rasse zur Anpassung an fremde Anforderungen. Anpassung nicht im Sinne der ›mimicry‹ Darwins, welche die Kunst einiger Insekten bedeutet, sich die Lokalfarbe ihrer Umgebung anzugewöhnen, sondern eine Anartung in dem Sinne, daß Stammeseigenschaften, gleichviel ob gute oder schlechte, von denen es erwiesen ist, daß sie den Landesgenossen verhaßt sind, abgelegt und durch geeignetere ersetzt werden. Könnte zugleich durch diese Metamorphose die Gesamtbilanz der moralischen Werthe verbessert werden, so wäre das ein erfreulicher Erfolg. Das Ziel des Prozesses sollen nicht imitierte Germanen, sondern deutsch geartete und erzogene Juden sein. […] Dieser Stand wird durch seine Wurzeln von unten herauf immer neue Nahrung aufsaugen und mit der Zeit alles verarbeiten, was an umwandlungsfähigem und verdaulichem Material vorhanden ist.50

Rathenaus Aufruf an die deutschen Juden spielt die biopolitischen Implikationen eines radikalisierten Assimilationskonzeptes aus, zu denen der Diskurs der „Judenfrage“ wie des Sozialdarwinismus die Sprache geprägt hat. Nicht zufällig

48 Walther Rathenau: Höre Israel. In: Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland. Hg. von Christoph Schulte. Stuttgart 1993, S. 28 f. 49 Rathenau, Höre Israel (wie Anm. 48), S. 34. 50 Rathenau, Höre Israel (wie Anm. 48), S. 32 f.

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musste Rathenau bald erfahren, dass er damit nicht nur einen Aufschrei unter den Juden provozierte, sondern auch Zustimmung von falscher Seite erhielt.51 Auch deshalb nahm er den Aufsatz zurück und stufte 14 Jahre später in seiner „Zeitungspolemik“ Judentum und Staat die Position von 1897 als „hart“ ein, ohne jedoch von den alten Forderungen zurückzutreten. Die Argumentationslogik blieb dieselbe: Die Juden selbst verschulden den Antisemitismus durch mangelnde Anpassung, die daher umso kompromissloser einzufordern sei: Auf ein Erlöschen dieser Abneigung [gegen die Juden] ist kaum zu hoffen, […] solange gewisse Stammeseigentümlichkeiten den jüdischen Deutschen seinem christlichen Landsmann erkennbar und verdächtig bleiben. Es liegt nahe, den Juden anzuraten, durch eine energische Selbsterziehung, die schon seit einem Jahrhundert von vielen geübt wird, alle korrigiblen Seltsamkeiten zu beseitigen. Vor Jahren habe ich dies ausgesprochen in der Meinung, dass so die edelsten Gegenkräfte des Antisemitismus geweckt und hiermit im eigentlichen Sinne Not zur Tugend werde. Doch habe ich mir nicht verhehlt, dass es hart ist, Opfer als Gegenleistung für Bedrückung zu verlangen […].52

IV Vor dem Hintergrund dieser Kontextualisierung Brunners in außer- und innerjüdischen Debatten und Positionen gilt es nun, seine radikale Forderung der Assimilation und damit seinen wohl aufstörendsten Kerngedanken zur „Judenfrage“ genauer zu untersuchen. Im Blick stehen die theologischen, politischen und ideellen Prämissen sowie die moralischen und philosophischen Argumente und Figuren, mit denen Brunner eben jene Form von Assimilation fordern konnte, die so ausdrücklich aus dem Judentum herausführen sollte – nicht aber etwa durch Konversion, sondern durch eine bis ins Letzte und Äußerste gehende Anpassung. Dabei blieben seine während der Weimarer Republik erschienenen Schriften letztlich unverändert bei der einmal gefassten These, wie sie Rathenau in aller Problematik vorgezeichnet hatte. Von der umfangreichen Arbeit Der Judenhaß und die Juden bis zu Der entlarvte Mensch stand für Brunner als in den Grundzügen unveränderliche Wahrheit fest (und wurde von ihm immer neu und in sich

51 Vgl. noch Walter Frank: Höre Israel! Harden, Rathenau und die moderne Judenfrage. Hamburg 1939; vgl. Shulamit Volkov: Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland. Aus dem Englischen von Ulla Höber. München 2012; Dieter Heimböckel: Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit: Studien zu Werk und Wirkung. Würzburg 1996, S. 68 ff. 52 Walther Rathenau: Judentum und Staat. In: Zur Kritik der Zeit. 4. Aufl. Berlin 1918, S. 219– 243, hier S. 220 f.



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überbietendem wortkräftigen Pathosformen variiert): dass eben der Zionismus die grundfalsche Antwort auf den Antisemitismus sei, die einzig richtige Antwort dagegen eine über das Judentum hinauswachsende Assimilation. Aufschlussreicher als diese bloße Wiederholung dieser Thesen ist allerdings ein genauerer Blick auf Brunners begründende Argumentationsfiguren. Sie zeigen auch, dass er sich im Detail von Rathenau teils markant unterscheidet: Zum einen argumentiert Brunner theologisch-politisch, wo Rathenau sozialpolitisch denkt, zum anderen argumentiert er vitalistisch, wo Rathenau biopolitisch denkt. Theo-politisch (und nicht etwa theologisch), um damit zu beginnen, ist etwa Brunners Ausgangslage bei der Kritik des Auserwähltheitsdogmas, das er als Ursprung des Judenhasses überhaupt erachtet. Polemisch dagegen gewandt, spricht er den Juden jegliche Sonderstellung ab, zunächst theologisch, und davon abgeleitet vor allem aber politisch: Auserwähltheit erscheint ihm als „Separatismus“: Die Juden wurden durch ihre religiösen Lügen in den Separatismus getrieben. Mit diesem boten sie selber sich hin zum Belogenwerden und Gehaßtwerden. Es gab kein geeigneteres Objekt für den Menschenhaß, der in allen Menschen ruht, als diese von den übrigen Menschen sich absondernden Juden.53 Geflissentlich und pflegsam suchten sie das Gegenteil von Anpassung, von Assimilation, und haben sich isoliert in der Menschengesellschaft zufolge dem närrisch starrsinnigen Aberglauben an ihren Landesgott oder doch an den Gott mit der besonderen Fürsorge für sie als das auserwählte Volk, das wiedereingesetzt würde in Palästina. Eine Abwandlung und verdünnte Fortsetzung dieses Aberglaubens bildet ihre Meinung, daß sie, ihrer Auserwähltheit wegen, als Juden sich erhalten müßten.54

Wenn Brunner dem Dogma der Auserwählung ausgerechnet das jüdische Glaubensbekenntnis „Höre Israel, Dein Gott ist einer“ entgegenhielt, dann – anders als Rathenau – weil er darin die universalistische jüdisch-christliche Forderung der „Liebe des Anderen“ ausgesprochen sah.55 Nicht um den einen Gott geht es ihm mithin, sondern – theologisch-politisch gedacht – um die Einheit der Menschen, gewissermaßen als die (in seinen Augen) ethische Prämisse des Assimilationspostulats. Doch anstatt nach der Zerstörung des Tempels mit dem Land auch den Gott aufzugeben und „die Anderen“ zu lieben, so Brunner, haben die Juden eine politische Theologie der Diaspora konstruiert, gemäß der sie theologisch an

53 Constantin Brunner: Höre Israel und Höre Nicht-Israel! (Die Hexen). Berlin 1931, S. 10. 54 Constantin Brunner: Von den Pflichten der Juden und von den Pflichten des Staates. Berlin 1930, S. 161. 55 Brunner, Höre Israel (wie Anm. 53), S. 5.

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der Fiktion eines „Landesgottes“ ohne Land festhalten, und politisch zu einem untoten „Volk-Gespenst“ wurden.56 Diese Kritik an der politischen Theologie der Diaspora verknüpfte Brunner mit einem nicht weniger grundlegenden zweiten, nämlich vitalistischen Argument: Das Problem der Juden in der Diaspora ist demnach nicht nur ein ethischpolitisches – der Verstoß gegen die Nächstenliebe –, sondern auch ein biologisches: der Verstoß gegen die Grundgesetze des „Lebens“. Darwinistisch ist hier Brunner eben nicht, auch wenn seit Lamarck und Darwin die Anpassung als zentrale Funktion des Lebens galt. Brunners vitalistische Begrifflichkeit, aber auch sein Stil weisen vielmehr auf die Lebensphilosophie Nietzsches, die im modernen Assimilationsdiskurs eine wesentliche Rolle spielte,57 vor allem aber auf Henri Bergson hin. Brunners Lektüre dieser Exponenten der Moderne ist gut belegt, wobei sie gewiss nicht nur affirmativ, sondern auch kritisch und selektiv erfolgt sein mochte. Auf Bergson, der hier vor allem im Blick steht, weist etwa eine Stelle in Lotte Brunners Tagebuch vom 27. Mai 1913, insbesondere aber ein Brief Brunners vom 12. Juli 1912 an seine Frau Leoni. Darin heißt es: „Lese Bergson, dabei aber mehr mich.“58 Die Formulierung zeigt nicht nur die Form der Aneignung, sondern lässt auch Konkretes über die Lektüre vermuten: Da Brunner kein Französisch konnte, handelte es sich um eine deutsche Übersetzung; im Diederichs-Verlag lagen unter anderem Das Lachen (1900) und Schöpferische Entwicklung (1912) vor. Ein Blick auf diese Texte kann zeigen, dass sich zu ihnen bei Brunner tatsächlich signifikante Analogien gerade in der lebensphilosophischen Begründung der Anpassung, aber auch im philosophischen Stil finden. Seinerseits ein jüdischer Philosoph hart an der Grenze der Konversion, formulierte Bergson in diesen Essays eine vitalistische Theorie der Anpassung, der Brunner auffallend nahe stand. Nach Bergson ist das Leben – sowohl im primär biologischen als auch im sozialen Sinne – stets von Spannung, Geschmeidigkeit und Anpassungsfähigkeit gekennzeichnet, während ihr Mangel als mechanische „Steifheit“, als etwas Totes erscheint und biologisch wie sozial bestraft wird. Daher erklärt Bergson das Lachen als „Bestrafung der Steifheit“, als „châtiment de la raideur“:

56 Brunner, Höre Israel (wie Anm. 53), S. 21. 57 Vgl. dazu Andreas Kilcher: Das Theater der Assimilation. Kafka und der jüdische Nietzscheanismus. In: Für alle und keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka. Hg. von Friedrich Balke, Joseph Vogl und Benno Wagner. Zürich, Berlin 2009, S. 201–229. 58 Brief Constantin Brunners an Leoni Brunner vom 12. Juli 1912. Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum Berlin, Constantin Brunner Collection: II, 2, 14.



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Was Leben und Gesellschaft von jedem von uns verlangen, ist einmal eine beständig gespannte Aufmerksamkeit, die die Umrisse einer jeden Situation augenblicklich erfaßt, und dann eine gewisse Geschmeidigkeit des Körpers und Geistes, die uns in stand setzt, uns ihr anzupassen. Spannung und Geschmeidigkeit, das sind zwei einander ergänzende Kräfte, die das Leben spielen läßt. Fehlen sie dem Körper, so stellen sich Zufälle jeder Art ein, Schwächen, Krankheit. Fehlen sie dem Verstande, dann gibt es alle Grade geistiger Armut, alle Arten der Torheit. Und fehlen sie dem Charakter, so haben wir die schweren Fälle mangelnder Anpassung ans Leben der Gemeinschaft, Quellen des Elends, oft des Verbrechens.59 Uns schien also der lebendige Körper vollkommene Schmiegsamkeit sein zu müssen, immer wache Aktivität eines immer wirkenden Prinzipes.60

Weitgehend analog, ja mit denselben Begriffen argumentierte Brunner: Leben ist Anpassungsfähigkeit, ihr Fehlen daher primär biologisch, zugleich aber auch sozial, ja moralisch ein Mangel: Alles Leben ist gebunden an die Anpassung, an die Assimilation. In der Assimilation an die Umgebung kommt jegliche Art des Lebens zum Recht seiner wirklich eigentümlichen Entfaltung, in dieser sich zu bewähren; jeder Mangel an Anpassung bedeutet einen Verlust der Aktivität. […] Der Mensch […] muß sich anpassen seinem Leben […], verfließend in die allgemeine Natur, – Natur, gegen die er nichts kann.61

Dieses allgemeine Lebensgesetz überträgt Brunner auf das Judentum: Was dem untoten „Volk-Gespenst“ der Diaspora mit seiner politischen Theologie der Auserwähltheit abhanden gekommen war, das war mithin letztlich auch und vor allem die Verbindung zum Leben und damit die Fähigkeit zur Anpassung: Durch seinen Wahn, immer noch das Volk seines Landesgottes zu sein und den alten Glanz zurückzuerlangen, den sein Gott nicht vernichtet, nur für eine Zeit verhüllt habe, wurde das Nichtmehrvolk der Juden in ein Wahnleben gestürzt, unfähig für die neuen Verhältnisse des Lebens, losgelöst von der Wirklichkeit und Möglichkeit, von den Erfahrungen und den Instinkten des Lebens. Die grelle Fackel ihres Aberglaubens machte die Juden blind gegen das Licht der Natur und Vernunft, die im Widerspruch zu ihrer Seele zu stehen schienen. Sie hielten sich zurück von allen Wegen der Natürlichkeit, vom Prinzip der Lebensassimilation; sie gingen, die in jedem Augenblick mögliche Erfüllung des Gottversprechens erwartend, in die Absonderung und züchteten an sich eine Unnatur gegen die reizerregende Spannung des Lebens. Ihr Separatismus mit seiner illusionistischen Orientierung erwies sich als unzulängliche Lebensfürsorge und zog das unerhörte Unglück auf sie herunter. Sie machten sich zu den Andern, über die gelogen wurde.62

59 Henri Bergson: Das Lachen [1900]. Übersetzt von Gertrud Kantorowicz. Jena 1914, S. 16. 60 Bergson, Lachen (wie Anm. 59), S. 36 f. 61 Brunner, Pflichten (wie Anm. 54), S. 161. 62 Brunner, Höre Israel (wie Anm. 53), S. 7 f. (Hervorhebungen A. K.).

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Die Verweigerung der Assimilation erscheint Brunner somit als ein Verstoß nicht nur gegen Theologie und Politik, sondern gegen das Leben überhaupt. Dabei verbindet Brunner die beiden Ebenen des Theologisch-Politischen und des Biologischen da, wo er – im Stil predigend, wenn auch nicht theologisch, sondern politisch denkend – von der „Sünde gegen das Leben“ spricht: „Leben wollen im allgemeinen Leben und auch dabei sich sondern wollen, das ist ein Widerspruch; und hier ist Sonderung Sünde gegen das Leben und schafft Not für das Leben, das man unmöglich leben kann ohne den Anschluß an die Mächte des allgemeinen Lebens.“63 Die „Sünde gegen das Leben“ ist die vitalistische Naturalisierung der theologischen „Sünde“ gegen das Gebot der Nächstenliebe ebenso wie der politischen „Sünde“ des Separatismus vom Diasporanationalismus bis hin zum Zionismus. Damit erklärt Brunner nicht nur den Antisemitismus; er leitet daraus auch seine radikalisierte Forderung der Assimilation ab. Demnach ist der Antisemitismus eine selbstverschuldete Lebensnot der Juden, aus der sie nur durch verstärkte Anpassungsvitalität gelangen können. Auch dieses bei Rathenau politisch und sozial begründete Argument wird bei Brunner vitalistisch-lebensphilosophisch naturalisiert: „Die von jüdischer Abstammung verkennen“, so Brunner in Von den Pflichten der Juden und von den Pflichten des Staates, „ihre in der Tat besondere Lebensaufgabe. Nach ihrer besonderen Lage unter den übrigen Menschen […], haben sie […] zu sorgen, außer für ihr Leben […] auch noch für ihre Emanzipation oder gegen die Not, daß sie ‚Juden‘ bleiben. Diese Not haben sie selber für sich eingeleitet durch die Sünde gegen das Leben, durch ihre Widersetzlichkeit gegen das erste Gebot alles Lebens: der Umgebung sich anzupassen.“64 Diese vitalistische Erklärung der Assimilation als ein allgemeines Natur- und Lebensgesetz, gegen das die Juden verstoßen, fasste Brunner ein letztes Mal in Der entlarvte Mensch, dort unter dem Titel „Separatismus“, in einer biologisch-politischen Überlegung zusammen: Die Juden selber haben ihr Unglück angefangen. […] Mit ihrer Widerspenstigkeit gegen die Anpassung haben die Juden ihre Lebensgrundlage geschädigt. Alles in der Natur paßt sich seiner Umgebung an, die Natur selber, die Lebewesen entstehen läßt, wo für sie Ernährungsmöglichkeit vorhanden, paßt überall alles irgend Anpaßbare seinem Boden und seinen Bedingungen an. […] Ohne daß die Lebensbewegung im leiblichen Organismus den Veränderungen in der Umgebung […] sich anpaßte […] könnte das Leben überhaupt nicht leben. Eine der wesentlichsten biologischen Eigenschaften bildet die Fähigkeit zur Anpassung. […] Ebenso lebenswichtig aber wie die physiologischen Anpassungen sind die unsres menschlichen Bewußtseins oder unsrer Lebensfürsorge an die Eigenheit unsrer gesell-

63 Brunner, Pflichten (wie Anm. 54), S. 160. 64 Brunner, Pflichten (wie Anm. 54), S. 161.



„Das Gebot der Anpassung“ 

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schaftlichen Umgebung […] Auf jeden Fall haben durchweg alle Menschen sich immer der Menschengesellschaft eingefügt; nur die Juden wollten die Andern bleiben […].65

Auf dieser biologisch-politischen Grundlage konnte Brunner bei der Übertragung seiner lebensphilosophischen Argumentation auf die Lage der Juden im modernen europäischen Staat gar nicht radikal genug werden: Sie mündete in der bedingungslosesten Forderung der Assimilation als Selbstauflösung: „Das Wort Assimilation will verstanden sein. Noch einmal: es bedeutet nicht, daß die wesentlichen und eingeborenen Eigenschaften assimiliert werden sollen; damit Assimilation wäre der Tod des Lebens. Aber das Leben – alles Leben, – muß sich assimilieren; es ist und bleibt Leben nur in der Assimilation. Und weiter: für unsern Fall bedeutet Assimilation auch Ablegen und Seinlassen; das Sichhineinfinden der Juden in das allgemeine Menschenwesen hängt wesentlich ab von ihrem Sichherausfinden aus dem Partikularismus. Alle nicht wesentlichen Partikularitäten sind aufzugeben.“66 Die jüdischen Sprachen und Namen sind für Brunner solche aufzugebenden kulturellen „Partikularitäten“. Er selber legte um die Jahrhundertwende seinen Geburtsnamen „Arjeh Yehuda Wertheimer“ ab, publizierte nur unter dem neuen, christianisierten Namen „Constantin Brunner“. Allerdings ließ er die Namensänderung erst 1932 amtlich bestätigen. Freilich war die Assimilation jüdischer Sprachen und Namen nur die symbolische Amplifikation einer Radikalassimilation, die das gesamte politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben der Juden betreffen sollte – eine Annihilation als „Juden“ bis hart an die Grenze der gänzlichen Selbstauflösung: Sie sollen mit einem Wort aus ihrer Pflicht zur Assimilation alle erlaubten und anständigen Konsequenzen ziehen […]. Alles Jüdische, statt es zu erhalten, müssen sie verschwinden machen, und wenn es auch dazu führen sollte, daß das ganze Judenunglück aufhört in der Welt. Alles Jüdische hat zu verschwinden – […]: mit Ausnahme der mosaischen Religion; alles jüdisch-politische muß gelassen werden. Dies darf von den Juden nicht unausgesprochen bleiben: das Judesein (das politisch Judesein) ist vorbei und abgetan; es darf nichts davon in keinerlei Form, Umdeutung oder Verhüllung wieder hervorkommen. Sie haben dem jüdischen Volk mitsamt seiner Auserwähltheit […] zu entsagen.67

Präzise dies ist die Bedeutung, die Brunner dem Begriff „Selbstemanzipation“ zugesprochen hatte: nicht etwa Emanzipation des jüdischen Selbst als Subjekt, sondern Emanzipation von diesem Selbst als Objekt. Es sollte dies eine Art jüdi-

65 Brunner, Mensch (wie Anm. 38), S. 8 f. 66 Brunner, Pflichten (wie Anm. 54), S. 165. 67 Brunner, Pflichten (wie Anm. 54), S. 166.

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scher Suizid sein: die Selbstaufgabe des Judentums durch die Juden, so Brunner ausdrücklich, in einer u.a. an Marx anschließenden Wendung: „Eure Emanzipation von den Juden ist gemeint; eure Menschen sollten emanzipiert werden, wenn sie aufhören würden, Juden zu sein, wenn sie sich selbst emanzipieren, reinen Tisch machen und sagen würden, dass Judesein ist abgetan, wenn sie es wirklich abtun und ihr ursprüngliches Menschsein in sich wieder freimachen wollten. Fiunt, non nascuntur Judaei.“68 In dem Essay Über die notwendige Selbstemanzipation der Juden naturalisierte Brunner diese Forderung der Selbstauflösung zudem nicht nur in einer biologischen, sondern auch in einer bemerkenswerten chemischen Metapher; die Passage schien Brunner selber so wichtig, dass er sich damit in Der entlarvte Mensch zitierte: Wie steht es zur Zeit mit der Ablegung ihres [= der Juden, A.K.] Andersseins und mit der Auflösung? Der jetzige Zustand läßt sich als der einer kolloidalen Auflösung bezeichnen. Dabei bleiben die Moleküle – d.h. hier die Juden – erkennbar und vereinigt zu Molekulargruppen. Erfordert wird aber völlige Dissoziation und völlige Lösung auch der Moleküle; wie des Salzes oder Zuckers in Wasser. Bisher findet sich nur erst eine Anzahl der Moleküle solcherart dissoziiert und aufgelöst. Und so haben denn die Juden nach und nach und so schnell als möglich […] jegliche Gruppenvereinigung zum Verschwinden zu bringen; die Angleichung der Individuen erfolgt dann um so schneller.69

V Die Semantik und Rhetorik der Auflösung, die Brunner als letzte Konsequenz aus seiner Theorie der Assimilation entwickelte, rekurriert noch auf einen weiteren philosophischen Kontext: auf Nietzsches sowie auf Wagners Untergangsvorstellungen, die, so unterschiedlich sie sind, auch in ihrem neo-prophetischen Stil bei Brunner aufscheinen. Der Bezug zu Nietzsche zeigt sich insbesondere am Pathos von Zarathustras Rede vom Übermenschen. Dabei ist Brunners Nietzsche-Lektüre sowie insbesondere des Zarathustra zwar höchst ambivalent, dennoch sind Nietzsche-Wendungen noch in der Abwehr in Brunners Texten präsent.70 Sichtbar wird

68 Brunner, Pflichten (wie Anm. 54), S. 166. 69 Constantin Brunner: Über die notwendige Selbstemanzipation der Juden. In: Preußische Jahrbücher 225, Heft 2 (August 1931), S. 132–141, zitiert in Brunner, Mensch (wie Anm. 38), S. 77. 70 Charakteristisch für diese Ambivalenz ist eine Notiz von Brunners Stieftochter Lotte, die in ihrem Tagebuch am 23. November 1914 schreibt: „Daß der schaffende Mensch praktisch, besonders im Ertragen von Widerwärtigkeiten, schwächer sei als die andern, gab Vater in einem flüchtigen Gespräch über Nietzsche zu. Aber diese Schwäche dürfe eben nie in die Sphäre des Schaf-



„Das Gebot der Anpassung“ 

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dies an der suizidalen Forderung an die deutschen Juden, denen gegenüber sich Brunner, wie Zarathustra, als Arzt von Narren stilisiert: „Ihr Arzt bist du Narr; zu dem die Narren nicht kommen!“71 Was Zarathustra von dem Menschen einfordert, dem „Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch“, dem Menschen, der „ein Übergang und ein Untergang ist“, nämlich „unterzugehen und Opfer zu sein“ um „hinüberzugehen“,72 eben das fordert Brunner insbesondere von den Juden: den Übergang durch Untergang von einem Dasein als Juden zu einem Dasein als Menschen. Diesen Übergang zum ‚Überjuden‘ als Vollendung des Judentums durch seine Selbstaufhebung zelebriert Brunner dramatisch als das letzte Werk, das die Juden an sich selber vollziehen müssen: „[…] so bleibt ihnen denn nur noch das Recht ihrer Pflicht zu einem letzten Werk, welches sie gleichsam noch als Juden, schwebend zwischen Juden und Nichtjuden, in den Sinn zu nehmen haben: ihre Selbstemanzipation oder ihr endlicher Übergang in die Völker.“73 Die katastrophische Wendung vom ‚Übergang durch Untergang‘ verweist aber nicht nur auf Nietzsches Zarathustra, sondern erneut auch auf Wagners Das Judenthum in der Musik. Denn diese Schrift mündet in der höchst problematischen Konklusion: der Forderung der Erlösung durch Untergang, nun aber nicht allgemein für die Menschen (wie bei Nietzsche), sondern mit Bezug auf die Juden (wie bei Brunner). Die vielfach interpretierte Schlusspassage von Wagners Schrift ist offensichtlich ein Bezugstext für Brunners Argumentation – nicht für die physische Vernichtung der Juden,74 sondern für ihren symbolischen, politischen „Untergang“ durch Assimilation: Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden, heißt für den Juden aber zu allernächst so viel als: aufhören, Jude zu sein. […] Nehmt rücksichtslos an diesem, durch Selbstvernichtung wiedergebärenden Erlösungswerke theil, so sind wir einig und ununterschieden! [In der Version von 1869 folgt noch der Nachsatz:] Aber bedenkt, daß nur Eines eure Erlösung von dem auf euch lastenden Fluche sein kann: die Erlösung Ahasvers, – der Untergang!75

fens getragen werden; das Abstrakte müsse freigehalten bleiben. Nietzsche würde ihm in vielen Zügen lieb und sogar besonders wert sein, aber der Anspruch, womit er auftritt, mache das alles zunichte; dagegen richte er sich. Übrigens den ,Zarathustra‘ – und der gälte doch für Nietzsches bestes Werk und er selbst habe ihn dafür angesehn – könne er nicht aushalten, und wenn man ihn nicht zu Gefängnis, sondern zu Schlimmerem verurteilen wollte, brauchte man ihn nur zu zwingen, den ,Zarathustra‘ zu lesen.“ Lotte Brunner, Tagebücher (wie Anm. 13), S. 140. 71 Brunner, Höre Israel (wie Anm. 53), S. 28. 72 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 4. München, Berlin 1988, S. 16 f. 73 Brunner, Höre Israel (wie Anm. 53), S. 36. 74 Vgl. dazu auch Fischer, Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘ (wie Anm. 14), S. 85 ff. 75 Wagner, Das Judenthum (wie Anm. 14), S. 32.

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Brunners so radikale Forderung der jüdischen Selbstauflösung, die offensichtlich auch diese Wendung aufgreift, erhält ihr aufstörendes Moment nicht zuletzt auch in der höchst dissonanten historischen Konstellation am Vorabend des NSRegimes, das seinerseits für Wagners katastrophische Erlösungsvorstellung wie seinen Antisemitismus empfänglich war. Darin liegt dann auch der Unterschied zur Forderung nach einer Auflösung letztlich aller konfessionellen und religiösen Partikularitäten in „uns Menschen“. Wenn Brunner nach 1930 an das „jüdische Volk“ den Appell richtete – nochmals anders gewendet – „auf rechte Todesart“ zu sterben76 und als Juden zu sterben, so mag das Pathos vom Übergang durch Untergang kaum mehr über den bedrohlichen Horizont hinwegsehen lassen, vor dessen Kulisse solche Worte gesprochen waren. Brunner mochte seine Analyse der jüdischen Geschichte dergestalt als Wahrheit gelten, dass er sie gegenüber den historischen Konditionen immunisierte bzw. die Geschichte – antihistoristisch gewandt – nur als eine waltende und sich wandelnde Entfaltung dieser einen Wahrheit verstand. Und das auch dann, wenn Brunner sehr wohl vor dem aufkommenden Nationalsozialismus wiederholt gewarnt hat. Jedoch einem historischen Blick auf die heraufziehende Katastrophe gegen Ende der Weimarer Republik konnte solche Redeweise vom Tod, sei sie auch symbolisch oder metaphorisch gemeint, nur als Gipfelpunkt des tragischen Irrtums gelten, in dem die deutschen Juden befangen sein konnten. Brunners Radikalforderung der Assimilation hat aber nicht nur in dieser historischen Konstellation einen tragischen Zug. Es ist mit der historischen auch die soziokulturelle Tragik einer Variante ‚jüdischen Selbsthasses‘: eines Affekts allemal, der in der postulierten Hyperassimilation den Judenhass paradoxal als jüdische Schuld verstand und daher vom Judentum ausgehend gegen es selbst richtete. Brunners suizidale Selbstemanzipation erscheint daher auch im Lichte dieses soziokulturellen Psychogramms als tragisch: Tragisch da, wo das Postulat der Assimilation in Selbstvernichtung übersteigert und das Judentum durch das Judentum ausgelöscht werden soll – und sei es im Namen eines universalen Menschlichen gesprochen, das uns in dieser Dialektik allerdings das Gesicht des Inhumanen zeigt.

76 Brunner, Höre Israel (wie Anm. 53), S. 36.

Moshe Zimmermann

Judenhass, Zionistenhass, Deutschenhass Constantin Brunners voluminöses Buch Der Judenhaß und die Juden erschien gegen Ende des Ersten Weltkrieges, es war jedoch bereits vor Kriegsbeginn in der Druckerei. Papiermangel und der Wunsch, das Werk im Kriegsverlauf zu aktualisieren, waren die Ursache für diese Verzögerung. Nicht der Weltkrieg, auch nicht die „Judenzählung“ des Jahres 1916 waren also der Grund für Brunners akribische Beschäftigung mit dem Thema Judenhass, sondern die früheren Erfahrungen aus der Kaiserzeit seit dem „Berliner Antisemitismusstreit“, den Brunner als 18-jähriger miterlebt hatte. Als Student in Berlin, als Literaturkritiker in Hamburg in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts, war er mit dem sich Antisemitismus nennenden Judenhass konfrontiert worden, und seine Erfahrungen aus dieser Zeit hinterließen in dem 1918 erschienenen Buch klare Spuren: Der Inhalt bezog sich explizit auf Schriften von Wilhelm Marr, Hermann Ahlwardt, Hermann Lucko, Bernhard Förster, Theodor Fritsch etc.,1 die (mit Ausnahme des letztgenannten) bis 1914 bereits in Vergessenheit geraten waren. Nach dem Krieg, in den ersten Jahren der Weimarer Republik, setzte Brunner seine intensive Beschäftigung mit dem Judenhass fort und brachte nicht die Wende, sondern eher die Kontinuitäten um das Revolutionsjahr 1918 herum zum Ausdruck. 1920 erschien sein zweites Buch zu diesem Thema mit dem hebräischen Titel Memscheleth sadon – Letztes Wort über den Judenhaß und die Juden, und 1922 veröffentlichte er die Broschüre Der Judenhaß und das Denken. Dass Brunner sich erst im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, also gegen Ende der Ära des Kaiserreichs, gezielt an die Ausarbeitung dieser programmatischen Schrift setzte, war im deutschen Judentum eher untypisch. Denn die Debatte um den Judenhass flammte mit dem Aufkommen des Begriffs Antisemitismus und dem Aufstieg von antisemitischen Parteien auf, also in den zwei letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, flaute aber seit Anfang des 20. Jahrhunderts wieder ab. Das steht im Zusammenhang mit dem, was der Historiker

1 Constantin Brunner: Der Judenhaß und die Juden. 2. und 3. Aufl. Berlin 1919, S. 88–90. Vgl. auch Moshe Zimmermann: Antisemitismus im Kaiserreich zwischen Modernität und Antimodernismus – Intellektuelle und Renegaten. In: Ders.: Deutsch-jüdische Vergangenheit. Paderborn 2005, S. 125–134.

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Richard Levy im Jahr 1975 „The Downfall of the Anti-Semitic Political Parties in Imperial Germany“ nannte.2 Der 22-jährige Brunner hatte sich bereits im Jahr 1884 in Briefen an seine Freundin Johanna Löwenthal zum Judenhass geäußert. Unter dem Eindruck der Reichstagswahlen, wo zwei Liberale gegen zwei Antisemiten (darunter der Hofprediger Adolf Stoecker) in Berlin die Stichwahlen gewinnen konnten, schrieb er aufgewühlt: „Es stehen für uns die Rechte der Menschheit auf dem Spiele – [...] es sind empörende Waffen, die man gegen uns schwingt; Waffen, gegen die uns [...] der Sieg keinen Ruhm bringen kann“.3 Die antisemitische Botschaft der deutsch-konservativen Partei hielt er für eine neue Qualität des Judenhasses. Für jüdische Turner, Studenten und Jugendbewegte wurde der Antisemitismus in der Tat zur Herausforderung. Da aber die Auseinandersetzung mit antisemitischen Ausschreitungen und Äußerungen ein Jahrzehnt später zur Pflichtaufgabe des im Jahr 1890 gegründeten „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus“ und des im Jahr 1893 gegründeten „Central-Vereins der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens“ wurde, schien das Thema für die politische Diskussion bzw. für die Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden an Brisanz verloren zu haben. Möglicherweise ließ die Veröffentlichung der von Brunner im Jahr 1893 verfassten Schrift Rede der Juden: Wir wollen ihn zurück! auch deshalb bis 1918 auf sich warten; eine überarbeitete Fassung bildet das Schlusskapitel von Der Judenhaß und die Juden. Aus der Retrospektive nach dem Ersten Weltkrieg und vor allem in der Rückschau nach der Shoah verwundert diese zwanzig Jahre lang währende relative Ebbe der anti-antisemitischen Schriften. Brunners Entscheidung, sich mit dem Thema bereits 1911 ausführlich zu befassen, scheint hingegen weitsichtig gewesen zu sein. Der Untertitel des 1918 veröffentlichten Buches, „cum ira et studio“, weist darauf hin, dass Brunner keinen sterilen wissenschaftlichen Beitrag zum Thema leisten wollte. Ihm war die kulturelle und soziale Dimension dieses Vorurteils klar. Den Antisemitismus bezeichnet er als „Verrücktheit“, „bitterschlimme Krankheit“, ja, als „Psychopathia antisemitica“. Er gibt zu: beim Unterschied zwischen Wahrem und Verkehrtem, „[d]a hört ‚die Objektivität‘ auf“. Er sieht auch die unumgänglichen Fragen voraus: „Warum schreibst du dieses Buch über den Judenhaß und die Juden, und was unterscheidet es von den bisherigen

2 Richard S. Levy: The Downfall of the Anti-Semitic Political Parties in Imperial Germany. New Haven 1975. 3 Brief von Constantin Brunner an Johanna Löwenthal vom 30. Oktober 1884. In: Constantin Brunner. Ausgewählte Briefe 1884–1937. Hg. von Jürgen Stenzel und Irene Aue-Ben-David. Göttingen 2012, S. 50 f.



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Büchern?“, und antwortet, die Berechtigung liege „in der Verbindung der richtigen Bestimmung von der jüdischen Rasse mit der Betrachtung der allgemein menschlichen Beschaffenheit“.4 Wie in seinem gesamten philosophischen System scheint ihm auch in diesem Zusammenhang das allgemein Menschliche der Kern der Sache zu sein. Daher fordert er: „Weg mit dem Wort Antisemitismus.“5 Brunner zieht den Begriff Judenhass vor, der bei ihm wiederum identisch ist mit Menschenhass. Direkter gesagt: „Die Judenfrage ist die Antisemitenfrage, und die Antisemitenfrage ist die Menschenfrage, also kein lösbares Problem, eine Sache ohne Ende“.6 Hieraus folgt für Brunner, dass weder der Antisemitismus noch der Zionismus die „Judenfrage“ lösen können und dass man auf den Weg der Emanzipation trotz allem nicht verzichten darf. Dieser unerklärliche Aufklärungsoptimismus steht jedoch im Widerspruch zur praktischen Konsequenz, die eigentlich aus Brunners theoretischer Hypothese hervorgeht: Der Judenhass will, „daß sie [die Juden] und ihr Nichtsein eines sein sollen. Da sie, ‚die Andern‘, doch immer noch da sind, kann der Judenhaß sie nicht als Menschen betrachten“. Und noch deutlicher: „Also müssen die Judenhasser wünschen, daß nur die Tugendhaften ihresgleichen leben, und sie müssen die Juden ihresungleichen auszurotten suchen.“7 Die Umsetzung einer solchen Theorie in die Praxis und Politik war Brunner aller Wahrscheinlichkeit nach vor 1933, auch noch vor seinem Tode im Exil 1937 unvorstellbar. Was Brunner unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg dachte, blieb für ihn offenbar auch ein Jahrzehnt später noch weiterhin in Kraft. Er glaube nicht, schreibt er 1922, daß nun der Schatten wächst und völlig sich will in Nacht verlieren. Es ist keine Wandlung und Zurückgang, kein Auseinanderbrechen: nur eine Geschichtskrise ist es, eine schwarze Zeit und schwere Flut, viel verderbend, aber dann aufhörend mit verderben; und, nach Wiederfesselung des Allerverderblichsten, des losgelassenen tätigen Wahnes, wird man nicht nur das Niedergestürzte und den Mißwachs erkennen, sondern auch die den gesunden Kräften gegebene Freiheit, das heilsame Neue zu schaffen. Daß nun die Juden auf den mittelalterlichen Stand würden zurückgeworfen werden und wieder zur Maus gemacht, im Loch nur einigermaßen ihres Lebens sicher, das brauchen wir den Judenhassern nicht zu glauben.8

4 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 81 f., S. 93–95. 5 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 95. 6 Constantin Brunner: Der Judenhaß und das Denken. Berlin 1922, S. 19. 7 Brunner, Judenhaß und Denken (wie Anm. 6), S. 15, 43. 8 Brunner, Judenhaß und Denken (wie Anm. 6), S. 24.

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Brunner hoffte nicht nur, er erwartete mit Sicherheit, „daß die dunkle Sache des Judenhasses in die Sphäre der denkenden Betrachtung erhoben, daß diese Finsternis einmal wirklich bei Licht betrachtet werde und damit für alle Denkenden auf immer vergehe.“9 Der Judenhass des 20. Jahrhunderts könne „auf keinen Fall die Renaissance des Ghettos bringen [...]; die Judenhasser hegen einen finsteren, aber unausführbaren und albernen Wunsch.“10 Und mehr noch: „Die Juden sind stärker als die Absurdität, und die egoistische Lebensfürsorge der Gesellschaft läßt es nicht anders zu, als daß Gebrauch gemacht wird von allem Brauchbaren. Nein, mein Judenhasser, das bleibt so und wird nicht anders.“11 Viele deutsche Juden, die auch nach 1933, anders als Brunner, in Deutschland blieben, haben an diese Prämisse fest geglaubt – und ihr Leben verloren. Weil die Anregung für das Buch Der Judenhaß und die Juden ursprünglich aus den Entwicklungen des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts hervorging, widmete sich Brunner auch ausführlich der Frage nach der Relevanz der Rassentheorie, einem Produkt des 19. Jahrhunderts. Dieses Kapitel des Buches hinterlässt beim Leser einen bizarren Eindruck: Eine Rassentheorie, wie auch die Rassen als Gegebenheit, lehnt Brunner eigentlich ab, obwohl er von der Existenz von (oberflächlichen) Unterschieden zwischen Rassen ausgeht. Einerseits hält er es schlichtweg für „Unsinn“, von einer jüdischen Rasse zu reden,12 anderseits meint er, dass „die jüdische Rasse die Mitte zwischen den Rassen“ bilde.13 So oder so kommt er am Ende zu der Schlussfolgerung, dass das alles „für den Zweck, für den es uns angehen soll“, nichts bedeute. Denn die Naturgeschichte habe mit Staat und Nationalität nichts zu tun. Im Endeffekt geht es bei der Anwendung des Terminus Rasse, so Brunner, nur um die neue Daseinsberechtigung des Judenhasses.14 Da sei einfach eine neue „Maske“ gewählt: Rassenverfolgung statt Religionsverfolgung. „Gestern die Religion, heute die Rasse, morgen wieder Neues [...], immer die gleiche eine Ursache des Hochmuts“.15 Es kommt mir in diesem Beitrag weder darauf an, Brunners Haltung dem Antisemitismus gegenüber mit seinem philosophischen System in Einklang zu bringen, noch alle seine Argumente gegen den Judenhass und alle relevanten Beiträge dazu ausführlich aufzuzählen und zu erläutern. Es geht mir vielmehr

9 Brunner, Judenhaß und Denken (wie Anm. 6), S. 25. 10 Brunner, Judenhaß und Denken (wie Anm. 6), S. 29. 11 Brunner, Judenhaß und Denken (wie Anm. 6), S. 48. 12 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 118. 13 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 131. 14 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 141. 15 Brunner, Judenhaß und Denken (wie Anm. 6), S. 10.



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darum, die Aufmerksamkeit auf die Besonderheiten seiner Argumentation im breiteren historischen Zusammenhang zu lenken. Brunner wiederholte das, was deutsche Juden in der Regel so oft apologetisch unterstrichen: Die Juden sind nicht die Ursache des Antisemitismus, sondern sein Ziel; der Beitrag der Juden zur Kultur und Zivilisation sei unvergleichbar hoch wie die Zahl der jüdischen Nobelpreisträger beweise; der Vorwurf des Kommunismus sei grundlos etc.16 Nicht aber diese bekannten Argumente, sondern zwei andere Aspekte seiner Analyse des Antisemitismus, die zur Zeit des sogenannten Antisemitismusstreits noch nicht aktuell waren, verdienen hier unsere Aufmerksamkeit: Die Analogie zwischen dem Judenhass und dem Deutschenhass und die Kritik am Zionismus. Der Rahmen von Brunners Zugang zum Phänomen Judenhass ist universalistisch: Judenhass sei Menschenhass, denn die Wahl einer beliebigen Gruppe als Ziel von Hass sei eine allgemein bekannte menschliche Verhaltensweise. So ist für Brunner auch der Erfolg von Aberglaube und Vorurteil zu erklären. In der kurzen Schrift Der Judenhaß und das Denken, die vier Jahre nach dem Krieg erschien, unternimmt er den Versuch, den Judenhass als Exempel des allgemein-existierenden Menschenhasses zu beschreiben. Dabei verwendet er auch den gegenwärtig gängigen Begriff „der Andere“, um die Haltung von Antisemiten gegenüber Juden, oder den Begriff „bürgerlicher Tod“, um das Phänomen Judenhass und seine Folgen zu kennzeichnen.17 Entsprechend formuliert er das Problem in Der Judenhaß und das Denken so: „Die des Denkens Unfähigen folgen dem Denken ihres Interesses und vermeintlichen Interesses und dem Aberglauben. Welches Letztgesagte den Judenhass charakterisiert.“ „Der Hass ist kein Denken, sondern Krankheit des Denkens“.18 Geht man von dieser Prämisse aus, wird der Kampf gegen Judenhass bzw. Antisemitismus zur Aufgabe der nicht-jüdischen Gesellschaft, nicht die Zwangsaufgabe der Juden allein. Denn das Ziel der Antisemiten ist unter anderem, die Juden als Gemeinschaft zu konstruieren und sie zum Handeln als Gemeinschaft zu zwingen, was für Brunner inakzeptabel ist. Weder die nationale Ausschließlichkeit oder der Rassencharakter noch das Zeremonialgesetz oder die Religion machen Brunners Judentum aus.19 Brunners säkulare und abstrakte Definition des Judentums bedeutet: „Ohne Antisemiten gäbe es keine Juden mehr“ – so schrieb er schon lange vor dem

16 Constantin Brunner: Memscheleth sadon. Letztes Wort über den Judenhaß und die Juden. Berlin 1920, S. 18, 63, 74. 17 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 16), S. 29, 89. 18 Brunner, Judenhaß und Denken (wie Anm. 6), S. 3, 45. 19 Brunner, Judenhaß und Denken (wie Anm. 6), S. 30.

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Ersten Weltkrieg an den Anarchisten Gustav Landauer.20 Ausführlich befasste er sich mit dieser These Jahre später in Memscheleth sadon (aus dem Gebet ShmoneEsre: ‫)כי תעביר ממשלת זדון מן הארץ‬: Nicht nur ist das Bestreben (das in diesem Gebet zum Ausdruck kommt), den Judenhass absolut zu tilgen, zum Scheitern verurteilt, es ist eigentlich nicht im Interesse des Judentums, denn die Vernichtung des Antisemitismus bedeutet quasi automatisch den Tod der Juden. Je stärker der Judenhass, desto stärker werden die Juden. Ja, der Judenhass verleihe den Juden die Unsterblichkeit.21 Diese Anspielung auf Exodus Kap. 1, 12 klingt aus der Retrospektive nach 1945 unvermeidlich fraglich. Aber so universalistisch Brunners Ausgangsposition auch ist, es stellt sich heraus, dass sein eigentliches Bezugskollektiv ein begrenztes ist: „Als Deutsche fragen wir nach nichts als nach dem Deutschsein“.22 „Ich liebe Deutschland, Deutschland über alles“,23 deklarierte Brunner kurz nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages, den er als deutscher Nationalist vehement abgelehnt hat. Nirgendwo schien ihm deswegen der Antisemitismus absurder zu sein als in Deutschland.24 Die Juden sind Deutsche und nichts andres; höchstens könne man sie als einen Stamm unter den anderen deutschen Stämmen identifizieren, wie seinerzeit der von Brunner mehrmals erwähnte Emanzipationskämpfer Gabriel Riesser es Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieben hat.25 Obwohl Brunner das Verschwinden der „jüdischen Eigentümlichkeit“ für unmöglich, aber auch für unerwünscht hielt, und „das allgemeine Deutschtum“ für einen lächerlichen Begriff hielt, weil die Deutschen keine Angehörigen einer homogenen Gesellschaft und Kultur sind,26 bleibt er ein Beispiel für die sogenannte deutsch-jüdische Symbiose; und es ist am Ende der deutsche Judenhass, mit dem er in erster Linie rang. Immer wieder betonte er den Beitrag der Juden zur deutschen Kultur, immer wieder beschwor er die absolute Zugehörigkeit der deutschen Juden zum deutschen Vaterland herauf. Ein klar denkender Jude in Deutschland, so Brunner, kann sich nicht anders als als Deutscher verstehen. Diese Sichtweise auf den Judenhass macht Brunner für den Historiker nach 1945 und den Beobachter der Geschichte der deutschen Juden interessant.

20 Brief von Constantin Brunner an Gustav Landauer vom 6. Juli 1909. In: Brunner, Briefe (wie Anm. 3), S. 151. 21 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 16), S. 110. 22 Brief von Constantin Brunner an Emil Grünfeld vom 15. Oktober 1925. In: Brunner, Briefe (wie Anm. 3), S. 390. 23 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 76. 24 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 313. 25 Brunner, Memscheleth (wie Anm. 16), S. 101. 26 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 300 f.



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Der erste besondere Aspekt in Brunners Analyse des Judenhasses ist der Bezug auf und Vergleich mit dem sogenannten Deutschenhass. Dieser Begriff wurde während des Ersten Weltkriegs zum Schlagwort und nicht nur Brunner hat ihn für seine Zwecke verwendet. Der Philosoph Max Scheler (1874–1928), Sohn einer jüdischen Mutter, veröffentlichte 1917 ein Buch mit dem Titel Ursachen des Deutschenhasses.27 Der Wiener Psychiater Erwin Stransky, Sohn jüdischer Eltern, veröffentlichte 1919 das Buch Der Deutschenhaß. Vermutlich waren Opfer des Judenhasses, oder zumindest diejenigen, die gegenüber dem antisemitischen Vorurteil empfindlich waren, für den Vergleich des Antisemitismus mit der Abneigung gegenüber Deutschland eher empfänglich. Scheler machte die deutschen Antisemiten auf eine paradoxe Weise für den Deutschenhass mitverantwortlich: Antisemiten im Ausland hätten nämlich den Eindruck gewonnen, dass „Deutschland bestimmt war durch den preußischen Unteroffizier und einen hyperkritischen, überall Zersetzung suchenden und bewirkenden jüdischen Geist“,28 und sie seien deswegen zu Deutschenhassern geworden. Antisemitismus sei quasi eine Quelle des Deutschenhasses. Anders interpretierte Joseph Wohlgemuth, ein Lehrer im Hildesheimer Rabbinerseminar zu Berlin, den Zusammenhang zwischen Deutschenhass und Antisemitismus: Er schrieb 1915, „daß das Bild des Deutschen- und des Judenhasses sich zum verwechseln ähnlich geworden“ ist.29 Zwei Jahre später erschien in der Zeitschrift Nord und Süd der bereits im Mai 1915 von Brunner verfasste Aufsatz Deutschenhaß, Judenhaß und die Ursache des Krieges und 1919 die Broschüre Deutschenhaß, Judenhaß und Judenhaß der Deutschen; Brunner nahm beide Texte 1919 als Vorworte in das Buch Der Judenhaß und die Juden auf. Während sich Scheler mit dem Problem des Deutschenhasses befasste und der orthodoxe Rabbiner sich vornehmlich um das Judentum Sorgen machte, stand für Brunner die generelle Frage des gegen Menschengruppen heraufbeschworenen Vorurteils im Mittelpunkt. Brunner griff für seine Argumentation weit zurück auf ein Zitat aus dem Jahr 1832: „Man kann die Deutschen füglich die Juden des neuen Europa nennen“. Er fügte hinzu: „Der Deutschenhaß hat sehr ähnliche Ursachen wie der Judenhaß“, und konkretisierte diese Ursachen mit Hilfe eines Zitats aus einer national-konservativen Zeitung: „Kein Volk der Erde ist im gesamten Ausland so verbreitet wie

27 Max Scheler: Ursachen des Deutschenhasses. Eine nationalpädagogische Erörterung. Leipzig 1917. 28 Scheler, Ursachen (wie Anm. 27), S. 114 f. 29 Joseph Wohlgemuth: Der Weltkrieg im Lichte des Judentums. Berlin 1915. Siehe Cornelia Hecht: Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik. Bonn 2003, S. 69–72.

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das deutsche“.30 Bezüglich der Diskriminierung und Bekämpfung des erfolgreichen und begabten Ausländers gebe es Ähnlichkeiten zwischen dem Judenhass und dem Deutschenhass. Der Zustand des Ersten Weltkriegs hat diesen realen oder vermeintlichen Hass naturgemäß radikalisiert und entsprechend reagierte man in Deutschland. Deutschland werde „von aller Welt“ gehasst, so Brunner. Dieser Hass beruht seiner Meinung nach darauf oder führt dazu, dass man im Deutschen nur Böses und Hässliches sieht und deswegen nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft die Regel zu gelten habe: „Weiche auf ewig von uns!“31 Brunner zitiert sogar einen italienischen Professor, der seine Leser über ein deutsches Gesetz informiert, wonach den Deutschen der Diebstahl im Ausland erlaubt sei – eine Behauptung, die an einen bekannten Vorwurf gegen die Juden erinnert. Brunner bringt haarsträubende Zitate wie diese: Italiener wollen Italien von den „dreckigen Deutschen“ säubern, das heißt Italien „deutschenrein“ machen.32 „Verhaßt sind wir Deutsche wie die Juden“, schrieb Brunner kurz nach Kriegsbeginn an seinen Freund Ernst Altkirch.33 Das Wir-Gefühl bezieht sich in diesem Satz bewusst und symptomatisch nicht auf das Jüdische, sondern auf das Deutsche. „Wurden die Deutschen in Juden verdreht?“, fragt Brunner in seiner Einleitung zu Der Judenhaß und die Juden und antwortet: „Die Sprache gegen die Deutschen erinnert immer wieder an die gegen die Juden.“34 Eine relevante Konsequenz: „Die Deutschen jüdischer Abstammung sind von heute an doppelt Juden geworden – auch als Deutsche“.35 Dabei konstatiert er auch eine weitere Doppelung – und da hegt Brunner keine Illusionen –: „weswegen alle Welt mit dem Finger auf die Deutschen weist, deswegen weisen Deutsche mit dem Finger auf die Juden“. Der verlorene Krieg werde die Juden vor dem spezifisch deutschen Judenhass nicht befreien, eher umgekehrt.36 Bei Brunner wird der Sinn dieses Vergleichs ersichtlich: Argumente gegen den sogenannten Deutschenhass lassen sich mutatis mutandis mühelos gegen den Antisemitismus und gegen Antisemiten verwenden. Die Schlussfolgerung aus der Analyse des Deutschenhasses: „So bleibt denn in Zukunft den Juden die Mühe erspart, gegen die Vorwürfe, die man ihnen macht, Widerlegungen

30 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 314. 31 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 11, 12. 32 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 13. 33 Brief von Constantin Brunner an Ernst Altkirch vom 19. November 1914. In: Brunner, Briefe (wie Anm. 3), S. 277. 34 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 17, 29. 35 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 27. 36 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 19.



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zusammenzustellen“.37 Die Deutschen dürften somit, anders als andere Völker, die Juden nicht anklagen oder von der Schuld der Juden sprechen: „damit ist‘s quitt für immer“.38 Der zweite wichtige Schwerpunkt in seiner Antisemitismuskritik ist der Zusammenhang, den Brunner zwischen Antisemitismus und Zionismus sieht; und auch zwischen dem Deutschenhass und dem Zionismus entdeckt Brunner einen Zusammenhang: Weil der Deutschenhass die Deutschen quasi zu „Juden“ gemacht habe, bräuchten nun die Juden „nicht zu verzweifeln und nicht Zionisten zu werden“.39 Brunner schüttelt den Kopf über die „jüdischen Narren“, die „die deutschen Germanen in Gegensatz bringen zu den Juden“, die Blonden bewundern und beneiden, kurz – die dümmsten rassistischen Klischees ihrer Gegner akzeptieren und verinnerlichen.40 Aber er zweifelt nicht nur diese Klischees an, sondern schon das Vorhandensein einer jüdischen Gemeinschaft: „Es gibt nichts, was sie einigen könnte“.41 Gerade wegen des Konstruktes der jüdischen Gemeinschaft und wegen der Bereitschaft der Zionisten, von Rassenunterschieden zu sprechen, wird der Zionismus zum Hauptziel seiner Attacken: „Der Zionismus und der Judenhaß hängen aber aufs engste zusammen [...]. Der Zionismus ist die verkehrte Reaktivität der Juden, der Hereinfall der Juden auf den rassentheoretischen Judenhaß“.42 Nichts schien Brunner absurder als die Behauptung der Zionisten, die Juden seien eine Nation. „Die Zionisten haben sich das Dogma Rasse und Nation auf die allerärgste Weise angeeignet“ und seien somit „Assimilanten dieses Antisemitendogmas“ geworden.43 In anderen Worten: Diese Juden sind Opfer des „Aberglauben[s] des jüdisch Völkischen“ geworden, wie er seinem gleichfalls anti-zionistischen Freund Emil Grünfeld mitteilt.44 Deshalb ist nach Brunner der Zionismus „die Traufe des Regens Antisemitismus“ und die Zionisten sind „gefährlicher als die Antisemiten“.45 Wohin der Zionismus steuert, ver-

37 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1) S. 33. 38 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1) S. 21. 39 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 33. 40 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 168. 41 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 191. 42 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 193. 43 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 197. 44 Brief von Constantin Brunner an Emil Grünfeld vom 15. Oktober 1925. In: Brunner, Briefe (wie Anm. 3), S. 391. 45 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 197.

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mutet er auch: „nicht nach Zion, sondern ins Ghetto, wenn auch nicht korporaliter, so doch mentaliter“.46 Nach Brunner bestand die Gefahr darin, dass diese Haltung praktische Folgen haben muss: Zionisten geben den Kampf um die Judenemanzipation wie auch um die Emanzipation der Menschheit auf.47 Angesichts dieser Gefahr regte Brunner die Veröffentlichung des Sammelbands Los vom Zionismus an.48 Dass ihm der Zionismus aussichtslos zu sein schien, bedeutete nicht, dass er diese seiner Meinung nach potenzielle Gefahr verkannte. Sie schien ihm in Deutschland, in der Weimarer Republik, sogar noch größer zu sein. Der Deutsche jüdischer Abstammung verletze „als Zionist seine Staatsbürgerpflicht [...], da er dem Kampf sich entzieht“, der um Gleichberechtigung und um Emanzipation geführt werden müsse. Brunner hat hier den üblichen Vorwurf gegen die deutschen Zionisten zum Ausdruck gebracht – sie bestätigen nur die antisemitische Parole „Kein Jude kann ein Deutscher sein“.49 Den Höhepunkt erreichte Brunners anti-zionistische Fixierung im Jahr 1930, kurz nach den „Unruhen“ in Palästina und zu dem Zeitpunkt, als die NSDAP kurz vor dem politischen Durchbruch stand. In diesem Jahr schrieb er an Moscheh Schefi, einem nach Palästina ausgewanderten Anhänger seines Werkes, dass er als „Gegenzionist“ für die Argumente der Zionisten keine Geduld mehr habe und dass er die zionistische Politik für unmoralisch halte. Brunner spricht hier von einer „zionistischen Invasion“ in Palästina und vom Schicksal der palästinensischen Araber.50 Noch deutlicher ist seine Sprache im Briefwechsel mit einem der bekanntesten zionistischen Ideologen der Zeit, Jakob Klatzkin. Zionisten und Judenhasser werden dort gleichgesetzt, und zwar als Gefahr für das Judentum. Zionisten sind „Unglückserhalter für die Juden“. „Als Deutscher“, schreibt er sechs Monate vor dem Wahlerfolg der NSDAP im September 1930, „wünsche ich die schnellstmögliche Reinigung meines allergeliebtesten wirklichen deutschen Vaterlandes vom Zionismus“.51 Die auf Hebräisch in Eretz Israel herausgegebene Zeitschrift Moznayim hat dementsprechend reagiert, und vor allem von Rabbi Benjamin kam eine schroffe Erwiderung auf Brunners anti-zionistische Vor-

46 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 195. 47 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 192–196. 48 Fritz Blankenfeld, Kimchi [i.e. Emil Grünfeld], Ernst Ludwig Pinner: Los vom Zionismus. Frankfurt a.M. 1928. 49 Brunner, Judenhaß und Juden (wie Anm. 1), S. 63. 50 Brief von Constantin Brunner an Moscheh Schefi vom 12. März 1930. In: Brunner, Briefe (wie Anm. 3), S. 429. 51 Brief von Constantin Brunner an Jakob Klatzkin vom April 1930. In: Brunner, Briefe (wie Anm. 3), S. 432, 435.



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würfe.52 Die Wahlergebnisse am 14. September 1930 schienen Brunner in seinem Gegenzionismus sogar noch zu bekräftigen. Einige Tage nach den Wahlen nannte er, in Anspielung auf August Bebels Diktum über Antisemiten, den Zionismus: „Die Politik des jüdischen dummen Kerls“.53 Dass Brunner mit Zionisten dennoch gute Beziehungen pflegte, stand nicht im Widerspruch zu seiner prinzipiellen Haltung. Gerade weil er den Zionismus für einen Wahn hielt, mied er es bewusst, mit Zionisten über Zionismus zu sprechen, weil viele Leute „in einem Wahn sich so wohl fühlen wie in ihrem Bett“ und er niemanden aus dem Bett jagen wolle.54 Manche Zionisten wurden als Brunnerianer zu Renegaten, wie z.B. Ernst Ludwig Pinner und Abraham Suhl. Andere blieben Zionisten, wie der Erzieher und Gründer von „Tichon Hadash“ in Tel Aviv, Aaron Berman (1895–1969), der die „Brunner-Gemeinschaft“ in Palästina leitete, 1957 einen Sammelband von Brunners Schriften auf Hebräisch herausgab und bereits drei Jahre nach der „Machtergreifung“ von Brunner mitgeteilt bekam, „daß die Zionisten genauestens keinen herzwärmeren Freund haben als mich, und die Zeit wird kommen, wo sie das erkennen“.55 Brunner starb kurz darauf und hinterließ diese Bemerkung der Nachwelt als Rätsel. Im Prinzip blieb Brunner konsequent: Der Judenhass sei nur ein Beispiel der auf Vorurteilen sich gründenden kollektiven Abgrenzung. Er ist in Deutschland, egal ob im Kaiserreich, in der Weimarer Republik oder später, noch absurder als sonstwo und in seiner Sinnlosigkeit mit dem Deutschenhass vergleichbar. Zu tilgen sei der Judenhass jedoch nicht. Die noch größere Gefahr aber geht nach Brunner vom Zionismus aus, der den Anti-anti-Argumenten das Wasser abgrabe. Es kann daher nicht verwundern, dass es in Israel keine Constantin-BrunnerStraße gibt.

52 R. B. [i.e. Rabbiner Benjamin]: ‫( במעגל‬hebr.: Im Kreis). In: Moznayim 2, Nr. 52 (15. Mai 1930), S. 3–5. 53 Brief von Constantin Brunner an Selma van Leeuwen vom 23. September 1930. In: Brunner, Briefe (wie Anm. 3), S. 440. 54 Brief von Constantin Brunner an Frieda Pinner vom 5. März 1925. In: Brunner, Briefe (wie Anm. 3), S. 375. 55 Brief von Constantin Brunner an Aron Berman vom 6. Januar 1936. In: Brunner, Briefe (wie Anm. 3), S. 539.

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V. Persönlichkeit und Kreis

Renate Stolte-Batta

Zur Persönlichkeit Constantin Brunners Weit mehr als andere Philosophen hat Constantin Brunner sich selber als Persönlichkeit ins Zentrum seines Denkens gesetzt. Eine gewisse Selbststilisierung scheint unverkennbar, so schon in den Anfangssätzen seines ersten philosophischen Werkes, der Lehre von den Geistigen und vom Volk, wenn er dort schreibt: Ich bin nunmehr, im Alter von dreiundvierzig Jahren, zu Ende gekommen mit allem Wesentlichen der Lehre von den Geistigen und vom Volke. Das ist die Lehre, deren Darstellung ich als meine Lebensaufgabe erkannt habe. Daran bin ich alle die Jahre, mich ganz im Stillen haltend, bemüht gewesen und werde fernerhin, mich weiter so im Stillen haltend, daran bemüht sein, so lang die Kräfte des Lebens bleiben.1

Philosophie und Leben waren für Brunner offenbar eine Einheit; jedenfalls war das die Intention seiner „aktiven“ Philosophie.2 Dass Brunners Persönlichkeit bei seinen lebenspraktischen Bemühungen eine wichtige Rolle spielte und dass diese Persönlichkeit bemerkenswert war, wurde selbst von Kritikern hervorgehoben.3 Für das Verständnis von Brunners philosophischem Anliegen dürfte es daher lohnenswert sein, diese Persönlichkeit, als die er sich verstand und zugleich darstellen wollte, genauer in den Blick zu nehmen. Ich versuche, ausgehend vor allem von privaten Zeugnissen, die Grundzüge seiner Persönlichkeit zu beleuchten. Wie muss man sich diesen Philosophen in seinem privaten Umfeld vorstellen? Brunner bezeichnete sich selbst als „Einsiedler“, wie unter anderem dem Titel seiner autobiographischen Schrift Vom Einsielder Constantin Brunner4 zu entnehmen ist. Aber obgleich er, abgesehen von Konzerten, fast nie an öffentlichen Veranstaltungen teilnahm, lebte er keineswegs zurückgezogen, wie es diese Selbstcharakterisierung nahelegt.5 Seit 1895 war er mit der geschiedenen Rosalie Auerbach (genannt „Leoni“) verheiratet; sie brachte die Töchter Gertrud

1 Constantin Brunner: Die Lehre von den Geistigen und vom Volk [1908]. 3. Aufl. Stuttgart 1962, S. 3. 2 Siehe dazu Constantin Brunner: Aktive Philosophie. In: Constantin Brunner: Aus meinem Tage­buch [1928]. 2. Aufl. Stuttgart 1967, S. 22–36. 3 So zum Beispiel Martin Buber; siehe dazu Anm. 32. 4 Constantin Brunner: Vom Einsiedler Constantin Brunner. Potsdam 1924. 5 Zu solch allgemeinen biographischen Angaben siehe Constantin Brunner: Ausgewählte Briefe 1884–1937. Hg. von Jürgen Stenzel und Irene Aue-Ben-David. Göttingen 2012, S. 9–42 und S. 603–607.

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und Elise Charlotte (genannt „Lotte“) mit in die Ehe.6 Leoni avancierte zu Brunners „Abschriftstellerin“: Die von Brunner stets mit der Hand geschriebenen Manuskripte schrieb sie auf der Schreibmaschine für ihn ab, teilweise mehrfach, weil Brunner darin immer wieder neue Ergänzungen vornahm. Und Lotte band er direkt in seinen Denk- und Schreibprozess ein, diskutierte mit ihr Formulierungen und auch Schreibpläne. Von 1903 bis 1932 verfasste sie ein Tagebuch, in dem sie, erfüllt von der historischen Bedeutsamkeit ihres Vaters, entsprechende Äußerungen Brunners festhielt, aber auch Lektüren Brunners und Besuche vermerkte.7 Durch Parallelüberlieferungen wissen wir, dass Lottes Angaben recht zuverlässig sind, wenngleich die Auswahl der Themen und ihre eigenen Bewertungen natürlich auch viel über die Verfasserin selber aussagen. Sie schrieb aber nicht in schwärmerischem Ton, sondern mit erstaunlicher Sachlichkeit, und so scheint dieses Tagebuch insgesamt eine zuverlässige Quelle zu sein. Einsiedler war Brunner auch deswegen nicht, weil er seit dem Erscheinen seines Hauptwerkes8 im Jahre 1908 und insbesondere seit der Auflösung des Czernowitzer Ethischen Seminars 1922 sowie der Gründung der Berliner Constantin Brunner-Gemeinschaft 1925 zunehmend häufiger Besuch bekam. Zahllose heute Unbekannte suchten Rat bei Brunner, aber es kamen auch namhafte Persönlichkeiten wie Gustav Landauer, Martin Buber, Lou Andreas-Salomé, Walther Rathenau. Die Begegnungen sind durch die Aufzeichnungen Lotte Brunners in ihrem Tagebuch belegt, aber auch durch Brunners Briefwechsel und andere historischbiographische Dokumente.9 Den Quellen ist zu entnehmen, dass Brunner auf viele, die ihm begegneten, großen Eindruck gemacht hat, andererseits war er offenbar für Personen, die ihm

6 Zu Brunners Familiensituation siehe Brunner, Briefe (wie Anm. 5), S. 21 f.; zu Leoni Brunner im Besonderen S. 86. 7 Zu Lotte Brunner siehe Brunner, Briefe (wie Anm. 5), S.  91 f. sowie Renate Stolte-Batta: „... dass ich zur Menschheit gehöre“ Lotte Brunner (1883–1943). Eine Biographie. Norderstedt 2012. Die Tagebücher Lotte Brunners befinden sich im Brunner-Archiv im Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum Berlin (im Folgenden: LBI/JMB): Lotte Brunner: Constantin Brunner im Tagebuch von Lotte Brunner (LBI: I, 2, 1, 9 f.). Auszüge wurden 1970 publiziert: Lotte Brunner: Es gibt kein Ende. Die Tagebücher. Hg. von Leo Sonntag und Heinz Stolte. Hamburg 1970. 8 Brunner, Lehre (wie Anm. 1). 9 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7). Brunner, Briefe (wie Anm. 5). Eine große Anzahl unpub­ lizierter Dokumente vorwiegend aus dem Brunnerkreis liegt im Brunner-Archiv im LBI/JMB (online zugänglich unter: http://digifindingaids.cjh.org/?pID=1526023). Darunter sind auch zahl­ reiche Brunner betreffende persönlich-biographische Aufzeichnungen, etwa von Magdalena Kasch (I, 3, 2, 1–8 und I, 3, 4, 7–10), Lothar Bickel (I, 3, 1, 1–2), Ernst Altkirch (I, 10, 1, 2), Margarete Bittlinger (I, 10, 2–11 und I, 10, 3–6).



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eng vertraut waren, auch gelegentlich schwer zu ertragen.10 Erfrischend unverblümt beurteilt zum Beispiel seine Stieftochter Lotte, als diese 1912 seine alte Freundin Frida Mond in Rom kennen lernen durfte, humorvoll verwirrend ihrer beider Eindrücke von Brunner: „Ich glaube, sie liebt Dich so, dass sie Dich unausstehlich findet; also ungefähr wie ich, nicht wahr?“11 Andere seiner Freunde hatten im Gegensatz zu diesen beiden ihm sehr nahestehenden Frauen nicht immer einen solch realistischen Blick auf ihn, weil sie ihn voller Verehrung als ihren großen Lehrmeister und Helfer in schwierigen privaten Situationen erlebt hatten. Nicht selten schwingt bei dem einen oder anderen in ihren Äußerungen – egal, ob mündlich oder schriftlich – eine gewisse Verklärung seiner Persönlichkeit mit, so zum Beispiel bei dem aus Czernowitz stammenden Leo Sonntag12 oder auch bei einer der glühendsten Verehrerinnen, Magdalena Kasch,13 die Brunner ins Exil nachreiste, ihn in seinen letzten Jahren liebevoll umsorgte und nach seinem Tod den Nachlass bewahrte, um schließlich, nach dem Zweiten Weltkrieg, die Stiftung Internationaal Constantin Brunner Instituut in Den Haag zu gründen und sukzessive Brunners Schriften neu herauszugeben. Brunners Persönlichkeit unvoreingenommen zu erfassen gelingt durch die persönliche Distanz und den zeitlichen Abstand heute vermutlich leichter als damals. In der Gesamtschau ergeben sich dabei aber durchaus auch Widersprüchlichkeiten – so zum Beispiel hinsichtlich von Brunners Bewertungen der Musik, die in mehrfacher Weise aussagekräftig für seine Persönlichkeit sind. Einmal sind es die Gegensätze von dem, was ihn begeisterte: Aufgewachsen und geprägt in Altona, das damals noch zu Preußen gehörte, liebte er besonders preußische Marschmusik, jedenfalls bis zum desaströsen Ende des Ersten Weltkrieges, nach dem Brunner sich offenbar nicht weiter an derartigen Klängen erfreute.14 Auf der anderen Seite favorisierte er stets die großen deutschen Meister, insbesondere Beethoven und Bach. So hält Lotte 1929 fest: „Seit Weihnachten haben wir ein Grammophon, das Geschenk lieber Freunde. Vater und ich sind beglückt, die

10 Das wird unter anderem auch aus dem Briefwechsel zwischen Brunner und Landauer deutlich. Siehe dazu zum Beispiel: Brunner, Briefe (wie Anm. 5), S. 188–242. 11 Brief Lotte Brunners an Constantin Brunner vom 13. April 1912 (LBI/JMB: II, 3, 7). 12 Siehe hierzu: Leo Sonntag. Ein jüdisches Emigrantenschicksal. Hg. von Jürgen Stenzel. (Brunner im Gespräch 1) Essen 1994. 13 Siehe zum Beispiel ihre Biographie Brunners: Magdalena Kasch: Constantin Brunner, sein Leben und Wirken. Aktive Philosophie. [Den Haag] 1970. 14 Jedenfalls gibt es keine diesbezüglichen Äußerungen in Lotte Brunners Tagebuch mehr, während Brunner 1914 noch meinte: „Gut marschiert ist halb gesiegt“ (Lotte Brunner, Tagebuch [wie Anm. 7], 30. August 1914).

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Toccata mit Fuge von Bach nun hören zu können, so oft wir wollen.“15 Beethoven stellte er dabei über Bach: „Er nennt Beethoven frei, Bach gebunden“, hält Lotte fest.16 Dennoch liebte er Bachs Matthäuspassion schwärmerisch und hörte sie zeitweise jährlich zu Ostern.17 Vergeblich hat er sich um Eintrittskarten bemüht, um mit seinem Freund Walther Rathenau zusammen eine Aufführung dieses Werkes zu erleben.18 Während Brunner sich an dem Klavierspiel seiner Frau Leoni erfreute, gab es zwischen ihm und der Stieftochter Lotte viele Gespräche auf hohem Niveau über musikalische Werke. Ganz differenziert und zugleich begeistert äußert er sich da zum Beispiel auch über Bachs Passacaglia in c-moll.19 Aber auch in seiner bunten Sammlung von Aufzeichnungen Aus meinem Tagebuch gibt es Äußerungen zum Thema Musik, zum Beispiel in dem Abschnitt Musik ist Melodie. Auch dort finden wir Urteile über berühmte musikalische Werke, unter anderem: „Wo Musik wahrhaft spricht, hören wir zuletzt – die Stille. Wagners Trauermarsch aus der Götterdämmerung, nach dem Tode Siegfrieds, ist eine erschütternde Leichenrede; Beethovens aus der As-Dur ist die Trauer selbst; aber Händels aus dem Samson ist mein Trauermarsch.“20 Gibt es einen größeren Gegensatz zu preußischen Märschen?! Brunner, der bezüglich klassischer Kompositionen so Sensible, konnte aber im Zusammenhang mit Musik in einer praktischen Situation, die ihn irgendwie ärgerte, wiederum derart ungehalten reagieren, dass seine Mitmenschen nur noch schockiert waren. So geschehen in einem Konzert im März 1918, was Lotte damals sehr peinlich war. Sie berichtet von einem gemeinsamen Konzertbesuch mit ihm und ihrer beider Freundin Alice Brandt. Weil ihm die Johannespassion im Gegensatz zur geliebten Matthäuspassion nicht gefiel, hat er sich damals im Konzertsaal zu Lottes und Alices Entsetzen recht unbeherrscht benommen. Der feinfühlige Musikkenner wurde plötzlich zum unsensiblen Störenfried.21 Einerseits also der Feinsinnige, andererseits der Eruptive, beides war Brunner. Er hatte zweifellos etwas Expressives in seiner Natur, nicht nur in seinem Schreibstil und Gedankengebäude, sondern auch im privaten Bereich in verschiedensten Lebensäußerungen.

15 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 24. April 1929. 16 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 1. Februar 1926. 17 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 8. Dezember 1907, 17. April 1916, 18. April 1919. 18 Brief Constantin Brunners an Walther Rathenau, nach dem 8. April 1919 (LBI/JMB: II, 10, 4). 19 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 23. Juni 1931. 20 Constantin Brunner: Musik ist Melodie. In: Brunner, Tagebuch (wie Anm. 2) S. 109. 21 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 29. März 1918.



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Dass Brunners Persönlichkeit facettenreich war, wird auch an seiner Art, Gegensätze zu leben, deutlich: Nach bewegten Jahren des jungen Mannes in der Hamburger Literaturszene mit intensiven Diskussionsrunden im Kreise von Schriftstellern wie Otto Ernst, Detlev von Liliencron und Gustav Falke begann für ihn, als er 33 Jahre alt war, ein dazu in scharfem Kontrast stehendes Dasein.22 Er lebte seit seiner Heirat 1895 in der häuslichen Zurückgezogenheit als Privatgelehrter, der Philosophie zugewandt, fernab vom wissenschaftlichen Betrieb seiner Zeit und nicht Willens, sich irgendwo auf Veranstaltungen durch Vorträge der Öffentlichkeit zu präsentieren, obgleich er zum Beispiel von der KantGesellschaft in Berlin oder auch der Spinoza-Gesellschaft dazu eingeladen wurde.23 Man kann sich nur schwer vorstellen, wie solch ein hochbegabter Mann, auch noch von eindrucksvollem Äußeren,24 mit intensivem Blick und schöner Stimme,25 auf Dauer derart zurückgezogen leben konnte, abgesehen davon, dass dies durch eine Schicksalsfügung, das Mäzenatentum der englischen Industriellenfamilie Mond, sowie einem Erbe seiner Ehefrau finanziell überhaupt möglich war. Menschen, die ihn kannten, haben auch nie erwähnt, dass er etwa schüchtern gewesen sei. Aber er bedurfte, wie zahllose Künstler und Schriftsteller, einer gewissen Abgeschiedenheit. Das Zusammenleben mit Leoni und Lotte bot ihm für seine Arbeit die idealen Bedingungen. Während Leoni ihn umsorgte und bei der Erstellung der Manuskripte half, fand er bei der der Mutter intellektuell weit überlegenen Tochter aus ihrer ersten Ehe, Lotte, eine geeignete philosophische Gesprächspartnerin. Sie nahm ihm gegenüber eine besondere, für ihn unentbehrliche Rolle als Gefährtin ein, während ihre Schwester Gertrud bald diesen Lebenskreis verließ und eigene Wege ging. Lotte liebte ihn, litt aber zunehmend unter seinem totalen Besitzanspruch.26 Letztlich ordnete er alle anderen Bedürfnisse dem einen Willen unter, nämlich die Gedanken, die er entwickelte, in ein Gesamtwerk fließen zu lassen. Und man darf ihn sich dabei keinesfalls als disziplinierten Schriftsteller wie etwa Thomas Mann vorstellen, sondern in ungebremstem Schaffensrausch. Noch nach seinem Tode schreibt Lotte diesbezüglich in das Tagebuch ihrer letzten Jahre: „Das Werk fraß ihn und seine Mit-Menschen“,27 was sie auf seine Maßlosigkeit

22 Zu diesen Umständen siehe wieder Brunner, Briefe (wie Anm. 5), S. 20–22. 23 Siehe Brunner, Briefe (wie Anm. 5), S. 29. 24 Siehe dazu unten. 25 Wie Anm. 61. 26 Siehe dazu die Biographie Lotte Brunners: Stolte-Batta, Lotte Brunner (wie Anm. 7). 27 Lotte Brunner, Tagebuch 9.12.1940–17.8.1942, Manuskript im LBI/JMB: I, 2, 1, 3, Eintrag vom 10. Juni 1942.

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in allen Bereichen bezog, in denen sein persönlicher Egoismus mit dem seines Werkes zusammengetroffen sei. Und dabei konnte er anderseits so gütig, lieb und feinfühlig mit anderen Menschen umgehen. Er schenkte sowohl Leoni als auch Lotte seine Zuneigung, sie wurden für ihn die Eckpfeiler seiner Existenz, wobei er die Stieftochter Lotte – wie er sagte – zeitlebens ,rasend‘ liebte.28 Ganz leicht war das alles trotz der Liebe zu ihm und zueinander für die beiden Frauen, Mutter und Tochter, also offenbar nicht immer. Streitigkeiten versuchte Brunner, meist erfolgreich, zu schlichten. Ein Umstand, über den er zu anderen Männern gesprochen hatte, machte es wahrscheinlich erträglich, nämlich sein völliges Desinteresse an jeglicher Sexualität. Davon berichtet zum Beispiel Abraham Suhl.29 Umso zärtlicher war er anderseits zu den Frauen, und er selbst benötigte auch ihre Zärtlichkeit; Erotik: ja – Sexualität: nein.30 Sein Credo im sokratischen Sinne war: „Sinnliche Empfindung ist […] noch nicht geschlechtliche Betätigung.“31 Da sich sein Leben zu Hause abspielte, lange (1913 bis 1930) in Potsdam am Tiefen See, wurde das auch der Ort, an dem er sich als lebendige Persönlichkeit zeigen musste. Und das tat er auf eine sicher nicht immer für jeden Anwesenden leicht erträgliche Art. Unverkennbar ist aber auch, dass Brunner von Natur ein starkes Charisma besaß. Fast alle, die ihn kennen lernten, waren von ihm beeindruckt; selbst ein so bedeutender Mann wie Martin Buber, der mit Brunners Philosophie nicht übereinstimmte, hat dies bekundet.32 Auf viele wirkte Brunner trotz seiner nicht übermäßigen Körpergröße offenbar durchaus gravitätisch. 1925 hält Lotte in ihrem Tagebuch fest, dass sie von verschiedensten Menschen aus nah und fern immer häufiger auf „eine Porträtähnlichkeit zwischen Vater und Balzac hingewiesen worden [sei], die besonders in der Statue von Rodin hervorträte“. Die kannte Lotte offensichtlich damals nicht, wohl aber ein Bild Balzacs von 1841, und sie stellt fest: „Die Art des Pathos vor

28 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 27). 29 Abraham Suhl: Constantin Brunner. Sein Leben und Werk, Zweite Folge. In: Philosophia Activa 3 (1991), S. 114. 30 Siehe zum Beispiel Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), Einträge vom 23. März 1915, 8. Mai 1915, 6. November 1915, 3. April 1916, 5. August 1917, 19. September 1917. 31 Constantin Brunner: Sokrates. In: Constantin Brunner: Vom Geist und von der Torheit. Hg. von Heinz Stolte. Hamburg 1971, S. 29. 32 Das berichtet jedenfalls Willy Aron, der Urneffe von Brunners Großvater Rabbi Akiba Wertheimer, der mit Buber korrespondierte: „Als Martin Buber im Jahre 1911 Constantin Brunner in Berlin-Tegel besuchte, war er von der Erscheinung und von der überragenden Persönlichkeit Constantin Brunners zutiefst ergriffen.“ Willy Aron: Constantin Brunner. Der deutsch-jüdische Philosoph, sein Werk und seine Beziehung zum Judentum. In: Hadoar (24. August 1969). Siehe auch Brunner, Briefe (wie Anm. 5), S. 180–182.



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Abb. 1: Brunner-Büste von Idel Ianchelevici (Original im Jüdischen Museum, Berlin)

allem scheint verwandt. Auch Kopfform, Stirn- und Nasenbildung, Augen, Blick. Bei Balzac alles viel robuster, bei Vater aristokratischer – die Hände! Balzac hat mehr in die Einzelheiten des Lebens hineingegriffen!“33 Betrachtet man heute im Garten des Musée Rodin in Paris die Skulptur, die der Künstler nach zahlreichen Entwürfen 1895 vollendet hatte und die von vielen seiner Zeitgenossen als skandalös empfunden wurde, da die Konturen vereinfacht waren, um das Übermenschliche von Balzacs Genialität zu veranschaulichen,34 und vergleicht sie mit der ausgesprochen wuchtigen Büste Constantin Brunners, die der damals in Belgien lebende rumänische Bildhauer Idel Ianchelevici geschaffen hat, zeigt sich in der Tat eine gewisse Typähnlichkeit zwischen den beiden. Massig und gewaltig steht Balzac da, mit üppiger Haartracht, die ausladende Gestalt in ein langes Gewand gehüllt – man könnte an Brunner denken, wie er sich in seinem Hause in Szene gesetzt hat. Auf Fotos, die die Brunners

33 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 26. Januar 1924; siehe auch den Eintrag vom 22. Ja­nuar 1924. 34 Siehe dazu Dominique Jarrasé: Rodin. Faszination der Bewegung. Paris 1993. S. 154–156.

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Abb. 2: Brunner in seinem Arbeitszimmer 1932 (Quelle: LBI/JMB, Constantin Brunner Collection: VI, 1, 1, 3)

außerhalb des Hauses zeigen, wirkt der Philosoph eher etwas spießig: mit Anzug, Weste und Stock. Lotte beschreibt die äußerliche Erscheinung so: Beim Spazierengehen pflegt Vater die linke Hand, leicht zur Faust geballt, auf dem Rücken, in der rechten seinen Stock – spanisches Rohr mit silberner Fritzkrücke – zu halten. Er geht immer rechts, sitzt auch rechts im Wagen. Nur wenn Mutter und ich beide mit ihm gehen, nimmt er die Mitte. Er sieht dann peinlich darauf, dass Schritt und gerade Linie eingehalten werden. Er neigt im Gehen, auch im Steigen, zu schnellem Tempo, so dass wir oft mahnen müssen. Er trägt gar nichts; den mitgenommenen Regenmantel, oft sogar den Hut, trägt einer von uns.35

Den Eindruck des Wuchtigen, Respekt gebietenden Äußeren, der auch zum expressiven Pathos seines Stils passt, unterstreicht Lotte bei anderer Gelegenheit, als sie ihn nach einem Konzertbesuch 1926 mit Albert Einstein vergleicht: Gestern in der Philharmonie Beethovenkonzert (Klemperer: Egmont- Ouvertüre, G-Dur-Klavierkonzert, Eroica) saßen wir Seitenbalkon, und etwa zehn Plätze von uns entfernt: Einstein. In der Pause ging er neben einer jungen Frau im Foyer spazieren. Mich ergriff die Tatsache, die beiden Männer räumlich so dicht (nachher in der Garderobe ganz dicht) beieinander zu sehen […]. Ich suchte das Äußere zu vergleichen, fragte mich, ob beide demselben Typus anzugehören schienen und fand Ähnlichkeit. Einstein wirkt auf den ersten Blick unbedingt künstlerisch, wie auch Vater. […] Die Haltung des etwas neurasthenischen [nervenschwachen]

35 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), Eintrag vom 27. Juli 1925.



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Gesichts ist melancholisch und resigniert, das Lachen aber sehr voll und herzlich; Körperhaltung und Gang sind lässig und unbekümmert, kindlich, ohne Eitelkeit. Gütig, weich, harmlos, unpathetisch, nicht für Kampf gemacht sieht er aus. Vater wirkt ungleich großartiger, mächtiger, massiger; seine Haltung drückt königliches Selbstbewusstsein und zugleich Freiheit aus. Die Atmosphäre um ihn scheint unter seiner Herrschaft zu stehn.36

Auch zu Hause war Brunner offenbar die dominierende Person; er prägte den Charakter des Hauses vollständig. Allerdings war er auch für manche ganz praktischen Dinge zuständig, etwa das simple Einschrauben einer Glühbirne.37 Einer der Schüler des Philosophen, der Schauspieler Fritz Ritter, der Anfang der 1930er Jahre einmal in der Woche bei Brunners am Mittagstisch zu Gast war, berichtet in satirischer Manier von der besonderen, durch den Hausherrn geprägten Atmosphäre: Sobald man die Wohnung betrat, fühlte man den Zwang, sich auf das vorwaltende Halbdunkel einzustellen, auf Zehenspitzen zu gehen, zu flüstern. Denn alle Gedanken waren darauf gerichtet, dass der Meister noch hinter der Tür saß, die zum Heiligtum führte, zur Denkwerkstatt, und dort arbeitete.38

Einen ähnlichen Bericht, allerdings in eher ablehnendem Ton, gab Wolfgang Müller, ein Enkel von Leonis erstem Ehemann Georg Müller.39 Seine großen häuslichen Auftritte hatte Brunner vor allem bei den Mahlzeiten, wenn sie unter Anwesenheit von Gästen zelebriert wurden, was besonders in der Potsdamer Zeit häufig der Fall war, und gelegentlich noch in den letzten Jahren in Berlin (1930 bis 1933). Wer könnte das damit verbundene Ritual besser wiedergeben als ein professioneller Schauspieler, eben jener Fritz Ritter? In der Küche wie im Speisezimmer herrschte eine nervöse, unterdrückte Geschäftigkeit, doch schien auch noch das leiseste Geklapper zu laut. Endlich auf die fünfundvierzigste Minute nach zwölf Uhr ertönten drei feierliche Gongschläge, und man setzte sich zu Tische. Außer der näheren Familie, Frau und Tochter, war gewöhnlich jemand aus der Schar der getreuen Weiber anwesend, deren biblische Hingabe ihm ein so tiefes Bedürfnis befriedigte. Gespannt, ängstlich, hoffnungsvoll sah man auf jene Tür, von der sich der Auftritt des Meisters erwarten ließ. […] Brunners Auftritt hatte stets mit dem zu tun, was sich in der Einsamkeit […] abgespielt hatte. Man konnte nicht wissen, von welchen Abenteuern er in die fremd gewordene Welt zurückkehrte.40

36 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 22. Oktober 1926. 37 Suhl, Brunner (wie Anm. 29), Fünfte Folge. In: Philosophia Activa 3 (1992), S. 99. 38 Zitiert nach Suhl, Brunner (wie Anm. 37), S. 100. 39 Brief Wolfgang Müllers an Renate Stolte-Batta, Archiv des Internationaal Constantin Brunner Instituut: KOR:19.10.2005a. 40 Zitiert nach Suhl, Brunner (wie Anm. 37), S. 96.

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Abb. 3: Familie Brunner an der Glienicker Brücke in Potsdam, August 1928 (Quelle: LBI/JMB, Constantin Brunner Collection: VI, 2, 1, 2)

Die gemeinsamen Mahlzeiten mit Gästen werden aber ungeachtet seines jeweiligen Gemütszustandes im Wesentlichen dennoch als prachtvolle Ereignisse mit einer Stimmung wie bei Goethes Tafelrunde beschrieben, die Thomas Mann in seinem Roman Lotte in Weimar so herrlich verlebendigt hat: Der Hausherr inmitten seiner ihn verehrenden Gäste. Ernst Ludwig Pinner, der Jurist und hilfreiche Freund, erzählt von einem gemeinsamen Essen dieser Art – wenn auch am Abend –, wobei Brunner



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heiter präsidierte, während er das von Leoni ihm Vorgesetzte mit einer gewissen Hast und beherrschten Ungeduld verzehrte, gleichzeitig unermüdlich dafür sorgend, dass die Gäste sich reichlich bedienten. Da war das sprühend Geistreiche des nicht abreißenden Tischgesprächs, die unendlich vielen Anekdoten, behäbig mit scharfer Pointe vorgetragen.41

Wenngleich Brunner hier also als intelligenter, eindrucksvoller Unterhalter bei Tisch erscheint, so konnte er aus dieser Rolle des Sympathischen, Jovialen auch plötzlich wieder polternd herausfallen ins Peinliche: Das eine Mal aß er mit der Umständlichkeit und kapriziösen Behutsamkeit eines Feinschme­ckers, um an einem anderen Tag, erschöpft und völlig ermattet vom Kampf mit Gott und Teufel, sich wie ein hungriger Löwe auf den Fraß zu werfen  […]. Nur bei Tisch habe ich Brunner einmal richtig böse gesehen.42

Vordergründig schien es am Fleisch zu liegen, das ihm nicht schmeckte, aber nach Ritter waren daran wohl doch eher philosophische Auseinandersetzungen schuld, denen er sich in seinem Arbeitszimmer gewidmet hatte. Abgesehen von solchen Entgleisungen zeigte sich Brunner bei derartigen Zusammenkünften oft auch von seiner um das Menschliche bemühten Seite: Es wird berichtet, dass er sich liebevoll nach den Befindlichkeiten und Problemen der einzelnen Gäste erkundigte, um schließlich entscheidende Ratschläge zu erteilen. Er schien diese, stets übergeordnete, dabei herzliche Rolle geschätzt zu haben. Käthe Wohl, eine Nichte seiner Frau Leoni, erzählt dazu: Brunners Wärme und Herzlichkeit überstrahlt das alles. Sein ganz ungoethisches liebevolles Interesse und fast rührendes Bemühen um uns – ein Herablassen zu uns Nichtigkeiten, nur weil wir Verwandte waren, war es nicht. Das ist so herrlich jüdisch und so menschlich groß, daß ich seiner immer in Liebe gedenke.43

Hier ist man sofort erinnert an sein Anliegen, Philosophie in praktische Lebenshilfe umzusetzen, und damit verbunden an sein Sendungsbewusstsein, wenn er formuliert: „Wir müssen bei uns selbst zusehen, ob wir uns helfen können, und bei jedem anderen Menschen zusehen, ob wir ihm helfen können, sich selber zu helfen.“44

41 Zitiert nach Suhl, Brunner (wie Anm. 37), S. 95. 42 Zitiert nach Suhl, Brunner (wie Anm. 37), S. 97. 43 Zitiert nach Suhl, Brunner (wie Anm. 37), S. 98. 44 Brunner, Tagebuch (wie Anm. 2), S. 31.

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Die Besucher, die er einzeln in seinem Arbeitszimmer empfing, kamen nach intensiven Gesprächen in diesem Sinne häufig innerlich aufgewühlt und manchmal auch mit tränenverhülltem Blick wieder heraus. Viele haben berichtet, dass er ihnen, wie gesagt, bei ihren privaten Problemen oft entscheidend geholfen habe, auch beispielsweise bei Eheproblemen. Der eingangs erwähnte Leo Sonntag zum Beispiel erzählte uns von solchen Unterhaltungen mit wichtigen Ratschlägen Brunners, auch solchen praktischer Art, dass der damals junge Czernowitzer zwecks besserer Assimilation in Deutschland unbedingt sein schwerfälliges, ostjüdisches Deutsch ablegen sollte, und er organisierte ihm sogar Sprachunterricht bei einer Schauspielerin in Berlin.45 Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Brunner gar nicht so nett und sanft zu solchen Besuchern war, die ihn nicht uneingeschränkt bewunderten, sondern mit ihm über seine philosophischen Aussagen ganz nüchtern intellektuell diskutieren wollten. Da konnte er laut Ritter auch schon mal „klotzig und grob“ sein.46 Brunner hatte in seinem überhöhten Auftreten etwas an sich, das religiösen Traditionen entstammte: Menschen, die er sehr mochte, segnete er gelegentlich, auch manchmal beim Abschied eines sehr lieben Besuches oder am Schluss von Briefen, die sich häufig durch Klugheit, verbunden mit Herzlichkeit und Bescheidenheit, auszeichnen. 1918 heißt es beispielsweise in einem Brief an einen Herrn Lutz, der einige Fragen zu seinen Gedanken hatte: „Von Herzen wünsche ich, dass die Krankheit Sie verlassen hat und nicht Ihre Krankheit ist, wie Sie schrieben, die wiederkommt und eigentlich bleibt und dem Leben nebenhergeht. Wie aber es Ihnen beschieden sei: Friede sei mit Ihnen! Brunner.“47 Mit solch einer Gebärde nahm er natürlich eine gewisse Pose ein, andererseits kam sie auch ganz von Herzen: Der 24-jährigen Lotte schrieb er einmal: „Sei tausendmal tausendfach gesegnet, du mein Lottele du!“48 Diese seine Worte dürfte sie ihr ganzes Leben nicht vergessen haben, hat sie doch über seinen Segen sogar ein Gedicht geschrieben.49 Das alles passt zu dem, was man Sendungsbewusstsein nennen könnte. Damit stand Brunner in seiner Zeit keineswegs allein. Dass ein Dichter und schon gar ein Philosoph zugleich ein „Weiser, ein Verkünder, ein Heilsbringer, Prophet und Lehrer sein müsse, das war bemerkenswerter Weise gerade in den Jahrzehn-

45 Siehe dazu Leo Sonntag (wie Anm. 12), S. 20. 46 Frederick Ritter: Zur Persönlichkeit Constantin Brunners. In: Der Constantin BrunnerGedanke 1, Heft 5/6 (April 1956), S. 20–29. 47 Brief Constantin Brunners an (Herrn) Lutz vom 25. April 1918 (LBI/JMB: II, 9, 3). 48 Brief Constantin Brunners an Lotte Brunner vom 15. August 1907 (LBI/JMB: II, 3, 1). 49 Lotte Brunner: Segen. Manuskript (LBI/JMB: I, 2, 1, 1).



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ten um die Jahrhundertwende zu einer die geistige Welt beherrschenden Vorstellung geworden“.50 Manchmal artete Brunners Eigentümlichkeit, sich geradezu mit den verschiedensten privaten Problemen – selbst mit simplen Liebes- und Scheidungsgeschichten – der Bekannten und Freunde zu identifizieren, ins Uferlose aus, wie Lotte 1915 einmal berichtet: Durch die trivialsten Angelegenheiten seiner Umgebung […] lässt Vater sich so beschäftigen, aufregen und abziehen, dass er zu seinem Eigentlichsten nicht genügend kommt, was mit anzusehen Mutter und mir peinvoll ist, so sehr wir begreifen, wie notwendig dies aus seiner Natur folgt, die Leben (auch das zufällig mit ihm verflochtene) über Schaffen stellt.51

Andererseits hatte Brunner auch Phasen, in denen er selbst davon abzulassen schien; aber die waren nie von langer Dauer, so zum Beispiel auch 1915, als der Erste Weltkrieg schon ein Jahr tobte. Durch die Kriegsereignisse, die ihn intensiv beschäftigten, verstärkten sich damals seine Stimmungsschwankungen noch. Der folgenden Tagebucheintragung merkt man an, wie Lotte – und auch ihre Mutter – unter dieser Situation litten: Vater ist wieder besonders nervös, leidet am Herzen, schafft eine unruhige Sphäre um sich und kann zu neuem Wirken leider vorläufig nicht kommen, wie es scheint. Mir ist, als schlösse er sich in der letzten Zeit innerlich mehr ab, ein wenig lebensmüde, und mehr noch als sonst zeigt er sich bestrebt, was er mit dem einen lebt, vom andern getrennt zu halten, Konflikte scheuend und Ruhe suchend. Es ist viel Trauriges dabei.52

Und auch zu seiner Bereitschaft, sich anderen Menschen ganz hinzugeben als gütiger, ihnen überlegener Helfer, gibt es einen Kontrast: Er benötigte diese Menschen für sein eigenes positives Lebensgefühl. Gelegentlich gab es aus verschiedenen Gründen Zeiten, in denen er zwangsweise mit sich und den beiden Frauen allein war. Trotz seiner großen Liebe zu der Stieftochter Lotte fehlte ihm dann doch etwas, nämlich die Resonanz auf sein Schaffen. Sie sah das so: Wenn es eine Zeitlang still ist um Vater, wenn keine neuen Leser sich mit Briefen einstellen, dann wird ihm unbehaglich. Er braucht durchaus sichtbare, fühlbare Verbindung nach außen, obwohl er doch andrerseits Ruhm nicht sucht, eher von sich stößt. Er sagte

50 Heinz Stolte: Vorwort des Herausgebers. In: Hansotto Hatzig: Karl May und Sascha Schneider. Dokumente einer Freundschaft. Bamberg 1967. 51 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 18. August 1915. 52 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 19. Juli 1915.

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heute, er käme sich gleich unnütz, ja verworfen vor, wenn er nicht die Wirkung, die er tut, spürt.53

Hier handelt es sich genau um das, was zu dem Bild eines Charismatikers, wie Brunners Zeitgenosse Max Weber diesen Typus sah, gehört. Ein außergewöhnlicher, von innen leuchtender Mensch wünsche sich von anderen eine aus „Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene, ganz persönliche Hingabe“,54 meint Weber – auf Brunner passt diese Feststellung absolut. Mit seinen liebsten Besuchern wurde nach ernsthaften intimen Gesprächen auch viel gelacht, nicht nur, wenn er mit ihnen seinen hoch gepriesenen Rotwein trinken konnte. Dann sang er mit einem alten Freund auch schon mal ein Burschenschaftslied aus seiner Studentenzeit.55 Spaßhaft erzählt Lotte von seinem „nett ge­füllten Weinschränkchen“ und davon, dass es ihm „immer ein klein wenig ver­ ächtlich [sei], wenn ein Mann kein rechtes Verhältnis zu Alkohol und Trinken hat“.56 Wirkung auf andere Menschen erzielte Brunner auch durch eine ihm eigene, besondere Fähigkeit: Er war ein feinsinniger, begnadeter Vorleser, und als Mann der Literatur mit einer umfangreichen Bibliothek konnte er immer gezielt ins Volle greifen und für jeden Personenkreis und jeden Anlass den geeigneten Text hervorzaubern. Interessant ist dabei auch, dass Brunner, der alle Religionen als Aberglaube verwarf, bestimmte Texte aus der Bibel sehr liebte. Zu Weihnachten wiederholte sich im Brunnerhaus stets aufs Neue ein recht christliches Ritual, zum Beispiel 1923: Weihnachten wieder nach der alten Weise gefeiert. Nach dem Lesen des Evangeliums und Korintherbriefes sprach Vater einige Worte – er selbst war unsichtbar, an seinem Schreibtisch, wir saßen im Wohnzimmer, wo der Baum brannte –, Ewald Rottner [ein Besucher aus dem ehemaligen Ethischen Seminar in Czernowitz] war davon so erschüttert, dass er laut aufschluchzte. Nachher musste ich Kaspar spielen, und zum Schluss spielten wir alle Lotto [ein Gesellschaftsspiel mit Karten]. Aber Rottner blieb umwölkt.57

Brunner las auch mit Lotte und der gemeinsamen Freundin und Schriftstellerin Inge von Holtzendorff die Bergpredigt, das Vaterunser, aber auch Homer in Griechisch. Später hat er sich dann aber auch gern mal etwas von Lotte vorlesen lassen, was sie gerade sehr beschäftigte, so im Winter 1923/24 „aus Zelters

53 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 10. Januar 1920. 54 Zitiert nach Matthias Matussek: Das Lodern von innen. In: Der Spiegel 46 (November 2012). 55 Siehe Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 20. Januar 1911. 56 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 1. April 1925. 57 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 28. Dezember 1923.



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Briefen an Goethe [...], wo er von Bachs Orgelkompositionen spricht“,58 oder auch im März 1924: „Ich habe Vater Tolstois ’Kreuzersonate’ in drei Absätzen vorgelesen.“59 Zwei Tage zuvor hatte Brunner den Frauen des Hauses und Leo Sonntag Kleists Novelle Die Marquise von O. vorgetragen.60 Seine grandiose Art des Vorlesens charakterisiert besonders gut der Freund Fritz Blankenfeld, auch ein Jurist aus Berlin, wenn er dabei die „vollendete Kunst“ und die „darstellerische Eindringlichkeit“ hervorhebt, „die jedem Gegenstand gerecht wird, ohne in schauspielerische Manier zu verfallen, mit einer von Natur schönen, beschwingten, modulationsreichen, wohl geschulten Stimme und Artikulation“.61 Brunner war also nicht nur der Maßlose und Gewaltige, der die Atmosphäre um sich beherrschte, sondern auf der anderen Seite auch sensibel und zart. So erscheint er zum Beispiel auch in seinen Briefen an Walther Rathenau.62 Letztlich hatte Brunner auch etwas durchaus Naives, fast Kindliches. In rührender Weise berichtet Lotte uns 1926, wie stark die Kindheitserlebnisse Brunner offenbar noch immer prägten: Vater findet letztens ein besonderes Vergnügen darin, an die Glienicker Brücke zu gehen und das Anlegen und Abfahren der Vergnügungsdampfer zu beobachten. Darin ist er ein richtiger „Junge“. Er ist ja im Altonaer Hafen groß geworden, wo er den Matrosen half, die Taue um die Pflöcke wickeln. Schiffe sind immer noch sein Entzücken, und selbst die kleinen Haveldampfer freuen und interessieren ihn. Er pflegt dem Mann, der in seinem Häuschen die Karten verkauft, eine Zigarre zu schenken – ja, und er wagt sich gar nicht an die Anlegestelle, wenn er keine Zigarre bei sich hat!63

Alle diese Zeugnisse und Überlieferungen zeigen Brunner als eine vielfältige, emotionale, expressive, zum Teil auch widersprüchliche Persönlichkeit. Er konnte sehr eigensinnig sein, gab sich andererseits aber zuweilen seinem Gegenüber völlig hin. Diese fast seelsorgerische Tätigkeit gehörte für Brunner neben der Arbeit an den philosophischen Werken durchaus zu seinem Grund-

58 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 3. Dezember 1923. 59 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 18. März 1924. 60 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 16. März 1924. 61 Fritz Blankenfeld: In memoriam Lotte Brunner. In: Die Constantin Brunner Gemeinschaft 7 (April 1948), S. 2–8. 62 Siehe hierzu Renate Stolte: Walther Rathenau und Constantin Brunner. Aspekte einer außergewöhnlichen Beziehung. In: „Ich habe einen Stachel zurückgelassen ...“ Beiträge zum Constantin Brunner-Symposion. Hamburg 1995. Hg. von Jürgen Stenzel. (Brunner im Gespräch 4) Essen 1995, S. 141–195. 63 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 7), 16. September 1926.

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anliegen hinzu. Er stellte sich völlig in den Dienst seines Sendungsbewusstseins: Brunner wollte allseits eine lebenspraktische ,geistige Konversion‘ bewirken. Diesem Ziel ordnete er alles, auch sein Privatleben unter. Dadurch entstand eine Einheit von Leben und Werk, die verständlich macht, warum die Zeitgenossen neben Brunners Denken immer auch seine Persönlichkeit mit hervorhoben.

Paul Mendes-Flohr

The Anxiety of Influence. Constantin Brunner’s and Martin Buber’s Mismeeting1 In May 1960, a Tel Aviv German language weekly published a review of a new edition of Constantin Brunner’s writings.2 The author of the review, the Swiss German-Jewish scholar Hermann Levin Goldschmidt (1914–1998), named Buber along with David Ben Gurion and Shmuel Hugo Bergmann as Israeli disciples of Brunner.3 Upon reading the review, Buber immediately dashed off a “clarification” (Richtigstellung) of his position regarding Brunner, demanding that it be published in the very next issue of the newsletter.4 Manifestly offended to be associated with Brunner, Buber protested that: “It is incomprehensible that Hermann Levin Goldschmidt counts me among those ‘declaring themselves anew for Brunner.’” Buber continues to explain that he always maintained a “negative position” (ablehnende Haltung) towards Brunner’s views. Although he continues to respect Brunner as “a serious and passionate thinker,” he unequivocally rejects his “division” of the human race into “the spiritual few” (Geistige) and the masses of common people (Volk). And to underscore his objection to this “erroneous and misleading” division, Buber adds that “if there were really two such fundamentally divided human types – wie es sie, dem Schöpfer sei Dank dafür, nicht gibt – I would prefer to live among the ‘masses’ with all their miserable ‘superstitions’ rather than among the ‘spiritual few’ with their proud reason.”

1 I wish to thank Gerhard Lauer and Jürgen Stenzel for their exceedingly constructive critique of a draft of this article, and especially for bringing to my attention documents of which I was not aware. 2 Hermann Levin Goldschmidt: Zur neuen Ausgabe der Werke von Constantin Brunner. In: Mitteilungsblatt. Wochenzeitung des Irgun Olej Merkas Europa 28, Nr. 20 (13. Mai 1960), p. 3. Goldschmidt is referring to Brunner, Unser Christus oder das Wesen des Genies ([1921], 2. Aufl. Köln, Berlin 1958) and idem, Materialismus und Idealismus ([1928], 2. Aufl. Köln, Berlin 1959). 3 Goldschmidt, Ausgabe der Werke (see fn. 2), p. 3: „Aber wie Ben Gurion oder Martin Buber und Hugo Bergmann sich heute von neuem zu Brunner bekennen, obgleich dieselbe Verblendung, die ihn die Pharisäer schmähen liess, ihn auch zu einem rasenden Feind jeder nationalen Emanzipation des jüdischen Volkes gemacht hat, so dürfen wir uns der im tiefsten Kern sehr jüdischen Religiosität und der ein grosses Denkmal jüdischer Geistigkeit bildenden Philosophie Brunners trotzdem freuen, gerade weil diese grossartiger und krafttvoller sind als der unselige Selbsthass, der sie begleitet.“ 4 Martin Buber: Richtigstellung. In: Mitteilungsblatt 28, Nr. 21 (20. Mai 1960), p. 3.

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 Paul Mendes-Flohr

In response, Goldschmidt apologized to Buber if he had inadvertently offended him, but asked why given the depth of his reservations about Brunner’s philosophy, Buber nonetheless signed a declaration of the “Circle of the Friends and Followers of Constantin Brunner in Israel” indicating that they were “united with the efforts of the International Constantin Brunner Institute” to promote the republication of his works.5 In a letter to Goldschmidt dated June 13, 1960,6 Buber explained that his support for the republication of Brunner’s works in no way should have been construed as an endorsement of his philosophy: “I gave my approval [to the call to reprint Brunner’s writings] gladly because his books, as someone told me, had long been out of print, and I hold it desirable that publications of rank, to which these undoubtedly belong (Publikationen von Rang, zu denen diese zweifellos gehören), should find a readership.” In order further to clarify his position, Buber noted that he sponsored the translation into Hebrew the writings of Augustine, whose division of humanity into two types, “the correct and the false,” is “incomparably more radical than by Brunner.” Buber concluded his reply to Goldschmidt by noting that he did not recall the specific petition that he purportedly signed. And for good measure, he advised Goldschmidt to consult an essay of 1912 published in “my Jüdische Bewegung, p. 205f.,” where he offers a critique of Brunner’s dualism.7 Buber’s relation with Brunner, which reaches back to the early 1900s, was marked from the very beginning by an ambivalent attitude. He was introduced

5 Hermann Levin Goldschmidt: Erinnerung – Begegnung – Auseinandersetzung. In: Martin Bubers Erbe für unsere Zeit. Ein Textbuch anläßlich des 20. Todestages Martin Bubers. Einführungs- und Begleitband zum internationalen Buber-Symposium 1985. Hg. von Werner Licharz. Frankfurt a.M. 1985 (Arnoldshainer Texte. Schriften aus der Arbeit der Evangelischen Akademie Arnoldshain 31), p. 59. Buber’s endorsement of the declaration of the Israeli Followers of Brunner was solicited by Willy Aron (the author of Assimilation und Nationalismus: Ein Briefwechsel mit Constantin Brunner. In: Aufbau 1, Nr. 11 (1. Oktober 1935), pp. 8 f. and 2, Nr. 1 (1. Dezember 1935), pp. 8 f.), see The National Library of Israel, Jerusalem: Martin Buber Archive, varia 350, Mappe 11. Buber also corresponded with the Internationaal Constantin Brunner Instituut (see: Martin Buber Archive, Mappe 141a). 6 Goldschmidt cites Buber’s letter in full in: Erinnerung (see fn. 5), pp. 59–60. 7 Martin Buber: Das Gestaltende (1912). In: Martin Buber: Die Jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen, 1900–1915. Berlin 1916, pp. 205–216. In this essay based on stenographic notes of oral remarks he made at a lecture Gustav Landauer gave in Berlin, Buber called upon the speaker to desist from employing Brunner’s typologies: “Ich bitte Sie aber, dies nicht aufzufassen als ob, um die Terminologie eines bedeutenden Zeit- und Stammesgenossen, Constantin Brunner zu brauchen, unter dem einen Prinzip die ‘Geistigen’, unter dem anderen das ‘Volk’ zu verstehen wäre. Ich halte diese Terminologie und den dialektischen Radikalismus, der sie geschaffen hat, für einen Irrtum.” (p. 206).



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to Brunner by the literary critic and anarchist Gustav Landauer (1870–1919), whom Buber had first met in 1901 at the Neue Gemeinschaft, a circle of young Berlin writers and poets.8 Soon thereafter, Landauer and his family moved to the Berlin suburb of Hermsdorf, which occasioned his meeting Brunner who lived in a neighboring village.9 They soon forged a fast friendship, indeed he would consider Brunner along with the philosopher of language Fritz Mauthner (1849–1923) and Buber as one of his three closest friends.10 He and Brunner shared an interest in mysticism and epistemology. Even before he met Landauer, Brunner read with great admiration his translations of Meister Eckhart.11 And Landauer was to read in manuscript Brunner’s massive epistemological treatise, Die Lehre von den Geistigen und vom Volke (Berlin 1908)12 – the very work that aroused Buber’s ire.

8 Eugen Lunn: Prophet of Community. The Romantic Socialism of Gustav Landauer. Berkeley 1973, pp. 145–148. On the Neue Gemeinschaft, see Hans Kohn: Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte Mitteleuropas 1880–1930. 2. Aufl., Köln 1961, pp. 28–36, 293 f. 9 See the diary entry from October 25, 1903, by Brunner’s daughter Lotte: “Gustav Landauer war bei uns; er wohnt im Nachbardorfe, in Hermsdorf. Ein Artikel über Mauthner in der ‘Zukunft’ hatte Vater durch die Innigkeit und den Schwung des Stils angezogen; jetzt hat ihn Landauers schöne kleine Einleitung zu seiner Übersetzung des ‘Eckhart’ veranlasst, die persönliche Bekanntschaft anzubahnen.” Cited in: Israel Eisenstein and Phöbus Grünberg: Auf den Pfaden der Philsophie Spinozas und Constantin Brunners. Königstein/Ts. 1982 (Schriftenreihe der Constantin-Brunner-Stiftung Hamburg 2), p. 143. 10 See Landauer to Margarete Faas-Hardegger, letter dated 20 October 1908: “Ich habe drei solche Menschen [wie Brunner], die mir geistig und menschlich sehr nah sind: der nächste ist Fritz Mauthner, der die Sprachkritik geschrieben hat, viel älter als ich, aber ich bin ihm seit bald zwanzig Jahren treulich verbunden. [...] Und ausser diesem Brunner noch Martin Buber, der uns die wunderbaren jüdischen Märchen und Legenden (aus der Tradition polnisch-jüdischer Mystiker des achtzehnten Jahrhunderts) vom Baalschem und vom Rabbi Nachmann gedichtet hat.” Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen. Hg. von Martin Buber, unter Mitwirkung von Ina Britschgi-Schimmer. Frankfurt a.M. 1929), Vol. 1, p. 218. Also see Lunn, Prophet (see fn. 8), pp. 173 f. 11 Gustav Landauer: Meister Eckharts Mystische Schriften. Berlin 1903. See Landauer to Brunner, letter dated 17 December 1907 in: Landauer, Lebensgang (see fn. 10), Vol. 1, pp. 180–184. 12 See Landauer to Brunner, letter dated 19 July 1905, in: Landauer, Lebensgang (see fn. 10), Vol.  1, pp. 135–137. Cf. Landauer to Margarete Fass-Hardegger, letter dated 20 October 1908: “Dieser Freund übrigens, Constantin Brunner, hat jüngst den ersten Band eines sehr wichtigen, weitreichenden philosophischen Werkes geschrieben; Du erfährst nächstens etwas davon aus einem Artikel, den ich für die ‘Zukunft’ geschrieben habe”. Landauer, Lebensgang (see fn. 10), Vol. 1, p. 218. Landauer’s essay on Brunner was published in the January 16, 1909 issue of the Zukunft. On the nature of Brunner and Landauer’s friendship, we also learn from the same letter. Cf. “Dieser selbe Freund hat mir gestern einen fabelhaft schönen indischen Schlafrock geschenkt, aussen grüne, innen rote Seide. Ich mag ihn gar nicht anziehen, so gut steht er mir.”

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 Paul Mendes-Flohr

Similar to Landauer, Brunner held that the value of natural sciences is limited to practical knowledge, and do not provide knowledge regarding the origin and purpose of life, which are beyond the grasp of the rational faculties. Questions that bear upon the spiritual vocation of humans are only accessible through intuition, or rather spirit (Geist). As Landauer’s biographer, Eugene Lunn notes, Brunner advanced “an idealist position consistent with Landauer’s own feelings” as expressed in his book of 1903 Skepsis und Mystik.13 Indeed, it was Landauer who arranged for the publication of Brunner’s work by the Berlin publisher Karl Schnabel.14 Despite his esteem – and, indeed, affection – for Brunner, Landauer had far-reaching reservations about his negative view of the Middle Ages as blighted by ignorance and superstition of the masses. Upon reading the manuscript of Brunner’s Die Lehre von den Geistigen und vom Volke, Landauer wrote him a letter, dated July 19, 1905, in which he offered him his frank assessment. While he enthusiastically endorsed Brunner’s epistemology, he criticized his philosophy of history in terms that may have influenced Buber’s rejection of what he regarded to be Brunner’s elitism: Eine einzige Einzelheit darf ich jetzt schon berühren: was Sie [...] über die Praxis und die Arbeit der von Ihnen so genannten barbarischen Völker des Mittelalters sagen, ist falsch und sogar empörend. [...] Falsch ist auch, was Sie über die tote Hand da durchblicken lassen. Da war gar viel Leben und segenreiches Leben in den Klöstern und Stiftungen, und was für eine herrliche Arbeit ist alles, was uns von der großen Arbeit der Zünfte und Brüderschaften übrig geblieben ist. Aber auch [...] dreht sich mir verschiedenes um, wenn Sie ganz protestantisch einseitig Renaissance, Humanismus und Reformation in der üblichen Art der Geschichtsprofessoren als die Wiedererneuerer wissenschaftlichen Lebens hinstellen. Das Mittelalter hatte wohl seine sehr gute, klare und ausgebildete Terminologie. Was Sie also so schnell und falsch abgetan haben, bleibt, auch gerade für Ihre Betrachtung, ein Problem: warum die Leute des Mittelalters, die so treffliche Maurer, Böttcher, Zimmerer, Tischler, Weber und Künstler gewesen sind, zu keiner Naturwissenschaft und zu keinen Naturgesetzen gekommen sind? und warum ihre großen Denker – die sie hatten – gar nicht auf die dingliche Wirklichkeit, nur auf den Geist und die Symbolik gerichtet waren? Wer die rechte Liebe zu diesen Völkern hätte, eine solche Liebe, wie Sie zum klassischen Altertum, würde die Antwort finden.15

Ibid. Landauer addressed Brunner alternately as “Mein lieber Freund,” “Lieber Freund,” “Lieber Brunner, “ and simply “Mein Lieber.” 13 Lunn, Prophet (see fn. 8), p. 179. 14 Martin Treml: Einleitung. In: Buber, Frühe kulturkritische und philosophische Schriften, 1891–1924. Ed. Martin Treml. Gütersloh 2001 (Martin Buber Werkausgabe 1), p. 58. 15 Landauer, Lebensgang (see fn. 10), Vol. 1, pp. 136 f. Cf. Landauer to Brunner, letter dated January 2, 1910: “[...] ich dichte an meinem Volk. Dieses Volk ist nun eben eine von meinen Sachen, und ich verstehe darunter weder die Gemeinschaft der Geistigen, gegen die ich vorerst rebellisch



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Landauer would further elaborate his critique of Brunner in Die Revolution, a volume published three years later in a series of monographs edited by Buber.16 On the face of it, Buber and Brunner had much in common. Both were raised in the Orthodox Jewish tradition. Brunner (which was but his nom de plume; his given name was Arjeh Yeduha Wertheimer) was a scion of a prominent rabbinic family in Altona; and Buber, in the wake of his parents’ precipitous divorce, was from the age of three raised in the observant home of his paternal grandparents in Lemberg (Lvov), capital of the Austrian-Hungarian province of Galicia. Although both Buber and Brunner broke with traditional Jewish practice, they were both committed the spiritual renewal of Judaism.17 Both conceived of the spiritual principle necessary to animate and sustain the envisioned renewal as not only independent of institutional religion but, as Brunner would put, as “protest against it.” Their vision of what may be called a post-traditional conception of Jewish renewal, however, differed profoundly with regard to Zionism. While Buber subscribed to a version of cultural Zionism, Brunner vehemently rejected the movement in all its expressions as undermining the Jews’ participation in German and European culture. Nonetheless, they took an interest in each other’s works, and duly exchange copies of their writings.18 Significantly, Landauer actively sought to draw his two friends together. In a letter to his wife, Buber reported that Landauer read aloud to Brunner a passage, “Meister des Gebetes,” from his Die Geschichten des Rabbi Nachman (Berlin 1906). Brunner was duly impressed. Landauer “schreibt mir darüber: Tiefste Freude, Erschütterung und Staunen war der Effekt. Ist aber auch herrlich.”19 In a letter from two years later, Landauer told

gestimmt bin, obwohl ich bereit bin, zu hören, noch gewiß das, was Du ‘Volk’ nennst. Ich nehme die Gefahr auf mich, Dir Üblichkeiten zu erregen; ich meine zwar, daß das, was ich Volk nenne, auch nicht das Übliche ist; aber vielleicht ist es für Dich doch etwas von Übel.” Landauer, Lebens­ gang (see fn. 10), Vol. 1, p. 284. 16 Gustav Landauer: Die Revolution. Frankfurt a.M. 1908 (Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien 13). Cf. “Wir täten also besser, gar keine zeitliche Benennung bei der Einteilung der Geschichten anzuwenden, weil die Kategorie der Zeit in unserem Geist zu sehr der Kausalität benachbart ist [...]; so sind wir immer in Gefahr Vorgänger für Vorfahren, Vorfahren für Zurückgebliebene und eine zufällig bekannte winzige Spinne für ein Ganzes und Abgeschlossenes zu halten.” Ibid., pp. 30 f. In a footnote to this statement, Landauer expressly refers to Brunner: “Ich denke an dieser Stelle [...] von Constantin Brunner.” Ibid., p. 30. 17 See Frederick Ritter: Constantin Brunner und seine Stellung zur Judenfrage. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 14, Nr. 51 (1975), pp. 40–79. 18 In their correspondence, they recurrently request and gratefully acknowledge receiving copies of each other’s writings. 19 Martin Buber to Paula Buber, December 1906. Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Hg. und eingeleitet von Grete Schaeder. Heidelberg 1972, Vol. 1, p. 252.

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Buber, “Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen: Ich habe drei Baalschem-Legenden Brunner vorgelesen und großen Eindruck erzielt.”20 Despite Landauer’s best intentions to bring his two friends into dialogue,21 the differences between Brunner and Buber remained, and, in fact, deepened. That the divide between them proved unbridgeable became poignantly apparent in a nigh-scandalous exchange between Buber and an anonymous self-declared disciple of Brunner. This disciple wrote an article, signed simply as “A.M.,” that was published in the German-Jewish journal Ost und West, in which he accused Buber of purloining his key concepts of Jewish renewal from Brunner.22 Buber immediately sought to rebut the charge of plagiarism, which obliged him to differentiate his views sharply and publicly from Brunner’s. A.M.’s critique was occasioned by the publication of Buber’s Drei Reden über das Judentum (Frankfurt a.M. 1911), based on lectures he delivered adumbrating his vision of Jewish spiritual renewal. The anonymous author tellingly concluded his indictment by declaring, “without Brunner, Buber is not to be understood.” Buber’s failure to credit Brunner is not incidental, but indicative of his entire approach. The proof thereof is, A.M. argued, that the necessary “Begründung” of his vision of Jewish renewal is utterly missing, but is to be found in Brunner’s writings. Manifestly aggrieved by both the polemic tone and substance of this accusation, Buber dashed off a caustic reply, published in the same issue of Ost und West.23 Buber launches his defense with an ad hominem dismal of A.M. as a “second rate apostle” of Brunner, who seems believe that “all the wisdom and all the

20 Landauer to Buber, letter dated February 22, 1908. Cited by Treml, Einleitung (see fn. 14), p. 57. 21 In April 1952 Buber met in New York City Willy Aron, a disciple of Brunner (see fn. 5, above). In the résumé of that meeting, Aron related that Buber underscored that he did not regard Brunner as a friend, although he visited him perhaps three or four times. Nonetheless, “[...] er kannte ihn [...] gut und er muesse ausdruecklich betonen, dass diejenigen, die Brunner einen vom Judentum Abtruennigen und Renegaten bezeichneten, ihm, Brunner, Unrecht tun. Brunner betone, so sagte Buber, ueberall sein Judentum und das gehe ja auch zur Genuege aus seinen Werken hervor.” Willy Aron: Bemerkungen wegen Constantin Brunner, niedergeschrieben von Willy Aron auf Grund einer Unterhaltung mit Herrn Professor Dr. Martin Buber, stattgefunden in New York City, 19. April 1952. Martin Buber Archive, varia 350, Mappe 11. Aron sent this résumé to Buber in a letter dated April 22, 1952. 22 A. M.: Constantin Brunner und Martin Buber. In: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum 12, 4 (April 1912), columns 329–334. A. Mœbius was probably the author (see Constantin Brunner: Ausgewählte Briefe 1884–1937. Hg. von Jürgen Stenzel und Irene AueBen-David. Göttingen 2012, p. 254). 23 Martin Buber: A.M. und Constantin Brunner. In: Ost und West 12, 4 (April 1912), columns 334–338.



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truth” of the age is derived “from the master.” Buber proceeds to delineate A.M.’s allegedly fallacious arguments under the following headings: 1) He has “no idea about the book he writes”; 2) He has “no idea about the person he writes”; 3) He has “no idea about the language of the thought and its nuances of which he speaks; 4) He has “no idea about the history of thought, about which he speaks”; 5) “Finally, he has no idea of Constantin Brunner’s own position toward my thought.” As Brunner himself well knows, Buber continues, the principal source of the ideas informing his work is Sören Kierkegaard – an influence, “which does not imply a dependence, however,” that “first had an impact on me some fifteen years ago.”24 Accordingly, “Constantin Brunner knows what A.M. has no inkling of: Who I am. Constantin Brunner knows, what A.M. does not know, that I am independent of him as he is of me. Constantin Brunner knows, what A.M. does not know, that I do not give expression to what I have not thought through for myself.” In preparing his rebuttal, as Martin Treml has noted, Buber consulted with Landauer, who had also clashed with Brunner regarding his alleged intellectual elitism, leading to a collapse of their friendship as one learns from a letter Landauer wrote to Brunner in January 1910: Es wäre mir sehr lieb, wenn aus dieser Sache sich keine Korrespondenz entspänne. Briefe der Art, wo so viel aufzuklären wäre, nehmen doch recht viel Zeit weg, und von mir aus gibt es jetzt keinen Grund mehr, warum wir nicht über diese Sache sprechen sollten. Es hat einen gegeben: weil Du die Gespräche zu vermeiden schienest. Und noch einen: weil ich von Deiner Praxis fast nichts weiß; was ich aber davon weiß, mich über unsre Gemeinschaft in diesen Dingen doch recht bedenklich machte. Also im Wunsche, daß diese schriftliche Korrespondenz nicht weiter geht, ganz kurz. Nein.25

In an unpublished letter, dated March 10, 1912 – that is a month before the publication of Buber’s reply to A.M. – Landauer advises Buber to make clear as

24 In claiming to have encountered the writings of Kierkegard some fifteen years earlier, he was apparently referring to a course he took at the University of Vienna in the Winter semester 1896/97 with Emil Reich (1864–1940) on Henrik Ibsen. Cf. “Although Kierkegard was by the end of the [nineteenth century] still a rarity in the canon of academic philosophy, there are facts indicating that Buber actually came across Kierkegaard’s name on academic soil. [...] Reich argues that Kierkegaard was a crucial source for Ibsen’s critique of modern clergy in both Love’s Comedy and Brand. Emil Reich’s course of Henrik Ibsen was thus one of the earliest contexts in which Buber might have encountered Kierkegaard.” Peter Sajda: Martin Buber: “No-one Can Refute Kierkegaard as Kierkegaard Himself.” In: Kierkegaard and Existentialism. Ed. Jon Bartley Stewart. Surrey 2011 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources 9), pp. 36 f. 25 Landauer to Brunner, letter dated January 2, 1910. In: Landauer, Lebensgang (see fn. 10), Vol. 1, p. 282 (Landauer’s emphasis).

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possible his difference with Brunner:26 “Noch stärker als Sie getan, sollten Sie betonen, daß die Juden eben Ihr Volk sind, aber für Sie nicht das geistige Volk eines Volklosen; und daran anschließend sollten Sie erwähnen, wie lange es her ist, daß Sie immer wieder, in Schriften und Reden und auf Kongressen, die jüdischen Bewegungen (zionistisch) von Äusserlichkeit weg auf Erneuerung des Geistes bringen wollten.”27 Upon reading the exchange between Buber and A.M., Brunner wrote Buber what he had apparently hoped would be received as a conciliatory letter. He noted that he while reading Buber’s Drei Reden it never occurred to him that he was “dependent on ‘my’ ideas and formulations.”28 On the other hand, Brunner gently chided Buber for the aggressive tone of his rebuttal. Though A.M. was clearly mistaken in suggesting such dependence, one must assume his intellectual integrity and that he thus made the charge of plagiarism with utmost sincerity. “I myself have been subject to totally unjustified accusations, but I have not allowed them to move me to react. [...] Everyone has the right to misunderstand me, as you naturally do – for can you ever be sure that you have rightly and correctly understood me? Have I not also construed your words otherwise than you intended, when I now hear differently what you said during your visit [to me] that you have taken nothing from me (daß Sie nichts von mir gehabt haben).”29 Brunner concludes by acknowledging that he himself has taken very much from Buber (Übrigens habe ich von Ihnen sehr viel gehabt), namely from his “highly significant publications” on Jewish mysticism.30

26 Buber dated his reply March 8, 1912, that is two days before Landauer’s letter urging him to be even more forceful in his rebuttal of A.M. article. 27 The letter is found in the Martin Buber Archive, varia 350, 61.3.2. Cited in Treml, Einleitung (see fn. 14), p. 58. 28 Brunner to Buber, undated letter (April 10, 1912). See Brunner, Briefe (see fn. 22), pp. 254– 256. 29 Cf. Brunner to Buber, undated letter (apparently from December 1910), in which refers to an work by [Ernst Elijahu] Rappeport that Buber sent him. “Erstaunt war ich eigentlich, daß R., der mich also gelesen hatte, so gar nichts von mir gehabt hat; erstaunt bin ich über das Gleiche übrigens auch gegenüber Martin Buber und Anderen. Doch bitte ich sehr, wegen dieser letzten, mir aus der Feder gefallenen Bemerkung, die denn nun stehen bleiben mag, mir nicht zu antworten, auch nicht künftighin beim Wiedersehen, worauf ich mich freue, mit mir darüber reden zu wollen; mich trieb nicht Eitelkeit zu dieser Bemerkung.” Buber, Briefwechsel (see fn. 19), Vol. 1, pp. 295 f. and Brunner, Briefe (see fn. 22), pp. 180–182. Cf. “Meine Arbeit steht doch selbstverständlich zu Ihrer bedingungslos vollständigen Verfügung und wenn insbesondere Herr Brunner daran Interesse finden sollte, wird es mir eine besondere Freude sein.” Rappeport to Buber, letter dated November 23, 1910. In: Buber, Briefwechsel (see fn. 19), Vol. 1, p. 290. 30 Brunner to Buber, undated letter (April 10, 1912). See Brunner, Briefe (see fn. 22), pp. 254–256.



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Buber read Brunner’s appeal to forgive A.M. for misunderstanding of his position as disingenuous. In a reply to Brunner’s missive, he suggests that Brunner seems to have overlooked the fact that he is the aggrieved party: “Sie beachten nicht, daß er mir malam fidem vowarf (nicht etwa bloss Abhängigkeit behauptete), ohne Redlichkeit.” Further, Buber deems Brunner’s attempt to mitigate the offense as borne by a mere “misunderstanding” to be a patently specious argument: “Misunderstanding is certainly a malicious, common theme of deception” (“Missverstehen ist allerdings ein arg verbreiteter Teuschungsstoff”).31 But even more egregious is Brunner’s misinterpretation of the phrase, “Ich habe nichts von X gehabt” – I have appropriated nothing from X. “One can,” Buber explains, “‘have’ something from another without appropriating it, namely, an impression of his personality, not his ‘truth’ but his ‘actuality’” – “nicht seine ‘Wahrheit,’ sondern seine Wirklichkeit.” This rather harsh impugnation of Brunner’s personality did not, however, engender a break in Buber and Brunner’s relationship, as had Brunner’s conflict with Landauer. Buber and Brunner continued to correspond and exchange copies of their writings. One may surmise that given the intensity and emotional depth of his friendship with Landauer – they addressed each other per Du, whereas Landauer and Buber remained throughout the years per Sie – Brunner found it too difficult to overcome the pain attendant to Landauer’s deep-felt reproach of his philosophical elitism. In a letter to Buber from July 1925, explaining why he did not wish to have the letters touching upon the “break” in his friendship published in the volume of Landauer’s correspondence that Buber was at the time editing,32 Brunner beseeches him to understand his position.33 After all, he reminds Buber, that he, Buber, too, had decided to withhold from publication his own “Konfliktbriefe” with Landauer, who had bitterly criticized his support of Germany’s Kriegspolitik during the initial stages of the First World War.34 Similarly, “it would

31 Buber to Brunner, undated letter (after April 10, 1912). Martin Buber Archive, varia 350, 141.25. 32 In the foreword to the correspondence, Buber succinctly noted: “Constantin Brunner hat die sehr umfänglichen Briefe Landauers an ihn, deren Entwürfe sich im Nachlaß befinden, nicht zur Veröffentlichung bestimmt.” Landauer, Lebensgang (see fn. 10), Vol. 1, p. V. 33 Brunner to Buber, undated letter (July 1925). In: Brunner, Briefe (see fn. 22), pp. 382–384. 34 The reference is to a Landauer’s letter, dated May 12, 1916, addressed to the “Kriegsbuber.” Buber, Briefwechsel (see fn. 19), Vol. 1, pp. 433–438. The letter and Buber’s decision not to include it in the volume of Landauer’s correspondence are discussion at length in Paul MendesFlohr: Von der Mystik zum Dialog. Martin Buber’s geistige Entwicklung bis hin zu “Ich und Du”. Königstein/Ts 1978, pp. 135–139. In a handwritten penciled note to Ina Britschgi-Schimmer, who assisted him in editing Landauer’s correspondence, Buber explained with reference to the aforementioned letter to the “Kriesgbuber”: “Es ist schwer, zur Frage der Veröffentlichung von [Lan-

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be for me [Brunner] unspeakably painful to besmirch [...] the memory of a man who was dear to me and whose beautiful image has remained as glorious as on the first day [we met].”35 One may further surmise that having failed to heal the breach between himself and Landauer, Brunner sought to reach out to him through Buber. Not only did he continue to write to Buber, he would address him in a respectful but somewhat distant manner, such as “Mein Lieber und Verehrter”. Buber’s response was markedly more distant. He addressed his letters to Brunner invariably with an emotionally detached but cordial “Lieber Herr Brunner”. In his correspondence, he sought to highlight the points of the agreement, such as their shared opposition to the neo-Kantian Jewish philosopher Hermann Cohen (1842– 1918). In a letter from January 7, 1917, he commended Buber for his recently published critique of Cohen’s conception of messianism and corresponding rejection of Zionism.36 Although he surely did not agree with Buber’s defense of Zionism, he expressed his appreciation of his pointing out what they both regarded to be flaws of Cohen’s philosophical presuppositions. A self-styled disciple of Spinoza,37 Brunner had taken umbrage at Cohen’s casting the author of the Theological-Political Treatise to be a renegade Jew. Indeed, as he put it in his letter to Buber, “Spinoza gilt ihm nicht als Jude ebenso wenig natürlich Christus.”38 With pointed sarcasm he notes that because Cohen has removed Christ and Spinoza from the ranks of Jewry, he is regarded by Berlin’s petit-bourgeoisie (Krähwinkel) as “the representative of the Jews.”

dauer Brief] endgültig Stellung zu nehmen. Ich halte auch jene darin geäusserte Auffassung zum großen Teil für möglich und vielleicht einmal erwünscht. Was meinst Du?” Gustav LandauerArchiv, Amsterdam, Mappe R/e. Written over the period of 1910–1911, the „Konfliktbriefe“ between Brunner and Landauer dealt with Brunner’s misgivings regarding Landauer’s conception of socialism. 35 See fn. 33, above. 36 Brunner to Buber, undated letter (January 7, 1917). In: Brunner, Briefe (see fn. 22), pp. 287– 289. See Martin Buber: Begriffe und Wirklichkeit. Brief an Herrn Geh. Prof. Hermann Cohen. In: Der Jude 1, Nr. 5 (August 1916), pp. 281–289; Zion, der Staat und die Menschheit. Bemerkungen zu Hermann Cohens Anwort. In: Der Jude 1, Nr. 7 (Oktober 1916), pp. 425–433. Brunner was apparently referring to the articles as published in the volume Völker, Staaten und Zion. Ein Brief an Hermann Cohen und Bemerkungen zu seiner ‘Antwort’ (Wien 1917). 37 Cf. Brunner: Spinoza gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit. Berlin [1910]. 2. Aufl. Assen 1974. 38 See fn. 36. Brunner held that Jesus represented the most pristine expression of Judaism, a sentiment shared by Buber. On the other hand, Buber did not agree with his interpretation of Spinoza.



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In the same letter, he discussed the prospective pre-publication in Der Jude, edited by Buber, of a chapter of his forthcoming book on Der Judenhaß und die Juden (Berlin 1918). The article, under the title “Die jüdische Rasse” was published later that year in the autumn 1917 issue of the journal.39 It is an open question whether Brunner ever expressly consented to include within Landauer’s collected correspondence the letter of January 1910 that led to the irreparable rupture of his and Landauer’s friendship.40 And if he had granted Buber permission to publish the letter, it is difficult to ascertain what were his reasons for doing so.41 Notwithstanding the misgivings he had apparently had about Buber’s editorial hand, Brunner in a collaborative spirit, secured from the widow of Walther Rathenau (1867–1922), with whom he was close, copies of his correspondence with Landauer, which he duly sent to Buber for inclusion in the volume of correspondence.42 In one of his last extant letters to Buber, Brunner thanks him for resolving a certain matter, albeit trivial, that greatly weighed upon him. The wording of this thank-you note while giving voice to Brunner’s typical grandiloquence also seems to hint at a lingering frustration consequent to the repeated failure of the effort of more than two decades to win Buber’s friendship, although he was acutely aware that philosophically the “twain” would never meet: “Großen Dank, mein Lieber und Verehrter, für den Aufschluß über die ‘apathische Inertia’, den mir niemand außer Ihnen hatte geben können. Diese kleine Sache hatte mich richtig gequält, wie so alles theoretisch unaufgelöst in uns Herumhängende tut.”43 With this rhetorical gesture, Brunner sought to bridge the philosophical gap between him and Buber, which, to be sure, he never hid, especially with regard to his cri-

39 Constantin Brunner: Die jüdische Rasse. In: Der Jude 2, Nr. 5 (August–September 1917), pp. 299–307. 40 See fn. 25. 41 Brunner to Buber, undated letter (probably December 18, 1921). Leo Baeck Institute / Archive at the Jewish Museum Berlin, Constantin Brunner Collection: II, 3, 12 (LBI/JMB). From a diary entry by Brunner’s stepdaughter Lotte one may surmise that he may not have granted his consent. She reports that he found himself in the „Lebensgang“-Edition of Landauer „sehr schlecht wegegekommen“, and discerned therein „durchaus Absicht des Herausgebers Martin Buber. Landauers eigentliches Verhältnis zu ihm, das der Schwärmerei, sei ganz unterdrückt. ‚Es ist überhaupt nichts mit solch ein paar herausgegriffenen Briefen von einer Seite. Das gibt immer ein schiefes Bild. Der andere steht da wie ein armer Angeklagter mit Maulkorb, und der Briefschreiber hats leicht zu triumphieren. Wenigstens habe ich den Abdruck der letzten, entscheidenden Briefe ohne meine Antworten nicht erlaubt. Vielleicht kann dieser Briefwechsel später mal veröffentlicht werden. Das ist ein blutiges kleines Drama.’“ Lotte Brunner: Constantin Brunner im Tagebuch von Lotte Brunner, LBI/JMB: I, 2, 1, 9 f., entry from 23. Dezember 1928. 42 Brunner to Buber, undated letter (December 29, 1924), LBI/JMB (see fn. 41). 43 Brunner to Buber, undated letter (July 30, 1925), LBI/JMB (see fn. 41); italics added.

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tique of Buber’s messianism and German translation of the Hebrew Bible.44 If we allow ourselves to read between the lines, the last sentence – regarding the small matters that torment one as much as all irresolvable theoretical matters – may be read as alluding, perhaps but unwittingly, to the insurmountable impasse he continues to encounter in his relation with Buber, although on the face of it, his complaint is directed at an unnamed editor of a journal – presumably Der Jude – who failed to explain why he rejected an article Brunner submitted on behalf of a colleague to the journal. The failure of the editor to communicate with the author and to engage substantively in whatever reservations he may have regarding the article in question can only lead to idle speculations and prodigal disputations.45 Accordingly, Brunner concludes his letter to be Buber with the ironic Latin maxim: Mundus traditum est disputationibus et garrulitatibus. This citation indicates how profoundly offended Brunner was by the rejection of the aforementioned article, and when it was eventually published, the deletion of all references to Brunner’s writings. But even if this cri de coeur was not imme-

44 As we learn from his stepdaughter, Brunner sharply criticized Buber’s conception of messianism: “Buber hat gesagt und drucken lassen: Der Messias sei noch nicht gekommen, ‘am Ende der Tage’ werde er erscheinen.” Brunner regarded this as utterly untenable position: “Ein Mensch, der durch moderne Bildung und Naturwissenschaft gegangen ist, kann solchen Unsinn vom ‘Ende der Tage’ nicht glauben und sollte ihn auch andern nicht aufbinden.” (Lotte Brunner, Tagebuch (see fn. 41), 16. September 1926). Similarly he had farreaching reservations about Buber and Rosenzweig’s Bible translation (Die Schrift, Berlin: Lambert Schneider 1926– 1938): “Nein, lass uns gar nicht darüber sprechen, aber glaub mir, darauf versteh ich mich und kann merken, ob es richtig ist oder nicht. Und das konnte Moses machen, und Luther konnte es machen, aber Buber nicht, das ist von vornherein unmöglich, und wenn er noch so herzlich die Bibel empfindet.” (Constantin Brunner to Lotte Brunner, 2. September 1927, in: Brunner, Briefe [see fn. 22], pp. 180 f.) 45 Cf. “Die Besprechung einer Schrift von mir dürfte dem ‘Juden’ nicht erwünscht sein. Mir schrieb jüngst jemand, er habe in diesem Blatt einen Aufsatz gehabt, der auf meinen Gedanken stehe und mit meinen Terminis spreche; es sei aber im Druck mein Name, wo er gestanden habe, überall verschwunden gewesen. Wie deutlich die Beziehung auf mich, sei daraus ersichtlich, daß ein anderes jüdisches Blatt (dem Schreiber gänzlich unbekannt bis dahin, rein aus sich) diesen Aufsatz nachgedruckt und dazu gesetzt habe, er stütze sich auf mich. Ich kann also nicht annehmen, daß dem Juden an Besprechung einer Schrift von mir gelegen; und mir liegt an nichts weniger als am Mich Aufdrängen. Darum möcht ich kein Rezensionsexemplar schicken lassen, schicke aber Ihnen persönlich ein Exemplar.“ Brunner to Buber, undated letter (= July 30, 1925), LBI/JMB (see fn. 41), II, 3, 12. Brunner is referring to Ernst [Ludwig] Pinner: Der Dichter Ernst Toller, which appeared in: Der Jude 8, Heft 8 (1924), p. 483–487. In her diary, Lotte reports that all references to Brunner in Pinner’s essay, which is based on Brunner work, was deleted by the editor. Lotte Brunner, Tagebuch (see fn. 41), entry from 22. November 1924. For his part Brunner wrote Pinner that he should not take to heart this triffle injustice: „Du lebst doch in der Welt.“ Brunner to Ernst Ludwig Pinner, undated letter (summer 1924), LBI/JMB (see fn. 41), II, 10, 2.



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diately directed to Buber, given his manifest ambivalent attitude toward Brunner, it certainly must have surely resonated at least subliminally as also bearing upon their relationship. The reluctance of the philosopher of dialogue to open-up to Brunner beyond offering him a measure of professional support was undoubtedly due to complex personal and intellectual factors. One overarching reason may have been Buber’s general unwillingness to acknowledge his indebtedness to another, especially contemporary thinkers. Despite plausible evidence that his concept of dialogue bore the imprint of contemporaries – such as Hermann Cohen, Franz Rosenzweig and the Catholic philosopher Ferdinand Ebner – Buber insisted that he came to the insights informing his philosophy independently of them.46 This anxiety of influence may very well have played a role in his studied distance from Brunner.47 In this respect, one is reminded of Heinrich Heine’s sapient – but, alas, utopian – observation that “in the world of Geist there is no plagiarism.”

46 See Martin Buber: Nachwort zu den Schriften über das dialogische Prinzip. In Martin Buber: Das dialogische Prinzip. Heidelberg 1965, pp. 301–320. In her comprehensive analysis of the period of gestation of Buber’s Ich und Du, Rivka Horwitz addresses the question whether “the basis of philological and historical evidence [...] any contemporary thinkers might have significantly influenced the development of Buber’s thought [...].The evidence of parallel lines of thought in the writings of Cohen, Ebner and Rosenzweig [...] suggests these thinkers for consideration.” Rivka Horwitz: Buber’s Way to ‘I and Thou.’ An Historical Analysis and the First Publication of Martin Buber’s Lectures ‘Religion als Gegenwart’. Heidelberg 1978, p. 166. Cf. Buber‘s terms “Denkendes” and “Gedachtes” in Ich und Du (Leipzig 1923) which are very similar, if not identical with “Denkendes” and “Gedachtes” in Brunner’s Unser Christus oder das Wesen des Genies (Berlin 1921); see Brunner, Briefe (see fn. 22), p. 256. 47 In addition to the possible influence on Buber of Brunner’s conception of Jewish spiritual renewal, he may have drawn inspiration from Brunner’s so-called “Bewegungslehre,” which sought to universalize Heracleitus’s panta rhei as a source of universal motion. Although Buber’s own brand of Heracletean epistemology is usually understood be inflected by Nietzsche’s reading of the pre-Socratic philosopher, Brunner’s more sustained development of a theory of knowledge based on the Seer of Ephesus may have been another source of Buber’s epistemology, especially given Landauer’s enthusiastic adoption of Brunner’s “Bewegungslehre.” Perhaps a far more significant source of influence is Brunner’s unpublished and now lost manuscript, “Du und die Anderen”, which Buber had read together with Landauer (see Brunner, Briefe [see fn. 22], p. 255). It is also plausible that Buber had discussed the manuscript with Brunner, when he visited him in 1911. (See Brunner, Briefe [see fn. 22], 180). See fn. 46, above, regarding terms that appear in Buber’s Ich und Du that have terminological parallels in Brunner’s philosophical lexicon. These and other possible sources of Brunner’s influence on Buber’s thought suggest that A.M. charge of plagarism – although influence would undoubtedly be a more felicitious term – may not have been totally bereft of veracity.

Claudia Weinzierl

Die Begegnung Lou Andreas-Salomés mit Constantin Brunner Lou Andreas-Salomé und Constantin Brunner – zu Lebzeiten, also in der Fin-desiècle-Epoche berühmt, um nicht zu sagen legendär – sind weder im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs noch im kollektiven kulturellen Gedächtnis verankert. Andreas-Salomés Name wird zwar als Geliebte oder Muse von bedeutenden Geistesgrößen wie Nietzsche, Rilke und Freud immer wieder genannt, doch kaum jemand beschäftigt sich seriös mit ihrem umfassenden Werk. Von dem Philoso­phen Brunner ist nur in wenigen Zirkeln, namentlich im internationalen Constantin Brunner-Kreis die Rede. Und das, obwohl beide die Lebensphilosophie des späten 19. Jahrhunderts weiterdachten, im Falle Andreas-Salomés hin zur Psychoanalyse, im Falle Brunners zu einer Art existenzialistischen Geistphilosophie. Dieser denkgeschichtlichen Konstellation will ich im Folgenden nachgehen und anhand der persönlichen wie ideengeschichtlichen Begegnung den Ausnahme­ rang beider aufzeigen. Woran liegt die Geringschätzung beider in der geistesgeschichtlichen Rezeption? Gewiss: Beide Autoren verbindet eine nicht so sehr systematische, sondern eher literarische, mit vielen Vergleichen und Veranschaulichungen angereicherte Schreibweise, die konventionell-intellektuell geschulte Leser zunächst ab­schrecken mag. Beide verbindet ein ins Bewusstsein gerufener quasi religiöser Affekt, der sich nicht mit gebastelten Gottesbildern abspeisen lässt, aber sehr wohl das vollkommene Enthaltensein des Menschen in einem ihn übersteigenden Zusammenhang, einem lebendigen Ganzen mit ,spiritueller Intelligenz‘ zu denken vermag. Beide Charakteristika verlangen eine rezeptive Hingabe der Lektüre und bieten keine (erkenntnistheoretischen) Lösungen, sie sind eher als ,moderne Mediationstexte‘ zu handhaben – ein Umstand, den auf Empirie und erkenntnistheoretischen Gewinn ausgerichtete Geister in unserer ,entzauberten Welt‘ nicht gerne in Kauf nehmen. Zwischen der Proklamation Nietzsches vom Tod Gottes und den säkularisierten Heilsversprechen durch groß angelegte sozial-politische Experimente und durch analysefähige Seelenhaushalte haben Lou Andreas-Salomé und Constantin Brunner auf ihre ganz eigene Weise zu beschreiben versucht, welche Chancen und Gefahren dieser Paradigmenwechsel verursacht. Ideengeschichtlich lässt sich dies in ihren eigenständigen und lebensnahen Interpretationen von Spinozas „Inslebensetzung“ des geistigen Einheitsgedankens festmachen – so nennt



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es jedenfalls Brunner1 –, oder wie Andreas-Salomé über Spinoza sagt: „Denken wie er heißt nicht, ein System annehmen, sondern –,denken‘.“2 Zwischen Nietzsches Lebensphilosophie und Freuds Psychoanalyse spielte sich in allen Bereichen von Kunst, Wissenschaft und Philosophie ein grandioses Ringen um das Verständnis von „Leben“, „Geist“, „Körper“, „Seele“, „Geschlecht“, „Gott“, „Rasse“, „Individuum“ und „Welt“ ab, das sich von unhaltbaren Spekulationen, mystischen Verwirrungen und Verstrickungen bis in empirisch-positivistische Verabsolutierungen und in großartiger „Nervenkunst“ ausdrückt. Die abendländische Trennung von Geist, Körper und Seele war für die DenkerInnen dieser Zeit nicht mehr aufrecht zu erhalten, ebenso wenig wie die Ontologie theistischer Prägung. Für ,redliche‘ (im Sinne Nietzsches) Geistesmenschen (im Sinne Brunners) galt es, weder den Irrtümern der zu kurz gedachten und auf Länge/Dauer gestellten Entwicklungslehre noch den obskuren, modernabergläubischen Glaubenssurrogatlösungen des Monismus das Wort zu reden, sondern kritisch, will heißen: abstrakt-einfühlend die Erkenntnisse und Ahnungen dieser Umbruchzeit zu formulieren und das im Sinne einer praktischen Philosophie, einem Ethos, das das Leben als höchsten Wert annimmt. Dieses Gebot der Stunde erfüllte Brunner in Lou Andreas-Salomés Augen in beeindruckender „Größe“. Für sie setzt er damit Nietzsches Ansatz fort. Doch, ähnlich wie dieser (und vielleicht auch deswegen von Brunner selbst als „Antipode“ gewertet) konnte Brunner nicht zulassen, dass das Leben sein Denken übersteige. Wie Nietzsche sich anbetend in seinem Zarathustra verlor, so stand Brunner seine zornige Polemik und seine eigene Geistesgewalt im Wege, um wirklich in die Freude des „absoluten Erkennens“ eingehen zu können. Über die Frage des Erkennens hatte Lou Andreas-Salomé 1900 in ihr Tagebuch geschrieben: [...] wir erkennen nur soviel und so weit, als wir im Stande sind, uns von uns selber zu entfernen, zu uns selbst Distanz zu gewinnen, – immer innerhalb jener persönlich-physiologischen Grenzen, für deren Intaktheit nicht wir zu sorgen haben, sondern die mit jedem Prozeß in uns selbst mitgegeben sind. Erst dann, wenn wir wirklich ausgegangen sind, um zu erkennen, nicht aber uns möglichst rund in uns selber zusammenzurollen, erst dann finden wir stets ‚statt eines Esels ein Königreich‘ [Goethe, Gespräche mit Eckermann, 18. Januar 1825], nämlich in den Dingen, die sich uns weit öffnen und uns ungeahnte Heimath werden, eine ganz neue Wonne, eine der spezifisch menschlichsten Wonnen, – so groß, daß Geister wie Spinoza in ihr ertranken und stammelnd von ihr „Gott“ sagten, – Gott, der nicht wiederliebt, den jedoch zu lieben, schon Wonne genug ist. Eine jede Philosophie war

1 Constantin Brunner: Materialismus und Idealismus [1928]. 2. Aufl. Köln, Berlin 1959, S. 181. 2 Lou Andreas-Salomé: In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres 1912/13. Hg. von Ernst Pfeiffer. München 1965. S 44

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umso fruchtbarer, je mehr hiervon in ihr steckte, – und (hier spitzt sich der Widerspruch wundervoll zu) war gleichzeitig gerade dann das tiefsinnigste Bild der seelischen Persönlichkeit ihres Stifters, denn gerade dann wurde dieser geheimnißvolle Zusammenhang am wenigsten gestört und verdorben durch die Einmischung seines subjektiven Meinens oder Wollens, seiner subjektiven Absichten.3

1908 erschien Brunner mit seiner Lehre von den Geistigen und vom Volke als eine solche Persönlichkeit und ein solcher „Stifter“. Er warb – ebenfalls mit Bezug zu Spinoza – für eine „geistige Besinnung“ und betrieb zugleich mit großen Worten eine Kritik der Gedanken und der Menschen: Es gibt eine geistige Besinnung, jene äußerste menschliche Erhebung, Vertiefung, Verinnerlichung, jenes wahrhafte Zusichselberkommen, was wir Geist nennen, – es gibt eine Besinnung in den Geistigen, welche ganz unbeeinflußt bleibt von all den vorübergehenden Anschauungen und Gedanken der Zeit, von allem Wandel in den theoretischen und praktischen (religiösen, metaphysischen, moralischen) Meinungen des Volkes, ja noch mehr, unabhängig nicht bloß vom Aberglauben: unabhängig auch selbst von dem wechselnden Stande des relativen Denkens und der wissenschaftlichen Kenntnis der Dinge. […] Und wir stehen denn nun an der Weltwende, die durch die klare Erkenntnis des für immer unversöhnlichen und unüberwindlichen Gegensinnes im Denken der Menschen zur endlichen Auseinandersetzung zwischen den Gedanken und zur Auseinandersetzung zwischen denjenigen Menschen führen wird, die das Denken von der einen oder von der andern Art im Blute tragen. Dies ist die Weltwende aus der Epoche der Verworrenheit und der Unbewußtheit dessen, was wir gegeneinander kämpfen und leben: in die Epoche der Bewußtheit und Bestimmtheit und all des Großtätigen und Guten, was aus der gehörigen Scheidung und Ordnung der ungehörig verwickelten Gedanken und Menschen, was aus dieser höchsterreichbaren Einsicht und Absicht einer Kritik der Gedanken und einer Kritik der Menschen folgen wird.4

Möglicherweise gründet hierin die von anfänglicher, hoffnungsvoller Begeisterung getragene (kolportierte) Aussage Lous, „ihr ganzes Leben soll nun im Dienste der Lehre stehen“.5 Allerdings wandelte sich diese Faszination für Brunner schon bald in distanziertes Wohlwollen.6 Vermutlich kam es auch zu Missverständnis-

3 Lou Andreas-Salomé: Russland mit Rainer. Tagebuch der Reise mit Rainer Maria Rilke im Jahre 1900. Hg. von Stéphane Michaud. Marbach 1999, S 127. 4 Constantin Brunner: Die Lehre von den Geistigen und vom Volke [1908]. 3. Aufl. Stuttgart 1962, S. 68 f., 117 f. 5 Lotte Brunner: Constantin Brunner im Tagebuch von Lotte Brunner. Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum Berlin: I, 2, 1, 9 f. Eintrag vom 11. Oktober 1910. 6 Zu den Umständen der Begegnung zwischen Brunner und Andreas-Salomé siehe Constantin Brunner: Ausgewählte Briefe 1884–1937. Hg. von Jürgen Stenzel und Irene Aue-Ben-David. Göttingen 2012, S. 174–179.



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sen zwischen beiden, die das ihre dazu beigetragen haben werden, dass sich der anfängliche Enthusiasmus verlor. Doch möchte ich zunächst bei dem „Wohlwollen“ und der „Begeisterung“ Lou Andreas-Salomés für Constantin Brunner bleiben, weniger analysierend als „einfühlend“. In wenigen Bildern möchte ich eingangs atmosphärisch auf die Begegnung der beiden Ausnahmemenschen einstimmen. Denn ist es nicht erstaunlich, mit welcher Lebensinstinktunsicherheit wir Nachgeborenen diese Epoche betrachten und all die existenziell empfundenen Versuche, dieses Ringen mit den Grundfragen des Lebens, das sich aus der Versicherung in einem alles einenden Gott gelöst hatte und seine ungeheuren elementaren Kräfte entlud – zu verharmlosen geneigt sind? Wir verhandeln theoretisch-distanziert Begriffe wie „gottlose Mystik“, „Jugendstil“, „Lebensphilosophie“, „Psychoanalyse“ und verstellen uns den offenen Blick auf die Gründe und Abgründe, auf die menschlichen Schicksale, die damit verbunden waren und die heute noch nachdenkenswerten Versuche, Orientierung und Potenziale zu finden, wie wir denn frei und glücklich leben könnten. Lebensphilosophie, Ethos, Wissenschaft, (Lebens-)Kunst, (Sozial-) Politik wagten großangelegte Experimente, die nicht einfach mit Begriffen abzuhandeln sind. Was in dieser Epoche kollektiv-elektrifizierend in die Geister und Seelen gefahren ist, war nichts weniger als die nackte Seinsfrage. Was im Technologischen als lichtschaffende, konzentriert geführte Spannung zum Wohl und positiven Antrieb für die Menschheit gelungen war, setzte sich in der kollektiven Grundstimmung als (noch) ungebändigte, freigesetzte (Lebens-)Hochspannung fort, die nach dem „Tod Gottes“, dem Zerfall moralisch-sittlicher Werte, die orientierungslos gewordenen Menschen schonungslos erfasst. „Medial“ offene Menschen wie, um nur einige zu nennen, Nietzsche, Strindberg, Schiele, Rilke wurden in dieser elektrifizierten Atmosphäre durchzittert, erschüttert, „über den Haufen geworfen“7 und setzten sich dieser dennoch mutig, schaffend aus. Ihr (seelisches) Fassungsvermögen allerdings hielt diesem Ansturm an Kraft und Bewegung kaum oder nicht stand. Andere wiederum, wie Simmel, Dilthey, Mauthner, Landauer, Buber, Freud und auch Brunner, begegneten diesen freigesetzten Energien mit Fassung, Rationalität, (durchaus mehrwertiger) Logik – einer Immunstrategie, die ihnen ermöglichte, gewisse Systematiken zu erkennen und in ihren Lehren umzusetzen. Die

7 Lou Andreas-Salomé: Nietzsche in seinen Werken. Hg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt a.M. 2000. S. 81: „Für Nietzsche bedeutete [...] erkennen vor allem anderen: sich erschüttern lassen; und von einer Wahrheit sich überzeugen bedeutete ihm: von einem Erlebnis überwältigt werden, – ,über den Haufen geworfen‘ wie er es nannte.“

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Schattenseiten dieser Strategie zeigen sich bei manchen als Dogmatik, Engstirnigkeit, Ressentiment, Polemik, Missionarstum. Was die beiden Strategien und Verarbeitungsmethoden verbindet, ist die Liebe zum und meist auch die Anwendung des Poetischen als angemessenes Ausdrucksmittel. Die strukturelle Sprachlogik des scheinbar eindeutig zu Bezeichnenden und begrifflich Festgelegten musste sich der metaphorisch-analogischen Vieldeutigkeit der poetischen und/oder somatischen Bilderwelt oder der beschwörenden Rede öffnen. So erscheint es mir frappant treffend, dass der englische Altphilologe Francis Macdonald Cornford in dieser Zeit der Herkunft des Begriffs „Theorie“ nachging, dessen Deutung Russell in seiner Philosophie des Abendlandes erwähnt: Es war ursprünglich ein orphisches Wort, das Cornford als „leidenschaftliche, einfühlende Kontemplation“ deutet. In diesem Zustand, sagt er, „ist der Schauende identisch mit dem leidenden Gott, stirbt seinen Tod und entsteht wieder in seiner Neugeburt.“ Für Pythagoras war die „leidenschaftliche, einfühlende Kontemplation“ intellektuell und mündete in mathematischer Erkenntnis. Auf diese Weise kam das Wort „Theorie“ über den Pythagoreismus allmählich zu seiner modernen Bedeutung; für alle jedoch, die vom Pythagoras inspiriert waren, behielt es ein Element ekstatischer Offenbarung.8

Ich denke, dieser frühe Begriff der Theorie beschreibt auch das theoretische Bemühen von Lou Andreas-Salomé und Constantin Brunner sehr gut. Beide erlitten einen ganz persönlichen Gottesverlust, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art. Bei Lou Andreas-Salomé fiel der Verlust des inbrünstig geliebten „unsichtbaren Freundes“,9 dem sie sich rückhaltlos anvertrauen konnte und in dem sie sich voll und ganz enthalten fühlte, in die sehr frühe Kindheit, noch bevor der erwachende Verstand Zweifel anmelden konnte.10 Das hatte einerseits eine tiefe Einsamkeit und phantastische Welterzeugung bis zu ihrem 17. Lebensjahr ausgelöst, aber auch eine ihr gesamtes Leben und Denken bestimmende „damals dunkel erwachende, nie mehr ablassende durchschlagende Grundempfindung unermeßlicher Schicksalsgenossenschaft mit allem, was ist“.11 17-jährig verweigerte sie die Konfirmation und erhielt intensiven, logisch-philosophischen Unterricht von dem charismatischen, unorthodoxen Prediger Hendrik Gillot in ihrer Heimat-

8 Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes. Zürich 2007, S. 55. 9 Siehe Lou Andreas-Salomé: Vom frühen Gottesdienst. In: Das zweideutige Lächeln der Erotik. Texte zur Psychoanalyse. Hg. von Inge Weber und Brigitte Rempp. Freiburg 1990 10 Zu Lou Andreas-Salomés Biographie siehe: Lou Andreas-Salomé: Lebensrückblick. Hg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt a.M. 1974. 11 Andreas-Salomé, Lebensrückblick (wie Anm. 10), S. 24.



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stadt St. Petersburg. Nach der Lektüre Spinozas entwickelte das junge Mädchen eine „ahnende und fast anbetende innere Beziehung“12 zu diesem Philosophen, der für sie vom ersten Augenblick an ,intelligente Spiritualität‘ verkörperte. Lou studierte autodidaktisch in Zürich unter anderem Religionsgeschichte und verfasste zahlreiche religions- und kunstpsychologische Essays sowie vielgelesene Erzählungen und Romane. Ihre Begegnung mit Nietzsche, den sie, nur 21-jährig, mit ihrer Einfühlungsgabe und ihrem reinen, völlig amoralischen Wesen (was heißen soll, gänzlich unkonditioniert, zwanglos und aller Erkenntnis und allem Forschen rückhaltlos aufgeschlossen), ihrer Konzentrationsfähigkeit, Bildung und Geistesgegenwart dermaßen faszinierte, dass er sie zweimal heiraten und/oder auf jeden Fall zu seiner „Erbin“ machen wollte.13 Einerseits machte sie dies zu einer Ausnahmeerscheinung in diesen intellektuellen Kreisen, gleichzeitig musste sie sich aber Zuschreibungen wie „fêmme fatale“ und eine ganze Diffamierungskampagne seitens Elisabeth Förster-Nietzsches nach Erscheinen ihrer sublimen Studie Nietzsche in seinen Werken14 gefallen lassen. Auch in die Nietzsche-Rezeption ging sie nicht als (Er-)Kennerin seiner Philosophie ein, sondern als das „Lou-Erlebnis“, das Nietzsche zu seinem Zarathustra inspirierte; zugleich wird es Lou AndreasSalomé bis heute offen oder versteckt vorgeworfen, dass sie sich dem Genie nicht opfern wollte, sondern das Leben, das Glück für wertvoller erachtete und ihren ganz eigenen Weg suchte und ging.15 Dass sie diesen großen Philosophen als Mann abwies, ihn als Lehrer nach nur einem halben Jahr zugunsten eines völlig

12 Andreas-Salomé, Schule (wie Anm. 2), S. 45. 13 Siehe hierzu unter anderem den Brief Nietzsches an Peter Gast vom 13. Juli 1882. Nietzsche hatte Gast zuvor das Gedicht Lous An den Schmerz ohne Nennung der Autorin geschickt; Gast war begeistert von Nietzsches poetischem Wurf. Nietzsche stellte klar: „Jenes Gedicht ,An den Schmerz‘ war nicht von mir. Es gehört zu den Dingen, die eine vollständige Gewalt über mich haben; ich habe es nie ohne Thränen lesen können: es klingt wie eine Stimme, auf welche ich seit meiner Kindheit gewartet und gewartet habe. Dieses Gedicht ist von meiner Freundin Lou, von welcher Sie noch nicht gehört haben werden. Lou ist die Tochter eines russischen Generals, und zwanzig Jahre alt; sie ist scharfsinnig wie ein Adler und muthig wie ein Löwe [...]. Sie ist auf die erstaunlichste Weise gerade für meine Denk- und Gedankenweise vorbereitet.“ In: Friedrich Nietzsche / Paul Rée / Lou von Salomé: Die Dokumente ihrer Begegnung. Hg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt a.M. 1970, S. 199. In einem Brief an Malwida von Meysenbug schrieb Nietzsche 1882: „Ich wünsche in ihr eine Schülerin zu bekommen, und wenn es mit meinem Leben auf die Länge nicht gehen sollte, eine Erbin und Fortdenkerin.“ Ebenda, S. 157. 14 Lou Andreas-Salomé: Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Wien 1894. 15 Siehe unter anderem Carl Albrecht Bernoulli: Nietzsches Lou-Erlebnis. In: Raschers Jahrbuch I, Zürich, Leipzig 1915, S 225–260; Erich F. Podach: Friedrich Nietzsche und Lou Salomé. Ihre Begegnung 1882. Zürich 1938.

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freien, selbständigen Lebens ohne genau definiertes Ziel verließ, erscheint natürlich für alle Nietzsche-Adepten (die sich wohl nichts sehnlicher wünschten, als so von ihrem „Gott“ auserwählt zu werden) als geradezu gotteslästerlicher Affront. Nein, diese Frau konnte und durfte Nietzsches Größe und Genie nicht verstanden haben! Auch Nietzsche selbst warf ihr in seinen bitteren Stunden vor, sie sei trotz ihrer genialischen Anlagen nicht opferbereit genug, sondern suche das Vergnügen, und dafür seien ihr „die größten Geister grad mal gut genug“.16 Andererseits bestärkte er sie, ihren Geist zu entfalten und aufrecht ihr ganz Eigenes zu leben.17 Diese Ambivalenz wiederholt sich in der Begegnung mit Brunner auf erstaunliche Weise, deswegen hier die Ausführlichkeit dieser (lebens-)philosophischen Begegnung. Was sich wohl dahinter verbirgt? Ich denke, dass Frauen, Musen vor allem, durch den kulturell-verabsolutierten Wert „Genie“ als Opfer derselben zu instrumentalisieren gepflegt werden und damit die tatsächlich befruchtende, lebensbringende Botschaft der Muse, sich nicht als Erzeuger zu verkennen, sondern als Bezeuger der schöpferischen Lebenskräfte poietisch und im Wortsinn „Lebenswerke“ zu schaffen, unerhört bleibt. Ein weiterer Grund mag sein, dass die Verabsolutierung des „reinen Denkens“, das durch Entbehrung und Verzicht gekennzeichnet ist, alles Sinnliche, Lebensvolle, Freude und Glück, der Erkenntnis zum Opfer bringt – nicht sehr viel anders als die von uns als rückständig gewerteten Vorfahren ihren grausamen Göttern Opfer brachten, um sie gnädig zu stimmen. Die gesamte (männliche) Geistes- und Kulturgeschichte ist demnach von der Frage Kierkegaards: „Genie oder Apostel“ auf den Punkt, auf ihr Alpha und Omega gebracht.18 In der Moderne schlich sich – gerade durch Lou Andreas-Salomé – das „Medium“ als möglicher (wenn nicht nur als technologischer Begriff interpretiert) Mittler ein: Wir sind ,Medien des Lebens‘ wie alle andere Existenz auch, und würden wir unser Bewusstsein diesem Umstand anpassen können, dann entgingen wir dem Hochmut ebenso wie dem Kleinmut, dann bräuchten wir keine Übermenschen, sondern könnten ,große Menschen‘ sein. Groß in dem Sinn, dass wir die paradoxale Spannung, sowohl individualisierte, unterschiedene Existenz als auch in der Wurzel mit allem und allen eins zu sein, nicht nur ertragen, sondern sie schöpferisch leben – sie in ihrer unend-

16 Briefentwurf an Paul Rée, letzte Dezemberwoche 1882. In: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2. Aufl. Berlin, New York 2003. Bd. 6. S. 310. 17 Brief Nietzsches an Lou von Salomé, etwa 1. September 1882. In: Nietzsche, Briefe (wie Anm. 16), S. 247. 18 Sören Kierkegaard: Zweite Abhandlung. Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel. In: Ders: Einübung im Christentum. Zwei kurze ethisch-religiöse Abhandlungen. Das Buch Adler oder Der Begriff des Auserwählten. München 1977, S. 301–315.



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lichen Vielfalt verstehen und feiern, nicht (nur) bewerten, kategorisieren, moralisieren. Lou Andreas-Salomé hat diese Auffassung einmal so charakterisiert: Wie verkehrt ist es deshalb, mit der Größe den Begriff erhabener Einseitigkeiten zu verbinden, wie es meistens geschieht. Groß ist das, worin – eher als im Kleinen, das mit Raum sparen muß – Platz auch noch für alles Entgegengesetzte, Widersprechende, für Scherz, Ausgelassenheit, Spiel und Leichtigkeit ist, und für viele gefährliche Dinge. Die gefährlichen Dinge sind ja nur die, die schwer und selten an ihren richtigen Platz gelangen und ihren Zorn darüber auslassen, daß Niemand ihnen Raum giebt damit auch sie Schönheit würden, anstatt seelisch beschädigend zu explodieren. – [Zusatz am linken Rand:] 1903: Allen Idealen fehlt diese Fülle, dies Lebensvolle, Widersprechende, sie sind Einseitigkeiten, vom Leben abstrahirt („keimfreie Nahrung“). – Ebenso gilt es von allem Materiellen, auch von aller Sinnlichkeit, daß sie meistens nur in zu engen Grenzen eingepfercht ist; Raum hätte sie da, wo keine ängstliche oder gierige Nothdurft nach ihr greift, sondern wo sie freie Feste feiern darf, weil die Seele, in die sie eingeht, groß – groß daliegt um sie, mit tausend rinnenden klaren Quellen, aus denen sie trinken könnte, und unabhängig von ihr, – jedoch voll gastlicher Güte gegen sie, und ohne alle sinnenfremde Strenge.19

In dieser ganzheitlichen Auffassung von Medialität gibt es keine Trennung, keine unvereinbaren Gegensätze, sondern nur Relationen zwischen den ,Wirbeln‘, an denen die Saiten aufgespannt sind, die Gegensatzpaare wie Verstand und Gefühl, Körper und Geist, Leben und Tod, Liebe und Hass usw. verbinden. Lou Andreas-Salomé hat sich leidenschaftlich und ohne jegliche Bewertung diesen Verhältnissen und den menschlichen Erlebensformen derselben gewidmet und sie über ein Vierteljahrhundert lang literarisch-essayistisch atmosphärisch ausgeleuchtet. Leitend bleibt für sie das ewig ungelöste Grundproblem der Teilung und des Ganzen sowie des Bewussten und des Unbewussten. Lange vor der psychoanalytischen Theorie entwarf sie das Szenario des urkindlichen Menschen, der sich noch in einem Allzusammenhang erlebt, dem im ,schaffenden Spiel‘ die Welt aufgeht als ein sich lichtendes „Mutterdunkel“20 – bis er sich seiner Vereinzelung bewusst wird und ihm die eine Welt plötzlich gegenübersteht, mit Objekten, die zuvor unabgetrennt mit ihm insistierten, nun fremd und abgeteilt von ihm existieren. Um diesen Riss zu überbrücken, erschafft der Mensch in Fantasieakten einigende Brücken durch „Seinsbetätigungen“ wie Religion, Kunst, Eros, Denken.21 Wollen diese Seinsbetätigungen mehr sein als vermittelnde, eini-

19 Andreas-Salomé, Russland mit Rainer (wie Anm. 3), S. 131. 20 Begriff von Lou Andreas-Salomé im Zusammenhang mit der kindlich religiösen Symbolbildung in: Lächeln (wie Anm. 9), S. 294. 21 Zusammenfassung aus dem unveröffentlichten Manuskript „Der Gott“ (Lou Andreas-SaloméArchiv, Göttingen).

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gende Ausdrucksmittel, so verkehren sie sich in „negative Schöpfungen“, die sich als spukhafte Konkurrenz des Lebens selbst gebärden. Aus Symbolen werden Symptome, aus befreiendem Denken wird Aberglaube und Fanatismus. – Diese kurze Zusammenfassung mag erhellen, warum Lou Andreas-Salomé so begeistert von Constantin Brunners Lehre war, auch wenn sie sicher deren idealistisch-missionarische Aufladung kritisch bemerkt haben dürfte. Auch für Brunner war in seiner Kindheit die Religion eine unhinterfragbare Voraussetzung seines Denkens; bis ins Jünglingsalter hat er die Religion nach eigener Aussage „recht ungewöhnlich ernst“ genommen, bis zur letzten, äußerlichsten Zeremonie, bis zu den störendsten und quälendsten Übungen, für deren lächerlichste ich mich hätte schlachten lassen. Meine Religion war die jüdische, doch lernte ich verhältnismäßig früh, daß auch noch andere Religionen waren, sie beachten, achten, und begann, wie ich es für Gerechtigkeit und Pflicht hielt, mit Vergleichung der Religionen, in der Absicht „die wahre Religion“ anzunehmen, sei es auch die der Feuerländer oder wenn es eine wäre, die vor zehntausend Jahren in Geltung gewesen, und dieser wahren Religion des Einen Gottes sollte mein Leben geweiht sein; denn dem Einen Gotte gehörte ich [...] – ich gehörte Gott und wollte ihm helfen sein Wort verkünden und suchte „was Vielen frommt, daß sie selig werden“.22

Zunächst studierte er in Köln am Jüdischen Lehrerseminar, widmete sich dann aber, ähnlich wie Andreas-Salomé, autodidaktisch einer vergleichenden Religionsbetrachtung, bis er sich plötzlich völlig von religiösen Vorstellungen löste: „[...] mit einem Schlage war ich frei“.23 Mit großer Hingabe und Aufwand hat Brunner dann 13 Jahre lang an dem Entwurf eines philosophischen Systems gearbeitet, das er dann 1908 präsentiert hat.24 Darin geht er von drei Auffassungsweisen des Seins aus: Ins Zentrum setzt er den „praktischen Verstand“, einen relativen Materialismus, der sich in Fühlen, Wissen, Wollen äußert. Überstiegen wird er einerseits vom absolut-idealistischen Geist in Kunst, Philosophie, Mystik (und Liebe); in „geistiger Besinnung“ vermag er die Relativität aller Dinge und die Einheit allen Seins im Absoluten zu erkennen. Andererseits herrscht auf der Ebene des Fiktiv-Absoluten der Aberglaube, das „Analogon“, das sich in Religion, Metaphysik und Moral äußert und lebenspraktisch die Verabsolutierung des eigenen Ich sowie die Ablehnung von selbstverantwortlichem, eigenständigem Denken bewirkt.25

22 Constantin Brunner: Zum fünfundfünfzigsten Geburtstag [1917]. In: Ders.: Zum 55. Geburtstag, Unser Charakter oder Ich bin der Richtige!, Kurze Rechenschaft. Stuttgart 1964, S. 19. 23 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 5), 23. Mai 1918. 24 Brunner, Lehre (wie Anm. 4). 25 Brunner, Lehre (wie Anm. 4), S. 108 f.



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Brunner tritt in seinen dann folgenden Schriften mit scharfer Polemik für eine lebenspraktische und verständige Philosophie ein, die in Spinoza als Philosoph und Jesus als mystischem Genie Ideale verortet, da sie das ideale Verhältnis von Relativem und Absolutem gelebt und gedacht hätten.26 Zeitlebens verweigert er akademische und kulturelle Systeme, Vereinnahmung durch Schulenbildung und öffentliche Redeauftritte. Dafür setzt er sich umso leidenschaftlicher und persönlicher mit Kollegen und Lesern vor allem in Briefen auseinander.27 Das alles ist ähnlich wie bei Lou Andreas-Salomé, denn auch bei ihr spielten Jesus als „Genie der Alliebe“28 und Spinoza als der Denker, der so weit ging, dass er die Grenzen menschlichen Fassungsvermögens überschritt und in einem nichtmetaphysischen Allzusammenhang aufging, von dem er „Gott stammelte“,29 eine bedeutende Rolle. Ebenso interessant und auffällig ist, dass auch sie niemals öffentlich auftrat und immer (auch während der „Mittwochsitzungen“ bei Freud) in größeren Kreisen schwieg, zeitlebens die Zwiesprache als Kommunikationsform vorzog und beibehielt. Als nun Lou Andreas-Salomé 1910 auf Vermittlung Gustav Landauers, erfüllt und hingerissen von Brunners Lehre, die sie kurz zuvor intensiv gelesen hatte, diesen persönlich aufsucht, um ihm zu „danken“,30 ist sie in einem persönlichen Umbruch begriffen, der sie drängt, das in Theorien und im Leben Erfasste und Begriffene tätig umzusetzen.31 Vielleicht lässt sich die Begegnung zwischen Constantin Brunner und Lou Andreas-Salomé am besten anhand der folgenden Äußerungen belegen, die kurz nach den ersten Besuchen Andreas-Salomés bei Brunner in Berlin-Tempelhof im November 1910 verfasst worden sind. In einer (bisher unveröffentlichten) Aufzeichnung in ihrem Tagebuch über Brunners Stube beschreibt Lou nicht nur Brunners Arbeitszimmer, sondern sie verbindet diese Darstellung zugleich mit einer metaphorischen Kondensierung der Lehre und der Person Brunners:

26 Siehe hierzu Constantin Brunner: Spinoza gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit [1909]. 2. Aufl. Assen 1974. Ders.: Unser Christus oder das Wesen des Genies [1921]. 2. Aufl. Köln, Berlin 1958. 27 Siehe hierzu allgemein Brunner, Briefe (wie Anm. 6). 28 Siehe unter anderem Lou Andreas-Salomé: Jesus der Jude. In: Neue deutsche Rundschau 7 (1896), S. 342–351. Auf diesen Essay reagierte Rilke so stark, dass er diese Frau unbedingt kennenlernen wollte, da er ein „Echo“ seiner „Christusvisionen“ darin las; siehe Brief Rainer Maria Rilkes an Lou Andreas-Salomé vom 13. Mai 1897. In: Rainer Maria Rilke / Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel. Hg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt a.M. 1989, S. 7. 29 Andreas-Salomé, Russland (wie Anm. 3), S. 127. 30 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 5), 11. Oktober 1910. 31 Siehe Stéphane Michaud: Lou Andreas-Salomé. L’Alliée de la vie. Paris 2000, S. 213–229.

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Abb. 1: Brunners Arbeitszimmer in Berlin-Tempelhof, ca. 1910 (Quelle: LBI/JMB, Constantin Brunner Collection: VI, 4, 1, 1) Diese Stube frappirt zunächst durch etwas Überladenes und Geschmackloses. Auch das Wohnzimmer daneben thut dies. Auch manches Schöne steht, hängt, liegt drin, aber zuviel, und ohne den unsichtbaren, tiefpersönlichen Mittelpunkt der es organisch zusammenfassen könnte. Wie viel Unnützes und Verengendes, denkt man, wie vieles, das Staub aufnimmt und Luft fortnimmt, wie viel Spielerisches und Witziges, ja auch absichtsvoll Albernes –. So denkt man eine ganze Weile. Und dann denkt man das andere: ist diese Stube nicht wie eine, die alles aufnimmt, einfach sachlich, alles, was „ist“, – hat sie nicht vielleicht die Güte eines Denkens von seiner ungeheuren, bewältigenden, unsubjektiven Sachlichkeit, – muß er nicht so wohnen mögen, wie er vielleicht auch lebt: unter allen Menschen, wie sie gerade sein mögen, und dennoch ja immer mit sich allein; unter ihnen wie unter diesen Dingen nur auf der Bühne, willig, ihnen gleichmäßig zugekehrt, aber um nichts minder einsam? Und liegt neben der Sachlichkeit und Güte nicht auch die Ironie in alledem, die zugleich befreit vom allzu Gegenständlichen, von allem Stuben-Umschränkten überhaupt, und dadurch gerade diese Art von Wohnen zur allerpassendsten macht für einen, der nirgends wohnte bis jetzt? Aber man denkt auch weiter, wenn man diese Stube vergleicht und diesen Mann: sollte nicht in seiner Innenbehausung ein Sinnbild sich vollziehen –, und, wer weiß, auch in seinem Wesen, – wie eine Rache für zu viel Geistesgewalt und Gewaltgeist –. Als ob die Zusammenfassung des Seienden in diesem Kopf sich persönlich äußern müsse in Erstarrungen, Engen, Festlegungen, Vorurtheilen, Ungerechtigkeit, Dogmatismus. Ja, grade in solchem Widerspruch –. Die Frage kam mir schon, als ich das Buch las. Dasselbe was



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wahr und ewig ist, ist, dinglich wiedergespiegelt, das starr Überschätzte oder willkürlich Begrenzte. Wir stehen Alle, als Personen zwischen Trivialität und „Analogon“. Um das ganz Große zu thun, muß man dennoch in der ganz kleinen Menschenstube daheim sein, und wenn man das ganz Große nicht nur daneben thun und sein will, grade dann wird es sich darin am ehesten etwas verzerrt spiegeln. Der Schreibtisch, der auch nicht wie ein Schreibtisch ist, sondern wie ein langer, schwarzer, schmaler Gedankenstrich, der nicht recht weiß, wo er aufhören soll, ist das einzig Einfache (wenn auch nichts einfach ist, was auf ihm herumliegt.) Ihm muß man glauben.32

Kurze Zeit später, am 16. November 1910, nach einem ihrer Besuche, schrieb Brunner Andreas-Salomé emphatisch in einem Brief: Du bist gegen Alle aufrichtig: gegen mich mußt du es übereifrig, überängstlich aufrichtig sein. Es hängt so viel daran: die wunderbar große Freundschaft, die wir auf so wunderbare Weise miteinander eingegangen sind und die uns Verpflichtung ohne gleichen auferlegt, daß Alles darin (und, wenn sein muß, was nicht sein wird, darüber hinaus) so wunderbar ganz schön sei wie vielleicht niemals noch Verhältnis zwischen zwei Menschen gewesen, so heilig – wie du bist, Lou; und ich brauchte dir dies nicht zu sagen und sagte es wohl mir, um dir zu sagen, daß ich ebenso es halten würde, damit dieses wunderbar Schöne ganz schön sei und bleibe in unsrer Welt; denn du tust gewis so; du bist heilig, Lou. Nichts gegen sagen, nie wieder, wenn ich zu dir spreche: du, meine heilige Lou! Du mißkennst noch den Sinn, dir mischt sich hinein die Vorstellung von den Heiligen des Aberglaubens: ich aber denke dich als die Heilige der Wahrheit, die du bist mit Allem, was du bist. Solche Heilige brauchen wir, Lou; und ich nun werde niemals wieder sein ohne meine heilige Lou. Wieviel glücklickseliger noch ist mir dieses Leben nun geworden. Aber schreib mir auch, ob du mich hörst?33

Die Briefe Lou Andreas-Salomés an Brunner sind nicht überliefert. Klar ist aber, dass der Kontakt nach den heftigen Begegnungen im Herbst 1910 mehr oder weniger abbrach. Wie konnte es dazu kommen? Zwischen 1900 und 1910 hatte Andreas-Salomé wenig geschrieben und sich außer in persönlichen Auseinandersetzungen mit Intellektuellen und Künstlern auf ihren Reisen durch ganz Europa in ihr Domizil in Göttingen zurückgezogen. Anfang 1910 hat sie ein verdichtetes philosophisches Manuskript Der Gott verfasst,34 sowie für Martin Bubers

32 Lou Andreas-Salomé: Brunners Stube. In: Tagebuch 1910 (Abschrift eines unveröffentlichen Manuskripts. Mit freundlicher Genehmigung von Frau Dorothée Pfeiffer, Lou Andreas-SaloméArchiv, Göttingen. 33 Brunner, Briefe (wie Anm. 6), S. 176 f. 34 Andreas-Salomé, Gott (wie Anm. 21).

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Gesellschaft eine beinahe „systematische“ Abhandlung: Die Erotik.35 Für die im 50. Lebensjahr stehende Frau kristallisiert sich die Erkenntnis heraus, dass ,Eros‘ als die alles bestimmende und leitende Kraft für alle Lebensbewegungen zu gelten habe. Noch vor der Begegnung mit Freud und dessen Kategorisierung des sublimierten Sexuellen erkennt sie im menschlichen Schaffensdrang die „rätselreichen Umsetzungen menschlicher Blutwärme in Geistesgestalt“.36 Diese Erkenntnis, die sie meines Erachtens in der Abhandlung Brunners über die Bewegung von Körpern37 wie ein Echo herausliest, lässt sie so leidenschaftlich-vertrauensvoll auftreten, dass daraus, wie so häufig, ein grundlegendes erotisches Missverständnis entsteht. Das jedenfalls belegen die Stellen, an denen Brunner später über Lou spricht: Sie habe „Persönlichstes der schlimmsten Art“ von ihm gewollt38 und die Begeisterung für seine Philosophie „in ihrer unsinnigen Leidenschaft hingeschmissen, weil sie ihre Liebesachttage oder -nächte oder eine Stunde der Nacht oder was sie eigentlich wollte, nicht von mir bekam“.39 Es scheint sich hier in der erwachsenen Frau dasselbe wie in der mädchenhaften Begegnung mit Nietzsche zu wiederholen, und tatsächlich finden wir eine Aussage Brunners, die bei aller Gegnerschaft zu Nietzsche diesem uneingeschränkt Recht gibt: „Das einzige, worin ich mich mit Nietzsche ganz einig weiß, ist die Auffassung von Lou. Wir haben da offenbar die gleiche Erfahrung gemacht.“ Lotte Brunner, die diese wie die vorigen Aussagen in ihrem Tagebuch notiert hat, setzt hinzu: Vater meint hauptsächlich dies, was Nietzsche so ausdrückt: Lou sei ein Wesen, „welches sich amüsieren will und schamlos genug ist, zu glauben, daß dazu die ausgezeichnetsten Geister der Erde eben gut genug seien“ (Brief an Rée, zitiert bei Elisabeth Förster-Nietzsche, „Der einsame Nietzsche“ Seite 195). Vater sagt, sie für sich allein habe schon eine feine geistige und schwungvolle Erotik, nachher in der Praxis aber werde diese von ihrer krankhaften Sexualität ganz aufgefressen. Es sei die selbstverständliche Konsequenz, daß sie sich ganz in die Freudsche Psycho-Analyse, und zwar sicherlich nicht gerade in den guten Teil davon, hineinbegeben habe. – Ehe Vater (durch mich) erfuhr, daß Nietzsche Lou „eine Katze“ genannt hat, gebrauchte er selbst eben diese Bezeichnung für sie.40

Aus dieser Notiz könnte man schließen, dass Lou Andreas-Salomé Brunner durch ihre sexuellen Forderungen wie auch immer beleidigt oder enttäuscht hätte.

35 Lou Andreas-Salomé: Die Erotik. Vier Aufsätze. Hg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt a.M. 1992. 36 Lou Andreas-Salomé, Lächeln (wie Anm. 9), S. 343. 37 Zu Brunners Bewegungslehre siehe Brunner, Lehre (wie Anm. 4), S. 244–995. 38 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 5), 27. April 1915. 39 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 5), 24. September 1917. 40 Lotte Brunner, Tagebuch (wie Anm. 5), 23. November 1926.



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Zumindest erhebt Brunner diese Anklage gegen sie, und auch in dieser Hinsicht gibt es eine Parallele zu Nietzsche, wenn er äußert: „Lou ist, was mächtige Energie des Willens und Originalität des Geistes und Geschlossenheit des Charakters betrifft, ein Wesen ersten Ranges u. ebenso in Betreff einer wirklichen Genialität der Begabung – ,es ist ewig schade um sie‘ – dies Wort hat hier sein Recht: – nach ihrer praktischen Moralität mag sie ins Zuchthaus oder Irrenhaus gehören.“41 Wie kommt es zu dieser ähnlichen Auffassung Andreas-Salomés bei Nietzsche und Brunner? Ich denke, dass es hier um die Radikalität in Lou AndreasSalomés erotischem Denken und Sein geht, die um die unauflösliche Verbindung zwischen Physischem und Seelisch/Geistigem weiß und dieses Wissen klar und eindeutig verkörpert, beim Namen nennt – ohne jegliche Schönfärberei, ohne Rücksicht auf etwaige Missverständnisse, die sich daraus ergeben könnten und sich so zahlreich ergeben haben. Schon 1900 formuliert sie in einem Essay in der Neuen deutschen Rundschau: Unrecht tut man ihm [dem erotischen Prozess, Anm. CW], wenn man ihn auf eine eng umgrenzte grobe Wirkung des Physischen einschränkt [...]; unrecht tut man ihm aber nicht minder, wenn man moralisierend oder ästhetisierend seine geschlechtliche Natur zu verfälschen sucht. Das Erotische ist ja alles, was es ist gerade vermöge der elementaren Kraft, womit es alle scheinbare Trennung und Fremdheit zwischen körperlichen und geistigen Wesensäußerungen überwindet.42

Diese Erkenntnisse finden 1911, kaum ein Jahr nach den Treffen mit Brunner in ihrer Begegnung mit Freud jene Resonanz, die sie bei Brunner noch vermissen lässt. Was in obiger Notiz Brunners zynisch als „die logische Konsequenz“ angeführt wird, vor allem als „den nicht guten Teil“, thematisiert Lou Andreas-Salomé in ihren psychoanalytischen Essays ganz (selbst-)bewusst und mit einer Schärfe, die frei von Polemik, aber voll der Überzeugung ist, dass die Ansetzung der Sexualität mit dem Dasein selbst [...] als so real wie nur möglich gemeint [ist]. In Wahrheit ist ja nämlich die Allverwobenheit des Einzelgeschöpfs, unsere Einheit mit dem Sein außer uns, womit der Philosoph und nicht der Psychoanalytiker sich zu befassen hat, nirgends unmittelbareres Erlebnis als im ursprünglichen leiblichen Zusammenhang, über den noch nichts über uns selber hinauslangt.43

41 Brief Friedrich Nietzsches an Ida Overbeck aus dem Jahr 1883. In: Nietzsche / Rée / von Salomé, Dokumente (wie Anm. 13), S. 335. 42 Andreas-Salomé, Erotik (wie Anm. 35), S. 77. 43 Lou Andreas-Salomé: Psychosexualität. In: Dies., Lächeln (wie Anm. 9), S. 149.

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In ihren letzten Lebensjahrzehnten spürt sie der ,Geschlechtlichkeit allen Seins‘ unerschrocken nach. Die psychoanalytische Lehre ist für sie die konsequente Weiterführung der Nietzscheanischen und Brunnerschen Lebensphilosophie, deren Probleme einer wirklichen Lebensumsetzung sie sozusagen am eigenen Leib erfahren hat. Im Gegensatz zu Freud allerdings stellt sie die Verbindung zu diesen lebensphilosophischen Errungenschaften immer wieder her und sieht in der Psychoanalyse weniger ein „Heilsverfahren“ als eine tätige, praktische Anwendung der Erkenntnisse von Zusammenhängen zwischen Leib, Seele und Geist. Bar jeglicher Bewertung beobachtet sie voller Güte und liebevollem Forscherinteresse auch noch die absonderlichsten Symptome und Auswüchse. Das Freudwort: „Der Kranke hat immer recht“44 erlangt somit eine Bedeutung, die in der Heilungsdogmatik der sich etablierenden Wissenschaft bis heute scheinbar verloren ging. Wir sind keine Mängelwesen, sondern Medien des Lebens, die, in es hineingehalten, pausenlos und vielfältig reagieren – von den groteskesten Verrenkungen und Verirrungen in Hass und Gewalt bis zur Entfaltung menschlicher Größe, die von Mitgefühl, Achtsamkeit und intelligentem Bewusstsein getragen ist. Wir sind der „Selbstwiderspruch Mensch, der an seiner Reibung erst sich fruchtbar selbst erlebt als Bewusster“.45 Im Begriff der „Reibung“ klingt an, dass auch hier ein erotisches Selbstverhältnis, um nicht den viel zu eindeutig gefassten „Autoerotismus“46 zu bemühen, zur Wirkung gelangt – „denn der Eros hört nimmer auf“.47 Meines Erachtens liegt die ,ewige Wiederholung des gleichen Missverständnisses‘48, wie sie Lou Andreas-Salomé zum Beispiel bei Nietzsche und Brunner erlebt hat, im konsequenten Zu-Ende-Denken der universalen erotischen Kräfteverhältnisse, die alles Sein und Werden auf eine prinzipiell geschlechtliche Wurzel zurückführen und eine Dichotomie von „hohem“ (= sublimiertem) und niederem (= gelebtem/vollzogenem) Eros nicht zulassen. Es ist immer Eros – eben in vielfältigsten Erscheinungsformen. Stellt man sich vor, dass diese Frau diese Erkenntnis tabulos allen Verhimmelungen und Verteufelungen des Geschlechtlichen entgegengehalten hat, so verwundert es nicht, dass der „heilige Immoralist“ Nietzsche und der im Absoluten verankerte Brunner in letzter Konsequenz die auserwählte Apostelin nicht begreifen konnten. Was Andreas-Salomé persön-

44 Lou Andreas-Salomé: Mein Dank an Freud. In: Dies., Lächeln (wie Anm. 9), S. 247. 45 Andreas-Salomé, Dank (wie Anm. 44), S. 323. 46 Lou Andreas-Salomé: Narzissmus als Doppelrichtung. In: Dies., Lächeln (wie Anm. 9), S. 191. 47 Andreas-Salomé, Dank (wie Anm. 44), S. 267. 48 Anspielung auf Nietzsches Gedanken der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ im Zarathustra.



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lich dabei empfunden hat, lässt sich nicht sagen, da sie sich nirgends (schriftlich) darüber äußert. Im persönlichen Lebenszusammenhang von Lou Andreas-Salomé steht Freud nicht nur für die Psychoanalyse: Im „Rückerinnern“ scheint der über 50-jährigen „als ob mein Leben ihr entgegengewartet hätte, seitdem ich aus den Kinderschuhen heraus bin“.49 In Freud findet sie jene Freundschaft und Verbindung, die auf gegenseitigem, großem Respekt und Anerkennung der durchaus differentiellen Auffassungsweisen basiert, und es ist erstaunlich, wie sehr Freud selbst (nicht aber die psychoanalytische Theoriebildung) ihre durchaus „ketzerischen“ Anmerkungen, Ergänzungen und Synthesen aufgenommen und geschätzt hat. Er schreibt ihr einmal: Sie sind doch eine Versteherin par excellence, wozu kommt, daß Sie mehr und besser verstehen, als man Ihnen vorgelegt hat. Es macht mir immer einen besonderen Eindruck, wenn ich Ihre Äußerungen über eine meiner Arbeiten lese. Ich weiß, daß ich mich bei der Arbeit künstlich abgeblendet habe, um alles Licht auf die eine dunkle Stelle zu sammeln, auf Zusammenhang, Harmonie, Erhebung und alles, was Sie das Symbolische heißen, verzichtete [...]. Dann kommen Sie und fühlen das Fehlende hinzu, bauen darüber auf, setzen das Isolierte wieder in seine Beziehungen ein.50

In dieser letzten, großen Beziehung Lou Andreas-Salomés gab es keine Missklänge oder Missverständnisse, nur tiefes Verstehen und die höchste Anerkennung ihrer außerordentlichen Fähigkeit des Zusammenschauens, die im Grunde genauso wertvoll wie die genialischen Entdeckungen allgemein bewunderter ,Geistesgrößen‘ ist. Alles Lebensvolle braucht dieses ,Geschenk der Musen‘. Reine Zergliederung, die Isolierung von Erkanntem ohne dessen Wieder-in-Bezug-Setzung in seine Zusammenhänge führt zu Agonie, Depression, kalter Technik. Lou Andreas-Salomé verkörpert auf diese Weise den „missing link“ zwischen Lebensphilosophie und Psychoanalyse. Er besteht meines Erachtens wie bei Brunner in einer Balance von Analyse und Synthese, in ,Medialitäten‘, im ,relationalen Denken‘, wie sie die hier vorgestellten Geistesmenschen gelebt und gedacht haben, wenn auch in unterschiedlichen Erfolgen, Ergebnissen, Konsequenzen. Für Brunner bedeutet der psychologische Prozess des Fühlens, Wissens und Wollens das Innewerden der Bewegung – die Wechselwirkungen und Bedingungen des Bewegens (Wollens) und des Bewegt-Werdens (Fühlens). Dabei greift er

49 Lou Andreas-Salomé: Zum 26. Mai 1926. In: Dies., Lächeln (wie Anm. 9), S. 231. 50 Brief Sigmund Freuds an Lou Andreas-Salomé vom 25. Juni 1916. In: Sigmund Freud, Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel. Hg. von Ernst Pfeiffer. Frankfurt a.M. 1966, S. 50.

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auf die spinozistische Affektenlehre zurück. Nach Brunner sind Affekte nicht rein seelischer Natur, sondern sie sind „nichts andres […] als die innerlich bewußten Zustände der körperlichen Affektionen“.51 Daraus ergibt sich für Brunner auch eine zugleich emotionale und rationale Gesamtstimmung des Menschen: Die Welt des Gewußten ist identisch mit meinem Gefühlten und Gewollten und richtet sich nach diesem [...]. Und so gewinnen alle Dinge in jedem Augenblick Bedeutung für mich, je nach ihren und meinen Zuständen und der Wechselwirkung beider, mir bewußter oder weniger bewußt, und bedingen allesamt mein Gesamtgefühl und meine allgemeine Stimmung. Meine Gesamtstimmung ist eben gar nichts andres als die Summe und das Produkt von den Einwirkungen aller Dinge. Wenn mir alle Dinge gut sind, so bin ich „guter Dinge“.52

In ähnlichem Sinne notiert Lou Andreas-Salomé einmal, nach einem Kolleg bei Freud, die Überzeugung: „Was von aller Geisteswissenschaft gilt, das gilt hier [in der Psychoanalyse, Anm. CW] im höchsten und entscheidenden Grade: dass wir nur wissen, was wir erleben.“53 Dennoch: Brunner blieb der Psychoanalyse gegenüber auf Distanz. Freud habe zwar „ein großes Verdienst um Aufdeckung dessen, was ich das Natum nenne“54 – Brunner bezeichnet damit den „ursprünglich wurzelhaften Wesensgrund des Menschencharakters in jedem Menschen“55 –, und er sei ein „geniale[r] Mann der Psychiatrie“56, der „einen neuen, schönen Weg gegangen“ sei, da er „wirksam auf die Triebverdrängung hingewiesen“ habe, „und das bringt Nutzen theoretisch und – in allerdings wohl nicht allzu weitem Umfang – vielleicht auch praktisch“.57 Doch Brunners Freud-Kritik fällt schließlich doch sehr deutlich aus: Die Änderung, die er hier von der zukünftigen Menschheit erhofft, dürfte in den Wolken bleiben; sie widerspricht der Natur der Menschheit. Die Triebverdrängung mitsamt der Unaufrichtigkeit gegen andere und gegen sich selbst, hängt auf das Innigste zusammen mit dem Leben des Individuums in der Gesellschaft und mit der Verdeckung des Egoismus durch die Moral, so daß Lügenhaftigkeit zur menschlichen Natur gehört. (An den Schuldanteil der Kultur und der allgemeinen Bildung dabei brauchen wir nur zu erinnern, da auch die Kultur zur menschlichen Natur gehört.) Dies zu erkennen, und daß die Menschheit ihren

51 Brunner, Lehre (wie Anm. 4), S. 668. 52 Brunner, Lehre (wie Anm. 4), S. 982. 53 Andreas-Salomé, Schule (wie Anm. 2), S. 35. 54 Brunner, Charakter (wie Anm. 22), S. 198. 55 Brunner, Charakter (wie Anm. 22), S. 198. 56 Brunner, Keine Psychiatrie und die Psychoanalyse. In: Ders.: Vom Geist und von der Torheit. Hg. vom ICBI. Hamburg 1971, S. 267. 57 Brunner, Psychiatrie (wie Anm. 56), S. 268.



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Naturgrund nicht verlassen und wechseln könne, war Freud nicht Philosoph und also auch nicht Psycholog genug.58

Zudem wirft Brunner Freud eine verengende Perspektive vor: Auch eignet seiner Psychoanalyse, bei aller Lebendigkeit, eine Philistrosität, da sie glaubt, den Menschen rationell auflösen und entlasten zu können – der Mensch ist größer und lebt aus tieferem Zusammenhang, da kann die Psychoanalyse nicht hinreichen, und daß ihre ganze seelische Behandlung doch eigentlich nichts andres ist als ein einziges, ungeheuer ausgedehntes Krankenexamen, scheint mir gleichfalls die schwersten philosophisch-psychologischen Bedenken gegen sich zu haben.59

Wegen seiner identitistischen Leib-Seele-Auffassung gibt es für Brunner keinen Unterschied von seelischen und körperlichen Krankheiten. Es könne daher nicht eigentlich um eine Psychoanalyse gehen, sondern nur um eine „Physioanalyse“: „Die Psychiatrie muß viel materialistischer werden und vom Animismus gänzlich lassen. Es gibt keine besondere, also auch keine besonders zu behandelnde Seele, sondern nur Körper, körperliche Bewegung und diese körperliche Bewegung von innen; wie wir Menschen sie erleben und immerhin Seele nennen mögen.“60 Von hier aus kritisiert Brunner auch Freuds Traumdeutung. Seine Auffassung der Erotik sei „fanatisch“, denn neben der „Liebesangelegenheit“ gäbe es mit dem Besitz und der Geltung, d.h. der Ehre und Eitelkeit, noch andere grundlegende Interessen unseres Egoismus. Außerdem sei Freuds Theorie der Infantilität, der oralen und analen Phase und des Ödipus-Komplexes eine „wüste Art, sich aus dem Bewußten angeblich ins Unbewußte zu begeben“.61 Freud habe das intellektiv Bewusste zum Bewusstsein überhaupt erhoben und davon das Sensitive und Voluntative als Unbewusstes unterschieden, „als wäre nicht auch das sensitiv und voluntativ Bewußte gleichfalls Bewußtsein, und als ließen sich diese letztgenannten beiden Bewußtseinsarten in das intellektive Bewußtsein auflösen.“62 D.h. Brunner hält Freud für zu einseitig rationalistisch. Trotz seiner Wertschätzung des Ansatzes von Freud fällt Brunners Kritik daher sehr hart aus: Das alles sind nicht etwa nur Scheinerklärungen, unwissenschaftliche und pseudowissenschaftliche, sondern richtig unsinnige; mit dem allen ist Freud selber verrückt, sagen wir

58 Brunner, Psychiatrie (wie Anm. 56), S. 268. 59 Brunner, Psychiatrie (wie Anm. 56), S. 268. 60 Brunner, Psychiatrie (wie Anm. 56), S. 268 f. 61 Brunner, Psychiatrie (wie Anm. 56), S. 271. 62 Brunner, Psychiatrie (wie Anm. 56), S. 271 f.

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paranoid, ein Wort, das weniger in die Glieder fährt, wie seine Schule besteht aus gleichfalls verrückten und selber kranken, sagen wir paranoiden Anhängern, die sich in ihrem Wahn so wohl fühlen wie in ihrem Bett.63

Brunner meint, dass die Psychoanalyse die Gefahr berge, „Gesunde zu verwirren und krank zu machen“. Er glaubt zwar, „daß Freud persönlich einige Wunder vollbringen kann“, aber er hält seine Psychoanalyse, „wie sie in Büchern vorliegt“ für „keine Psychiatrie“. Das „obere Stockwerk der Heilkunde“ stehe „immer noch unbewohnt“ da.64 Brunners Ablehnung der Psychoanalyse und Lou Andreas-Salomés Zuwendung zu ihr können nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide von ähnlichen Voraussetzungen aus denken. Denn nicht anders als Brunner bekennt sich auch Andreas-Salomé später noch in ihren psychoanalytischen Schriften zur Notwendigkeit des philosophisch-ganzheitlichen Ausgangspunktes: „Wir bleiben, auch sogar als Antiphilosophen, eben zur Philosophie geboren – d.h. zur Nötigung, begrifflich Betrachtetes und Innenerlebtes zu bildhaftem Ausgleich zu bringen, der Denken und Fühlen ineinanderdrängt.“65 Der Hingabe an die großen Fragen, dem uneingeschränkten Erleben auch noch der größten Widersprüche, die sich schmerzvoll zwischen dem ideal Verorteten und dem Menschlich-Allzumenschlichen in konkret empfundenen ,Gedanken-Erlebnissen‘ auftaten, gebührt der Respekt und das Verständnis, wie es Lou Andreas-Salomé Brunner und Nietzsche trotz ihrer ambivalenten Zuschreibungen an ihre Person entgegenbracht hat. Und dieses Ganzheitliche, Unkonditionierte ihres Denkens war es wohl umgekehrt auch, was Nietzsche und Brunner gleichermaßen an ihr fasziniert haben muss.

63 Brunner, Psychiatrie (wie Anm. 56), S. 272. 64 Brunner, Psychiatrie (wie Anm. 56), S. 272 f. 65 Andreas-Salomé, Dank (wie Anm. 44), S. 276.

Helmut Braun

Rose Ausländer als Mitglied des Brunner-Kreises Die 1901 in Czernowitz, damals zur Monarchie Österreich-Ungarn gehörend, geborene Rose Ausländer (Rosalie Beatrice Ruth Scherzer)1 flüchtete während des Ersten Weltkriegs mit ihrer Familie 1915 zunächst nach Budapest, dann nach Wien. Dort besuchte sie erfolgreich die Germinal-Handelsschule der Wiener Kaufmannschaft und erwarb einen Abschluss in einem Handelsgewerbe. Da der Vater in Wien keine materielle Existenz aufbauen konnte, kehrte die Familie Anfang 1919 in die mittlerweile zu Rumänien gehörende Stadt Czernowitz zurück. Rose Ausländer arbeitete dort als Büroleiterin bei dem jüdischen Rechtanwalt Dr. Markus Schmetterling. Sie hatte schon früh durch ihre Mutter Interesse an Literatur entwickelt und den Philosophen Baruch Spinoza für sich entdeckt. Als ein Dr. Friedrich Kettner2 Vorträge zur Philosophie ankündigte, was für die unter den Folgen des Ersten Weltkriegs leidenden Czernowitzer eine der ersten Möglichkeiten war, sich über Privates hinaus wieder kulturellen Themen zu widmen, ging sie zu Vorträgen über Constantin Brunner und Spinoza. Sie war davon so beeindruckt, dass sie sich einer Gruppe überwiegend junger Menschen anschloss, die später als „Ethisches Seminar“ bezeichnet wurde. Leo Sonntag, einer der führenden Seminaristen, schrieb in einem Brief an Gerhard Reiter, Rose Ausländer sei bereits sehr früh Mitglied dieses Studienkreises geworden.3 Sie blieb Mitglied bis zu ihrem Aufbruch in die USA am 1. April 1921. Den späteren Zerfall und die Auflösung des Studienkreises hat sie nicht miterlebt, darüber auch nur spärliche und unvollständige Informationen erhalten. Auf einem Foto, datiert auf 1920, auf dem eine Gruppe von Seminar-Teilnehmern abgebildet ist, findet sich in der letzten

1 Helmut Braun: Ich bin fünftausend Jahre jung – Rose Ausländer. Zu ihrer Biografie. 2. Aufl. Stuttgart 2003. 2 Friedrich Kettner hieß eigentlich Schulem Katz. Er war Deutschlehrer an einer Mittelschule in Czernowitz, wanderte 1923 in die USA aus und starb 1957 in New York. Zu seiner Biographie siehe weiter: Constantin Brunner: Ausgewählte Briefe 1884–1937. Hg. von Jürgen Stenzel und Irene Aue-Ben-David. Göttingen 2012, S. 341–358. 3 Brief von Leo Sonntag an Gerhard Reiter vom 2. Juli 1979; Kopie im Archiv der Rose Ausländer-Stiftung, Köln. www.roseauslaender-stiftung.de (22.06.2013). Zu Leo Sonntag siehe: Leo Sonntag: Ein jüdisches Emigrantenschicksal. Hg. von Jürgen Stenzel. Essen 1994 (Brunner im Gespräch 1).

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 Helmut Braun

Reihe als Zweite von links die junge Dichterin.4 Für sie hatte der Brunner-Kreis auch privat Bedeutung, lernte sie hier doch Ignaz Ausländer (1900–1984) kennen, den sie am 19. Oktober 1923 in New York heiratete. In den Jahren 1919 und 1920 befasste sich der Kreis hauptsächlich mit Constantin Brunners Die Lehre von den Geistigen und vom Volk und zunehmend intensiver mit Spinozas Ethik. Die kurzzeitige Beschäftigung mit Platon in diesem Kreis reichte Rose Ausländer offenbar nicht aus. Sie besuchte zudem die wöchentlichen Vortragsabende zur Philosophie des Universitätsprofessors Karl Siegel im Czernowitzer Rathaussaal und schrieb sich für drei Semester als Gasthörerin an der Universität Czernowitz ein, belegte Vorlesungen für Literatur und Philosophie und im Sommersemester 1920 ein Seminar eben des Professors Siegel über Platons Phaidros.5 Die Seminararbeit, die sie zu diesem Werk schrieb, ist im Manuskript erhalten geblieben und wurde 1995 im Rahmen einer Werkausgabe publiziert.6 Sie trug diesen Text nicht nur im Universitätsseminar vor, sondern auch im Ethischen Seminar, wie eine Postkarte von Lothar (Eliezer) Bickel belegt. Dort heißt es: „Denkst du noch zuweilen an jenen 8. Mai [1920] in der Str. Paleologen [hier war in der Mittelschule, an der Kettner Deutschlehrer war, das Ethische Seminar untergebracht; Anmerkung H.B.], wo wir, bei bereits angebrochenem Morgen über den Phaidros und die künstlerische Inspiration sprachen?“7 Im PhaidrosAufsatz interpretierte Rose Ausländer den Begriff „Amor Dei als schöpferischen Trieb zur Wahrheit“. Damit entspricht sie dem von Brunner vorgestellten Endziel der Wahrheit des Lebens und des Denkens. Ein fast gleichzeitig frühes – möglicherweise erstes – entstandenes Gedicht mit dem Titel Amor Dei definiert diese Wahrheit als die Einheit alles Seienden.8

4 Foto in Eli Rottner: Das Ethische Seminar in Czernowitz. Die Wiege des internationalen Constantin-Brunner-Kreises. Dortmund 1973, S. 41. 5 Gerhard Reiter: Das Eine und das Einzelne – Zur philosophischen Struktur der Lyrik Rose Ausländers in: Rose Ausländer – Materialien zu Leben und Werk. Hg. von Helmut Braun. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1996, S. 154–197, S. 159 und Verzeichnis der Vorlesungen und Seminare für das SS 1920 im Archiv der Universität Tschernivzy. 6 Rose Ausländer: Phaidros. In: Dies.: Die Nacht hat zahllose Augen. Prosa. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 2008, S. 63–87. 7 Postkarte von Lothar Bickel (Bukarest) an Rose Ausländer (Czernowitz) vom 1. März 1942. Original im R. Ausländer-Nachlass im Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf. Lothar Bickel war nach der Emigration Kettners der führende Kopf des Brunnerkreises in Osteuropa. Siehe Brunner, Briefe (Anm. 2), S. 358 f. 8 Reiter, Das Eine (wie Anm. 5), S. 159.



Rose Ausländer als Mitglied des Brunner-Kreises  

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1923 gründeten Rose Ausländer, Irving (Ignaz) Ausländer9 und Walter Bernard10 in New York einen Constantin Brunner-Kreis, der rasch Zulauf weiterer Interessenten fand und sich im Laufe weniger Jahre auf etwa 200 Mitglieder erweiterte.11 Einige dieser Mitglieder, unter ihnen auch Rose Ausländer, nahmen brieflichen Kontakt zu Brunner auf. Ende 1923 stieß auch Friedrich Kettner zu diesem Kreis in New York und übernahm dessen Leitung.12 Dass das Ethische Seminar in Czernowitz inzwischen aufgelöst war, blieb den New Yorkern noch bis 1924 verborgen. Kettner wurde unter anderem die Selbsttötung einer Seminarteilnehmerin und der Wahnsinn zweier männlicher Seminaristen angelastet.13 Schwerwiegender für die Seminarteilnehmer war allerdings, dass Kettner versuchte, eine eigene Philosophie zu entwickeln, diese lehrte und sich mit einem Geniekult umgab.14 Daraufhin distanzierte sich Brunner von ihm, und das Ethische Seminar löste sich auf.15 Leider gab Brunner Kettner trotzdem schriftlich empfehlende Grüße an Rose Ausländer mit: „Meiner lieben Rosa Scherzer, ich schicke dir durch unseren lieben Kettner einen herzlichen Gruß, Brunner.“16 Und Eli Rottner, der in Czernowitz im Brunnerkreis in eine führende Rolle geraten war, schrieb an den New Yorker Kreis: Liebe Freunde! Ich freue mich, dass unser lieber, nierastender Bruder Kettner zu Euch kommt. Es ist gut so und ich hoffe Freude und Segen für ihn und auch für Euch. Fährt er doch, weil ihn drängt das Werk unseres Meisters Brunner! Was war, kommt nicht wieder

9 Ignaz Ausländer amerikanisierte seinen Vornamen 1923 in New York zu Irving. Er wurde 1900 in Czernowitz geboren, Mitglied im „Ethischen Seminar“ 1921–1922; 1922 Übersiedlung nach New York; Mitglied im New Yorker Brunnerkreis. Von 1923–1930 verheiratet mit Rose Ausländer. 1984 in New York verstorben. 10 Bernard war 1920 in die USA emigriert und wurde dort mit einer Arbeit zu Brunner promoviert: Walter Bernard: The Philosophy of Spinoza and Brunner. New York 1934. Zu seinen weiteren Arbeiten und seiner Biographie siehe Walter Bernard: Spinozas Bedeutung für die moderne Psychologie. Hg. von Jürgen Stenzel und Georg Schmidt. Essen 1995 (Brunner im Gespräch 3). 11 Brief von Walter Bernard an Gerhard Reiter vom 10. Juli 1979. Kopie im Archiv der Rose Ausländer-Stiftung. 12 Rottner, Seminar (wie Anm. 4), S. 62, Brief von Walter Bernard (siehe Anm. 11). 13 Rottner, Seminar (wie Anm. 4), S. 58 f. und Brief von Alfred Kittner an Gerhard Reiter vom 25.05.1979. Kopie im Archiv der Rose Ausländer-Stiftung. 14 Rottner, Seminar (wie Anm. 4), S. 59–62. 15 Rottner, Seminar (wie Anm. 4), S. 95–98. (Brief von Constantin Brunner an Ignaz Ausländer vom 24.03.1924). 16 Brief Constantin Brunners an Rose Ausländer, undatiert [November 1923]. Original im Archiv des Leo Baeck Institut / Archiv im Jüdischen Museum Berlin, Constantin Brunner Collection (= LBI/JMB): II, 1, 6.

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und Gutes, Reines, Einfaches, möge uns alle beseelen, es sei so. Ich grüße Euch alle von Herzen und bin Euer Rottner.17

Nicht nur fällt der seltsam religiöse Ton dieser Empfehlung auf, auch muss sie später Rottner so peinlich gewesen sein, dass er sie in seinem Buch Das ethische Seminar in Czernowitz,18 in dem er sich als mit Kettner seit Ende 1922 überworfen darstellt,19 verschweigt. Kettner nutzte den New Yorker Kreis, um seine eigene Philosophie zu verbreiten und sich an Spenden der Mitglieder, die er für alle möglichen guten Zwecke einsammelte, zu bereichern.20 Davon irritiert wandte sich Ignaz Ausländer im Februar 1924 direkt an Brunner und fragte nach, was es mit Kettners Philosophie auf sich habe. Brunner antwortete am 19. März 1924 und stellte klar, dass er sich längst von Kettner distanziert habe und dieser auch nicht mehr durch ihn autorisiert sei, die Brunnersche Lehre weiter zu verbreiten.21 Die aus der Bukowina stammenden Mitglieder des New Yorker Brunnerkreises trennten sich daraufhin von der Gruppe und studierten in kleiner Gemeinschaft philosophische Schriften, wobei Spinoza und Brunner für sie immer im Vordergrund standen.22 Kettner aber scharte die verbleibenden Gruppenangehörigen unter dem Namen „Erste Spinoza-Gruppe“ um sich, für die er „jeden Abend nach 8 Uhr“ eine Zusammenkunft in seiner Wohnung „1001 East 167th Street, Bronx. N.Y. City“ anbot.23 Kurze Zeit später gewann er mit dem Multimillionär Nicholas Roerich einen großzügigen Mäzen für seine Sache. Er überließ Kettner eine Etage in seinem Roerich Museum zur Einrichtung des „Spinoza-Institute New York“, in dem Kettner forschen, schreiben und lehren konnte, veröffentlichte seine Schrif-

17 Brief Eli Rottners an den Brunnerkreis in New York, undatiert. Original im Nachlass Rose Ausländer, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf. Der spätere Diplom-Volkswirt Eli Rottner (Edward Rudnicki) war Mitglied im Ethischen Seminar in Czernowitz. Zu seiner Biographie siehe Brunner, Briefe (wie Anm. 2), S. 356 f. Er veröffentlichte die Bücher: Rottner, Seminar (wie Anm. 4) und: Aus Spinozas Heimat und Constantin Brunners letzter Zufluchtstätte (Eindrücke), Dortmund 1973. 18 Rottner, Seminar (wie Anm. 4), S. 54–59. 19 Rottner, Seminar (wie Anm. 4), S. 54–57. 20 Bernard, Spinozas Bedeutung (wie Anm. 11), Alfred Kittner, Tonaufnahme vom 21.04.1988. 21 Brief von Constantin Brunner an Irving Ausländer. In: Rottner, Seminar (siehe Anm. 4), S. 95–98. 22 Brief von Walter Bernard an Gerhard Reiter vom 10. Juli 1979. Kopie im Archiv der Rose Ausländer-Stiftung. 23 Werbebroschüre, ohne Autor, ohne Ort, ohne Datum. Original im Archiv der Rose AusländerStiftung.



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ten in der Roerich Museum Press, New York24 und ermöglichte dem Biosophen Kettner ein von materiellen Sorgen freies Leben.25 In Rose Ausländers Nachlass haben sich zehn Briefe von Constantin Brunner und sechs Briefe von Lotte Brunner erhalten.26 Ein weiterer Brief war Rose Ausländer so wichtig, dass sie ihn in ein Notizbuch eingetragen hat, welches noch heute vorhanden ist.27 Leider hat Brunner alle an ihn gerichteten Schreiben vernichtet, so dass kein kompletter Briefwechsel vorliegt. Brunner schrieb in seinen Briefen die Dichterin als „Mein liebes Kind“ an, sie soll, so erzählte es Walter Bernard, ihn mit „Verehrter Meister“ angesprochen haben.28 Ein beliebtes Ausflugsziel der New Yorker waren und sind die Niagarafälle. Unweit der Stadt New York gelegen, an der Grenze des amerikanischen Bundesstaats New York und der kanadischen Provinz Ontario, verbindet der Niagara River den Eriesee mit dem Ontariosee. Die im Fluss gelegene Insel Goat Island spaltet den Wasserfall in einen amerikanischen und einen kanadischen Teil. Das „donnernde Wasser“, so der Name Niagara in der Sprache der Ureinwohner, stürzt in einer Breite von 1.155 Metern bis zu 52 Meter in die Tiefe. Rose Ausländer, ihr Ehemann und einige Freunde machten im Juli 1926 einen Ausflug zu den Niagarafällen. Zwei Dutzend vergilbte Fotografien zeigen die Ausflügler an verschiedenen Aussichtspunkten am Wasserfall.29 Sie gehörten zum Inhalt eines Koffers, den die Dichterin 1968 in New York nach einem Besuch bei ihrem Bruder Max Scherzer zurückließ. Heute befinden sie sich im Bestand des Rose Ausländer-Archivs in Köln.30 Die Poetin war von dem Naturschauspiel so beeindruckt, dass sie noch an Ort und Stelle ein Gedicht schrieb. Das Original des Typoskripts ist noch heute

24 Frederick Kettner: Spinoza, the Biosopher. New York 1932. 25 Kettners „Biosophie“ ist eine vermeintliche Weiterführung der Philosophie Spinozas. Er gab an, die vierte Erkenntnisgattung erreicht zu haben, die erst die vollkommene, höchste Einsicht gewähre: die von ihm sogenannte Integratio. In Brunnerkreisen nannte man ihn daraufhin den „Sokrates der Bukowina“. Brief von Leo Sonntag an Gerhard Reiter vom 2. Juli 1979. Kopie im Archiv der Rose Ausländer-Stiftung, Köln. www.roseauslaender-stiftung.de (22.06.2013). 26 Der Nachlass befindet sich im Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf; dort sind die Briefe in Kopien vorhanden. Die Originale befinden sich im LBI/JMB: II, 1, 6. 27 Blaues Notizbuch im Rose Ausländer-Nachlass, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf. Die Eintragung erfolgte vermutlich 1945 in Vorbereitung der Ausreise von Czernowitz nach Rumänien (Stempel der Sowjetischen Zensur vom Oktober 1945 im Notizbuch). 28 Brief von Walter Bernard an Gerhard Reiter vom 10. Juli 1979. Kopie im Archiv der Rose Ausländer-Stiftung; mündliche Angabe Rose Ausländers an den Verfasser. 29 Nur Rose Ausländer und ihr Ehemann Irving sind auf den Fotos identifiziert. 30 Im Heinrich-Heine-Institut befindet sich ausschließlich der Nachlass von Rose Ausländer. Die Sammlung – Dokumente, Briefe usw. aus anderen Quellen – wird in der Rose AusländerStiftung in Köln aufbewahrt.

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vorhanden.31 Das Blatt ist datiert auf den 27.–28. Juli 1926. Der Titel des Gedichtes lautet Vor dem Niagara-Fall (American Fall). Die Strophen sind von Rose Ausländer signiert und Constantin Brunner gewidmet. Das Gedicht umfasst fünf Strophen, viermal mit fünf, einmal, die letzte Strophe, mit sechs Versen. Es enthält handschriftliche und maschinengeschriebene Korrekturen: Vor dem Niagara-Fall (American Fall). Ein wildes Tosen braust mir dumpf entgegen Und zieht dämonisch mich in seine Runde. Ich steh erstarrt. Aus Elementesmunde Stürzt keuchend, brüllend und mit mächtigen Schlägen Herab des Kataraktes Donnerregen. Herangewälzt in schweren, breiten Gassen Zerpeitschen grünlich-graue Wassermassen Die hohen Wände und die Felsterrassen, Und wie ein Glorienschein, dem Licht entflogen Umgürtet blitzend sie ein Regenbogen. Aus weißer Nebelschleier Wolkenwallen Zerstiebt das Dunstgewoge weit im Fallen, Um mit Gedröhn die Welt zu überschallen Und zischend bäumen hoch sich Gischt und Fluten Und überschäumen sich in kühlen Gluten. Und siegend, wie ein Gott stürzt in sein Bette Der majestätische Höhenstrom hinab, Millionenmal zu sterben eilt dem Grab In tollem Wirbelspiel er zu, als hätte Er froh den Tod gewählt in kühner Wette. O mächt‘ger Strom, du ew’gen Schaffens Zeichen! Du grollst und rollst und suchst dir zu entfliehen; Dich lockt das Ziel, doch wirst du‘s nie erreichen, Denn: bist du da, wird es dich weiterziehen – – – Du Bild des Kämpfens, Sterbens, Neuerhebens: Wie bist du grausam schön, du Bild des Lebens!32

31 Rose Ausländer: Vor dem Niagara-Fall (American Fall). Archiv der Rose Ausländer-Stiftung. Spätere Fassungen sind im Rose Ausländer-Nachlass im Heinrich-Heine-Institut vorhanden. 32 Das Gedicht verschwand aus unbekannten Gründen zwischen anderen Manuskripten und wurde erst im Rahmen der Herausgabe ihres Gesamtwerks 1985 in Buchform veröffentlicht. Eine



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Als Beilage zu einem Brief schickte Rose Ausländer ihr Gedicht an Constantin Brunner. Er antwortete ihr begeistert: „Aber dein Gedicht ,Niagara-Fall‘ bewegt mich. Nun hab ich dort mit dir gestanden und habe dich deutlicher gesehen.“ Er bat, sie möge ihm weitere Gedichte senden.33 Diesem Wunsch kam sie gerne nach.34 1926 erhielt Rose Ausländer die amerikanische Staatsbürgerschaft. Als Amerikanerin machte sie sich gemeinsam mit ihrem Ehemann im Oktober jenes Jahres auf, die Verwandten und Freunde in Czernowitz zu besuchen. Die beiden unterbrachen die Reise für etwa sechs Wochen in Berlin, wo sie bei einer Familie Tauscher wohnten. Arno Tauscher, der ebenfalls ein Verehrer des Philosophen war, ist ein Verwandter der Poetin mütterlicherseits. Häufig besuchte sie in dieser Zeit Constantin Brunner und lernte dabei auch Lotte Brunner, die Stieftochter des Philosophen, kennen.35 Zu dieser entstand ein freundschaftliches Verhältnis. Für Irving Ausländer war es nicht der erste Besuch bei Brunner. Bereits 1924 hatte er ihn in Potsdam besucht. Davon zeugt eine Karte, die Brunner, seine Stieftochter Lotte, Irving Ausländer und andere gemeinsam an Rose Ausländer in New York schrieben. Brunner bedankte sich darin für eine Geldzuwendung und schrieb: „Nimm zu an Pfunden und Dollars“.36 Das Ehepaar Ausländer hatte ihn über mehrere Jahre mit Geldzuwendungen unterstützt. Diese Anmerkung Brunners aufgreifend schrieb Irving:

leicht überarbeitete spätere Fassung erschien in: Rose Ausländer: Denn wo ist Heimat? Gedichte 1927–1947 aus dem Nachlass. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 2010, S. 11. 33 Brief Constantin Brunners an Rose Ausländer, undatiert [1926]. Original im LBI/JMB: II, 1, 6. Rose Ausländer hat diese Stelle in etwas anderem Wortlaut („Nun habe ich neben dir gestanden und die Wassermassen stürzen sehn.“) in das Blaue Notizbuch (wie Anm. 27) eingetragen. 34 Nach mündlicher Angabe Rose Ausländers sandte sie „ein gutes Dutzend Gedichte bis 1931“. Drei Gedichte sind durch Anmerkung Constantin Brunners auf den Manuskripten gekennzeichnet: Himmelsspiel, S. 10; Schöpfung und Tod, S. 13 und Oktobermeditation, S. 28 in: Ausländer, Heimat (wie Anm. 32). In einem Brief antwortet Brunner: „Gute; Dank für diese Gedichte, die mir auch lieb sind. Doch bin ich überzeugt, daß du noch bessere hast und nicht schicktest nur, weil du schicken solltest und gemeint hast, du müßtest nach einer bestimmten Himmelsrichtung aussuchen. Übrigens ist auch selbstverständlich, daß, wer überhaupt dichten kann, die eigentliche Gnade immer nur in ganz Wenigem aus einem Haufen hat.“ (Brief Constantin Brunners an Rose Ausländer, undatiert [Ende April 1927]. Original im LBI/JMB: II, 1, 6.) 35 Lotte Brunner, geboren 1883 – ermordet 1943. Renate Stolte-Batta: „… dass ich zur Menschheit gehöre.“ Lotte Brunner (1883–1943). Eine Biographie. Norderstedt 2012. 36 Briefkarte von Irving Ausländer mit Zuschriften von Constantin Brunner, Lotte Brunner und fünf weiteren Personen an Rose Ausländer, ohne Datum. Original im Archiv der Rose AusländerStiftung.

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Nimm zu an Pfunden vor allem, mein teuerstes Kindchen! Ich bin überglücklich, in solchem Kreise zusammen zu sein; meine Zunge ist mir zugeschürt und mein Herz klopft so stark. Du kannst Dirs denken, wie ich fühle in dieser Nähe vom Meister zu sein. Ich bin mit dir stets und gelobe es in dieser Stunde von ganzer Herzenstiefe. Dein Irving37

Tatsächlich hat es in der Ehe der Ausländers bald gekriselt. Brunner versuchte zu raten und zu helfen. Dass er in entsprechenden Briefen Rose Ausländer aufforderte, die „Ehe als Kameradschaft“ zu sehen und ihren Ehemann als „guten Kameraden“, mag den Vorstellungen des asexuell lebenden Philosophen entsprochen haben, war für sie aber nicht akzeptabel.38 Sie erklärte: „Ich habe mich in der Ehe gelangweilt. Langeweile kann ich nicht ertragen“.39 In einem Schreiben vom 5. Dezember 1926 bat Lotte Brunner Rose Ausländer, eine Schriftprobe von ihr dem in Czernowitz lebenden Graphologen Helios Hecht (1887–1948) zu überbringen. Sie habe dessen Charakteranalysen aufgrund von Schriftproben in einer Berliner Zeitung gelesen und nun Interesse, selbst eine solche Analyse zu bekommen. Sie wollte auch gegenüber Hecht anonym bleiben und wählte deshalb den Weg des persönlichen Überbringens durch die Freundin.40 Rose Ausländer erfüllte die Bitte und lernte bei der Übergabe den ihr bis dahin unbekannten Hecht kennen. Hals über Kopf verliebte sie sich in ihn, und da er ihre Liebe erwiderte, trennte sie sich kurzentschlossen von Irving Ausländer, der drei Monate später alleine nach New York zurück reiste. Mit Hecht lebte sie die folgenden sieben Jahre zusammen; von Irving Ausländer wird sie 1930 geschieden, behielt den Ehenamen Ausländer aber bei. Am 12. Februar 1927 bedankte sich Lotte Brunner brieflich bei Rose Ausländer „für die Besorgung der Schriftprobe an H.“41 und am Karfreitag [1927] schrieb sie: „Die Skizze von H. ist leider vollkommen unzutreffend. Schade nur darum, weil mich die Art seiner psychologischen Betrachtungen in der Zeitschrift sehr anzog und ich infolgedessen enttäuscht bin.“42 1931 erfolgte erneut ein kurzer Besuch Rose Ausländers bei Brunner in Berlin. Aus diesem Jahr stammt auch der letzte (erhaltene) Brief Brunners. Weitere Kon-

37 Briefkarte von Irving Ausländer mit Zuschriften von Constantin Brunner, Lotte Brunner und fünf weiteren Personen an Rose Ausländer, ohne Datum. Original im Archiv der Rose AusländerStiftung. 38 Brief von Constantin Brunner an Rose Ausländer (siehe Anm. 16) 39 Zitat aus einem Gespräch mit Peter Assall, gesendet am 1. Januar 1978 im SWF. 40 Sechs Briefe von Lotte Brunner befinden sich als Kopien im Nachlass von Rose Ausländer im Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf. 41 Ebd. 42 Ebd.



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Abb. 1: Constantin Brunner-Kreis in Bukarest, ca. 1948 (Quelle: Archiv der Rose AusländerStiftung)

takte zwischen Constantin Brunner und Rose Ausländer sind zurzeit nicht nachweisbar. Von Anfang 1934 bis August 1939 lebte die Lyrikerin in Bukarest. Sie hatte dort eine gut bezahlte Arbeitsstelle als Fremdsprachenkorrespondentin in einer englischen Firma, die mit Erdöl handelte, gefunden. Sie schloss sich dem dortigen von Lothar Bickel geleiteten Constantin-Brunner-Kreis an.43 Im Nachlass von Rose Ausländer befindet sich ein Foto mit vierzig Mitgliedern dieser Gruppe. Armin Costa (1905–1998), der als jüngstes Mitglied 1922 zur Studiengruppe in Czernowitz gestoßen war und in den 1930er Jahren als Frauenarzt in Bukarest

43 Dr. Lothar Bickel, (Mediziner), wurde 1902 in der Bukowina geboren und starb 1951 in Kanada. Er war Mitglied im Ethischen Seminar und gründete 1939 den Brunner-Kreis in Bukarest, den er bis April 1949 leitete. Er stand Brunner sehr nahe und wurde von diesem als Nachlassverwalter bestimmt. In dieser Funktion gab er 3 Bände aus dem Nachlass heraus. Von ihm erschienen fünf eigene philosophische Werke.

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lebte, erkannte bei einem Gespräch 1995 in Düsseldorf, den in der Mitte der Bukarester Gruppe stehenden Lothar Bickel, eingerahmt von Koka Stier und Gabriel Stier.44 In der letzten Reihe sind unter anderem Rose Ausländer und das Ehepaar Wiegler zu sehen. Wie die schon erwähnte Karte aus dem Jahr 1942 und andere Hinweise belegen, gab es gelegentliche Kontakte zwischen Bickel und Ausländer noch bis zu dessen frühen Tod im Jahre 1951.45 1943 – Rose Ausländer war der Deportation in die Lager in Transnistrien entgangen und hielt sich seit einigen Monaten in einem Keller in Czernowitz versteckt – schrieb sie anlässlich des 6. Todestages von Brunner in einer Betrachtung, deren Manuskript der Vernichtung entgangen ist: Zum 28. August 1943 Wie hilft mir Constantin Brunner in dieser Zeit? Wie hilft mir Constantin Brunner in der Selbsterziehung? Schön formulierte zwei Themen, die sich mir zu einem verschmelzen: Selbsterziehung in dieser Zeit, und wenn ich noch näher zusehe, ist es die Selbsterziehung in jeder Zeit. Entscheidend ist für mich daher nach der Selbsterziehung unter dem Einflusse Brunnerscher Ideen. […] So auch sage ich mir jetzt immerzu: Du träumst, du liegst in tiefem Schlaf, und ein Alpdrücken liegt auf dir – aber es kommt, es kommt ein großes Erwachen, ein großes Wachsein! Selbsterziehung? Nein: Erziehung zum Selbst. Wie hilft mir Brunner in dieser Zeit? Er zeigt mir: Sie ist ein Traum, ein langer schwarzer – aber es kommt das Erwachen deines Selbst, zur Helligkeit, zur Zeitlosigkeit!46

1946 emigrierte Rose Ausländer erneut in die USA. Dort gründete sie mit Abraham Suhl,47 Walter Bernard und einigen anderen einen in New York und Palästina/ Israel angesiedelten Constantin-Brunner-Studienkreis, der sich 1955 in eine New Yorker und eine israelische Gruppe spaltete. Man studierte zunächst gemeinsam das Werk Materialismus und Idealismus von Brunner. Die Gruppe wurde aber immer kleiner, die Treffen immer seltener. Mit dem Tode Suhls 1957 löste sich die New Yorker Gruppe auf. Die Herausgabe der hektografierten Zeitschrift Der Constantin Brunner Gedanke wurde eingestellt.48 Im 1. Jahrgang und 1. Heft dieser

44 Gesprächsteilnehmer Dr. Costa, seine Ehefrau, Helmut Braun am 17. März 1995 in der Wohnung des Ehepaares in Düsseldorf. Das Foto befindet sich im Archiv der Rose Ausländer-Stiftung. 45 Rückschlüsse hierauf ergeben sich u.a. aus dem Briefwechsel Rose Ausländers mit Abraham Suhl; Bickels Adresse und Telefonnummer stehen in einem handschriftlich geführten Telefonbuch von Rose Ausländer. Rose Ausländer-Nachlass, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf. 46 Rose Ausländer: Zum 28. August 1943. In: Dies., Nacht (wie Anm. 6), S. 88–90. 47 Sieben Briefe von Abraham Suhl aus der Zeit von 1947–1957 sind im Nachlass von Rose Ausländer vorhanden. Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf. 48 Der Constantin Brunner Gedanke, hektografierte Broschüren. Hg. von Dr. R. Pinner (Nathanya, Israel) und Dr. A. Suhl (New York, USA), erschien in Kleinstauflage von August 1955 bis 1957.



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Schrift erschien 1955 als Erstdruck Rose Ausländers Gedicht Constantin Brunner (In Memoriam), welches stilistisch der Schreibperiode der späten 1930er Jahre zuzuordnen ist. Constantin Brunner (In Memoriam) Sein Schritt war leicht beschwingt und sein Gesicht belebt von starkem innerlichem Licht. Wenn er erzählte, war der Raum erfüllt von einem Glanz, durch seinen Mund enthüllt, und eine Dichtung von ihm vorgelesen, ward geistbeseeltes, fleischgewordnes Wesen. Er sah der Welt unendliche Gestalten zu einem Ganzen sich zusammenfalten, sah, was getrennt schien, heimlich sich verbinden und sich in einem Wesen wiederfinden. Und sah den Riss: den Geist entzweigerissen; und sonderte das Licht von Finsternissen. Doch seine Brüder sah er leben, leiden und mochte sie nicht nach der „Lehre“ scheiden. Er liebte sie, wie Christus seine Sünder und wie ein Vater gute, böse Kinder. Und ward geliebt von allen, die ihn kannten und in Verehrung ihren Meister nannten. Denn was er schuf in allen seinen Jahren, ist Werk der Liebe und des Wunderbaren.

Rose Ausländer blieb weiterhin mit Mitgliedern des Brunner-Kreises in Kontakt. Auf ihrer Europareise im Mai 1957 traf sie zum Beispiel Leo Sonntag in Paris. Vorausgegangen war ein kurzer Briefwechsel, in dem sie Sonntag bat, für sie im Mai 1957 einen Gesprächstermin mit Paul Celan zu vereinbaren.49 Mit Walter Bernard

49 Mit Paul Celan war Rose Ausländer in Czernowitz gut bekannt. Von 1944 bis 1945 tauschten sie sich etwa ein Jahr lang regelmäßig über ihre Gedichte und Übersetzungen englischer

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hatte die Dichterin bis 1963 in New York Kontakt. Sie besaß dessen 1934 erschienenes Buch The Philosophy of Spinoza and Brunner. Bernard und seine Frau gewährten ihr mehrfach Unterkunft, wenn sie auf Wohnungssuche war, letztmalig im November/Dezember 1957 nach ihrer Rückkehr von einer Europareise. Auf Werbeschreiben bezüglich der Neuausgaben der Brunner-Werke und der beiden Bücher Rottners reagierte sie mit dem Kauf der Bücher, die sie aber offensichtlich nicht mehr gelesen hat. Auf Eli Rottners umfangreichen Brief aus dem Jahr 1973 antwortet sie nicht mehr.50 Dies bedeutet keinesfalls eine Distanzierung zu Brunner, dessen Gedanken sich bis Anfang der 1980er Jahre in ihren Gedichten finden. Wohl aber waren ihr die Freunde und Bekannten aus den Brunnerkreisen und dem Umfeld Brunners zunehmend gleichgültig geworden. Rose Ausländer bekannte sich in ihren Texten zu Brunner, zum Beispiel wenn sie feststellte: „Benedikt Spinoza und der große Berliner Denker Constantin Brunner haben meinem Denken ein Fundament gegeben.“51 Die Philosophie Brunners und Spinozas haben erheblichen Einfluss auf ihr Dichten ausgeübt. Bezüglich Brunner hat dies Gerhard Reiter in einem umfangreichen Essay, in dem er u.a. 63 Brunners Werk betreffende Zitate in den Gedichten der Poetin nachwies, getan.52 Bezüglich Spinoza tut dies Maria Behre in der für Mai 2015 geplanten Publikation Mein Heiliger heißt Benedikt – Rose Ausländer und die Philosophie.53 Vielleicht ist ein so großer Einfluss philosophischer Werke, dabei müssen wir auch noch Plato, Schopenhauer, Nietzsche u.a. beachten, auf ein lyrisches Gesamtwerk, wie wir dies bei Rose Ausländer feststellen können, in der westlichen Welt solitär.

Gedichte aus. Die Treffen im Mai 1957 und im November 1957 waren die letzten persönlichen Begegnungen. 50 Brief von Mag. Eduard Rudnicki (Eli Rottner) an Rose Ausländer vom 08.02.1973. Rose Ausländer-Archiv. 51 Rose Ausländer: Alles kann Motiv sein. In: Ausländer, Nacht (wie Anm. 6), S. 92. 52 Reiter, Das Eine (wie Anm. 5), S. 154–197. 53 Mein Heiliger heißt Benedikt – Rose Ausländer und die Philosophie. Hg. von Helmut Braun. Erscheint in Aachen 2015.

Bernard Wasserstein

The Master and His Messenger. Lothar Bickel and the Brunnerian Cult “I love him because he speaks, like no other, out of holiness and profundity.”1 (Eliezer [Lothar] Bickel on Constantin Brunner, 1925)

Who were the Brunnerians? Where did they come from? Why did they embrace their esoteric doctrine? And why did they persist in their faith, often for the whole of their lives? They were young Jews, torn from their spiritual and social moorings by the ravages of the First World War and its revolutionary aftermath, assailed by venomous anti-Semitism that threatened to extrude them from the worlds in which they had grown up, and inspired by dreams of a new and radically refashioned world. They were avid for escape routes from the dead ends in which they found themselves in the nationalistic, post-imperial states of eastern Europe. Many of their generation embraced international socialism, in its various forms; others chose Zionism; some fell back on a heightened orthodox religiosity; and yet others sought salvation in an exaggerated effort at total assimilation in surrounding society. Successively disillusioned, individuals often oscillated from one to another of these points of magnetic attraction. Amidst the furore of competing ideologies, Constantin Brunner was one of several unconventional thinkers who attracted cult-like followings. Brunnerianism had been born with the vision that Brunner experienced in 1895 at the Elgin (Parthenon) marbles in the British Museum.2 But it was not until the 1920s that a Brunnerian movement emerged. Brunner was neither a missionary nor a propagandist. So what was it in his eclectic, mystical, universalist doctrine that won a small but devoted body of disciples for whom he became the “Master” of what was, in effect, a quasi-religious sect? His flock saw Brunner as the supreme intellectual figure of the age, on a par with Socrates or Spinoza. More, they viewed him as something close to a Paraclete or a saviour. To sceptics he might seem an empty windbag or a false messiah. Yet

1 Eliezer Bickel to Leo Sonntag, 28 Aug. 1925, typescript copy, Bickel-Brunner-Nachlass, Schweizerisches Literaturarchiv, Berne [henceforward BBN] 7.1, 20–23. 2 See Brunner to Max Nordau, 8 March 1910. In: Constantin Brunner. Ausgewählte Briefe 1884– 1937. Hg. von Jürgen Stenzel und Irene Aue-Ben-David. Göttingen 2012, p. 164.

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even detractors, while dismissing his claims as a philosopher, could not ignore that he had a following, small in number but intensely committed. The life and career of the foremost interpreter and advocate of Brunner’s doctrine affords us a glimpse into the inner world of the Brunnerians. *** Eliezer (as he was named on his birth certificate3, though he was later known as Lothar) Bickel was born in 1902, the second son of orthodox Jewish parents in Kisilev, a village in Bukovina, then a province of the Austrian empire. His father, Isak, was a poor liquor-store-owner, a “ben torah (son of the law), a maskil (follower of the Jewish enlightenment), Lover of Zion, and, furthermore, a fervent political Zionist” (as Eliezer’s elder brother, Shlomo, later described him).4 When Eliezer was six years old, his father sent him to live with his grandparents in Kolomea, in the neighbouring province of Galicia, where he remained for the next eight years. A gifted student, he gained entry to the local Polish gymnasium (academic high school). The outbreak of the First World War led much of the Jewish population of the area to flee westwards for fear of the depredations of the Russian soldiery. Unlike Shlomo, who served in the Austrian army, Eliezer was too young to be conscripted. His family moved to a small town, Maehrisch-Weisskirchen (Hranice) in Moravia, where he enrolled in the local gymnasium. Here he gave evidence of precocious intellectual agility. Although he had no Czech and little German, he ended his first year there top of the form. After the fighting was over, when his family returned home, Eliezer, aged sixteen, quarreled with his father, who wanted him to go into the family business. Instead, he moved to the home of his uncle in Czernowitz, the capital of Bukovina, which now became part of the kingdom of Romania. Czernowitz at that time was a cosmopolitan, multi-lingual city in which he encountered a turbulent intellectual and cultural life. He learned Romanian and finished his schooling at the local gymnasium. Like most educated Jews in Czernowitz, Eliezer spoke Viennese German, though “knead[ing] it” with an admixture of words in Yiddish and Ruthenian. As the Israeli writer Aharon Appelfeld, a native of Czernowitz, later recalled, the

3 Memoir by Meschulam Eisenstein, Leo Baeck Institute, New York, ME 119, 58. 4 Pinkas Kolomey. Ed. Shlomo Bickel. New York 1957, p. 313. For information about the Bickel family, I am grateful to Professor Peter Bickel.



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Jews there saw themselves as bearers “of German culture into the heart of eastern Europe”.5 Eliezer’s brother Shlomo was a leading figure in the Labour Zionist movement in Czernowitz, Poalei Tsiyyon. Lonely and initially friendless in the city, Eliezer joined a group of ten young men in the local cell of a more intellectually-oriented Zionist youth movement, Ha-shomer (The Guard). A fellow-member recalled that the shomrim met regularly to discuss “Jewish-national, social, religious, and even ethical problems”.6 They also studied Hebrew (ancient and modern) and Jewish history, with a view to preparing themselves for emigration to Palestine. Eliezer became a full-hearted member of the society. His Hebrew improved so fast that he was soon able to earn a little money by tutoring other students of the language – useful since his father, who wanted him to return home and help mind the family store, was unwilling, probably also unable, to pay for his further education. The circle of sensitive, serious, and idealistic youths, particularly its central core of five, became deeply devoted to one another. Quiet, pale-faced, and timid, Eliezer nevertheless impressed his fellows with his modesty, intelligence, and sincerity, though he later confessed that he was attracted to the group less by its ideals than by the girls who hung around its edges.7 Actually, the opposite sex played little part in his life at this time. Bickel’s relations with his male comrades, on the other hand, were inflamed with more than a whiff of romantic homoeroticism. Such intimate friendships among young men were not uncommon in German and other European youth movements of that period, though in Bickel’s case he expressed himself with exceptional intensity: “How I love you!” he wrote to one member of the group. “How I love you! I forswear all my vanity, all my pride, in the face of my love for you.”8 And in another letter: “Just come. You will soon be able to sleep. In the worst case at my place, in bed with me.”9 His correspondence of these years is littered with such billets doux.10 For Eliezer these were years of personal and spiritual turmoil. Together with many of his generation in Europe, he was profoundly impressed by the ideas of Nietzsche, particularly by his conception of the “Superman”, which he interpreted (or rather misinterpreted) as meaning the inevitable superiority of the phy-

5 Aharon Appelfeld: A city that was but is no longer. In: Ha’aretz (6 March 2008). See also Zvi Yavetz: Erinnerungen an Czernowitz: Wo Menschen und Bücher lebten. Munich 2007. 6 Eisenstein, memoir (see fn. 3), p. 1. 7 Eisenstein, memoir (see fn. 3), p. 2. 8 Bickel to Mosche Sternschuss (undated), BBN 7.1.A, 2. 9 Bickel to Mosche Sternschuss (undated), BBN 7.1.A, 8. 10 See BBN 7.1, passim.

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sically and spiritually strong over the weak. Then, abandoning Nietzscheanism, he embraced religious practice, laying tefillin (phylacteries) and reciting prayers early every morning before school. That phase did not last long either. Religion did not satisfy his questing spirit and after a short time he set aside his tefillin for ever. He was next attracted to materialism and, promoted to lead a small unit in his movement, evangelized for it to his fellow-members. For a time he embraced the pre-Marxist socialism of thinkers such as Saint-Simon and Fourier. Finally, he discovered Spinoza, whose thought became a lifelong obsession for him. In the summer of 1919 he was deeply affected by news of the killing of five shomrim, one of them a childhood friend, by Polish soldiers near Kolomea. In response, he wrote a eulogy in Hebrew of the hamisha nitsanim al admat nechar (“five young shoots on alien soil”): his first publication, it appeared in a Zionist magazine in Czernowitz.11 During these years Eliezer, with other members of his cohort in Czernowitz, fell under the influence of Friedrich Kettner, a teacher of philosophy in the gymnasium. Then in his mid-thirties, Kettner became a Pied Piper to young people, to whom he preached his doctrine of what he later came to call ‘biosophy’, a kind of syncretist, pacifist humanism. They discussed ethics, and, in particular, the ideas of Constantin Brunner whom Kettner pronounced a “reborn Spinoza”, a historical phenomenon comparable in importance to Jesus Christ, and “the central point of the twentieth century”.12 Kettner’s self-appointed role as Brunner’s prophet was facilitated by the fact that the philosopher himself lived far away in Potsdam and, at first, abstained from direct communication with his followers. Kettner, who visited him on trips paid for by subscriptions from the faithful, became his anointed intermediary. Eliezer was peculiarly receptive to Kettner’s teachings. He later described this time of his life as his mystical period, in which he “often enjoyed heavenly hours, absolutely problem-free and devoid of sense of self”.13 In a Hebrew letter to a friend, he wrote that he was at a crossroads: one road ahead was that taken by his brother – towards Zionism, the other that of Kettner.14 Under his inspiration, Eliezer and most of his comrades detached themselves from Ha-shomer. The

11 The incident is recalled in Eisenstein, memoir (see fn. 3), p. 8. 12 Kettner: Festrede zu Constantin Brunners 57. Geburtstag, Czernowitz, 28.8.1919. In: Eli Rottner: Das Ethische Seminar in Czernowitz. Dortmund-Hörde 1973, pp. 79 f. 13 Mein Weg. In: Lothar Bickel: Das Leben – Eine Aufgabe: Gesammelte Aufsätze. Zürich 1959, p. 285. 14 German translation of letter to M. Sternschuss, 1919, BBN 7.1, 1.



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secessionists became regular attenders at Kettner’s “ethical seminar”, established in 1919, which attracted as many as 140 students, all of them Jewish.15 Kettner’s introduction of his students to the works of Brunner had dramatic consequences. Bickel, in particular, was profoundly affected upon reading Brunner. One evening, while walking with a friend in Czernowitz, he came to the Great Synagogue. The moon was shining between dark clouds. Suddenly his companion noticed that something extraordinary seemed to be affecting Bickel. “Are you going to the Doctor?” he asked cautiously. “Yes, I am going to the King,” was the reply.16 As Bickel himself later testified, this was a veritable conversion experience that affected the rest of his life. At first, the students identified the teachings and persons of Kettner and Brunner almost indiscriminately (the “Doctor” was the “King” and the “King” was the “Doctor”). Kettner, as the more immediately present of the two, was at the forefront of their devotion. Bickel wrote to a fellow-member of the group that they loved each other “in the spirit of Friedrich Kettner, our father and teacher. But we don’t love him enough! More is necessary! More deeply and unconditionally! How much our life and deeds depend on that!”17 And in another letter he apostrophized his teacher: “I kiss you, my father, in passionate love!”18 After the end of the school year Bickel moved to Bucharest to begin his university studies in medicine. He maintained contact with his friends in Czernowitz and attended the seminar when he returned to the city on visits. In the meantime, however, Kettner’s sermons had a profound, sometimes troubling, psychological impact on his hearers. Some fell into deep depressions. The suicide of one schoolgirl seminarist at the end of 1922 abruptly broke Kettner’s spell. From Potsdam, Brunner disavowed, even if he did not yet totally excommunicate Kettner.19 “To my great distress,” he wrote to Bickel, “I must recognize that Kettner is incorrigible [...] Long ago I called Kettner the drunken lamplighter. He carried a light that blinded himself and staggered with it from one lamppost to the next [...]. He is ill and his statements and undertakings are not to be trusted.”20

15 David Schaary: Yehudei bukovina bein shtei milhamot ha-olam. Ramat Aviv 2004, p. 257 f. 16 Eisenstein, memoir (see fn. 3), p. 17. 17 Bickel to Salomon Meilen, 1922, German typescript copy, BBN 7.1, 5-6. 18 Bickel to Dr [Elias] Zolkiewer [Ringer], 28 Aug. 1922, typescript copy, BBN 7.1, 7-9. 19 Brunner letters to Czernowitz students, 14 Jan and 29 March 1923, Brunner to Kettner, 8 May 1923. In: Brunner, Briefe (see fn. 2), pp. 342–347 & 348–58. 20 Brunner to Bickel, n.d. [May?] 1923, Leo Baeck Institute / Archiv im Jüdischen Museum Berlin: Constantin Brunner Collection [henceforward LBI/JMB]: II, 1, 14.

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At a meeting of seminarists, Bickel confronted him. “You must explain yourself to all of us here,” he declared.21 The response was evidently unsatisfactory and the outcome was shattering. All but a handful of students no longer saw Kettner as a faithful interpreter of Brunner; instead, they now regarded him as an impostor who was trying to supplant the prophet himself. Kettner’s seminar thus came to an ignominious end (though a successor Brunnerian study group continued to meet in Czernowitz until the Second World War). “As regards Kettner,” Bickel wrote a few weeks later to a fellow ex-seminarian, “after that meeting in Czernowitz, I drew a line under that matter long ago, as Master wrote to me that I should”. But evidently this was not quite the case: Bickel could not contain his indignation and outrage. The former “king” now became the butt of scornful mockery. Bickel compared Kettner to a “diseased wren” that was trying to fly above the eagle, Brunner.22 He described how Kettner had sought him out in Bucharest, with a view to reconciliation. Kettner “spoke for six hours and, as never before, with genuine sincerity. I saw K. in his utter nakedness and understood him completely”. Kettner, Bickel concluded, had completely misinterpreted Brunner. “I did not answer him back. I saw him dead before me and I felt inexpressible heartache.”23 For Bickel, the break with Kettner was a shattering event – as also for Brunner, who had known Kettner for more than a decade, but above all for Kettner himself, who left Czernowitz, eventually settling in the United States. Yet although the scales fell from Bickel’s eyes in regard to Kettner, he remained a true believer in Brunner. He saw him as “a King who rules only over those who are fit to be ruled”.24 Bickel no longer felt need of any intermediary. He had been in direct communication with Brunner since the autumn of 1921.25 In one of his earliest letters (not extant) he wrote to Brunner about his “Liebesnatur” and his conduct towards a young woman of the group. Brunner commended the letter to his daughter as “so full of love and manliness [...] clear and firmly heroic on that subject at such an early stage in his life as to astonish and be worthy of praise”.26 As to Bickel’s spiritual quest, the “Master”, after the manner of a redeemer, urged him: “Just believe in the call, act, and ye shall live.”27 From time to time Bickel would experience – a “magical lightning-flash” (magischen Blitz) of spiritual

21 Eisenstein, memoir (see fn. 3), p. 31. 22 Bickel to Eli Rottner, 18 June 1923, typescript copy, BBN 7.1, 10. 23 Bickel to Eli Rottner, 4 July 1923, typescript copy, BBN 7.1, 11. 24 Bickel to Eli Rottner, 18 June 1923, typescript copy, BBN 7.1, 10. 25 Brunner’s earliest letter to Bickel is dated 2 Nov. 1921, LBI/JMB: II, 1, 14. 26 Extract from a letter of Constantin Brunner to Lotte Brunner, 12 Aug. 1923, typescript, BBN 7.3, 1. 27 Brunner to Bickel, Oct. 1922, quoted in Eisenstein, memoir (see fn. 3), p. 22.



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insight “in which everything suddenly appears so special, new, unexpected and yet so recognizable and full of contentment”. Bickel felt bound life and soul to Brunner whom he regarded as his true father. “I love him because he speaks, like no other, out of holiness and profundity.”28 Bickel also began an intimate correspondence with Brunner’s step-daughter Lotte, who lived in Brunner’s house and acted as his secretary and spokeswoman. At first the correspondence had a romantic tinge (they did not meet until four years later). Nineteen years older than Bickel, she eventually settled into a sisterly relationship with him. Their correspondence continued for the next two decades.29 Having vanquished Kettner, Bickel took his place as Brunner’s leading interpreter in Czernowitz and Bucharest – and eventually in the wider world. Most of the former seminarians remained loyal to Brunner and felt unified by what proved in several cases to be lifelong bonds of mutual devotion. Bickel expressed their sense of solidarity in the Psalmist’s phrase: “[Hinei] ma tov u-ma naim shevet achim gam yachad!” (Psalms 133: 1: [Behold,] how good and how pleasant it is for brethren to dwell together in unity!).30 On occasional visits to his family home, Bickel expounded his ideas to his father and brothers. Their discussions degenerated into “angry clashes [...] often ending in angry words and even a feeling of bad blood”.31 His father particularly objected to Eliezer’s readiness to follow Brunner’s excursions in the direction of Christianity, his brother to Brunner’s rejection of Zionism. Eliezer defended Brunner on both counts and, for good measure, argued in favour of Brunner’s celebration of Jewish assimilationism. His father, outraged, declared: “If one of you, my three sons, ever speaks publicly against the existence of our people, I shall [...]” and then, placing his hand on his breast, he stopped himself.32 Eliezer also shocked his younger brother, Mischa, by presenting him with a leatherbound copy of the New Testament in Hebrew, explaining, “When one reads it in Hebrew, one sees how authentically Jewish it is in atmosphere and tradition and with what wonderful complementarity it fits in with the Old Testament.” Mischa, astounded, snapped the book shut and returned it as if it had burnt his fingers.33

28 Bickel to Leo Sonntag, 28 Aug. 1925, typescript copy, BBN 7.1, 20-23. 29 Copies of nearly two hundred of these letters are in BBN 7.3. 30 Bickel to Eli Rottner, n. d., typewritten copy, BBN 7.1.B, 16. 31 Shlomo Bickel: Three Generations: A Memoir. In: Commentary 34, 4 (Oct. 1962), p. 324. 32 Shlomo Bickel, Three Generations (see fn. 31), p. 327. 33 Mischa Bickel: Mein Bruder. In: Neue Literatur: Zeitschrift des Schriftstellerverbandes der Sozialistischen Republik Rumänien 20, 11 (1969), p. 72.

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In 1926 Bickel qualified as a doctor in Bucharest. After several months of compulsory military service as an army doctor, he moved to Berlin, where, with help from a contact of Brunner, he obtained a position at the Charité Hospital. At that time Berlin was the centre of the scientific and medical worlds and Bickel’s career prospered there. The primary motive for his move, however, was as much catechumenical as professional. He wanted to meet Brunner – or rather to glow in his reflected radiance. En route to Berlin, Bickel felt exalted: “I sat in the train like a hero: it was my heroic period!” he later declared.34 Lotte Brunner described in her diary Bickel’s first encounter with “the Master”, in October 1927. “Like all those who come to see Father from over there, he was overwhelmed, struck dumb with emotion, capable only of weeping.”35 Bickel later recorded: “I had never met any person so easygoing, completely without any conventional or formal pretensions, so naïvely effervescent in conversation and behavior.” At the same time, his host seemed “not quite of this world.” Brunner showed him various objects in his study, including a portrait of Spinoza, and recounted how his father had translated Livy into Hebrew, only for his grandfather (a rabbi) to throw the manuscript into the fire. Later, Lotte returned with another young man and Brunner read the company a newspaper report on the trial in Paris of Shalom Schwarzbard (who was tried on a charge of assassinating the Ukrainian nationalist and notorious pogromist Symon Petliura: although Schwarzbard admitted responsibility for the killing, a jury acquitted him after a public campaign in his support).36 A few weeks later Bickel was invited to celebrate Christmas with the Brunners. As the guests sat round the festively decorated tree, Brunner played an old, “simply devout” (einfältig-fromme) Christmas song on a barrel-organ. Then he read to his guests passages from the Gospel According to Luke and from the Epistles of Paul.37 After dinner, Brunner retired to his study alone with Bickel and they discussed philosophy. Brunner mentioned a recent article on himself in the Frankfurter Zeitung which had maintained that he could not possibly be equated with Nietzsche. Brunner wondered whether, if the author of the article had been alive in the time of Nietzsche, he would have recognized that philosopher’s greatness. Such matters could be measured only in retrospect. Then, after a silence, he said to Bickel with great feeling that if one day his own biography came to be

34 Eisenstein, Memoir (see fn. 3), p. 40. 35 Eisenstein, Memoir (see fn. 3), p. 40. 36 L. Bickel: Erster Besuch bei Constantin Brunner, 19.10.1927, typescript, BBN 5.8.1. 37 L. Bickel: Einige Erinnerungen, typescript, BBN 5.8.2.



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written, it should be noted that it was not until after his seventieth year that his work had begun to be appreciated.38 Although Brunner affected to discountenance the notion of seeking converts, Bickel became Brunner’s apostle (or as Bickel’s son later termed it, “hasidic rebbe”).39 In their meetings over the next decade, the two men shared their thoughts and innermost feelings, sometimes of depression, sometimes of exaltation. *** What was it that drew Bickel and other erstwhile members of Kettner’s “ethical seminar” to Brunnerianism? A confluence of social, cultural, and psychological elements in Brunner’s doctrine rendered these young Jews susceptible to it. First, it seemed to open the door to escape without betrayal – escape, that is, from the religious shackles of Orthodox Judaism without the betrayal involved in apostasy (to which many central European Jews of their generation succumbed). In this respect Brunnerianism might be compared with the Ethical Culture movement that flourished, mainly in the United States, from the late 19th century onwards. Whereas many baptized Jews saw their new faith as a fulfilment of Judaism at a higher level, Brunner seemed to offer the opposite: his stress on Jesus as “the most Jewish of all Jews”40 was more like an effort to incorporate Christianity with Judaism in a higher syncretism. Hence, no doubt, the exemplary virtue, even beyond its intrinsic intellectual force, that Brunnerians attached to the thought and personality of Baruch Spinoza – on which Bickel wrote and lectured extensively.41 Secondly Brunnerianism offered spirituality without dogma. It was a doctrine that (with certain exceptions, notably its strictures on Zionism and Jewish religiosity), had a rubbery flexibility that could accommodate many interpretations. Thirdly, Brunnerianism, like Marxism, claimed to have found an all-embracing explanation of the world’s ills and a total solution to the travails that afflicted

38 Bickel, Erinnerungen (see fn. 37). 39 Ya’acov Ritov: A Random Walk with Drift: Interview with Peter J. Bickel. In: Statistical Science 26, 1 (2011), pp. 150–159. 40 Constantin Brunner: The Tyranny of Hate: The Roots of Antisemitism. Lewiston, N.Y. 1992, p. 39. (This is a translation of Memsheleth Sadon: Letztes Wort über den Judenhass und die Juden, Berlin 1920.) 41 See, for example, “Spinoza im Urteile deutscher Geister.” In this lecture, delivered in 1933 to a women’s organization in Romania, Bickel surveyed the influence of Spinoza on German thinkers over the centuries, drawing the conclusion that “the spiritual German homeland cannot be conceived without the Jew Spinoza and his German pupils” (typescript, BBN 5.1).

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Jews and others in inter-war Europe. It was not just another philosophy: it was – or had pretensions to being – a salvationist system. Brunner enabled his adherents to rise above the wretched social, political, and intellectual dislocations of the time and to glimpse the vision of a comprehensible and perfectible world. As Isaiah Berlin writes in a different context: “As sometimes happens, what the prophet saw before him was a great compensatory fantasy.”42 Fourthly, in an age desperate for vaunted heroes, the alleged “genius” of Brunner led to his virtual apotheosis. He became an object not merely of admiration but almost of worship, among his devotees. More than a philosophy, more than a system, Brunnerianism became a faith. *** To the small circle of Brunner’s admirers in Berlin, organized since 1925 in a Constantin Brunner-Gemeinschaft, were added by the end of the decade some fifteen Jews from Czernowitz. Bickel’s first book, Zur Renaissance der Philosophie, an exegesis of the thought of the “Master”, was published for the Gemeinschaft in Berlin in 1931. It propelled him to the forefront of Brunnerian exegesis. He brought to the task considerable intellectual assets: he was well-read in philosophical literature in several languages; he spoke effectively at meetings; and he expressed himself in fluent, if often foggy, literary style. But Bickel was also naïve, impressionable, hero-worshipping in his adulation of Brunner and rigid in his adherence to Brunnerian precepts. Over the next few years, Bickel issued further publications expounding Brunner’s thought.43 He sent his works around, receiving polite acknowledgements from, among others, Sigmund Freud and Stefan Zweig.44 To his family and friends, Bickel continued to be known as Eliezer or Layzer (the Yiddish form) but in his professional role in Berlin and in his published works he adopted a new forename. He explained that, “at the urging of Brunner and my friends, I changed my name from Lazar to Lothar”.45 Such changes, from Jewish to more gentile-sounding names, were common in this period in central Europe: unlike Brunner (born Arjeh [Leo] Jehuda Wertheimer), Bickel did not, however, change his surname. Saul thus became Paul and assumed his apostolic role. On his thirtieth birthday in 1932 the loyal band of Berlin Brunnerians presented Bickel with a chunky gold ring bearing the Greek inscription καλὸς κἀγαθός

42 Isaiah Berlin: Three Critics of the Enlightenment: Vico, Hamann, Herder. London 2000, p. 164. 43 Notably Probleme und Ziele des Denkens, Zürich 1939. 44 Freud to Bickel, 28 June 1931 (copy), BBN 7.4; Zweig to Bickel, 26 Sept. 1931 (copy), ibid. 45 Bickel to Claire Sinnreich, 7 Oct. 1931, typescript copy, BBN 7.1, 29.



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(“beautiful and good”: a stock phrase in classical literature with many subtle layers of meaning, it denoted a model combination of virtues and was applied to, among others, Socrates). *** The rise of the Nazis brought an abrupt end to Bickel’s career in Berlin. Of the half million “Jews by religion” in Germany at the time of Hitler’s assumption of power in January 1933, about 40,000 fled the country within a year. Among those departing was Constantin Brunner, who moved to The Hague in April 1933. Bickel was among the fortunate few who had a homeland to which he could return as well as an easily portable profession. When his chief in the Charité hospital called him in and told him he had no future there, he left for Bucharest. His elder brother, now a lawyer in the Romanian capital, active in Yiddish literary and cultural circles, welcomed him back. With Shlomo’s financial help, he opened his own medical practice and secured appointment as head of the gynecological department of the Jewish Hospital in the city. But hardly were the brothers reunited than the old arguments resumed over the place of the Jews in the world, over the Jewishness of Jesus and his message for mankind, and over Brunner’s philosophy. Eliezer remained in close contact with Brunner. “My master and leader” (Mein Meister und Führer), he wrote to Brunner in 1935, I am fully conscious of the responsibility and commitment as well as the significance that you and your work will always have for me. I love your thought because it has illuminated my life and scholarship and because I have no other philosophy than yours. Everything that I ever think or learn finds no home in my soul, save as it is connected to your thought and insofar as it can stand up to it.46

With the support of old friends from Czernowitz, he revived interest in Brunner in Bucharest. His correspondence with the philosopher continued to express his heartfelt devotion and admiration – and also reveals that he was sending him a regular financial allowance.47 Shlomo later recalled that when Eliezer talked about Brunner his “deep blue eyes sparkled with that magical intense light of truth revealed and found, and of absolute conviction”.48

46 Bickel to Brunner, 6 March 1935, LBI/JMB: II, 1, 15. 47 Bickel to Brunner, 7 March 1936, LBI/JMB: II, 1, 15. 48 Shlomo Bickel, Three Generations (see fn. 31), p. 330.

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As anti-Semitic feeling rose in Romania and elsewhere, the assimilationism advocated so insistently by Brunner seemed less realistic than in the sunnier, more optimistic period before the First World War in which he had formulated his thoughts on the Jewish question. The issue troubled Bickel. In 1936 he wrote to Brunner: We must think as Jews. And as long as it remains the case that living in community with our society is impossible, so long as society shoves us out and isolates us, so long must we seek to connect with it by mental “detours”, and assimilate to it mentally.49

What this seemed to mean was that the Jews must persist in the effort to assimilate even to a society and culture that refused to accept them. Brunner absolutely agreed.50 If this seems, in retrospect, unduly Panglossian, Bickel was by no means alone among Jewish intellectuals in Bucharest in holding to such views – as the contemporary diary of the playwright Mihail Sebastian, for example, demonstrates.51 Assimilationism is often seen by its critics as an easy option. But for Bickel it was the product of profound spiritual wrestling and a certain anguish. He told his brother: I can never drain away the stream of Jewishness that my inherited way of life and my upbringing and my education have left in me. But I must confess to you that if I have a son I shall bring him up free from all religion, and do all I can to give him the chance of assimilating to the surrounding people, particularly to the dominant people of the state.52

To his father’s distress, Eliezer cast aside Jewish religious observance altogether. Later, when he had a family, they celebrated Christmas – though, as his son later recalled, “in a non-religious way”.53 Bickel continued, more than Sebastian, to value some aspects of Jewish culture. He wrote an appreciation of the work of the Czernowitz Yiddish writer Eliezer Shteynbarg.54 At gatherings of friends he would sing Yiddish ballads by Itzik Manger and Haim Nahman Bialik’s song Hachnisini tachat knafech” (“Take Me Under Your Wings”).

49 Bickel to Brunner, 17 June 1936, LBI/JMB: II, 1, 15. 50 See Brunner to Bickel, 5 July 1936, Brunner, Briefe (see fn. 2), p. 552 f. 51 Mihail Sebastian: Journal 1935-44. Chicago 2000. 52 Shlomo Bickel, Three Generations (see fn. 31), p. 331. 53 Ritov, Random Walk (see fn. 39). 54 Lothar Bickel: Zur Weltanschauung Elieser Steinbargs, typescript, BBN 5.3 (a).



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The death of Brunner in 1937 hit Bickel hard. With a few colleagues, he travelled to The Hague to be at the Master’s bedside in his last moments. The dying sage took some persuasion but eventually agreed that Bickel could stay by his bedside each night: “You’ve a right to that! You’re quite right!” he said. Brunner told him various anecdotes about his relations with Gustav Landauer, Walther Rathenau, and Lou Andreas-Salomé.55 “History knows no other case”, wrote another Brunnerian, “of such great love and so strong a trust of a Genius for his disciple”.56 Brunner had appointed Bickel his literary executor and intellectual heir. Bickel took this responsibility seriously. He considered moving to Holland in order to facilitate this work – but there was doubt that his medical qualifications would be recognized there.57 He took the editing in hand vigorously, in concert with Lotte Brunner, and wrote introductions to three posthumously published works of Brunner. He continued to explicate Brunnerian doctrine until the end of his life. Without the living presence of Brunner, however, Bickel felt disoriented and depressed. “I have spent my life almost completely in seclusion and turned towards inward contemplation,” he wrote in a diary entry during a melancholy visit to northern Norway that year. “Only nature speaks to me. People just talk my head off [reden mich tot].”58 He longed for more intimate connection to humanity. He had unsettling dreams. In one, Brunner appeared to him, seated on a throne. Bickel dropped to his knees before him and hid his head in Brunner’s breast, taking care not to hurt him. The old man spoke to him softly and tenderly, overflowing with love and demonstrative affection. In another dream Brunner reproved him for speaking German rather than Yiddish. Bickel replied that one could not hold back the tide of history; we were no longer real Jews (“wir wären keine eigentlichen Juden mehr”), and as for himself, he thought in German and therefore could not speak anything else.59 In July 1939 in Czernowitz Bickel married Mädy (Peppi Madeleine) Moscovici, with whom he had fallen in love a few months earlier. Fifteen years his junior, from a bourgeois Jewish family in Bucharest, she was not a Brunnerian. Their wedding was, however, attended by many of the faithful. In the absence of the

55 Lothar Bickel: Constantin Brunners letzte Stunden. In: Gedenkbuch in memoriam Lothar Bickel. Eds. Israel Eisenstein, Shalom Miron. Tel Aviv 1985, pp. 69–77. 56 Eisenstein, memoir (see fn. 3), p. 76. 57 Lotte Stigter-Brunner to Bickel, 18 March and 5 April 1938, BBN 7.3, 98–102. 58 Diary note, 12 Aug. 1938, “Norwegenreise”, typescript, BBN 5.32. 59 “Dreams”, typescript in bound notebook “Skizzen und Studien II”, BBN 5.15.II, 422–445.

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“Master”, Mädy’s “coronation” as Bickel’s “queen” was endorsed in a loving message from Lotte Brunner.60 Through all the horrors of the war years, Bickel continued to study and write furiously. Some of the fruits appeared as articles and books published after the war.61 He remained convinced, as he wrote to a group of Brunnerians in December 1940, that the day would yet come when “the heroic passion of Brunner’s thought, the enchanting simplicity and lucidity of his philosophy” would be recognized.62 In an article on “The Jewish Question”, written during the war, Bickel argued that the best solution, at any rate in the eyes of sensible people not seduced by phrase-mongering, the solution from which most Jews would emerge best off, would be “the complete disappearance of Jewry as a national (völkischen) or quasi-national reality”. Even if complete assimilation appeared unrealizable now or in the immediate future, that did not mean that it was not a realizable goal. The assimilatory process had been halted for the moment and Jews now found themselves in the painful position of feeling themselves in a half-way-house, neither full Jews (integrale Juden) nor full non-Jews. Each must decide for himself one way or the other. Those who wished to remain Jews must take active measures in that direction, whether in Palestine or anywhere else that offered possibilities for a positive national existence. On the other hand, whoever felt no impulse towards remaining Jewish had a duty to develop within himself the drive to become non-Jewish in the fullest sense. Bickel stressed that the problem was not just external pressures and horrors. It was a matter of inward consciousness. “It is not easy” (Leicht is es nicht), he concluded, a little lamely.63 The wartime alliance between Germany and Romania brought the threat of death to Jews in the country. In the winter of 1941–1942 Bickel sought security in formal apostasy. He managed to change his family’s registration in official records from “Mosaic” to “Catholic”. Of course, such changes, common in that period, afforded only minimal protection against Nazi racialism. But by a mixture of good fortune and bravery, the family survived the war in Bucharest. In 1947 Bickel wrote that he was waiting for the day when the law of the land would permit him to declare truthfully “what we really are: of no religion (konfessionslos)”.64

60 Lotte Stigter-Brunner to Maeda Bickel, 17 July 1939, typescript copy, BBN 7.3, 223. 61 Notably Lazare [sic] Bickel: La physique confirme la philosophie. In: Empédocle, Paris 2, 7 (Jan. 1950), pp. 39-46 62 Lothar Bickel: Freunde I, BBN 5.11, 1. 63 Lothar Bickel: Zur Judenfrage. In: Skizzen (see fn. 59), III, 46–48. 64 Bickel to E. L. Pinner, 12.3.19[4]7, typescript copy, BBN 7.1, 46.



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Several Brunnerians were among Hitler’s victims, including Brunner’s widow and his step-daughter Lotte. They were sent to the Westerbork “transit” camp in December 1942 and deported from there a few months later to be murdered at Sobibor. Lotte might have been able to obtain an exemption but insisted on sharing the destiny of her 81-year-old mother. After the war the internal debate over the Jewish fate and future acquired a new intensity. From New York, where he had settled shortly before the outbreak of the war, Shlomo taxed Eliezer with lack of empathy for his martyred people. But Eliezer insisted that he felt no less deeply the impact of the Jewish genocide. “No day passes that I do not see before me the ‘naked ones of Treblinka’. I feel the terrible horrors clutch at their hearts and overwhelm their minds, and I hear their ‘No!’ at every point of the scale, the shrieking ‘No!’ of their frenzied, convulsed helplessness, and the despondent, flustered ‘No!’ of their inability to believe in such a reality.”65 Yet he still clung tenaciously to his Brunnerian assimilationism and he still rejected Zionism. Post-war Communist Romania was not a society in which a man of Bickel’s outlook could prosper. In 1948 he emigrated to France. He was in Paris in May 1948 when news arrived of the declaration of the State of Israel. His aged parents moved there and Eliezer briefly considered going there too.66 But his unswerving adherence to Brunner’s legacy would not permit it. In January 1950, upon receiving a Canadian visa, he travelled with his family to Toronto. Two Brunnerians met them on arrival, one of them his closest friend from Czernowitz.67 Bickel was one of the initiators in 1947 of the International Constantin Brunner Institute in The Hague. Ironically, however, the most active centre of Brunnerian activity in the post-war decades was in Israel where the sage’s epigones, among them several former members of the Czernowitz “Ethical Seminar”, struggled to reconcile his anti-Zionism with their Israeli patriotism. Brunnerian interpretation, however, showed a capacity to march with the times. In the foreword to a new edition of Brunner’s Der entlarvte Mensch (“Man Revealed”) in 1951, Bickel maintained, that the work was a “textbook for democracy in Germany”. On the Jewish issue, while stressing that Brunner had never altered his fixed view that “radical assimilation” was the solution to the Jewish problem, Bickel suggested that, had Brunner lived to see the creation of the

65 Eliezer Bickel to Shlomo Bickel, 21 Jan. 1946, typescript copy (German), BBN 7.1.E. 66 Eisenstein, memoir (see fn. 3), p. 98. 67 M. Sterian (formerly Sternschuss: see fn. 8 & 9 above).

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 Bernard Wasserstein

Jewish state following the destruction of the greater part of European Jewry, he might have adopted a less hostile attitude towards Zionism.68 Bickel had a difficult time in Canada since he had to requalify as a doctor in order to practise there. The ardent assimilationist confessed: “I find it very difficult to assimilate to the milieu here.”69 Meanwhile he sought to resume contact with surviving believers around the world. But he died suddenly of a heart attack in Winnipeg in 1951 at the age of 48. His work continued, however, to arouse interest long after his death: several of his books were published posthumously by the dwindling cohort of Brunnerians.70 *** Leaving aside altogether any assessment of the intrinsic merits or demerits of Brunner’s thought, what Bickel’s life illustrates is his master’s magus-like relationship with his followers. Like the pseudo-messiahs Shabbatai Tsvi, Jacob Frank, or, in the twentieth century, Menachem Mendel Schneerson (the seventh Lubavitcher rebbe), Brunner exercised total intellectual and spiritual dominance over his acolytes. Were their dazzled minds thereby enriched or poisoned? Brunner’s apostle gave his own, decisive answer in one of the last of his posthumously published works. In a moving passage of what was evidently autobiographical reflection, he contrasted the unsteadiness of most people’s convictions, which, he maintained, were “in general, easily overthrown and [...] hold their ground only when they correspond to those vague judgments of our interests that are carried along by our drives and feelings” with the inner truth and life-enhancing wisdom that he and his coterie of believers had found in Brunner’s thought: The situation is different for the few whose lives are dependent upon the affirmation and negation of cognition, whose existence is centered in the ebb and tide of cognitive processes as vitally and genuinely as it is in that of feeling and volition. Their insights and judgments are powerful existential forces that can well compare with those of common drives and affects. Those men who come upon important truths of science or philosophy have no need of injecting in them the power and strength of repressed emotions in order to make them

68 Constantin Brunner: Der entlarvte Mensch. Den Haag 1951, pp. vi-vii. 69 Eliezer Bickel to Isak Bickel and Shlomo Bickel, 24 Sept. 1950, Yale University Library, MS 762, box 5, folder 63. 70 The Unity of Body and Mind, edited and translated into English by Walter Bernard, appeared in the Philosophical Library, New York, 1959; a German edition was published by Diana Verlag, Zürich, in 1960, and a French translation by Gallimard, Paris, in 1962. In 1975 Diana Verlag reissued two of his earliest works, Zur Renaissance der Philosophie and Studien zu einigen Dialogen Platons.



The Master and His Messenger 

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the most vital concern of their inward lives. From the very beginning the warmest blood of their lives pulsates for their truth which becomes their strongest passion from the very time it first takes root in them. This passion for truth also accounts for the stamp and fortitude of their characters. Self-acquired insights are genuine activities of life-maintenance, and as such they become motions or forces especially in those individuals whose lust for life (“the essence of man itself”) cannot do without knowledge. These few will find in knowledge the fulfillment of their existence.71

71 As translated by Walter Bernard in The Unity (see fn. 70), p. 164 f.; but cf. the original German in Lothar Bickel: Außen und Innen. Beitrag zur Lösung des Leib-Seele-Problems. Zürich 1960, p. 162.

Anhang

Schriften von Constantin Brunner Aufgeführt sind alle erschienenen Schriften Brunners in allen Ausgaben und Auflagen, jeweils chronologisch nach den Erstveröffentlichungen geordnet innerhalb der Rubriken: Monographien, Aufsätze u.a., Briefe, Übersetzungen.

Monographien Der Hund beißt! Posse in einem Aufzuge, nach einer Idee von A. Neuschütz. Berlin: F. Fontane & Co. [o.J.]. – Der Hund beißt! Burleske in einem Aufzuge, d.i. Ludwig Blochs Herren-Bühne, No. 31. 2. Aufl. Berlin: E. Bloch 1896. – 5. Aufl. Berlin: E. Bloch 1920. Die Lehre von den Geistigen und vom Volke. Berlin: Karl Schnabel Verlag (Axel Junckers Buchhandlung) 1908 (2 Halbbände). – 2. Aufl. Potsdam: Gustav Kiepenheuer Verlag 1927 (2 Halbbände). – Mit einem Geleitwort hg. vom ICBI. 3. Aufl. Stuttgart: Cotta Verlag 1962 (2 Halbbände). Die Lehre von den Geistigen und vom Volke. Sonderdruck der Ankündigung. [2. Aufl.] Berlin: Karl Schnabel Verlag (Axel Junckers Buchhandlung) 1908. – [3. Aufl.] Berlin: Karl Schnabel Verlag (Axel Junckers Buchhandlung) 1909. Spinoza gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit [s. Aufsätze 1909]. Berlin: Karl Schnabel Verlag 1910. – Mit einem Vorwort von Magdalena Kasch hg. vom ICBI. 2. Aufl. Assen: Van Gorcum & Comp. B. V. 1974. Der Judenhaß und die Juden. Berlin: Oesterheld & Co. Verlag 1918. – Vermehrte, 2. und 3. Aufl., Berlin: Oesterheld & Co. Verlag 1919. – [Nachdruck 4. Aufl. o.O. 1974]. – Im Auftrag des ICBI mit einem Vorwort von Hans Goetz hg. von Jürgen Stenzel. 5. Aufl. Berlin, Wien: Philo 2004. Deutschenhaß, Judenhaß und Judenhaß der Deutschen [Aus: Der Judenhaß und die Juden]. 2. Aufl. Berlin: Oesterheld & Co. Verlag 1919. – 3. Aufl. Berlin: Oesterheld & Co. Verlag 1919. Memscheleth sadon. Letztes Wort über den Judenhaß und die Juden. Berlin: Verlag Neues Vaterland, E. Berger & Co. 1920. – Die Herrschaft des Hochmuts (Memscheleth sadon). Letztes Wort über den Judenhaß und die Juden. Mit einem Geleitwort von Heinz Stolte hg. vom ICBI. 2. Aufl. Stuttgart: Cotta Verlag 1969. Unser Christus oder das Wesen des Genies. 1.-3. Aufl. Berlin: Oesterheld & Co. Verlag 1921. – Mit einem Geleitwort hg. vom ICBI. Neuauflage Köln, Berlin: Verlag Kiepenheuer & Witsch 1958. Der Judenhaß und das Denken. Berlin: Philo Verlag und Buchhandlung 1922. – [Nachdruck 2. Aufl. o.O. 1974]. Liebe, Ehe, Mann und Weib. Potsdam: Gustav Kiepenheuer Verlag 1924. – Mit einem Geleitwort hg. vom ICBI. 2. Aufl. Stuttgart: Cotta Verlag 1965. Vom Einsiedler Constantin Brunner. Mein Leben und Schaffen, Unsere scholastische Bildung, Das Unglück unsres deutschen Volkes und unsre „Völkischen“. Potsdam: Gustav Kiepenheuer Verlag 1924. Aberglaube an die Ärzte und an die Heilmittel [Aus: Aus meinem Tagebuch]. Veröffentlichung der Constantin Brunner-Gemeinschaft aus dem in nächster Zeit erscheinenden Tagebuch Constantin Brunners. Potsdam: Gustav Kiepenheuer Verlag 1927. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 164–206.

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 Schriften von Constantin Brunner

Aus meinem Tagebuch. Potsdam: Gustav Kiepenheuer Verlag 1928. – Mit einem Geleitwort hg. vom ICBI. 2. Aufl. Stuttgart: Cotta Verlag 1967. Die von jüdischer Abstammung und die Juden [Aus: Aus meinem Tagebuch]. Potsdam: Gustav Kiepenheuer Verlag 1928. Materialismus und Idealismus. Potsdam: Gustav Kiepenheuer Verlag 1928. – Mit einem Geleitwort hg. vom ICBI. 2. Aufl. Köln, Berlin: Verlag Kiepenheuer & Witsch 1959 – Mit einem Geleitwort hg. vom ICBI. [3. Aufl.] ’S Gravenhage: Stichting Internationaal Constantin Brunner Instituut 1976. Von den Pflichten der Juden und von den Pflichten des Staates. Berlin: Gustav Kiepenheuer Verlag 1930. Höre Israel und Höre Nicht-Israel! (Die Hexen). Berlin: Gustav Kiepenheuer Verlag 1931. – [Nachdruck 2. Aufl. hg. vom ICBI. Den Haag 1974]. Unser Charakter oder Ich bin der Richtige! Mit einem Vorwort hg. von Lothar Bickel. Zürich: Verlag Die Liga 1939. – Zum 55. Geburtstag, Unser Charakter oder Ich bin der Richtige!, Kurze Rechenschaft über die Lehre von den Geistigen und vom Volk. Mit einem Geleitwort hg. vom ICBI. [2. Aufl.] Stuttgart: Cotta Verlag 1964. Kunst Philosophie Mystik. Gesammelte Aufsätze. Mit einem Vorwort hg. von Lothar Bickel. Zürich: Humanitas Verlag 1940. Der entlarvte Mensch. Hg. und eingeleitet von Lothar Bickel. Den Haag: Martinus Nijhoff 1951 [gekürzte Fassung]. – Mit einem Geleitwort von Magdalena Kasch hg. vom ICBI. [2. Aufl.] Den Haag: Martinus Nijhoff 1953. Vermächtnis. Mit einem Vorwort von Magdalena Kasch hg. vom ICBI. Den Haag: Martinus Nijhoff 1952. Rede der Juden: Wir wollen ihn zurück! [Aus: Der Judenhaß und die Juden]. Mit einem Geleitwort hg. vom ICBI. 4. Aufl. Stuttgart: Cotta Verlag 1969. Vom Geist und von der Torheit. Gesammelte Aufsätze [Vermehrte und veränderte Auflage von: Kunst Philosophie Mystik]. Mit einem Geleitwort von Heinz Stolte hg. vom ICBI. Hamburg: Hansa-Verlag 1971. Constantin Brunner. Aktive Philosophie. Eine autobiographische Ideographie. Mit einer Vorrede von Israel Eisenstein, anläßlich des 125. Geburtstages und 50. Todestages des Philosophen hg. vom ICBI. Den Haag: Roeland 1987.

Aufsätze u.a. Der thörichte Knabe. Indianerweisheit [Gedichte], in: Moderne Lyrik. Eine Sammlung zeitgenössischer Dichtungen. Hg. von Leo Berg und Wilhelm Lilienthal. Berlin: Waldau’s Verlag 1892, S. 35 f. Hamburger Brief. In: Berliner Zeitung Nr. 241 (14. Oktober 1892), S. 5 f.
 „Aufgaben der Kunstphysiologie“ von Georg Hirth [Rez.]. In: Zeitung für Literatur, Kunst und Wissenschaft des Hamburgischen Correspondenten Nr. 23 (23. October 1892), S. 179 f.
 [Pseud. Thersites], Ein Schwank von des Teufels Töchtern. In: Der Zuschauer 1, Nr. 1 (15. Februar 1893), S. 9.
 Unsere Lyrik und die „Aufbrütesamen“. In: Der Zuschauer 1, Nr. 1 (15. Februar 1893), S. 9–16.
 Dürfte ich wohl in Folge dieser Replik ... In: Der Zuschauer 1, Nr. 1 (15. Februar 1893), S. 22.
 Nackende Menschen. Jauchzen der Zukunft von Heinrich Scham (Pudor) [Rez.]. In: Der Zuschauer 1, Nr. 2 (15. März 1893), S. 52.



Aufsätze u.a. 

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Aus dem Durchschnitt. Roman von Gustav Falke [Rez.]. In: Der Zuschauer 1, Nr. 2 (15. März 1893), S. 52 f. Aus den Papieren eines unbekannten Denkers. Hg. von der Knoop’schen Sozietät in Berlin [Rez.]. In: Der Zuschauer 1, Nr. 2 (15. März 1893), S. 55 f. Lessing, Goethe, Schiller, Kleist. Dramaturgie des Schauspiels von Heinrich Bulthaupt [Rez.]. In: Zeitung für Literatur, Kunst und Wissenschaft des Hamburgischen Correspondenten Nr. 6 (19. März 1893), S. 46. Die Kunst der Unterhaltung. Herausgegeben von Ludwig Lenz [Rez.]. In: Zeitung für Literatur, Kunst und Wissenschaft des Hamburgischen Correspondenten Nr. 6 (19. März 1893), S. 47. Bilder aus dem Universitätsleben. Von einem Grenzboten [Rez.]. In: Zeitung für Literatur, Kunst und Wissenschaft des Hamburgischen Correspondenten Nr. 6 (19. März 1893), S. 47 f. Ein moderner Vagant. In: Der Zuschauer 1, Nr. 3 (15. April 1893), S. 79 f.
 Die Menschen der Ehe. Von John Henry Mackay [Rez.]. In: Der Zuschauer 1, Nr. 3 (15. April 1893), S. 85 f.
 Herr Berg weiß sich den vertraulichen Ton dieser Anrede ... In: Der Zuschauer 1, Nr. 3 (15. April 1893), S. 87 f.
 [Pseud. Thersites]: Des Jünglings Liebesklage (nach der griechischen Anthologie). In: Der Zuschauer 1, Nr. 3 (15. April 1893), S. 78.
 Die Technik des künstlerischen Schaffens. Einleitung. In: Der Zuschauer 1, Teil I: Nr. 4 (15. Mai 1893), S. 110–115, Teil II: Nr. 5 (15. Juni 1893), S. 135–140, Teil III: Nr. 6 (15. Juli 1893), S. 169–175, Teil IV (Schluß der Einleitung): Nr. 7 (15. August 1893), S. 212–220. – [Sonderdruck, 1893] – In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 159–209. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 98–152. Sprüche. In: Der Zuschauer 1, Nr. 4 (15. Mai 1893), S. 119.
 Und da sich unsere Leser nun doch ... [Rez.]. In: Der Zuschauer 1, Nr. 4 (15. Mai 1893), S. 127 f.
 [Pseud. Leo Dorn]: Mädchen am See. Von Wilhelm Wolters [Rez.]. In: Der Zuschauer 1, Nr. 4 (15. Mai 1893), S. 120.
 [Pseud. Leo Dorn]: Soldaten oder Menschen? Ein Wort über militärische Erziehung und Soldatenmißhandlung [Rez.]. In: Der Zuschauer 1, Nr. 4 (15. Mai 1893), S. 120. Heine-Almanach. Als Protest gegen die Düsseldorfer Denkmalverweigerung [Rez.]. In: Der Zuschauer 1, Nr. 5 (15. Juni 1893), S. 150 f.
 Entgegnung. Unserm Prinzip getreu ... In: Der Zuschauer 1, Nr. 5 (15. Juni 1893), S. 154. Entwicklungslehre und Darwinismus. Eine kritische Darstellung der modernen Entwicklungslehre usw. von Otto Hamann [Rez.]. In: Der Zuschauer 1, Nr. 6 (15. Juli 1893), S. 176 f. – In: Philosophia sive Ethica. Zeitschrift. Hg. vom ICBI [Februar 1981], S. 20–22. „Hochinteressante Neuigkeit!“ „Von Autoritäten empfohlen!“ In: Der Zuschauer 1, Nr. 6 (15. Juli 1893), S. 183. Die Entstehung des Menschen. In: Der Zuschauer 1, Nr. 8 (15. September 1893), S. 239. – In: Philosophia sive Ethica. Zeitschrift hg. vom ICBI [Oktober 1977], S. 9 f. Die Anekdote und das Anekdotenerzählen. In: Der Zeitgeist. Beiblatt zum Berliner Tageblatt, I. Teil: Nr. 38 (18. September 1893), II. Teil: Nr. 39 (25. September 1893), III. Teil: Nr. 40 (2. Oktober 1893). Auch für allerlei Leute. In: Der Zuschauer 1, Nr. 9 (15. Oktober 1893), S. 277–283. Morgenländische Sprüche, deutsch von Constantin Brunner. In: Der Zuschauer 1, Nr. 10 (15. November 1893), S. 299.
 Das ist eine treffende Selbstbeobachtung ... [Fußnote zu A. J. Mordtmann, Zur Technik des künstlerischen Schaffens]. In: Der Zuschauer 1, Nr. 11/12 (15. Dezember 1893), S. 343.


388 

 Schriften von Constantin Brunner

Einige Beispiele aus moderner Spruchdichtung und Satire, ausgewählt von Constantin Brunner. In: Der Zuschauer 1, Nr. 11/12 (15. Dezember 1893), S. 367–370. Weiberfeindliches. In: Der Zuschauer 2, Nr. 1 (1. Januar 1894), S. 21.
 Aus Konfusien. In: Der Zuschauer 2, Nr. 1 (1. Januar 1894), S. 47–50.
 Auf die elektrische Viehhalle im Heiligengeistfeld [Gedicht]. In: Der Zuschauer 2, Nr. 1 (1. Januar 1894), S. 52. – In: Vom Einsiedler Constantin Brunner. Potsdam 1924, S. 28. Aus Werkstätten des Geistes. Ein litterarischer Citatenschatz. Gesammelt von Walter Eichner [Rez.]. In: Der Zuschauer 2, Nr. 3 (1. Februar 1894), S. 126 f.
 Der Untergang Israels. Von einem Physiologen [Rez.]. In: Der Zuschauer 2, Nr. 3 (1. Februar 1894), S. 128.
 [Pseud. Dagobert Kleister]: Zur Technik des künstlerischen Schaffens (Zuschrift). In: Der Zuschauer 2, Nr. 3 (1. Februar 1894), S. 141–146.
 Guten Appetit. Modernes Erbauungsbüchlein / Englische Reiseskizzen. Von Heinrich Pudor [Rez.]. In: Der Zuschauer 2, Nr. 5 (1. März 1894), S. 225 f.
 An unsern lieben Freund Publikum. In: Der Zuschauer 2, Nr. 6 (15. März 1894), S. 268–270. Adolf Frankl: Lachende Wahrheiten. Dreihundert Epigramme [Rez.]. In: Der Zuschauer 2, Nr. 6 (15. März 1894), S. 291.
 Der Herr des Feuers. Dramatisches Gedicht in drei Akten von Hermann von Lingg [Rez.]. In: Der Zuschauer 2, Nr. 10 (15. Mai 1894), S. 482–484.
 Über die Ehe. In: Der Zuschauer 2, I. Teil: Nr. 11 (1. Juni 1894), S. 514 f., II. Teil: Nr. 12 (15. Juni 1894), S. 544–550, III. Teil: Nr. 13 (1. Juli 1894), S. 19–29.
 [Pseud. Leo Dorn]: Der Freund. In: Der Zuschauer 2, Nr. 17 (1. September 1894), S. 215. Jahresberichte für neuere deutsche Litteraturgeschichte. Hg. von Julius Elias, Max Herrmann, Siegfried Szamatolski [Rez.]. In: Der Zuschauer 2, Nr. 18 (15. September 1894), S. 281 f.
 Unterm Lindenbaum. Skizzen und Gedichte von Max Beyer [Rez.]. In: Der Zuschauer 2, Nr. 18 (15. September 1894), S. 284–286.
 [Pseud. Leo Dorn]: Ach, die kleinen Heimlichkeiten! In: Der Zuschauer 2, Nr. 18 (15. September 1894), S. 277 f.
 Die Dynamitis und die Staatsquacksalber [Rez.]. In: Der Zuschauer 2, Nr. 19 (1. Oktober 1894), S. 318–322.
 [Pseud. Leo Dorn]: Auf dem Friedhofe. In: Der Zuschauer 2, Nr. 19 (1. Oktober 1894), S. 318.
 In eigener Sache. In der Zeitschrift „Frauenleben“ ... In: Der Zuschauer 2, Nr. 24 (15. Dezember 1894), S. 574 f.
 [Pseud. Leo Dorn]: Skat-Album. Zwölf Original-Zeichnungen von Otto Andres. Mit Dichtungen von R. Schmidt-Cabanis [Rez.]. In: Der Zuschauer 2, Nr. 24 (15. Dezember 1894), S. 573 f.
 Eberhard König’s „Gevatter Tod“ [Rez.]. In: Die Umschau. Übersicht über die Fortschritte und Bewegungen auf dem Gesamtgebiet der Wissenschaft, Technik, Litteratur und Kunst 4, Nr. 18 (28. April 1900), S. 353–356.
 Spinoza gegen Kant und die Sache der geistigen Wahrheit. In: Koenraad Oege Meinsma: Spinoza und sein Kreis. Historisch-kritische Studien über holländische Freigeister. Berlin: Karl Schnabel Verlag 1909, S. 1–83. – [Auch als Monographie.]
 Eine Spinoza-Gesellschaft? In: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum 10, Nr. 3 (März 1910), Sp. 167–170. – In: Kunst Philosophie Mystik, Zürich 1940. S. 131–136 – In: Acta Spinozana. Hg. von der Spinoza-Gesellschaft Zürich 1, Heft 2 (1964), S. 3–5. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 76–80. Die Lehre von den Geistigen und vom Volke. In: Archiv für Philosophie. II. Abteilung. Archiv für systematische Philosophie 17, Heft 3 (22. August 1911), S. 282–301. – Kurze Rechenschaft



Aufsätze u.a. 

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über die Lehre von den Geistigen und vom Volk. In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 41–61. – In: Unser Charakter. Stuttgart 1964, S. 215–241. – In: Aktive Philosophie. Eine autobiographische Ideographie. Den Haag 1987, S. 63–83. Onkel Abraham und der Dieb. In: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum 11, Heft 8/9 (August/September 1911), Sp. 731–734. Liliencron und alle seine unsterblichen Dichter. In: Nord und Süd. Eine deutsche Halbmonatsschrift 36, Bd. 140, Nr. 446 (Erstes Februarheft 1912), S. 323–332. – In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 147–158. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 87–97. Gedanken aus dem Werke: „Die Lehre von den Geistigen und vom Volke“. Von Constantin Brunner. Zusammengestellt von Arno Nadel. In: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum 12, Heft 3 (September 1912), Sp. 803–810. Goethes Verhältnis zu Spinoza. In: Die Zukunft 21, Nr. 12 (21. Dezember 1912), S. 386–389. – In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 125–130.– In: Der Constantin Brunner Gedanke. Hg. von Rozka Pinner und Abraham Suhl 1, Heft 5/6 (April 1956), S. 32–47. – In: Acta Spinozana. Hg. von der Spinoza-Gesellschaft Zürich [1], Heft 4 (1964), S. 21–24. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 72–75. – In: Philosophia sive Ethica. Literarisch-philosophische Zeitschrift. Hg. vom ICBI (Juli 1983), S. 21–40. – In: Internationaal Constantin Brunner Instituut. Jahrbuch 2001 (Brunner im Gespräch 5). Essen: Verlag Die Blaue Eule 2001, S. 89–91. Ein Idealporträt Spinozas. In: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift 37, Bd. 144, Nr. 460 (Januar 1913), S. 27–43. – In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 103–123. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 51–71. Das Lamm Benedikt Spinoza. In: Die Zukunft 21, Nr. 52 (27. September 1913), S. 414–425. – In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 89–102. – In: Spinoza. Dreihundert Jahre Ewigkeit. Spinoza-Festschrift 1632–1932. Hg. von Siegfried Hessing. 2. Aufl. Den Haag: Martinus Nijhoff 1962, S. 15–23. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 38–50. Ruhm. In: Die Zukunft 22, Nr. 16 (17. Januar 1914), S. 80–82. – In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940. S. 137–142. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 81–84. Die politischen Parteien und der Patriotismus [Aus: Der Judenhaß und die Juden]. In: Die Zukunft 22, Nr. 34 (23. Mai 1914), S. 257–262. Künstler und Philosophen. In: Die Zukunft 24, Nr. 45 (12. August 1916), S. 161–169. – In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 63–73 – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 15–24. Deutschenhaß, Judenhaß und die Ursache des Krieges [Aus: Der Judenhaß und die Juden]. In: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift 41, Bd. 160, Nr. 508 (Januar 1917), S. 46–65. Der Denkfehler unserer Feinde. In: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift 41, Bd. 160, Nr. 509 (Februar 1917), S. 159 f. Zum fünfundfünfzigsten Geburtstage. In: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift 41, Bd. 162, Nr. 515 (August 1917), S. 192–201 und Nr. 516 (September 1917), S. 265–280. – In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 9–39. – Zum 55. Geburtstag. In: Unser Charakter. Stuttgart 1964, S. 7–45. – In: Aktive Philosophie. Eine autobiographische Ideographie. Den Haag 1987, S. 31–62. Die jüdische Rasse [Aus: Der Judenhaß und die Juden]. In: Der Jude 2, Nr. 5 (1917–18), S. 299–307.

390 

 Schriften von Constantin Brunner

Traum. In: Die Zukunft 26, Nr. 11 (9. Februar 1918), S. 297 f. – In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 143–146. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 85 f. Heinrich Heine und eine Sorte literarischer Kritik [Aus: Der Judenhaß und die Juden]. In: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift 42, Bd. 166, Nr. 528 (September 1918), S. 295–306. Der Judenhaß und die Juden. Oesterheld & Co. in Berlin [Selbstanzeige]. In: Die Zukunft 27, Nr. 14 (11. Januar 1919), S. 39–43. Hermione von Preuschen. In: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde 21, Heft 10 (15. Februar 1919), Sp. 595–600. Sokrates. In: Die Zukunft 27, Nr. 50 (20. September 1919), S. 347–357. – In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 75–87. – Sokrates, der erste freie Mann (Auszug), in: Die Zeit Nr. 34 (25. August 1967). – Sokrates. Ein freier Mann (Auszug). In: Telos. Die Welt von morgen 46 (Januar 1969), S. 11 f. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 25–37. Inge von Holtzendorff. In: Die Zukunft 28, Nr. 22 (28. Februar 1920), S. 252 f.
 Die Juden und der Bolschewismus [Aus: Memscheleth sadon]. In: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift 44, Bd. 174, Nr. 551 (August 1920), S. 196–204. Emanzipation und Zionismus [Aus: Memscheleth sadon]. In: Im deutschen Reich. Zeitschrift des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 26, Nr. 9 (September 1920), S. 257–265.
 Gegen den Aberglauben in der Betrachtung von Geisteskranken. Ein Brief Constantin Brunners, mitgeteilt von Abraham Buschke. In: Medizinische Klinik. Wochenschrift für praktische Ärzte 21, Nr. 8 (20. Februar 1925), S. 304–306. – Ein Brief Constantin Brunners: Über den Aberglauben in der Betrachtung von Geisteskranken. In: Von Constantin Brunner und seinem Werk. Hg. von der Constantin Brunner-Gemeinschaft Berlin. Berlin: Gustav Kiepenheuer Verlag 1927, S. 72–76. – Über den Aberglauben in der Betrachtung von Geisteskranken. In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 259–264. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 259–263. Faustischer Geist und Untergang des Abendlandes. Eine Warnung für Christ und Jud. In: Jüdisch-liberale Zeitung 7, Nr. 3 (21. Januar 1927) S. 6 f. – In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 265–276. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 153–163. Hamburger „Chad gadjo“ (mitgeteilt von Constantin Brunner). Bearbeitet von Arno Nadel. In: Gemeindeblatt der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Musik-Beilage Nr. 4 (April 1927), S. 95 f. Bejahung des Geistes [Aus: Vom Einsiedler Constantin Brunner]. In: Berliner Tageblatt 56 (29. August 1927). Jesus Christus [Aus: Unser Christus]. In: Von Constantin Brunner und seinem Werk. Hg. von der Constantin Brunner-Gemeinschaft Berlin. Potsdam: Gustav Kiepenheuer Verlag 1927, S. 24–27. Natura sanat, medicus curat. In: Hippokrates. Zeitschrift für Einheitsbestrebungen der Gegenwartsmedizin 1, Heft 6 (1928), S. 441–487. – In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 211–258. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 207–258. In eigener und in unser aller Sache. In: C.V.-Zeitung 7, Nr. 6 (8. Februar 1929), S. 73 f. Ein neuer Brunner. Von den Pflichten der Juden und von den Pflichten des Staates [Aus: Von den Pflichten]. In: C.V.-Zeitung 9, Nr. 13 (28. März 1930), S. 161 f.
 Über die notwendige Selbstemanzipation der deutschen Juden. In: Preußische Jahrbücher 225, Heft 2 (August 1931), S. 132–141. – In: Vermächtnis. Den Haag 1952, S. 114–125. Erklärung. In: Jüdisch-liberale Zeitung 11, Nr. 44/45 (11. November 1931), S. 3. Von Benedikt Spinozas seligem Leben. In: Jüdisch-liberale Zeitung 12, Nr. 15 (1. November 1932), S. 3.



Aufsätze u.a. 

 391

Das Denken und das Gedachte (aus dem Nachlass). In: Philosophia 3 (1938), S. 204–219. – Gespräch. Das Denken und das Gedachte. In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 333–348. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 355–370. Geniale und dilettantische Produktion. In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 279–285. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 313–317. Goethes „Tagebuch“. In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 287–296. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 318–326. Die beiden Wohltäter. In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 297–309. – Die beiden Wohltäter: Ein Brief an Fritz Ritter. In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 327–339. Jonathan Swift. In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 311–317. – Jonathan Swift. Ein Brief an Ernst Ludwig Pinner. In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 340–345. Michel Angelo. (Meinem Lothar Bickel zugeeignet). In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 319–325. – Michelangelo. Meinem Lothar Bickel zugeeignet. In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 346–351. Zenos Veranschaulichung des Denkens. In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 327–331. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 352–354. Die Heiligen – ein kurzer Religionsunterricht. In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 349–384. – In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 313–317. Zeugnis. (Aus dem unveröffentlichten Werk „Der entlarvte Mensch“). In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 385–404.
 Aus dem Schlußkapitel des unveröffentlichten Werkes „Der entlarvte Mensch“. In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 405–417.
 Aus meinem Tagebuch (Fortsetzung). In: Kunst Philosophie Mystik. Zürich 1940, S. 419–468.
 Ein Lügenprophet des 2. Jahrhunderts (Alexander von Abonoteichos). Eine Erzählung Constantin Brunners, mitgeteilt von Magdalena Kasch. In: Die Constantin Brunner Gemeinschaft. Interne Zeitschrift. Hg. im Auftrag der Gruppe des Staates Israel von Aron Berman und Rozka Pinner 4, Heft 11 (August 1949), S. 33–49. Aus Constantin Brunners Testament. In: Die Constantin Brunner Gemeinschaft. Interne Zeitschrift. Hg. im Auftrag der Gruppe des Staates Israel von Aron Berman und Rozka Pinner 4, Heft 12 (Dezember 1949), S. 1–7 (gekürzt). – In: Vermächtnis. Den Haag 1952, S. 126–130. Aus dem Archiv: Von Constantin Brunner aufgeschrieben am 15. Februar 1924, mitgeteilt von Magdalena Kasch. In: Die Constantin Brunner Gemeinschaft. Interne Zeitschrift. Hg. im Auftrag der Gruppe des Staates Israel von Aron Berman und Rozka Pinner 6, Heft 1 (17) (August 1951), S. 40–42. Die Hochzeitsreise (Aus dem Brunner-Archiv). In: Die Constantin Brunner Gemeinschaft. Interne Zeitschrift. Hg. im Auftrag der Gruppe des Staates Israel von Aron Berman und Rozka Pinner 6, Heft 2 (18) (Dezember 1951), S. 40 f. Lebensregeln. In: Vermächtnis. Den Haag 1952, S. 1–34. Tagebuchaufzeichnungen. In: Vermächtnis. Den Haag 1952, S. 35–40.
 Notizen zu „Unser Christus“. In: Vermächtnis. Den Haag 1952, S. 41–45. Notizen zu den „Judenbüchern“. In: Vermächtnis. Den Haag 1952, S. 46–48. Am 6. März. In: Vermächtnis. Den Haag 1952, S. 49–113.
 Nachwort zu meinem Testament. In: Vermächtnis. Den Haag 1952, S. 130–210. Der Schlüssel. In: Vermächtnis. Den Haag 1952, S. 211–224.

392 

 Schriften von Constantin Brunner

Nachlese. In: Vermächtnis. Den Haag 1952, S. 225–240.
 Rede zum siebzigsten Geburtstag am 28. August 1932. In: Vermächtnis. Den Haag 1952, S. 241 f.
 Keine Psychiatrie und die Psychoanalyse [Aus: Aus meinem Tagebuch]. In: Vom Geist und von der Torheit. Hamburg 1971, S. 264–273.
 Constantin Brunner über Spinoza: Ein Brevier, ausgewählt und zusammengestellt von Magdalena Kasch unter Mitwirkung von Israel Eisenstein. In: Spinoza in neuer Sicht. Im Auftrag der Constantin-Brunner-Stiftung hg. von Leo Sonntag und Heinz Stolte. Meisenheim am Glahn: Verlag Anton Hain 1977, S. 9–15. Die Attribute [Aus: Materialismus und Idealismus]. In: Spinoza in neuer Sicht. Im Auftrag der Constantin-Brunner-Stiftung hg. von Leo Sonntag und Heinz Stolte. Meisenheim am Glahn: Verlag Anton Hain 1977, S. 16–71. Mein Leben und Schaffen [Aus: Vom Einsiedler Constantin Brunner]. In: Aktive Philosophie. Eine autobiographische Ideographie. Den Haag 1987, S. 85–133. Unsre scholastische Bildung [Aus: Vom Einsiedler Constantin Brunner]. In: Aktive Philosophie. Eine autobiographische Ideographie. Den Haag 1987, S. 135–155. Die aktive Philosophie [Aus: Aus meinem Tagebuch] In: Aktive Philosophie. Eine autobiographische Ideographie. Den Haag 1987, S. 157–171. Der Schreiber hört hier auf zu schreiben ... [Aus: Vom Einsiedler Constantin Brunner]. In: Aktive Philosophie. Eine autobiographische Ideographie. Den Haag 1987, S. 172–174. Ausgewählte Texte von Constantin Brunner. In: Aktive Philosophie. Eine autobiographische Ideographie. Den Haag 1987, S. 191–205. Ein Eingang zur Philosophie ... [Aus: Aus meinem Tagebuch, Vom Einsiedler Constantin Brunner]. In: Mnemosyne. ZEIT-Schrift für Geisteswissenschaften. Hg. von Armin A. Wallas und Andrea M. Lauritsch, Nr. 23 (1997), S. 10–24. Texte von Constantin Brunner [Anthologie]. In: Hendrik Matthes, Constantin Brunner. Eine Einführung. Düsseldorf: Parerga 2000, S. 59–126. Über Bachs Matthäuspassion [Aus: Unser Christus oder das Wesen des Genies]. In: Internationaal Constantin Brunner Instituut. Jahrbuch 2001 (Brunner im Gespräch 5). Essen: Verlag Die Blaue Eule 2001, S. 105–109. Die vernunftlose Gewalt des Krieges (1933) [Aus: Der entlarvte Mensch]. In: Krieg. Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Arbeitstexte für den Unterricht. Hg. von Michael Czelinski und Jürgen Stenzel. Stuttgart: Reclam 2004, S. 113–116.

Briefe Gegen den Aberglauben in der Betrachtung von Geisteskranken. Ein Brief Constantin Brunners (1925), s. Aufsätze (1925). [Briefwechsel zwischen Brunner und dem Völkerversöhnungsbund]. In: Höre Israel. Der Rettungsanker der Völker ist die Lösung des Problems: Die Judenfrage. Hg vom Völkerversöhnungsbund. Hamburg: 1926, S. 13 f. [Briefe an Friedrich Kettner]. In: Friedrich Kettner, Die erste Spinoza-Gemeinschaft oder Der Anti-Egoist. Ein Ethisches Drama. Und ein Vor-Wort an Constantin Brunner. Wien: Artur Wolf 1929, S. VIII, XII, XIII f. [Brief an das Spinoza Institute]. In: Baruch Spinoza. Addresses and Messages Delivered and Read at the College of the City of New York on the Occasion of the Tercentenary of Spinoza,



Briefe 

 393

November 23rd, 1932. Hg. vom Spinoza Institute of America. New York: Astoria Press 1933, S. 32. Assimilation und Nationalismus. Ein Briefwechsel mit Constantin Brunner. Hg. von Willy Aron. In: Aufbau, New York 1, Nr. 11 (1. Oktober 1935), S. 8 f. und 2, Nr. 1 (1. Dezember 1935), S. 8 f. Konstantin Brunner und Jakob Klatzkin. Ein Briefwechsel. In: Israelitisches Wochenblatt. Jüdisches Informations-Organ. Erstes alteingeführtes schweizerisches israelitisches Familienblatt 37, Nr. 37 (10. September 1937), S. 5–7. Die beiden Wohltäter. Ein Brief an Fritz Ritter, s. Aufsätze (1940).
 Jonathan Swift. Ein Brief an Ernst Ludwig Pinner, s. Aufsätze (1940).
 Constantin Brunners Antwort auf einen Brief von Pinner ... In: Die Constantin Brunner Gemeinschaft. Interne Zeitschrift. Hg. von Aron Berman und Rozka Pinner 6, Heft 3 (19) (April 1952), S. 43–45.
 Briefe von Constantin Brunner aus dem Archiv: An Leo Berg, an Harry Hertz, an Nicolai Graf Glehn, an Schimko. In: Die Constantin Brunner Gemeinschaft. Interne Zeitschrift. Hg im Auftrag der Gruppe des Staates Israel von Aron Berman und Rozka Pinner 8, Heft 1 (23) (August 1953), S. 18–39. Briefe Constantin Brunners an Frau Löwenthal (Auswahl). Aus dem Archiv. In: Die Constantin Brunner Gemeinschaft. Interne Zeitschrift. Hg. im Auftrag der Gruppe des Staates Israel von Aron Berman und Rozka Pinner 8, Heft 2 (24) (Dezember 1953), S. 32–44 und Heft 3 (25), (April 1954), S. 26–40. Briefe Constantin Brunners an I. Eisenstein. In: Die Constantin Brunner Gemeinschaft. Interne Zeitschrift. Hg. im Auftrag der Gruppe des Staates Israel von Aron Berman und Rozka Pinner 9, Heft 1–2 (August–Dezember 1954), S. 40–46. Constantin Brunner, Briefe. In Zusammenarbeit mit Magdalena Kasch hg. vom Constantin-Brunner-Kreis Tel Aviv, Bd. I, Tel Aviv: Lidor Printing-Press [1964], Bd. II, Tel Aviv: NA’OT-Printers 1964. [Verschiedene Briefe 1903–1932]. In: Lotte Brunner, Es gibt kein Ende, Die Tagebücher. Hg. von Leo Sonntag und Heinz Stolte. Hamburg: Hansa-Verlag 1970. Martin Buber. Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Band I: 1897–1918. Hg. von Grete Schaeder. Heidelberg: Lambert Schneider 1972, S. 295 f. [Briefe Brunners an Eli Rottner, Friedrich Kettner, Simson Ball und Ignatz Ausländer]. In: Eli Rottner, Das ethische Seminar in Czernowitz. Die Wiege des internationalen ConstantinBrunner-Kreises. Dortmund: Gerhard Schippel 1973, S. 88–98. Brief Constantin Brunners vom Haag an einen Freund im Jahre 1934 / Brief von Constantin Brunner an Fritz Blankenfeld – Berlin, Sommer 1936. In: Philosophia sive Ethica. Interne Zeitschrift, Gedenkschrift: Magdalena Kasch (1885–1981). Hg. vom ICBI [28. August 1981], S. 34–36. Briefe Constantin Brunners an Walter Bernard. In: Philosophia sive Ethica. Interne Zeitschrift, Gedenkschrift: Walter Bernard (1902–1981). Hg. vom ICBI (Februar 1982), S. 13. Briefwechsel zwischen C. Brunner und L. Bickel / Brunners Brief an die Czernowitzer. In: Gedenkbuch in memoriam Lothar Bickel. Sein inniges Verhältnis zu Constantin Brunner. Der Briefwechsel zwischen ihnen. Über Bickels Persönlichkeit und Wirken. Im Auftrage des ICBI hg. von Israel Eisenstein und Shalom Miron. Tel Aviv: Kwik- Kopy Printing 1985, S. 13–68.

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 Schriften von Constantin Brunner

Ernst Altkirch op het Meijerplein (1910) & Een Brief van Constantin Brunner uit 1910. In: Jaap Meijer, Om de verloren Zoon. Supplementum sefardicum Needlandicum. D.i.: Balans der Ballingschap. Bijdragen tot de Geschiedenis der Joden in Nederland 13 (1988), S. 42–45. [Verschiedene Briefe 1935–1937]. In: Magdalena Kasch, Meine letzten Jahre mit Constantin Brunner. Aufzeichnungen aus den Jahren 1935–37. Mit einem Geleitwort von Jürgen Stenzel hg. vom ICBI. Den Haag 1990. Briefe von Constantin Brunner an Walter Bernard über den Kommunismus. In: Philosophia Activa. Zeitschrift der Constantin-Brunner-Forschung. Hg. von Michael Czelinski und Thomas Erkelenz 2, Heft 1 (1991), S. 82–99. [Brief an Leo Sonntag]. In: Leo Sonntag. Ein jüdisches Emigrantenschicksal. Hg. von Jürgen Stenzel (Brunner im Gespräch 1). Essen: Die Blaue Eule 1994, S. 106–109. Walther-Rathenau-Gesamtausgabe, Band V, 2, Briefe: 1914–1922. Hg. von Alexander Jaser, Clemens Picht und Ernst Schulin. Düsseldorf: Droste 2006, S. 2097 f., 2100 f., 2116 f., 2119 f., 2125, 2131, 2134 f., 2156–2158, 2189 f., 2224 f., 2248 f., 2441, 2446, 2448. Ausgewählte Briefe 1884–1937. Hg. von Jürgen Stenzel und Irene Aue-Ben-David, mit einem Vorwort von Gerhard Lauer. Göttingen: Wallstein-Verlag 2012.

Übersetzungen Jews and the European Aristocracy. In: The Reflex, New York 1 (August 1927), pp. 68–71. Hai v’asiti. In: Moznayim 2, Nr. 1 (April 1930), S. 4–6.
 Spinoza contre Kant et la Cause de la Vérité spirituelle. Traduit et précédé d’un avantpropos par Henri Lurié. Paris: Librairie Philosophique J. Vrin 1932. – 2ème edition Paris: Librairie Philosophique J. Vrin 1933.
 M’divrei Konstantin Brunner (1862–1937). Hotsa’at hug Konstantin Brunner. Tel Aviv 1942. Reflections. Collected by Hans Margolius, Selected by Magdalena Kasch and George Goetz, Translated by Sanel and Eloise Beer. In: New Yorker Staatszeitung (24. August 1947).
 Report on Man. Translated and with a prefatory note by Abraham Suhl. In: The Personalist (January 1948), pp. 32–41.
 Pages de Journal. Traduit par Marcel Leconte. In: 84, Editions de Minuit, No. 8–9 (Sommaire 1949), p. 252–255.
 Los Artistas y los Filósofos. In: DAVAR. Revista Literaria, Editado por la Sociedad Hebraica Argentina 36 (Septiembre-Octubre 1951), p. 49–58.
 Témoignage. Traduction de Marthe Robert. In: Les Temps Modernes (Juin 1952), p. 2173–2194.
 Propos sur le Cosmopolitisme. In: Evidences, Mensuel, Cinquième Année 35 (Novembre 1953), p. 30–32, 58.
 Le Christ et Maître Eckhart. Traduit de l’allemand par Dominique Aury et Léo Sontag. In: La Nouvelle Nouvelle Revue Française 2, No. 15 (1er Mars 1954), p. 569–576. Christophore. Un conte inédit de Constantin Brunner. Traduit par Dominique Aury et Léo Sonntag. In: Le Figaro Litteraire (25. Decembre 1954), p. 5.
 Yetsirati. In: Davar (28. Oktober 1955), S. 6.
 Michel-Ange. Traduit par Léo Sontag et Dominique Aury. In: La Nouvelle Nouvelle Revue Française 3, No. 37 (1er Janvier 1956), p. 187–192.
 Ha-filosofia shel Konstantin Brunner. Antologiah. Hisdirtigem v’tsiref mavo Aharon Berman. Tel Aviv 1957.



Übersetzungen 

 395

Gœthe et Spinoza. Traduit de l’allemand par Danièle Sontag. In: Cahiers des Saisons, No. 25 (Printemps 1961), p. 549–552.
 Le premier Amour. Traduit de l’allemand par Léo Sontag et Dominique Aury. In: La Nouvelle Revue Française 9, No. 104 (1er Août 1961), p. 381–392.
 Bref Exposé de la Doctrine des Hommes de l’Esprit et des Autres. Traduit par Robert Rovini. In: Cahiers du Sud 51, No. 375, Tome LVII (Déc. 1963 – Janv. 1964). D.i.: Constantin Brunner, un philosophe hors les murs (1862–1937), p. 35–54.
 Amour (Fragments). Traduit par Dominique Aury, Léo Sonntag et Henri Thomas. In: Cahiers du Sud 51, No. 375, Tome LVII (Déc. 1963 – Janv. 1964). D.i.: Constantin Brunner, un philosophe hors les murs (1862–1937), p. 55–78. Matérialisme et Idéalisme. Dernier chapitre: Les Attributs.Traduit par Robert Rovini. In: Cahiers du Sud 51, No. 375, Tome LVII (Déc. 1963 – Janv. 1964). D.i.: Constantin Brunner, un philosophe hors les murs (1862–1937), p. 79–123. El Materialismo y El Idealismo. Versión castellana de Mira y Kerala [d.i. Mira Schneider], Buenos Aires: Lopez Libreros Editores 1966. – In: Vida contemplativa y Vida activa. El Materialismo y El Idealismo. Versión castellana de Mira y Kerala [d.i. Mira Schneider]. [Buenos Aires] 1966, S. 143–284. Vida contemplativa y Vida activa. El Materialismo y El Idealismo (Nuestro carácter o „Yo tengo razón“, Breve exposición sobre la Doctrina de los Espirituales y el Vulgo, El Materialismo y El Idealismo, La Pesadilla, Christophoros, Predica Dominical, Sócrates, Cristo y Judas, La Relacion de Goethe con Spinoza, Gloria, El Saber y la Creencia en los Milagros del conocimiento). Versión castellana de Mira y Kerala [d.i. Mira Schneider]. [Buenos Aires] 1966. L’Amour. Traduit et adapté de l’allemand par Dominique Aury, Henri Thomas et Leo Sonntag. Préface de Henri Thomas. [Paris]: Gallimard 1968. Amandus. Traduction de Dominique Aury, Leo Sonntag et Henri Thomas. In: Preuves 18, No. 206 (Avril 1968), p. 24–26. Le mariage. L’impensable altruismue, traduction de Dominique Aury, Leo Sonntag et Henri Thomas. In: Constantin Brunner, philosophe hors les murs. In: Le Monde No. 7350 (31 août 1968) Supplement, p. 4. Science, Spirit, Superstition. A new Enquiry into Human Thought. Abridged and translated by Abraham Suhl, Revised and edited by Walter Bernard. Preface by Walter Bernard. London: Allen & Unwin und Toronto: University of Toronto Press 1968. Artistes et philosophes. In: Les nouveaux cahiers, Trimestriel 10, No. 39 (Hiver 1974–1975), p. 38–43. Jonathan Swift. Translated by Walter Bernard. In: Arsenal. Surrealist Subversion 3 (Spring 1976), pp. 102 f. Het Fiktieve Denken. Inleiding, samenstelling en vertaling door Evert Bekius, met een voorwoord van M. H. Würzner (Philosophia Spinozae Perennis: Spinoza’s Philosophy and Its Relevance 6). Assen: Van Gorcum 1984. Our Christ: The Revolt of the Mystical Genius. Preface from M. Baraz. Translated by Graham Harrison and Michael Wex. Edited by A. M. Rappaport. Assen-Maastricht: Van Gorcum 1990. The Tyranny of Hate. The Roots of Antisemitism. Translated by Graham Harrison. Abridged, edited and with a preface by Aron M. Rappaport. Lewiston-Queenston-Lampeter: The Edwin Mellen Press 1992.

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 Schriften von Constantin Brunner

Teksten van Constantin Brunner. In: Waarheid en Bijgeloof. Leven en Werk van Constantin Brunner Inleiding, samenstelling en vertaling door Hendrik Matthes. Leende: Damon 1999, p. 57–118. Le malheur de notre peuple allemand et nos „Völkisch“ (1924). Un philosophe allemand de l’antisémitisme, du nazisme et du sionisme. Introduction, traduction et notes de Jacques Aron. Éditions du centre d’études et de documentation – Mémoire d’Auschwitz, Bulletin Trimestriel de la Fondation Auschwitz, No. spécial 98 (janviers–mars 2008). – 2ème édition Bruxelles: Didier Devillez Èditeur 2008. Écoute Israël. Écoute aussi Non-Israël (Les Sorcières) et La nécessaire auto-émancipation des juifs allemands [1931]. Introduction, traduction et notes de Jacques Aron. Bruxelles: Didier Devillez Èditeur 2011. Des devoirs des Juifs et des devoirs de l’État. Préface, notes et traduction de l’allemand par Jacques Aron. Bruxelles: Les Éditions Aden [2011].

Autoren und Autorinnen Autoren und Autorinnen Dr. Jacques Aron, geb. 1933 in Antwerpen, von 1958–1998 freischaffender Architekt und Städteplaner, von 1964–1998 Professor der Architekturgeschichte und -theorie am Architekturund Kunstinstitut „La Cambre“ in Brüssel. Kunstkritiker (Mitglied in der AICA) und Essayist. Zahlreiche Veröffentlichungen zur europäischen Lage der Juden seit der Emanzipation. Über­setzung mit Einleitung von drei Werken Constantin Brunners ins Französische: Le malheur de notre peuple allemand et nos „Völkisch“  (Devillez et Mémoire d’Auschwitz, Brüssel 2008); Des devoirs des Juifs et des devoirs de l’État (Aden, Brüssel 2011); Écoute Israël, Écoute aussi Non-Israël ou Les sorcières (Devillez, Brüssel 2011). Dr. des. Irene Aue-Ben-David, Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Soziologie und Pädagogik, Promotion 2010 an der Universität Göttingen. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Franz Rosenzweig Minerva Forschungszentrum in Jerusalem. Forschungen zur deutschjüdischen Historiographiegeschichte und zur Wissenschaftsemigration. Mitherausgeberin von Constantin Brunner: Ausgewählte Briefe (Göttingen 2012). Dr. Bernd Auerochs, geb. 1960, Prof. für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: deutsch-jüdische Literatur, Literatur und Philosophie, Literatur und Religion, Geschichte des Romans, moderne Lyrik. Publikationen in Auswahl: Die Entstehung der Kunstreligion (Göttingen 2006, 22009); zusammen mit Manfred Engel (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stuttgart, Weimar 2010). Helmut Braun, geb. 1948. Studium in Köln. Beiratsvorsitzender der Rose Ausländer-Stiftung; Literaturwissenschaftler und Historiker; Verleger, Autor, Kurator und Herausgeber, u.a. des Gesamtwerks von Rose Ausländer und des Gesamtwerks von Edgar Hilsenrath. Zuletzt: Selma Meerbaum-Eisinger. Du, weiß du, wie ein Rabe schreit? Die Gedichte nach den Handschriften (Aachen 2013). Dr. Elisabeth Conradi ist Professorin für Philosophie und Gesellschaftstheorie an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart. Sie ist auch Angehörige der Universität Göttingen, wo sie im Fach Politikwissenschaft habilitierte. Publikationen über Hannah Arendt und Margarete Susman, über die ethics of care und zur historischen Verantwortung. Ihr demokratietheoretisches Interesse gilt Fragen der Marginalisierung und Exklusion, dem zivilgesellschaftlichen Engagement sowie der Partizipation. Dr. Tobias Fox studierte Physik an der Universität Rostock und am Teilchenbeschleuniger DESY in Hamburg. Nach dem Studium der Philosophie in Rostock promovierte er 2006 an der Universität Dortmund zum Thema des Atomismus in gegenwärtigen physikalischen Materiemodellen. Seit 2012 ist er als Patentanwalt in Wien tätig. Dr. Hans Goetz, geb. 1921 in Danzig, gest. 2013 in Kopenhagen. 1938 Abitur in Berlin. 1939–43 Musikstudium in Kopenhagen. 1943–45 als Flüchtling in Schweden. 1945–90 Musiker in Aalborg und Kopenhagen. 1972–79 Philosophiestudium an der Universität Kopenhagen. Ab

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 Autoren und Autorinnen

1969 Vorstandsmitglied des Internationaal Constantin Brunner Instituut in Den Hag (1990–2006 Vorsitzender), seit 1983 auch Vorstandsmitglied der Constantin-Brunner-Stiftung Hamburg. Publikationen u.a.: Leben ist Denken. Eine Schrift zur Renaissance des deutschen Denkers Constantin Brunner (1987); Der ethische Egoismus. Individuum, Gattung, Gesellschaft, Staat (1993). Dr. Andreas B. Kilcher ist Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich und Mitglied des Zentrums für Geschichte des Wissens der ETH und Universität Zürich. Gastprofessuren in Jerusalem, Berlin, Bern, Princeton. Arbeitsschwerpunkte: Jüdische Literatur- und Kulturgeschichte; literatur- und kulturwissenschaftliche Wissensforschung; Esoterikforschung. Jüngste Buchpublikationen: Franz Kafka (2008); Max Frisch (2011). Dr. Gerhard Lauer ist Professor für Deutsche Philologie an der Universität Göttingen. Er ist Mitherausgeber des „Journal of Literary Theory“. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Literaturgeschichte, kognitive Literaturwissenschaft und Digital Humanities. Zuletzt erschienen sind Kunst und Empfindung (2012, zus. mit E. Décultot), Lexikon Literaturwissenschaft (2011, zus. mit C. Ruhrberg), Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationsforschung (2010). Dr. Frank Mecklenburg, Leo Baeck Institute New York, promovierte 1981 zum Dr. phil. an der Technischen Universität Berlin, seit 1984 Archivar am Leo Baeck Institute New York, ab 1996 Chefarchivar und Forschungsdirektor. Dr. Paul Mendes-Flohr, geb. 1941, ist  Professor Emeritus der Hebräischen Universität in Jerusalem, wo er der langjährige Leiter des Franz Rosenzweig Minerva Forschungszentrums für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte war. Seit seiner Emeritierung ist er  Dorothy Grant Maclear Professor of Modern Jewish Thought and  History an der University of Chicago. Sein Forschungsschwerpunkt ist jüdische Intellektuellengeschichte im 19./20. Jahrhundert. Er publizierte u.a. zu Martin Buber, Franz Rosenzweig, Gershom Scholem und Leo Strauss. Publikationen u.a. Jüdische Identität: Die zwei Seelen der deutschen Juden (2004);  The Jew in the Modern World: A Documentary History (1980). Mitherausgeber der Martin Buber-Werkausgabe. Aubrey Pomerance, geb. 1959; Studium der Judaistik und Ost- und Südosteuropäischen Geschichte an der Freien Universität Berlin. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Judaistik der FU Berlin 1995–1996; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte 1996–2001. Seit 2001 Archivleiter des Jüdischen Museums Berlin und Direktor der dortigen Dependance des Archivs des Leo Baeck Instituts New York. Veröffentlichungen zur deutsch-jüdischen Gedenkkultur, zu jüdischen Lebenswegen in der NS-Zeit und zu jüdischen Fotografen in Berlin. Dr. Martin Rodan studierte französische Literatur, klassische Studien und Philosophie an den Universitäten Bratislava, Jerusalem und Clermont-Ferrand, wo er sich mit seiner Doktorarbeit Camus und das Altertum habilitierte. Er ist Dozent für Philosophie und Ästhetik am Hadassah College, Jerusalem und für Französische Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. 2009 erschien sein Buch Notre culture européenne, cette inconnue (Unsere unbekannte



Autoren und Autorinnen 

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europäische Kultur) im Peter Lang Verlag in der Schweiz, und 2014 im selben Verlag das Buch Camus et l’antiquité (Camus und das Altertum). Dr. Hans-Rüdiger Schwab, geb. 1955 in Karlsruhe, studierte Germanistik und Katholische Theologie in Würzburg und München, promovierte bei Walter Müller-Seidel mit einem Thema zum politischen und sozialen Denken der Spätromantik, war Dramaturg am Schauspielhaus Zürich und Leiter der Redaktion „Kunst und Literatur“ beim Bayerischen Fernsehen in München. Seit 1996 Professor für Kulturpädagogik/Ästhetik und Kommunikation an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster. Einige Filme, zahlreiche Veröffentlichungen zur Literatur und Philosophie mit den Schwerpunkten frühe Moderne, Gegenwart und Humanismus. Zuletzt erschien, von ihm erstmals herausgegeben und kommentiert: Lou AndreasSalomé: Aufsätze und Essays. 5 Bde. (2010–2013).   Dr. Peter Sprengel, geb. 1949 in Berlin, Studium der Germanistik und Klassischen Philologie, Promotion Hamburg 1976, Habilitation TU Berlin 1981. Professuren in Erlangen, Kiel, seit 1990 an der FU Berlin. Schwerpunkte: Drama und Theater, Klassische Moderne. Buchveröffentlichungen in Auswahl: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900 (1998), Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918 (2004), Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biographie (2012). Dr. Jürgen Stenzel, Wissenschaftlicher  Mitarbeiter am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen. Arbeitsschwerpunkte: deutsch-jüdische Geistesgeschichte  und Spinozismus. Vorsitzender der Constantin-Brunner-Stiftung in Hamburg und des Internationaal  Constantin Brunner Instituut in Den Haag. Zahlreiche  Arbeiten über Constantin Brunner, u.a. die phil. Diss. Philosophie als Antimetaphysik. Zum Spinozabild Constantin Brunners (Würzburg 2002), zuletzt (mit Irene Aue-Ben-David): Constantin Brunner: Ausgewählte Briefe (Göttingen 2012). Renate Stolte-Batta, geb. 1939 in Berlin, 1957 Flucht in den Westen, Studium in Tübingen und Hamburg. 1964 bis 2004 im Hamburger Schuldienst. Erste Ehe mit dem Literaturwissenschaftler Heinz Stolte (1914–1992). Zum Themenkreis Brunner u.a. Publikationen: Das Lächeln von Reims – Kunst erleben mit Leo Sonntag; Engagement erobert Herzen. Leo Sonntag im Briefwechsel mit Heinz Stolte (Essen 1994); Walther Rathenau und Constantin Brunner. Aspekte einer außergewöhnlichen Beziehung (Essen 1995); „...dass ich zur Menschheit gehöre“ Lotte Brunner. Eine Biographie (Norderstedt 2012). Vorstandsmitglied beider Brunner-Stiftungen. Dr. Bernhard Wasserstein, geb. 1948, ist Harriet and Ulrich Meyer Professor of Modern European Jewish History an der University of Chicago.  Er studierte Geschichte in Oxford und an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Von 1996–2000 war er Präsident des Oxford Centre for Hebrew and Jewish Studies. Er lehrte an den Universitäten Sheffield, Glasgow, und Brandeis sowie an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Zu seinen Publikationen zählen The British in Palestine, Britain and the Jews of Europe 1939–45, Herbert Samuel, The Secret Lives of Trebitsch Lincoln, Secret War in Shanghai, Divided Jerusalem, Barbarism and Civilization, und zuletzt On the Eve: the Jews of Europe before the Second World War. 

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 Autoren und Autorinnen

Claudia Weinzierl, M.A., geb. 1963. Studium der Sprach-, Literatur- und Theaterwissenschaften sowie Philosophie in Wien, Hannover, Paris. Arbeitete als Dramaturgin an den Theatern Bremen und Wiesbaden sowie als PR- und Projektleitung im Kunst- und Kulturbereich. Pädagogische Leitung mit Seminartätigkeit in der Dauerausstellung „Dialog im Dunkeln“. Autorin und Projektleiterin u.a. von „Wegzeit – Kulturen Pendeln“ im Auftrag der Kulturhauptstadt Linz und für das pädagogisch-mediale Jugend-Projekt „Mühlviertler Hasenjagd“ (2010) im Auftrag der Parlamentsdirektion Wien. Ab 2008 Promotionsstudium Medienphilosophie und Anthropologie der  Kunst an der Akademie der Bildenden Künste, Wien. Dissertation über das Werk von Lou Andreas-Salomé bei Elisabeth von Samsonow und Peter Sloterdijk. Lehrt Ästhetik/Feminismus/ Verschriftlichung von visuellen Konzepten an der Kunstuniversität Linz, der Universität Wien und Ethik an der Modeschule Hetzendorf/Wien. Lebt und arbeitet auch als freie Autorin und Essayistin in Wien. Dr. David Wertheim, Direktor des Menasseh ben Israel Institute for Jewish Social and Cultural Studies, Amsterdam. 2005 PhD an der Universität Utrecht. Er ist der Autor von Salvation through Spinoza, a Study of Jewish Culture in Weimar Germany (Leiden 2011). Zudem publizierte er zur intermedialen Rezeption des Tagebuchs der Anne Frank. Zur Zeit arbeitet er an einer Monographie über den niederländischen Neukantianer A. C. Elsbach. Dr. Moshe Zimmermann, geb. 1943, ist Professor em. der Hebräischen Universität in Jerusalem, wo er 1986–2013 das Richard Koebner Minerva Center for German History leitete. Seine For­schungsschwerpunkte sind die deutsche Sozialgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, die Geschichte der deutschen Juden und des Antisemitismus, die Geschichte des Films sowie des Sports. Er  war Gastprofessor  u.a. an den Universitäten Halle, Heidelberg, Göttingen, Kassel, Mainz, München und Krakau. Zu seinen letzten Publikationen zählen Deutsche gegen Deutsche. Das Schicksal der Juden 1938–1945. Berlin 2008 sowie zusammen mit Eckart Conze, Norbert Frei und Peter Hayes: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik (München 2010).

Autoren und Autorinnen Personenregister Personenregister

Personenregister Personenregister Aberbach, David 209, 227 Abraham a Sancta Clara 75 Adamczak, Bini 236 Addison, Joseph 58 f. Adorno,Theodor W. 236 Aeschylos 63 Ahlwardt, Hermann 291 Aliet, Jacob 173 Alquié, Ferdinand 46 Althaus, Paul 203 Altkirch, Ernst 40, 213–215, 217, 298, 306 Ampère, André Marie 153 Andersen, Friedrich 182 Andreas-Salomé, Lou 1, 7, 19, 36, 39, 132, 181, 306, 334–352, 377 Angress, Werner T. 208 Appelfeld, Aharon 366 Arendt, Hannah 171, 173, 226, 235 f. Aristoteles 68 Arndt, Ernst Moritz 271 Arndt, Susan 236 Aron, Willy 310, 322, 326 Asch, Sholem 199 Assall, Peter 360 Aue-Ben-David, Irene 20 Auerbach, Berthold 98, 203 Auerbach, Rosalie (s. Brunner, Leoni) Augustinus 322 Ausländer, Irving (Ignaz) 354–360 Ausländer, Rose 8, 20, 40 f., 92, 353–364 Avenarius, Ferdinand 66 Avogadro, Amedeo 152 Baader, Franz von 190 Baalschem (Israel ben Elieser) 323 Bab, Julius 31 Bach, Johann Sebastian 91 f., 307 f., 319 Bacon, Roger 112 Baeck, Leo 36, 47, 96, 101, 198 Baer, Karl Ernst von 120 Ballard, Jean 46 Balzac, Honoré de 310 f. Bambach, Charles R. 70 Barasch, Moses 36, 40

Baraz, Michaël 47, 84–86 Barkai, Avraham 50, 203, 265, 278 Barlach, Ernst 193 Bartels, Adolf 275 Barth, Karl 71, 179 Barth, Ulrich 178 Baudisch, Paul 43 Bauer, Bruno 271–274, 277 Bäumer, Eduard 40 Baur, Ferdinand Christian 177 Bebel, August 301 Beethoven, Ludwig van 56, 91 f., 180, 307 f., 312 Behre, Maria 364 Bein, Alex 269 Ben-Chorin, Schalom 198 f. Ben Gurion, David 47, 321 Benjamin, Mara H. 71 Benjamin, Walter 199 Benn, Gottfried 185 Benne, Christian 181 Beradt, Martin 8, 31 Berg, Leo 2, 40, 56 f., 59, 61–67 Bergmann, Shmuel Hugo 47 f., 321 Bergson, Henri 125–127, 284 f. Berkeley, George 115 f., 118, 126, 129 Berlin, Isaiah 374 Bernard, Walter 10, 355–357, 362–364 Bernhard, Thomas 70, 79 f. Bernhart, Joseph 193 Bernoulli, Carl Albrecht 339 Bertram, Ernst 193 Besch, Heribert 40 Besser, Max 260 Beyer, Max 63 Bialik, Haim Naham 27, 376 Bickel, Lothar (Eliezer; Lazar) 10, 17, 19, 20, 46, 48 f., 86, 113, 115 f., 123, 306, 354, 361 f., 365–381 Bickel, Isak 366 Bickel, Mädy (Peppi Madeleine) 377 f. Bickel, Mischa 371 Bickel, Peter J. 366, 373, 376 Bickel, Shlomo 366 f., 371, 375 f., 379

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  Personenregister

Bierbaum, Otto Julius 64–66 Bilaam 98 Bilke, Rudolf 37 Birnbaum, Nathan 256, 275 f. Bismarck, Otto von 230 f. Bittlinger, Margarete 306 Blankenfeld, Fritz 9, 118, 264, 300, 319 Bleibtreu, Hans 230 Bloch, Ernst 30, 170, 192, 199 Blüher, Hans 183, 203 Boden, August 177 Bodenheimer, Max 256 Boeckel, Otto 231 Boehlich, Walter 273 Bohr, Niels 156 f. Bollenbeck, Georg 3 Boltzmann, Ludwig 153–155 Bolz, Norbert 9 Bonhoeffer, Dietrich 179 Börne, Ludwig 272 Boscovich, Roger 148 Botsch, Gideon 29 Bousset, Wilhelm 178 Brackman, Harold 187 Brandt, Alice 308 Braun, Bernhard 196 Braun, Zwi 245 Brenner, Michael 28 f., 214 Breton, André 36, 46 Britschgi-Schimmer, Ina 329 Brod, Max 47, 199, 202 f. Brunner, Leoni (Müller-Auerbach, Rosalie) 5, 10, 16, 20, 45, 55, 57, 214, 305 f., 308–310, 313, 315, 317 Brunner, Lotte (Müller-Wertheimer, EliseCharlotte; Stigter-Brunner, Lotte) 5, 8, 10, 15 f., 19 f., 33–35, 38–40, 45, 58, 64, 67, 112, 118, 123, 125, 127–129, 171, 196, 210 f., 214–216, 218, 272, 284, 288 f., 306–319, 323, 331 f., 336, 342 f., 346, 357, 359 f., 370–372, 377–379 Bryce, James 219 Buber, Martin 7, 23, 28, 31, 35 f., 39, 41, 47, 104, 121, 131 f., 195 f., 198, 203, 305 f., 310, 321–333, 337, 345 Bülow, Hans von 56 Bultmann, Rudolf 179 Personenregister

Burgh, Albert 187 Buschke, Abraham 40 Busyn, Max 17 Büttner, Herman 191–193 Camus, Albert 36, 46, 85, 142 Canterbury, Anselm von 190 Carlyle, Thomas 181 Carnap, Rudolf 133, 135 f. Celan, Paul 363 Chamberlain, Houston Stewart 181 Chaplin, Charlie 235 Christus (s. auch Jesus) 7, 35, 88 f., 97–100, 105, 167, 170–204, 210, 262, 330, 368 Claussen, Johann Hinrich 178, 191 Cohen, Hermann 28, 93, 121, 278, 330, 333 Colerus, Johannes 98 Collins, Patricia Hill 236 Comte, Auguste 143 Conradi, Elisabeth 234 f., 241, 251 Cornford, Francis Macdonald 338 Costa, Arnim 361 f. Dalberg, Johann Friedrich von 187 Dalton, John 152 f. Darwin, Charles 120, 281, 284 Dauthendey, Max 61, 64 David 91 Degenhardt, Ingeborg 191–193 Dehmel, Richard 64, 180 Deist, Wilhelm 215 Deleuze, Gilles 188 Dempf, Alois 193 Derrida, Jacques 78 Deussen, Paul 1 Diederich, Eugen 191 f. Dilthey, Wilhelm 125, 127, 337 Disraeli, Benjamin 27 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 91, 181 Drescher, Hans-Georg 178 Drews, Arthur 173, 192 Dreyfus, Alfred 255 Dubbels, Elke 199 Dühring, Eugen 255, 274–276, 281 Ebbinghaus, Julius 72 Ebner, Ferdinand 179, 333

 Eckert, Willehad Paul 191–193, 195 Einstein, Albert 133 f., 188, 312 Eisenstein, Israel 19, 115, 117, 121, 125, 127, 323 Eisenstein, Shilo (Meschulam) 19, 366–370, 372, 377, 379 Eisler, Hanns 30 Eisler, Rudolf 123 Engel, Eduard 209 Engel, David 224 Engels, Friedrich 235 Ernst, Otto 2, 56, 62, 120, 309 Fabian, Bernhard von 174 Falke, Gustav 2, 309 Faraday, Michael 153 Fechner, Theodor 151 Fenske, Wolfgang 182 Feuerbach, Ludwig 117 Feyerabend, Paul 138 Fichte, Johann Gottlieb 95, 115 f., 129, 175, 215 Fischer, Jens Malte 272, 289 Fischer, Karl August 182 Fitger, Arthur 64 Flasch, Kurt 191, 193 f. Fleck, Christina Juliane 175 Flick, Bine 236 Fontane, Theodor 61 Förster, Bernhard 231, 291 Förster-Nietzsche, Elisabeth 339, 346 Foucault, Michel 236 Fourier, Charles 368 Frank, Jacob 380 Frank, Walter 282 Frankenberg, Ruth 234 Frege, Gottlob 133, 135, 143 Freud, Sigmund 132 f., 236, 249 f., 334 f., 337, 343, 346–352, 374 Friedell, Egon 183 f. Fries, Jacob Friedrich 271 Fritsch, Theodor 231, 291 Fuchs, Eugen 219, 255, 259 Fuchs, Gotthard 192 Gambetti 79 Gandhi, Mahatma 165 Gast, Peter 339

Personenregister 

 403

Gaulke, Johannes 40 Gebhardt, Carl 187 Geiger, Abraham 198 Geiger, Ludwig 278 George, Stefan 5, 61, 64, 71 Gieseler, Johann Karl Ludwig 190 Gillot, Hendrik 338 Glatzer, Nahum 71 Goethe, Johann Wolfgang 9, 59, 63 f., 75, 91 f., 95 f., 101, 175, 238, 314, 319, 335 Goetz, George 86, 93, 152, 156 Goetz, Hans 46, 50, 82 f., 85, 133, 141 f., 144 Goldmann, Nahum 262 Goldschmidt, Hermann Levin 49 f., 321 f. Graf, Friedrich Wilhelm 71 Gross, Friedrich 180 Grottewitz, Curt 3, 62 Grünberg, Phöbus 323 Grünewald, Matthias 91 Grünfeld, Emil (Kimchi) 9, 264, 299 f. Grunwald, Max 96 Gschwandtner, Harald 193 Guardini, Romano 179 Guillaumin, Colette 242 Gumbel, Emil Julius 26 Günther, Ernst 176–178 Gurk, Paul 193 Haeckel, Ernst 124, 143 Halbmayr, Alois 192 Hamann, Johann Georg 175 Hambrock, Matthias 30, 50, 227, 279 Händel, Georg Friedrich 308 Harden, Maximilian 9, 19, 281 Harding, Sandra 236 Harnack, Adolf von 178 Hartmann, Nicolai 133 Hauptmann, Gerhart 61, 67, 173, 180, 193 Hayer, Uwe 175 Heartfield, John 64 Hecht, Cornelia 297 Hecht, Helios 360 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4, 81, 84, 95 f., 114–118, 126, 141, 188, 190, 235, 271 Heidegger, Martin 71, 85, 104, 133, 141 f., 192

404 

  Personenregister

Heidenheim, Wolf 245 Heier, Jorma 234 Heimböckel, Dieter 282 Heine, Heinrich 27, 63 f., 96, 98, 235, 272, 274 f., 333 Heinemann, Fritz 43 Heinemann, Ursula 170 Heisenberg, Werner 36, 47 Held, Franz (Herzfeld, Franz) 64–67 Heman, Friedrich 257 f. Hengel, Martin 198 Henrici, Ernst 231 Herakles 85 Heraklit 333 Herder, Johann Gottfried 95, 175, 187 Herrligkoffer, Borromäus 8, 40, 42, 213 Herzfeld, Franz (s. Held, Franz) Herzfelde, Wieland 64 Herz, Gertrud 5, 305, 309 Herzl, Theodor 27 f., 255, 257 f., 275 f. Heschel, Susannah 198 Hetzer, Tanja 203 Heussi, Karl 70 Hille, Peter 64, 193 Hinz, Thorsten 128, 196 f. Hirsch, Leo 27 f., 44 f., 185 Hirsch, Samson Raphael 245 Hirsch, William 185 Hitler, Adolf 30, 40, 46, 49, 93, 174, 227, 263, 266, 375, 379 Hoeres, Peter 217 Hofmannsthal, Hugo von 61, 192 Hölderlin, Friedrich 175 Holländer, Ludwig 9, 36, 41, 277–279 Holst, Hermann Eduard von 1 Holtzendorff, Inge von 8, 318 Holz, Klaus 249 Homer 44, 84 f., 92, 175, 318 Homolka, Walter 198 Horkheimer, Max 10, 36, 47, 236 Horne, John 217 Horwitz, Rivka 333 Hume, David 116 Husserl, Edmund 27, 46, 72, 133–135, 143 Huygens, Christian 147 Huysmans, Joris-Karl 91

Ianchelevici, Idel 311 Ibsen, Hendrik 327 Jarrasé, Dominique 311 Jasper-Bethel, Gerhard 198 Jaspers, Karl 133, 138 f., 141 f. Jennings, Herbert Spencer 120 Jesus (s. auch Christus) 7, 9, 37, 41, 83, 88 f., 92, 98, 109, 128, 166, 172, 175–184, 194, 196–199, 202 f., 330, 343, 368, 373, 375 Jochmann, Werner 224 Johannes 172 Johannsen, Wilhelm 120 Jülicher, Adolf 178 Kafka, Franz 40, 170, 193, 235 Kähler, Martin 175 Kandinsky, Wassily 196 Kant, Immanuel 8, 42, 44, 76 f., 94 f., 101–103, 109, 112–124, 132, 134, 143, 148, 153, 190, 330 Kapp, Julius 272 Karrer, Otto 193 Kasack, Hermann 36, 40 Kasch, Magdalena 8, 10, 16 f., 19, 34, 45, 49, 306 f. Kattenbusch, Ferdinand 178 Kautsky, Karl 173 Kessler, Martin 170 Kettner, Friedrich (Frederick) 8, 34, 186, 353–371, 373 Kierkegaard, Sören 73, 181, 327, 340 Kimchi (s. Grünfeld, Emil) Klages, Ludwig 127 Klatzkin, Jakob 36, 41, 260, 262, 264, 300 Klausner, Joseph 96 f., 198 Klein, Martin 115 Kleineke, Georg 67 Kleist, Heinrich von 63, 319 Klemperer, Otto 312 Klinger, Max 179 f. Koch, Franz 193 Kohn, Hans 262, 323 Kolbenheyer, Erwin Guido 193 Kolomey, Pinkas 366 Kosegarten, Ludwig Gotthard 175 Kramer, Alan 217

 Kraus, Karl 257 Kretschmer, Ernst 185 Kreuzberger, Max 17 Krieger, Karsten 232 Kronberg, Jacques 276 Kruse, Wolfgang 217 Kuh, Anton 277, 280 Kühn, Paul 179 f. Kunz, Hans-Peter 230 Lagarde, Paul de 182 Lamarck, Jean-Baptiste de 284 Landauer, Gustav 1, 5, 7, 15, 19, 23, 31, 34–36, 39, 41, 43, 75, 128–131, 140, 191 f., 195–197, 225, 274, 296, 306 f., 322–325, 327–331, 333, 337, 343, 377 Lange-Eichbaum, Wilhelm 185 Lasker-Schüler, Else 202 Laufer, Tullio 46 Lavoisier, Antoine-Laurant 152 Lazare, Bernard 235 Leeuwen, Selma van 10, 17, 19 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 95 f., 147, 151, 160 Lenzen, Verena 198 f. Lessing, Gotthold Ephraim 58 f., 203 Lessing, Theodor 203, 277 Leuenberger, Stefanie 202 f. Levy, Ernst 123 Levy, Richard S. 292 Liebert, Arthur 123, 170 Liliencron, Detlev von 2, 59 f., 63, 309 Lindeskog, Gösta 171, 204 Lindner, Erik 208 f. Lipphardt, Veronika 261 Lissauer, Ernst 29, 269 Lobenstein-Reichmann, Anja 181 Locke, John 46 Loewe, Heinrich 275 f. Lombroso, Cesare 65, 185 Lomer, Georg 172 Löwenstamm, Arthur 278 Löwenthal, Johanna 1, 40, 57, 207, 292 Löwinger, Wilhelm 101 Lublinski, Samuel 173 Lucka, Emil 42 f. Lücke, Friedrich 177 Lucko, Hermann 291

Personenregister 

 405

Ludendorff, Erich 263 Lukács, Georg 192, 235 f. Lukas 372 Lunn, Eugen 323 f. Luther, Martin 44, 74 f., 98, 203, 209, 332 Mach, Ernst 151, 153, 155, 160 Machiavelli, Niccolò 175 Maimonides, Moses 80 Manger, Itzik 376 Mann, Thomas 309, 314 Mannheim, Karl 192 Margalit, Avishai 240 Marr, Wilhelm 254, 291 Marx, Karl 124, 235, 271–273, 288, 368, 373 Matthes, Hendrik 38, 50, 82 f., 87, 90, 111, 125, 173, 200 f. Matussek, Matthias 318 Mauthner, Fritz 23, 27, 31, 128–131, 140, 187, 190, 195, 323, 337 Mayer, Reinhold 71 Meier, Heinrich 72 Meilen, Salomom 369 Meinsma, Koenraad Oege 94, 98, 187 Meister Eckhart 7, 128, 189–197, 323 Melamed, Yitzhak Y. 187 Melsen, Andreas van 152 Mendel, Gregor 120 Mendelejew, Dmitri Iwanowitsch 152 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 272 Mendelssohn, Moses 93, 96, 198 Mendes-Flohr, Paul 329 Menuhin, Yehudi 6, 9, 36, 46 f., 170 Menzel, Adolph 5 Merleau-Ponty, Maurice 142 Meyerbeer, Giacomo 273 Meyer-Schönbrunn, Friedrich 228 Michaud, Stéphane 343 Michelangelo 90–92 Miles, Robert 242 f. Miskotte, Kornelis Heiko 170, 200 Mœbius, A. 34, 326–329, 333 Mond, Frida 1, 8, 40, 74, 216, 307, 309 Mond, Ludwig 1, 309 Montefiore, Claude 198 Morrison, Toni 236 Moscovici, Mädy (s. Bickel, Mädy)

406 

  Personenregister

Moses 87 f., 91 f., 97, 168, 172, 186, 197, 200, 202, 250, 332 Moses, Siegfried 25 Mosse, Rudolf 278 Müller, Georg 57, 313 Müller-Auerbach, Rosalie (s. Brunner, Leoni) Müller-Holm, Ernst 56 Müller-Wertheimer, Elise-Charlotte (s. Brunner, Lotte) Müller, Klaus 188 Müller, Max 183 Müller, Wolfgang 313 Munk, Reinier 96 Murau, Franz-Josef 79 Musil, Robert 192 Myers, David 71

Picht, Clemens 214 Pilatus 47 Pinner, Ernst Ludwig 9, 264, 300 f., 314, 332 Pinsker, Leo 256, 276 Platon 43, 72, 80, 86, 112–114, 119 f., 143 f., 196, 354, 364 Podach, Erich f. 339 Pomerance, Aubrey 11 Popper, Karl 136 f. Popper-Lynkeus, Josef 230 Pudor, Heinrich 63 Pulzer, Peter 209, 214 Pyta, Wolfram 174 Pythagoras 135, 338

Nadler, Steven 100 Natorp, Paul 121 Naumann, Max 29, 227 Neumann, Eckhard 180 f., 185 Newton, Isaac 154 Nietzsche, Friedrich 3, 33, 44, 62 f., 84, 118–120, 143, 149, 152, 157, 167, 172, 181, 284, 288 f., 333–335, 337, 339 f., 346–348, 352, 364, 367, 372 Nipperdey, Thomas 2, 6, 172, 191 Nix, Echol 178 Nordau, Max 29, 31, 36, 65, 81, 185, 257 f. Norden, Joseph 36, 41

Raabe, Wilhelm 61 Rabbi Benjamin 300 Rabbi Nachman 323 Rappeport, Ernst Elijahu 328 Rasmussen, Emil 172 Rathenau, Walther 1, 6–8, 19, 21, 36, 38 f., 275–283, 286, 306, 308, 319, 331, 377 Rawidowicz, Simon 104 Redtenbacher, Josef 153 Rée, Paul 339, 346 f. Reibmayr, Albert 182 Reich, Emil 327 Reichenbach, Hans 135 f. Reichmann, Eva 42, 265 f., 278 Reinharz, Jehuda 256, 259 Reiter, Gerhard 353–357, 364 Rembrandt 91 f. Renan, Ernest 181 Rickert, Heinrich 121 Riehl, Alois 1, 122 Riesser, Gabriel 296 Rilke, Rainer Maria 5, 334, 336 f., 341, 343 Ringer, Elias (s. Zolkiewer) Ringler, Fritz 7, 40 Ritov, Ya‘acov 373, 376 Ritschl, Albrecht 178 Ritter, Fritz (Frederick) 40, 48, 270, 313, 315 f., 325 Ritter, Joachim 174 Rodan, Martin 85, 91, 142

Oko, Adolph 279 Oldenburg, Heinrich 187 Ortland, Eberhard 174 Oz, Amos 198 Pais, Abraham 157 Panofsky, Erwin 188 Parsons, Talcott 236 Paulsen, Friedrich 38 Paulus 80, 182, 201, 372, 374 Petliura, Symon 372 Pfefferkorn, Johannes 27 Pfeiffer, Franz 191 Pfenningsdorf, Emil 178 Pfleiderer, Otto 178 Piaget, Jean 121

Quint, Josef 194

 Rodin, Auguste 310 Roerich, Nicholas 356 Rorty, Richard 78 Rosenberg, Alfred 194 Rosenkranz, Hans 101 Rosenkranz, Karl 177 Rosenthal, Jacob 208 Rosenzweig, Franz 28, 71, 93, 203, 332 f. Rottner, Eli (Rudnicki, Edward) 17, 318, 354 f., 356, 364, 368 Rudnicki, Edward (s. Rottner, Eli) Rühs, Friedrich 270 Russell, Bertrand 133, 338 Sachse, Heinrich (s. Loewe, Heinrich) Saint-Simon, Heinri de 368 Sajda, Peter 327 Salz, Arthur 8 Salzborn, Samuel 236, 249 Sandberger, Jörg f. 176 Sartre, Jean Paul 134, 142, 236 Sauder, Gerhard 175 Sauerland, Karol 192 Saulus 374 Schaary, David 369 Schaefer, Heinrich 172 Schaepdrijver, Sophie de 217 Scheibe, Erhard 138, 154 Scheler, Max 133, 297 Schelling, Friedrich Wilhelm Josef 6, 95, 116 Scherzer, Max 357 Schiele, Egon 337 Schlaf, Johannes 180 Schleiermacher, Friedrich 77, 96, 117, 176 Schmetterling, Markus 353 Schmidt, Jochen 174 Schnabel, Karl 5, 324 Schneerson, Menachem Mendel 380 Schoeps, Hans-Joachim 29 Scholem, Gershom (Gerhard) 29, 48, 50, 71, 199, 280 Schopenhauer, Arthur 33, 77, 101, 118 f., 143, 179 f., 190, 364 Schueler, Alexander 260 Schuster, Hermann 187 Schütte, Hans Walter 182 Schwaner, Wilhelm 228

Personenregister 

 407

Schwarz, Birgit 174, 181 Schwarzbard, Shalom 372 Schweitzer, Albert 36, 47 Schweizer, Alexander 176 Schweizer, Paul 176 Schwemer, Anna Maria 198 Sebastian, Mihail 376 Secchi, Angelo 153 Seff, Benjamin 257 Semon, Richard 261 Sennet, Richard 240 Shabbatai Zevi 99, 380 Shakespeare, Willian 91 f., 169, 175 Sieg, Ulrich 208, 213–215, 218 Siegel, Karl 354 Simmel, Georg 127, 192, 236, 337 Smith, Dorothy E. 235 Sokrates 32, 83, 85 f., 89, 92, 166, 172, 175, 357, 365, 375 Sonntag, Leo 10, 47, 124, 132, 142, 307, 316, 319, 353, 357, 363 Spangenberg, Max 230 Spengler, Oswald 9 Spinoza, Benedictus de 7 f., 23, 27, 32, 41 f., 51, 73, 77 f., 80 f., 83, 90, 92–105, 109, 112 f., 116, 119, 121, 124–129, 132, 139, 143 f., 151, 163, 166, 168, 171, 177, 182 f., 186–188, 190, 193, 195 f., 202, 204, 239, 241 f., 252, 279, 281, 330, 334–336, 339, 343, 350, 353 f., 356, 364 f., 368, 372 f. Spörl, Uwe 190 Sprengel, Peter 61, 173, 179, 193 Sroka, Anja 193 Steele, Richard 58 Stein, Ludwig 9, 36 Steiner, Rudolf 173 Stenzel, Jürgen 16 f., 20, 57, 82 f., 89, 92, 94, 170 f., 184, 186–188, 196, 199, 202, 239 Sterian, Mosche (Sternschuss, Mosche) 379 Sternschuss, Mosche (s. Sterian, Mosche) Stier, Gabriel 362 Stier, Koka 362 Stigter-Brunner, Lotte (s. Brunner, Lotte) Stiller, Christian 230 Stoecker, Adolf 207, 231, 292 Stöhr, Martin 198 Stolte, Heinz 49 f., 81, 118, 133, 317

408 

  Personenregister

Stolte-Batta, Renate 279, 306, 309, 319, 359 Stransky, Erwin 297 Strauss, Leo 72 Strauß, David Friedrich 176 f., 188, 194 Strindberg, August 337 Sudermann, Hermann 67 Suhl, Abraham 301, 310, 313, 315, 362 Susman, Margarete 192, 280 Tamari, Leo 35, 124 Tauscher, Arno 359 Taut, Bruno 192 Theilhaber, Felix 99 Thomson, Josef 152 f. Tillich, Paul 179 Toller, Ernst 332 Tolstoi, Leo 173, 319 Tönnies, Ferdinand 247 Treitschke, Heinricht von 4, 230, 232, 234, 273, 276–278, 281 Treml, Martin 324, 326–328 Troeltsch, Ernst 70–72, 175, 178, 191 Türck, Hermann 182 f. Ulbricht, Justus H. 172 Ullmanna, Carl Christian 176 Ungern-Sternberg, Jürgen von 218 Ungern-Sternberg, Wolfgang von 218 Unseld, Siegfried 48, 280 Vaihinger, Hans 122 f., 138, 151 Vasko, Timo 199 Verhey, Jeffrey 214 Volkov, Shulamit 279, 282 Vosskühler, Friedrich 175 Wachendorfer, Ursula 236 Wagner, Richard 182, 272–274, 277, 288–290, 308 Wagner-Egelhaaf, Martina 190, 193 Walther, Manfred 211 f. Warning, Rainer 174

Wasserstein, David 245 Weber, Max 318 Wein, Berel 244 Weininger, Otto 27 Weiß, Anja 243 Weiße, Christian Hermann 177 Wellhausen, Julius 197 Wells, Herbert George 220 Weltsch, Felix 96 f. Weltsch, Robert 266 f. Werfel, Franz 202 Wertheim, David J. 101 Wertheimer, Akiba 1, 28, 310 Wertheimer, Moses 28 Wiegler, Israel 362 Wiegler, Malzia 362 Wienbrack, Georg 23, 40, 97 Wilhelm II. 214 Willems, Joachim 196 Winckelmann, Johann Joachim 84 Windelband, Wilhelm 121 Wintzek, Oliver 176 f. Wirth, Günter 58, 63 Witt, Johann de 100 Witt, Cornelis de 100 Wittgenstein, Ludwig 73, 133, 139– 142 Wohlgemuth, Joseph 297 Wohl, Käthe 315 Yavetz, Zvi 367 Young, Iris Marion 253 Zander, Helmut 192 Zelter, Carl Friedrich 318 Ziegler, Leopold 191, 193 f. Zilsel, Edgar 184 Zimmermann, Moshe 227, 291 Zolkiewer (Ringer, Elias) 369 Zollschan, Ignaz 260 f. Zweig, Arnold 280 Zweig, Stefan 202, 374