Ost-Geschichten: Das östliche Mitteleuropa als Ort und Gegenstand interkultureller literarischer Lernprozesse [1 ed.] 9783737012461, 9783847112464

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Ost-Geschichten: Das östliche Mitteleuropa als Ort und Gegenstand interkultureller literarischer Lernprozesse [1 ed.]
 9783737012461, 9783847112464

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Themenorientierte Literaturdidaktik

Band 3

Herausgegeben von Sieglinde Grimm und Berbeli Wanning

Mark-Oliver Carl / Sieglinde Grimm / Nathalie Kónya-Jobs (Hg.)

Ost-Geschichten Das östliche Mitteleuropa als Ort und Gegenstand interkultureller literarischer Lernprozesse

Mit 13 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Csontváry Kosztka Tivadar: Római híd Mosztárban (1903) 92x185 cm – Pécs, Csontváry Múzeum, http://www.hung-art.hu Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2366-3537 ISBN 978-3-7370-1246-1

Inhalt

Mark-Oliver Carl / Sieglinde Grimm / Nathalie Kónya-Jobs Das östliche Mitteleuropa als Ort und Gegenstand interkultureller literarischer Lernprozesse – ein Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mark-Oliver Carl Mentale Modelle des ›Westens‹ und ›Ostens‹ elaborieren und reflektieren mit Nellja Veremejs Berlin liegt im Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jan-Christoph Marschelke Ethnonationalität jenseits von Inter- und diesseits von Transkulturalität. Eine Skizze von Brubakers Gruppismuskritik mit kollektivwissenschaftlichen Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nathalie Kónya-Jobs Narrative Konstruktionen des Raumes ›östliches Mitteleuropa‹ als Herausforderung der interkulturellen Literaturdidaktik: theoretische und praktische Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rolf Füllmann Andrikson (lett. Andriksons) von Ru¯dolfs Blaumanis: eine transkulturelle Dorfnovelle und ihre didaktische Relevanz. Der zweisprachige Nationalautor Blaumanis im transkulturellen Raum des Baltikums der Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Winfried Adam Weit mehr als Kafka – literarische Texte aus und über Mittelosteuropa im Deutschunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

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Inhalt

Edward Białek / Krzysztof Huszcza Historisches Lernen im deutschen Literaturunterricht in Polen. Fallbeispiel: Monika Taubitz und ihre literarischen Begegnungen mit Schlesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Julia Podelo ›Russlanddeutsche‹ Texte im Literaturunterricht – Potenziale einer unbekannten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Eszter Propszt Lernen mit der ungarndeutschen Literatur – Identitätsperspektiven

. . . 155

Kristina Krieger Das literarische Unterrichtsgespräch nach dem Heidelberger Modell aus interkultureller Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Maris Saagpakk Deutsch(baltisch)e Texte als Gegenstand des interkulturellen Lernens im DaF-Unterricht in Estland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Renata Behrendt Identität ist etwas Persönliches. Migration, Identität und Schreiben in Wir Strebermigranten von Emilia Smechowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 René Kegelmann Ortlosigkeit und innere Räume. Interkulturelles literarisches Lernen mit der frühen Prosa von Herta Müller und Terézia Mora . . . . . . . . . . . 223 Marijana Erstic´ Die ›Banalität des Bösen‹ im Roman Meeresstille von Nicol Ljubic´ und im Film Storm / Sturm von Hans-Christian Schmid . . . . . . . . . . . . . 245 Autor_inneninformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

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Das östliche Mitteleuropa als Ort und Gegenstand interkultureller literarischer Lernprozesse – ein Versuch

An unseren Schulen stellt eine aus Polen, Rumänien, dem früheren Jugoslawien, Ungarn, Tschechien, der Slowakei und den baltischen Staaten zugewanderte Schülerschaft die größte Gruppe innerhalb einer nach wie vor wachsenden Zahl von Schüler_innen mit Migrationshintergrund dar. Ihre kulturelle Herkunft und ihre Zugänge zur Kultur und Literatur der deutschsprachigen Länder werden jedoch bislang von einer auf den türkisch-arabischen Raum fixierten interkulturellen Literaturdidaktik eher vernachlässigt. Gleichzeitig existieren unter dem supranationalen Dach eines vereinten Europa deutschsprachige Literaturen fort, welche die spezifischen kulturellen Eigenheiten multiethnischer und multireligiöser nordost-, ostmittel- und südosteuropäischer Gesellschaften aufgreifen. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die diesen literarischen (Sub-)Kulturen inzwischen zukommt und die sich auch in den Literatur- und Kulturwissenschaften spiegelt, hat soweit noch kaum in den literaturdidaktischen Diskurs Eingang gefunden. Mehr als hundert Jahre nach dem Zusammenbruch des multiethnischen Habsburgerreiches und der Entstehung neuer Nationalstaaten auf dessen früherem Territorium scheint es an der Zeit, die aus dem östlichen Mitteleuropa kommenden Impulse für die Weiterentwicklung einer inter- und transkulturellen Literaturdidaktik aufzunehmen. Für ein gelingendes Zusammenleben verschiedener Kulturen wird dies umso wichtiger, je mehr sich nationalkonservative Autoritarismen in Deutschland, Tschechien, Polen, Ungarn, Österreich und in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien durchsetzen.

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Der ›Eastern Turn‹: Eine Chance für die Literaturdidaktik?

Die westliche Sicht – auch diese ist kulturell und politisch konstruiert – auf die ›Mitte‹ oder den ›Osten‹ Europas ist alles andere als frei von Stereotypen. Dies zeigt ein Blick in populäre Kinder- und Jugendliteratur. Im vierten Band der Harry Potter-Serie von Joanne K. Rowling, betitelt Harry Potter und der Feuerkelch, kämpft bei der Weltmeisterschaft in der auf fliegenden Besenstielen aus-

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getragenen Sportart Quidditch eine irische Mannschaft, die von Harry und seinen Freunden angefeuert wird, gegen eine bulgarische. Später findet ein europäischer Zauberwettbewerb statt, an dem auch der finstere bulgarische Quidditch-Star Viktor Krum teilnimmt. Er übt auf den Zauberer- und Hexen-Nachwuchs eine große Faszination aus, die daher rührt, dass Krum als Schützling von Igor Karkaroff gilt. Karkaroffs Name verrät unmissverständlich eine slawische Herkunft; zudem stand er in der Vergangenheit als Todesser im Dienste der Mächte des Bösen. Die Rückkehr Voldemorts, des abgrundtief bösen Anführers der Todesser, der die rechtschaffenen Zauberer und Hexen in der zivilisierten Welt zu terrorisieren sucht, wird angekündigt durch die mysteriöse Entführung und Ermordung einer guten Hexe (Bertha Jorkins). Über sie heißt es, sie sei »in Albanien verschwunden, und ausgerechnet dort soll sich […] Voldemort in letzter Zeit aufgehalten haben.« (Rowling 2000, S. 350) Es fragt sich, welchen Eindruck diese Darstellung Osteuropas beim jungen Lesepublikum hinterlässt. Dabei geht es vor allem um das Phänomen, dass die eindeutig im Osten Europas angesiedelten Kulturen mit dergleichen düsteren und negativen Projektionen belegt werden. Einen Anteil daran könnte der aus politischen Gründen lange Zeit bis 1989 eingeschränkte kulturelle Austausch zwischen West- und Osteuropa haben. Dies mag auch ein Grund dafür sein, dass die literarischen Kulturen des östlichen Mitteleuropa in der interkulturellen Literaturdidaktik bislang eher vernachlässigt wurden. Diesbezüglich ist anzumerken, dass die Bildungspolitik interkulturelles Lernen zwar durchaus hervorhebt. So wurde im Juli 2018 etwa im Schulgesetz für das Land NordrheinWestfalen die Änderung aufgenommen, dass Schüler_innen »insbesondere lernen« sollen, »Menschen unterschiedlicher Herkunft vorurteilsfrei zu begegnen, die Werte der unterschiedlichen Kulturen kennenzulernen und zu reflektieren sowie für ein friedliches und diskriminierungsfreies Zusammenleben einzustehen« (a. a. O., § 2, Abs. 6, Nr. 5). Schaut man aber unter dem Stichwort ›interkulturelles Lernen‹ in die Forschung und in die Schulbücher, um welche literarischen Kulturen es geht, so ist zu sehen, dass das Interesse weitgehend auf Regionen fixiert ist, die primär vom Islam beeinflusst sind (Türkei, Iran, Kleinasien, Nordafrika, Arabische Halbinsel).1 Diese Beobachtungen und Befunde stehen im Gegensatz zur tatsächlichen Zuwanderung aus den Staaten des östlichen Mitteleuropa. Staatsbürger aus Ost1 Symptomatisch dafür ist etwa das Cornelsen Oberstufenbuch für das Fach Deutsch. Bei der Behandlung der Epochen finden sich für die Gegenwartsliteratur zwei jeweils in etwa zweieinhalbseitige Romanauszüge der Schriftsteller Rafik Schami (in Syrien geboren) und Feridun Zaimoglu (in der Türkei geboren) (vgl. Schurf / Wagener, S. 458–461). Die häufig gelesene und ab dem 10. Schuljahr empfohlene Graphic Novel Persepolis von Marjana Satrapi spielt im Iran und die Protagonistin des Bilderbuchrenners Zuhause kann überall sein (2015) von Irena Kobald und Freya Blackwood kommt ebenso aus dem arabischen Kulturraum.

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und Mitteleuropa stellen mit fast 3,7 Millionen die größte Gruppe unter der Wohnbevölkerung Deutschlands ohne deutsche Staatsangehörigkeit, deutlich vor Menschen mit türkischer, syrischer, irakischer und afghanischer Staatsbürgerschaft (knapp 2,8 Millionen) (vgl. Statistisches Bundesamt 2020).2 Das hat Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Lerngruppen in deutschen Klassenzimmern, in die immer mehr Schüler_innen aus den betreffenden Ländern des östlichen Mitteleuropa aufgenommen werden, um gemeinsam zu lernen, zu spielen, zu lesen und zu diskutieren. Trotz der genannten Versäumnisse lässt sich dennoch ein Gegentrend oder ›Aufbruch‹ festmachen, den es zu fördern gilt. In der Öffentlichkeit und in den Literaturwissenschaften findet die deutschsprachige Literatur aus multiethnischen Gesellschaften des östlichen Mitteleuropa wachsende Aufmerksamkeit: Brigid Haines spricht bereits 2015 von einem »Eastern European Turn in Contemporary German-Language Literature«. Viele in Deutschland lebende bekannte Autor_innen mit einschlägigen Migrationserfahrungen – prominentestes Beispiel ist die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller – verstärken diesen Eindruck. Unlängst widmete sich eine literaturwissenschaftliche Fachtagung an der Universität Bremen dem Thema ›Migrationsvordergrund – Provinzhintergrund: Deutschsprachige Welt-Literatur aus Osteuropa‹. Und kürzlich erschien die Studie von Eszter Pabis Migration erzählen, die gar vom Genre der ›Chamisso-Literatur‹ deutsch-ungarischer Autorinnen der Gegenwart spricht und in diese Gruppe die Chamisso-Preisträgerinnen Terézia Mora, Zsuzsa Bánk, Ilma Rakusa und Zsuzsanna Gahse fasst, die sich um die »›Osterweiterung‹ der deutschsprachigen Literatur«, so heißt es im Klappentext, verdient gemacht haben (Pabis 2019). Die zahlreichen autochthonen Minderheiten in Österreich werden in Werner Wintersteiners Vorschlag einer »transkulturellen Literaturdidaktik« in den Blick genommen (2006, bes. S. 89–100). Er versteht darunter eine »spezifische Form von globalem und interkulturellem Lernen« (ebd., S. 90), wobei der »Begriff Transkulturalität schärfer als der besser eingeführte Begriff Interkulturalität die Hybridität und Mischung kultureller Elemente zum Ausdruck bringt.« (Ebd., S. 15)3 Anknüpfend an die zunehmende Aufmerksamkeit, welche die deutschsprachige Literatur aus den multiethnischen Gesellschaften des östlichen Mitteleuropa erfährt, soll der vorliegende Sammelband den Blick auf die hierfür relevanten literarischen Gegenstände und Diskurse weiten. Ziel ist es, anhand literarischer Beispiele aus dem bzw. über das östliche Mitteleuropa einen kulturellen 2 Nicht berücksichtigt ist dabei eine große Zahl von Saisonarbeiter_innen ohne Erstwohnsitz in Deutschland, unter denen Bürger_innen ostmitteleuropäischer EU-Mitgliedsstaaten aufgrund der Binnenfreizügigkeit einen sehr hohen Anteil ausmachen. 3 Wintersteiner beruft sich hier auf Wolfgang Welsch, der den Begriff Transkulturalität eingeführt hat. Vgl. dazu Abschnitt 4 im Folgenden.

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und literaturdidaktischen Beitrag zur gesellschaftlichen Aufgabe der Erneuerung des Europagedankens zu leisten. Einleitend ist auf drei zentrale Punkte einzugehen, um die folgenden Aufsätze in einem weiteren Kontext zu platzieren: Erstens werden der politische Einschnitt und die Aufbruchssituation von 1918/9 angesprochen, da hier bereits ein Verhältnis zwischen der ›Gemeinschafts-Idee Europas‹ und den nationalen Kulturen entstand, welches mit der heutigen konfliktreichen Situation vergleichbar ist. Zweitens ist es unumgänglich, die Begriffe Osteuropa bzw. Ostmitteleuropa in Abgrenzung zum sogenannten ›Westen‹ genauer zu beleuchten. Und drittens gilt es zu diskutieren, welche fachdidaktischen Modelle und welches methodische Repertoire für das genannte Vorhaben zielführend sind.

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Der politische Einschnitt und die Aufbruchssituation von 1918/9

Das Jahr 1918 brachte den Zusammenbruch dreier großer polyethnischer Gebilde: des Russischen Zarenreiches, des Kaiserreiches Österreich-Ungarn und des Osmanischen Reiches. In den folgenden Jahren entstanden mit hegemonialer ›Hilfe‹ von Großmächten neue Nationalstaaten. Der Völkerbund (gegr. 1919) – eine Vorläuferorganisation der UNO – sollte als supranationale Gemeinschaft der Friedenssicherung und Abrüstung dienen und insbesondere das Selbstbestimmungsrecht der Völker verteidigen, was nationale Bestrebungen begünstigte. Historisch knüpfte man an die von der Restauration niedergeschlagenen bürgerlichen Revolutionen von 1848/9 an. Relativiert werden müssen diese vorgeblich rein selbstbestimmten Entwicklungen rückblickend insofern, als der Aufbau der Nationalstaaten größtenteils mit Hilfe der ›Siegermächte‹ geschah, die das Ideal einer ethnisch homogenen Nationalstaatenbildung vertraten, das der demographischen Vielfalt dieser Großregion nicht gerecht wurde. Dies beschwor in Osteuropa zahlreiche folgenschwere Konflikte herauf. 1945 verständigten sich Roosevelt, Churchill und Stalin auf der Konferenz von Jalta auf die Einteilung sowjetischer und westlicher Einflusssphären, an deren Bruchlinien der sogenannte ›Eiserne Vorhang‹ niederging, der Europa während des ›Kalten Krieges‹ in Ost und West teilte. Unterdessen hielt man an Bemühungen einer weltpolitischen und europäischen Einheit fest. 1945 wurden die Vereinten Nationen gegründet und 1992 folgte mit dem Vertrag von Maastricht auf mehrere europäische Vorgängerinstitutionen die Europäische Union, deren Hauptziel es ist, durch wirtschaftliche Verflechtungen der Mitgliedsstaaten untereinander militärischen Konflikten vorzubeugen.

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Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die nach 1945 zu Sowjetrepubliken wurden, erhielten 1991 nach der Auflösung der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit zurück und wurden 2004 zusammen mit Tschechien, Polen, der Slowakei, Slowenien und Ungarn in die EU aufgenommen; später traten Rumänien und Bulgarien (2007) sowie Kroatien (2013) bei. Es laufen Beitrittsverhandlungen mit einigen Balkanstaaten. Die EU gilt aufgrund der ihren Bürger_innen gewährten Freizügigkeit (gemäß dem Schengener Abkommen) im Hinblick auf Wohnort, Ausbildung und Arbeit und die z. T. einheitliche Währung als politisches Erfolgsformat. Gleichwohl erscheint einem Teil der gesellschaftlichen Akteure, allen voran in den neuen Mitgliedsstaaten, der Europa-Gedanke als zunehmend fragwürdig, und Sympathien mit nationalkonservativen und rechtspopulistischen Haltungen wachsen. So opponieren die Staaten der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) gegen die Aufnahme von Geflüchteten aus dem Nahen Osten und begründen dies mit ihrer über der EU-internen Solidarität stehenden nationalen Autonomie. Dabei zeigen sich Parallelen zum Jahr des Weltkriegsendes 1918, allerdings mit dem Unterschied, dass das Erstarken der Nationalgefühle seinerzeit eher vom Wunsch nach Selbstbestimmung einer breiten Bevölkerungsmehrheit getragen war, während es heute mehrheitlich von den politischen Eliten des bürgerlich-rechten Spektrums propagiert wird (vgl. Zielonka 2019). Feierte man damals eine Befreiung aus diversen Imperien,4 so verteidige man heute – so das nationalpopulistische Narrativ – die gewonnene Unabhängigkeit gegen den ›Zentralismus‹ der EU. Damit, so scheint es, steht Europa erneut an einem Scheideweg und es gilt, die Wiederholung historischer Fehler zu vermeiden. Hier kommt dem Bildungssektor eine große Bedeutung zu: Das Erasmus-Programm befördert den Austausch mit mittel- und osteuropäischen Hochschulstandorten und der DAAD unterstützt ebenfalls Ostpartnerschaften.5 Schüler_innen haben in der Bundesrepublik ein Anrecht auf Unterricht in der Muttersprache, wobei dessen Umsetzung unterschiedlich gehandhabt wird und für manche (kleine) Sprachen des östlichen Mitteleuropa nicht selten am Aufwand scheitert. Interkulturelle Studien formieren sich in der germanistischen Literaturwissenschaft seit circa dreißig Jahren,6 interkulturelle Literaturdidaktik für das Fach Deutsch etabliert sich seit der Jahrtausendwende als selbständiger Forschungsbereich. In dem Bewusstsein, dass der Literatur- und Deutschunterricht positive wie auch gefährliche politische Entwicklungen stets begleitet, wenn nicht sogar 4 Gemeint sind das Habsburger und das Osmanische Reich sowie das Russische Zarenreich. 5 So unterhält etwa die Germanistik der Universität zu Köln Partnerschaften mit den mitteleuropäischen Universitätsstädten Sofia, Krakau, Warschau und Prag. 6 Vgl. dazu die Gründung der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG) im Jahr 1987.

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vorbereitet,7 stellt sich heute mehr denn je die Frage, in welcher Weise der aktuelle Literaturunterricht seinen Beitrag zu einer konstruktiven Bewältigung der Herausforderungen, vor denen Europa steht, leisten kann.

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Mental Maps vom östlichen Mitteleuropa

Der Sammelband möchte für die deutschsprachige Literatur des östlichen Mitteleuropa und damit verbundene Wege des literarischen Lernens Interesse wecken. Die Behandlung dieses Themas muss die Falle des Exotismus, wie sie am eingangs zitierten Beispiel Harry Potters anschaulich wird, umgehen; auch die Klippen des Biographismus, des Kulturessenzialismus und einer mentalistischen Version der naiven Abbildtheorie gilt es zu umschiffen. Die Probleme beginnen bereits bei der räumlichen Abgrenzung. Wo ist das östliche Mitteleuropa? Zählen Litauen, Lettland und Estland dazu, wie der Ständige Ausschuss für geographische Namen empfiehlt, oder gehören sie bereits, wie das Brockhaus-Lexikon es vorgibt, zu »Osteuropa« (2006, S. 584f.)? Bemerkenswert ist ebenfalls, dass in Russland der Begriff ›Osten‹ (vostok) den Orient bezeichnet und in russischen Selbstzuschreibungen nicht zu finden ist. Schlüssig erscheint Frithjof Benjamin Schenks Ansatz (2013), das östliche Mitteleuropa unter Adaption der mental maps-Theorie als kulturell vermitteltes Konstrukt zu begreifen und zu fragen, wie solche »kollektiv geteilte[n] Repräsentationen einer – erfahrenen oder imaginierten – räumlichen Umwelt auf Prozesse kultureller Gemeinschafts- und Identitätsbildung zurückwirken« (ebd., Nr. 6). Demnach entstehen in unseren Köpfen sogenannte ›kognitive Landkarten‹, die sich als subjektive Vorstellungen räumlicher Gegebenheiten beschreiben lassen. Ist generell vom ›Osten‹ die Rede, dann wirken vielerorts die mental maps des Kalten Krieges, die Gleichsetzung von Osteuropa und ›Ostblock‹, bis in die Gegenwart nach. Demnach wird der heutige Begriff ›Osteuropa‹ zuallererst als Bezeichnung für einen anderen und fremden Großraum gebraucht. Dieser wird vage ›östlich‹ des ›eigenen‹ Territoriums verortet und häufig mit negativen Attributen verknüpft. Während im Deutschen der Begriff ›Osteuropa‹ landläufig einen politischen und kulturellen Raum bezeichnet, der an der Grenze von Oder und Neiße bzw. am zwischen Deutschland, Österreich und Tschechien gelegenen Böhmerwald beginnt, fühlen sich Polen, Tschechen und Ungarn in der Regel nicht in Ost-, sondern in (Ost-) Mitteleuropa zuhause. Noch in der Ukraine und in Weißrussland ist die Vorstellung verbreitet, man lebe nicht in Ost-, sondern zwischen West- und Osteuropa (ebd., Nr. 14).

7 Es lässt sich problemlos nachvollziehen, wie etwa die völkische Bewegung im Deutschunterricht der 20er Jahre der Ideologie der Nationalsozialisten den Weg bereitet hat. Vgl. dazu Paefgen 2006, S. 13.

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Deshalb spricht Schenk schließlich von Osteuropa als einer »Großregion ohne ›Osteuropäer‹« (ebd., Nr. 14). Er lässt den Blick weit in die Vergangenheit zurückschweifen und zeigt, dass im 18. Jahrhundert noch nicht von einem Westen und Osten Europas, sondern von einem ›zivilisierten Süden‹ und einem ›barbarischen Norden‹ die Rede war. Bis ins 19. Jahrhundert galten in der Länderkunde im deutschen, englischen und französischen Sprachraum Russland und auch Polen als ›nordische‹ Länder, welche in den westlichen mental maps im Laufe der Zeit gewissermaßen von Norden nach Osten ›wanderten‹. Darin spiegele sich »der Wandel des politisch-ideologischen Weltbildes weiter Teile Europas [wider].« (Lemberg 1985, S. 90; zit. n. Schenk 2013, Nr. 15) Für die Aufklärer des 18. und 19. Jahrhunderts stelle Osteuropa einen Raum des Übergangs zwischen dem Orient, der sich »aus westlicher Sicht als Raum ›ewiger‹ Rückständigkeit präsentiert habe« (ebd., Nr. 20), und dem aufgeklärten und fortschrittlichen Westen dar, was in unseren Köpfen das Bild des heutigen Osteuropa nachhaltig geprägt habe. Der US-amerikanische Historiker Larry Wolff schreibt von einer ›Erfindung Osteuropas‹, die in erster Linie von den führenden Ländern der Aufklärung wie England und Frankreich ausging: Demnach begann hier eine Neuordnung Europas, die sich an einer Skala »von als mehr oder weniger zivilisiert« ausrichtete: Länder mit völlig unterschiedlichen Regierungen, Gesellschaften und Religionen – das Russische Reich, die Polnisch-Litauische Union (Rzeczpospolita), das habsburgische Ungarn und Böhmen sowie die osmanisch beherrschten Gebiete Europas – wurden miteinander verknüpft und zu einem Ganzen zusammengeschlossen, gemeinsam unter das philosophische Zeichen der Rückständigkeit gestellt und gemäß einem Stufenmodell erkennbarer Ähnlichkeiten beschrieben. (Wolff 2003, S. 22)

Offensichtlich handelt es sich bei der westlichen Diskussion über das östliche Europa um einen Diskurs der Überlegenheit und Dominanz, der das Feld für spätere Expansionsbestrebungen des Westens nach Osten vorbereitete.8 Die mental maps-Theorie nimmt somit Konstruktionen und Dekonstruktionen von Raumvorstellungen und Stereotypen in den Blick. Die Literaturdidaktik kann diese Anregungen in ihren Reflexionen über literarische Texte im Kontext des ›östlichen Mitteleuropa‹ aufgreifen, ohne ideologisch vorbelastete Konzepte und Stereotype heranzuziehen und unrealistische Anforderungen an die schulische Vermittlung von Hintergrundwissen zu stellen. Allerdings ist Vorsicht geboten, um nicht die Diegese literarischer Texte und das Wirken fiktiver Figuren mit realen Ereignissen, Handlungen und Überzeugungen trotz unterschiedlicher ontologischer Qualitäten in eins zu setzen. 8 Als Beispiele können Napoleons Russland-Feldzug, die preußische ›Mitteleuropa‹-Politik und die so genannte ›Ostraumpolitik‹ des nationalsozialistischen deutschen Regimes genannt werden.

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Theoretische Modellierungen und fachdidaktische Perspektiven

Im Folgenden sollen grundlegende Fragestellungen einer interkulturellen Literaturdidaktik mit Blick auf die literarische Kultur des östlichen Mitteleuropa vorgestellt werden. Im Mittelpunkt steht das Wechselverhältnis von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹. Beides sind »relationale Begriffe«, was bedeutet, dass weder das Eigene noch das Fremde »objektiv gegeben«, sondern vom jeweiligen Standort abhängig sind (Bredella 2001, S. 10). Dabei beansprucht Interkulturalität einen Modus »kooperativer Selbstaufklärung« (Wierlacher 2003, S. 259), denn der Betrachter erfährt etwas über sich selbst. Zentral für dieses Wechselverhältnis ist aus interkultureller Sicht die Annahme einer hermeneutisch verstandenen »kulturelle[n] Zwischenposition« (ebd., S. 260) eines ›dritten‹ Ortes, an dem die Differenzen ausgehandelt werden. Auf diesem Wechselverhältnis basieren wichtige interkulturelle Konzepte wie ›Differenz‹, ›Alterität‹, ›Empathie‹ oder ›Anerkennung‹, die ein Verhältnis zwischen zwei oder mehreren Kulturen voraussetzen, wobei es sich nicht zwangsläufig um ›den Westen‹ und ›den Osten‹, sondern auch um mittelosteuropäische Binnendifferenzen handeln kann. Für solche Verhältnisse zwischen Eigenem und Fremdem fordert Christian Dawidowski literarisch angestoßene »Perspektivwechsel« (2006, S. 26; 2016, S. 124f.) der Schüler_innen und eine »Oszillation zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Bestehendem und Neuem und zwischen Jetzigem und Zukünftigem« (2006, S. 26). Heidi Rösch argumentiert für die Notwendigkeit des Erwerbs von Wissen über Prozesse innereuropäischer Migration und kontinentaler Integration sowie für das Aufbrechen kultureller Stereotype (etwa über Migrant_innen und Einheimische, ›Wessis‹ und ›Ossis‹ oder europäische Minderheiten wie Sinti und Roma) und ethnozentrischer Haltungen, die Fremdem und Anderem stets nur aus der Perspektive der eigenen Kultur gegenübertreten. Demgegenüber plädiert sie dafür, die Suche nach »kulturellen Gemeinsamkeiten« und das Aushalten »kultureller Widersprüchlichkeit« (Rösch 2008, S. 96) im Unterricht zu üben. Der Dualismus von ›eigen‹ und ›fremd‹ hat Widerspruch erfahren von Wolfgang Welsch, der stattdessen das Konzept der ›Transkulturalität‹ vertritt. Er begründet dies wie folgt: »Unsere Kulturen haben de facto längst nicht mehr die Form der Homogenität und Separiertheit, sondern sind weitgehend durch Mischungen und Durchdringungen gekennzeichnet«, sodass es heutzutage »nichts schlechthin Fremdes mehr« und »ebenso wenig noch schlechthin Eigenes« gebe (2000, S. 335ff.). Auf dieser Basis lässt sich gegen das interkulturelle Paradigma einwenden, dass binäre Lernarrangements von ›eigen‹ und ›fremd‹ die Differenzen, zu deren Bewälti-

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gung man Schüler_innen befähigen will, erst konstruierten und Menschen wie auch Literatur im Kontext des östlichen Mitteleuropa ›alterisierten‹. Eine transkulturell-literaturdidaktische Annäherung an unseren Gegenstand zielt stattdessen darauf ab, homogene Vorstellungen vom ›Osten‹ und ›Westen‹ sowie Vorstellungen von separierten kulturellen Gruppen hier wie dort zu dekonstruieren. Entsprechende literaturdidaktische Rahmenüberlegungen hat Wintersteiner in seiner Poetik der Verschiedenheit (2006) formuliert. Demgemäß böte sich sowohl eine Beschäftigung mit mehrsprachigen literarischen Texten als auch eine Integration von Literatur des östlichen Mitteleuropa in eine ›weltliterarische‹ Ausrichtung des Literaturunterrichts an. Die transkulturelle Perspektive Welschs verlangt jedoch genauere Aufmerksamkeit, birgt sie doch die Gefahr, dass kulturelle Eigenheiten kaum mehr als solche wahrgenommen werden und Erfahrungen des Fremden in ihrer Andersheit unberücksichtigt bleiben. Norbert Mecklenburg erkennt diesbezüglich in Welschs Argumentation einen Widerspruch, den er darauf zurückführt, dass Welsch »Kulturen als ganzen Transkulturalität« zuschreibe, zugleich aber den Kulturbegriff als solchen voraussetze (Mecklenburg 2008, S. 95).9 Hinzu kommt, dass Welsch ›Transkulturalität‹ lediglich für ohnehin herausgehobene Positionen wie etwa diejenige der Wissenschaft formuliert, weshalb seine Perspektive schon von daher nur begrenzt gelten kann. Aus einem ähnlichen Bedürfnis heraus, kulturelle Binaritäten aufzuheben, entwickelten sich weitere Herangehensweisen für den Literaturunterricht, die an drei Beispielen vorgestellt werden sollen. Inci Dirim et al. (2013) greifen in ihrer Kritik an Rassialisierungen und Inferiorisierungen im Literaturunterricht und seinen Lehrwerken postkoloniale Theorien des hybriden Subjekts10 auf. Sie gehen davon aus, dass Identitäten nicht eine Ganzheit beschreiben, sondern stets als unabgeschlossen konstruiert werden können. Schüler_innen soll die Möglichkeit gegeben werden, inferiorisierenden und rassistischen Sprachgebrauch zu erkennen. Ziel ist es hier, dass Schüler_innen mit Zuwanderungsgeschichte aus dem östlichen Mitteleuropa sich nicht mehr mit »dem ›zerrissenen‹ Fremden oder dem ›schwarzen Mädchen‹« identifizieren, sondern dass sie – und alle anderen auch – »das Angebot solcher Identifizierungsangebote permanent in 9 Mecklenburg bezeichnet Welschs Ansatz als einen »undurchdachte[n] Vorschlag« (2008, S. 90–98); er differenziert die Begriffe stattdessen wie folgt: ›interkulturell‹ beziehe sich auf etwas, »das es zwischen zwei oder mehreren bestimmten Kulturen gebe: Unterschiede, Ähnlichkeiten, Beziehungen, Prozesse, Austausch, Konflikte.« Demgegenüber bezeichne ›transkulturell‹ etwas, »das kulturübergreifend vorkommt«, etwa wissenschaftliche Erkenntnisse (2008, S. 93). 10 Der Begriff ›hybrid‹ geht zurück auf die postkoloniale Theorie Homi K. Bhabhas. Unter ›cultural hybridity‹ versteht er eine »difference without an assumed or imposed hierarchy« (2006, S. 5).

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Frage« stellen (Dirim et al. 2013, S. 137). Offen bleibt bei diesen Anregungen aus dekonstruktiven und postkolonialen Theorien jedoch, wie sich aus einer solchen Perspektive der vorgeschlagene neue Fokus in der Text- und Themenauswahl begründen lässt. So ist zu fragen, ob sich in der Literatur im Hinblick auf das dargestellte Verhältnis zwischen West und Ost eine Art innereuropäisches Kolonialverhalten abzeichnet, d. h. ob die eurozentrischen Narrative, deren Dekonstruktion sich die postkoloniale Theorie vorgenommen hat, bei Schüler_innen tatsächlich bereits vorausgesetzt werden können oder – um es noch einmal anders zu formulieren –, ob sich bei Schüler_innen mit Zuwanderungsgeschichte aus dem östlichen Mitteleuropa ein einseitiges Bild Europas im Sinne einer primär westlichen (oder östlichen) Ausrichtung festmachen lässt. Je nachdem, wie dieses Bild ausfällt, bedarf die Thematisierung von Literatur aus und über Ostmitteleuropa aus didaktischer Perspektive eines eigenen Modellierungsangebotes. Auch das kulturtheoretische, von Michel Foucault als vormoderne Episteme wiederbelebte ›Ähnlichkeits-Paradigma‹11 unterläuft vorgeblich scharfe und objektive Oppositionen wie diejenige zwischen ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹, die immer wieder die Frage aufwerfen, inwieweit die ethnozentrische Sicht nicht per se unausweichlich sei (vgl. Bredella 2001). Die Suche nach ›Ähnlichkeiten‹ hingegen erlaubt Verbindungen jenseits von Identität und Differenz. Dazu führt Carolin Emcke aus: »Wenn religiöse und / oder rassistische Fanatiker eine Spaltung der Gesellschaft in Kategorien aus Identität und Differenz beabsichtigen, dann braucht es solidarische Allianzen, die in Ähnlichkeiten unter Menschen denken.« (Emcke 2016, S. 189) Das Paradigma der Ähnlichkeit überbrückt die Differenz von ›eigen‹ und ›fremd‹, es füllt jenen Ort des ›Dazwischen‹, der in den inter- und transkulturellen Ansätzen ebenso wie in der Rede von Hybridität nach wie vor unbestimmt bleibt. Gegenüber diesen Oppositionen oder auch Überlagerungen, die stets zur Bildung von Hierarchien tendieren, plädiert Kimmich für das Denken in Ähnlichkeiten, das Oppositionen nicht als etwas Starres konstruiert: Tatsächlich verlangt das Denken in Ähnlichkeiten – anders als das Differenzdenken –, Unschärfen, diffuse Begrifflichkeiten und vage Definitionen zu akzeptieren. Ähnlichkeitskonstellationen sind solche mit granularen, skalaren Abstufungen. Die vermeintliche Exaktheit, die sich durch ein Denken in Identität und Differenz bzw. deren klare Oppositionen zu ergeben scheint, ist mit Vorstellungen von Ähnlichkeit nicht zu vereinbaren. (Kimmich 2017, S. 12f.)

11 Michel Foucault führt vier Kategorien von ›Ähnlichkeit‹ auf: »aemulatio«, »convenientia«, »analogie« und »sympathie« (2003, S. 46ff.).

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Während man bislang im inter- und transkulturellen Diskurs den Schwerpunkt auf die ›Differenz‹, auf das ›Andere‹ oder das ›Fremde‹ legte,12 erlaubt es das Konzept der Ähnlichkeit, dem Moment »des Ineinandergreifens, der Überlappungen und Abstufungen in kulturellen Zusammenhängen« (Bhatti et. al. 2011, S. 245) innerhalb eines ›dritten‹ Ortes wieder zur Geltung zu verhelfen. Eine differenziertere Modellierung des Gegenstandes als die der Unterscheidung von homogen vorgestellten Nationalkulturen und -literaturen lässt sich auch auf der Grundlage des Kollektiv-Paradigmas nach Klaus Hansen (2011) konstruieren. Hansen versteht die kulturelle Prägung von Individuen als Resultat ihrer Zugehörigkeit zu einer Vielzahl unterschiedlicher Kollektive (Polykollektivität): So können Menschen (auch: Leser_innen und Autor_innen) beispielsweise zugleich den Kollektiven der ›Informatiker_innen‹, der ›Sprecher_innen der ungarischen Sprache‹, der ›Tennisspieler_innen‹, der ›Homosexuellen‹, der ›Camping-Tourist_innen‹, der ›Vegetarier_innen‹ und der ›calvinistisch-reformierten Kirchgänger_innen‹ angehören. ›Nationalkulturen‹ gelten dabei als ›Dachkollektive‹, die keine gemeinsamen Überzeugungen, Normen und Interessen teilen, sondern vielmehr ein Wissen um die lokale Ausprägung der Kollektivdifferenzen. Aus den zahlreichen Überlappungen der Kollektivzugehörigkeiten auch jenseits von Dachkollektiven ergeben sich ›pankollektive‹ Momente geteilten Wissens. Inwiefern sich aus dieser Perspektive sinnvolle literaturdidaktische Zugänge zu unserem Gegenstand ableiten lassen, wäre erst zu prüfen, da das Kollektiv-Paradigma in der inter- und transkulturellen Literaturdidaktik bisher noch wenig Beachtung gefunden hat. Die soweit skizzierten Ansätze sollten einen kurzen Einblick geben in die Vielfalt der interkulturellen Literaturdidaktik und geeignete Anknüpfungspunkte für die Vermittlung und Behandlung literarischer Texte aus dem östlichen Mitteleuropa im Unterricht bereitstellen, worauf in den folgenden Beiträgen zurückgegriffen wird.

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Zur Entstehung dieses Bandes und seiner Beiträge

Im Anschluss an eine internationale Tagung, die im September 2018 am Institut für deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln stattfand, wurden Beiträge zusammengestellt, die den inter- und transkulturellen Lernpotenzialen literarischer Texte mit Bezug zum östlichen Mitteleuropa nachgehen und deren spezifische Herausforderungen an das literarische Verstehen im Deutschunter12 In Anlehnung an Foucault führt Kimmich den zunehmenden Verlust eines »Denken[s] in Ähnlichkeiten« auf den Einfluss Francis Bacons und René Descartes’ zurück. (Kimmich 2017, S. 57f.)

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richt diskutieren. Literaturdidaktiker_innen aus Estland, Österreich, Ungarn, Tschechien, Polen, Kroatien und Deutschland stellten bei dieser Tagung Konzepte vor, welche die aktuelle Verantwortung des Deutschunterrichts auch für Schüler_innen, deren familiale Wurzeln im östlichen Mitteleuropa zu finden sind, im Rahmen der fachdidaktischen Theoriebildung mitgestalten. Den gemeinsamen Fokus bildete die Frage, welche literarischen Lernprozesse eine gelingende Integration der Schüler_innen begünstigen und die Ausbildung interkultureller Kompetenzen im Kontext des literarischen Lernens fördern. Ein Teil der Beiträge hat zum Ziel, die überfällige theoretische Reflexion zur Thematik voranzubringen. Andere Beiträge gehen von literarischen Einzelbeispielen oder Textgruppen aus und können so erstmals räumlich und zeitlich vielfältige literarisch-sprachlich-kulturelle Phänomene aus dem 20. und 21. Jahrhundert in den fachdidaktischen Blick rücken. Mark-Oliver Carl wendet sich der kognitiven Dimension literarischen Verstehens und Lernens in einem osteuropäischen Kontext zu. Er argumentiert, dass die Rede von ›mentalen Landkarten‹ des Westens und Ostens Europas sich vom kognitionspsychologischen Konzept der mental maps weit entfernt hat und dass dieses Konzept rein metaphorisch als Kritik an Stereotypen gebraucht wird. Carl weist auf wichtige Funktionen sowohl tatsächlicher mental maps als auch von Stereotypen hin und erklärt den Kampf gegen letztere, der oft im Namen wissenschaftlicher Aufklärung geführt wird, für aussichtslos. Dabei bezieht Carl sich auch auf das historiographische Konzept der histoires croisées und plädiert stattdessen dafür, die Potenziale von Literatur und Unterricht zu nutzen, Stereotype miteinander zu konfrontieren und zu ihrer Differenzierung beizutragen. Worin diese Potenziale konkret bestehen können, illustriert Carl am Beispiel der aus dem fernen Osten über Leningrad nach Berlin ausgewanderten Protagonistin Lena aus Nellja Veremejs Roman Berlin liegt im Osten, die ihre Erwartungen zusehends relativieren muss. Da sich der kulturtheoretische Horizont der Literaturdidaktik bislang vor allem auf die Kontroverse von Inter- und Transkulturalität – von wenigen postkolonialen Ansätzen abgesehen – beschränkt, schlägt Jan-Christoph Marschelke in seinem Beitrag eine Berücksichtigung von Rogers Brubakers ›Gruppismus‹-Konzept vor. Brubaker entwickelt diesen Begriff im Zusammenhang seiner Studie zur Berichterstattung über Konflikte in der rumänischen Stadt Cluj-Napoca. Marschelke erläutert einzelne Aspekte von Brubakers Kritik und diskutiert kritisch deren Reichweite. Angesichts der von ihm konstatierten Unmöglichkeit eines Denkens völlig ohne gruppenbezogene Kategorien schlägt Marschelke eine Synthese aus Brubakers Kritik und dem Kollektivparadigma Klaus Hansens vor, das auch Julia Podelo in ihrem Beitrag in diesem Band heranzieht. Der Beitrag von Nathalie Kónya-Jobs stellt raumtheoretische Grundlagen im Kontext des Spatial und Topographical Turn vor und vertritt die These, dass die

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Auseinandersetzung mit Räumlichkeit in der literaturdidaktischen Theoriebildung bislang nicht systematisch genug verfolgt wurde. Kónya-Jobs widmet sich einer Reihe von Gegenwartsromanen aus dem Motivkreis ›östliches Mitteleuropa‹. Martin Kordic´s Wie ich mir das Glück vorstelle wird mittels Jurij M. Lotmans Raumsemantik betrachtet. Nellja Veremejs Berlin liegt im Osten erfährt eine Analyse auf der Basis von Michail M. Bachtins Chronotopologie. Wolfgang Herrndorfs Tschick liest Kónya-Jobs mit Michel De Certeaus Konzept des ›Parcours‹. Zugänge zu Lana Lux’ Kukolka ergeben sich mit Hilfe von Michel Foucaults Heterotopologie. Melinda Nadj Abonjis Roman Tauben fliegen auf wird für eine kontrastive unterrichtliche Behandlung mittels der Konzeptionen des Erinnerungsortes (Pierre Nora) und des Nicht-Ortes (Marc Augé) vorgeschlagen. Rolf Füllmann beschäftigt sich mit der Novelle Andrikson des zweisprachigen lettischen Nationalschriftstellers Ru¯dolfs Blaumanis (1863–1908). Er liest diese Erzählung in transkultureller Perspektive als literarische Inszenierung der verschiedenen Vorstellungen und Interessenlagen sozialer und ethnischer Gruppen in einer tief gespaltenen Gesellschaft. Als Herausgeber der deutschsprachigen Erzählungen des Autors arbeitet Füllmann heraus, dass sowohl die Gattung anhand eines Prototyps als auch die Dimension eines sozialen und ethnischen Konflikts Schüler_innen mit Andrikson modellhaft vermittelbar sind. In einem gesamteuropäischen Blickwinkel sei an dieser Dorfnovelle exemplarisch aufzuzeigen, dass das Deutsche historisch nie nur die Sprache einer mitteleuropäischen Ethnie war. Der Gebrauch dieser Sprache durch lettische ›Nationalschriftsteller‹ wie Blaumanis und auch Rainis (1865–1929) oder den Ukrainer Ivan Franko (1856–1916) könne dieses heute wieder aktuelle Faktum nachdrücklich erfahrbar machen. Winfried Adam plädiert angesichts der Vernachlässigung literarischer Texte über und aus dem östlichen Teil Europas, zu dem viele Schüler_innen biographische Bezüge haben, für eine schulische Beschäftigung über Franz Kafka hinaus mit weiteren Autor_innen aus jenen Regionen. Dabei wendet Adam sich den literarisch unterschiedlich komplexen Brüchen, Illusionen, Schwebezuständen und Spannungen zu, mit denen Joseph Roth in Das falsche Gewicht, Gregor von Rezzori in Skutschno und Peter Härtling in Bozˇena jeweils von östlichen Regionen des untergegangenen multiethnischen Habsburgerreiches und ihren Bewohner_innen erzählen. Adam führt zunächst eingängige Interpretationen von Momenten der Grenzverwischungen bei Roth vor. Anschließend widmet er sich Rezzoris Spiel mit Faszination und Abstoßung angesichts des mit zahlreichen Rezzori-Autobiografika ausgestatteten antisemitischen Ich-Erzählers. Die Primärtextauswahl wird abgeschlossen mit Härtlings wiederholt zwischen den Fronten ethnischer Diskriminierung aufgeriebener Titelfigur Bozˇena. Die philologischen Expertisen zu diesen Texten verbindet er mit Berichten differenzierter Unterrichtserfahrungen im Rahmen didaktischer Analysen.

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Edward Białek und Krzysztof Huszcza haben sich die literaturwissenschaftliche Popularisierung und literaturdidaktische Einordnung der Lyrik und des Erzählprosawerkes der 1937 in Breslau geborenen Schriftstellerin Monika Taubitz zur Aufgabe gemacht. Sie stellen die Autorin mit schlesischem Hintergrund vor, die sich seit Jahrzehnten für eine Annäherung der aus Schlesien Vertriebenen und der neuen Bewohner dieser Region einsetzt. Die rege Rezeption des Werkes von Taubitz in Polen verstehen die Autoren als Beispiel dafür, dass ein in seinem Land kaum bekannter Autor sich im Ausland großer Beliebtheit erfreuen kann. In diesem Beitrag behandeln die Germanisten der Universität Wrocław mehrere schlesische, aber auch polnische Motive und Gestalten der Lyrik und Prosa der Schriftstellerin in literaturdidaktischer Perspektive, wobei sie den Schwerpunkt auf die literarhistorische Bildung von Schüler_innen und Studierenden legen. Julia Podelo wendet sich der russlanddeutschen Literatur zu. Nach einem kurzen Abriss der Geschichte russlanddeutscher Gruppen nähert sie sich literarischen Texten russlanddeutscher Autor_innen aus der kulturtheoretischen Perspektive von Klaus Hansens Kollektivtheorie, beziehungsweise ihrer Weiterentwicklung durch Jürgen Bolten. Dabei sollen kulturalisierende Deutungen vermieden werden, indem die Polykollektivität sowohl fiktiver Figuren als auch ihrer Autor_innen in den Blick genommen wird. Am Beispiel der Texte Wie wir Krebse und Hechte fischten von Gottlieb Eirich sowie Trusy von Georg Gaab zeigt Podelo das Potenzial solcher kollektivtheoretischer Interpretationen auf. Im Fokus des Beitrags von Eszter Propszt steht das Konzept des Studienbuchs Zum Studium der ungarndeutschen Literatur, das im Zusammenhang mit dem im östlichen Mitteleuropa einzigartigen Studiengang für Deutsch als Minderheitensprache an der Universität Szeged / Ungarn entstanden ist und dort erfolgreich in Lehrveranstaltungen eingesetzt wird. Ihr Ziel ist es, systematisch zu Bedeutungs- und damit Identitätsleistungen der ungarndeutschen Literatur für Lehramtskandidat_innen hinzuführen. Dargestellt werden die im Studienbuch herangezogenen Theorien, die Literatur als identitätskonstitutiv begreifen und Möglichkeiten bieten, deren Funktionen auf semiotischer Grundlage zu beschreiben. Des Weiteren erläutert Propszt an exemplarischen Text- und Aufgabenbeispielen sowie Praxiserfahrungen in der Hochschullehre die zentralen identitätsbildenden Kompetenzen, die das Studienbuch bei Studierenden fördert. Kristina Krieger geht in ihrem Beitrag der Prämisse der Literaturdidaktik nach, wonach die in interkultureller Literatur angelegte Mehrdimensionalität und Multiperspektivität zur Identitätsbildung beitrage. Insbesondere in der Kommunikation über den Text, in welcher sich Leser_innen interindividuell über die Andersartigkeit des Textes und ihr Befremden austauschen, sollen Selbstreflexion und eine differenzierte Wahrnehmung von Gefühlen und Gedanken geschult werden können. Methodisch wendet sich Krieger dem literarischen

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Unterrichtsgespräch nach dem Heidelberger Modell zu, das einen solchen Austausch zu ermöglichen verspricht. Der Beitrag geht der Frage nach, wie das literarische Gespräch für interkulturelle Lernprozesse eingesetzt und das Risiko minimiert werden kann, dass Lesende die im Text erfahrene Fremdheit assimilieren. Anhand von Daten aus einer empirischen Studie wird dargelegt, welche Gedanken und Gefühle Schüler_innen in einem solchen Gespräch verhandeln. Maris Saagpakk berichtet anhand einer Reihe von Projekten in Kooperation von Hochschule und Schulen in Tallinn über Praxiserfahrungen mit deutschbaltischer Kulturgeschichte und Sprachdenkmälern im heutigen DaF-Unterricht in Estland. Den theoretischen Hintergrund ihrer Forschung, in die der vorliegende Aufsatz einen Einblick gewährt, bildet der innovative Ansatz der linguistic landscapes. Die exemplarischen Untersuchungen zur Situation in Estland widmen sich einem brisanten und komplexen Thema, das ganz Osteuropa betrifft: Wie geht man im Deutschunterricht mit der jeweiligen lokalen deutschen (hier: deutschbaltischen) Vergangenheit um? Welche didaktischen Konzepte eignen sich, welche Vorbereitung brauchen die Deutschlehrer_innen für den Umgang mit diesem Thema? Renata Behrendt beschäftigt sich mit autobiographischem Schreiben zwischen polnischen Erinnerungsräumen und deutschen Heimatorten. Behrendt geht von der Beobachtung aus, dass die in Deutschland schreibenden polnischen Schriftsteller_innen in der Forschung über Migranten- und Migrationsliteratur bislang wenig Beachtung gefunden haben. Mit der Migrationsbewegung der 1980er Jahre kam auch die Autorin Emilia Smechowski als Kind mit ihren Eltern nach Deutschland. Deutsch ist ihre Zweitsprache und Deutschland ihre Heimat geworden. Ihre polnische Herkunft, die Erfahrungen der Migration und ihr Verhältnis zum heutigen Polen reflektiert Smechowski in ihrem autobiographisch geprägten Buch Wir Strebermigranten (2017). Behrendt analysiert den Migrations- und Identitätsdiskurs des Textes mit dem Fokus auf transkulturellen und hybriden Identitätskonzepten in literaturdidaktischer Sicht. René Kegelmann geht den Möglichkeiten interkulturellen literarischen Lernens mit der frühen Prosa von Herta Müller und Terézia Mora nach. Anhand ausgewählter Beispiele aus Müllers Niederungen sowie Moras Seltsame Materie beleuchtet der Beitrag deren spezifisches literaturdidaktisches Potenzial. Der Schwerpunkt liegt dabei auf figuralen Aspekten. Die häufig in die Innenperspektive der kindlichen und jugendlichen Protagonist_innen verlagerten Wahrnehmungen stehen in scharfem Kontrast zu einer erstarrten Außenwelt, die geografisch im rumänischen Banat (Müller) sowie der ungarisch-österreichischen Grenzregion um den Ferto˝tó / Neusiedlersee (Mora) zu verorten ist. Über eine Auseinandersetzung mit den kindlichen und jugendlichen Figuren und deren spezifischen Schwierigkeiten weitet sich der Blick auf eine mittelosteuropäische Grenzregion, die im literarischen Lernen mit den Schüler_innen schrittweise erschlossen werden kann.

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Mark-Oliver Carl / Sieglinde Grimm / Nathalie Kónya-Jobs

Ausgehend von Hannah Arendts Bericht Eichmann in Jerusalem untersucht Marijana Erstic´ die ›Banalität des Bösen‹ im Film Sturm von Hans Christian Schmid und im Roman Meeresstille von Nicol Ljubic´. Erstic´ zeigt, in welcher Weise im Roman die Sprache als Erkenntnisträger fungiert und die Vielstimmigkeit am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag widergespiegelt wird. Der Film hingegen deckt primär die politischen Verwurzelungen des Strafgerichtshofes auf. Aus formalästhetischer Sicht wird ferner die Frage nach der Ästhetisierung des Bösen im Sinne Karl Heinz Bohrers verfolgt, nach den formalen Mitteln also, anhand welcher die Narrative und die Ästhetik des Bösen im jeweiligen Werk zum Vorschein kommen. In der vergleichenden Auseinandersetzung von Roman und Film geht der Beitrag darüber hinaus literaturdidaktischen Implikationen der Thematik am Beispiel der unterrichtlichen Gerichtssimulation als Makromethode nach. Wir bedanken uns beim Verlag V&R für die Möglichkeit, die interkulturellen Potenziale der ostmitteleuropäischen Literatur im didaktischen Kontext vorstellen zu dürfen. Insbesondere geht unser Dank an alle, die durch ihre Beiträge mitgeholfen haben, diesen themenorientierten Zugang zur Literatur so vielfältig auszugestalten. Zudem bedanken wir uns bei Roman Koprˇiva und Rolf Füllmann, die an der Reifung dieser Idee mitgewirkt haben. Ein weiterer Dank richtet sich an unser Team, das uns vor und während der Tagung sowie bei der redaktionellen Bearbeitung, der typologischen Gestaltung und Drucklegung des Manuskripts hervorragend unterstützt hat; namentlich seien hier Julius Arens, David Golyschny, Pauline Pallaske, Anna Yeliz Schentke, Julia Scholtholt und Markus Werner genannt. Im Winter 2020/21

Mark-Oliver Carl (Bonn) Sieglinde Grimm (Köln) Nathalie Kónya-Jobs (Köln)

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Mark-Oliver Carl

Mentale Modelle des ›Westens‹ und ›Ostens‹ elaborieren und reflektieren mit Nellja Veremejs Berlin liegt im Osten

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Kampf gegen Stereotype?

»Nach wie vor ist ein Kernpunkt jeder transkulturellen Bildung die Bekämpfung der eigenen Vorurteile« – so formuliert Werner Wintersteiner (2006, S. 58). Damit stellt er sich in die alte Tradition des wohlmeinenden Engagements gegen gruppenbezogene Vorurteile und Stereotypen.1 Wintersteiners Position lässt sich zurückverfolgen bis zu Daniel Katz und Kenneth Braly (1933), Elisabeth FrekelBrunswik (1949) und vor allem Theodor W. Adorno (1950), der Stereotype und Vorurteile zum Inventar der »authoritarian personality« (ebd., S. 228f.) erklärte. Wie verbreitet Stereotype über den Osten und Westen Europas hier, dort und anderswo sind, zeigt sich nicht nur am Erfolg etwa von Yanko Tsvetkovs Atlas of Prejudice (2012–17). Larry Wolff (1994) und Frithjof Schenk (2013) weisen auf die lange Vorgeschichte dessen hin, was sie als stereotypgeprägte ›mentale Landkarten‹ bezeichnen. So etwa auf die Verschiebung Russlands vom ›Norden‹ in den ›Osten‹ in den Europa-Konzeptionen französischer und englischer liberaler Aufklärer des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wobei diese Neuverortung Russlands nichts an der stereotypen Zuschreibung von tief verwurzeltem Despotismus und Rückschrittlichkeit änderte. Angesichts der Negativität diesbezüglicher Stereotypen und der steten Gefahr, dass solche Dispositionen in diskriminierendes Handeln umschlagen (vgl. Warner / DeFleur 1969; Jonas / Schmid-Mast 2007), sind Versuche, entsprechend stereotypen ›mentalen Landkarten‹ vom Osten Europas in den Köpfen westlicher Europäer_innen den Kampf anzusagen, überaus verständlich. Im Bereich der Volks- und Schulpädagogik bemühen sich Aufklärungsmaterialien etwa der Bundeszentrale für politische Bildung darum nachzuzeichnen, wie sich unter-

1 ›Vorurteile‹ und ›Stereotypen‹ sind beides vergröbernd-heuristische gruppenbezogene kognitive Strukturen; ›Vorurteile‹ zeichnen sich zudem auch durch eine negative affektive Aufladung aus (vgl. Jonas / Schmid-Mast 2007, S. 69).

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schiedliche Vorurteile2 auf Grundlage gesellschaftlicher und politischer Prozesse entwickelt haben und in welcher Wechselwirkung die verzerrten Wahrnehmungen voneinander stehen. Eine Blaupause für den anspruchsvolleren Kampf gegen stereotype ›mentale Landkarten‹, der im wissenschaftlichen Diskurs geführt wird, liefert Maria Todorova (1997) in ihren Betrachtungen zur Erfindung des Balkans: Todorova dekonstruiert eine vorurteilsbeladene räumlich-soziale Ordnungskategorie, indem sie die in ihr enthaltenen Zuschreibungen vorgeblich spezifischer Merkmale der fremden Region (Zerfall von Reichen in verfeindete Kleinstaaten, konfessionell grundierte nationalistische Kriege, ethnische Säuberungen, nationale Opfernarrative, wirtschaftliche Abhängigkeit) zeitlich auf Prozesse ihrer Europäisierung zurückführt und damit in die Paradoxie treibt: Gerade die Annäherung der Region an den Rest Europas schuf das, was im Westen des Kontinents als das Typische und Andersartige des Balkans betrachtet werde. Ein transnational ausgerichteter Literaturunterricht kann zur Erreichung dieses Ziels beitragen. Wie im Folgenden gezeigt wird, gilt es dabei, sowohl kognitionspsychologische (Kap. 2) als auch wissenssoziologische Bedingungen (Kap. 3) entsprechender Lern- und Entwicklungsprozesse nicht außer Acht zu lassen. Die didaktische Modellierung eines solchen Anliegens muss an diesbezüglichen Erkenntnissen ausgerichtet sein und gleichermaßen den genauen analytischen Blick auf den literarischen Gegenstand (Kap. 4–7) kultivieren. Wie dies mit besonderem Fokus auf unterschiedliche ›mentale Landkarten‹ literarischer Figuren gelingen kann, soll am Beispiel von Nellja Veremejs Romanerstling Berlin liegt im Osten (2013) erkundet werden.

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Die Kognitionspsychologie von Stereotypen und mentalen Karten

Wer etwas an den ›mentalen Landkarten‹ und Stereotypen Lernender verändern möchte, sollte in Grundzügen wissen, wie die jeweiligen kognitiven Strukturen allgemein erworben und verändert werden und welche Funktion sie erfüllen. Zuerst sei geklärt, dass die theoretische Modellierung und empirische Erforschung kognitiver Karten einerseits und von Stereotypen andererseits zwar etwa zeitgleich während der 1970er-Jahre ihre Hochphase erlebte und beide Strukturen durchaus kognitionspsychologische Gemeinsamkeiten aufweisen, es sich jedoch um zwei getrennte Arten kognitiver Strukturen handelt, die auch deutliche Unterschiede zeigen. 2 Z. B. über Polen: Kosmala 2006, Sinti und Roma: Mihok / Widmann 2006 bzw. ›den Osten‹ insgesamt, mit besonderem Fokus auf die DDR: Benz 2006.

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Der Überblicksdarstellung von Jonas / Schmid-Mast (2007) zufolge hat sich ein auf Henri Tajfel (1982) zurückgehendes Verständnis von Stereotypen als gruppenbezogene kognitive Schemata durchgesetzt. Sie werden entweder durch eigene Erfahrung oder auf Grundlage kommunikativer Vermittlung in abstrahierend-kategorisierenden Induktionsprozessen gebildet. Stereotype dienen der Unterstützung prädiktiver wie interpretativer Prozesse bezüglich des Verhaltens von Menschen, über die man individuell nur wenig weiß, allein anhand ihrer Zuordnung zu einer Gruppe, einem Kollektiv bzw. einer Nation. Sie besitzen somit, wie schon Lippmann (1922, S. 89) klarstellte, eine unverzichtbare kognitive Funktion: Ganz ohne Stereotype wären wir mit der Unberechenbarkeit des Verhaltens uns unvertrauter Menschen heillos überfordert, sobald dieses von unseren Situations-Scripts3 und anderen kulturellen Modellen4 abweicht. Alexander Thomas (2006) listet für Stereotype weiterhin eine psychische Abwehrfunktion, eine Selbstdarstellungs-, Abgrenzungs- und Identifikations- sowie eine Steuerungs- und Rechtfertigungsfunktion (S. 4f.) auf. Ziel von Bildungsprozessen kann somit nicht die Eliminierung sein, sondern nur – die Ausdifferenzierung gruppenbezogener kognitiver Schemata im Bewusstsein der Zugehörigkeit jedes Individuums zu zahlreichen Kollektiven (Multikollektivität, vgl. Hansen 2011), – die metakognitive Steuerung ihres Einsatzes sowie – die Entschärfung negativ aufgeladener Stereotype (Vorurteile), vor allem durch die von Thomas so betitelten persönlichkeits- und einstellungstheoretischen Ansätze (vgl. 2006, S. 13–15). Maps in mind bzw. kognitive Karten weisen einige Gemeinsamkeiten mit Stereotypen auf, die sie zugleich allesamt von Karten als Artefakte abgrenzen: Auch sie sind erfahrungsbasiert (vgl. Downs / Stea 1977, S. 40f.), werden in interessengeleiteten Prozessen aufgebaut, die Selektion und Abstraktion involvieren (vgl. ebd., S. 73), können affektiv aufgeladen sein und Wertungen einzelner Bestandteile enthalten (vgl. ebd., S. 54), auch ihnen ist die Perspektive ihres Trägers / ihrer Trägerin eingeschrieben, und auch sie dienen der Orientierung in einer ansonsten unüberschaubar detailreichen Welt. Deshalb sind auch sie absolut unverzichtbar – im Übrigen nicht nur für Menschen, sondern auch für zahlreiche Tierarten (vgl. O’Keefe 1994 zum Suchverhalten von Ratten). Doch dürfen auch die Unterschiede nicht übersehen werden: Kognitive Karten sind mentale Repräsentationen von Räumen und in ihnen zu bestimmten Zeiten befindlichen Objekten (bei Downs / Stea 1977: »whatness«, »whereness«, »when3 Z. B. wie man sich in einem Restaurant verhält, vgl. Schank / Abelson 1977. 4 Z. B. dem Modell ›Hausfrau‹; zur Theorie kultureller Modelle vgl. Shore 1996.

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ness«, S. 41–55). Auch wenn sie durchaus oft unterschiedliche Gruppen von Menschen lokalisieren, so ist dies kaum die einzige Dimension einer kognitiven Karte, und zudem setzt eine solche kognitive Karte diese Gruppen primär in einem räumlichen Sinne in Relation zueinander. Auch wenn es oft vorkommen dürfte, dass Gruppen in mentalen Karten stereotyp repräsentiert werden, muss die räumliche Relation der Gruppen, Kollektive, Nationen etc. in einer mentalen Karte von Relationen in anderen, nicht räumlichen Dimensionen unterschieden werden. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Auf der mentalen Karte des Schulweges, den ich gelegentlich mit meinem Sohn zurücklege, befindet sich zwischen unserem Haus und der Gemeinschaftsgrundschule mit jahrgangsübergreifendem Lernen, die er besucht, eine weitere, konfessionelle Grundschule. Zu ihr ist es ein kürzerer Weg; diese mental-kartographische Information befindet sich auf einer fundamental anderen Ebene als die Frage, wo sich mein Sohn eher ›zu Hause‹ fühlt, oder auch die stärker mit Stereotypen verbundene Frage, wie ›nah‹ oder ›fern‹ mir die jeweiligen Lehrer_innenkollektive, die Glaubensgemeinschaft oder die pädagogischen Modelle sind. Darüber hinaus weisen kognitive Karten größere Nähe zu episodischen Erinnerungen auf, als dies bei Stereotypen und critical incidents der Fall ist. Deshalb ist zu konstatieren, dass beispielsweise Schenk (2013) den Begriff der ›mentalen Landkarten‹ partiell metaphorisch gebraucht und dabei unterschiedliche kognitive Strukturen vermengt: Insofern wir über mentale Karten von Europa verfügen, sind abstrakte Zuschreibungen wie die Liberalität des Westens oder die Rückständigkeit des Ostens vorwiegend auf deren Verknüpfung mit Stereotypen zurückzuführen. Den betreffenden Stereotypen können aufgrund ihrer Funktion in der kognitiven Ökonomie – vor allem ihrer Auswahlfunktion in Prozessen der Vorhersage oder Interpretation fremden Verhaltens – oft erst durch die Etablierung einer zusätzlichen Komplexitätsebene dauerhaft neue Informationen hinzugefügt werden. Solche zusätzlichen Komplexitätsebenen ergeben sich beispielsweise durch die Berücksichtigung von Multikollektivität (vgl. die Beiträge von Podelo S. 142f. und Marschelke S. 54f. in diesem Band) oder von diachronem Wandel. Kognitive Karten hingegen lassen sich aufgrund der Funktionsweise unseres räumlichen Vorstellungsvermögens vergleichsweise leicht anreichern. Allerdings sind sie dabei nicht festgelegt auf weitere personenbezogene Informationen, da die unterschiedlichsten Merkmale vielfältiger Objekte mindestens ebenso dazu angetan sind, unserer Orientierung zu dienen. Zusammengefasst gesagt: Weder mentale Karten, noch Stereotype lassen sich einfach ›überwinden‹; transkulturelle Bildung kann aber auf ihre Elaboration, metakognitive Steuerung und – in eingeschränktem Maße – auf die Abschwächung negativer Aufladungen zielen. Während dies im Falle von Stereotypen eher über aufwändige Lernprozesse hinsichtlich multikollektiver Zugehörigkeiten erfolgt, können neue Spuren in bestehenden kognitiven Karten oder gar völlig neue kognitive Karten leicht durch die Stimulation räumlicher Vorstel-

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lungsbildung erzeugt werden, wobei dies nicht auf personenbezogene Informationen beschränkt ist und dauerhaftes Erinnern nur im Falle hoher Relevanzerwartung und der Verknüpfung mit bestehenden Wissensstrukturen wahrscheinlich ist. Sowohl Stereotypen als auch kognitive Karten können diachrone Dimensionen aufweisen, also auch vergangene Zustände als solche speichern und in Beziehung zu gegenwärtigen setzen. Im Falle von Stereotypen erhoffen etwa die bereits genannten Materialien der Bundeszentrale für politische Bildung eine elaborierend-relativierende und damit potenziell entschärfende Wirkung von Wissensbeständen, wie bestimmte Annahmen über Gruppendifferenzen jeweils entstanden sind. Schwierig wird dies, wo nicht nur »räumlich-soziale Zusammenhänge, die weit über die Erfahrungsgrenzen des Individuums hinausreichen« (Schenk 2002, S. 495), mental repräsentiert werden sollen, sondern auch entsprechend über die Lebensspanne des Lernenden hinausreichende zeitliche Abstände. An dieser Stelle ist man auf das ›kommunikative‹ und schließlich das ›kulturelle Gedächtnis‹ (vgl. Assmann 1988) zurückgeworfen, was nicht nur medial vermittelte Kommunikation involviert, sondern auch, zumal im Kontext institutioneller Bildung, in die Geschichtsschreibung und -vermittlung hineinreicht. Aus kognitionspsychologischer Perspektive ist hier anzumerken, dass eine diachron-differenzierende ›Arbeit‹ an den Verknüpfungen kognitiver Karten mit Stereotypen nicht gelingen kann, indem man abstrakt Fakten vermittelt, die vorgeblich über alle Teilnehmerperspektiven erhaben seien. Solch propositionales Wissen würde in ganz anderen Bereichen des Gedächtnisses gespeichert, die Verknüpfungen mentaler Karten mit Stereotypen blieben davon ebenso unberührt wie von der Betrachtung einer tatsächlichen Landkarte.

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Histoires croisées: Anregungen aus der Selbstreflexion der Historiographie für die Literaturdidaktik

Aus historiographischer Perspektive erscheint die Vermittlung geeigneten Faktenwissens über unterschiedliche Gruppen, Kollektive, Nationen, Institutionen, Staaten etc., um dadurch zur Differenzierung stereotyper Kategorisierungen zu gelangen, ohnehin ein fragwürdiges Geschäft – und dies nicht nur im Lichte allgemeiner historiographischer Selbstreflexion im Zuge des »narrative turn« (Munslow 2019, S. 7). So kritisieren Benedicte Zimmermann und Michael Werner (2002) frühere Ansätze zu inter- oder transkultureller Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge wie den Kulturvergleich und die Transfergeschichte wie folgt: In allen bisherigen Versuchen, sich dem weniger Beachteten zuzuwenden und nachzuspüren, wo und wie Entferntes und Näheres bereits aufeinander

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eingewirkt haben, so konstatieren sie, wirkten immer noch – im schlimmsten Fall unreflektiert – die Dispositive eurozentrischer Diskurse mit: So zeigt sich, daß die Transfergeschichte, die angetreten war, die nationale Verankerung der Geschichtswissenschaft zu lockern, in mancher Hinsicht eine andere Form von national determinierter Untersuchungsperspektive durch die Hintertür wieder einführt (Zimmermann / Werner 2002, S. 615).

Sie plädieren deshalb in ihrem auf postkolonialer Theoriebildung beruhendem Gegenentwurf der histoires croisées dafür, die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen und ihren perspektivischen Ordnungsmustern nachzuspüren sowie bei der Kategorisierung solch fremder Perspektiven sich die eigene KoKonstruktion an Narrativen der Differenz und Relation bewusst zu machen. Eine Reihe von Texten, die die Idee für diesen Beitrag geliefert haben, zeichnen sich dadurch aus, dass sie Rezipient_innen Gelegenheiten bieten, Wanderungen und Kreuzungen zwischen Ost und West, ineinander verschlungene Selbst- und Fremdbilder, vermessene, projizierte und imaginierte Räume stets aus Teilnehmerperspektiven, die Lesende probehalber übernehmen können, vor dem geistigen Auge anschaulich entstehen zu lassen. Zu diesen Texten gehören unter anderem – Seltsame Materie von Terézia Mora (1999) – Russendisko von Wladimir Kaminer (2000) – Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006), Vor dem Fest (2013), Fallensteller (2016) und Herkunft (2019) von Sasˇa Stanisˇic´ sowie – Berlin liegt im Osten (2013) und Nach dem Sturm (2016) von Nellja Veremej. Literatur besitzt das Potenzial, Textwelten entstehen zu lassen, die von fiktiven Figuren bevölkert sind, die ihre eigenen ›mental maps‹ und Stereotype nachvollziehbar machen. Sie ist dabei nicht alleine auf abstrakte Erläuterungen angewiesen, sondern kann sehr konkrete persönliche orts-, zeit- und personengebundene Erlebnisse repräsentieren, und sie liefert immer unzweifelhaft perspektivische mentale Landkarten. Didaktisch besonders ergiebig dürften dabei Texte sein, in denen das, was fiktiven Figuren im Laufe der Handlung widerfährt, durch den Rekurs auf ihre mentalen Karten und Stereotype erklärbar und verstehbar wird. Je mehr eventuelle Veränderungen und Gegenüberstellungen so nachvollziehbar werden, desto eher lässt sich davon sprechen, dass der betreffende Text mentale Karten im fiktionalen Narrativ ›durchspielt‹. Für den / die lesende_n Schüler_in erschöpfen sich die Möglichkeiten der kritischen Textbegegnung nicht darin, die mentalen Karten anderer nachzumodellieren. Das In-Bezug-Setzen zu eigenen Vorstellungen und eine Reflexion auf erlebte Leser_innenlenkung stellt eine interpretatorische Auseinandersetzung mit dem oder den Kulturraumkonzept(en) des Textes dar, die sowohl an-

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spruchsvoll und textnah ist, als auch direkt auf die eigenen kognitiven Verknüpfungen zielt und damit potenziell tatsächliche Lerneffekte auslöst. In welche Richtung diese Effekte wirken, lässt sich selbstverständlich nicht vorherbestimmen. Dennoch wäre damit für eine transkulturelle Bildung viel gewonnen. Doch beileibe nicht alle Texte des von Brigid Haines (2015) ausgerufenen »Eastern European Turn in German-Language Literature« eignen sich für ein solches fachdidaktisches Vorgehen.

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Die kollektive Repräsentation des Westens als Paradies in Berlin liegt im Osten

Veremejs Erstling Berlin liegt im Osten erfüllt diese Anforderungen allerdings geradezu exemplarisch. Hansjörg Bay (2017)5 zufolge ist der Roman keine schlichte Verarbeitung von Migrationserfahrungen, sondern treibt ein reflexives – aber, wie im Folgenden nachzuweisen sein wird, trotzdem auch für Schüler_innen am Ende der Sek. I und in der Sek. II noch greifbares – Spiel mit Mythen und Konstruktionen des Westens und des Ostens. Den tiefsten Einblick erhalten wir in Berlin liegt im Osten in die Innenweltsicht von Lena, die über weite Strecken als Ich-Erzählerin ihrer Lebensgeschichte fungiert. In den betreffenden Passagen, die etwa drei Viertel des Romans ausmachen, herrscht die interne Fokalisierung vor, d. h. wir sehen und verstehen die fiktive Gegenwart und Vergangenheit mit den Augen und den gedanklichen Mustern von Lena. Gelegentlich werden wir jedoch mit einer Null-Fokalisierung konfrontiert, die es bei einer homodiegetischen Ich-Erzählerin eigentlich gar nicht geben dürfte. Immer wieder verfällt Lena in einen unbestimmten kollektiven Plural; die Erzählinstanz weiß mehr, als Lena eigentlich wissen kann, so zum Beispiel über die Nöte und Hoffnungen ihrer Mutter – nein, ihrer Mütter: Unsere Mütter […] sehnten sich aus unserem Fernen Osten nach Westen, wo man, wie sie meinten, nicht sät, nicht sichelt, nicht kränkelt und nicht stirbt. Da muss man sich nicht dutzendmal hinknien, um ein Bündel Kartoffeln aus der Erde zu gewinnen, und nicht dutzendmal die Axt über dem Kopf schwingen, um den eisernen Kanonenofen mit Holz füttern zu können – das Paradies lag immer westwärts. Und der Westen fing für uns damals schon am Fuße der verwitterten Kette des Ural-Gebirges an. (BliO6, S. 9)

5 ›Nach der Migration. Nellja Veremejs Berlin liegt im Osten‹, 09. 11. 2017. 6 Alle Zitationen erfolgen nach der Taschenbuch-Ausgabe: Veremej 2015. Im Folgenden »BliO« abgekürzt.

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Der Westen ist hier der positive Pol nicht nur der im Roman dominanten geographischen Achse,7 sondern auch einer Vorstellungswelt, die nicht im engeren Wortsinn eine mentale Karte (vgl. Kap. 2) ist, sondern eher Émile Durkheims Konzept einer »kollektiven Repräsentation« (Durkheim 1912, S. 325f.) ähnelt. Seine Trägerschaft ist ein fühlbares, aber nicht klar abgegrenztes Kollektiv: Wer gehört zu jenem ›uns‹ dazu und wer nicht? In der realen sowjetischen Gesellschaft gab es fraglos andere Stimmen – vor allem im Staats- und Parteiapparat und den von ihnen kontrollierten Massenkommunikationsmedien. Solche Stimmen werden von Veremejs (im Falle von Städten sogar personifizierenden) Setzungen kollektiver Subjekte ausgeblendet: »Moskau und Leningrad […] schielten ihrerseits zu den kaum sichtbaren Leuchttürmen des Westens hinüber. […] Wir sehnten uns nach dem unfassbaren Westen und waren sehr neugierig darauf. […] Wir alle liebten den Westen grenzenlos.« (BliO, S. 126–135) Wenn Schlüsse aus unserem Wissen über die reale Geschichte der Sowjetunion zulässig sind, müssen wir annehmen, dass diese positiv aufgeladene kollektive Repräsentation des Westens jedenfalls keineswegs der staatlichen Propaganda entstammt. Hollywood-Filme scheinen Versatzstücke zu sein, aus denen sie sich zusammensetzt: »Die Landstriche westlich der sowjetischen Grenze wurden von Repräsentanten einer göttlichen Rasse bewohnt. Sie trugen Bogarts Macintosh und ein Baguette in der Hand, das Pflaster unter ihren Füßen war mit duftenden Shampoos gewaschen.« (BliO, S. 79) Doch solche Sehnsuchtsvorstellungen müssen auf einen sehr fruchtbaren Nährboden gefallen sein. Wir können nur spekulieren: Handelt es sich um irrlichternde Reflexe offizieller utopischer Narrative, um eine Kontrastfolie zum Grau in Grau des real existierenden Sozialismus oder um die Faszination des Verbotenen? In jedem Fall prägt diese kollektive Repräsentation des Westens nicht nur das Denken, Fühlen und Hoffen jenes unscharf abgegrenzten Kollektivs, sondern auch dessen Handeln, wie sich etwa am Sankt Petersburger Widerstand gegen den Putschversuch orthodoxer Kommunisten, die im Sommer 1991 die Verwestlichung der Sowjetunion aufzuhalten versuchten, zeigt: Wir zuckten vor Schreck zusammen, als plötzlich das Radio hustete und mit tiefer, rauer Stimme verkündete: Achtung! Achtung! Die Panzer der Putschisten rollen in die Richtung unserer Stadt! Wir bitten alle, denen unsere junge Demokratie etwas wert ist, zum Rathaus am Isaakplatz! […] Bei der Metro-Station schlossen wir uns wortlos einer kleinen Menschenmenge an und gingen zur Busgarage. Wir stellten keine Fragen. Diese Nacht war von Menschen bevölkert, die gut eingespielt handelten, schweigend, ohne

7 Erwähnungen des ›Westens‹, auch in Form von Komposita oder Adjektiven, erfolgen im Roman 42-mal, der Osten taucht 34-mal auf, der Süden 15-mal und der Norden nur dreimal.

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Absprachen – wie es sonst nur in Träumen geschieht. Den Möglichkeiten eines Traums folgend, sickerten wir irgendwie selbst durch geschlossene Tore. (BliO, S. 128f.)

In besonderem Maße prägte diese kollektive Repräsentation des Westens als Paradies allerdings den Lebensweg Lenas, der immer weiter westwärts verläuft: zunächst aus dem Fernen Osten in den Kaukasus, anschließend in eine der westlichsten Städte Russlands, Leningrad, wo sie studiert und ihren Mann Schura kennenlernt, mit dem sie schließlich auswandern wird – nach Deutschland, in das Land des greifbaren Westens: »In Russland repräsentierten die Deutschen das wahre Abendland, sie waren unsere eigenen Fremden. Die anderen Europäer waren uns zu abstrakt. Die Deutschen aber schienen zum Greifen nah zu sein und auch so anders als wir: fleißig, nüchtern, sachlich.« (BliO, S. 79) Als ihre kleine Tochter Marina weint, weil sie nicht all ihre Spielsachen und Kuscheltiere mitnehmen kann, tröstet Lena sie: »Du brauchst gar nicht zu weinen, da im Westen gibt es auch alles, und alles ist viel besser als hier!« (BliO, S. 142)

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Lenas Ent-Täuschung – ambivalente Konsequenzen

Die Ironie, mit der die kollektive Repräsentation vom goldenen Westen geschildert wird (»von freudigen Erwartungen wie Luftballons aufgeblasen«, BliO, S. 144), deutet auf die Distanz hin, die Lena zum Zeitpunkt ihres Erzählens von dieser Vorstellung gewonnen hat. Ihr Traum vom Paradies ist inzwischen – wie die symbolischen Luftballons – geplatzt. Ihre Desillusionierung beginnt schon bei der Ankunft der kleinen Familie im ›Asyl‹ in Berlin-Spandau. Hier sind die erste Enttäuschung andere, südliche Zugewanderte. Es waren ausschließlich sehr laute Südländer, goldhäutige Menschen mit beringten Händen, deren Nachbarschaft uns lästig und peinlich war. Wir hielten uns für viel westlicher als sie, daher fühlten wir uns ihnen überlegen und waren eifersüchtig auf unsere neue Heimat, die in Beziehungsdingen so anspruchslos war. (BliO, S. 143f.)

Miriam Finkelstein nennt Lenas Reaktion auf ihre Einwanderung in die »transdifference« (Breinig & Lösch 2002, S. 22) rassistisch und chauvinistisch (vgl. Finkelstein 2014, S. 366), was sie fraglos ist. Das beschreibt aber nicht gut, was mit Lenas kollektiver Repräsentation passiert. Lena ist vielmehr ent-täuscht. Einige Luftballons der Hoffnung, die in Lenas Leben zerplatzt sind, haben wenig mit West oder Ost zu tun und hätten überall ähnlich enden können: Schuras hochstaplerische Projekte scheitern unablässig; man lebt sich auseinander; man lässt sich scheiden. Andere hingegen stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit den materiellen Erfahrungen im ökonomischen System des Westens: Lena arbeitet seit

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Jahren weit unter ihrer Qualifikation als Pflegerin in einem Altenheim und ist höchst unzufrieden darüber: »Mir ist peinlich, dass ich hier im Paradies nicht so weit gekommen bin wie erhofft. Und dass ich die fremden Alten mit dem Löffel füttere, während meine eigene Mutter irgendwo im weiten Osten allein in ihrem weißen Häuschen sitzt.« (BliO, S. 11) Hannes Krauss sieht hier den alten osteuropäischen West-Mythos auf den harten Alltag des globalen Nach-Wende-Kapitalismus prallen, in dem etwa akademische Qualifikationen von Migrant_innen nicht anerkannt werden, weshalb Letztere auf schlechter entlohnte und weniger attraktive Tätigkeiten angewiesen sind (vgl. Krauss 2018, S. 114). Lenas »Scheitern« (BliO, ebd.) wäre damit ein Scheitern am Markt. Eine marxistische Deutung drängt sich an dieser Stelle auf: Will uns Lenas Scheitern am Markt Brechtisch lehren über beschönigende kollektive Repräsentationen des Kapitalismus als falsches Bewusstsein? Zu anderen Passagen des Romans scheint diese Deutung jedoch weniger gut zu passen. Wie sehr Veremej Lenas Perspektive in der Schwebe belässt, wird etwa an deren Reflexionen über die »tückischen Stolpersteine« deutlich, die auf dem Weg von »Ausgewanderten« (BliO, S. 257f.) liegen, die deutsch werden wollen. Einige davon klingen kulturalistisch: »Der deutsche Humor ist unverständlich, die deutschen Heringe sind ungenießbar und die hiesigen Sitten und Feste undurchschaubar: Wer sind die Heiligen Drei Könige und was ist eine Himmelfahrt?« (BliO, S. 258) Fragwürdig ist hier bereits, inwiefern etwa Christi Himmelfahrt im Russland des späten 20. oder frühen 21. Jahrhunderts tatsächlich unbekannt ist. Andererseits scheint im selben Satz auch eine neu gewonnene sozialkritische Sicht auf die westliche Konsumgesellschaft durch: »Wer auf der Welt soll all die bemalten Herzen vertilgen? Was bedeutet Advent und was hat er mit Shopping zu tun?« (BliO, ebd.) Wie ironisch ist Lenas Beschreibung einer »proletarischen Internationale« von »Polen, Ukrainer[n], Bosnier[n], Mexikaner[n] […] im Berliner Appartementhaus für Senioren« (BliO, S. 21) – ist hier die Verortung des Paradieses auf Erden im ›Westen‹ umgeschlagen in ein marxistisches weltanschauliches Ordnungsmuster, oder ist dieses Ordnungsmuster mit dem ›Imperium‹, aus dem Lena stammt, untergegangen und wird jetzt noch einmal zum Spott hervorgeholt? Auf jeden Fall findet sich die proletarische Internationale im Berliner Altenheim zumindest für Lena, wenn überhaupt, nicht wieder, sondern eigentlich zum ersten Mal zusammen. In der Sowjetunion hatte sie sich nicht als Proletarierin wahrgenommen, sondern Schura zugejubelt, als er mit wilden Pinselstrichen Sowjetpropagandaposter von »den vorbildlich akkuraten Proletariern« (BliO, S. 135) übermalte. Für beide oben skizzierten Interpretationen dessen, was in Lenas Kopf und Herz an die Stelle ihrer verworfenen Karte vom Paradies tritt, finden sich weitere Belege. Ihre Analysen kulinarischer Vielfalt als Antidepressivum (vgl. BliO, S. 52) ebenso wie jene der sozialen Sicherungssysteme, in denen man »Licht und

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Wärme […] auf Knopfdruck, Liebe und Fürsorge per gesellschaftlichem Vertrag« (BliO, S. 18) erhält, lassen Kritik an der Warengesellschaft anklingen. Am anschaulichsten und zugleich differenziertesten wird Lenas sozialkritische Sicht nicht zufällig dort, wo sie erzählend ihre – diesmal im wörtlichen Sinne! – mentale Landkarte vor dem geistigen Auge der Rezipient_innen entfaltet: in ihren Berliner Wanderungen vom Alexanderplatz, wo am Existenzminimum wirtschaftende scheinselbständige ›Grillwalker‹ ihr Dasein fristen, über die RosaLuxemburg-Straße, wo über der Volksbühne symbolisch die rote Fahne weht und ein an Lenins Kommunismus-Definition erinnerndes Stück »Elektrifizierung« gegeben wird, zugleich aber das »kopfgroße Eurozeichen« (BliO, S. 91) auf dem Kassenhäuschen offenbart, dass hier mit linken Symbolen nur gespielt wird, weiter durch die Torstraße, wo die abgehängten Wendeverlierer, die die Welt nicht mehr verstehen, hausen, bis hinauf auf den Prenzlauer Berg. Letzterer wird ironisch als kleine Insel glücklicher Wohlhabender beschrieben, die es dank gesiezter Putzfrauen und Babysitter – die selbstverständlich andernorts wohnen – schaffen, »ein erstklassiges Glück zu melken« (BliO, S. 92) oder es doch zumindest durch die große Fensterscheibe des Eltern-Kind-Cafés für alle so aussehen lassen, als ob. Andererseits finden sich auch immer wieder Hinweise darauf, dass Lena an die Stelle der kollektiven Repräsentation vom westlichen Paradies nun nationale Stereotype als Erklärung für das eigene Nichtankommen gesetzt hat: Sie bemerkt bei sich »unerwartete Freude« (BliO, S. 258) an vielem, was sie selbst für stereotyp russisch hält: »die alkoholhaltigen Cocktails, deren Farben an die Versuche eines wahnsinnigen Alchemisten erinnern; nahrhafte, von Mayonnaise überflutete Salate; die polyphonen Gespräche, wo keiner dem anderen zuhört« (BliO, S. 258f.), während sie Roman, dem verheirateten deutschen Arzt, in den sie sich verliebt, »diese ruhige, besonnene Stärke eines rationalen westlichen Menschen, der sich etwas traut, sich beherrscht und sich gefällt« (BliO, S. 212) zuschreibt und ihn einen »große[n] Atheisten« nennt: »westlich, nüchtern, modern!« (BliO, S. 217). Auch an ihrer Tochter Marina – die es im Übrigen noch weiter westwärts zieht, zum Auslandsjahr in die USA – entdeckt sie überrascht »diese sachliche Ordnung« und sucht nach einer nationalstereotypen Erklärung: »Woher hat sie das? Wie eine Deutsche.« (BliO, S. 270)

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Ulfs mentale Europakarten und Lenas Reaktion

Diese schwer fassbar verwandelte, gealterte Lena, die ›den Westen‹ zwar ambivalenter, aber immer noch auch fasziniert mental modelliert, trifft nun im Altenheim auf die einzige andere Figur des Romans, in deren geistige Strukturen wir auch einen tieferen Einblick erhalten: Ulf Seitz. Lena und Herr Seitz sind zwar

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nicht auf einer Wellenlänge – Veremej verwendet stattdessen das interessante Bild eines Abgrundes, über den sich eine Saite spannt, die Töne hervorbringt (vgl. BliO, S. 146). Sie hört ihm und seinen Erzählungen zu – vielleicht, weil sie in ihrer midlife crisis die Träume ihrer Jugend geplatzt sieht und versucht, damit umzugehen und weil sie neugierig ist, wie Herr Seitz sein über weite Strecken auch nicht sehr glückliches Leben voller Enttäuschungen überstanden hat. So hören auch wir Herrn Seitz zu. Die Veremej-Forschung hat sich bisher auf die Thematisierung der 1940er-Jahre konzentriert. Seitz’ Schilderung entmenschlichender Behandlung von Ostarbeitern, seiner eigenen Schuld an der mutmaßlichen Ermordung seines Vaters und der angstbeladenen Stereotypen eines »alte[n deutschen] Mann[es]« über »die Russen[, die] alle mit den Zungen an die Türen nageln würden« (BliO, S. 154) bewog Stuart Taberner zur These, Veremejs Roman eröffne »the intriguing prospect that the future of ethnic German memory may be in the care of migrants« (2018, S. 12). Taberners Sicht überzeugt angesichts von Seitz’ differenzierter Darstellung der erobernden und okkupierenden Roten Armee jedenfalls mehr als Miriam Finkelsteins Kritik, die hier bloß »perpetuate[d] old Soviet patterns« (2014, S. 395) erkennen kann. Für die Frage nach Seitz’ eigenen Stereotypen und mentalen Kartographierungen sind jedoch andere Passagen wichtiger. Wir finden bei ihm, wie auch bei Lena, sowohl Spuren von Antikapitalismus als auch Stereotypen über west- und osteuropäische Mentalitäten – doch ihr Inhalt, ihr Kontext und ihre Genese unterscheiden sich. Seitz’ Abrechnung mit dem kapitalistischen Westen stammt aus seiner Zeit als loyaler DDR-Bürger. Noch 1989 warnte er als Redakteur einer systemtreuen DDR-Zeitschrift potenziell ausreisewillige Leser_innen vor dem trügerischen Schein der »nebulöse[n], große[n] Freiheit [… im] Westen, de[m] goldenen« (BliO, S. 284) – und griff damit genau solche kollektiven Repräsentationen an, wie die junge Lena sie seinerzeit hatte. Die gealterte Lena reagiert auf diese Abrechnung mit ihren eigenen Illusionen mit einem wärmenden Gefühl inzwischen mutmaßlich gemeinsamer Zugehörigkeit zur Gruppe der »ewigen Ossis«, deren Sensoren und Antennen »nach links gekippt« (ebd., S. 44) seien und blieben. Dieses Gefühl hatte sie schon beim Anblick des ZIL MOSKWA-Kühlschranks in Seitz’ Wohnung überkommen: In diesem Moment wusste ich, dass er, wie ich, ein Fan der Kosmonauten war, und nicht der Astronauten […] Wir haben immer noch nicht kapiert, warum die sowjetische Invasion in Afghanistan Krieg war und die von der NATO als Friedensmission gilt. […] Wir beide haben einen Großteil unseres Lebens unter roten Fahnen verbracht, unsere Sensoren und Antennen bleiben wohl für immer nach links gekippt […]. Wir sind halt Ossis, und wie viele andere Ossis müssen wir uns mit der schizophrenen Zwiespältigkeit der Erinnerung abfinden (ebd., S. 44).

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Lena gibt mit dem Leben »unter roten Fahnen« – und, wie man hinzusetzen könnte, unter dem Trommelfeuer offizieller realsozialistischer Propaganda in Schule, Partei, Medien etc. – eine Erklärung für die Genese der mutmaßlichen weltanschaulichen Schnittmenge zwischen ihr und Seitz. Doch es ist eine Erklärung, die weder auf sie – die sie ja, als sie noch unter roten Fahnen lebte, vom Westen träumte – noch auf Seitz zutrifft. Seitz schleppte zeitlebens schwer an seiner Schuld, den eigenen – kommunistischen! – Vater an die Gestapo verraten zu haben. Er wurde Parteimitglied, folgte seiner Freundin Lina nicht in den Westen – Seitz hatte ganz persönliche Gründe für seine Loyalität zur DDR. Viereinhalb Jahrzehnte unter roten Fahnen schienen diese eher ausgehöhlt zu haben. 1989 verteidigt Seitz sein Pamphlet »Go West?« gegenüber seinem Sohn Marius nur noch halbherzig: »Ich habe nur meine Arbeit gemacht!« (BliO, S. 284) In der Tat haftet dem alten Herrn Seitz nichts Ideologisches mehr an. Nach der Wende scheint er sich ganz konzentriert zu haben auf sein seit jeher großes Interesse an möglichst weit zurückliegender und damit, so vielleicht seine Hoffnung, unverfänglicher europäischer Geschichte. Doch dort, in Ulfs und Lenas Gesprächen über die Zeit der Völkerwanderung, blitzt plötzlich eine mentale Kartographie Europas bei Seitz auf, die nichts mit der GesäßtaschenGeographie des Kalten Krieges zu tun hat. Hier brechen Stereotype über angeblich überhistorisch konstante Mentalitäten im Westen und Osten Europas hervor: Ich meine, war der Osten schon damals… ärmer? Allem Anschein nach ja. Nicht unbedingt ärmer, aber… […] Im europäischen Osten war man immer weniger als bei uns auf pragmatische Aufklärung und technischen Fortschritt aus, sagen wir es so. Eigentlich will ich ihm widersprechen, mir kommen aber keine schlagkräftigen Argumente in den Sinn. […] Ich erinnere mich, wie ich im Zug von Berlin nach Moskau […] sehen konnte, wie mit jedem Kilometer weiter östlich der sachliche, der nüchterne Wohlstand schwindet. Morsche Hütten wechseln sich mit kitschigen Villen ab […] Öde Dickichte scheckiger Plattenbauten und daneben eine nagelneue Kirche mit goldenen Turbanen, schreiend bunt verziert. […] Ich schließe mich dem Urteil von Herrn Seitz an, sage aber nichts. (BliO, S. 110)

Lenas Zustimmung wirkt unbedarft – sie setzt Gegenwart und Völkerwanderungszeit schlicht gleich. Doch ihre Reaktion ist in zweierlei Hinsicht spannend: Sie stimmt am Ende zu, weil auch in ihrem Kopf Mentalitäts-Stereotypen herumgeistern. Doch ihre Zustimmung ist schweigend, weil es eben doch einen Unterschied macht, ob man als Russin eine hohe Meinung von der Mentalität der westlichen Deutschen hat oder ob man als Russin von einem Deutschen gesagt bekommt, dass auch er von der Überlegenheit der westlichen Mentalität ausgeht.

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Lena reflektiert dies übrigens an anderer Stelle mit Bezug auf die mentalen Ost-West-Landkarten selbst: Wir selbst spotten gerne über […] die Realien des sozialistischen Lebens, ärgern uns aber, wenn die Leute aus dem Westen das tun. Für sie war das Leben hinter dem eisernen Vorhang entweder verbrecherisch, miserabel oder anekdotisch ulkig. Für uns ist es im Rückblick vielleicht auch so, aber es war unser Leben, und nicht ihres. (BliO, S. 45)

Hier wird spürbar, dass Kränkungen viel damit zu tun haben, wer auch in ganz ähnlichen Systemen von Stereotypen (d. h. mentalen Landkarten im übertragenen Sinne) wen wo verortet. Lenas Zuflucht zu kulturalistischen Stereotypen wie auch zu politkulturellen Symbolen könnte, so gelesen, weniger ihrer Orientierung dienen, als vielmehr der Apologie ihrer Biographie. In lichten Momenten blitzen als Reaktion hierauf bei Lena Reflexionen auf, die mit Stereotypen verknüpfte ›mentale Landkarten‹ als standpunktabhängige und von komplementären Bedürfnissen wie Identifikation und Exotisierung gespeiste Konstrukte entlarvt: Es gibt den Mythos, dass die Russen musikalischer oder, anders gesagt, in ihrer Musikalität spontaner, herzlicher sind als die Deutschen. Mag sein – so denken wir immer über unsere östlichen oder südlichen Nachbarn. Für die Russen sind die Mongolen oder Armenier die eigenen exotischen Fremden, für die Menschen hier sind es die Slawen. (BliO, S. 123)

Und auch später im Gespräch mit Roman: »Jetzt aber mal halblang. – Ich schaue mit vorgetäuschter Strenge zu Roman hinüber. – Aus unserer Sicht beginnt Asien erst in der Mongolei oder in China.« (BliO, S. 219) Doch insgesamt bleibt die gealterte Lena eine mental ambivalente Figur, die solche Reflexionen, universell-kapitalismuskritische Auffassungen und Stereotype über Ost- und West-Mentalitäten in sich vereint. Ob sie – ähnlich wie der Ich-Erzähler in Kaminers Russendisko8– die Genese und Reichweite eines bewusst gewählten »strategischen Essentialismus« (Spivak 1985, S. 258f.) durchspielt, bleibt ungewiss.

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Vorschläge für den Unterricht

Diese überaus anschauliche figürliche Erfahrung vielfach gespiegelter unterschiedlicher West- und Ost-Vorstellungen, ihrer Genese und ihrer Transformationen beim Aufeinanderprallen, wie es sowohl epochale ökonomisch-politische Umbrüche als auch Migrationsgeschichten auslösen können, macht das enorme transkulturell-didaktische Potenzial von Veremejs Roman aus. 8 In BliO, S. 193 findet sich übrigens eine intertextuelle Anspielung auf diesen Erzählband.

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Ein auch in anderen Kontexten bewährtes Vorgehen kann es sein, die Schüler_innen zu ihren Assoziationen zu befragen. Beginnen wir also damit, Schüler_innen9 ihre Assoziationen und Vorstellungen, die sie vom ›Osten‹ und vom ›Westen‹ haben, schildern zu lassen, und lassen wir sie dann ihre Eltern und vielleicht auch ihre Großeltern zur selben Fragestellung interviewen. Die Ergebnisse solcher Nachforschungen können im Klassenraum auf vielfältige Weise präsentiert und diskutiert werden – bringen wir die unterschiedlichen Vorstellungen vom Westen und Osten Europas miteinander ins Gespräch! Ich vermute – ohne dies empirisch absichern zu können –, dass die Assoziationen von Schüler_innen mit osteuropäischer Zuwanderungsgeschichte anders sein werden als jene von Schüler_innen mit türkischer oder arabischer oder jener ganz ohne jede Zuwanderungsgeschichte. Es werden sich womöglich weitere Unterschiede zu den Assoziationen anderer Gesprächspartner feststellen lassen. Zu nennen ist erstens die Elterngeneration, die vielleicht selbst über diese heute »unsicher punktierte und imaginierte Grenze zwischen dem Osten und dem Westen« (BliO, S. 152) migriert ist, die sich aber in den meisten Fällen noch an eine Welt vor dem Mauerfall erinnern dürfte. Und zweitens die Großelterngeneration, die, wie auch Veremejs Roman vermuten lässt, eine wiederum andere Perspektive auf die Zentralachse des Kalten Krieges gehabt haben dürfte und die Nachwendezeit entsprechend mit anderen Augen sieht. Hinzu kommen weltanschauliche, religiöse, schichtenspezifische und ganz und gar idiosynkratische Differenzen innerhalb der jeweiligen Generationen und Herkunftsgruppen. Ist der Westen ein Ort des Wohlstands, der Freiheit, der Dekadenz, der Arroganz, der Fremdenfeindlichkeit, des Kolonialismus und Imperialismus, ist er schon untergegangen oder hat er sich irgendwie aufgelöst? Wo ist der Osten, wo beginnt er und wo hat er seine Mitte, ist er dort, wo deutsche Autos enden, ist er das ›Reich des Bösen‹ (Ronald Reagan), der Pol des Friedens, das Reich des rechten Glaubens, das dynamisch-selbstbewusste ›neue Europa‹ (Donald Rumsfeld), ein komplexbeladenes Jammertal der Armut, ein Bild der Zerrissenheit oder die gute alte Heimat, die erst aus dem Westen als solche gesehen wird, oder nichts von alledem? Als Abschluss einer solchen lektürevorbereitenden Einheit könnten Schüler_innen dazu angehalten werden, in den Differenzen zwischen ihren unterschiedlichen Karten Muster zu erkennen – Hilfestellungen und Anleitungen hierfür lassen sich, leicht angepasst, durchaus aus dem methodischen Instrumentarium zur Datenauswertung, das die qualitative Sozialforschung entwickelt hat, entlehnen.

9 Denkbar wäre der Einsatz in Lerngruppen am Ende der Sekundarstufe I – ein Alter, in dem die kognitiven Voraussetzungen zur »Perspektivenrelativierung« (Rietz 2017, S. 91f.) zumeist gegeben sind.

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Die eigenen Stereotype, die eigene ›mentale Landkarte‹ im metaphorischen Sinne aufzurufen ist ein wichtiger Schritt im Lernprozess der Reflexion und Elaboration von Kultur-Raum-Konzeptionen – mit den Unterschieden zu den Vorstellungen anderer konfrontiert zu werden, kann einen wichtigen Aha-Effekt herbeiführen, und über die Gründe für diese Unterschiede nachzudenken, kann die Ausprägung sogenannter kultureller Meta-Modelle (vgl. Flechsig 2006) unterstützen – aber dabei sollte man nicht stehen bleiben. Schon alleine deshalb nicht, weil auch ältere Befragte heute nicht mehr ihre einstige mentale Landkarte etwa aus den 1980ern authentisch reproduzieren, sondern selbstverständlich inzwischen anders denken. Jetzt beginnt erst die Auseinandersetzung mit dem Roman. Nähern die Schüler_innen sich ihm weiter in der Haltung der Befragenden, der biographisch und mentalitätsgeschichtlich Forschenden, die mehr über Ost- und West-Bilder der Figuren – von der Autorin wollen wir zunächst schweigen – lernen wollen, so bietet sich Lena zum Einstieg an. Ihre sowjetische kollektive Repräsentation des Westens ist schlicht zu rekonstruieren – aber schon die Frage, wer sie mit ihr teilt, wie sie zustande gekommen ist und welche Erklärungsmacht sie für Lenas Lebensweg hat, kann nur offen diskutiert werden. Was schließlich mit dieser Paradieskarte in Deutschland passiert und wie sie heute denkt, bietet in der angesprochenen Ambivalenz ebenso große Deutungsspielräume wie ein Abgleich mit Ulf Seitz’ Stereotypen und deren weitaus impliziter bleibenden Genesen. All dies muss nicht rein analytisch diskutiert werden – ein Aufeinandertreffen von Lenas und Seitz’ ›mentalen Europakarten‹ etwa am Beispiel der Völkerwanderungs-Diskussion oder des Go West-Abschnitts lässt sich gut auch szenisch nachstellen. So können Schüler_innen nachvollziehen, wie es sich anfühlen mag, den einen oder anderen Traum ausgeträumt zu haben, wie weh selbst eigene Stereotype tun können, wenn man sie von anderen gespiegelt bekommt, und sie sehen unterschiedliche Wege, mit Zurückweisung, Ungewissheiten, bitteren Einsichten und einem Angebot an Stereotypen und Weltanschauungen umzugehen, überaus greifbar vorgeführt. Dass eine solche Auseinandersetzung mit dem Roman nicht auf der Ebene der Figurenperspektiven stehen bleiben muss oder darf, ist selbstverständlich. Um diese Rekonstruktionsversuche herum liegen zahllose Gelegenheiten, über Erzählperspektiven, politische Symbolik, gruppenbezogene Ironie etc. nachzudenken. Je deutlicher sie als ›methodische‹ Überlegungen der ›Textforscher‹ auf der Suche nach fremden mentalen Landkarten im Roman begriffen werden, desto eher wird die Funktion und Wichtigkeit entsprechender literarischer Interpretationskompetenzen – und damit auch die Übertragbarkeit auf und Verfügbarkeit für die Beschäftigung mit anderen Texten – ersichtlich. Das hier skizzierte Vorgehen bietet die Gelegenheit, im Literaturunterricht Einblicke und Neugier hinsichtlich der Vielfalt von West- und Ost-Vorstellungen,

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ihrer Entstehung und Wechselwirkung, ihrer narrativen Vermittlung und ihrer individuellen und kollektiven Tragweite anzubahnen. Angesichts wieder anschwellender nationalpopulistischer Narrative, die auf der Ignoranz gegenüber der Diversität, Historizität und Komplexität grundlegender mentaler Ordnungsmuster aufbauen, sollte ein transkultureller Literaturunterricht eine solche Gelegenheit nicht ungenutzt lassen.

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Ethnonationalität jenseits von Inter- und diesseits von Transkulturalität. Eine Skizze von Brubakers Gruppismuskritik mit kollektivwissenschaftlichen Anmerkungen

Rogers Brubaker hat sich mit soziologischen Arbeiten zu Nationalismus und Ethnizität profiliert und dabei einen empirischen Schwerpunkt auf Osteuropa (insbesondere Rumänien und Ungarn) gesetzt. Insoweit fügt er sich reibungslos in den thematischen Rahmen dieses Bandes ein. Disziplinär muss er indes für die Literaturdidaktik anschlussfähig gemacht werden, ebenso die im Beitrag verwendeten kollektivwissenschaftlichen Perspektiven (vgl. aber Podelo in diesem Band S. 142–144). Einleitend möchte ich Brubaker und das Kollektivparadigma daher skizzenhaft zu Fragestellungen inter- und transkultureller Literaturdidaktik (vgl. Dawidowski / Wrobel 2006; Wintersteiner 2006; Papadimitriou 2014) in Beziehung setzen. Die literaturdidaktische Debatte nimmt die Kritik auf, die Wolfgang Welsch an den Begriffen Inter- und Multikulturalität geübt hat (vgl. Papadimitriou 2014, S. 26–38). Diese beruhten auf einem Herderschen Verständnis von Kultur als ethnische bzw. nationale, nach außen geschlossene und nach innen homogene Kugeln (vgl. Welsch 1994; 2010). Diesen Kulturbegriff gelte es zu dekonstruieren, weil er systematisch zu einem nicht auflösbaren Differenzdenken (Eigenes vs. Fremdes) beitrage, das im Extremfall nationalistische und rassistische Züge annehmen könne (vgl. Welsch 1994, S. 152–156). Fast deckungsgleich fällt die kollektivwissenschaftliche Kritik aus (vgl. Hansen 2007; 2009, S. 92–100; 2011, S. 182–192), und auch Papadimitriou kommt zu dem Schluss, der interkulturellen Literaturdidaktik liege ein konventionelles Kultur- und Nationenmodell zugrunde (vgl. 2014, S. 31).1 Ein solches Modell verführt auch zu dem, was Brubaker als Gruppismus bezeichnet hat: Ethnien und Nationen werden so behandelt, als seien sie Gruppen, die Interessen hätten und handeln könnten (vgl. Brubaker 2002; 2007).

1 Diese Kritik trifft indes nur für einige Konzeptionen von Inter- und Multikulturalität zu (vgl. Antor 2006; Otten 2009).

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Aus der Kritik ergeben sich Folgefragen: etwa wie der Kulturbegriff alternativ zu konzipieren ist;2 oder wie man eine Zielgruppe literaturdidaktisch dazu bringt, etwaige traditionelle Vorstellungen von kulturellen Differenzen (z. B. in Form von Auto- und Heterostereotypen) zu hinterfragen, die in der Regel Teil ihres Selbstverständnisses sind (vgl. Papadimitriou 2014, S. 204–206). Der dekonstruktive Gestus des Transkulturalitätsparadigmas und sein Fokus auf den traditionellen Kulturbegriff bringen indes auch zwei Probleme mit sich: unterbelichtet bleibt zum einen die Vielfalt der ›Humandifferenzierungen‹ (Hirschauer 2014; Klasse bzw. Schicht, Geschlecht, Alter u.v.m.), zum anderen wie und warum diese unaufhörlich produziert werden.3 Hier bietet sich der Rückgriff auf Brubaker und Hansen an, deren zentrale Themen Kollektivierungen und Differenzproduktionen sind. Für Hansen sind Menschen grundsätzlich vielfach kollektivierende und kollektivierte Wesen (Stichwort »Multikollektivität«, Hansen 2011, S. 152–160; Rathje 2014; Marschelke 2017). Und Brubaker thematisiert v. a. die Produktion von Ethnizität und Nationalität – situativ und institutionell, in Alltag, Politik oder Wissenschaft. Man könnte hinzufügen: in literarischen Texten, Unterrichtsalltag und Literaturdidaktik. Der Artikel stellt Brubakers Ansatz vor (1.) sowie die – teils kollektivwissenschaftlich grundierte – Kritik an diesem (2.) und macht vorsichtige Vorschläge, wie man in der Literaturdidaktik auf ihn zurückgreifen könnte (3.).4

1

Grundzüge der Brubakerschen Gruppismuskritik und die Cluj-Studie

Für mein Vorhaben sind insbesondere zwei Publikationen von Brubaker relevant: Im Aufsatz »Ethnicity without groups« (2002, deutsch: 2007) legt er die Gruppismus-Kritik dar. Wie man als Wissenschaftler_in Gruppismus vermeidet, demonstriert die Studie Nationalist Politics and Everyday Ethnicity in a Transylvanian Town (vgl. Brubaker et al. 2006) anhand der Art und Weise, wie die Bewohner_innen der rumänischen Stadt Cluj in ihrem Alltag mit Ethnizität und Nationalität umgehen. Warum Cluj? Die Stadt blickt auf eine sehr wechselvolle Geschichte zurück. Cluj-Napoca (oder: Kolozsvár, Klausenburg) war bedeutsamer 2 Welsch stellt den Kulturbegriff auf die Wittgensteinschen »Lebensformen« um (1994, S. 159f.), Hansen erhält den traditionellen Kulturbegriff, wendet ihn aber nicht mehr auf die klassischen Kulturträger (Ethnie, Nation etc.) an (vgl. 2011, S. 286). 3 Welsch konzediert letztlich, dass »lokale (regionale, nationale) Präferenzen« im Sinne des traditionellen Kulturbegriffs wichtige Bestandteile transkultureller (Misch-)Identitäten blieben (2010, S. 61). Zu kulturellem Partikularismus habe der Mensch mutmaßlich einen phylogenetischen Hang (vgl. ebd., S. 51f.). 4 Ich danke Mark-Oliver Carl für viele wertvolle Hinweise zu diesem Abschnitt.

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Teil des mittelalterlichen Königreichs Ungarn und dann Hauptstadt des Großfürstentums Siebenbürgen im Habsburger Reich. In den Wirren der Nationalstaatsbildungen gehörte sie zuerst zu Ungarn (1867), nach dem ersten Weltkrieg zu Rumänien (1920), im Verlauf des zweiten Weltkriegs nochmals zu Ungarn (1940) und schließlich nach Kriegsende wieder zu Rumänien (1946/47) (vgl. ebd., S. 89– 118). Als Folge dieser Geschichte gibt es im heutigen Cluj eine signifikante ungarische Minderheit (ca. 20 % der Stadtbevölkerung)5 und immer wieder Konflikte – vermeintlich ›ethnische‹ zwischen Ungar_innen und Rumän_innen. Warum man dieser Etikettierung mit größter Vorsicht zu begegnen hat, wird im Folgenden näher dargelegt.

1.1

Was ist Gruppismus?

Wir sind gewöhnt an Meldungen wie: »Brexit: Frankreich gegen weitere Fristverlängerung für Großbritannien«. Streng genommen sind sie ungenau. Würde man sie fragen, wären sicherlich nicht alle Franzosen und Französinnen gegen die Fristverlängerung bzw. hätten sich dazu keine Meinung gebildet. Vermutlich sind nicht einmal alle Mitglieder der aktuellen Regierung dagegen. Was hier berichtet wird, ist die aktuelle und offizielle Haltung von bestimmten Individuen oder Gremien mit bestimmten Funktionen und Kompetenzen, die dem Staat Frankreich zugerechnet werden. Diese Ungenauigkeit ist ein Mittel der sprachlichen Vereinfachung. Darüber mögen sich nicht wenige Rezipient_innen solcher Nachrichten im Klaren sein, oder sie wären es, würden sie zur Reflexion veranlasst. Dieser Anlass fehlt indes im Alltag zumeist, und so tragen solche Meldungen zum Entstehen einer Sicht auf die Welt bei, der zufolge letztere vorgestellt werden muss als eingeteilt in Kollektive, die Interessen haben und entsprechend handeln. Das ist in einfachen Worten die Grundproblematik, die hinter Brubakers Gruppismus-Kritik steht. Diese fokussiert er in zweifacher Hinsicht: Zum einen auf das Thema ethnische Konflikte, zum anderen auf den wissenschaftlichen Diskurs. Beklagenswert ist es also z. B., wenn Wissenschaftler_innen unbenommen davon sprechen, in den 1990er Jahren sei ein ethnischer Konflikt zwischen Kosovo-Albaner_innen und Serb_innen ausgebrochen (vgl. Brubaker 2007, S. 26f.). Das ist nicht gänzlich falsch, aber ungenau. Bei Pressemeldungen mag das hinnehmbar sein, in der Wissenschaft ist es das nicht. Gruppismus lässt sich mit Brubaker definieren als »die Tendenz, einzelne, abgegrenzte Gruppen als 5 Zur Geschichte der Stadt gehört auch die Rolle, die sie im Holocaust spielte: Die jüdische Bevölkerung Clujs, die 1941 noch ca. fünfzehn Prozent der Stadtbevölkerung ausgemacht hatte, wurde nahezu vollständig ausgelöscht (vgl. Brubaker et al. 2006, S. 103–105).

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Grundkonstituenten des gesellschaftlichen Lebens, als Hauptprotagonisten sozialer Konflikte und als fundamentale Einheiten der Gesellschaftsanalyse zu betrachten.« (ebd., S. 17) Gruppismus repräsentiert für Brubaker ein ganzes sozial- und kulturtheoretisches Horrorkabinett: Substanzialismus, Essentialismus, Reifikation, Homogenisierung, Schließung (vgl. ebd.).

1.2

Drei Gruppismen und groupness

Brubakers Kritik zielt auf den wissenschaftlichen Gruppismus, nicht auf den alltäglichen. Im Sinne klassischer sozialempirischer Methodologie unterscheidet Brubaker zwei Perspektiven: die der Teilnehmer_innen (bestimmter sozialer Praktiken) und die der wissenschaftlichen Beobachter_innen.6 Bei jenen macht er eine weitere Unterscheidung: Viele Menschen sprechen gruppistisch über Ethnizität und Nationalität; sie tun das aber, ohne ihre Sprechweise weiter zu reflektieren. Sie bedienen sich einer normalen, häufig stereotypen Alltagssprache. Ich nenne das unreflektierten Gruppismus. Anders diejenigen, die sich aus strategischen Gründen einer gruppistischen Rhetorik bedienen: Dazu zählen insbesondere ethnopolitische entrepreneurs bzw. Unternehmer_innen (vgl. ebd., S. 20).7 Sie nutzen gruppistische Sprechweisen, um z. B. Aufmerksamkeit zu generieren, Anhänger zu mobilisieren, Gelder zu akquirieren (strategischer Gruppismus). Solche Teilnehmer_innengruppismen sollen nun die wissenschaftlichen Beobachter_innen nicht unbenommen übernehmen, anderenfalls produzieren sie wissenschaftlichen Gruppismus. Warum nicht? Brubaker macht mit seiner Kritik eine sozialtheoretische (oder gar -ontologische) Aussage über die Existenzweise von Gruppen. Sie lässt sich einem Zitat über die gruppistische Rhetorik ethnopolitischer entrepreneurs entnehmen: »Indem sie sich auf Gruppen berufen, versuchen sie, sie entstehen zu lassen, sie zu beschwören, sie ins Leben zu rufen.« (ebd., S. 20) Gruppen sind nicht einfach da, sondern werden – so Brubaker mit Verweis auf Bourdieu – performativ hergestellt (vgl. ebd.). In diesem Sinne äußert er drei Empfehlungen, wie im Hinblick auf den Kontext ›Ethnizität‹ das Verhältnis von Kategorien, Gruppen8 und Organisationen zu denken ist. Die erste Empfehlung lautet, zwischen Kategorien und 6 Wobei die Beobachtung selbst auch eine soziale Praxis ist, die beobachtet werden kann. 7 ›Entrepreneur‹ bzw. ›Unternehmer_in‹ ist nicht betriebswirtschaftlich zu verstehen, sondern analog zu deutschen ›Moralunternehmer_innen‹ (Akteur_innen, die sich strategisch in bestimmten moralischen Debatten engagieren, z. B. für oder gegen Sterbehilfe). 8 In manchen soziologischen Lehrbüchern findet sich eine noch feinkörnigere Unterscheidung zwischen Kategorien, Sozialkategorien, Quasi-Gruppen und sozialen Gruppen (vgl. Henecka 2009, S. 142–148).

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Gruppen zu unterscheiden (vgl. ebd., S. 23f.). Kategorien sind letztlich Abstraktionen, die Menschen nach gemeinsamen Merkmalen klassifizieren (kollektivwissenschaftlich daher: »Abstraktionskollektive«, Hansen 2009, S. 26f.). Gruppen hingegen kennzeichnet ein Mindestmaß an Interaktion, insbesondere empfinden die Mitglieder eine gewisse Zusammengehörigkeit (vgl. Brubaker 2007, S. 23; kollektivwissenschaftlich daher: »Sozialkollektive«, Hansen 2015, S. 91). Kategorien sind also keine Gruppen, sondern allenfalls die »potentielle Basis« für »groupness« (Brubaker 2007, S. 22f.).9 An das Zusammengehörigkeitsgefühl knüpft die zweite Empfehlung an. Dieses sei nicht einfach vorhanden, sondern müsse als etwas Graduelles und Ereignishaftes gedacht werden (vgl. ebd.). Beim Public-Viewing eines WM-Spiels fühlt sich eine heterogene Menge von Zuschauer_innen auf einmal als Deutsche, Polen, Russen etc. Das Gefühl wächst mit dem Ereignis; danach schwindet es wieder. Das Gleiche gilt für die Reden von ethnopolitischen entrepreneurs. Sie versuchen, die Identifikation mit bestimmten – z. B. ethnischen oder nationalen – Kategorien zu beschwören, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl und damit eine Gruppe zu erzeugen. Weil aber das Zusammengehörigkeitsgefühl etwas Graduelles und Ereignishaftes ist, ist für Brubaker auch die Gruppe graduell und ereignishaft. Um dem Rechnung zu tragen, spricht Brubaker von Graden der Gruppenhaftigkeit (groupness), die den Graden des Zusammengehörigkeitsgefühls entsprechen.10 Brubaker schlägt vor, auf »Gruppe« als »grundlegende analytische Kategorie« zu verzichten und sie durch »groupness«, das variable Zusammengehörigkeitsgefühl, zu ersetzen (ebd., S. 22). Zugleich wird es derart möglich, Gruppenbildung als politisches Projekt zu denken, bei dem es darum geht, »Kategorien in Gruppen zu verwandeln«, indem man »das Niveau des Zusammengehörigkeitsgefühls [hebt]« (ebd., S. 26). Dritte Empfehlung: Wir müssen nicht nur Kategorien von groupness unterscheiden, sondern auch Organisationen: Obwohl die Rhetorik der Beteiligten und die Wirkungskraft des Commonsense ethnische Gruppen als Protagonisten ethnischer Konflikte darstellen, sind in Wirklichkeit die Hauptprotagonisten der meisten ethnischen Konflikte – und umso mehr der ethnischen Gewalt – nicht ethnische Gruppen als solche, sondern verschiedene Organisationen im weitesten Sinne sowie deren bevollmächtigte und autorisierte Amtsinhaber. (Ebd., S. 28)

Ethnische Konflikte betreiben also weniger mobilisierte Menschen als vielmehr Organisationen und deren Leitungen, weil diese handlungsfähig sind: Parteien, 9 In der deutschen Übersetzung heißt es fälschlicherweise, die »Gruppe« sei »nur eine potentielle Basis für Gruppenbildung«, gemeint ist aber »Kategorie«. 10 Meine didaktisierte Herleitung des »groupness«-Konzepts funktioniert nur auf Grundlage der deutschen Übersetzung von »groupness« als Zusammengehörigkeitsgefühl. S. o.

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Zeitungen, Behörden, Armeen, paramilitärische Organisationen (vgl. ebd.). Statt vom ethnischen Konflikt zwischen Kosovo-Albaner_innen und Serb_innen im Kosovo zu sprechen, müsse man sich, so Brubakers Beispiel, z. B. eine Organisation wie die Kosovo-Befreiungsarmee (UÇK) anschauen (vgl. ebd., S. 26f.). Diese habe z. B. gezielt serbische Polizist_innen angegriffen, um Vergeltungsmaßnahmen zu provozieren, unter denen auch die Zivilbevölkerung leiden würde. Das ermöglichte die Entstehung einer Gewaltspirale, die wiederum Zusammengehörigkeitsgefühl und Handlungsbereitschaft der Betroffenen mobilisierte. Infolgedessen fiel es der UÇK deutlich leichter, Kämpfer_innen zu rekrutieren und Gelder einzuwerben. »In diesem Sinne«, schreibt Brubaker, »waren die Kristallisation der Gruppe und die Polarisierung Folge der Gewalt, nicht ihre Ursache.« (ebd., S. 27) Zusammengefasst: »Ethnische« Konflikte entstehen häufig dadurch, dass ethnopolitische Unternehmer_innen (in der Regel Organisationen) aus strategischen Gründen Kategorien einsetzen, um ein gruppenartiges Zusammengehörigkeitsgefühl (groupness) zu schaffen. Für die Wissenschaft folgt daraus: sie soll die gruppistischen Sprech- und Denkweisen der Teilnehmer_innen ernst-, aber nicht übernehmen (vgl. ebd., S. 19–21). Anderenfalls machen die Wissenschaftler_innen die Gruppe zum Ausgangspunkt der Analyse und stellen Forschungsfragen wie: Was will die Gruppe, was fordert, was tut sie? Damit aber wird implizit die Gruppe reifiziert, weil die Frage übergangen wird, ob und in welchem Ausmaß überhaupt ein gruppenartiges Zusammengehörigkeitsgefühl (groupness) im Spiel war. Stattdessen gilt es, bei den Kategorien anzusetzen und zunächst zu fragen: Wer (z. B. Organisationen) macht eigentlich aus welchen Gründen (z. B. Mobilisierung, Legitimierung) was (z. B. artikulieren, propagieren, institutionalisieren) mit welchen Kategorien (z. B. ethnischen, nationalen)?

1.3

Wider die Elite-Fixierung: Die Mikropolitik ethnischer Kategorien

Nun scheint es, als müsse es in der Analyse ethnischer Konflikte eigentlich nur auf das ankommen, was die ethnopolitischen entrepreneurs tun, geht der Impuls zur Bildung ethnischer Zusammengehörigkeitsgefühle doch entscheidend von ihnen aus (vgl. Kapitel 2.1). In dieser Allgemeinheit lässt Brubaker das indes nicht gelten. Er widerspricht solchen Ansätzen der Ethnizitäts- und Nationalismusforschung (z. B. instrumentalistische, vgl. dazu z. B. Jenkins 2008, S. 46–50; Özkırımlı 2017, S. 97, 136f.), die eine allzu ausgeprägte Elite-Fixierung aufweisen. Dieser zufolge reproduziert die große Masse der Menschen letztlich die Art ethnischer oder nationaler Identifikation, die Eliten – die Brubakerschen entrepreneurs – propagieren, um z. B. ihre politischen Interessen (etwa Delegitimation alter oder fremder Herrschaft, Legitimation eigener) durchzusetzen.

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Diese Perspektive ist zwar zweifelsohne von entscheidender Bedeutung, um viele historische nation-building-Prozesse zu verstehen. Doch bedarf es neben der Perspektive ›von oben‹ immer auch einer ›von unten‹ (vgl. Hobsbawm 2005, S. 21f.). Es wäre allzu vereinfachend, davon auszugehen, die Adressat_innen elitärer Mobilisierungs- und (Um-)Erziehungsversuche übernähmen unisono wie Marionetten das, was insinuiert wird. Brubaker plädiert deshalb dafür, die ›Mikropolitik‹ der Kategorien zu berücksichtigen: »die Art und Weise, wie sich die Kategorisierten die Kategorien, die ihnen auferlegt werden, aneignen, sie internalisieren, sie untergraben, umgehen oder umwandeln.« (Brubaker 2007, S. 25) Dazu gehört es auch, der Frage nachzugehen, wozu Menschen diese Kategorien und Stereotype im Alltag überhaupt verwenden. Brubaker nennt Beispiele: »um Probleme und schwierige Situationen zu verstehen, um Affinitäten und Zugehörigkeiten zu artikulieren, um Geschichten, [… Gemeinsamkeiten] und Verbindungen zu erkennen, Geschichten und Selbstverständnisse in einen Deutungsrahmen zu stellen.« (Ebd., S. 41; ausführlicher zu Kategorien vgl. Brubaker et al. 2006) Dementsprechend zeigen Brubaker und seine Kolleg_innen in der Cluj-Studie akribisch zweierlei: Zum einen, wie im alltäglichen Zusammenleben – etwa zwischen Eheleuten, Arbeitskolleg_innen oder in Freundeskreisen – ethnonationale Kategorien gebraucht werden. Zum anderen, dass es eine deutlich erkennbare Varianz gibt, wie stark sich »die Kategorisierten« mobilisieren lassen. Zu den aktivsten entrepreneurs in Cluj gehörte etwa ein populistischer rumänischer Bürgermeister, der sowohl rhetorisch als auch mit anderen Maßnahmen gegen »die Ungarn« agitierte. Rhetorisch, indem er ihnen z. B. Separationsbestrebungen unterstellt, anderweitig, indem er z. B. an das Denkmal für den ungarischen König Matthias Corvinus eine Tafel anbringen ließ, die besagte, dieser sei (zumindest teilweise) rumänischer Herkunft; oder die Absicht äußerte, Feiern zum 150jährigen Jubiläum der ungarischen Märzrevolution von 1848 verbieten zu lassen (vgl. Brubaker 2007, S. 40). Auf der anderen Seite ist es die ungarische Minderheitspartei DAHR, die gegen Maßnahmen wie die obigen z. B. Demonstrationen organisiert, und im Übrigen eine breite politische Agenda zugunsten ihrer Klientel verfolgt, darunter etwa die Einrichtung ›ungarischer‹ Universitäten (vgl. Brubaker et al. 2006, S. 146–151). Bürgermeister und Partei – zwei Beispiele für ethnopolitische entrepreneurs – vermitteln mal explizit, mal implizit, man müsse Cluj als Stadt verstehen, in der Rumän_innen und Ungar_innen einander mal mehr, mal weniger konfrontativ gegenüberstehen. Indes, so die Studie, teilten die meisten Adressat_innen der gruppistischen Maßnahmen weder die anti-ungarischen Ressentiments, die der Bürgermeister artikuliert, noch übernehmen sie unbenommen die insinuierte Weltsicht des ethnischen Konflikts. Vielmehr erkennen sie – ganz im Sinne Brubakers –, dass hier eigeninteressierte politische Akteur_innen »von oben« etwas »anzuzetteln« versuchen (Brubaker

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2007, S. 39). Wählen würden ihn viele dennoch, weil er nämlich den städtischen Haushalt im Griff habe und für gute kommunale Dienstleistungen sorge (vgl. ebd.). Was die Mobilisierung von groupness angeht, demonstriert die Studie, wie unterschiedlich die Reaktionen auf verschiedene Ereignisse (wie z. B. auf die Tafel einerseits, das angekündigte Verbot andererseits) ausfielen und wie sie sich jeweils dynamisch entwickelten (aufwallen, abflauen etc.). Anders ausgedrückt: Verschiedene Ereignisse lösen unterschiedliche und dynamische Aggregatzustände von groupness aus. Bei einem Ereignis reagieren nur wenige und das moderat, bei einem anderen gibt es immerhin Demonstrationen, vielleicht sogar kaputte Autoscheiben. Die ethnische Gruppenhaftigkeit steigt kurz an, mal mehr, mal weniger. Dann flaut sie wieder ab, und andere Kollektivzugehörigkeiten werden wieder wichtiger (vgl. ebd., S. 40f.). Dass im Übrigen Ethnizität eine wichtige Rolle spielt, steht außer Frage: im Alltag z. B. in stereotypen Zuschreibungen oder in der Art und Weise, wie man sich vernetzt, wen man heiratet, für wen man arbeitet. Und die ethnischen Kategorien sind teilweise institutionalisiert, z. B. im Bildungssystem in Form eines ungarischsprachigen Schul- und Studiengangsangebots (vgl. ebd., S. 43f.). Aber erstens, so Brubaker, bestehe eine deutliche »Kluft zwischen nationalistischen Organisationen und den angeblichen Gruppen […], in deren Namen sie zu sprechen behaupten« (ebd., S. 39). Zweitens ist es inadäquat zu sagen, dass in Cluj ein permanenter Konflikt zwischen den Rumän_innen und den Ungar_innen herrscht. Drittens trifft es nicht zu, dass jedes Mal ein Konflikt entsteht, wenn ethnopolitische entrepreneurs ethnische Kategorien ins Spiel bringen. Der Versuch, mithilfe von Kategorien Gruppen zu schaffen, kann auch scheitern (vgl. ebd., S. 27). Nur – dieses Argument hat im Diskurs der Nationalismusforschung z. B. John Breuilly vorgebracht –, interessiert sich die Wissenschaft deutlich weniger für gescheiterte ethnonationale Mobilisierungsversuche, sodass der verzerrte Eindruck entsteht, die meisten seien von Erfolg gekrönt (vgl. Breuilly 2005).

Ethnonationalität jenseits von Inter- und diesseits von Transkulturalität

2

Infragestellung der Gruppismus-Kritik

2.1

Vier Einwände

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Brubakers Kritik ist nicht unwidersprochen geblieben. Vier Einwände11 möchte ich darlegen. Der erste lautet, auch für Wissenschaftler_innen sei es kaum möglich, sich so zu artikulieren, wie das die Gruppismus-Kritik strenggenommen verlangt. Und so überführen Kritiker_innen die Cluj-Studie selbst gruppistischer Sprache, dort sei die Rede von Ungar_innen und Rumän_innen, gar von Gesellschaft und Nation (vgl. Csergo 2006, S. 395; Malesˇevic´ 2006, S. 700). Die zweite Kritik ist eher ein Missverständnis, aber ein wichtiges. Wenn Brubaker sich gegen eine Ontologisierung der Gruppe ausspricht, heißt das umgekehrt, dass er einen sozialontologischen (oder zumindest methodologischen) Individualismus vertritt? Das streitet er in einer Diskussion mit Craig Calhoun ab (vgl. Calhoun 2003a, 2003b; Brubaker 2003, S. 555f.), muss sich aber vorhalten lassen, seine Argumentationsweise begünstige das Missverständnis (vgl. Calhoun 2003b, S. 558f.; ähnlich: Ruane / Todd 2004, S. 214). Wie ist diese Kritik einzuschätzen? Zwar bringt Brubaker in seiner Auseinandersetzung mit Ethnizität einige Argumente des methodologischen Individualisten Max Weber vor (vgl. Weber 2005 [1922], S. 303–316). Aber seine Gruppismus-Kritik ist sozialtheoretisch explizit an Bourdieu ausgerichtet, betont also den relationalen und performativen Charakter des Sozialen im Allgemeinen und von Gruppierungen im Besonderen (vgl. Brubaker 2002, S. 166, 170f.; 2003, S. 553, 555).12 Zum Missverständnis lädt zweierlei ein: zum einen Gestus und Rhetorik. Bisweilen klingt er so, »[as if] communities do not exist when we cannot see their networks, when they are not explicitly appealed to or when no-one speaks about them« (Ruane / Todd 2004, S. 214). Provokant ist zudem, dass er den Verzicht auf etablierte Begrifflichkeiten wie ›Gruppe‹ (oder ›Identität‹13) fordert statt bloß eine differenziertere Verwendungsweise (vgl. Calhoun 2003b, S. 562f.).14 Zum anderen beschäftigt er sich in puncto Ethnizität v. a. mit Kritik, und es entsteht der Eindruck, er unterschätze »the ways in which the general phenomenon of human embeddedness in social relations also necessarily, but unequally, takes the specific form of embeddedness in particular collectivities« (ebd., S. 559). Diese Einschätzung wird man indes abschwächen müssen, bezieht man die drei 11 Nicht näher nachgehen werde ich z. B. Einwänden gegen die kognitivistische Ausrichtung von Brubakers Ansatz (vgl. Hirschauer 2014, S. 188; Malesˇevic´ 2006, S. 700). 12 Brubaker zitiert Webers Einlassungen zu Ethnizität (vgl. Brubaker 2002, S. 169, 186), aber eher diskret, was am divergierenden sozialtheoretischen Fundament liegen könnte. 13 Calhoun bezieht sich auch auf Brubaker / Cooper 2000. 14 Zur Frage, ob die Brubakersche begriffliche Rigorosität für empirische Forschung nicht zu viel vorentscheidet, vgl. Jenkins 2008, S. 25f.

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Jahre nach dieser Kritik erschienene Cluj-Studie mit ein. Dass ethnonationale Gemeinsamkeiten für Menschen z. B. immense praktische Vorteile haben können – das zu übersehen bemängelt Calhoun nämlich gegenüber kritischdekonstruktiven Positionen (inkl. Brubaker) (vgl. Calhoun 2003a, S. 545; 2003b, S. 567) –, wird dort sichtbar gemacht, z. B. wenn es um die Bedeutung von Ethnizität für Institutionalisierung und Netzwerkbildung geht (vgl. Brubaker et al. 2006, Kap. 9). Die dritte Kritik geht von folgender Frage aus: Wenn Brubaker Ethnizität nur als Praxis-Kategorie anerkennt: Wie wird aus einer Kategorie eine Praxis-Kategorie? Das, so Joseph Ruane und Jennifer Todd, setze bereits ein gewisses Maß an kollektivem Verständnis und an wechselseitiger Anerkennung in puncto Verwendung einer Kategorie voraus (vgl. Ruane / Todd 2004, S. 214f.). Kurz: »[C]ommunities and groups are in principle no more conceptually problematic than are such categories« (ebd., S. 215). Insoweit Brubaker darüber schweige, wie es Kategorien in die Praxis schaffen, setze er sich altbekannten Kritiken an instrumentalistischen Auffassungen von Ethnizität aus. So wichtig die Einsicht in die Aktivitäten ethnopolitischer entrepreneurs sei, sie könne weder erklären, warum sich Menschen gerade mithilfe bestimmter Kategorien mobilisieren lassen (und mit anderen nicht), noch hätte sie ein Auge dafür, dass entrepreneurs bisweilen eher auf eine bereits im Schwange befindliche groupness reagierten, anstatt sie erst zu schaffen (vgl. ebd.).15 Die vierte Kritik erinnert an eine zentrale kollektivwissenschaftliche Einsicht, nämlich die Tatsache, dass Menschen einer Vielzahl an Gruppen und Kategorien angehören (Multikollektivität). Cristina Chiva merkt an, in der Cluj-Studie hätte man mehr als nur beiläufig auf die Frage eingehen können, wie Ethnizität mit anderen Kategorien wie Gender oder Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit interagiert (vgl. Chiva 2007, S. 1052).16 Die Erinnerung an die Vielzahl von kollektiven Zugehörigkeiten und die Wechselwirkungen zwischen ihnen ist zudem für Brubakers Gruppismus-Kritik in besonderem Maße relevant. Zwar ist sie vorrangig auf den Ethnizitäts- und Nationalismusdiskurs bezogen, aber doch so allgemein formuliert, dass man sie auf die zahllosen weiteren Humankategorien (wie z. B. Gender) anwenden kann.17

15 Hier kann man freilich die Frage anschließen, wie es wiederum zu dieser groupness kommen konnte. 16 Dass Ethnizität mit anderen Kategorien interagiert, wird in der Cluj-Studie als theoretische Einsicht formuliert (vgl. z. B. Brubaker et al. 2006, S. 237f.). Etwas näher untersucht findet man das Zusammenspiel mit regionalen Kategorien (ebd., S. 231–237). 17 Zur Gefahr, dass Eigenschaften der ethnonationalen Forschungsthematik auf andere Kategorien wie Geschlecht oder Klasse projiziert werden, vgl. Hirschauer 2014, S. 171f., 174.

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2.2

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Die Reichweite der Gruppismus-Kritik: eine kollektivwissenschaftliche Klarstellung

Angesichts der vier Einwände stellt sich die Frage: Welche Kollektivität erlaubt die Gruppismus-Kritik bzw. welche Kollektivität genau meint die GruppismusKritik? Zur Erinnerung: Brubaker spricht zwei Mahnungen aus: Man solle Gruppen (bzw. groupness) einerseits von Kategorien, andererseits von Organisationen unterscheiden (vgl. Kap. 1.2). Diese Differenzierungen sind wichtig und ermöglichen erst eine derart feinkörnige Analyse (Organisationen schaffen Gruppierungen mithilfe von Kategorien), wie Brubaker sie in vielen Fällen ethnischer Konflikte für nötig hält. Über die Unterschiede darf man indes nicht die Zusammenhänge übersehen (vgl. Marschelke 2019, S. 102f.). Die Übergänge zwischen Gruppen und Kategorien sind fließend (vgl. Calhoun 2003a, S. 549; Vandenberghe 2007, S. 300; Hansen 2015, S. 91, 93–96). Zwar sind kategorische Gemeinsamkeiten allein keine hinreichende Bedingung für Gruppenhaftigkeit. Es muss, im weitesten Sinne, Kommunikation dazu kommen. Kategorien sind aber – und das demonstrieren Brubakers Beispiele nicht minder gut wie das Gegenteil – ein geeigneter Nährboden für die Entstehung von Gruppen – und umgekehrt (vgl. Brubaker 2007, S. 44). Auch die Unterscheidung von Gruppen und Organisationen darf nicht überpointiert werden. Zum einen besteht auch hier ein Kontinuitätsverhältnis. Gruppen können zu Organisationen werden, wenn sie ihre Strukturen ( jedenfalls teilweise) institutionalisieren – und umgekehrt. Zum anderen gehört es zu den Lehrbuchweisheiten einer post-Weberschen Organisationsforschung, dass sich in Organisationen stets Gruppen bilden, die den Wirkungsgrad der formellen Strukturen unterlaufen können (vgl. Schimank 2007, S. 233–236). Brubakers Mahnung zur Differenzierung von Kollektivarten ist richtig und wichtig. Wo er darüber hinausgehend den Eindruck erweckt, Kollektivität im Allgemeinen sei das sozialtheoretische Problem, das die Gruppismus-Kritik adressiert, muss man darauf hinweisen, dass seine eigenen Analysen entscheidend von Kollektiven geprägt sind, insbesondere von Organisationen (korporativen Akteuren). Insofern ist die Brubakersche Gruppismus-Kritik beim Wort zu nehmen: Man soll nicht für Gruppen halten, was noch nicht oder nicht mehr gruppenhaftig ist: Kategorien und Organisationen.

3

Ausblick: Literaturdidaktische Verwertbarkeit?

Wo die Rede von Ethnien und Nationen ist, als seien es Gruppen, ist, so Brubaker, Vorsicht angebracht, insbesondere wenn es angeblich um ethnische Konflikte geht. Eine wissenschaftliche Analyse sollte nicht bei ethnischen oder nationalen

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Gruppen und ihren vermeintlichen Interessen und Aktionen ansetzen, sondern bei der Frage, wer wie in welchem Kontext und wozu ethnische oder nationale Kategorien verwendet. Zu achten ist auf »praktische Kategorien, situiertes Handeln, kulturelle Idiome, kognitive Schemata, Commonsense-Wissen, organisatorische Routinen und Ressourcen, diskursive Deutungsmuster, institutionalisierte Formen, politische Projekte, zufällige Ereignisse und ein variables Zusammengehörigkeitsgefühl.« (Brubaker 2007, S. 45) Häufig sind es Organisationen, die mithilfe von ethnonationalen Kategorien Menschen vorübergehend so mobilisieren, dass sie sich als Gruppe fühlen. Brubaker bietet damit eine sozialtheoretische Sicht auf Ethnizität und Nationalität an, die gegen die Kritiken, die an Teilen des interkulturellen Diskurses geübt wurden, immun ist. Hier werden keine Ethnien oder Nationen zu kulturell homogenen Gruppen reifiziert. Zugleich macht er ein konstruktives Angebot, wie man Ethnizität und Nationalität in praxi analysieren kann. Er füllt damit die Lücke, die solche Varianten des Transkulturalitätsansatzes reißen, in welchen die alltäglichen wie institutionalisierten Grenzziehungen, die Menschen vornehmen, nur Gegenstand der Kritik sind, ohne adäquat beschrieben zu werden. Inwiefern könnte Brubakers Ansatz die Literaturdidaktik bereichern? Auf abstrakter Ebene ist die Antwort einfach: Überall dort, wo ein sozialwissenschaftliches Verständnis von der Produktion von Ethnizität und Nationalität von Nutzen ist. Literaturwissenschaftlich wäre hier an die komparatistische Imagologie zu denken (vgl. Dyserinck 2015) – nicht an eine im engeren Sinne literaturwissenschaftliche, sondern eine stärker kulturwissenschaftlich verfahrende. Mit Brubaker könnte man die Frage stellen, wie Texte (im Sinne eines extensiven Literaturbegriffs auch wissenschaftliche oder Schulbücher) mit ethnonationalen Kategorien hantieren und welchen Einfluss sie womöglich auf die Verbreitung von Kollektivvorstellungen haben oder hatten. Für eine literaturdidaktische Anwendung kommen mindestens drei Ansatzpunkte in Betracht. Erstens könnte Brubakers Ansatz als Mittel zu den Zwecken transkultureller Literaturdidaktik dienen, wie man sie etwa in den 30 Thesen von Werner Wintersteiner findet (vgl. 2006, S. 183–188). Hier wird als Ziel »Differenzakzeptanz« ausgegeben (These 1), vermeintlich kulturelle Differenzen sollen auf soziale und politische Faktoren befragt (vgl. These 6) und gesellschaftliche Machtkämpfe sowohl mit Hilfe der Literatur als auch innerhalb des ästhetischliterarischen Diskurses erklärt werden (vgl. These 11). Schließlich soll das ethnizistische Denken überwunden und das national ›Eigene‹ dekonstruiert werden, wobei es literaturdidaktisch u. a. darum gehe, nationale Modelle und Kategorien der Literaturgeschichtsschreibung und literarischer Texte zu hinterfragen (vgl. Thesen 15, 19). In all diesen Fällen aber benötigt transkulturelle Literaturdidaktik nicht nur ein literarisch-ästhetisches, sondern auch ein sozialwissen-

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schaftliches Verständnis davon, wie ethnonational kodierte Differenz (re-)produziert wird. Dekonstruktion benötigt Kenntnis der Konstruktion. Ein zweiter Ansatzpunkt ist die Analyse der didaktischen Vermittlung selbst. Soziologisch lässt sie sich als soziale Praxis verstehen. Im Sinne des obigen Brubaker-Zitates kann man sie daraufhin untersuchen, wie ethnonationale Kategorien hier in situiertes Handeln, diskursive Deutungsmuster, organisationale Routinen, institutionalisierte Formen und letztlich auch politische Projekte eingelassen sind. Zwei Ebenen könnte man unterscheiden: Die eine ist die unmittelbare Unterrichtssituation. Unterrichtsgespräch und von diesem thematisierte Literaturrezeption18 können z. B. ethnographisch auf alltägliche Teilnehmer_innengruppismen untersucht werden: Wie und wozu verwenden Schüler_innen einerseits und die Lehrerschaft andererseits ethnonationale Kategorien (vgl. dazu auch Carl, in diesem Band S. 39f.): als Erklärung von Problemen oder Verhaltensweisen, als Ausdruck von Gemeinsamkeiten, als Deutungsrahmen für Narrative und Identitäten? (vgl. Kap. 1.3 sowie Brubaker 2007, S. 41) Gelegentlich mögen sich dabei Lehrer_innen eines strategischen Gruppismus bedienen und als ethnopolitische entrepreneurs im weitesten Sinne fungieren. Zwingend ist das indes nicht. Vielmehr werden nicht wenige Lehrer_innen vergleichbar unreflektiert und ggfs. ungewollt-unbewusst abwertend mit ethnonationalen Kategorien umgehen. Dasselbe gilt für manche Schüler_innen (vgl. Dirim / Eder / Springsits 2013, S. 134). Strategischer Gruppismus wird sich indes auf einer anderen Ebene feststellen lassen, nämlich der des Bildungssystems und seiner Organisationen. Insbesondere Schulen dienen der Reproduktion des politischen Systems und der Identifikation mit einer vermeintlichen Landeskultur (vgl. Papadimitriou 2014, S. 89). Bildungsziele, Lehrpläne und Literaturkanon werden als Teil politischer Projekte explizit auf diese Zielsetzungen hin ausgestaltet. Die moderne Schule war und ist zentrales Instrument von nation-building-Prozessen (vgl. Hobsbawm 2015, S. 110). Drittens sei daran erinnert, dass Brubakers Gruppismus-Kritik sich an die Wissenschaft richtet, nicht – wie in pädagogischen Diskursen üblich – an die Teilnehmer_innengruppismen. Die einleitend skizzierte Kritik an Teilen des wissenschaftlichen interkulturellen Diskurses und der entsprechenden Literaturdidaktik lässt sich durchaus unter den Brubakerschen Gruppismus-Vorwurf subsumieren. Die wissenschaftliche Thematisierung von Kultur, Ethnizität und Nationalität wäre im Brubakerschen Sinne immer daraufhin zu prüfen, ob sie zum einen selbst (zumindest implizit) gruppistisch verfährt und zum anderen – was anspruchsvoller und spezifisch didaktischer ist – ob sie, selbst wenn sie das nicht tut, zu gruppistischen Weltsichten bei ihrer Zielgruppe beiträgt. 18 Wozu man natürlich im Sinne eines extensiven Literaturbegriffes auch die Schulbücher selbst zählen kann. Zu der Vermittlung von Ethnonationalität und Stereotypen in Schulbüchern so z. B. die Schulbuchstudie von Niehaus et al. (2015).

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Zwei Ergänzungen könnten die vorgeschlagene Kombination von inter- und transkultureller Literaturdidaktik einerseits und Brubakers Ansatz andererseits befruchten: Zum einen die stärker subjektivierungstheoretisch ausgerichteten Perspektiven der noch jungen Migrationspädagogik (vgl. Mecheril et al. 2010; spezifisch literaturdidaktisch Dirim / Eder / Springsits 2013). Denn Brubaker vernachlässigt die Frage, wie Kategorien praktisch und ergo kollektiv werden (vgl. Kap. 2.1). Es fehlen Erklärungsmechanismen, wie sie verinnerlicht und weitergegeben werden. Hier kann eine subjektivierungstheoretische Perspektive weiterhelfen, für die Brubakers Ansatz Anschlussstellen aufweist. Zum anderen wäre die von Brubaker vernachlässigte Multikollektivität der Individuen zu berücksichtigen. Sie ermöglicht sowohl deskriptiv eine adäquate Analyse, wie vielfältig die Positionierungen und Selbstverständnisse von Individuen sind, als auch normativ die Dezentrierung ethnonationaler Selbstverständnisse und das Auffinden von Gemeinsamkeiten (vgl. Wintersteiner 2006, S. 187, These 26). Was dabei herauskommt, ist indes nicht das mündige Individuum der klassischen humanistischen Bildung. Wer ethnonationale Gruppismen analysiert, um sie normativ zu bekämpfen, wird Menschen nicht aus allen Fesseln befreien, sondern sie nur anders – aber vielleicht etwas relativer und relationaler – subjektivieren und kollektivieren.

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Narrative Konstruktionen des Raumes ›östliches Mitteleuropa‹ als Herausforderung der interkulturellen Literaturdidaktik: theoretische und praktische Zugänge

In meinem Beitrag zum ›östlichen Mitteleuropa‹ als Ort und Gegenstand interkultureller literarischer Lernprozesse behandle ich zwei zentrale, problemorientierte Fragestellungen aus der Perspektive der Erzählraumanalyse. Die erste Frage ist literaturwissenschaftlich orientiert und lautet: Wie bringen literarische Medien über ihre Darstellungs- und Kommunikationsfunktionen soziale Räume wie das ›östliche Mitteleuropa‹ hervor? Die zweite Frage ist literaturdidaktischer Natur: Wie lässt sich die mediale Konstruktion eines Kulturraums ›östliches Mitteleuropa‹ im Rahmen interkultureller Lernprozesse didaktisch modellieren und welche Zielsetzungen für literarisches Lernen und literarische Bildung können mit einem solchen Vorgehen erreicht werden? Um Antworten auf diese beiden Fragekomplexe zu finden, gehe ich folgendermaßen vor: Zunächst werden raumtheoretische Zugänge zum kulturellen Konstrukt ›östliches Mitteleuropa‹ aufgerufen und vor dem Hintergrund der genannten Forschungsfragen erläutert. Die herangezogenen raumtheoretischen Paradigmen stehen im Kontext des so genannten Spatial und Topographical Turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften und sind in den letzten zwanzig Jahren vielfach mit Erfolg in der Literaturwissenschaft zur Anwendung gekommen (vgl. Hallet / Neumann 2009, S. 11–13; vgl. Dennerlein 2011, S. 158–165; vgl. Dünne / Mahler 2017). Sodann stelle ich eine Verbindung mit dem Phänomen des Eastern Turn her, welcher von der Literaturkritik für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur in Anschlag gebracht wurde (vgl. Haines 2008, S. 135–149). Anschließend frage ich, woran es liegt, dass die umfangreiche philologische Forschung zu literarischen Topographien bislang in der Literaturdidaktik ein vergleichsweise geringes Echo gefunden hat und wie und mit welcher Legitimation man diesem Umstand begegnen könnte. Darauffolgend zeige ich mögliche didaktische Verbindungen von interkulturellem Lernen und Erzählraumanalyse auf. Dafür stelle ich sechs einflussreiche Raumtheoreme des 20. Jahrhunderts in ihren Grundzügen vor und nutze diese für einen alternativen Zugang zu jüngerer Erzählprosa zum Thema ›östliches Mitteleuropa‹. Das Ziel ist es, ein Panorama literaturdidaktischer Möglichkeiten der Erzählraumanalyse anzubieten, welches den inhaltlichen

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Nathalie Kónya-Jobs

Fokus auf interkulturelle Fragen dieser europäischen Region legt. Ich schließe jeden Abschnitt mit exemplarischen Arbeitsimpulsen zu einer unterrichtlichen Erzählraumanalyse des jeweiligen Primärtextes. Angestrebt wird keine erschöpfende Darstellung einschlägiger themenorientierter Lehr-Lern-Arrangements. Es sollen lediglich Anstöße für eigene literaturdidaktische Konzeptionen Unterrichtender in diesem Feld gegeben werden. Allen Überlegungen liegt die Einsicht zugrunde, »dass sich Literatur nie vollständig einem gegebenen materiellen, durch die Medialität bestimmten, oder aber einem rein symbolischen Raum zuschlagen lässt, sondern dass beide erst in ihrer Verknüpfung miteinander im literarischen Text Gestalt annehmen« (Dünne / Mahler 2015, S. 3).

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Raumtheoretische Zugänge zum kulturellen Konstrukt ›östliches Mitteleuropa‹

Die Kategorien Raum und Räumlichkeit wurden im Gefolge der Aufklärung und des Historismus zu Gunsten der Zeitlichkeit menschlicher Sinnbildungsprozesse für lange Zeit in den Hintergrund gedrängt. So stellt Karl Schlögel fest, dass »der unaufhaltsame Aufstieg des Historismus, […] zugleich die Verdrängungs- und Marginalisierungsgeschichte des Räumlichen ist« (Schlögel 2007, S. 40). Es folgten das aggressive Territorialbewusstsein des Imperialismus, revisionistische Bestrebungen der unterlegenen Mittelmächte gegen die Pariser Vorortverträge von 1919 und 1920 und schließlich der nationalsozialistische Missbrauch des Ausdrucks ›Raum‹. All dies führte nach 1945 dazu, dass die Kategorie der Räumlichkeit in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften politisch und gleichzeitig auch wissenschaftstheoretisch diskreditiert war und deswegen kaum beforscht werden konnte (vgl. Kónya-Jobs 2016, S. 26f.). Übereinstimmend resümiert Doris Bachmann-Medick zu der fast vollständigen Streichung von Konzepten der Räumlichkeit aus dem sozialwissenschaftlichen Diskurs: Die Sozialwissenschaften in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg haben […] die Raumkategorie zugunsten der Zeitkategorie vernachlässigt, obwohl sie auf wichtige soziologische ›Raumdenker‹ wie Georg Simmel und Walter Benjamin zurückgreifen können. Der Nationalsozialismus hat auf längere Zeit das Raumdenken und die Verknüpfung von Geschichte mit Geographie einschneidend unterbrochen. (BachmannMedick 2006, S. 286)

Erst der Postkolonialismus, die Erfahrung der Globalisierung und nicht zuletzt die politische Wende in Mittel- und Osteuropa brachten Ende der 1980er Jahre den Perspektivenwechsel des Spatial Turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften hervor. Fragen der Räumlichkeit wurden theoretisch und forschungspraktisch wiederentdeckt und ›Raum‹ von einem rein beschreibenden Begriff zu

Narrative Konstruktionen des Raumes ›östliches Mitteleuropa‹

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einer heuristisch-funktionalen Analysekategorie transponiert. Die Humangeographie übernimmt seit den 1990er Jahren hierfür die Funktion einer Leitwissenschaft. Humangeographen beschäftigen sich mit imaginierten Geographien, die zu Instrumenten der Herrschaftsausübung und Umgestaltung des politischen und physisch-materiellen Raumes werden und so Räume produzieren. Julia Lossau beschreibt den Umgang kulturtheoretisch interessierter Geographen mit dem Raumbegriff wie folgt: [Die] räumliche Wende kann als Ausdruck des Bemühens verstanden werden, die Deutungsschemata und Wissensordnungen in den Blick zu nehmen, auf Grundlage derer die gesellschaftliche Wirklichkeit produziert und reproduziert wird. Die vermeintlich natürliche geographische Wirklichkeit wird damit nicht länger als vorgängig und voraussetzungslos, sondern im Gegenteil als gesellschaftlich produziert und hoch voraussetzungsvoll begriffen. (Lossau 2007, S. 66)

Doch können Räume überhaupt kulturell ›produziert‹ werden? Reagieren Menschen nicht vielmehr auf die Vorrangigkeit des Raumes, der immer schon gewiss ist und auf den man sich verbindlich beziehen kann? Die Antwort auf diese Fragen ist von dem jeweils postulierten Raumkonzept abhängig. Die absolutistische Raumdefinition (so bei Platon, Euklid, Newton und Kant) geht von einem Dualismus zwischen dem Raum auf der einen und Körpern und Handeln auf der anderen Seite aus. ›Raum‹ ist hier ein passiver und homogener Behälter, der Gegenstände in sich aufnimmt, selbst jedoch unbeweglich ist (vgl. dazu KónyaJobs 2016, S. 19). Relativistische Raumtheorien (wie von Leibniz, Einstein, Lewin, Cassirer und Foucault) nehmen hingegen keine Trennung zwischen Raum und Materie vor, sondern betrachten den Raum als etwas, das sich aus der (An-) Ordnung von Körpern ergibt, die kontinuierlich in Bewegung sind, sodass Handeln stets mit der Produktion von Wege-, Bewegungs-, und Lagerungsräumen einhergeht (vgl. ebd.). Insgesamt lassen sich also zwei Raumkehren unterscheiden: 1) Der Spatial Turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften und der Geschichtswissenschaft, der als Paradigma dazu geführt hat, dass Räumlichkeit theoretisch und forschungspraktisch als Kategorie wiederentdeckt wurde. Diese Richtung beschäftigt sich vornehmlich mit Fragen nach der Erschließung und Beherrschung von Räumen. Daneben ist 2) die Subströmung des Topographical Turn in den Literatur- und Medienwissenschaften zu nennen. Mittels dieser Perspektive fokussieren sich Forschende auf Fragen nach der Konstruktion und Repräsentation von Räumen mit Texten, Filmen, Karten, Objekten der Bildenden Kunst und anderen Artefakten. In beiden Raumkehren wird gleichermaßen das dynamisch-relationale Raumkonzept vertreten und essentialistische Vorstellungen eines absoluten Behälterraums als unbrauchbar abgelehnt (vgl. KónyaJobs, S. 27–33).

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Die von mir intendierte Verbindung von literarischer Topographie und dem »Eastern Turn in Contemporary German, Swiss and Austrian Literature« (Haines 2008, S. 135) erschöpft sich nicht im beliebigen Herausgreifen eines Kulturraumes unter vielen und dessen Betrachtung anhand bestimmter kulturwissenschaftlicher Theorien; vielmehr geht sie auf gegenstandsorientierte Beobachtungen zurück. Denn das Bedürfnis einer großen Zahl von Autor_innen, das ›östliche Mitteleuropa‹ literarisch zu inszenieren, scheint eine Reaktion auf die schillernden geopolitischen Entwürfe für diese Region zu sein. Der Kulturhistoriker Jacques Le Rider fasst in seinem Mitteleuropa-Essay die verschiedenen Sichtweisen zusammen: Eines der heikelsten Probleme des Nachdenkens über Mitteleuropa geht aus dem Umstand hervor, daß nahezu jedes Volk dieses Raumes diesen Begriff geographisch und historisch anders definiert. Die Ungarn und die Tschechen neigen dazu, das Gebiet des ehemaligen Österreich-Ungarn[s] als das historische Zentrum Mitteleuropas anzusehen, für das sie die Bezeichnung ›Donauraum‹ bevorzugen. Für die Polen umfaßt dieses ›andere Europa‹ den gesamten Bereich zwischen Deutschland und Rußland […]. Doch damit ist die Auflistung der verschiedenen Vorstellungswelten von Mitteleuropa bei weitem noch nicht beendet. So gibt es auch die ukrainische Version von Mitteleuropa, die mit dem Umstand zu tun hat, daß sich im westlichen Teil der heutigen ukrainischen Republik neben der ruthenischen Bevölkerung auch zwei alte Universitätsstädte der Habsburgermonarchie, Lemberg im vormaligen Galizien und Czernowitz in der alten Bukowina, befinden. (Le Rider 1994, S. 138–140)

Es verwundert dementsprechend nicht, dass sich vor dem Hintergrund dieser höchst divergierenden Vorstellungen auf der faktologischen Ebene Schriftsteller_innen dazu herausgefordert fühlen, gängige Vorstellungen von Grenzen und Räumen mittels alternativer Formen literarischer Kartographie-Versionen erzählerisch zu arrangieren. Nach der Auflösung der politisch-geographischen Blöcke ›Ost‹ und ›West‹ hat die Literatur dementsprechend die Aufgabe angenommen, neue Landschaften zu kreieren oder identitätsrelevante Erinnerungsorte und damit verbundene Ortsloyalitäten konfrontativ darzustellen. Ein gutes Beispiel dafür ist Christian Krachts 2008 erschienener kontrafaktischer1 Geschichtsroman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Krachts Buch ist ein fiktionales Gegen-Narrativ der tatsächlichen historischen Ereignisse, in dem der Erzähler eine Schweizer Sowjetrepublik entwirft, die mit einem imaginären Ostafrika verbündet ist. Krachts Einfall, dass Lenin in Zürich nicht das plombierte Zugabteil Richtung St. Petersburg besteigt, führt zur literarischen

1 Als kontrafaktisch werden »Erzähltexte [bezeichnet], in denen Geschichte in einer signifikant von den historischen Daten und Fakten abweichenden Weise dargestellt wird […]. Das fiktional entworfene Geschichtsbild weicht stark von dem ab, welches explizit oder implizit beim Rezipienten vorausgesetzt wird.« (Widmann 2009, S. 13; 17f.)

Narrative Konstruktionen des Raumes ›östliches Mitteleuropa‹

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Erfindung eines alternativen Verlaufs der Weltgeschichte seit dem Ersten Weltkrieg.2 Die kulturelle Herkunft des Konzepts ›Geopoetik‹ legitimiert meinen Ansatz der literarischen Erzählraumanalyse am Beispiel des erzählten Raumes ›östliches Mitteleuropa‹ ebenfalls. Wie Magdalena Marszałek und Sylvia Sasse (vgl. 2010, S. 7–9) feststellen, erlebt die Geopoetik in den letzten Jahren eine Konjunktur im Bereich der mittel- und osteuropäischen Literaturen. Das Ziel sei es, eine literarische Relektüre von Territorien zur Erschließung der Heterogenität Ostmitteleuropas zu leisten. Den Anfang der Geopoetik bildete der 1996 in Moskau gegründete ›Geopoetische Klub der Krim‹. Der Krim-Klub (Igor Sidorenko ›Sid‹, Lev Rubinsˇtejn, Dmitrij Prigov, Andrej Bitov und Jurij Andruchovycˇ) diskutiert die ›Gemachtheit‹ topographischer Ordnungen und Semantiken und fordert in seinem Manifest das Recht auf ästhetische Selbstbestimmung von Territorien, auch gegen ethnisch-nationale und staatspolitische Interessen. Die für Zentraleuropa typischen wiederholten Grenzverschiebungen sind Anlass, um nach der territorialen Auslagerung einer Landschaft in die Literatur und die Mythologie zu suchen. Den Ansatz beschreibt Susi K. Frank wie folgt: Geopoetik wird aktiv als künstlerische Alternative zur Geopolitik,3 ist performativ, schafft Fakten […], aber auf einer anderen Ebene, auf der Ebene der Topographie der Kunst, und greift dadurch ein in die Vorstellung einer homogenen, von politischen Einteilungen (Staatsgrenzen, Hauptstädten usw.) geprägten Kartographie. (Frank 2010, S. 22)

Der Krim-Klub untersucht die sprachliche Mehrfachexistenz von Orten wie Lemberg, Lwów, L’viv oder Stanislau, Stanislaw, Sztanyiszló, Ivano-Frankows bzw. Ivano-Frakivsk und betrachtet damit Territorien, deren literarische Existenz eine größere Kontinuität aufweist als die politisch-geographische; so z. B. durch die Existenz von Galizientexten, Bosnientexten, Bukowinatexten, Sarmatien2 Bekanntermaßen reiste Lenin mit Hilfe der deutschen Regierung während des Ersten Weltkriegs im April 1917 zusammen mit weiteren Emigranten von seinem Schweizer Exil aus durch das Deutsche Reich über Skandinavien nach Sankt Petersburg. Auf dem deutschen Streckenabschnitt wurde ein plombierter Wagen genutzt. Das Deutsche Reich hoffte das Zarenreich mit der Rückkehr Lenins ins Chaos zu stürzen und den Krieg so zu beenden. In der Folge kam es zur Oktoberrevolution und der Gründung der Sowjetunion. Dieses epochale weltgeschichtliche Ereignis wurde jüngst erneut und mit der Verwendung weiterer Quellen aufgearbeitet, vgl. Merridale 2017. 3 Zum Begriff der Geopolitik vgl. folgende Erläuterungen von Werber 2015, S. 127: »Geopolitiker sprechen […] über Staaten […] wie Biologen über konkurrierende Tierpopulationen in einem Biotop. Die entsprechende Metaphorik und Handlungsstrukturierung ist [auch, Anm. d. Verf.’in] in literarischen Texten leicht nachzuweisen […]. Staaten, die unter unterschiedlichen Umweltbedingungen ›leben‹, bilden nach Auffassung des (geo-)politischen Zoologen ganz unterschiedliche Bevölkerungen, Kulturen, Techniken und Raumauffassungen aus. Wie die Umwelt beschaffen ist, hängt wiederum von der ›Lage‹ ab.«

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texten, Ruthenien- oder Podolientexten usw. Das imaginative Fortdauern dieser und ähnlicher Räume in der Literatur lässt ihnen einen schwebenden Status zwischen Empirie und Fiktion zukommen. So stellen Marszałek und Sasse in der Einleitung zu ihrem Sammelband Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen fest: »Eine Beobachtung für den ostmitteleuropäischen Raum [ist]: Je prekärer sich die historisch-politische Existenz von Räumen darstellt, umso intensiver existieren diese Räume als literarischer Text.« (Marszałek / Sasse 2010, S. 13) Die Forschung konzentriert sich bislang vorwiegend auf Texte slawischer Sprachen. Der Anteil deutschsprachiger Literaturen des östlichen Mitteleuropas am Diskurs der Geopoetik ist demgegenüber bisher kaum in den literaturwissenschaftlichen Fokus geraten. Hier bietet sich eine Konzentration auf ein prominentes Genre der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur an. Dies umfasst autoethnographische Texte von Autorinnen, die ihre Familiengeschichten zwischen Ost und West poetisch aufarbeiten. Zu diesen Texten gehören Adriana Alteras’ Titos Brille (2011), Katja Petrowskajas Vielleicht Esther (2014) oder Natascha Wodins Sie kam aus Mariupol (2017), um nur einige jüngere Werke dieses Aufsehen erregenden, neuen literarischen Formates zu nennen. Die Literaturdidaktik ist hier als Vermittlungswissenschaft aufgerufen, um kritische Lektüremodi für die mit diesem Raum verbundenen Semantiken und Ideologeme bereitzustellen. Somit lässt sich die Verbindung von literarischer Topographie und Eastern Turn erstens durch die Beobachtung legitimieren, dass fiktionale Erzählliteratur seit der Auflösung der politisch-geographischen Blöcke ›Ost‹ und ›West‹ neue, imaginäre Landschaften im östlichen Mitteleuropa kreiert hat. Das zweite Argument, das meinen Standpunkt stützt, ist die Herkunft des Konzepts ›Geopoetik‹ aus dem östlichen Mitteleuropa, die unter anderem an der künstlerisch-engagierten Programmatik des Krim-Clubs von Igor Sidorenko abzulesen ist.

2

Literaturdidaktische Desiderate der Verbindung von interkulturellem Lernen und Erzählraumanalyse

Interkulturelles Schreiben ist seit jeher in signifikanter Weise von Bezügen zu Räumen, Landschaften und Orten gekennzeichnet. Dies gilt in hohem Maße für die Thematisierung von erzählten Räumen, die sich – wie in Mitteleuropa der Fall – unter dem Einfluss wechselnder Ethnien, Kulturen und Nationalstaaten entwickelten und heute noch entwickeln. Die Zahl der Arbeiten zur interkulturellen Erzählraumforschung ist durch die oben beschriebenen Raumkehren in die Höhe geschnellt. Verbindungen raumsensibler und interkultureller Ansätze haben jedoch nicht nur in der Fachwissenschaft ihren Platz. Sie lassen sich auch

Narrative Konstruktionen des Raumes ›östliches Mitteleuropa‹

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in der Literaturdidaktik begründen und zwar dadurch, dass literarische Topographien unweigerlich Fragen nach Grenzziehungen, kulturellen Identitäten, Erinnerungspolitik sowie Selbst- und Fremdbildern aufwerfen. Damit eröffnen sich für die literaturdidaktische Theoriebildung Möglichkeiten, raumsensible Literatur- und Filmbildung mit interkulturellem, identitäts- und genderorientiertem sowie wertreflexivem literarischen Lernen zu verknüpfen. Zentrale Theoreme der kulturwissenschaftlichen Raumtheorie wurden in den letzten Jahren einer kritischen Revision unterzogen, um sie für die Literaturwissenschaft heuristisch fruchtbar zu machen. Ein Forschungsdesiderat ergibt sich jedoch daraus, dass eine planmäßige literaturdidaktische Auseinandersetzung mit den Arbeiten zu Literatur und Raum noch aussteht, obgleich die Wechselbeziehung von Jugendkultur und raumorientierten Ästhetiken augenfällig ist und täglich beobachtet werden kann. So sind die Alltagswelten von Jugendlichen geprägt von raumbezogener Streetart, der Trendsportart Le Parkour4 und anderen urbanen Diskursen der Popkultur. Die Jugendliteratur thematisiert mit Vorliebe typische Räume der Adoleszenz. Gleichzeitig ist die Rolle raumorientierter Praktiken für ontogenetische Entwicklungsphasen durch Arnold van Genneps Studien zu Übergangsriten (2005 [1909]) und Victor Witter Turners Konzept der Liminalität (2005 [1969]) seit langem bekannt. Erwähnt werden muss, dass die Literaturdidaktik für das Fach Deutsch in den letzten Jahren Vorstöße unternommen hat, um sich dem Thema Raum anzunähern. Diese sind jedoch singulär geblieben. Zu nennen sind die Hefte Raum und Räume von Praxis Deutsch (2007) und Stadt, Land, Fluss. Orte in der Literatur (2006) in Deutschunterricht, in denen die Herausgeber Harro Müller-Michaels, Kaspar H. Spinner und Hartmut Feilke die Anregung durch Hartmut Böhmes DFG-Kolloquium Topographien der Literatur von 2005 für den Deutschunterricht aufgenommen haben. Anzuführen ist des Weiteren der Ansatz der ›Outdoordidaktik‹ im Deutschunterricht, um den sich Jutta Wermke (2004) und Gerhard Rupp (2011) verdient gemacht haben. Hier geht es um literarisches Lernen im Freien. Im Mittelpunkt stehen Rezeptions- und Verstehensprozesse von literarischen Texten anhand ›realräumlicher‹ Bezüge sowie Impulse für literarische Produktionen der Schüler_innen durch besuchte Stadt- und Landschaftsräume. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch die ›Kulturökolo4 Le Parkour ist eine ursprünglich aus Frankreich stammende Trendsportart, deren Ziel es ist, nur mit den Fähigkeiten des eigenen Körpers möglichst effizient durch den urbanen Raum oder natürlichen Raum zu gelangen, allerdings auf eine andere Weise als von Architektur und Kultur vorgegeben. Es wird versucht, sich in den Weg stellende Hindernisse durch Kombination verschiedener Bewegungen so artistisch wie möglich zu überwinden und dabei den Raum neu zu erfinden. Vgl. zu Parkour aus Sicht der Urbanismus-Forschung: Lauschke 2010. Vgl. zu Parkour als Phänomen in den Sozialen Medien diesen und ähnliche Videoclips auf YouTube: https://youtu.be/2vfoyY9lshI [03. 12. 2020].

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gische Literaturdidaktik‹ (vgl. Grimm / Wanning 2015), die die literarische Kulturgeschichte der Umwelt und avancierte Theorien der Naturästhetik für das literarische Lernen fruchtbar macht. Beide literaturdidaktischen Richtungen eint das Primat des physischen Raumes, der den ästhetischen determiniert, wohingegen textimmanente Raumkonstruktionen in den Hintergrund treten. Outdoordidaktik und kulturökologischer Literaturunterricht können eine raumorientierte Literaturdidaktik – wie ich sie vorschlage – zwar ergänzen, aber nicht komplett ersetzen. Aspekte der literaturwissenschaftlichen Raumforschung müssten künftig vielmehr so für die Schule zusammengestellt und modelliert werden, dass ein für den Deutschunterricht handhabbares Konzept des literarischen Raumes entsteht.

3

Ausgewählte Raum-Theoreme und ihre literaturdidaktischen Potenziale dargestellt an literarischen Beispielen

Ich möchte im Folgenden ausgewählte Raum-Theoreme in knapper Form skizzieren und jeweils erste Überlegungen zu ihren literaturdidaktischen Potenzialen anstellen. Dazu ziehe ich ein übergreifendes Mehr-Dimensionen-Modell der Räumlichkeit von Erzähltexten heran (vgl. Abb. 1). Es empfiehlt sich, für analytische und auch unterrichtsplanende Zwecke drei Dimensionen zu unterscheiden: zunächst ›Erzählte Räume‹ als Bestandteile der erzählten Welt (histoire). Sodann ›Räume des Erzählens‹ auf der Ebene der Darstellung (discours) als Räume, in denen der Erzählakt situiert ist und in denen Interdependenzen zwischen Erzählweise und Raumdarstellung sowie zwischen Raum- und Zeitkonstruktionen der Erzählerfiguren deutlich werden. Der Blick auf Erzählräume kann zeigen, dass der Raum vor allem für homodiegetische Erzählerfiguren und sehr häufig im Erinnerungserzählen als Erzählauslöser, unerlässliches Handlungsmovens und Strukturierungsmittel fungiert. Als Letztes ist die Raummetaphorik zu nennen, die raumsemantische Aspekte der Sprache sowie metaphorisch-räumliche und metonymisch-räumliche Strukturen der fiktionalen Rede umfasst. In dieser Dimension treten konzeptuelle kognitive Raummetaphern (vgl. Lakoff / Johnson 2011) in literarischen Texten in den Fokus. Sie stellen auch dort räumliche Strukturen dar, wo nicht im eigentlichen Sinne thematisch ›Räumliches‹ erzählt wird. Hier bewegt man sich also auf der Ebene der räumlichen Mikrostruktur des Textes.

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Narrative Konstruktionen des Raumes ›östliches Mitteleuropa‹ Drei Dimensionen der Räumlichkeit des Erzähltextes

ORTE

RÄUME

RÄUME DES

RAUMMETAPHORIK

ERZÄHLTE RÄUME

ERZÄHLENS Raumsemantiken

intradiegetisch reale Räume

konkrete und erwähnte Räume

intradiegetisch virtuelle Räume

virtuelle Räume hodologische und topologische Räume

metaphorischräumliche Strukturen

Ort des Schreibens/ Erzählens metonymischräumliche Strukturen Kartographien des Erzählens

Interdependenzen zwischen Erzählweise und Raum

Interdependenzen zwischen Raum und Zeit

Abbildung 1: Erzählte Räume, Räume des Erzählens, Raummetaphorik. Kónya-Jobs 2016, S. 52

3.1

Jurij M. Lotmans Raumsemiotik und Martin Kordics Wie ich mir das Glück vorstelle im Literaturunterricht

Ich beginne meinen Überblick zu einflussreichen Raumtheoremen mit dem Ansatz des Begründers der Tartu-Schule für Semiotik, Jurij M. Lotman. Für LehrLern-Kontexte erscheint das mit einer klaren Systematik versehene und für die Analyse, Interpretation und Bewertung von Texten gut handhabbare strukturalistische Modell seiner Raumsemiotik auch für jüngere Schüler_innen anschlussfähig, die mit der Aneignung komplexerer und mehr voraussetzungsreicher Raumtheorien überfordert sein könnten. In Lotmans topologischem Ansatz ist der literarische Text von der Pflicht befreit, auf einen lebensweltlichen Realraum referieren zu müssen. Stattdessen konzentriert sich der Autor auf textimmanente Strukturen, mit denen die Literatur eine Welt als »sekundäres modellbildendes System« (Lotman 1993 [1972], S. 22) aufbaut. Sekundär ist das

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semiotische System der Literatur, weil es sich der Sprache als primärem modellbildendem System bedienen muss. Dies geschieht aufgrund der anthropologischen Konstante des Vorrangs der visuellen Wahrnehmung (vgl. ebd., S. 312) immer im Rahmen topologischer Relationen: »Infolgedessen wird die Struktur eines Textes zum Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt, und die interne Syntagmatik der Elemente innerhalb des Textes – [!] zur Sprache der räumlichen Modellierung.« (Ebd.) Lotman nimmt an, dass räumliche Kategorien immer auch im übertragenen Sinn für nicht-räumliche Sachverhalte stehen und dass deshalb räumliche Strukturen in literarischen Texten als »Material zum Aufbau von Kulturmodellen mit keineswegs räumlichem Inhalt« (ebd., S. 313) dienen. Räumliche Ordnungen werden also zusätzlich mit nicht-räumlichen Eigenschaften semantisiert, also mit Bedeutungen und Werten belegt. Zumeist binären Begriffspaaren im Text wie ›hoch – niedrig‹, ›nah – fern‹ seien demnach Bedeutungen eingeschrieben, die sich laut Lotman mit Begriffspaaren wie ›wertvoll – wertlos‹, ›eigen – fremd‹ in Verbindung bringen lassen. Er unterscheidet dabei die topologische Relation (hoch vs. niedrig), die semantische Relation (wertvoll vs. wertlos) sowie die topographische Relation (Himmel vs. Erde). Im Falle semantisierter Räume tritt zur räumlichen Ordnung (topographisch: Stadt vs. Land) eine nicht-räumliche (semantisch: lasterhaft vs. tugendhaft) hinzu: Bereits auf der Ebene der supratextuellen, rein ideologischen Modellbildung erweist sich die Sprache räumlicher Relationen als eines der grundlegendsten Mittel zur Deutung der Wirklichkeit. Die Begriffe ›hoch – niedrig‹, ›rechts – links‹, ›nah – fern‹ […] erhalten die Bedeutung ›wertvoll – wertlos‹, ›gut – schlecht‹, ›eigen – fremd‹ […]. Die allgemeinsten sozialen, religiösen, politischen, ethischen Modelle der Welt […] sind stets mit räumlichen Charakteristiken ausgestattet, sei es in Form der Gegenüberstellung ›Himmel – Erde‹ […], sei es in Form einer sozial-politischen Hierarchie mit der zentralen Opposition der ›Oberen – Niederen‹, sei es in Form einer ethischen Merkmalhaltigkeit in der Opposition ›rechts – links‹ […]; die Identifikation des Nahen mit dem Verständlichen, Eigenen, Vertrauten, und des Fernen mit dem Unverständlichen, Fremden – all das fügt sich zusammen zu Weltmodellen, die deutlich mit räumlichen Merkmalen ausgestattet sind. Historische und national-sprachliche Raummodelle werden zum Organisationsprinzip für den Aufbau eines ›Weltbildes‹ – eines ganzheitlichen ideologischen Modells, das dem jeweiligen Kulturtyp eigentümlich ist. Vor dem Hintergrund solcher Strukturen gewinnen dann auch die speziellen von diesem oder jenem Text oder einer Gruppe von Texten geschaffenen räumlichen Modelle ihre Bedeutsamkeit. (Lotman 1993, S. 313)

Die Gesamtheit der Textelemente wie z. B. Objekte, Figuren, topographische Räume bildet für Lotman einen semantischen Raum. Lotmans Hauptinteresse ist zu zeigen, wie Texte mittels räumlicher Konzepte nicht-räumliche semantische Strukturen darstellen. Dabei betrachtet er die räumliche Struktur eines Textes

Narrative Konstruktionen des Raumes ›östliches Mitteleuropa‹

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nicht nur als Variante eines allgemeinen Systems, sondern interessiert sich auch gerade für die Fälle, in denen ein Text sich in einen Konflikt mit diesem System begibt. Als wichtigstes topologisches Merkmal eines Textes betrachtet Lotman die Grenze und deren Überwindbarkeit oder Unüberwindbarkeit sowie die Strukturverschiedenheit der Teile, die sie voneinander trennt (vgl. ebd., S. 327). In literarischen Texten erscheint häufig eine klassifikatorische, topologisch, semantisch und topographisch bestimmte Grenze, die prinzipiell als undurchlässig markiert ist, wobei sich der Held / die Heldin an eben dieser Grenzüberschreitung versucht. Dies gilt gleichermaßen für ein Zaubermärchen wie Dornröschen, in dem der Held die Prinzessin aus dem von einer unüberwindlichen Dornenhecke geschützten Schloss retten kann, oder auch für die zahlreichen Hadesfahrten Lebender in der Weltliteratur (z. B. Metamorphosen, Göttliche Komödie, Orpheus in der Unterwelt usw.) oder die Überwindung der semantischen Teilräume ›arm‹ und ›reich‹ im Schelmenroman (z. B. Moll Flanders) oder die des sozialen Status vom ›tumben Tor‹ zum ›Ritter‹ (z. B. Parzival). Texte ohne Grenzüberschreitung nennt Lotman »sujetlos« (ebd., S. 336), solche mit Grenzüberschreitung »sujethaft« (ebd.). In einem revolutionären Text gelingt die Grenzüberschreitung. Scheitert diese oder wird sie im Laufe der Narration zurückgenommen, qualifiziert Lotman die Texte als nicht-sujethaft. Nach der Terminologie von Matías Martínez und Michael Scheffel liegt in diesem Fall ein »restitutiver Text« vor (Martínez / Scheffel 2000, S. 142). Wie ein ›physikalischer Erdausschnitt‹ als Projektionsfläche für die konfligierenden Vorstellungen, Werte und Normen ethnischer Gruppen dienen kann, lässt sich mit Schüler_innen anhand der Lektüre von Martin Kordic´s Roman Wie ich mir das Glück vorstelle erarbeiten. Viktor, der jugendliche und körperlich sowie geistig deviante Erzähler, der von seiner Familie in den Wirren des jugoslawischen Bürgerkrieges getrennt wird, inventarisiert in seiner Erzählung das Raum-Wissen über die ›Stadt der Brücken‹, seine zunehmend vom Bürgerkrieg erschütterte Heimatstadt Mostar. Er verwendet dafür zahlreiche Tabellen, Listen und Skizzen, die im Sinne der Raumsemantik Lotmans gedeutet werden können. Dabei ist es von großer Bedeutung, welche divergierenden Grenzmarkierungen für muslimische und christliche Kinder nach und nach gezogen werden, wobei die Brücke und der Fluss bei weitem nicht die einzigen Schwellen zwischen den topologischen, semantischen und topographischen Teilräumen sind. Viktor, ein moderner Schelm, ist die Figur, die die Teilräume zwar äußerst fein registriert und im Tagebuch beschreibt, der jedoch als einziger ungestraft alle Grenzen der Teilräume zu überschreiten vermag. Schüler_innen können die Anregung erfahren, Lotmans Definition des semantischen Raumes (vgl. Lotmann, S. 311f.; 327) als Maßstab zugrunde zu legen und davon ausgehend in Kordic´s Roman nach Szenen zu suchen, in denen

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Teilräume mit topologischer, semantischer und topographischer Relation dargestellt werden und in denen die Figuren auf Grenzen aller Art Bezug nehmen bzw. diese erfolgreich überwinden oder daran scheitern. Diese konkreten und übertragenen ›Raum-Szenen‹ werden von den Lernenden in einer Tabelle zusammengestellt. Dabei sollte dem Handlungsverlauf gefolgt und dieser in einem korrespondierenden Zeitstrahl am Tabellenrand dargestellt werden. Dies ist eine besondere Herausforderung, da Victor im hohen Maße achronologisch und stets im Präsens erzählt, was im Falle von vergangenen und vorvergangenen Handlungen ein gewisses Irritationspotenzial birgt. Die Schüler_innen sollten ferner gebeten werden, die Handlung des Kurzromans mit Hilfe einer historischen Recherche in der Schulbibliothek oder im Netz zeitgeschichtlich einzuordnen. Die Lehrkraft kann danach fragen, ob die Schüler_innen eine Veränderung oder Entwicklung hinsichtlich des Charakters der drei zentralen Teilräume »Dorf der Glücklichen. Stadt der Brücken. Sehergebirge« (Kordic´ 2015, S. 15) benennen können, wie Transformationen ggf. mit den ethnischen Konflikten und dem Kriegsverlauf zusammenhängen und wie sie diesbezügliche Urteile begründen. Anschließend können sie darüber diskutieren, inwiefern Victor vor dem Hintergrund von Lotmans Modell als Ich-Erzählerfigur die Funktion eines Helden ausfüllt, der die eigentlich unüberwindlichen Grenzen passiert und wie dies mit seinem Status als »Kretin« (ebd., S. 10) und quasi-kindlicher Schelm zusammenhängt. Die Ergebnisse der Textanalysen müssen anschließend mit Blick auf die vorausgehenden historischen Recherchen auch danach beurteilt werden, ob es sich hier um eine restitutiv-sujetlose oder revolutionär-sujethafte Erzählung handelt, d. h. sie müssten entscheiden, ob der Text eine schon bestehende Weltordnung als die dauerhaft richtige bestätigt (d.i. restitutiv-sujetlos) oder eine alternative Weltordnung als die künftig angemessene entwirft (d. i. revolutionär-sujethaft).

3.2

Michail M. Bachtins ›Chronotopologie‹ und Nellja Veremejs Berlin liegt im Osten im Literaturunterricht

Für Bachtin besteht ein untrennbarer und wechselseitiger Zusammenhang zwischen der Gestaltung der Schauplätze und dem Zeitverlauf eines Textes. Dabei präge der jeweilige Chronotopos auch die Orientierungs- und Wahrnehmungsmuster der epischen Figuren und charakterisiere sie. Als Chronotopos bezeichnet Bachtin die ›Raumzeit-Gesetzlichkeit‹ oder ›Weltordnung‹ einer Erzählung: Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-Raum-Beziehungen wollen wir als Chronotopos (›Raumzeit‹ müßte die wörtliche Übersetzung lauten) bezeichnen. Dieser Terminus wird in der mathemati-

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schen Naturwissenschaft verwendet […]. [W]ir übertragen ihn auf die Literaturwissenschaft fast (wenn auch nicht ganz) wie eine Metapher. Für uns ist es wichtig, daß sich in ihm der untrennbare Zusammenhang von Zeit und Raum (die Zeit als vierte Dimension des Raumes) ausdrückt. Wir verstehen den Chronotopos als eine Form-InhaltKategorie der Literatur. (Bachtin 2008, S. 7)

Bachtin legt dabei den Fokus auf die Bedeutung des Chronotopos für die (historische) Genrebildung von der Antike bis in die Neuzeit. Seine Anregungen dienen dazu, mit Lernenden zu überlegen, wie die Zeit- und Raumverhältnisse der Erzählung in Reise- und Migrationsromanen, dem Generationenroman, dem Entwicklungs- und Adoleszenzroman aufeinander bezogen werden können. So inszeniert Lena, die Erzählerin von Berlin liegt im Osten, ihren kaukasischen Heimatort so, dass er einer ganz anderen – nämlich einer langsamen und zyklisch geprägten – Zeitordnung folgt, also einer, die zu ihrem späteren Wohnort in der schnelllebigen, urbanen Metropole Berlin einen Kontrast bildet. Die Schüler_innen erfahren den Reflexionsimpuls, dass jede Geschichte eine eigene Art von interner Zeit- und Raumökonomie aufweist. Mit Blick darauf gehen sie der Frage nach, wie sich das Verhältnis von Geschehen, Geschichte und Schauplatz in Veremejs Roman darstellt und achten dabei besonders auf den Wechsel der Erzähltempi in ausgewählten Erzählabschnitten, die von Lenas Heimatort im Kaukasus, ihrem Studienort St. Petersburg [damals Leningrad, Anm. d. Verf.’in] und der Wahlheimat Berlin berichten. Die Schüler_innen erhalten den Auftrag herauszufinden, was an den jeweiligen Schauplätzen erzählt wird und was ausgespart bleibt. Sie können sich des Weiteren fragen, wie lang und ausführlich etwas erzählt und was hingegen nur gestreift wird. Auch hier lohnt eine zeitgeschichtliche Einordnung, die sich an folgenden Fragen orientiert: Wann und wo spielt das Geschehen? Wie wird die Zeit dort gemessen? In Veremejs Roman kommen verschiedene Zeitmessungen und Zeitmarken vor: Genaue Zeitangaben zu historischen Ereignissen (d.i. historische Zeit), körperliche Merkmale der Menschen (alt vs. jung, d.i. biographische Zeit) und die iterativen Ereignisse im Umweltzyklus (d.i. die langsame Naturzeit). Die Schüler_innen können so bewusst wahrnehmen, dass im Roman Zeit nicht gleich Zeit ist und Raum und Zeit im Migrationsroman in spezifischer Weise semantisch aufgeladen und in hohem Maße aufeinander bezogen sind.

3.3

Michel De Certeaus Konzept des ›Parcours‹ und Wolfgang Herrndorfs Tschick im Literaturunterricht

Michel de Certeau hat in Die Kunst des Handelns die ›Rhetorik des Gehens‹ als eine der Listen des Alltags bezeichnet, mit denen Individuen den Mechanismen der Disziplinierung subversiv entgegentreten:

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[Es] verwandelt der Gehende jeden räumlichen Signifikanten in etwas anderes. Und wenn er einerseits nur einige der von der baulichen Ordnung festgelegten Möglichkeiten ausschöpft (er geht nur hier und nicht dort lang), so vergrößert er andererseits die Zahl der Möglichkeiten (indem er zum Beispiel Abkürzungen und Umwege erfindet) und der Verbote (er verbietet sich zum Beispiel erlaubte oder vorgeschriebene Wege). Er wählt also aus. […] Das Verhalten des Passanten, der sich durch eine Reihe von Drehungen und Wendungen seinen Weg bahnt, kann mit den ›Redewendungen‹ und ›Stilfiguren‹ verglichen werden. Es gibt eine Rhetorik des Gehens. (De Certeau 1988, S. 190; 192)

De Certeau versteht die Akte des Sprechens und des Gehens als kongruent. Der Passant eigne sich die (urbane) Topographie ebenso an wie der Sprechende eine Sprache. Das Prinzip ›Karte‹ (frz. carte) verkörpere den ordnenden Blick von oben. Ihm stehe das Prinzip der ›Wegstrecke‹ (frz. parcours) mit dem Blick des Fußgängers entgegen. Der Parcours beschreibe einen Raum im Gegensatz zum statischen Ort. Räume entstehen aus der Nutzung von Orten: »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus [gemeint ist die Städteplanung, Anm. d. Verf.’in] geometrisch festlegt, durch den Gehenden in einen Raum verwandelt.« (Ebd., S. 218) In Herrndorfs Jugendroman Tschick vollziehen der mit allen nur erdenklichen Klischee-Merkmalen ›des Russen‹ ausgestattete Junge aus einer Spätaussiedlerfamilie Andrej Tschichaschoff, genannt Tschick, und der im spätkapitalistischen Wohlstand von seinen ›westlich-dekadenten‹ Eltern komplett vernachlässigte deutsche Schüler, der Klassenaußenseiter Maik, einen eben solchen Certeau’schen Parcours. Das Ziel der Tour de Force mit einem gestohlenen LADA Niva ist die rumänische Region Walachei, die es laut Maiks Überzeugung aber gar nicht gibt. Schüler_innen, die mit De Certeaus Konzeption der Gegensätze von Karte und Parcours vertraut sind, reflektieren, an welchen Stellen der Road-Trip von Tschick und Maik eher der Logik der Karte oder der des Parcours folgt, und können ihre Beurteilungen textnah und begründet darlegen. Des Weiteren lässt sich am Text fragen, wofür das imaginäre Ziel der Walachei im Kontext des subversiven Handelns der beiden Protagonisten in diesem Coming-of-AgeRoman steht.

3.4

Michel Foucaults Heterotopologie und Lana Lux’ Kukolka im Literaturunterricht

Michel Foucault konzeptualisiert in seinem Aufsatz Andere Räume (Erstfassung 1967) Heterotopien als »Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig

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repräsentiert, bestritten und gewendet sind.« (Foucault 1993, S. 39) Das Gemeinsame aller Heterotopien ist das ›Spiegeln‹ der nicht-heterotopen Orte, das die konventionellen Orte in ihr Gegenteil verkehrt und dadurch ihr So-Sein entlarvt. Foucault unterscheidet zwei Haupttypen: die Krisenheterotopie traditioneller Gesellschaften, in denen Schwellenräume der Adoleszenz, der Menopause, der Geburt, des Alterns und des Strebens geschaffen werden, und die Abweichungsheterotopie der Gegenwart wie psychiatrische Kliniken, Gefängnisse, Altenheime. Neben der Krisen- und Abweichungsheterotopie stellt Foucault die Illusionsheterotopie und kompensatorische Heterotopien als weitere Ausprägungen vor: [Es] besitzen die sogenannten primitiven Gesellschaften privilegierte oder heilige oder verbotene Orte […]. [D]iese […] sind in der Regel Menschen vorbehalten, die sich in einer biologischen Krisensituation befinden. So gibt es spezielle Häuser für Jugendliche in der Pubertät […] oder auch für Frauen während der Niederkunft. In unserer Gesellschaft sind solche Heterotopien für Menschen in biologischen Krisensituationen kaum noch zu finden. Aber noch im 19. Jahrhundert übernahmen gesonderte Schulen für Jungen und auch der Militärdienst diese Aufgabe. Doch solche biologischen Heterotopien, solche Krisenheterotopien, sind nach und nach verschwunden und durch Abweichungsheterotopien ersetzt worden. Das heißt, die Orte, welche die Gesellschaft an ihren Rändern unterhält, an den leeren Stränden, die sie umgeben, sind eher für Menschen gedacht, die sich im Hinblick auf den Durchschnitt oder die geforderte Norm abweichend verhalten. Man denke etwa an Sanatorien, an psychiatrische Anstalten und sicher auch an Gefängnisse. (Foucault 2005, S. 12)

Des Weiteren erläutert Foucault zur näheren Bestimmung des Phänomens der Heterotopie: [D]as eigentliche Wesen der Heterotopien [ist, dass sie] alle anderen Räume in Frage [stellen], und zwar auf zweierlei Weise: entweder […] indem sie eine Illusion schaffen, welche die gesamte übrige Realität als Illusion entlarvt, oder indem sie ganz real einen anderen realen Raum schaffen, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist. In der Kolonie haben wir eine Heterotopie, die gleichsam naiv genug ist, eine Illusion verwirklichen zu wollen. Im Freudenhaus haben wir dagegen eine Heterotopie, die subtil und geschickt genug ist, die Wirklichkeit allein durch die Kraft der Illusion zerstreuen zu wollen. (Ebd., S. 19–21)

Aufschlussreich sind die sechs Grundsätze des Heterotopismus: 1) Heterotopien sind anthropologisch-kulturelle Konstanten. 2) Obgleich alle Kulturen sie hervorbringen, sind Heterotopien historisch und funktional variabel. 3) Heterotopien vereinigen Heterogenes und Inkompatibles.5 4) Heterotopien stehen in 5 Im Zusammenhang mit dem dritten Grundsatz des Heterotopismus Foucaults stellt KónyaJobs mit dem vom Autor nur gestreiften Typus der universalistischen Heterotopie fest: »Der einzige Heterotopietyp, der sich nicht über die Reflexion eines anderen Raumes und dessen Ausschluss konstituiert, ist die universalistische Heterotopie, die Foucault in den alten Gärten

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Verbindung mit zeitlichen Brüchen. Als Heterochronien können sie entweder Zeit akkumulieren, wie der Friedhof, oder sehr flüchtig sein wie der Jahrmarkt. 5) Heterotopien werden von komplexen Ein- und Ausschlussmechanismen regiert. 6) Dominant sind die Illusions- oder Kompensationsfunktionen, zwischen denen die allermeisten Heterotopien changieren. Die Handlung in Lana Lux’ Debütroman Kukolka nimmt in der Abweichungsheterotopie eines ukrainischen Kinderheims in Dnjepropetrowsk ihren Anfang, an einem Ort, an dem deviante, da elternlose, aber ansonsten sehr unterschiedliche Kinder nach strengen Regeln und einem speziellen Zeit- und Raumregime von der übrigen Gesellschaft ferngehalten (in Foucaults Terminologie: ausgeschlossen) werden. Hier lebt Samira, die Kukolka, d. h. ukrainisch ›Püppchen‹, genannt wird, zu Beginn ihrer Irrfahrt. Das Heimkind flieht mit sieben Jahren aus dieser Einrichtung, wird Straßenkind und schließt sich einer Bande organisierter Bettler an. Am Sehnsuchtsort Deutschland wird sie von ihrem Freund zur Prostitution gezwungen. Die Odyssee Samiras endet in der Illusionsheterotopie eines Bordells, die den dort bedienten Männern Sexualität außerhalb der bürgerlichen Moral verkauft. Anstalten und Bordelle sind – wie weiter oben bereits dargelegt – von Foucault angeführte zentrale Beispiele für heterotope Orte. Ebenfalls wichtig für das Verständnis von Kukolkas Geschichte ist es, mit Lernenden die Rolle des Malenkaja Strana6 (dt. ›Das kleine Land‹) herauszuarbeiten. Dieses aus einem ukrainischen Schlager von Natascha Koroljowa stammende Motiv des idyllischen Märchenlandes, das für Samira Deutschland ist, wird im Roman Stück für Stück demontiert, indem es alle wirklichen, infernalischen Orte in Deutschland, an die es die Kukolka verschlägt, als Trugbild spiegelt und in ihr Gegenteil verkehrt. Zur Vorbereitung einer Erzählraumanalyse des Romans mit dem Fokus auf Foucault’sche Gegenorte empfiehlt sich die Anfertigung eines Steckbriefes zu diesem Phänomen anhand relevanter Textpassagen aus Foucaults kurzen Heterotopie-Aufsätzen. Mit Hilfe dieses Steckbriefes wird Kukolka auf das Vorhandensein von Heterotopie-Erscheinungen hin untersucht. Im Rahmen einer vertiefenden Auseinandersetzung mit der Thematik kann in Lux’ Roman arbeitsteilig nach verschiedenen Heterotopie-Formen gemäß der Typologie Foucaults gesucht werden und diese können eine kontrastive Reflexion erfahren. Dabei werden die Ergebnisse der Lerngruppen verglichen. Die Auswahl der Szenen und deren Zuordnung zu den jeweiligen Heterotopie-Formen sollte der Perser und den orientalischen Teppichen verwirklicht sieht. Der Garten spiegelt die gesamte Welt wider, er ist der Mikrokosmos, der den Makrokosmos widerspiegelt, indem er Himmel, Erde, Wasser, Feuer, Flora und Fauna vereint. Dieser Heterotopie-Typ bildet in Form der am Ende des 19. Jahrhunderts gegründeten großen zoologischen Gärten und Parkanlagen Nachfolger in der Moderne aus.« (Kónya-Jobs 2016, S. 215) 6 Vgl. das Musikvideo zu diesem Lied unter https://youtu.be/7G-4stvjEwQ [03. 12. 2020].

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durch die Schüler_innen begründet sein. Wichtig für übergreifende Deutungsbemühungen ist die Frage, welche Typen heterotoper Orte im Verlaufe des Plots jeweils überwiegen. Der lange Debütroman der Autorin sollte dafür von der Lehrperson an markanten Stellen mit Zäsuren versehen werden, um größere Abschnitte unter einen Heterotopie-Typus subsumieren zu können. Hier bieten sich etwa die Passagen um das Waisenhaus an, die Kapitel, die in Rockys Haus der bettelnden Kinder spielen und die Abschnitte, deren Schauplatz das deutsche Bordell ist und – nicht zu vergessen – Malenkaja Strana, Samiras Phantasmagorie von Deutschland als heterotopes Sinnzentrum des Textes.

3.5

Pierre Noras Paradigma der Erinnerungsorte und Melinda Nadj Abonjis Tauben fliegen auf im Literaturunterricht

Der Untersuchungsgegenstand ›Erinnerungsorte‹7 (frz. lieux de memoire), der eine materiell-räumliche Komponente der Erinnerung suggeriert, legt es nahe, die Frage nach der Räumlichkeit in der Literatur gemeinsam mit der Frage nach dem Potenzial der Literatur als Medium der kritischen Erinnerungskultur zu stellen. In den prominenten Gedächtnistheorien, etwa von Maurice Halbwachs, Pierre Nora (vgl. Nora 1990) oder Jan und Aleida Assmann, sind bereits implizit Raumkonzepte enthalten. Eine Verbindung von Erinnerungs- und Erzählraumforschung lässt sich im Kontext des interkulturellen Lernens besonders dort herstellen, wo in einer Narration ein Lebensraum vor oder nach einer Migrationserfahrung durchweg problematische Muster für die Identifikation mit der Lebenswelt bereitstellt und Erzählpositionen vorherrschen, in denen Heimat als ›Verlusterfahrung‹ oder ›Bürde‹ erlebt wird. Die Thematisierung von Erinnerungsprozessen geht in Erzähltexten häufig recht konkret mit dem Entwurf von Räumlichkeit einher. Nicht selten werden Erinnerungsversionen verschiedener Gruppen multiperspektivisch erzählt, identitätsrelevante Mnemotope [d. i. Erinnerungsorte, Anm. d. Verf.’in] des kollektiven und individuellen Gedächtnisses einander gegenübergestellt oder damit verbundene wechselnde Ortsloyalitäten konfrontativ diskutiert. Die Erzählerin des Romans Tauben fliegen auf von Melinda Nadj Abonji mit Namen Ildikó inszeniert den Hof ihrer Großmutter Anna, genannt Mamika, ungarisch für ›Mütterchen‹, in ihrem Heimatdorf in der Vojvodina als Mnemotop ihrer Familiengeschichte. Der Hof ist ein anthropologischer Ort, d. i. eine konkrete und gleichzeitig symbolische Konstruktion des Raumes, auf die sich 7 Vgl. zum Gesamtkomplex der Erinnerungsorte als kulturwissenschaftliche Kategorie, zum literaturwissenschaftlichen Forschungsstand sowie für exemplarische Analysen Kónya-Jobs 2016, S. 294–336.

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Personen berufen, denen diese Konstruktion einen Platz zuweist. »Diese Orte [d. h. die anthropologischen, Anm. d. Verf.’in] verstehen sich (sie werden verstanden) als identisch, relational und historisch.« (Augé 2010, S. 42) Solche Orte stehen also in Relation zu einem Individuum oder einer Gruppe, sie verkörpern eine spezifische Geschichte und zeichnen sich durch eine unverwechselbare Identität aus. Das ›Sich-Berufen‹ auf die Zugehörigkeit zu einem Ort nimmt eine entscheidende Funktion in der Konstruktion personaler und kollektiver Identitäten ein, nämlich dann, wenn Personen ›ihre‹ anthropologischen Orte mit Sinn aufladen und sich (u. a. in Erinnerungsakten) anschließend mit ihnen identifizieren. Die in der Schweiz lebenden Schwestern Ildikó und Nomi schreiten bei jedem Besuch sofort nach der Ankunft den großmütterlichen Hof ab, um zu überprüfen, ob alles noch an seinem Platz ist. Vor jeder Abreise ›verabschieden‹ sie sich umständlich von allen Objekten dort. In der Abwesenheit wiederholen sie für einander verbal die topologische Struktur des großmütterlichen Anwesens und die Erzählerin Ildikó berichtet wiederum davon dem / der Leser_in, so dass der anthropologische Ort zu einem Erinnerungsort wird. Dies ist wichtig, weil die Unversehrtheit der personalen Identität der Erzählerin mit der Existenz dieses auratischen Ortes verbunden ist, sodass er in Zeiten der temporären Abwesenheit Ildikós und später nach seinem endgültigen Verlust ersatzweise narrativ inszeniert werden muss.

3.6

Marc Augés ›Orte und Nicht-Orte‹ und Melinda Nadj Abonjis Tauben fliegen auf im Literaturunterricht

Als das letzte prominente Raum-Theorem kann das des Nicht-Ortes gelten. Ich greife erneut Nadj Abonjis Roman auf, um diese Kategorie literaturdidaktisch zur Anwendung zu bringen. Der Ethnologe Marc Augé widmet den Nicht-Orten (frz. non-lieux) der sogenannten Übermoderne (frz. surmodernité) einen einflussreichen Essay. Diese Zeit, unsere Gegenwart, sei von drei Figuren des Übermaßes geprägt. Erstens der Überfülle der Ereignisse, zweitens der Überfülle des Raumes und drittens der Individualisierung der Referenzen. Diese Umstände bringen massenhaft NichtOrte hervor. Zur definitorischen Unterscheidung dieses Phänomens äußert sich Augé wie folgt: »So wie ein [anthropologischer, Anm. d. Verf.’in] Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort.« (Augé 2010, S. 83) Supermärkte, Flughäfen, Bahnhöfe, Hotels, Schnellstraßen, Outlet-Center, Feriencamps und Flüchtlingslager sind Beispiele für Nicht-Orte, die Einsamkeit und Ähnlichkeit statt Identität

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und Relation schaffen. Nicht-Orte erzeugen einen Durchschnittsmenschen, der nur noch das ist, was er in seiner im Vorfeld durch Identifikation und Erwerb der Zugangsberechtigung erlangten Anonymität als Konsument_in, Passagier oder ›user_in‹ am Nicht-Ort tut. Individualisiert wird dieser in der Nicht-Ort-Situation generierte Durchschnittsmensch bisweilen als Delinquent_in, wie zum Beispiel als Falschfahrer_in oder als zu maßregelnde_r Nutzer_in eines Dienstes. Doch Nicht-Orte sind keine absoluten Kategorien. Augé versteht unter den Nicht-Orten solche, die in Bezug auf bestimmte Zwecke konstituiert sind wie Verkehr, Handel, Transit oder Freizeit, aber auch die Beziehung, die das Individuum zu diesen Räumen unterhält. Deshalb sind Übergänge zwischen Orten und Nicht-Orten möglich, wenn ein Individuum einen solchen Ort entgegen der allgemeinen ökonomisch-pragmatischen Verfassung des Lokals mit Werten belegt. Nicht-Orte werden in der Erzählraumforschung zur Gegenwartsliteratur meist als negative kulturelle Phänomene gedeutet. Dabei wird oft übersehen, dass sie auch eine emanzipatorische Funktion haben können, da sie das Individuum zumindest temporär von einem zuweilen als belastend empfundenen Identitätsregime befreien. Ein solcher Nicht-Ort findet sich in Nadj Abonjs Roman mit Ildikós erster eigener Wohnung, die sie nach dem konfliktreichen Verlassen der Familie bezieht. Die Wohnung befindet sich weit oben in einem modernen, aber schon etwas renovierungsbedürftigen Hochhaus an der meist befahrenen Schnellstraße der Schweiz und weist als Standort alle Merkmale des transitorischen Ortes ohne eigene Dignität auf, wie Augé ihn beschreibt. Nach dem Verlust von Mamikas Hof und der, wenn auch nicht gewaltsamen, so doch durch die Eltern fremdbestimmten Migration, gelangt Ildikó an den Übergangsort, das Café Mondial der Eltern. Das Mondial erwies sich letztlich als falscher Ort, weil sich Ildikó dort zunehmend in eine Art Mimikry-Haltung gedrängt sah. Nach allen diesen Stationen erscheint nun die anonyme Wohnung an der Schnellstraße als idealer (Übergangs-)Ort, um neu anfangen zu können, um einfach einmal niemand sein zu müssen: Nicht Enkelin und Tochter, nicht Geliebte, nicht politische Aktivistin und Jura-Studentin und vor allem weder Ungarin, noch Serbin oder Schweizerin. Sind Lernende an die miteinander verzahnten Raumkonzepte des anthropologischen Ortes, des Erinnerungsortes und des Nicht-Ortes herangeführt worden, können sie Beispiele für solche Schauplätze aus dem Roman vorstellen und ihre Auswahl begründet darlegen. Anschließend diskutieren die Jugendlichen in Kleingruppen die These, dass Ildikó ihre Wohnung an der Schnellstraße gerade deshalb – wenngleich vielleicht unbewusst – auswählt, weil ihr an diesem transitorischen Nicht-Ort keine Identitätsarbeit auferlegt wird, was in ihrer aktuellen Lebensphase entlastend für sie ist. Des Weiteren sprechen die Mitglieder der Lerngruppe darüber, was passieren müsste, damit dieser Nicht-Ort in späterer

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Zeit zu einem anthropologischen Ort oder gar einem Erinnerungsort für Ildikó werden kann.

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Fazit

Abschließend ist zu sagen, dass im Rahmen dieses Beitrags sechs im Kontext des Spatial- und Topographical Turn vieldiskutierte raumtheoretische Ansätze des 20. Jahrhunderts vorgestellt und mit literaturdidaktischen Vorschlägen verbunden wurden. Wie eingangs erwähnt, handelt es sich bei den didaktischen Anmerkungen zu den Romantexten aus dem Bereich des Eastern Turn, die zur Illustration meiner Zielsetzung herangezogen wurden, lediglich um erste Vorschläge für innovative Lektüren und neuartige unterrichtliche Auseinandersetzungen. Diese Vorschläge müssten für die Praxis noch weiter am jeweiligen konkreten Text ausgefeilt werden und die Einbindung von Bezugstheorien zu Raum und Räumlichkeit sowie die Textauswahl ist selbstverständlich individuell an die Lerngruppe anzupassen.

Quellenverzeichnis Primärtexte Altaras, Adriana: Titos Brille. Die Geschichte meiner strapaziösen Familie. Köln 2011. Herrndorf, Wolfgang: Tschick. Reinbek bei Hamburg 2012. Kordic´, Martin: Wie ich mir das Glück vorstelle. München 2014. Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Köln 2008. Lux, Lana: Kukolka. Berlin 2017. Nadj Abonj, Melinda: Tauben fliegen auf. Wien 2010. Petrowskaja, Katja: Vielleicht Esther. Frankfurt / Main 2014. Veremej, Nellja: Berlin liegt im Osten. Salzburg / Wien 2013. Wodin, Natascha: Sie kam aus Mariupol. Reinbek bei Hamburg 2017.

Forschungsliteratur Augé, Marc: Nicht-Orte. München 2010. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006. Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Frankfurt / Main 2008. De Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Berlin 1988.

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Dennerlein, Katrin: Artikel ›Raum‹, in: Martínez, Matías (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse Geschichte. 3 Bde. Stuttgart / Weimar 2011, S. 158–165. Dünne, Jörg / Mahler, Andreas: ›Einleitung‹, in: Dies.: Handbuch Literatur & Raum. Berlin 2015, S. 1–11. Foucault, Michel [1967]: ›Andere Räume‹, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essais. 5. durchgesehene Auflage. Leipzig 1993, S. 34–46. Foucault, Michel: Die Heterotopien / Der utopische Körper (Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe). Frankfurt / Main 2005. Foucault, Michel: ›Von anderen Räumen‹, in: Dünne, Jörg / Günzel, Stefan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt / Main 2006, S. 317–327. Frank, Susi K.: ›Geokulturologie – Geopoetik. Definitions- und Abgrenzungsvorschläge‹, in: Marszałek, Magdalena / Sasse, Sylvia (Hg.): Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen. Berlin 2010, S. 19–42. Grimm, Sieglinde / Wanning, Berbeli (Hg.): Kulturökologie und Literaturdidaktik. Beiträge zur ökologischen Herausforderung in Literatur und Unterricht. Göttingen 2015. Haines, Brigid: ›The Eastern Turn in Contemporary German, Swiss and Austrian Literature‹, in: Debatte: Journal of Contemporary Central and Eastern Europe (16) 2008/2, S. 135–149. Hallet, Wolfgang / Neumann, Birgit (Hg.): ›Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung‹, in: Dies.: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, S. 11–32. Kónya-Jobs, Nathalie: Räume in Günter Grass’ Prosa. Bielefeld 2016. Lakoff, George / Johnson, Mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg 2011. Lauschke, Alexander: Parkour. Subversive Choreographien des Urbanen. Marburg 2010. Le Rider, Jacques: Mitteleuropa – auf den Spuren eines Begriffes. Wien 1994. Lossau, Julia: ›Mind the Gap: Bemerkungen zur gegenwärtigen Raumkonjunktur aus kulturgeographischer Sicht‹, in: Günzel, Stefan (Hg): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld 2007, S. 53–68. Lotman, Jurij M. [1972]: Die Struktur literarischer Texte. München 1993. Martínez, Matías / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 2000. Marszałek, Magdalena / Sasse, Sylvia (Hg.): Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen. Berlin 2010. Merridale, Catherine: Lenins Zug: Die Reise in die Revolution. Berlin 2017. Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990. Rupp, Gerhard (unter Mitarbeit von Nicole Abstiens und Maximilian Reinsch): ›Outdoordidaktik‹, in: Neuhaus, Stefan / Ruf, Oliver (Hg.): Perspektiven der Literaturvermittlung. Innsbruck 2011, S. 336–348. Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München 2007. Turner, Victor Witter [1969]: Das Ritual: Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt / Main 2005. Van Gennep, Arnold [1909]: Übergangsriten. Frankfurt / Main 2005.

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Werber, Nils: ›Geopolitik und Globalisierung‹, in: Dünne, Jörg / Mahler, Andreas (Hg): Handbuch Literatur & Raum. Berlin 2015, S. 126–136. Wermke, Jutta: ›Outdoor-Didaktik. Kulturelle Vermittlung in der Deutschlehrerausbildung‹, in: Deutschunterricht (57) 2004/1, S. 44–50. Widmann, Andreas Martin: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung. Untersuchungen an Romanen von Günter Grass, Thomas Pynchon, Thomas Brussig, Michael Kleeberg, Philip Roth und Christoph Ransmayr. Heidelberg 2009.

Internetquellen Best of Parkour and Freerunning, 2018, verfügbar unter: https://youtu.be/2vfoyY9lshI [03. 12. 2020]. Наташа Королева: Маленькая страна [Natalja Koroleva: Malenkaja Strana], verfügbar unter: https://youtu.be/7G-4stvjEwQ [03. 12. 2020].

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Andrikson (lett. Andriksons) von Ru¯dolfs Blaumanis: eine transkulturelle Dorfnovelle und ihre didaktische Relevanz. Der zweisprachige Nationalautor Blaumanis im transkulturellen Raum des Baltikums der Jahrhundertwende Meinem Mitherausgeber der Erzählungen von Ru¯dolfs Blaumanis, Benedikts Kalnacˇs, gewidmet1

Die Literatur um 1900 war – trotz des ostentativ zur Schau getragenen wilhelminischen Nationalismus – allein schon auf der sprachlichen Ebene transkultureller, als es heute den Anschein hat. Für Jürgen Joachimsthaler »erklärt[e] sich« Literatur schon damals »(auch) von ihren Rändern her.« ( 2010, Bd. 1, S. 1) Und so ist es in seiner großangelegten Studie über »Text-Ränder« mithin selbstverständlich, die »kulturelle Vielfalt in Mitteleuropa als Darstellungsproblem deutscher Literatur« im Sinne eines de-zentrierten Kanons auch anhand dezidierter ›Nationalschriftsteller_innen‹ unserer Nachbarn in den Fokus zu nehmen. Dies gilt vor allem, wenn diese auch auf Deutsch publizierten. Joachimsthaler behandelt in seiner Studie z. B. ausführlich den zweisprachigen ›preußischen‹ Litauer Vilius Starosta / Wilhelm Starost (1868–1953), genannt Vydu¯nas (2010, Bd. 2, S. 69–76). Ein weiteres Beispiel eines zweisprachig publizierenden transkulturellen2 ›Nationaldichters‹ aus Mitteleuropa wäre der auf die Wiener Moderne konzentrierte ›ukrainische Prometheus‹ Ivan Franko (1853– 1916).3 Zweisprachig publizierende Autor_innen derselben Generation im lettischen Sprachraum sind neben dem hier zentral behandelten Ru¯dolfs Blaumanis / Rudolf Blaumann4 (1863–1908) vor allem Aspazija (eigentlich: Elza Plieksˇa¯ne, geborene Rozenberga 1865–1943) sowie Rainis (eigentlich Ja¯nis Plieksˇa¯ns, 1865– 1929), der bis heute trotz gutem persönlichem Einvernehmen mit Blaumanis mit diesem in der Rezeptionsgeschichte seit jeher um den Status als lettischer Nationalschriftsteller konkurriert. Wesentlich in den Werken von Rainis und seiner 1 Der vorliegende Aufsatz ist wesentlich eine Frucht unserer gemeinsamen Zusammenarbeit bei der Erstellung des Sammelbandes Frost im Frühling, der sämtliche deutschsprachige Erzählungen von Blaumanis enthält. 2 Vgl. zu diesem grundlegenden Begriff: Welsch 2017. 3 Vgl. hierzu die neue weit gefasste Anthologie der deutschsprachigen Texte Frankos: Paslawska / Vogel 2016, insbes. S. 11–16. 4 Mit dieser deutschsprachigen Namensversion unterschrieb Blaumanis auch private Briefe, vgl. z. B. Volkova 2017, S. 59.

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Gattin sind deren Faust-Übersetzungen ins Lettische, gleichsam als Akkumulation und Aneignung des kulturellen Kapitals des respektierten kulturell dominierenden Konkurrenten: der deutschen ›Kolonialmacht‹. Auch und gerade Werke der deutschsprachigen Literatur Ostmitteleuropas gehören mithin unter die gar nicht so »neue Weltliteratur als eine[r] Literatur des Dazwischen«, die im Sinne Werner Wintersteiners eine »kritische Auseinandersetzung mit kultureller Dominanz« (Wintersteiner 2006b, S. 277) ermöglichen kann. Wenn auch diese Werke in regionalsprachlicher Version, wie es bei Ru¯dolfs Blaumanis der Fall ist, »die Schullektüre in allen Perioden der lettischen Geschichte schon seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts« (Kalnina 2019, S. 197) kanonisch bestimmen, so haben wir es im deutschsprachigen Mitteleuropa dennoch mit »bisher marginalisierten Literaturen« (Wintersteiner 2006b, S. 277) zu tun. An der literarischen Entwicklung von Blaumanis lässt sich einerseits die Emanzipation der lettischen Sprache gut ablesen: Seine ersten Publikationen wie die Weihnachtsgeschichte Wiedergefunden5 erschienen ab 1882 zunächst auf Deutsch. Die späteren, zum Beispiel die herausragende symbolistische Novelle Raudupiete (Die Raudup-Wirtin, 1889, dt. 1890)6 über eine ländlich-dämonische Femme fatale, die um ihres Begehrens willen selbst vor einer Kindstötung nicht zurückschreckt, schrieb Blaumanis in seiner Muttersprache. Er übertrug seine Erzählungen jedoch vielfach selbst ins Deutsche, wobei die Reihenfolge der Produktion in der jeweiligen Sprache heute oft nicht mehr erschließbar ist. Das Deutsche war seit der brutalen Eroberung des Baltikums durch den Deutschen Orden im Mittelalter die Sprache einer tonangebenden Minderheit in Stadt und Land. Die Leibeigenschaft wurde im Vergleich zu anderen Teilen des Russischen Reiches früh, nämlich bereits im Jahre »1817 in Kurland und 1819 in Livland abgeschafft. Die Gesetzgebung zur Bauernbefreiung brachte den Bauern persönliche Freiheit und erweiterte Rechtssicherheiten. […] Selbstverwaltungen, wie Gemeinderäte und Gerichte, entstanden auf dem Lande.« (Bleiere 2008, S. 26) Bauerngerichte mit Bauernvertretern gab es in Livland schon seit 1804 (ebd.). Blaumanis selbst war als ein Nachfahre von Leibeigenen und Sohn eines Kochs nicht nur das Patenkind des adligen baltendeutschen Gutsbesitzers, sondern auch der Spielkamerad seines Sohnes und Erben (vgl. Ziedonis 1979, S. 40). Kaum ein baltischer Autor seiner Zeit hat Transkulturalität so intensiv gelebt wie Blaumanis. Mit deutschbaltischen Schriftsteller_innen arbeitete er zeitlebens kollegial zusammen. Von der multikulturellen baltischen Hafenstadt Riga aus verfolgte Blaumanis alle aktuellen Strömungen des deutschsprachigen Kulturlebens und integrierte sie eigenständig in sein Werk.7 Die »Erinnerungsmetro5 Vgl. hierzu: Blaumanis 2017, S. 15–23 sowie den Kommentar, S. 251f. 6 Vgl. ebd., S. 83–112 sowie den Kommentar, S. 261f. 7 Vgl. hierzu die Darstellung von Füllmann 2019, S. 27–58.

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pole Riga« mit ihrer Umgebung belegt dabei im Sinne Aleida Assmanns exemplarisch, dass historisches Geschehen nicht nur in Räumen stattfindet, sondern sich mit ihnen auch verschränkt und von ihnen wesentlich bestimmt ist. In einem politischen Zusammenhang, zum Beispiel, heißt Raum ›Territorium‹ und setzt spezifische Ziele; es kann erobert, verteidigt, entdeckt, durchquert, kolonisiert, vermessen, kartographiert, besiedelt und umbesiedelt werden. (Assmann 2010, S. 34)

Nicht grundlos trägt der erste lettische Roman überhaupt den Titel Landvermesserzeiten8; er behandelt eben jene (Selbst-)Kolonisierung des transkulturellen lettischen Raums durch Landzuteilung. Die territoriale Weitung des literaturunterrichtlichen Horizonts, gleichsam in Form der ›Wanderung‹ wesentlicher Werke vom lettischen hin zum deutschen Schulkanon, könnte im Rahmen einer Europäisierung des Deutschunterrichts auch zu einer »Aufwertung und Repolitisierung literarischer Bildung« (Wintersteiner 2006b, S. 276) durch »Wahrnehmung und Wertschätzung des Diversen« (Fiebich 2016, S. 141; vgl. Wintersteiner 2006b, S. 21, 27) führen. Diversität im Sinne von Transkulturalität wurde dem Letten Blaumanis gleichsam in die Wiege gelegt. Er wurde als Sohn von bereits zweisprachigen Dienstleuten auf einem deutschbaltischen Gutshof am 1. Januar 1863 in E¯rgli (dt. Erlaa) im damals russischen Gouvernement Livland geboren. Gestorben ist er am 4. September 1908 als Sanatoriumspatient an Tuberkulose im finnischen Takaharju, das damals auch zum Russischen Reich gehörte, und er gilt in seiner Heimat und auch weltweit als lettischer Schriftsteller von kanonischem Rang, dem eine wesentliche, durchaus identitätsstiftende Rolle zukommt. Blaumanis wuchs schon in der deutschen Sprache auf, besuchte eine deutschsprachige Volksschule bei der ausgebildeten Gouvernante Anna Rubı¯na9 und danach in der transkulturell aufblühenden baltischen Metropole Riga eine ebenfalls deutsche Handelsschule. Goethe und Schiller nannte er in einem der bis heute in ihrer Art weit verbreiteten Fragebögen als persönliche Vorbilder (vgl. Ziedonis 1979, S. 97f.) und seine literarischen Idole. Schon aus diesen Kontexten ergibt sich neben seiner zweisprachigen Publikationsstrategie eine ausgesprochene kulturelle Hybridität und im »Gegensatz zu einem monokulturellen Identitäts- und Kulturverständnis zeigt Hybridität die Verschränkung oder Mischung von Elementen personaler und kollektiver Identitätsbildung auf.« (Papadimitriou 2014, S. 117) Der Mensch Blaumanis konnte dabei anscheinend »auf verschiedene kulturelle Kollektive zurückgreifen«, so dass in seiner Person und in seinem

8 Vgl. hierzu eine Neuübersetzung: Kaudzı¯te, Reinis / Kaudzı¯te, Matı¯sson 2012. 9 Vgl. hierzu Saulı¯te 2012, S. 14.

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Werk »Koexistenz und Interaktion […] im Konzept der Hybridität Anerkennung erfahren.« (Ebd., S. 124) Literaturunterricht ist indes Arbeit mit Texten, nicht mit Personen. In ihrer zeitlich-historischen Abfolge von 1882 bis 1906 eröffnen die deutschsprachigen Erzählungen von Blaumanis ein kulturhistorisches Gesamtbild baltischen Lebens in der Moderne. Vom Bauernrealismus Peter Roseggers und Gottfried Kellers herkommend und dessen Dorfnovelle Romeo und Julia bewusst variierend,10 finden sich im Mosaik der deutschsprachigen Novellen von Blaumanis schon sehr früh Elemente des Naturalismus Hauptmann’scher Prägung, darüber hinaus sogar Motive der ebenfalls von Hauptmann geprägten Neuromantik. Letztere klingt etwa in der literarischen Vision Dort, wo niemand gewesen ist (1906) an, die an Bildwelten des mit dem Autor befreundeten Malers Janis Rozenta¯ls (1866–1916) oder Fritz von Uhdes (1848–1911) erinnert und gleichzeitig eine politische Reflexion der gescheiterten antizaristischen Revolution von 1905 enthält. Die brutale Niederschlagung der staatsbürgerlichen lettischen Emanzipationsbestrebungen, etwa mittels Strafexpeditionen von Kosaken mit Exekutionen, benennt die zeitgleich entstandene Briefnovelle Meine Flucht.11 Über den engeren baltisch-regionalen Fokus hinaus konfigurieren die Texte folglich ein Panorama der kulturellen und politischen Spannungen und sozialen Konflikte im Europa der Jahrhundertwende. Dieser exemplarische Charakter seines Werks in der Darstellung historischer sozialer und ethnischer Konflikte, die bis heute nachwirken, macht die didaktische Beschäftigung mit Blaumanis aufschlussreich. Schilderungen massiver russischer Einflussversuche auf westliche Gebiete, wie sie beispielsweise aus der Sicht eines lettischen Bürgerrechtlers im Schweizer Exil in Meine Flucht von Blaumanis geschildert werden, gibt es noch heute, mittlerweile eben in digitaler Form durch Cyberattacken. Die präzise Konstruktion der literarischen Fiktionen von Blaumanis eröffnet wiederum ästhetische Aspekte des literarischen Lernens.

10 Vgl. Füllmann 2019, S. 27–58. 11 Vgl. die Erstpublikation in deutscher Sprache nach der Handschrift in: Blaumanis 2017, S. 241–247 sowie den Kommentar, S. 277.

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Andrikson (lett. Andriksons) als (deutschbaltisch-lettischer) Sozialkonflikt um die männliche Naturbeherrschung

Ein Niederschlag der zeitgenössischen sozialen Konflikte in Livland ist die von Blaumanis selbst als ›Novelle‹ bezeichnete (vgl. Ziedonis 1979, S. 151) Dorfgeschichte Andrikson.12 Sie wurde ungefähr zeitgleich auf Deutsch und Lettisch veröffentlicht; zuerst auf Deutsch in der liberalen Rigaschen Rundschau13 und dann, nachdem der Text zunächst auf Ablehnung im lettischen Zeitungswesen stieß, auf Lettisch in Jauna¯ Razˇa II (d. h. Neue Ernte; 1899, S. 1–20). In einem Brief an den deutschbaltischen Apotheker und Schriftsteller Eugen Bergmann vom 15. März 1899 hat Blaumanis mit gewissem Stolz bezüglich der Publikation der Novelle in der Rigaschen Rundschau Folgendes bemerkt: »Die ganze Rundschau war nämlich von Andrikson ungemein eingenommen und besonders Herr von Berent möchte mein Talent auf jede Weise fördern.« (Volkova 2017, S. 145) Man kann diese positive Einschätzung mit der negativen des Herausgebers der lettischen Zeitschrift Ma¯jas Viesa Me¯nesˇraksts (dt. Der Hausgast, Monatsschrift), Pe¯teris Za¯lı¯te, kontrastieren. Za¯lı¯te hat selbst in seinen späteren Erinnerungen bemerkt, dass er insbesondere mit dem Schluss der Novelle, in welchem die Reue des Brandstifters Andrikson hervorgehoben wird, nicht einverstanden war und eine Änderung verlangte (vgl. Za¯lı¯te, S. 116f.). Da Blaumanis diesem Wunsch nicht nachkam, wurde die Novelle Andriksons anderswo, nämlich in dem von Teodors Zeiferts (1865–1929) herausgegeben Almanach Jauna¯ Razˇa, veröffentlicht. Der historisch um 1900 verortete Eigentumsstreit zweier sozialer Interessenvertreter, im Fall von Andrikson die Auseinandersetzung zwischen einem deutschen adligen Grundherrn und einem lettischen Bauern und Pächter gräflichen Landes, eröffnet unterrichtliche Transferperspektiven im Kontext gegenwärtiger sozialer Auseinandersetzungen. Gerade die gleichrangige Dialogizität, in der dieser Konflikt ausgetragen wird, erinnert zudem an klassische dramatische Konfliktsituationen. Wenn Andrikson nach dem im Gutshaus ausgetragenen Streit um Holzrechte durch Brandstiftung in den gräflichen Forsten das gesamte Gemeinwesen seiner heimatlichen Lebenswelt existenziell gefährdet, so werden in diesem Zusammenhang schwerwiegende ethische Fragen aufgeworfen. Der Text greift ein zentrales Thema im Gesamtwerk von Blaumanis auf, nämlich die von ihm kritisch beleuchteten sozialen Modernisierungsprozesse in den Bauerndörfern Lettlands. Die mit der Aufhebung der Leibeigenschaft ver12 Erstdruck: Rigasche Rundschau 1899, Nr. 17, 22. Januar, Nr. 18, 23. Januar, Nr. 19, 25. Januar, Nr. 20, 26. Januar. Untertitel und Gattungsbezeichnung: ›Novelle‹. 13 22. Januar (3. Februar), 23. Januar (4. Februar), 25. Januar (6. Februar), 26. Januar (7. Februar), 1899, Nr. 17–20. Es erfolgte in Lettland dann nach der staatlichen Unabhängigkeit noch einmal eine deutschsprachige Publikation in Blaumanis 1921, S. 127–163.

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bundene persönliche Freiheit führt beispielsweise in der Dorfsatire und »Erzählung aus dem lettischen Bauernleben« (Blaumanis [1899] 2017, S. 162) mit dem Titel Im Schoße des Glücks (1898, dt. 1904), die eine ehrgeizige Bäuerin und ihre Geldheirat mit einem Greis behandelt, bisweilen zu entfremdendem Erwerbsstreben. Die weiterhin bestehenden feudalen Abhängigkeitsverhältnisse auf dem Lande stellt Blaumanis in seiner Novelle Andrikson dar, die zwar die etwas hilflose Gutwilligkeit eines baltendeutschen Grundherren betont und doch die Titelfigur in eine Art lettischen ›Michael Kohlhaas‹14 aus verletztem Gerechtigkeitssinn verwandelt, der durch einen Waldbrand sogar die eigenen im Forst Beeren suchenden Kinder gefährdet. Diese Söhne des Pächters werden dann ironischerweise von dessen Grundherren, dem Grafen, aus dem von ihrem Vater angefachten Forst- und Flächenbrand gerettet. Andrikson ist einer der wenigen Erzähltexte von Blaumanis, die das Thema der Beziehungen zwischen einem Gutsbesitzer und einem Landwirt und Pächter schildern, obwohl das Milieu der livländischen Landgüter dem Autor von Kindheit an und durch seine zeitweilige Tätigkeit als Gutsverwalter gut bekannt war. Blaumanis zeigt seine Kenntnisse des täglichen Lebens auf den deutschbaltischen Gütern vor allem in seiner Novelle Durch den Sumpf (1898) und in dem aus ihr hervorgegangenen Theaterstück Im Feuer (1905). Die Novelle Andrikson, die parallel zu Durch den Sumpf entstanden ist, thematisiert insbesondere die verschiedenen Vorstellungen, die die sozialen und ethnischen Gruppen in einer tief gespalteten Gesellschaft auf dem Lande haben, und das, obwohl die ethnische Zugehörigkeit von Grundbesitzer und Landpächter nie explizit erwähnt wird. Im Zentrum der Novelle steht wie auch schon in Annette von Droste-Hülshoffs westfälischer Erzählung Die Judenbuche (1842) die Frage des Holzrechtes,15 also letztlich des Rechtes der Nutzung von Grund und Boden, auf die sowohl der (deutschbaltische) Graf wie auch der (lettische) Bauer ihre eigene Antwort zu geben versuchen. Die konkreten Beobachtungen, die in der Novelle vorkommen, stammen aus dem Gebiet des livländischen Kirchspiels Erlaa, wo Blaumanis seit seiner Geburt zeitweise lebte, wie Arvids Ziedonis in seiner Monographie unterstreicht.16 Die gutsherrliche Erlaubnis für ihre Pächter, Wald zu roden, war eine bekannte Praxis sowie auch die Gewohnheit, größere Bäume des Grundherrn im Zuge dessen freiwillig stehen zu lassen. Die Bauern dachten trotz anderslautender Pachtverträge auch nach der Bauernbefreiung, dass sie das Recht, Bäume zu schlagen, weiterhin besäßen. Letzten Endes stehen Andrikson und sein Grundherr hier

14 Vgl. zu dieser Bezeichnung: Kindlers neues Literatur-Lexikon, Bd. 2, S. 760. 15 Auch in diesem »Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen« heißt es lapidar: »Holz- und Jagdfrevel waren an der Tagesordnung«, Droste-Hülshoff 2015, S. 77. 16 Ein Streit zwischen dem Grundherrn und Blaumanis’ Onkel Brante¯ns soll den Autor u. a. zu der Novellenhandlung angeregt haben, vgl. Ziedonis 1979, S. 151.

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nicht im Novellenkonflikt, einem novellistischen Dreieck,17 um eine Frau, sondern um den Grund und Boden, auf dem und von dem sie beide, der Nachfahre mittelalterlicher Kolonisten und der Autochthone, leben. Dass es dabei um Eichbäume geht, einen Baum, der beiden Völkern als Nationalsymbol dient und den die lettischen Männer sogar an ihrem höchsten Feiertag im Jahreskreis, dem Johannisfest der Sonnenwende,18 als Flechtkränze auf ihren Köpfen tragen, ist zudem sicher kein Zufall. Aus dieser real existierenden sozialen Spannung sind unter den lettischen Bauern auch zahlreiche mündliche Überlieferungen und Anekdoten entstanden. So wird berichtet, dass der Taufpate von Blaumanis, der Besitzer von Erlaa, Baron Gustav Rudolph von Transehe-Roseneck (1828–1905), in seinem Umgang mit den Bauern eher streng gewesen sei. In der Novelle Andrikson versucht Blaumanis indes, ein offen-ausgewogenes Modell der Beziehungen zwischen den sozialen Schichten und ethnischen Gruppen zu entwerfen. Es war wichtig für ihn, sowohl das gesteigerte Selbstbewusstsein eines lettischen Landpächters zu schildern als auch das Porträt eines zeitgenössischen deutschbaltischen Grafen und Gutsbesitzers zu liefern, der bereits den Anforderungen einer neuen Zeit zu folgen versucht. Laut der Meinung von Blaumanis’ Bruder Arvı¯ds wird in der Novelle eine idealisierte Schilderung eines Gutsbesitzers vorgenommen.19 Es lag indes durchaus in der Absicht Blaumanis’, die innere Motivation seiner Charaktere hervorzuheben. Hier geht es mithin um gegenläufige materielle Interessen zwischen einem lettischen Pächter und seinem deutschbaltischen Grundherren, um die Frage, wem die auf dem gepachteten Grund wachsenden rohstoffspendenden Bäume gehören. Dieser Interessengegensatz zwischen den Klassen und Ethnien war im alten Livland so mentalitätsprägend, dass er sogar in die lettischen Volkslieder, die Dainas, einging. Schon Johann Gottfried Herder (1744–1803) hielt im Kontext seiner mehrjährigen Rigaer Dienstzeit an der dortigen Domschule eine estnische Klage über die Tyrannei der Leibeigenen fest, in der es u. a. heißt: »Unsere Hühner legen Eier, alle für des Deutschen Schüssel« (Herder 1983, Bd. 1, S. 10). Und man vernimmt in den Volksliedern, die in der Tradition Herders und der Gebrüder Grimm neben Krisˇja¯nis Barons (1835–1923) auch Blaumanis’ deutschbaltischer Kollege und Freund Viktor von Andrejanoff (1857–1895) gesammelt hat, auch Folgendes: Eh’ ich zu dem Gutsherrn ging, That ich Eis in meine Tasche, 17 Vgl. zu diesem grundlegenden Novellenbaustein: Füllmann 2010, S. 24. 18 Vgl. zur »wundersamen glänzenden Eiche« als Sonnenbaum der alten Letten: Biezais 1972, S. 250 sowie zur Eiche im deutschen Aberglauben: Bächtold-Stäubli 1987, S. 646–655. 19 Vgl. hierzu und auch zu vielen anderen Angaben in diesem Aufsatz den von beiden Herausgebern verfassten Kommentar in Blaumanis 2017, S. 270f.

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Daß des Gutsherrn harter Sinn Schmölze mit dem Eisesklumpen (Andrejanoff 1896, S. 39)

Viele nichtmagische lettische Alltagsmärchen bzw. ›Volksnovellen‹ spiegeln ebenfalls die sozialen Konflikte des altständischen Feudalismus wider und tragen Titel wie Wie dem Gutsverwalter eine Lehre wurde (Ambainis 1982, S. 307–309) oder schlichtweg Alle Herren sind Dummköpfe (Ambainis 1982, S. 315f.). Sie handeln von alltagsklugen lettischen Bauern, die ihre Grundherren überlisten, wobei erstaunlicherweise fast nie die deutschbaltische Herkunft der adligen Großgrundbesitzer oder ihrer Verwalter (unter denen es allerdings auch Letten gab) erwähnt wird. Die ethnische Herkunft der sozioökonomischen Kontrahenten steht nicht im Fokus. Dies ist auch in der Novelle Andrikson von Blaumanis der Fall, die einen Zustand abbildet, den es im Russischen Zarenreich so nur in den Ostseeprovinzen gab. Im heutigen Lettland wurde die Leibeigenschaft auf Initiative des deutschbaltischen Adels nämlich viel früher als anderswo im Zarenreich aufgehoben. »Durch die Agrarreform wurden die Freizügigkeit der Bauern und ihr sozialer Status gestärkt […]. Die Bauern erhielten nun auch Familiennamen. Sie bekamen die Möglichkeit zum Landkauf.« (Bleiere 2008, S. 26) Was dann in postkolonialer wie antikolonial-emanzipatorischer kultureller Mimikry erfolgte, war eine ausgeprägt beschleunigte Zivilisationsdynamik der lettischen Bevölkerung, wie Kaspars Kl¸avin¸sˇ herausstreicht: Von der Mitte der 30er Jahre bis zur Mitte der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts waren aus der früher eher einförmigen Masse der Ackerbauern schon Handwerker, Kaufleute, Müller, Förster, Gutsverwalter, Lehrer u. a. hervorgegangen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte jedoch in nur kurzer Zeit ein geradezu explosionsartiger gesellschaftlicher Wandel: in der Landbevölkerung traten nunmehr oft recht wohlhabende Bauernwirte [hervor und] aus Stadthandwerkern wurden Fabrikanten und Hausbesitzer. (Kaudzı¯te [Vorwort], S. 6f.)

Das Gesamtwerk von Blaumanis und anderen lettischen Schriftsteller_innen ist im Kontext dieses rapiden sozialen Aufstiegs der lettischen Bevölkerungsmehrheit aus der weitgehend rechtlosen Leibeigenschaft hin zu einer kulturell an West- und Mitteleuropa orientierten bürgerlichen Mittelschicht mit politischem Emanzipationsanspruch zu sehen. Die lettischen Intellektuellen sind selbst Teil dieser rapiden sozialen Umwälzung, die dann im Verlauf des 20. Jahrhunderts mit der Etablierung unabhängiger Staaten in Ostmitteleuropa erhebliche politische Konsequenzen haben wird.

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Die Novelle, ihre engrammatische Silhouette und ihre Wendepunkte

Nicht alle Probleme waren mit dem sozialen Aufstieg gelöst, denn »diese Entwicklung […] schuf ein sehr unruhiges, disharmonisches Klima« (Kaudzı¯te [Vorwort], S. 7). Der abrupte Beginn der Novellenhandlung von Andrikson führt sogleich beide zeittypische Konfliktparteien ein, von denen eine im Novellentitel Erwähnung findet: »Ein Wirt20 wünscht Sie zu sprechen, Herr Graf.« »Wer ist es?« »Der Klauzen.« »Gut. Ich komme…Was will er?« »Ich weiß nicht, Herr Graf. Er sagt es nicht.« (Blaumanis [1899] 2017, S. 177)

Der Graf – in der lettischen Version »baronlielskungs«, also zu Deutsch »BaronGroßherr«21 – hält in seinem Landschloss eine Art Audienz ab, bei der er subtile Mechanismen der Herrschaft durch geschickte Distanzierungen, aber auch der neuen Zeit geschuldete Gesten der Angleichung, etwa das Umgehen eines Handkusses, ausübt. Olfaktorischer Widerwille gegenüber den Pächtern spielt dabei auch eine Rolle: Allein im Speisezimmer, wohin er die Bauern beschieden, ließen sie einen so schweren Geruch von Transtiefeln und muffigen Kleidern zurück, dass er auf die Gewohnheit von Vater und Großvater zurückgreifen musste. So wollte er auch diesmal in den Korridor hinaustreten, als er sich erinnerte, Klauzen gehöre zu seinen intelligenten Pächtern. Der mochte sich also wohl schon vom Trangeruch emanzipiert haben. (Blaumanis [1899] 2017, S. 177)

Die nationale wie soziale Emanzipation der unteren Schichten, wozu, wie am Beispiel des Novellenautors selbst sichtbar wird, auch eine Schulbildung in der deutschen und / oder der lettischen Sprache gehört, schafft ebenso eine hygienische Angleichung zwischen den Herrschaftsebenen und ländlichen Hierarchien. Andrikson wird also vom »schlanke[n] Diener« ins »Speisezimmer« (Blaumanis [1899] 2017, S. 178) geführt. Dort zieht sich der Graf […] hinter den Speisetisch zurück. Der Mann konnte am Ende dennoch Transtiefel haben, und für diesen Fall bedeutete eine Entfernung von vier Schritt immerhin einen Vorteil. Außerdem ließ er sich von Leuten mit einiger Bildung nicht die Hand küssen. Der Tisch stellte also eine stumme Ablehnung des Handkusses dar, falls der Wirt Takt genug besaß, dies zu bemerken. Im Korridor schob der Graf gewöhnlich die Hände auf den Rücken, indem er dabei freundlich: ›nicht nötig, nicht nötig‹, sagte. Aber

20 ›Wirt‹ bedeutet im baltischen Deutsch ›Landwirt‹. 21 Vgl. Letonika: https://www.letonika.lv/literatura/Reader.aspx?r=150 [03. 12. 2020].

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er hatte dabei immer ein unangenehmes Gefühl und erschwerte daher, soviel er vermochte, die Ermöglichung solcher Szenen. (Blaumanis [1899] 2017, S. 178)

Die Ausübung der Herrschaft verschafft in der neuen Zeit unangenehme Gefühle; das seit Jahrhunderten Selbstverständliche gewinnt in der egalitären Moderne an Pein und Peinlichkeit. Die beiden Klassen und auch Ethnien werden in der Narration von Angesicht zu Angesicht konfrontiert: Der Gruß klang bescheiden, seine Erwiderung freundlich. Herr und Pächter blickten einander an. Der Graf sah in ein gebräuntes, volles, hübsches Bauerngesicht, aus dem Kraft und zufriedenes Selbstbewusstsein sprachen, der Wirt in feine blasse Züge, große, freundliche Augen und auf einen energischen Mund. (Blaumanis [1899] 2017, S. 178)

Die dramatische Szenengestaltung in der dialogisch angelegten ›Novelle als Schwester des Dramas‹ im Sinne Theodor Storms und Gustav Freytags, dessen Technik des Dramas Blaumanis und seine poetologischen Konzeptionen ab 1891 wesentlich prägte (vgl. Ziedonis 1979, S. 89), ist offensichtlich. In einer homosozialen Spiegelkonfrontation auf Augenhöhe deutet sich die bereits latent vorhandene Herrschafts-Rivalität (vgl. Kosofsky Sedgwick 1985, S. 21) der beiden landestypischen Repräsentanten an. Die zunächst ruhige Begegnung auf Augenhöhe mit beiderseitiger »schlaue[r] Höflichkeit« im Sinne Homi K. Bhabhas ist auch durch eine letztlich äußerst effiziente wie intelligente koloniale Mimikry als latente »Bedrohung« (Bhabha 2000, S. 136f.) mit »Kraft« und »Selbstbewusstsein« (Blaumanis [1899] 2017, S. 178) von Unten ermöglicht. Der Parteienstreit muss also differenziert betrachtet werden; Blaumanis bemüht sich um eine ausgleichende Sicht der jeweiligen Interessenlagen. Die neuen Zeiten zeigen sich auch in der Grundeinstellung des Grafen zu seiner Position. Er will kein altrussischer und altständischer Ausbeuter mehr sein: Von den reinsten Absichten beseelt, hatte er die Beamtenkarriere aufgegeben und war aufs Land gezogen, um seinen hundertundfünfzig Wirten Vorbild, Berater, Helfer, Beschützer zu sein. Sein Vater war kränkelnd jahrelang Winter für Winter in südliche Kurorte gereist, die Bewirtschaftung des Gutes einem wenig skrupulösen Verwandten überlassend. Was dieser durch seine Strenge an den Bauern gesündigt, das wollte der Graf sühnen. (Blaumanis [1899] 2017, S. 180)

Und dennoch entfachen die real existierenden materiellen Interessensgegensätze in der Sommerhitze einen ebenso hitzigen Streit zwischen ihm und Andrikson darüber, wem von beiden Parteien das Holz auf dem verpachteten Grund gefällter Eichen gehören soll. Es ist nicht der einzige Streit, den der neue Grundherr auf Schloss Baltesern, in dessen Name nicht zufällig die Bezeichnung der ganzen Region anklingt, mit den Pächtern auszutragen hat. Andrikson beruft sich jedoch auf alte Rodungsrechte aus den Zeiten der Fron und kann – in welcher (Landes-) Sprache bleibt durch die zweisprachige Narration bei Blaumanis unerwähnt und

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offen – dies auch präzise begründen. Er benötigt das Eichenholz für den Bau von Pferdewagen. Die Fahrten nach Riga dienen auch in anderen Novellen von Blaumanis den Bäuerinnen und Bauern zur Kapitalakkumulation.22 Der Graf ist in diesem althergebrachten Konflikt durch seine Rolle persönlich überfordert: »In der Theorie stellte er den intelligenten Edelmann neben den intelligenten Bauern, in der Wirklichkeit sprachen der jahrhundertelang vererbte Stolz und die aus diesem geborene Verachtung lauter als die Vernunft.« (Blaumanis [1899] 2017, S. 184). Hier steht Stolz gegen Stolz und gerade die Tatsache, dass der Grundherr ihm die Straftaxe für das Holzfällen teilweise erlassen will, empört den ehrbewussten Pächter mit den Worten »Ich verzichte auf Ihre Güte, Herr Graf« (Blaumanis [1899] 2017, S. 187), weil er sich trotz oder gerade wegen dieses Entgegenkommens als des Diebstahls bezichtigt ansieht. Bei seinem Gegenüber führt dies zu eigentümlichen Reflexionen, auch in Anknüpfung an antike Fabeln: Er hatte nicht auf die warnenden Stimmen geachtet, welche ihm die Baltesernschen Bauern als eigenmächtig, überbildet und verwöhnt durch die lange Milde eines alten Seelenhirten dargestellt hatten. Er hatte an die Parabel von der Sonne und dem Sturm gedacht und war siegesgewiss in Schloss Baltesern eingezogen. Nun sah er den Kampf beginnen. (Blaumanis [1899] 2017, S. 180f.)

Dass Überbildung und nicht, wie es dem seit dem Mittelalter tradierten Bauernklischee entsprechen würde, Unbildung als Problem der Lettinnen und Letten gilt, mag faktisch sogar zutreffen.23 Diese hohe bäuerliche Bildung wird sich angesichts gewisser Ereignisse im Revolutionsjahr 1905 dann zum tatsächlichen Problem für die herrschenden Kreise im Baltikum entwickeln. In der Baltischen Monatsschrift wird zu den Ereignissen nämlich festgehalten, dass aufmüpfige Bauern im livländischen Ronneburg am 13. März des Revolutionsjahres selbstständig evangelische Kirchenlieder in Revolutionslieder umgedichtet hätten.24 Rebellisch zeigt sich auch Andrikson. Gerade die Tatsache, dass der Graf ihm die Strafe für den Holzschlag vermindern will, verletzt sein Rechtsbewusstsein. Erzürnt und ehrverletzt verlässt Andrikson das Schloss und rennt in den durch die Sommerdürre trockenen Forst. Nachdem er einen Mann beobachtet, der einen durch Zufall verursachten kleinen Waldbrand mit Mühe und Not löschen konnte, will er selbst ein diabolisches Rachefeuer entfachen: Er wollte weiter fliehen, aber mit unwiderstehlicher Gewalt zog es seine Blicke nach der Lichtung. Er musste sehen, wie der gelbe Teufel immer mehr gelbe, rote, bläuliche 22 So werden für die Raudup-Wirtin als Hoferbin die nach dem Tod ihres Mannes selbständig auszuführenden Fahrten nach Riga zum Problem, vgl. Blaumanis 2017, S. 89. 23 Dies hat auch mit dem Wirken protestantischer Bewegungen wie den Herrnhutern zu tun. »Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erreichte die Zahl der Lesekundigen in manchen lettischen und auch estnischen Gemeinden nahezu 90 Prozent.« Kl¸avin¸ˇs 2012, S. 6. 24 So festgehalten in einer Revolutionschronik in: Friedrich Bienemann 1907, S. 168.

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Teufelchen gebar, die mit großer und immer größerer Geschwindigkeit weiter sprangen, krochen, flogen. Geradeaus, nach rechts, nach links wälzten sie sich fort, ein immer lauteres Sausen und Knattern verursachend. (Blaumanis [1899] 2017, S. 191)

In der Symbolik des teuflischen Feuerchens verkörpert sich die Verführung zur Brandstiftung in der kulturprotestantischen Narrationstechnik eines mehrfachen Schriftsinns.25 Auch in Goethes Novelle markiert das revolutionäre Feuer zudem die ›unerhörte Begebenheit‹ wie auch die Peripetie (vgl. Füllmann 2010, S. 106), den novellistischen »auffallenden Wendepunkt« im Sinne Ludwig Tiecks ([1829] 1973, S. 53). Ein hochsymbolischer Flächenbrand droht das ganze Waldland zu verheeren, das für alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft den Lebensraum ausmacht. Schnell packt Andrikson die Reue und der lettische Michael Kohlhaas findet Mittel und Wege, um als Anführer der anderen Dorfbewohner den Waldbrand zu bekämpfen, dem auch seine eigenen, im Forst vermissten Kinder, es sind den lettischen Namen nach Knaben, beim Beerensuchen zum Opfer fallen könnten. Er fordert Hilfe von seinem Gesinde: »›Ich weiß nicht.‹, antwortete Andrikson matt. ›Suchet. Löscht. Suchet doch noch…‹ ›Ach Wirt, die Kinder sind sicherlich zu Hause. Ganz gewiss. Du hast uns ganz unnütz erschreckt.‹« (Blaumanis [1899] 2017, S. 195) Die Sorge prägt nun auch den Pächter existenziell, im Gegensatz zu den auch angesichts der Brandkatastrophe verantwortungslosen Dienstleuten, die in ihrer Beschwichtigungsmentalität anscheinend weder die Brandlöschung noch die Rettung der Kinder Andriksons mit Nachdruck betreiben wollen. Durch die soziale Angleichung hat auch er nicht nur seine Kinder zu verlieren, denn wie der Graf hat auch der lettische Landwirt bereits Dienstboten: »›Man solle die Spitze in Sicherheit bringen und den Leuten helfen gehen‹, sagte der Graf. Die Anordnung wurde befolgt, und Andrikson arbeitete wieder an der Spitze seiner Dienstboten« (Blaumanis [1899] 2017, S. 196). Die Rettung des heimatlichen Waldes, um den zuvor gestritten wurde, zeigt, dass der Graf und sein Kontrahent nun an einem Strang ziehen; der Graf greift dabei selbst zur Schaufel, um einem ermatteten alten Mann zu helfen (Blaumanis [1899] 2017, S. 197). Das gemeinsame Land symbolisiert geheimnisvoll-offenbar ein gemeinsames Interesse, angesichts dessen eine Destruktion des zuvor konstruierten Konflikts zwischen dem Grundherrn und dem Pächter erfolgt. Plötzlich haben beide Kontrahenten ein gemeinsames existenzielles Anliegen: die Rettung des Landes und seiner Menschen vor der Brandgefahr. Todorov betont, dass jede Novelle in sich schon den Tod eines vorherigen narrativen Systems in sich trägt (Todorov 1977, S. 109). Diese Struktur ist bei Blaumanis gleichzeitig destruktiv und kreativ – eine schöpferische Zerstörung. 25 Vgl. zu dieser Erzähltechnik bei Blaumanis: Füllmann 2016, S. 341–349.

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Nachdem der Graf und Andrikson gemeinsam den Brand bekämpft haben und der Grundherr dem Pächter seine vor dem Feuer geretteten Kinder zuführt, folgt ein Geständnis des Brandstifters, ein novellentypischer Umschlag vom Nichtwissen zur bitteren Gewissheit: Sie sahen sich an. Der Graf fuhr zurück. »Ich bin… ich habe…« »Andrikson!« schrie der Graf auf, faßte sich schnell und wiederholte schmerzlich: »Andrikson, Andrikson!« (Blaumanis [1899] 2017, S. 202)

Hier zeigt sich exemplarisch die Technik der Anagnorisis in der dramatischen Novellenhandlung. In Gustav Freytags Technik des Dramas meint die Anagnorisis »Erkennungsszenen« (Freytag [1886] 1983, S. 94), mithin das Wiedererkennen des wahren Wesens zweier Personen in einem literarischen Kunstwerk. Die Anagnorisis ist folglich das Durchschauen der wahren Situation; in diesem Fall der Täterschaft des Pächters. Zudem bewahrheitet sich eine weitere Feststellung Freytags: »Häufig wurden solche Erkennungsszenen zu Peripetiemomenten.« (Freytag [1886] 1983, S. 95) Hier ist es die letzte Wende vom naiven Nichtwissen zum ernüchternden Wissen. Für Freytag bewahren die »Novellenstoffe gut die Einheit der Handlung« (Freytag [1886] 1983, S. 46) und sein Adept Blaumanis beherrscht das Novellenhandwerk: »Als typisch realistischem Erzähler gelingt es ihm, mit wenigen markanten Strichen ein Milieu, eine Landschaft oder einen Charakter zu umreißen.« (Kindlers neues Literatur-Lexikon, Bd. 2, S. 760) Durch den klar konturierten Handlungsstrang der novellistischen Narration eröffnet sich ein tiefer Einblick in die dargestellte soziale Konfliktlage zweier Repräsentanten ihrer jeweiligen Stände, der einer adäquaten didaktischen Gestaltung bedarf. Hierbei verbinden sich sozial- und literaturgeschichtliche Perspektiven. In der Novelle als klassischer Gattung verbirgt sich ein neuer und brisanter Sozialkonflikt um das Anrecht auf das von den beiden Protagonisten, dem Grafen wie dem Bauern, bewohnte Land.

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Aspekte der Gattungsdidaktik: Andrikson als novellistischer Prototyp

Der promovierte Romanist und spätere Nobelpreisträger Paul Heyse, für Blaumanis ein bedeutender Novellist,26 betont 1871 im Vorwort des von ihm herausgegebenen Deutschen Novellenschatzes, dass die Novelle nicht ein »Kultur26 Blaumanis schätzt Heyse in einem auf Lettisch verfassten Brief vom 25. 4. 1905 an den jungen

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und Gesellschaftsbild im Großen«, sondern ein »Weltbild im Kleinen entfaltet«. Das Bildliche steht bei Heyse – wie bei vielen anderen Novellisten – über dem Abstrakten. »Die Geschichte, nicht die Zustände, das Ereigniß, nicht die sich in ihm widerspiegelende Weltanschauung, sind hier die Hauptsache« (Heyse 1973, S. 67f.). Die Novelle erscheint Heyse als isoliertes Experiment im Gegensatz zur romanhaften Breite: Im Allgemeinen aber halten wir auch bei der Auswahl für unsern Novellenschatz an der Regel fest, der Novelle den Vorzug zu geben, deren Grundmotiv sich am deutlichsten abrundet und – mehr oder weniger gehaltvoll – etwas Eigenartiges, Spezifisches schon in der bloßen Anlage verrät. Eine starke Silhouette – um nochmals einen Ausdruck der Malersprache zu Hülfe zu nehmen – dürfte dem, was wir im eigentlichen Sinne Novelle nennen, nicht fehlen, ja wir glauben, die Probe auf die Trefflichkeit eines novellistischen Motivs werde in den meisten Fällen darin bestehen, ob der Versuch gelingt, den Inhalt in wenige Zeilen zusammenzufassen, in der Weise, wie die alten Italiener ihren Novellen kurze Überschriften gaben, die dem Kundigen schon im Keim den spezifischen Wert des Themas verraten. (Ebd.)

Die unerhörte Handlung der Novelle um den Landherrn und seinen abhängigen Pächter besitzt die von Paul Heyse geforderte gattungstypische »starke Silhouette«27. Dies fügt sich zum Umstand, dass laut Peter Bekes »Erzählungen mittleren Umfangs […] im Deutschunterricht kontinuierlich von der 5. bis zur 12. bzw. 13. Jahrgangsstufe gelesen« werden: Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Das Figurenarsenal und das Geschehen dieser Texte sind in der Regel überschaubar, nicht selten sind sie linear erzählt und auch ihre Tektonik lässt sich […] von den Schülern gut rekonstruieren. Dazu haben die Kernlehrpläne der einzelnen Bundesländer – vornehmlich im Kernbereich ›Lesen – Umgang mit Texten und Medien‹ – durchgehend eine Reihe von Kompetenzerwartungen formuliert. In erster Linie sollen Strukturen epischer Texte und Funktionen der sie konstituierenden Kategorien wie Handlung, Figur, Raum, Zeit untersucht und ihre Bedeutungen für die Entwicklung von schlüssigen Sinnkonstruktionen erläutert werden. [In diesem Fall tritt neben] gattungstypische[n] Gestaltungsformen [auch das] Spiel mit Motiven und Symbolen, […] Verfremdungs- und Pointierungstechniken [in den didaktischen Fokus]. In den Lehrplänen für den Deutschunterricht hat der Erwerb von poetologischen Kompetenzen […] einen erheblichen Stellenwert. […] Schüler sollen – in Anlehnung an die Prototypenlehre – typische Beispiele von Erzählungen und Novellen kennenlernen. (Bekes 2015, S. 15; S. 18)

Das »Ähnlichkeitsdenken« (Köster 2015, S. 66), das angesichts vergleichbarer und doch verschiedener Texte zu einer fassbaren Gattungsvorstellung verhilft, kann so u. a. novellenspezifisch gefördert werden. Schriftsteller Ka¯rlis Sˇtrals (1880–1970) als ›berühmten Novellisten‹, aber unfähigen Dramatiker ein, vgl. Volkova 2017, S. 80. 27 Vgl. zu Heyses Falkentheorie: Füllmann 2010, S. 37.

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Der eindeutige Konflikt, der gerafft dargebotene Erzählstrang, der mit der Brandstiftung auch eine Wende des jeweiligen moralischen Kapitals der Schichtprotagonisten markiert, die Natursymbolik von Eiche und Wald: all dies zeigt, dass die vorliegende Novelle von Blaumanis für den Unterricht geeignet ist. Dies gilt über den konkreten Fall hinaus: »Der privat unbewusste Gehalt wird beim Dichter in ein kulturell allgemeines Symbolsystem so eingefügt, dass er mittransportiert und verhüllt ›objektiviert‹ wird.« (Lorenzer 1988, S. 38) Dies sind »›Prototypische Vorstellungen‹ als mentale [Bilder, Anm. d. Verf.] von typischen Vertretern einer Gattung« (Köster 2015, S. 66) bzw. Engramme,28 die nach Lorenzer in »genau umschriebenen ›Gehirnrealien‹ ihre Ablagerung finden« (Lorenzer 1988, S. 41) und der Literaturtheorie im Allgemeinen wie der Novellentheorie im Besondern eine anthropologische Fundierung verleihen. Die im Unterricht gut fassbare kristalline Novellensilhouette29 der Blaumanis-Novelle entspricht demnach psychologisch dem Engramm: Diese Engramme sind ›Erinnerungsspuren‹, wie Freud sagt. Und natürlich sind sie die Engramme eines Menschen. Sie haben also ein individuelles Profil. […] So wie die Sinnesqualitäten […] zusammenfließen zur Gestalt einer Objektvorstellung, so fügen sich die verschiedenen in einer Situation wahrgenommenen Objekte zu konkreten Szenen. (Lorenzer 1988, S. 42)

»Das Primat des Szenischen« (ebd.) des Novellendramas auf dem ländlichen Schauplatz zwischen Hof, Gutshaus und Wald führt auch zur didaktischen »Stärkung des Formbewusstsein[s]« (Köster 2015, S. 61). Entsprechende Tafelbilder zur konfliktären Handlungssteigerung sowie zu dem zentralen Wendepunkt bei der Entfachung des Flächenbrands durch den wutentbrannten Andrikson und zur erkennenden Anagnorisis am Schluss sind hier textuell eindeutig vorgeprägt.

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Didaktische Aspekte der Novelle von Andrikson und dem Grafen unter transkulturellem Blickwinkel

Die didaktische Relevanz der in Lettland durchaus bekannten Novelle ergibt sich nicht nur aus ihrer strukturellen entwicklungsgeschichtlichen wie prototypischen novellistischen Prägnanz, dem »zeichenhaft[n] Charakter novellistischen Erzählens« (Bekes 2015, S. 27), sondern auch aus ihrer multiperspektivischen Relevanz als exemplarischer Bericht aus der Zeitgeschichte Ostmitteleuropas.

28 Vgl. hierzu: Füllmann 2016, S. 157f. 29 Vgl. zur ›physikalischen‹ Poetik Heyses: Aust 2012, S. 37ff.

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Dies ist eine Region, auf die im deutschen Sprachraum ein Gutteil der heutigen Schüler_innen jeden Alters ihren Migrationshintergrund zurückführen kann. Unter der Perspektive einer transkulturellen Literaturdidaktik kann der Text sehr wohl einige diesbezügliche Anforderungen Werner Wintersteiners an einen Lerngegenstand erfüllen. Durch die Betonung der sozialen Frage im längst anachronistisch gewordenen altbaltischen Feudalismus und der sozialen Konfliktlage jenseits multikultureller Folklore vermeidet die Erzählung »die Falle des Kulturalismus, der alle sozialen Probleme zu kulturellen umdeutet« (Wintersteiner 2006a, S. 184). Und dennoch kann der Perspektivwechsel zwischen den handfesten sozioökonomischen Interessenlagen der Ober- und der Mittelschicht in dem modellhaften livländischen Gut »zu kritischer und selbstkritischer Beschäftigung mit den Literaturen des eigenen Kulturraums wie auch in besonderer Weise mit den ›transkulturellen Literaturen‹« (Wintersteiner 2006a, S. 185) führen. So eröffnet sich anhand der alten Dorfgeschichte von der äußersten Grenze des deutschen Sprachgebiets ein Blick »für neue, bisher nicht kanonisierte oder für den Unterricht in Betracht gezogene Literatur.« (Ebd.) Insbesondere durch die Behandlung einer sozial konfliktgeladenen Novelle wie der über Andrikson und seinen Grundherren, sei es im literatur- und kulturgeschichtlich vertiefenden Schulunterricht der Sekundarstufe II oder bereits vorher, könnte es gelingen, »Gemeinsames und Verbindendes zu finden und somit die Fremdheit des Anderen punktuell zu überwinden« (Wintersteiner 2006a, S. 187). Abhängige Pächter und reiche Gutserben gibt es schließlich auch innerhalb einzelner Sprachgruppen. So stellt sich auch angesichts einer anti-narrativen Technik des Verschweigens, insbesondere in Form des verschwiegenen Geständnisses des Andrikson, der verschwiegenen Ethnizität der Kontrahenten sowie der verschwiegenen Streitsprache als Medium des Konflikts30 letztlich die Frage: Besteht die Transkulturalität in diesem Narrativ aus dem Gegensatz zwischen Ethnien und ihren kulturellen Ausprägungen? Oder beruht sie vielmehr auf dem Interessengegensatz und der Interessenangleichung zwischen einer sozioökonomischen Grundherren- und einer Pächterkultur? Für die Deutschdidaktik bedeutet die Beschäftigung mit Blaumanis, dass durch die Behandlung seiner Werke eine Vision »transkultureller Forschung« als »Überwindung noch bestehender kultureller Grenzen und Hierarchisierungen hin zu transversalen kulturellen Identitäten« (Papadimitriou 2014, S. 124) ermöglicht wird. Gerade die Allgemeingültigkeit eines ›Kategorischen Imperativs‹, gegen den eine Brandstiftung ebenso eindeutig verstößt wie eine ungerechte Besitzverteilung, kann im »Zuge eines fiktionalen Spiels« (Fiebich 2016, S. 169) 30 Dies ist ein Umstand, auf den man auch in anderen mitteleuropäischen Erzählungen, z. B. auch Er lasst die Hand küssen oder Krambambuli von Marie von Ebner-Eschenbach (1830– 1916) aus Mähren, trifft.

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auf novellistischer Basis gemeinsam in der Lerngruppe erarbeitet werden. Schließlich ist für Kant »der eine einzige und mit Gerechtigkeit vereinbare Zweck das allgemeine Wohl« (Russell 1983, S. 721). Das in den Auseinandersetzungen zwischen dem Grafen und Andrikson plastische »Prinzip der Dialogizität« in der Literatur als »besondere[r] Form ›transversaler Vernunft‹« (Fiebich 2016, S. 178) nach Wolfgang Welsch ermöglicht das literarische Lernen als »Perspektivübernahme«, mithin als »besondere[r] Beitrag für die moralische Entwicklung« (Spinner 2015, S. 80).

5

Vorschläge für die Unterrichtspraxis

Obige Überlegungen eröffnen der Unterrichtspraxis ein breites methodisches Spektrum, das im Folgenden stichpunktartig durch praktische Anregungen veranschaulicht wird. Folgende Schritte sind empfehlenswert, um den Text in seiner vollen Komplexität zu erfassen: – Schüler_innen erstellen Tafelbilder des Novellenverlaufs und des novellistischen Dreiecks in Bezug auf die Rivalität der Protagonisten um Bäume und Land. Dies könnte einer ersten Erarbeitung der novellistischen Handlungslogik zuträglich sein. – Die Lernenden erarbeiten den Interessenkonflikt durch Nachstellen des Dialogs. Eine alternative Konfliktlösung (auch ohne Kenntnis des weiteren Novellenverlaufs) könnte dann gemeinsam entworfen werden. – Tagebuchaufzeichnungen des Grafen, des Pächters, seiner Frau und seiner Kinder über die ›unerhörte Begebenheit‹ des Flächenbrandes könnten, um einen Perspektivwechsel zu ermöglichen, im Rahmen eines produktionsorientierten Literaturunterrichts verfasst werden. – Auch die Simulation einer Gerichtsverhandlung gegen Andrikson wegen Brandstiftung, einschließlich Videoaufzeichnung, könnte die Dimensionen der dargestellten Problemlage erschließen. – Eine reflektierende Pro- und Kontradiskussion der Positionen von Grundherr und Pächter könnte damit verquickt werden. – Schließlich wäre ein Transfer des Konflikts auf heutige Interessengegensätze, etwa am Arbeitsplatz, durchaus sinnvoll. Der literarische Text vom damaligen Rand des deutschen Sprachgebiets scheint mithin »zum Nachvollzug von Erlebnisperspektiven und zum Nachdenken über Konfliktsituationen« (Spinner 2015, S. 86) durchaus anregen zu können. Moralität liegt »in der Empathiefähigkeit und in der Vernunft eines jeden. Diese inneren Kräfte gilt es deshalb im Unterricht zu stärken – im Vertrauen darauf, dass die Heranwachsenden ihren Weg selbst finden können« (ebd.).

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Rolf Füllmann

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Winfried Adam

Weit mehr als Kafka – literarische Texte aus und über Mittelosteuropa im Deutschunterricht

1

Vorüberlegungen

Während eine Publikation der bayerischen Akademie für Lehrerfortbildung in Dillingen aus dem Jahr 2000 mit dem programmatischen Titel Vom Baltikum zum Balkan die Behandlung mittelosteuropäischer Kultur- oder Literaturregionen im (Deutsch-)Unterricht dringlich anmahnt und dabei zahlreiche Beispiele und Vorhaben für die schulische Praxis anführt (vgl. Akademiebericht Dillingen 2000, S. 11–20), muss zwei Jahrzehnte später für alle deutschen Bundesländer festgestellt werden, dass Franz Kafka nahezu der einzige Autor aus Mittelosteuropa ist, der seinen Platz im schulischen Lektürekanon behaupten kann. Freilich wird Kafka in erster Linie als Autor der klassischen Moderne behandelt, der etwa für parabolisches Erzählen und die Thematisierung problematischer Familienkonstellationen steht; er wird jedoch in den wenigsten Fällen als Exponent einer Prager deutschen Literatur mit ihren spezifischen kulturellen Voraussetzungen und Wechselbedingungen thematisiert.1 Insofern muss konstatiert werden, dass die (vergangenen) multiethnischen Lebenswelten Mittelosteuropas und deren literarische Rezeption im Bereich des Deutschunterrichts weitgehend eine terra incognita darstellen. Generell lässt sich sagen, dass die Gebiete östlich von Deutschland einerseits bei vielen Schüler_innen – und in den meisten Fällen auch Lehrkräften – eher diffuse und negative Assoziationen hervorrufen, wie sie der Historiker Karl Schlögel in seinen Überlegungen zu ›mental maps‹ in Europa beschrieben hat: Es ist klar, dass ›der Osten‹ oder ›der deutsche Osten‹ nicht nur und vielleicht nicht einmal in erster Linie von Geographie handeln. Er handelt von kulturellen Spannungen, von Phobien und Idiosynkrasien, von Überlegenheits- und Minderwertigkeitskomplexen, von Ängsten und Projektionen. (Schlögel 2003, S. 248) 1 Überdeutlich demonstrierte diesen Umstand die (ernst gemeinte!) Frage meiner Oberstufenschüler_innen zu Beginn einer Unterrichtssequenz über Kafkas Verwandlung, ob ich, da ich ja länger in Tschechien gelebt habe, das Werk denn im tschechischen Original gelesen hätte.

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Andererseits gibt es in Folge des Zerfalls von Jugoslawien und der Freizügigkeit innerhalb der EU schon seit den 1990er Jahren eine steigende Zahl von Schüler_innen mit Zuwanderungsgeschichte aus Mittelost- bzw. Südosteuropa. Daher stellen die sehr disparaten Wahrnehmungen des Raumes Mittelosteuropa innerhalb der Schülerschaft eine besondere didaktische Herausforderung dar, die zur Reflexion über die damit verbundenen Identitäts- und Alteritätskonstrukte beitragen kann. Die Literaturdidaktik hat auf diese Entwicklung reagiert und unter dem Transkulturalitätsansatz das Aufbrechen traditioneller Kanones und Herangehensweisen an Texte im Deutschunterricht eingefordert (vgl. Wintersteiner 2006); eine neuere Studie greift dieses Paradigma auf und diskutiert anhand eines Romans der Nobelpreisträgerin Hertha Müller Möglichkeiten und Potentiale einer transkulturellen Didaktik (vgl. Papadimitriou 2014). Dieser Beitrag versteht sich daher als praktische Ergänzung zu diesen Überlegungen und möchte drei nichtkanonischen Erzähltexten aus Mittelosteuropa eine stärkere Resonanz verschaffen, indem die Konturen und Dimensionen der literarischen Erinnerung an die gemischtnationalen Lebenswelten dieser Regionen ausgeleuchtet werden und geprüft wird, in welcher Form der schulische Literaturunterricht Zugänge zu diesen Erzählungen ermöglichen kann.2 Räume und Epochenumbrüche bzw. -schwellen stehen im Mittelpunkt dieses Bandes – diesbezüglich sollen die drei Texte kurz eingeordnet werden: Joseph Roth erzählt in seinem im Pariser Exil entstandenen Roman bzw. der Novelle3 Das falsche Gewicht die Geschichte des k. u. k. Eichmeisters Anselm Eibenschütz aus dem mährischen Nikolsburg / Mikulov, der an die galizische Nordost-Grenze der Habsburgermonarchie versetzt wird. Dort verliert Eibenschütz zusehends den Boden unter den Füßen, kann der kriminellen und abweisenden Umgebung im Grenzbezirk nicht standhalten, verliebt sich unglücklich in die Zigeunerin Euphemia und fällt schließlich selbst einem Verbrechen zum Opfer. Roth blickt hier in seinem Pariser Exil Ende der 1930er Jahre auf die ostgalizische Welt vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Der am wenigsten kanonisierte Autor Gregor von Rezzori, geboren 1914 in Czernowitz, legte in den 1970er Jahren einen Roman mit dem provokanten und irritierenden Titel Denkwürdigkeiten eines Antisemiten vor, der aus fünf weitgehend in sich geschlossenen Erzählungen besteht, in denen stets unterschied-

2 Mit jeweils um die 100 Seiten sollte der Umfang aller drei vorgestellten Texte kein Hindernis für die Behandlung im Unterricht darstellen. 3 In der Forschungsliteratur wird Das falsche Gewicht stets als Roman apostrophiert, aufgrund der knappen Konzentration auf das ›unerhörte‹ Schicksal des Eichmeisters könnte der Text jedoch auch als Beispiel für novellistisches Erzählen betrachtet werden.

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liche Ausformungen des Antisemitismus thematisiert werden.4 In der ersten Erzählung mit dem Titel Skutschno wird eine 13jährige Ich-Erzählerfigur aufgrund schulischer Misserfolge zu Tante und Onkel in die damals rumänische Bukowina der Zwischenkriegszeit geschickt, wo sie sich in einer Art coming-ofage-Erfahrung mit ihrer Umgebung auseinandersetzen muss. Peter Härtling schließlich – der jüngste und im Schulkontext am stärksten etablierte Autor – verbrachte Teile seiner Kindheit und Jugend während des Zweiten Weltkriegs in den mährischen Städten Brünn / Brno und Olmütz / Olomouc. Aus diesen biographischen Prägungen entstand 1994 die Novelle Bozˇena, welche die Geschichte einer jungen Tschechin erzählt, die während der Protektoratszeit für einen deutschen Rechtsanwalt gearbeitet hat und nach Kriegsende 1945 als Kollaborateurin verleumdet und vom neuen Regime ausgegrenzt und marginalisiert wird. Wenngleich alle drei Texte vom inhaltlichen Sujet und in ihrer ästhetischen Gestaltung sehr unterschiedlich angelegt sind, zeigen sich in Bezug auf ihre räumlichen und zeitlichen Dimensionen zwei auffällige Gemeinsamkeiten: Zum einen wird in allen drei Texten ein Szenario der Provinz oder der Peripherie entworfen – entsprechende Metropolen wie Wien, Prag, usw. fungieren lediglich als vage Bezugspunkte ohne herausragende Bedeutung für die Handlung. Zum anderen setzt das Erzählen über die vergangenen Welten Mittelosteuropas stets einen Epochenumbruch voraus: bei Joseph Roth nach den Umwälzungen des Ersten Weltkriegs, bei Rezzori den Einschnitt des Zweiten Weltkriegs und bei Peter Härtling schließlich das Wendejahr 1989. Der von Gregor von Rezzori selbst geprägte Begriff der »Epochenverschleppung« (Körte 2013, S. 313) für sein literarisches Schaffen kann somit in diesem Zusammenhang auch ein Stück weit für Joseph Roth und Peter Härtling geltend gemacht werden.

2

Zu den einzelnen Texten

2.1

Joseph Roth: Das falsche Gewicht

»Es war einmal im Bezirk Zlotograd ein Eichmeister, der hieß Anselm Eibenschütz« (Roth [1937] 1991, S. 129). Mit diesem märchenhaften Ton setzt die Erzählung von Joseph Roth ein und dieser konventionelle, auktoriale Erzählduktus dominiert den Text weitgehend. Nichtsdestotrotz wird mit Gericht, Polizei, Militär und eben der Person des Eichmeisters ein recht präzises und kon4 Rezzoris Texte erfuhren zunächst in ihren englischen Übersetzungen eine stärkere Rezeption, erst nach seinem Tod im Jahre 1998 gerät sein Werk verstärkt ins Blickfeld der germanistischen Literaturwissenschaft (vgl. Körte 2013, S. 313).

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kretes Tableau habsburgischer Herrschaftspraxis an den östlichen Grenzen des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn entworfen. Zentraler Ort des Textes ist neben der Bezirksstadt Zlotograd die abseits gelegene Grenzschänke, die als eine Relaisstation für verbrecherische Aktivitäten zwischen Österreich-Ungarn und Russland fungiert: Taugenichtse und Verbrecher verkehrten in der Grenzschenke Jadlowkers; Landstreicher, Bettler, Diebe und Räuber beherbergte er. Und dermaßen schlau war er, dass ihm das Gesetz nicht beikommen konnte. Immer waren seine Papiere und die seiner Gäste in Ordnung. Nichts Nachteiliges, nichts Unsittliches konnten über seinen Lebenswandel die beruflichen Spitzel berichten, die an der Grenze herumwimmelten wie Mücken. […] Österreichische Deserteure, die nach Russland, russische, die nach Österreich flüchteten, tauschte er gewissermaßen aus. (Ebd., S. 140)

Die Grenzschänke bildet im Roman eine Art exterritorialen Raum, einen liminalen Ort, der sich außerhalb jeglichen staatlichen Hoheitsanspruchs befindet. Obgleich sich der Staat um die Schänke »kümmert« (ebd., S. 173) und den Eichmeister nach der Verhaftung des Wirts Jadlowker sogar als Verwalter einsetzt, bleibt die Schänke von allen äußeren Einwirkungen seltsam unberührt. So wird sie nicht vom Ausbruch der gefürchteten Cholera tangiert, die in der Region wütet. Mehr noch: Die Grenzschänke gerät in der Erzählung zu einem Ort, an dem sich Gegensätze und Dualismen auflösen, Ordnungen und Definitionen der äußeren, habsburgischen Herrschaftswelt keine Gültigkeit besitzen. Besonders zeigt sich das im Verhältnis von Eibenschütz zu der Zigeunerin Euphemia, die dort lebt und eine Zeit lang seine Geliebte ist. »Schwarz, wild und sanft zugleich sah sie aus. Jung war sie, das heißt eigentlich: ohne irgendein Alter« (ebd., S. 148), berichtet der Erzähler, als sie der Eichmeister zum ersten Mal in der Gaststube erblickt. Später wird Eibenschütz, der »Vollstrecker unerbittlicher Gesetze«, zum »Lehrling« (ebd., S. 179), als er Euphemia im Laden der Schenke zur Hand geht. Euphemias Geliebter Sameschkin aus Bessarabien kommt über den Winter und nimmt den Platz von Eibenschütz ein. Das Liebespaar erinnert den Eichmeister jedoch mehr an »Bruder und Schwester« (ebd., S. 189) und er beginnt überdies zu seinem Nebenbuhler Sameschkin ein freundschaftlich-brüderliches Verhältnis zu entwickeln (vgl. ebd., S. 191f.). Dieser stete Gestus der Ambivalenz prägt insbesondere die – parabolisch zu lesende – Schlussszene des Textes, die den sterbenden Eichmeister zeigt. Eibenschütz phantasiert in seiner Todesstunde, dass er selbst ein armer galizischer Händler sei, dessen Gewichte vom »großen Eichmeister« überprüft werden, und dieser stellt fest: »Alle deine Gewichte sind falsch, und alle sind dennoch richtig. Wir werden dich also nicht anzeigen« (ebd., S. 222). Die binäre Einteilung der Welt – wie sie auch Grenzen leisten – wird hier von einer metaphysischen Autorität im Sinne eines Lebensresümees in Frage gestellt und verliert damit an Relevanz.

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Aufgrund des Umfangs und von seiner insgesamt konventionellen erzählerischen Gestaltung her betrachtet, erscheint Das falsche Gewicht für Schüler_innen zunächst leicht zugänglich, schwieriger verhält es sich mit der im Text evozierten ostgalizischen Lebenswelt, die der Erzähler gleich zu Beginn des Romans als »fernen Osten der Monarchie« (ebd., S. 131) klassifiziert. Insofern bietet die Lektüre des Textes die Möglichkeit, sich in fächerübergreifender Perspektive, etwa unter Einbeziehung von Geschichte / Geographie / Religion, dieser versunkenen – im Fall des Ostjudentums (vgl. hier die Figur Mendel Singer)5 sogar endgültig vernichteten – Kulturlandschaft Galiziens anzunähern. Das stärkste literaturdidaktische Argument für die Behandlung im Unterricht bilden meines Erachtens jedoch die auf mehreren Ebenen vorhandenen Strukturen der Ambivalenz (vgl. Hartmann 2006, S. 64), die den Text kennzeichnen: Das beginnt bei der Darstellung der Figuren, die sich weitgehend einer eindeutig positiven oder negativen Charakterisierung entziehen, es lässt sich weiter exemplarisch mithilfe der Handlung in der Grenzschänke zeigen und findet seine Fortsetzung in dem eben erwähnten, metaphysischen Schlussakkord des Romans. Hier gilt es, bei den Schüler_innen ein Bewusstsein für uneindeutige Zuordnungen zu schaffen. Insofern ermuntert Joseph Roths Text sie dazu, sich auf Sinnbildungsprozesse einzulassen, die nicht ohne Weiteres zu einem definitiven Ende kommen (vgl. Spinner 2006, S. 12). Unterrichtspraktisch hat sich als Einstieg zu diesem Text eine konventionelle, sprich: biographische Annäherung bewährt, die das Emigrantenschicksal von Joseph Roth im Paris der später 1930er Jahre thematisiert. So erfolgte bei Roth der Blick auf die galizische Lebenswelt der Habsburger-Monarchie nach einer zweifachen Migration nach Westen aus einer Situation der Marginalisierung und Vereinsamung. Deutlich bringt der Publizist Walter Mehring die prekären Lebensumstände des Autors im französischen Exil zum Ausdruck: Roth war in den Orden der Trunkenbolde eingetreten, um den Versuchungen der Nüchternheit zu entgehen. Da die Sprache bis auf den letzten Wortgehalt ausgeleert worden war, schien ihm das geschriebene Wort buchstäblich der letzte Halt zu sein. (Mehring [1952] 2013, S. 260f.)

Sehr anschaulich ist in diesem Zusammenhang ein signiertes Portrait des Autors durch den niederländischen Zeichner Mies Blomsma vom November 1938 (siehe Abbildung 1), das Roth mit folgenden Worten versehen hatte: »Das bin ich wirklich, böse, besoffen, aber gescheit.«

5 Mendel Singer tritt im Text als frommer ostjüdischer Händler auf, zugleich fungiert er als Hauptfigur in Joseph Roths Roman Hiob aus dem Jahr 1930.

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Abschließend sei hier noch auf die mehrfach preisgekrönte Verfilmung des Romans durch Bernhard Wicki aus dem Jahr 1971 hingewiesen, die gleichfalls bei der Behandlung des Textes eine Rolle spielen kann.6

Abbildung 1: Mies Blomsma: Joseph Roth. 1938, Zeichnung. (Lunzer & Lunzer-Talos 1994, S. 252)

6 Vgl. Bernhard Wicki: Das falsche Gewicht, 146 min, München: Intertel Television (Deutschland 1971). Diese sehr textnahe und anspruchsvolle Inszenierung konfligiert allerdings in hohem Maße mit den heutigen Sehgewohnheiten der Schüler_innen und kann daher allenfalls in Ausschnitten verwendet werden.

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2.2

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Gregor von Rezzori: Skutschno

Erläuterungen zu Sprache, Raum und Zeit bestimmen den Anfang der Erzählung: Die Ich-Erzählerfigur erklärt den russischen Begriff »Skutschno« (Rezzori 2004, S. 13), der eine Mischung aus Langeweile, Unlust und unbestimmter Sehnsucht bezeichnet und der die Verfasstheit der 13-jährigen Hauptfigur des Textes umschreibt, die schulische Versäumnisse aufholen muss. Der Handlungsort wird als »eine jener weltentlegenen, winzigen Kleinstädte mit zungenbrecherischen Namen« (Rezzori 2004, S. 18) klassifiziert, die Region Bukowina wird weiter als »eine heute fast astronomisch ferne Provinz im europäischen Südosten« (ebd.) bezeichnet und der Erzähler räumt ein, dass die dargestellten Dinge räumlich und zeitlich so weit entrückt seien, als hätte er das alles nur geträumt (vgl. ebd., S. 13f). Daraus resultiert im Text eine starke Differenz zwischen dem erinnerten und dem erinnernden Ich, die Erzählhaltung kann insgesamt als unzuverlässig bezeichnet werden (vgl. Körte 2013, S. 326). Interessant erscheint in diesem Zusammenhang der spielerische Umgang mit Alterität im Text: Während die Erzählung einen russischen Titel trägt und der Erzähler auf diesen immer wieder Bezug nimmt, stellt er in gleicher Weise fest, dass die fremden, weil ›östlichen‹, Ortsnamen kaum auszusprechen seien (vgl. Rezzori 2004, S. 18). Wie im vorigen Text wird der Übergangs- und zugleich Grenzcharakter des Handlungsortes betont sowie dessen koloniale Prägung durch die Habsburgermonarchie: Die ferne Ortschaft im östlichen Grenzland des ehemaligen habsburgischen Reiches […] lag im Schnittpunkt – oder wenn man will, an einer Scheuerstelle – zweier Zivilisationen. Die eine davon, die abendländische, hatte nicht Dauer genug gehabt, um Land und Leuten mehr zu bescheren als […] eine auf technische Kolonisierung abgestimmte Infrastruktur. (Ebd., S.22f.)

Als der Ich-Erzähler sich der deutschnationalen Burschentracht seines Onkels bemächtigt und damit herumläuft, kommentiert dies der undurchsichtige Privatgelehrte Stiassny7 aus Prag, der sich selbst als »Erbe des Verfalls« (ebd., S. 34) bezeichnet und als mittelloser Dauergast im Hause von Onkel und Tante lebt, auf ironische Weise: Wir sind allesamt Mischblut, wir Österreicher, ganz besonders wir sogenannten Deutschösterreicher: Kinder eines Imperiums von sehr vielerlei Völkerschaften, Rassen, Religionen: Wenn wir uns nicht witzigerweise auch jetzt noch, nach dem Verschwinden jenes sagenhaften Imperiums, als Österreicher fühlten, müssten wir zugeben, wir seien Amerikaner. […] Aber dazu fehlt es an politischem Verstand. (Ebd., S. 40)

7 Bei dem Namen handelt es sich um die eingedeutschte Version des tschechisch-slowakischen Familiennamen. Dieser hat die Bedeutung glücklich oder Glück bringend.

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Der Ich-Erzähler vermag diese doppeldeutigen Bemerkungen Stiassnys lediglich in Ansätzen zu erfassen und wird durch sein Auftreten immer wieder verunsichert. Die entscheidende Begegnung widerfährt dem Erzähler jedoch in Form einer kurzlebigen Freundschaft mit dem gleichaltrigen Wolf, dem Sohn des benachbarten jüdischen Arztes Dr. Goldmann am Ort. Diese Begegnung mit Jüdischem, also ›dem Anderen‹, wird vom Ich-Erzähler in einer Mischung aus Stereotypen und Faszination dargestellt: Er [Wolf] konnte, wenn er wollte, sehr gut Hochdeutsch sprechen, er ging in Wien zur Schule. […] Er sprach das Gemisch aus schlechtem Deutsch mit jiddischen und polnischen Ausdrücken – ›mauschelte‹ mit einem Wort, weil diese Sprachnachlässigkeit, die gleichwohl von einem scharfsichtigen, farbigen, in Witz getränkten Ausdrucksreichtum war, seinem Wesen, seinem raschen, wendigen Verstand und seiner unanfechtbaren Selbstgewissheit besser entsprach. (Ebd., S. 48)

Mittels dieser eingeschränkten und für die Leserschaft nach 1945 mindestens verstörenden Erzählersicht versucht Gregor von Rezzori, die Mechanismen antisemitischer Haltungen zu beschreiben. Die beiden Jungen freunden sich an, obgleich beide Familien in Distanz nebeneinander leben; schnell zeigt sich, dass Wolf dem Ich-Erzähler in vielerlei Hinsicht überlegen ist. Als hochbegabter Klavierspieler wird Wolf plötzlich ein häufiger und gern gesehener Gast im Haus der Tante, der Ich-Erzähler reagiert mit »neidischer Eifersucht« (ebd., S. 68). Die Freundschaft findet jedoch ein schnelles Ende, als der Ich-Erzähler Wolf beim Hantieren mit der Elektrisiermaschine von Dr. Goldmann starken Stromschlägen aussetzt, die ihm für einige Zeit das Klavier spielen unmöglich machen; der Vorfall belastet außerdem Stellung und Beziehungen der erwachsenen Protagonisten im Text. Insofern kann die Erzählung Skutschno auch als Modell gelesen werden, wie latente antisemitische Haltungen in Gewalt umschlagen können. Trotz des Adoleszenzthemas birgt der Text für einen Einsatz im Unterricht ganz erhebliche Hürden: Rezzoris häufige Bezugnahme auf nationale Diskurse bzw. den jüdischen Assimilationsdiskurs des 19. Jahrhunderts erfordern bei einer schulischen Lektüre die Vermittlung des entsprechenden historischen bzw. geistesgeschichtlichen Kontexts. Dies spiegelt sich mitunter auch in der sprachlichen Gestaltung und den entsprechenden Begrifflichkeiten der Erzählung wider, was die schulische Rezeption gleichfalls nicht erleichtert. So wird auf die Jugend des Onkels des Ich-Erzählers verwiesen, der als Burschenschaftler und schwärmerischer Deutschnationaler im ausgehenden 19. Jahrhundert in Konflikt mit übernationalen habsburgischen Staatsideen geriet (vgl. ebd., S. 29f.), während vom Vater des Nachbarjungen Wolf als überzeugten Zionisten berichtet wird (vgl. ebd., S. 58). Das schon angesprochene komplexe und differenzierte Erzählformat stellt zwar ebenfalls eine Herausforderung dar, bietet jedoch die Chance, die Perspektiven von

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literarischen Figuren zu problematisieren und narrative Handlungslogiken zu erfassen und diese zu diskutieren (vgl. Spinner 2006, S. 9f.). Insgesamt enthält Skutschno auf der Ebene der Darstellung wie auch beim verhandelten Thema ein erhebliches Irritationspotential für die schulischen Leser_innen, das bei geschickter unterrichtlicher Aufbereitung eine intensive wie produktive Auseinandersetzung über die Herausbildung und Folgewirkungen von – nicht nur nationalen – Identität(en) nahelegt.

2.3

Peter Härtling: Bozˇena

Dieser Text besitzt als einziger der drei Texte einen klar referenzierbaren autobiographischen Ausgangspunkt: Peter Härtling erzählt in der Novelle Bozˇena das Schicksal der tschechischen Sekretärin seines Vaters Rudolf Härtling, der während der Zeit des Protektorats als Rechtsanwalt im mährischen Olmütz tätig war. Nach der Niederlage der Deutschen 1945 beginnt der Leidensweg der Bozˇena Koska, die nun als Kollaborateurin verleumdet wird, Strafarbeit leisten muss und von ihrer Umgebung gedemütigt wird. Der novellistische Charakter des Textes zeigt sich in seiner ausschließlichen Konzentration auf die Hauptfigur, als zentraler Konflikt lässt sich ein individuelles Leben ausmachen, das eben zwischen den Nationalitäten, zwischen Siegern und Besiegten, zerrieben wird. Bozˇena, die sich in ihren verheirateten Arbeitgeber verliebt hat, versucht sich über diese unerwiderte Liebe und ihre liminale Situation zwischen den Nationalitäten keine Illusionen zu machen: Mit 24 Jahren sollte ich gescheit genug sein, Grenzen zu kennen, nicht meine, sondern alle die, die mir gezogen werden, eben weil ich 24 bin, eine Tschechin mit abgebrochenem Studium, aber auch eine, die für einen Deutschen arbeitet. Auf welcher Seite der Grenze ich mich auch aufhalte, ich stehe falsch. (Härtling 1994, S. 22)

Auch für ihren Chef, genannt »Herr Doktor«, spielen nationale und ethnische Grenzen keine Rolle, es wird angedeutet, dass er unter seinen Klienten auch Juden und Tschechen hat, die sich politisch strafbar gemacht haben (vgl. ebd., S. 25). Im letzten Jahr des Kriegs wird der Anwalt trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen eingezogen, die Kanzlei wird geschlossen, Bozˇena gerät aber immer stärker zwischen die nationalen Fronten. Der Text beschreibt präzise, wie sich Topographien und Sprachgebrauch in der Stadt Olmütz durch die absehbare Kriegsniederlage des Deutschen Reichs zu verändern beginnen. Bei Kriegsende erscheint Bozˇenas früherer tschechischer Liebhaber Pavel, beendet die Beziehung abrupt, und sie reagiert wie folgt: Für uns beide ist es zu spät, Bozˇena, sagte er. […] Am liebsten möchte sie ihm nachlaufen, auf die Straße, ihn fragen, wer dies eigentlich festlege, ob es früh oder zu spät sei,

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ob sie falsch oder richtig gelebt habe. Sie habe keine ansteckende Krankheit, keinem Menschen etwas angetan, niemanden verraten. (Ebd., S. 58)

Die Protagonistin beginnt, fiktive Liebebriefe an den verehrten »Herrn Doktor« zu schreiben, in denen sie ihre Situation der Ausgrenzung reflektiert. Verhöre, Beschimpfungen als »Nazinutte« (ebd., S. 75) bestimmen ihren Alltag. Das vor dem Krieg begonnene Jurastudium darf sie nicht fortsetzen, stattdessen wird sie einem Arbeitskommando zugeteilt. Ihr weiteres Leben erzählt die Novelle im Zeitraffer: Bozˇena gelingt es – allen Umständen zum Trotz – ein einigermaßen selbstbestimmtes Leben zu führen, sie kann später als Sekretärin in einer landwirtschaftlichen Genossenschaft arbeiten. Über die Jahre vor dem Prager Frühling heißt es: »Plötzlich ist der böse Faden gerissen, ihre Schande wird nicht mehr weiter erzählt, wenigstens, solange die Zeit keine Geiseln braucht« (ebd., S. 150). Erst in den 1970er Jahren muss sie erfahren, dass ihr »Herr Doktor« bereits 1945 in einem russischen Kriegsgefangenenlager gestorben ist. Härtling setzt mit Bozˇena auf sehr pointierte Weise ein individuelles (Frauen-) Schicksal einer Welt gegenüber, die sich der Vergeltung und der strengen Scheidung von ethnischen Gruppen verschrieben hat. Seine Dresdner Poetikvorlesungen, in denen Peter Härtling sein Schreiben über seine mährischen Kindheitswelten erläutert und nach dem Verhältnis von Gedächtnis und Wahrheit fragt, beschwören dagegen im Hinblick auf den Handlungsort seiner Novelle ein Stück weit eine kakanische Nostalgie, wie sie mitunter auch in Texten von Joseph Roth erscheint: Städte bereichern sich und verlieren. Olmütz hat einen habsburgischen Fundus, der sich geradezu triumphal in seiner Architektur ausdrückt. Ich habe dieses lichtsaugende Fassadengelb auch in Zagreb gesehen oder in Triest, in Verona und in Venedig. Es hat mich stets gewärmt. Aber es hat seine Sprache verloren. Deutsch sprechen allenfalls noch Besucher. Einmal, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, kannte die Stadt zwei, wenn nicht drei Sprachen, Tschechisch, Deutsch, Jiddisch. Wörter wie Pajes, Krebelachs, schmatteln gehörten zum allgemeinen Wortschatz. Servus grüßten alle. Dobrou noc und gute Nacht wurden selbstverständlich ausgetauscht. (Schmitz 2007, S. 54)

Härtling verweist hier dezidiert auf den Kulissencharakter jener mittelosteuropäischer Städte, die laut Karl Schlögel »eine Art Pompeji« (Schlögel 2002, S. 243) darstellen und nur noch in diesem Sinne Spuren eines früheren multiethnischen Zusammenlebens dokumentieren. Somit markiert Bozˇena den unwiderruflichen Abschied von diesen Lebenswelten, der mit dem Tod des »Herrn Doktors« nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Figurenebene seine Entsprechung findet. Blickt man bei dieser Novelle auf den Schulkontext, ist zunächst zu vermerken, dass der Text seit einigen Jahren in der Reihe Schulbibliothek der Moderne eines Schulbuchverlags erscheint, die als »originelle und fantasievolle Sammlung moderner Texte für den Unterricht« (http://www.cc.buchner.de) vom

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Verlag beworben wird. Der Band enthält neben einer Textausgabe mit Worterklärungen, Informationen zur Gattung und zum historischen Hintergrund Schlüsseltexte von Härtling zum Thema Lesen und drei Literaturkritiken zum Text, die dazugehörigen Arbeitsaufträge sind durchweg konventionell gehalten (vgl. Will 2016). In der Tat erscheint die Novelle Bozˇena als der für Schüler_innen am leichtesten zugängliche Text dieser Auswahl. Das liegt, abgesehen von der einfachen sprachlichen Gestaltung, am starken Identifikationspotential der Hauptfigur, das laut einiger Rezensionen zu stark ausgefallen ist, und sie bemängeln daher die rasterartige Darstellung und den suggestiven Erzählstil Härtlings, der den Leser_innen die Protagonistin Bozˇena als letztlich »seelenlose Märtyrerin« (Steinert 1995, S. 54) vorführt. Soweit man diese Kritik teilen kann, muss doch festgehalten werden, dass der Text ein inhaltlich im Unterricht völlig unterbelichtetes Thema aufgreift und diese Novelle in Verbindung mit weiteren essayistischen Texten von Härtling über seine Kindheit dazu einlädt, dem Spannungsverhältnis von Fiktion und Wirklichkeitsbezug in literarischen Texten nachzugehen (vgl. Spinner 2006, S.10f).

3

Fazit

Blickt man abschließend auf die drei vorgestellten Texte, so lässt sich feststellen, dass sie jeweils sehr unterschiedliche Konzeptionen von Fremdheit beinhalten: Als Vertreter der habsburgischen Zentralgewalt gelangt die Hauptfigur Anselm Eibenschütz bei Joseph Roth in die entlegene Provinz Galizien, deren Lebenswelt sich ihm nicht erschließt bzw. ihm feindlich gegenüber steht. »Sehr einsam war er, und er fühlte sich fremd und heimatlos« (Roth [1937] 1991, S. 134), bilanziert daher der Erzähler bereits zu Beginn des Romans die Situation von Eibenschütz. Der jugendliche Protagonist in Skutschno wird zwar gleichfalls mit einer fremden Umgebung konfrontiert, namentlich dem jüdischen Jungen Wolf und seiner Familie, darüber hinaus entfalten die ironischen Bemerkungen und Andeutungen über die Vergangenheit der Familie und das ebenfalls ironisch-distanzierte Verhalten der Figur Stiassny ihm gegenüber starke Irritationen: »Ich empfand die Perfidien dieser Rede eher, als dass ich sie verstanden hätte« (Rezzori 2004, S. 42), kommentiert das erinnernde Ich das Gebaren von Stiassny. Somit zeigen sich Elemente der Alterität auch auf der Ebene der Narration, indem die Erzählerinstanz im Text immer wieder durch andere Perspektiven konterkariert wird. Eine weitere Facette von Fremdheit zeigt die Novelle Bozˇena, deren Protagonistin sich in der Konstellation einer schnell wachsenden Distanz bzw. Feindschaft zwischen Deutschen und Tschechen befindet, in der auf ihren individuellen Lebensweg keine Rücksicht mehr genommen wird. »Ihre Welt wurde von Tag zu Tag fremder; das Vertraute begann, bedrohlich zu werden« (Härtling 1994, S. 41)

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wird daher resümiert, als sich Bozˇena gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in Olmütz immer stärker dafür rechtfertigen muss, dass sie als Tschechin für einen deutschen Rechtsanwalt gearbeitet hat. Wie lässt sich nun die Beschäftigung mit den literarischen Texten über die vergangenen gemischtnationalen Lebenswelten Mittelosteuropas für eine zeitgemäße, transkulturelle Literaturdidaktik fruchtbar machen? Keinesfalls wird es genügen, einen vergangenen Multikulturalismus zu feiern, der, wie Winfried Menninghaus am Beispiel von Czernowitz und der Bukowina überzeugend dargelegt hat, in dieser Form nie bestanden hat, aber heute vielfach als »idealisierte Chiffre mit Vorbildfunktion, wenn nicht für ganz Europa, so zumindest für ein multikulturelles Deutschland« (Menninghaus 1999, S. 348) fungiert. Vielmehr muss es darum gehen, diese verschiedenen, oben angedeuteten Erfahrungen von Fremdheit und Grenzen sowie die mannigfaltigen Ausformungen eines Miteinanders, Nebeneinanders und Gegeneinanders unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in Mittelosteuropa, wie es in den vorgestellten literarischen Texten repräsentiert wird, mit den Schüler_innen differenziert zu erarbeiten und in einem zweiten Schritt zu verdeutlichen, inwiefern die verhandelten Themen auch in unserer gegenwärtigen Welt relevant sind. So könnten die vorgestellten Erzählungen bei der Behandlung im Unterricht mit solchen gegenwartsliterarischen Texten kombiniert werden, die als Ausprägungen eines »Eastern European Turn« (Haines 2015, S. 145) eine vielbeachtete Entwicklung der deutschsprachigen Literatur darstellen. Joseph Roths Erzählwelt kann auf diese Weise mit der essayistischen Spurensuche der deutsch-russischen Autorin Katja Petrowskaja (vgl. Petrowskaja 2014) in Beziehung gesetzt werden; das von Peter Härtling aufgegriffene Sujet der Vertreibung findet beispielsweise seine Entsprechung in verschiedenen Arbeiten8 des auf Deutsch und Tschechisch publizierenden Autors Jaroslav Rudisˇ. »Wenigstens noch Kafka«, so müsste der eigentliche Titel dieses Beitrags lauten, angesichts der bundesweit festzustellenden Zurückdrängung und beinahe schon Marginalisierung literarischer Inhalte im Deutschunterricht, die selbst am Gymnasium festgestellt werden kann. Daher soll am Ende dafür plädiert werden, die Beschäftigung mit den angesprochenen Texten stärker in Formate außerhalb des regulären Deutschunterrichts zu integrieren; dies kann etwa im Rahmen von fächerübergreifenden oder außerunterrichtlichen Projekten zum Thema (Mittelost-)Europa, wissenschaftspropädeutischen Seminaren oder Ähnlichem stattfinden.

8 Beispielsweise in der 2012 ins Deutsche übersetzten Graphic Novel Alois Nebel oder dem auf Deutsch erschienen Roman Winterbergs letzte Reise von 2019.

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Quellenverzeichnis Akademie Dillingen (Hg.): Vom Baltikum zum Balkan – Literaturbeziehungen Deutschland – Ost- und Südosteuropa. Akademiebericht Nr. 345. Dillingen 2000. Härtling, Peter: Bozˇena. Eine Novelle. Köln 1994. Haines, Brigid: ›Introduction: The Eastern European Turn in Contemporary GermanLanguage Literature‹, in: German Life and Letters 68/2 2015, S. 145–153. Hartmann, Telse: Kultur und Identität. Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths. Tübingen 2006. Körte, Mona: ›Die blinden Flecken des Ich. Erzählsituationen im Werk Gregor von Rezzoris‹, in: Giersch, Paula / Krobb, Florian / Schößler, Franziska (Hg.): Galizien im Diskurs. Inklusion, Exklusion, Repräsentation. Frankfurt / Main 2013, S. 313–327. Lunzer, Heinz / Lunzer-Talos, Victoria (Hg.): Joseph Roth. Leben und Werk in Bildern. Köln 1994. Mehring, Walter [1952]: Die verlorene Bibliothek. Autobiographie einer Kultur, mit einem Nachwort von Martin Dreyfuß. Zürich 2013. Menninghaus, Winfried: ›»Czernowitz / Bukowina« als Topos deutsch-jüdischer Geschichte und Literatur‹, in: Merkur (53) 1999, S. 345–357. Papadimitriou, Marina: Transkultureller Literaturunterricht in der globalisierten Schulklasse. Kulturelle Identitätskonzepte in literaturdidaktischer Perspektive. Weinheim 2014. Petrowskaja, Katja: Vielleicht Esther. Geschichten. Berlin 2014. Rezzori, Gregor von: ›Skutschno‹, in: Ders. (Hg.): Denkwürdigkeiten eines Antisemiten: ein Roman in fünf Erzählungen. Berlin 2004, S. 13–84. Roth, Joseph [1937]: ›Das falsche Gewicht‹, in: Hackert, Fritz (Hg.): Joseph Roth Werke, Bd. 6. Köln 1991, S. 129–223. Rudisˇ, Jaroslav / Jaromir 99: Alois Nebel, übers. v. Eva Profousová. Dresden 2012. Rudisˇ, Jaroslav: Winterbergs letzte Reise. München 2019. Schlögel, Karl: Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang. Bonn 2002. Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München 2003. Schmitz, Walter (Hg.): Peter Härtling. Erinnerte Wirklichkeit – erzählte Wahrheit. Die Städte meiner Kindheit. Dresden 2007. Spinner, Kaspar: ›Literarisches Lernen‹, in: Praxis Deutsch (33) 2006, S. 6–16. Steinert, Hajo: ›Armes Würstel‹, in: DIE ZEIT 1995/10, S. 54. Will, Klaus (Hg.): Bozˇena. Eine Novelle. Text & Kommentar. Bamberg 2016. Wintersteiner, Werner: Transkulturelle literarische Bildung. Die ›Poetik der Verschiedenheit‹ in der literaturdidaktischen Praxis. Innsbruck 2006.

Abbildungen Abbildung 1: Mies Blomsma: Joseph Roth. 1938, Zeichnung. (Ausgestellt im Nederlands Letterkundig Museum en Docomentatiecentrum, Den Haag; zit. n. Lunzer & LunzerTalos 1994, S. 252)

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Historisches Lernen im deutschen Literaturunterricht in Polen. Fallbeispiel: Monika Taubitz und ihre literarischen Begegnungen mit Schlesien

I Der vorliegende Aufsatz setzt es sich zum Ziel, die Möglichkeit der Umsetzung der Problematik von Heimatverlust, Flucht und Vertreibung sowie von anderen Kriegsfolgen in einem interkulturell und historisch ausgerichteten Literaturunterricht an polnischen Universitäten oder Oberschulen in Schlesien auszuloten. Seine Entstehung ist auf die Überzeugung seiner Verfasser zurückzuführen, dass ohne eingehende Kenntnis der Vergangenheit der Heimatregion – auch in der Epoche der Globalisierung – eine facettenreiche Identitätsbildung kaum möglich ist. Dem im germanistischen Studium betriebenen Literaturunterricht sowie dem in Oberschulen stattfindenden Deutschunterricht, auch wenn er derzeit in Polen auf dem Rückzug ist, fällt diesbezüglich eine wichtige Aufgabe zu, nämlich die eines Universalfaches, in dem außer dem literarischen Lesen und dem Deutschlernen auch historisches Lernen stattfindet, beides anhand von sorgfältig selektiertem Textbestand. Für Torsten Voß ist das zwischen Oder und Neiße gelegene Gebiet gerade ein idealer Ort für literarische Schauplätze, denn mit Schlesien lässt sich historisch und kulturell sehr viel assoziieren. Im kollektiven Gedächtnis steht es für eine verlorene Heimat, für eine vielseitige Kultur- und Naturlandschaft im territorialen Grenzbereich, für unwiederbringliche Verluste, aber auch für den Beginn des Zweiten Weltkrieges durch den fingierten Überfall auf den Nachrichtensender Gleiwitz und schlussendlich auch für das Menschheitstrauma Auschwitz (Voß 2018, S. 26).

Nicht nur als ›synästhetischer Raum‹, sondern auch als ein Landstrich, der einen langen Weg »vom Konfliktherd zur Modellregion« (Söhner 2013, S. 393) zurücklegen musste, bleibt Schlesien nach wie vor ein attraktiver Gegenstand soziologischer, kulturwissenschaftlicher und vor allem literaturhistorischer Forschung. In vielen literarischen Texten wird es – ähnlich wie andere ›verlorene‹ Provinzen – zu einem Mythos, zu einer untergegangenen Kulturinsel erhoben. Die meisten dieser Zeugnisse, die allesamt historisches Verstehen literarischer

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Texte fördern können, harren aber bis heute der Entdeckung, denn was man der deutschen Geisteswissenschaft attestieren kann, sind Defizite in der Erforschung des literarischen Schaffens der in der Bundesrepublik und in der einstigen DDR lebenden Autor_innen aus dem ehemaligen deutschen Osten. Es handelt sich dabei um eine Literatur, die – wie Norbert Mecklenburg mit Recht ausführt – als eine »erinnernde Aufarbeitung ›provinzieller‹ Herkunftswelten, auch gegen den Strich eines nostalgisch sentimentalen Erwachsenenbewusstseins« (Mecklenburg 1986, S. 39) aufzufassen sei. Er nennt auch die Hauptaufgabe dieses Schrifttums, in welchem sich politischer und literarischer Regionalismus wiederfinden lassen, und zwar »die Rekonstruktion verschütteter und unterdrückter regionaler Kultur und Geschichte« (ebd.). So mag es heute verwunderlich wirken, dass man nur am Rande der gelehrten Diskussionen der akademischen Germanistik etwa das gar opulente Schrifttum der in der Nachfolge Horst Bieneks und Christa Wolfs schreibenden deutschen Autor_innen aus Schlesien und anderen verlorenen Provinzen behandelt, die in ihren Zeitzeugenberichten Kindheit im Dritten Reich sowie Flucht und Vertreibung thematisieren und die ihr Publikum vor allem in den rasch schrumpfenden Vertriebenenkreisen finden. Die Erinnerung an Orte der Herkunft wurde in vielen Fällen zum entscheidenden Auslöser des schöpferischen Tuns, vor allem dann, wenn der Abschied von der Heimat gewaltsam herbeigeführt worden war. So entstand eine nischenhafte Erinnerungsliteratur, die trotz wiederholter Versuche einiger deutscher, tschechischer und polnischer Literaturwissenschaftler_innen, sie zum Gegenstand einer wissenschaftlich fundierten Reflexion werden zu lassen (vgl. etwa Helbig 1996; Mehnert 2001; Dubeck 2003; Zimniak 2007; Feilert 2010), immer noch einer entsprechenden Würdigung harrt. Der Kreuzburger Heinz Piontek (1925–2003), der in Kunitz bei Liegnitz aufgewachsene Dietmar Scholz (1933–2016), die in Frankenstein geborene Ursula Höntsch (1934–2000), der Breslauer Bodo Heimann (geb. 1935, lebt in Kiel), der Bunzlauer Autor Harald Gerlach (1940–2001), der Gleiwitzer Wolfgang Bittner (geb. 1941, lebt in Göttingen) und die Liegnitzerin Therese Chromik (geb. 1943, lebt in Husum) haben nämlich mit ihren autobiographisch angelegten Romanen und Erzählungen wie auch mit ihrer Lyrik nicht nur zur neueren deutschen Erinnerungsliteratur wie auch der deutschsprachigen Literatur schlechthin Wesentliches beigetragen, sondern auch dem modernen deutsch-polnischen Dialog eine neue Dimension verliehen. Wenn ihre Texte einmal den für sie bestimmten ›Sicherungsbereich Vertriebenenliteratur‹ werden verlassen haben, wird das dem Gesamtbild der deutschen Gedächtniskultur nur gut tun, zumal es sich nicht selten um Texte handelt, die nicht nur durch ihre Themenwahl, sondern auch durch die Experimentierfreudigkeit ihrer Urheber_innen, durch ihre Formenvielfalt und ihren Reichtum an Erzählperspektiven bestechen. Ein Paradebeispiel liefert hierfür der in Heinzendorf bei Münsterberg in Niederschlesien geborene und im Osten Deutsch-

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lands aufgewachsene Schriftsteller Christoph Hein mit seinem Roman Landnahme (Hein 2004), in dem er ein breites Panorama deutscher Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schuf. Seinen in Schlesien geborenen Helden Bernhard Haber lernt der Leser aus mehreren Blickpunkten kennen, ein Kunstgriff, dessen sich auch viele andere Autor_innen schlesischer Herkunft gern bedienen. Mit seinem ›schlesischen‹ Buch setzt Hein nicht nur eine lange, in die unmittelbare Nachkriegszeit zurück reichende Tradition literarischer Aufarbeitungen der Problematik von Flucht und Vertreibung, sondern auch der schwierigen Assimilation von Heimatvertriebenen fort, ein Sujet, das viele der oben genannten Autor_innen östlicher Provenienz bereits Jahrzehnte früher in ihren oft kaum beachteten Texten behandelten. Hein ist übrigens – neben Bienek, Janosch und Piontek – einer der wenigen aus Schlesien kommenden Autoren, denen ein deutschlandweiter Durchbruch gelingen konnte. Eines der zuletzt erschienenen Werke, in denen der Heimatverlust, die Flucht und der Neubeginn in der norddeutschen Fremde thematisiert werden, ist der Roman von Wolfgang Bittner Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen. Ein deutsches Lebensbild (2019). Bittner betreibt hier, ähnlich wie in seinen früheren Romanen und Erzählungen, einen permanenten Dialog (sprich: Streit) mit der Geschichte und leistet wieder einen bedeutenden Beitrag zur deutschen Gedächtnispolitik. Sein Anliegen ist es, die Reflexion der Leser_innen anzuspornen, sie zur kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Deutschen, aber auch zum Nachdenken über den Stellenwert der ›schlesischen Frage‹ in den deutsch-polnischen Beziehungen anzuregen. Was ihm als Autor vorschwebt, ist ein bewusster Umgang mit literarischen Texten als Trägern historischen Wissens. Historisches Lernen anhand literarischer Texte wird wohl zu einer wichtigen Tendenz in der modernen Literaturdidaktik. Stefan Neuhaus spricht sogar von der ›Rückkehr der Geschichte‹ in der neueren deutschen Literatur, wobei er vor allem auf die Ereignisse anspielt, die mit dem Fall der Berliner Mauer mit großer Intensität literarisch bearbeitet wurden, so die Vergangenheit von führenden DDR-Autor_innen, etwa Christa Wolf und Hans-Joachim Schädlich. Zwar hat es schon vor 1990, eigentlich zu jeder Zeit, ein mehr oder weniger großes Interesse an Literatur gegeben, die sich mit historischen Ereignissen beschäftigt. Allerdings kann man sagen, dass das Interesse an der Geschichte seit 1990 deutlich gewachsen ist. […] Literatur hat sich unmittelbar und in vorderster Linie als Schauplatz der Auseinandersetzung über die Erinnerung an das Vergangene erwiesen, da die Erinnerung letztlich über die weitere Entwicklung mitbestimmt (Neuhaus 2009, S. 265).

Neuhaus nennt auch einige Beispiele von Texten, in denen die Kriegszeit und ihre Folgen thematisiert werden; über das Thema der Flucht und Vertreibung schweigt er sich allerdings aus. Bemerkenswert ist wohl die Tatsache, dass bereits lange vor der Wende im östlichen Teil Deutschlands Texte erscheinen durften, in

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denen die Flucht und Aussiedlung aus Ober- und Niederschlesien und die Integration schlesischer Flüchtlinge in die DDR-Gesellschaft thematisiert wurden; erwähnt sei hier nur der Roman von Werner Heiduczek Abschied von den Engeln (1968), Ursula Höntschs Autobiographie Wir Flüchtlingskinder (1985) sowie Bücher von Harald Gerlach, Helga Schütz und Armin Müller (vgl. Dubeck 2002, passim). Viele ihrer Texte, wie auch solche anderer Autor_innen mit schlesischem Hintergrund, fielen der wohl auch heute vorherrschenden Tendenz zum Opfer, das Schaffen der nach 1945 Zugewanderten als Trivialliteratur abzustempeln und es einer eher nur selten zutreffenden Heimat- bzw. Deutschtümelei zu bezichtigen. Paweł Zimniak warnt vor einer nicht durchdachten Verwerfung des Begriffs ›Heimat‹, des konzeptionellen Schlüsselbegriffs, der explizit oder implizit, inhaltlich eines der zentralen Themen bei Autoren war und ist, die aus den ehemaligen deutschen Ostprovinzen kommen. Dieses Phänomen soll nicht ausschließlich auf die sogenannte Heimatliteratur beschränkt werden, auf die Bezeichnung also, die einerseits in den Sog einer politisch-ideologischen Instrumentalisierung geraten ist, zum Zweck einer Festigung des Nationalbewusstseins durch emotionale Bindungen an Heimat und Volkstum, andererseits in die Ecke einer pathosschweren, vergangenheitsbetonten, nostalgisch verklärenden und unkritischen ›Idylliker-Literatur‹ abgedichtet ist (Zimniak 2001, S. 258).

Nur selten begegnet man so klar formulierten Desideraten in der deutschen Literaturwissenschaft, geschweige denn in der Literaturdidaktik; eine kühne These stellt diesbezüglich Kirsti Dubeck, Übersetzerin polnischer Literatur aus Leipzig, auf: »Regional verortete Literatur schließt hohe literarische Qualität und überregionale Bedeutung nicht aus« (Dubeck 2002, S. 127). Hoffentlich werden ihre didaktischen Potenziale entdeckt werden, bevor die letzten Zeitzeugen gegangen sind; die Praxis der Ausbildung von Germanist_innen an der Universität Wrocław, die sich als Nachfolgerin der deutschen Universität Breslau versteht, zeigt, dass der Umgang mit schlesischer Literatur, verstärkt gegebenenfalls durch persönlichen Kontakt mit ihren Autor_innen, für viele polnische Studierende zu einem unvergesslichen intellektuellen Erlebnis wird.

II Gerhard Rademacher, der als einer der ersten für den Einsatz von Texten etlicher zum Teil völlig vergessener oder verkannter Autor_innen aus dem Raum Schlesien im Deutschunterricht an deutschen Schulen plädierte, stellt eine Liste von anscheinend ›verlorengegangenen‹ Werten auf, für die es den Menschen von heute wieder zu sensibilisieren gelte: Region, Provinz, Heimat. Er nennt auch die – seiner Meinung nach –

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bedeutsamen Autoren des 20. Jahrhunderts aus diesem Raum, u. a. Max HerrmannNeiße, Georg Heym, Kurt Heynicke, Friedrich Bischoff, Horst Lange, Ernst Günther Bleisch, Heinz Piontek, Dagmar Nick und Horst Bienek. Bei der Auseinandersetzung mit dem Textbestand käme es darauf an, das ›Schlesische‹ nicht als exotisches Lokalkolorit zu etablieren, sondern über sich selbst hinaus als ein übergreifendes und übertragbares Ingrediens des Regionalen, also generell z. B. des Landschafts- und Standortbezogenen (Rademacher 2001, S. 1).

Auch die polnische Germanistik erkannte relativ früh die Bedeutung literarischer Texte der einstigen Bewohner_innen der Provinz Schlesien im Prozess der Identitätssuche der heutigen Breslauer, Liegnitzer, Waldenburger und Hirschberger: Viele Prosastücke und Gedichte der von Rademacher genannten Schriftsteller_innen mit schlesischem Hintergrund liegen bereits in polnischer Übersetzung vor, viele werden auch didaktisch umgesetzt. Es wurden sogar Buchreihen gegründet, in denen vorwiegend oder ausschließlich polnische Übertragungen von Werken schlesischer Autor_innen erscheinen – allein an der Breslauer Germanistik gibt es zwei davon: »Poetae Silesiae« und »Neue Bücher aus Deutschland«. Außer den oben genannten kommen hier noch viele andere Schriftsteller_innen zu Wort. Diese Rückbesinnung auf das bisher nur wenigen, hauptsächlich aus den Vertriebenenkreisen kommenden deutschen Leser_innen bekannte Schaffen resultiert aus der Überzeugung, dass die Kenntnis der kulturellen Errungenschaften der jahrhundertelang im Schlesischen beheimateten Deutschen ein fester Bestandteil der Identität der hier lebenden Polen sein kann bzw. soll, selbst wenn die offiziell betriebene Geschichtspolitik es anders auffasst. Hinzu kommt noch der rein praktische Aspekt der Anwendung von Originaltexten in Lehrprogrammen an Schulen und Universitäten: Viele von ihnen erweisen sich im germanistischen Literaturunterricht oder auch im Unterricht Deutsch als Fremdsprache an Oberschulen als besonders attraktiv für polnische Lernende, die in ihnen vertraute Schauplätze wiedererkennen können. Es kommt nicht selten vor, dass eine mit Texten deutscher Autor_innen schlesischer Herkunft bereicherte Konversationsstunde für manche Schüler_innen oder Studierende eine wahre Entdeckungsreise in die Geschichte der Geburtsstadt oder des Heimatdorfes ist. Ein geographischer Ort, bis dato vielleicht als abgelegen und bedeutungslos empfunden, gewinnt damit eine ganz neue Dimension, er wird zu einer Begegnungsstätte von Vergangenheit und Gegenwart, von Einst und Heute, von Fremd und Bekannt. Es kann vorkommen, dass eine seinerzeit bekannte Persönlichkeit des kulturellen Lebens, ein Politiker oder eine wissenschaftliche Kapazität, die hier zur Welt kam oder längere Zeit hindurch wirkte, zur Identifikationsfigur wird. Ein intendiertes Produkt dieser Berührung mit dem Vergangenen, mit dem Unbekannten, mit dem Fremden ist die Achtung vor den Leistungen der Anderen, die hier früher lebten, ist die Bereitschaft, die Errungenschaften der einstigen Bewohner einer Ortschaft oder der ganzen Region in

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die eigene Kultur zu integrieren. Es geht dabei nicht um eine Vereinnahmung von kulturellen Leistungen der ehemaligen Einwohner dieser Provinz, sondern vielmehr um die Suche nach Identifikationsobjekten und Bezugspersonen – es geht also schlechthin um eine Art Identitätssuche. Der Einsatz von Texten deutschschlesischer Autor_innen im Literaturunterricht an polnischen Schulen und Universitäten, hauptsächlich im Raum Niederschlesien, steht allen voran im Dienste der Konfliktpädagogik, die sich bekanntlich dem Abbau von Stereotypen und Vorurteilen sowie der Fremdenfeindlichkeit verschreibt. Es handelt sich aber auch um die Vermittlung eines besonders differenzierten historischen Wissens, das sich aus Schicksalen von Einzelmenschen, Familien und kleinen Gemeinschaften zusammensetzt, ein Wissen, das woanders – selbst in dem dafür bestimmten Geschichtsunterricht – nicht vermittelt wird. Nach der Auffassung von Tilman von Brandt seien Literatur und Geschichte untrennbar verbunden. Historisches Bewusstsein hilft beim Verstehen literarischer Texte, und der Umgang mit Literatur kann helfen, ein vertieftes Verständnis für Geschichte zu gewinnen. Dieses doppelte Potenzial sollte im Literaturunterricht genutzt werden (Brandt 2016, S. 4).

Die Praxis zeigt jedoch, dass es kein leichtes Unterfangen ist, vor allem, wenn polnischen Jugendlichen das notwendige historische Grundwissen fehlt. Die meisten Vertreter_innen der Generation Y, geschweige denn Repräsentant_innen der Generation Z, assoziieren Schlesien ausschließlich mit dem Polentum. Dass hier eine andere Nation bzw. andere Nationen es zu bedeutenden kulturellen Leistungen gebracht haben, wissen lediglich ganz wenige junge Polen. Dieser Sachverhalt erklärt sich aus der jahrzehntelang andauernden Verdrängung des als fremd oder sogar feindlich etikettierten kulturgeschichtlichen Erbes der Deutschen; nur einem ganz kleinen Teil der heutigen Bevölkerung Schlesiens ist ein Interesse an der ›deutschen Zeit‹ zu attestieren. Auch angehende Germanistikstudierende, denen man ein verstärktes Interesse an der Geschichte ehemaliger deutscher Ostgebiete – darunter Schlesiens – zumuten dürfte, müssen in die einzelnen Phasen der historischen Entwicklung dieser multikulturellen Region erst systematisch eingeweiht werden. Ein Paradebeispiel für eine nicht selbst verschuldete Ignoranz liefert die erste Begegnung einer jungen Breslauer Studentin mit Leben und Werk des Realisten Gustav Freytag (1816–1895): Sie stieß nämlich in einem alten polnischen Lexikon deutscher Schriftsteller auf den Namen ›Kluczbork‹ als Geburtsort des Soll und Haben-Autors und wunderte sich, dass ein bekannter deutscher Vertreter des bürgerlichen Realismus in einer ›polnischen Stadt‹ aufgewachsen sei. Von den übrigen Seminarteilnehmer_innen, die allesamt aus dem historischen Raum Schlesien kamen, wussten nur zwei Studierende aus Oberschlesien, dass es sich dabei um die ehemals deutsche Stadt Kreuzburg handelt, in der übrigens auch der hier bereits erwähnte Lyriker und

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Romancier Heinz Piontek zur Welt kam. Der Nachholbedarf – was das historische Wissen anbelangt – ist bei polnischen Lernenden und Studierenden enorm groß; dies gilt vor allem für die Geschichte Schlesiens als Objekt eines politischen Streits, welcher jahrhundertelang von Deutschen und Polen ausgetragen wurde. Was hier dringend gefragt ist, ist eine durchdachte Umsetzung des vorhandenen literarischen Materials, in dem die genuine Rolle der Fiktion die Vermittlung des Geschichtswissens sein könnte. Dies gilt gleichermaßen für deutsche Texte wie auch für Werke polnischer Autor_innen, die sich in ihren Romanen und Erzählungen mit der deutschen Vergangenheit schlesischer Städte und Dörfer auseinandersetzen und damit einen geeigneten ›Stoff‹ für eine literarisch gefärbte Geschichtsstunde oder für einen historisch orientierten Literaturunterricht liefern. Ideal wäre der Einsatz zweier Texte – des deutschsprachigen Originals und seiner Übersetzung ins Polnische – über einen Ort, eine Person, ein Problem in einem literarisch gestützten und handlungsorientierten Deutschunterricht. Ein so konzipierter Unterricht ›Deutsch als Fremdsprache‹ oder ein fremdsprachlicher Literaturunterricht im Rahmen der Ausbildung von polnischen Germanist_innen stellt einen mehrfachen Nutzen dar: Man bringt einem jungen Menschen die deutsche Sprache bei, man vermittelt ihm ausgewählte literarische Texte der Ausgangskultur und nicht zuletzt macht man ihn mit der wechselvollen Vergangenheit einer geschichtsträchtigen Region (gegebenenfalls aus deutscher und polnischer Perspektive gesehen) bekannt. Tilman von Brandt ist der Auffassung, dass historisches Lernen (auch) im Literaturunterricht nicht oder nicht in erster Linie die Generierung deklarativen Wissens (Faktenwissen) historischer Qualität meint, sondern einen Sinnbildungsprozess, in welchem vergangene Ereignisse in einen stimmigen Zusammenhang gebracht werden. Historisches Lernen durch und mit fiktionale/r Literatur findet dabei in zweierlei Weisen statt: Zum einen müssen prozedurales Wissen (Wissen um Herangehensweisen) und Geschichtsbewusstsein aktiviert werden, um die historischen Dimensionen eines Textes zu verstehen. Zum anderen lassen sich Informationen aus literarischen Texten nutzen, um das historische Wissen sowie das Geschichtsbewusstsein zu erweitern, indem neu gewonnene (Er-)Kenntnisse in bereits vorhandene Register integriert, bzw. selbige oder deren Inhalte ggf. auch korrigiert werden (Brandt 2016, S. 5f.).

Die dargestellte Wirklichkeit des bearbeiteten Textes wird in die Vorstellungswelt des Empfängers / der Empfängerin integriert; es kommt auch zur »Adaption der Fremdperspektive – eventuell als Nutzbarmachen für individuelle Verstehensentwürfe« (Dawidowski 2013, S. 28). Für polnische Leser_innen kann der Kontakt mit Texten, in denen die schlesische Geschichte aus der anderen, d. h. der deutschen Perspektive erzählt wird, zu einem ästhetischen Erlebnis werden, er kann sie auch intellektuell bereichern, indem er sie über die ihnen bisher unbekannten Ereignisse und Personen unterrichtet. Das im Literaturunterricht

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gewonnene historische Wissen kann dann im Prozess der Identitätsförderung eine kaum zu überschätzende Rolle spielen, es kann nämlich das Bewusstsein stärken, Angehörige_r einer Volksgruppe zu sein, die im Zuge historischer Umwälzungen Teile des Kulturerbes einer fremden Nation übernehmen musste und nun bereit ist, es zu pflegen und schöpferisch zu verarbeiten (vgl. Frederking 2013, S. 433–35).

III Ähnlich wie Horst Bienek, der »sich als relevanter literarischer Chronist und Autobiograph der neuesten deutschen und polnischen Geschichte in Grenzregionen und in historisch gewordenen Kulturlandschaften auszeichnet« (Voß 2018, S. 33), ist die am 2. September 1937 in der schlesischen Metropole Breslau geborene und im Bodenseekreis beheimatete Schriftstellerin Monika Taubitz Autorin von autobiographisch geprägten Romanen und Erzählungen, die ein historisches Lernen im Rahmen eines schulischen oder universitären fremdsprachlichen Literaturunterrichts fördern können. Sie gehört neben Bienek, Janosch und Bittner zu den um die Intensivierung des deutsch-polnischen Dialogs meist verdienten Autoren_innen mit schlesischem Hintergrund. Die Ehrenbürgerin der Stadt Meersburg (am Bodensee) setzt sich seit Jahrzehnten für eine Annäherung der aus Schlesien Vertriebenen und der neuen Bewohner_innen von Breslau, Grünberg, Oppeln und Kattowitz ein. Dieses Engagement gilt sowohl für ihr lyrisches und erzählendes Werk, das in einem interkulturell ausgerichteten Literaturunterricht erfolgreich eingesetzt werden kann, wie auch für ihr organisatorisches Wirken. Seit Jahren liest sie an vielen deutschen Schulen (vgl. Kubocz 2017, S. 87), aber auch an polnischen Universitäten, Fachhochschulen und Gymnasien aus ihren Texten, in denen sie ihre teilweise tragischen Kindheitserlebnisse, aber auch zahlreiche Begegnungen mit Schlesien und seinen neuen Bewohner_innen, den Polen, verarbeitet. Einige ihrer Gedichte fanden sogar Eingang in ein polnisches Lehrbuch für Regionalgeschichte – die neue bildungspolitische Situation nach dem Umbruch von 1989 ermöglichte es nämlich, in Schulprogramme auch Autor_innen und Texte aufzunehmen, die die Vergangenheit Schlesiens aus deutscher Perspektive beleuchten. Die polnische Rezeption der Texte der in Meersburg lebenden Schriftstellerin ist ein Beispiel dafür, dass im eigenen Land kaum bekannte Autor_innen sich im Ausland großer Beliebtheit erfreuen können: Von Monika Taubitz liegen 12 Bücher in polnischer Übersetzung vor, zwei erlebten sogar eine Neuauflage; an mehreren Universitäten entstehen Bachelor- und Masterarbeiten über ihr Schaffen; an der Universität Breslau entstand eine umfangreiche Monographie von Justyna Kubocz, die vor einigen Jahren in einem Dresdner Verlag erschien

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(Kubocz 2017). Namhafte Literaturwissenschaftler_innen wie Paweł Zimniak, Katarzyna Nowakowska u.v.a. widmen dem literarischen Werk der im Oberschwäbischen beheimateten Schlesierin umfangreiche Aufsätze, die in deutschen und polnischen wissenschaftlichen Periodika und Sammelwerken erscheinen. An einigen schlesischen Universitäten, etwa in Breslau und Grünberg (Zielona Góra), werden ihre lyrischen Texte und Romane in den Vorlesungen zur deutschen Gegenwartsliteratur behandelt und im Rahmen der Lehrveranstaltungen zur Translatorik ins Polnische übersetzt. Die langjährige Erfahrung zeigt, dass sich polnische Studierende gern mit Taubitz’ Texten auseinandersetzen, denn ihre Romane und Erzählungen sind Texte mit historischen Bezügen, die ihnen neue Perspektiven eröffnen und zur Diskussion über den Stellenwert der Heimat und die Folgen des Heimatverlustes anregen. Ein wohl durchdachter Umgang mit ihren Werken kann die Gestaltung des historischen Bewusstseins von jungen polnischen Leser_innen wesentlich beeinflussen, es durch neue Erkenntnisse bereichern, etwa durch die Parallelität der Vertreibung der deutschen Bevölkerung und der zwangsläufig erfolgten Aussiedlung der Polen aus den Ostgebieten (Kresy), die nunmehr Ukrainer, Litauer und Weißrussen bewohnen. Die Lektüre der Texte der deutschen Autorin kann somit zum Ausgangspunkt für die Umsetzung von interkulturellen Inhalten und zur Quelle der literarischen Sozialisation werden (vgl. Eggert / Garbe 1995, S. 6f.). Als gebildete Lehrerin versteht sie es meisterhaft, mit der Sprache als Bildungsinstrument ganz behutsam umzugehen, sie nie zum Träger von Klischees und Vorurteilen werden zu lassen. Sie will ihren Leser_innen die seltene Kunst beibringen, das Fremde – auch wenn es unter bestimmten Umständen zum Feindlichen ausartet – zu verstehen. Der didaktische Auftrag ihrer Romane und Erzählungen ist somit unbestreitbar: Bestimmte Figuren in Taubitz’ Texten sind als moralische Instanzen konzipiert, die dargestellte Welt ihrer Prosa ist die Stätte von unverdientem Leid und Unrecht, aber auch von Toleranz und Dialog. Ihr Einsatz im schulischen Deutschunterricht in der Bundesrepublik wäre wohl erwünscht, aber auch in Polen könnte man ihn erwägen. Viele Literaturdidaktiker_innen, u. a. Christian Dawidowski und Dieter Wrobel, schreiben der Schule die führende sozialisationsfördernde Funktion zu; ihre Thesen lassen sich ohne weiteres auch auf den universitären Bereich übertragen: Die Schule als ein zentraler Ort der Sozialisation [muss] aktuelle Entwürfe anbieten können, die es Heranwachsenden ermöglichen, die sie umgebende gesellschaftliche Realität identifizieren zu können. Für die Auswahl von literarischen Texten bedeutet dies, dass in ihnen eine Thematisierung bzw. eine Auseinandersetzung mit Wirklichkeit gegeben sein muss, die eine emotionale Beteiligung der Schülerinnen und Schüler herausfordert (Dawidowski / Wrobel 2013, S. 3).

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Monika Taubitz’ Texte liefern genug Stoff für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Problematik der Migration, mit dem aktuellen Stand deutsch-polnischer Beziehungen und mit dem neuesten Bild der polnischen Gedächtniskultur. Ihre Biographie, die sich in ihren Werken widerspiegelt, stellt ein typisches Beispiel für das Schicksal eines deutschen Kriegskindes dar – früh verwaist, die Mutter als die wichtigste Bezugsperson, eine nicht zu Ende verlebte Kindheit, Leid und Hunger als prägende Faktoren, schließlich Flucht und Vertreibung. Ihr Leben umfasst einen Zeitabschnitt deutscher Geschichte, der von Hitlers Machtübernahme bis zur letzten Flüchtlingswelle reicht. Er umfasst unter anderem den grausamen Weltkrieg, den ruhmlosen Untergang des nationalsozialistischen Staates, Vertreibung und Heimatverlust, er umfasst den Neubeginn in den westlichen Besatzungszonen, die schwierigen Versuche, in einer teils feindlichen neuen Umgebung Fuß zu fassen, die Jahre des Reifens, den dichterischen Werdegang und nicht zuletzt die Wiederbegegnung mit Schlesien. Die frühesten Kindheitsjahre verbrachte sie außer in Breslau noch in Markt Bohrau und in Eisersdorf in der Grafschaft Glatz; aus diesem ihren dritten Heimatort wurde sie 1946 im Alter von neun Jahren vertrieben. Es verschlug sie zunächst einmal nach Nordenham an der Weser, dann nach Eglofs und Wangen im Allgäu, bis sie schließlich in Meersburg, wo sie heute lebt und arbeitet, ihr ›festverankertes Boot‹ fand. Getreu der Familientradition ergriff sie den Lehrerberuf, dem sie jahrzehntelang erfolgreich mit großem Engagement und Freude nachging. Wie sie später in einem Interview feststellt, ermöglichte ihr eben dieser Brotberuf, sich die Freiheit der ›unfreien‹ Schriftstellerin zu bewahren. Mehr noch, durch den Lehrerberuf war es ihr möglich, dem wirklichen Leben immer nah zu bleiben, somit die Veränderungen in der Gesellschaft sehr früh wahrzunehmen und diese in ihrem zweiten Beruf als Schriftstellerin aus einer realistischen Perspektive zu betrachten (Kubocz 2007, S. 233).

Seit Jahrzehnten ist sie im kulturellen Leben des Bodensee-Raumes aktiv; ihr wichtigstes Anliegen bleibt jedoch die Pflege der deutschen Literatur aus Schlesien: als Herausgeberin von Anthologien und eines Jahrbuchs, als Veranstalterin von Symposien und Lesungen leistet sie einen dauerhaften Beitrag zur Popularisierung des älteren und zur Förderung des neuesten schlesienbezogenen schöngeistigen Schrifttums. Besondere Verdienste um die Erhaltung des schlesischen Kulturerbes hat sie sich seit 1996 als ehrenamtliche Vorsitzende des Wangener Kreises – Gesellschaft für Literatur und Kunst ›Der Osten‹ erworben. Sie war es, die dem kulturpolitischen Wirken des Kreises eine neue, internationale Dimension verlieh, indem sie Kontakt mit polnischen Hochschulen, Kultureinrichtungen und Schriftsteller_innen aus Breslau, dem nunmehr polnischen Wrocław, und anderen Kulturzentren der Republik Polen aufnahm. Unter ihrem Vorsitz ist der Wangener Kreis, der sich als Nachfolger der sogenannten Breslauer Dichterschule versteht, und der im kommunistischen Volkspolen als

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das berüchtigte ›Nest der ärgsten Polenfeinde‹ galt, zu einem deutsch-polnischen Diskussionsforum geworden, zu einer Instanz, die seit fünfundzwanzig Jahren den Brückenschlag leistet. Als Mitglied bzw. Vorsitzende der Jury des nicht nur unter Autor_innen mit schlesischem Hintergrund sehr gefragten und vom Wangener Kreis vergebenen Eichendorff-Literaturpreises leitete sie einen beinahe revolutionären Durchbruch ein: Auch Schriftsteller_innen polnischer Zunge durften nun als Preisträger in Frage kommen. Im neuen Jahrtausend wurden Urszula Kozioł aus Breslau und Adam Zagajewski, ein seit den sechziger Jahren im amerikanischen Exil lebender Prosaschriftsteller, während der seit 1950 alljährlich im September stattfindenden Wangener Gespräche mit dem bis dahin für Polen unerreichbaren Preis bedacht. Als Herausgeberin des traditionsreichen Volkskalenders für Schlesier versucht Taubitz, das Vergangene vor dem Vergessen zu retten, indem sie sorgfältig ausgewählte Zeugnisse der schlesischen Kunst und Literatur wieder lebendig macht und sie in Form eines Kalenders einem breiteren Empfängerkreis zur Verfügung stellt. Die einzelnen Ausgaben stellen jeweils eine interessante Sammlung von Gedichten und Prosatexten, Essays, literatur- und kulturhistorischen Skizzen dar. Das Jahrbuch kann als eine wertvolle Dokumentation der künstlerischen Aktivitäten der Vertriebenenkreise und somit als eine relevante Quelle für die Erforschung des kulturpolitischen Programms der aus ihrer angestammten Heimat vertriebenen Schlesier_innen gelten. Ähnlich wie Otfried Preußler bewegt sich Monika Taubitz in ihrem neueren Schreiben »zwischen didaktischem Auftrag und kulturpolitischer Sendung« (Marun´ska 2018); sie ist einerseits stets bestrebt, die Erinnerung an das deutsche Schlesien aufrechtzuerhalten, andererseits anerkennt sie die heutigen Einwohner der ehemals preußischen Provinz als legitime Besitzer_innen der Häuser und Gehöfte, Schlösser und Burgen, die früher Deutschen gehörten. Die Protagonist_innen ihrer neueren Prosa sehnen sich zwar nach ihrer östlichen Heimat, sie träumen auch von einer Rückkehr, wohl aber nur von einem vorübergehenden Ausflug ›in ein anderes Land‹, das nun lediglich ein Erinnerungsort bleiben muss. Sie betreibt also in ihrem neueren Schaffen eine Gedächtniskultur, die aus polnischer Sicht als recht wünschenswert erscheinen mag. Ganz anders verhielt es sich aber mit ihren zwei autobiographisch geprägte[n] Romane[n], Durch Lücken im Zaun – eine Kindheit zwischen 1944 und 1946 (1977) und Treibgut – eine Kindheit nach dem Krieg (1983), in denen die Erfahrungen und Erlebnisse aus einer gewaltsam abgebrochenen Kindheit in Schlesien nach dem Zweiten Weltkrieg und die Mühen der späteren Alltagsbewältigung im Nachkriegsdeutschland in Form eines poetischen Berichts wiedergegeben werden (Kubocz 2007, S. 234).

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In beiden selbstdarstellenden Texten tauchen zwei Bezugsfiguren auf, die Mutter und die Tante Lena, die als Erzieherinnen und Beschützerinnen gelten. In dem mehrmals verlegten Roman Durch Lücken im Zaun unternimmt Taubitz einen kühnen Versuch, sich schreibend von der Last traumatischer Erinnerungen zu befreien. Die namenlose Protagonistin, die einfach ›Kind‹ genannt wird, reflektiert die Ereignisse in ihrem Heimatort Eisersdorf, der ja auch der Wohnsitz von Monika Taubitz war, und vergleicht sie mit dem, was vor dem Einmarsch der Russen und der Einquartierung polnischer Ankömmlinge aus dem Osten im Dorf geschah. Die Autorin betreibt damit eine kleine schlesische Landeskunde oder Grafschafter Heimatkunde. Am Beispiel des Feuers zeigt sie z. B., wie in Zeiten des Unrechts das in der Volkstradition seit Jahrhunderten gepflegte Symbolische zum erschreckend Zerstörerischen wird. Früher brannten an Sonnwend die Johannisfeuer auf den Höhen. Überall im Tal flammten sie auf und gaben die feurigen Winke weiter. Rengersdorf warf das Zeichen nach Eisersdorf, das Feuer beim alten Kalkofen schickte die Aufforderung weiter nach Ullersdorf, und von dort loderten die Feuer über Kunzendorf und Reyersdorf bis nach Bad Landeck auf. Es wurde gesungen und getanzt, junge Paare versprachen einander und sprangen kühn durch die Flammen. Jetzt wird hin und wieder Feuer an eine Scheune gelegt, um zitternde Menschen aus ihren Verstecken zu zwingen. Andernorts stecken die Russen Getreidefelder in Brand, um die Frauen und Mädchen, die sich zwischen dem Wald von Halmen versteckt halten, besser jagen zu können (Taubitz [1977] 2006, S. 213).

Polnische Gestalten in diesem Prosastück sind als Träger lauter negativer Eigenschaften konzipiert: das Verhalten der Miliz, aber auch das von Zivilisten ist durch Brutalität, Hass gegen Deutsche, Habgier und moralische Verkommenheit gekennzeichnet. Die einzige Figur, die sich angesichts der üblichen Gewaltakte der gedemütigten Deutschen annimmt, ist Hanja, Tochter der Ankömmlinge aus dem einstigen polnischen Osten; sie erweist sich jedoch schließlich als freche Diebin. Für die kritische polnische Leserschaft ist die Lektüre dieser Autobiographie eine Herausforderung: In den einzelnen polnischen Gestalten des Romans muss sie doch die Vorfahren vermuten, Großeltern oder Eltern, die – nach dem Verlust ihrer ostpolnischen Heimat in den ›Westen‹ verschlagen – samt den Sowjets in dem ›wiedergewonnenen‹ Schlesien die deutsche Bevölkerung versklavten und anschließend zur Flucht zwangen. Die Lektüre ermöglicht Alteritätserfahrungen, die, wie Kaspar H. Spinner ausführt, dann zustande kommen, wenn das Fremde das gewohnte Weltverständnis herausfordert. Alteritätserfahrung beim Lesen steht in einem Spannungsverhältnis zum identifikatorischen Lesen, an das man beim Stichwort Identitätsorientierung im Literaturunterricht zunächst denken mag. Aber nur beides zusammen macht die Wirkung von Literatur für die Identitätsentwicklung aus. Alteritätserfahrungen können eigene Einstellungen bewusster machen, weil man sich vom Fremden abgrenzt, sie können zur Entdeckung verdrängter

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Aspekte der eigenen Identität führen oder neue Perspektiven für das eigene Selbstverständnis eröffnen (Spinner 2013, S. 35f.).

Auch der andere autobiographische Roman, Treibgut – eine Kindheit nach dem Krieg, kann Alteritätserfahrungen fördern, diesmal vor allem bei deutschen Leser_innen, die sich als Kinder oder Enkelkinder der Kriegsgeneration angesprochen fühlen müssten; aber auch den polnischen Rezipient_innen kann er neue Perspektiven eröffnen und das historische Wissen bereichern. Der 1983 erschienene Text gewinnt in literaturdidaktischer Hinsicht immer wieder an Aktualität, indem er von den Mühen der Integration in den ersten Jahren nach der Vertreibung handelt. Folgendermaßen schildert die Ich-Erzählerin ihren seelischen Zustand in der niedersächsischen Fremde: »Unerwünscht, misstrauisch beobachtet, bittere Not leidend und die Trauer um das Verlorene im Herzen. Man hatte nichts als die inneren Bilder« (Taubitz 1983, S. 32). Ein aktueller Anlass, der dieses Buch zu einer attraktiven Lektüre werden lässt, ist die neueste Migrationswelle: Die Kriegswitwe, eine der Hauptgestalten des Romans, die von der Stadtverwaltung den Auftrag erhielt, Ankömmlinge aus Schlesien aufzunehmen, beschwert sich, sie sei auf diese Weise bestraft worden: Warum bekomme ich diese Strafe? Ich allein auf der Straße kriege Flüchtlinge! Vertriebene, nicht Flüchtlinge, korrigierte sie Tante Lena ruhig, aber bestimmt. Glauben Sie, wir wären freiwillig hierhergekommen? (Ebd.)

Die bewusst erlebte Vertreibung, die zu einem traumatischen Erlebnis für Monika Taubitz wurde, ließ sie lange den Gedanken an eine ›Reise in die Kindheit‹ verwerfen. Es mussten beinahe drei Jahrzehnte vergehen, bis sie endlich den Entschluss fassen konnte, sich in die alte Heimat zu begeben. 1973 schrieb sie: Das größte Hindernis, heute Schlesien zu besuchen, liegt in dem Besucher selbst. Wer sich großen Erlebnissen positiver und negativer Natur, aus welchen Gründen auch immer, gewachsen fühlt, wer seine Bilder der Vergangenheit unverändert behalten will, selbst wenn die Zeit ihre Konturen zu verwischen beginnt, dem sei nicht geraten, Schlesien wiederzusehen. Ich habe den Versuch nach langem Zögern unternommen und verdanke ihm eine unvergessliche Begegnung mit meinem Lande (Taubitz 1973, S. 7).

Das Tagebuch einer Reise nach Schlesien von 1972, dem diese Worte entnommen sind, berichtet hauptsächlich über die Wiederbegegnung mit der Landschaft – nur beiläufig werden die deutschen Leser_innen über die Menschen unterrichtet, die jetzt das Land zwischen Grünberg und Waldenburg bewohnen und es zu einem unterentwickelten Landstrich gemacht hätten: Auf den Feldern gehen die Bauern noch mit dem Pflug hinter den Pferden her. Es ist wie vor fünfzig Jahren. Ich bin in eine Zeit zurückversetzt, in der ich noch nie gelebt habe. Statt Autos begegnen uns Pferdewagen. Aber das Idyll weicht grausamer Wirklichkeit:

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Rechts und links der Straße stehen verkommene Höfe, die verfallen. Die Zäune sind voller Lücken und schließen hauptsächlich Nesseln und anderes Unkraut ein. Die Dächer sind schadhaft, der Putz bröckelt ab, die Holzverkleidung ist morsch und lückenhaft, viele Fensterscheiben sind zerbrochen. Abgebrannte Häuser, Herrenhöfe, Kirchen bleiben zum großen Teil so, wie sie die Katastrophe zurückgelassen hat. Scharen von Enten und Gänsen beleben die Wiesen, lagern vor den Haustüren oder um die unordentlichen Misthaufen, aus denen die braune Jauche über den Hof läuft (ebd., S. 14).

Der 1973 erschienene Bericht über die ersehnte Wiederbegegnung mit Schlesien zeugt davon, wie schmerzhaft es für sie war, ihr imaginäres Schlesien, ein ideelles Konstrukt aus vagen Erinnerungen sowie Erzählungen zweier Bezugspersonen, der Mutter und der Tante Lena, durch das wirkliche Bild des nun ›S´la˛sk‹ genannten Landstriches zu ersetzen. Was von diesem verspäteten Besuch im Land der Ahnen blieb, war ein Trauma, das es wiederum zu überwinden galt. Ausschnitte aus dem Tagebuch, die Student_innen der Breslauer Germanistik im Rahmen des Literaturunterrichts lasen, regten sie zu einer teils heftigen Diskussion über den Umgang der neuen polnischen Machthaber mit dem deutschen Kulturerbe nach 1945 an; für die meisten der heute Fünfundzwanzigjährigen war das Bild einer wirtschaftlich heruntergekommenen Region etwas Unerwartetes, dem sie mit Verwunderung oder Schock begegneten. Ihr historisches Wissen und historisches Bewusstsein wurden somit um neue Kenntnisse sowie Erkenntnisse ergänzt. Ihrem geliebten Eisersdorf, dem in der Kinderzeit oft besuchten Bad Altheide und anderen Ortschaften der Grafschaft Glatz widmet Monika Taubitz lyrische Bilder, die das Vergangene heraufbeschwören sollen; dies gilt auch für Breslau und andere Städte, Dörfer und Kulturdenkmäler in Niederschlesien. Neben den wohlbekannten Gedächtnisorten wie der Festung Glatz, der Eichendorff-Stadt Neisse, dem Wallfahrtsort Wartha, dem Schloss Fürstenstein, dem Schlachtfeld Wahlstatt bei Liegnitz, dem Riesengebirge, dem Glatzer Schneegebirge mit der Wallfahrtskirche Maria Schnee und dem Zobtenberg werden in ihrer Poesie auch winzige und für die Menge gar unbedeutende ›Provinznester‹ besungen, die aber ihren Werdegang als Mensch und Dichterin wesentlich mitgeprägt haben. So verewigt sie in einem Gedicht ihren Wohnort Markt Bohrau im Kreis Strehlen, in anderen dagegen die in der Grafschaft Glatz gelegenen Dörfer Grafenort, Ullersdorf und Märzdorf wie auch viele Gipfel und Flüsse. Die Oder wird in manch einem Gedicht zum Gesprächspartner des lyrischen Ichs erhoben; sie gilt als Hort des Gedächtnisses, als zuverlässige Hüterin der Erinnerung an die alte Ordnung: Oder, mein Strom! Du durchflutest meine Räume, alle Flüsse und Seen, die mir Ankerplatz boten.

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Den Landschaften meines Lebens gibst du lebendiges Grün, […] trägst alle Schrecken auf deinen Wellen davon ins Meer der Erinnerung.

Zugleich aber gilt die Oder als ein Bindeglied zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart; sie wird auch zum Symbol der Aussöhnung und der Überwindung des Traumas, das der ungeheure Verlust im Bewusstsein der Dichterin hinterlassen hat: Deine Ufer habe ich wiedergewonnen, bewohnbar gemacht. Dort winken die Lebenden und die Toten mir zu, Oder, mein Strom! (Taubitz 2007, S. 138)

Beinahe vierzig Jahre nach ihrem ersten Besuch in der verlorenen Heimat zieht Monika Taubitz eine erste Bilanz ihrer Kontakte zu dem ›neuen‹ Schlesien: Im Jahre 2011 erschien nämlich der Roman Winteralbum, in dem sie ein völlig anderes, positives Bild ihrer verlorenen Heimat gibt. Diesmal stehen aber nicht die Landschaft, nicht die teilweise oder auch ganz renovierten Häuser, Herrenhöfe und Kirchen im Vordergrund – im Mittelpunkt der Handlung befinden sich Gestalten, denen die Ich-Erzählerin während ihrer wochenlangen Reise durch Schlesien begegnet. Die einzelnen polnischen Figuren des Romans lassen sich als Personen identifizieren, die der Autorin als Übersetzer_innen und Interpret_innen ihrer Texte zum Durchbruch verholfen haben, allen voran die Germanist_innen Justyna Kubocz und Jan Pacholski. Im Zug, der die Ich-Erzählerin von Breslau nach Markt Bohrau, dem zweiten Ort ihrer Kindheit, bringt, kommt es zu einer sonderbaren Begegnung mit einer älteren Frau, die offensichtlich aus dem ehemaligen polnischen Osten, aus den in der polnischen Literatur so oft mythisierten Kresy, vertrieben worden war: Ein Blick wird auf mich gerichtet, zieht etwas in mir zu sich hinüber. Das spüre ich mit drängender Intensität. Die fremde Frau hat ihn ausgesandt. […] Als wenn ich hier nichts zu suchen hätte! Aber ich habe etwas zu suchen, denn ich habe etwas verloren, wenn ich das einmal sagen dürfte, und das suche ich hier. Auf immer und ewig bin ich auf dieser Suche. […] Ich gebe schließlich nach, wende den Kopf und schaue sie an. Freundliche Augen ruhen auf mir. […] Nachdem sich unsere Blicke getroffen haben, spricht sie mich an, auf eine leise und behutsame Art. Ich verstehe kein Wort, und sie scheint zufrieden zu sein, dass es so ist, dass sie mich richtig eingeschätzt hat. Mich, die Fremde, die wiederum auch keine Fremde ist. Sie weiß etwas über mich, ohne mir je zuvor begegnet zu sein, denke ich. Borów, sagt sie. Markt Bohrau, sage ich und nicke.

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Nun hebt sie beide Hände empor und berührt mit den Fingerspitzen ihre Augen. Unsichtbare Tropfen perlen herab. Pani, du? fragt sie, zielt mit ihrem Zeigefinger auf mein Herz und sagt: Ich! Dabei deutet sie hinaus ins Weite, das sie mit ein paar Handbewegungen ins noch viel weiter Entfernte zu rücken scheint. Weit, weit nach Osten weist ihre Hand (Taubitz 2011, S. 7ff.).

In der Figur der Mitreisenden erkennt man die bekannte Journalistin, Mitarbeiterin des Polnischen Rundfunks Wrocław, Maria Wos´, die nach dem Krieg ihr galizisches Lwów (Lemberg) verlassen musste. Nachdem sie sich eines Tages mit polnischen Übertragungen von Taubitz’ Gedichten vertraut gemacht hatte, suchte sie die deutsche Dichterin nach deren Lesung auf der Breslauer Buchmesse auf und kam mit ihr ins Gespräch; so begann eine Bekanntschaft, vielleicht auch Freundschaft zweier Vertriebener, zweier Gleichgesinnter. In mehreren Radiosendungen, die Maria Wos´ anschließend ihrer deutschen ›Schwester‹ widmete, wurden Gedichte und Prosaausschnitte vorgetragen und eingehend interpretiert; es folgte dann auch eine Buchausgabe (vgl. Wos´ 2010). Vor über hundert Jahren (wahrscheinlich am 10. Februar 1914) schrieb Gerhart Hauptmann in einem Brief an seinen Grafschafter Freund Hermann Stehr: Die Laufbahn eines deutschen Dichters ist heut, wie je, eine Dornenbahn. Wir sind beide Schlesier. Die Söhne dieser Provinz müssen sich vollständig frei von ihr machen, wenn sie als Menschen, Deutsche und Europäer bestehen wollen; denn sie drückt ihren Söhnen ein Stigma auf: es ist das Stigma vielhundertjährigen geistigen und materiellen Drucks, vielhundertjähriger Erniedrigung und Entmündigung. Was über Schlesien heut noch liegt, ist die Stickluft der Hörigkeit: Du und ich, du längere, ich kürzere Zeit, waren verurteilt sie einzuatmen (Sprengel 2008, S. 163).

Taubitz, ähnlich wie abertausende ihrer Leidensgenossen, hat das Verhängnisvolle der schlesischen Existenz bereits als neunjähriges Kind erleben müssen; mit der Vertreibung aus dem kindlichen Paradies Eisersdorf wurde ihr das von Hauptmann erwähnte Stigma mit auf den Weg aufgedrückt, ein Signum, das sie durch ihr schriftstellerisches Tun loszuwerden sucht. Im Schreiben konstituiert sich nicht nur ihr schlesisches Wesen; mit ihren literarischen Texten gelang es ihr, die Last der Vergangenheit, das Trauma des Heimatverlustes und des Fremdseins unter den Ihren zu überwinden. Mit der Zeit aber setzte ein Vorgang ein, den man als das Gegenteil des von Hauptmann verschriebenen Sich-Frei-Machens von Schlesien auffassen müsste: Die Suche nach dem Land, das ihr seinerzeit ›das Wort gab‹, lässt die Dichterin ein imaginäres Schlesien kreieren, einen mythischen Ort, der ihr zwar zum Verhängnis wurde, in dem aber die erste Phase der Alphabetisierung beginnen konnte. Dies bringt ihr Gedicht Ein Land gab mir sein Wort zum Ausdruck: Ein Land gab mir sein Wort. Unvoreingenommen

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buchstabierte ich: Berg und Tal, Wiese und Wald, las ich am Himmel Zeichen, die der Baum ins Blaue schrieb. Las, was in Steine geritzt war (Taubitz 2007, S. 128).

Schon viele Jahrzehnte vor dem Erscheinen der ersten Auflage des zweisprachigen Gedichtbandes Ein Land gab mir sein Wort (2006), aus dem die zitierte Strophe entnommen ist, erprobt die Dichterin diverse lyrische Kunstgriffe, die ihr zur Wiederbelebung bzw. zur Wiederentdeckung des vermissten Heimatbewusstseins hätten verhelfen können. Das Individuelle dieser verstärkten Suche äußert sich in den Versuchen, die Schicksale der einzelnen Angehörigen zu einer kleinen Familiensaga zusammenzufügen; ein woanders erstrebtes Panorama des Leidens der unterdrückten und anschließend ausgetriebenen schlesischen Bevölkerung bleibt in ihren literarischen Darstellungen aus. Diese auffällige Einschränkung auf das Familiäre kann für eine Autorin, die als Kind samt ihrer Mutter die Heimat verlassen musste und erst 26 Jahre später den nunmehr polnisch verwalteten schlesischen Boden betreten durfte, keineswegs als selbstverständlich angenommen werden. Sowohl in ihrem literarischen Schaffen, das den Leser_innen zum Erwerb interkultureller Kompetenz verhelfen kann und dessen literaturdidaktischer Wert an mehreren polnischen Hochschulen und sogar an niederschlesischen Gymnasien erkannt wurde, als auch in ihrem kulturpolitischen Wirken leistet Monika Taubitz einen kaum überschätzbaren Beitrag zur deutschen Gedächtniskultur. Als langjährige Vorsitzende des Wangener Kreises konnte sie dem künstlerischen Leben der Vertriebenen sowie dem ihrer Söhne und Enkelkinder eine ganz neue Dimension verleihen, und zwar die eines Phänomens von bundesweiter oder internationaler Relevanz. Ihre Amtsperiode kennzeichnen erfolgreiche Versuche, den Kreis und seine Autor_innen aus der Nische zu holen, ausländische Schriftsteller_innen und Literaturwissenschaftler_innen als Gäste für die Wangener Gespräche zu gewinnen und den Eichendorff-Literaturpreis zu entpolitisieren. Wangen im Allgäu, das jahrzehntelang als Sinnbild des der schlesischen Bevölkerung zugefügten Unrechts galt, wurde somit allmählich zum Symbol der Verständigung zwischen Deutschen und Polen. Ihr imaginäres Schlesien ist auf diese Weise größer und reicher, ihr Aufruf zu Dialog und Offenheit in den Beziehungen mit den heutigen Bewohnern von Eisersdorf und allen anderen Ortschaften der Grafschaft Glatz und Schlesiens ist hörbar geworden.

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Edward Białek / Krzysztof Huszcza

Quellenverzeichnis Primärtexte Taubitz, Monika: Schlesien. Tagebuch einer Reise. Heidenheim o. J. [1973]. Taubitz, Monika: Durch Lücken im Zaun. Heidenheim 1977. Taubitz, Monika: Treibgut. Eine Kindheit nach dem Krieg, o. O. 1983. Taubitz, Monika: Ein Land gab mir sein Wort. Gedichte über Schlesien. Hg. u. Nachwort von Kubocz, Justyna. Wrocław / Dresden 2007. Taubitz, Monika: Winteralbum. Dresden 2011.

Sonstige Literatur Bittner, Wolfgang: Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen. Ein deutsches Lebensbild. Höhr-Grenzhausen 2019. Brandt, Tilman von: ›Historisches Lernen im Literaturunterricht. Literarisches Verstehen und historisches Bewusstsein – ein symbiotisches Verhältnis‹, in: Praxis Deutsch. Zeitschrift für den Deutschunterricht 2016/259, S. 4–11. Dawidowski, Christian / Wrobel, Dieter (Hg.): Interkultureller Literaturunterricht. Konzepte – Modelle – Perspektiven. Baltmannsweiler 2013. Dawidowski, Christian: ›Theoretische Entwürfe zur Interkulturellen Literaturdidaktik. Zur Verbindung pädagogischer und deutschdidaktischer Interkulturalitätskonzepte‹, in: Dawidowski, Christian / Wrobel, Dieter (Hg.): Interkultureller Literaturunterricht. Konzepte – Modelle – Perspektiven. Baltmannsweiler 2013, S. 18–35. Dubeck, Kirsti: Heimat Schlesien nach 1945. Eine Analyse deutscher, polnischer und tschechischer Prosatexte. Hamburg 2002. Eggert, Hartmut / Garbe, Christine: Literarische Sozialisation. Stuttgart, Weimar 1995. Frederking, Volker: ›Identitätsorientierter Literaturunterricht‹, in: Frederking, Volker / Huneke, Hans-Werner / Krommer, Axel / Meier, Christel (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd. 2: Frederking, Volker / Krommer, Axel / Meier, Christel (Hg.): Literatur- und Mediendidaktik, Baltmannsweiler 2013, S. 427–470. Hein, Christoph: Landnahme. Roman. Frankfurt am Main 2004. Helbig, Louis Ferdinand: Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit. Wiesbaden 1996. Kubocz, Justyna: ›Nachwort‹, in: Ein Land gab mir sein Wort. Gedichte über Schlesien. Hg. u. Nachwort von Kubocz, Justyna. Wrocław – Dresden 2007, S. 231–238. Kubocz, Justyna: Erinnern als Kunst und Pflicht. Zum literarischen und kulturpolitischen Wirken von Monika Taubitz. Dresden 2017. Marun´ska, Sandra: Otfried Preußlers kinder- und jugendliterarische Texte zwischen didaktischem Auftrag und kulturpolitischer Sendung. Dresden 2018. Mecklenburg, Norbert: Die grünen Inseln. Zur Kritik eines literarischen Heimatkomplexes. München 1986. Mehnert, Elke (Hg.): Landschaften der Erinnerung. Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht. Frankfurt am Main 2001.

Historisches Lernen im deutschen Literaturunterricht in Polen

135

Neuhaus, Stefan: Literaturvermittlung. Wien 2009. Rademacher, Gerhard: Brückenschlag. ›Andere‹ Literatur im Deutschunterricht der Sekundarstufe I und II. Autoren und Texte in und aus Ostmitteleuropa, den ehemals deutschen Ostgebieten, in transregionaler Sicht. Dortmund 2001. Söhner, Felicitas: Vom Konfliktherd zur Modellregion. Selbstbilder und Fremdbilder entlang der Hohen Straße in Schlesien. Dresden 2013. Spinner, Kaspar H.: ›Identitätsorientierter Deutschunterricht heute‹, in: Identitäten – ide. informationen zur deutschdidaktik. Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule (3) Innsbruck 2013, S. 29–37. Sprengel, Peter (Hg.): Hermann und Hedwig Stehr im Briefwechsel mit Gerhart und Margarete Hauptmann. Berlin 2008. Voß, Torsten: ›Die Wiedergeburt der verlorenen Heimat aus dem Geist des Romans. Der Schriftsteller Horst Bienek und Schlesien als synästhetischer Raum‹, in: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen 2017. Bonn 2018, S. 25–49. Wos´, Maria: Pomniec´, przypomniec´, zapomniec´. Felietony radiowe. Wrocław 2010. Zimniak, Paweł: ›Geschichte und Geschichten. Zum Problem des Heimatverlustes in den Prosawerken von Monika Taubitz‹, in: Mehnert, Elke (Hg.): Landschaften der Erinnerung. Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht. Frankfurt am Main 2001, S. 255–273. Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Literarische Fallstudien. Dresden – Wrocław 2007.

Julia Podelo

›Russlanddeutsche‹ Texte im Literaturunterricht – Potenziale einer unbekannten Literatur

1

Einleitung

›Russlanddeutsche‹, ›Deutsche aus Russland‹, ›Spätaussiedler_innen‹, aber auch ›Kasachstandeutsche‹, ›Wolgadeutsche‹, ›Bessarabiendeutsche‹ usw.: Die Bezeichnungen für die Nachfahren deutscher Siedler_innen im ehemaligen russischen Zarenreich variieren heute ebenso wie ihre Lebensumstände und familiären Erinnerungen an das Leben der Vorfahren. Und obwohl sie mittlerweile in allen gesellschaftlichen Bereichen vertreten und zumeist gut integriert sind, ist im gesellschaftlichen Bewusstsein Deutschlands kaum etwas von ihrer Geschichte bekannt: Die oftmals vorgenommene (Selbst-)Zuschreibung als ›russisch‹ zeigt dabei das sowohl im öffentlichen Diskurs als auch bei vielen Russlanddeutschen selbst wenig präsente Wissen um die eigene Herkunft. Diese Unkenntnis betrifft auch das literarische Schaffen russlanddeutscher Autor_innen: In keiner vorliegenden literaturgeschichtlichen oder gar literaturdidaktischen Abhandlung finden sich Verweise auf deren Werke (vgl. Beutin 2008; Glaser 1997; Rötzer 2008; Schnell 2003). Gerade seit den 2000er Jahren und dank neuer digitaler Publikationsmöglichkeiten boomt die literarische Szene der Russlanddeutschen, wenn auch weitgehend unentdeckt und nur im Kreis Eingeweihter. Bestes Beispiel hierfür ist die Chamisso-Preisträgerin von 2006, Eleonora Hummel, die trotz ihrer Auszeichnung wenig literaturwissenschaftliche (und schon gar keine literaturdidaktische) Beachtung findet. Gleichzeitig sind Schüler_innen mit Spätaussiedler-Status mittlerweile in allen Schulformen und Jahrgangsstufen bundesweit im Bildungssystem und damit auch im Literaturunterricht vertreten. Besondere literarische Identifikationsangebote werden an diese jedoch kaum gemacht. Der vorliegende Beitrag möchte diesem Umstand entgegenwirken und eine Annäherung an die Literatur der Russlanddeutschen anbahnen: An ausgewählten Texten der Anthologie Kindheit in Russland. Erzählungen und Erinnerungen russlanddeutscher Autoren (vgl. Eirich 2005; Gaab 2005) werden unterschiedliche identitäre Bezüge mithilfe des kollektivwissenschaftlichen Ansatzes nach Klaus P. Hansen (2011) hergestellt und

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deren Mehrwert für literaturdidaktische Analyseansätze gezeigt, die Kulturalisierungen beim Umgang mit sogenannter Migrationsliteratur vermeiden wollen.

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Kurze Geschichte der Russlanddeutschen im 20. Jahrhundert1

Während es sich bei den Bezeichnungen ›Polendeutsche‹ und ›Rumäniendeutsche‹ um geographisch klar abgrenzbare deutsche Siedlungsgebiete handelt, gestaltet sich dies bei dem Begriff der ›Russlanddeutschen‹ etwas schwieriger: Ausgehend von den historischen Entwicklungen (vgl. Abschnitt 2.2) kann streng genommen zwischen ›Wolga-‹, ›Schwarzmeer-‹ und ›Wolhyniendeutschen‹ und geographisch zwischen ›Ukraine-‹, ›Kasachstan-‹ und ›Russlanddeutschen‹ im engeren Sinne unterschieden werden. Im folgenden Beitrag werden jedoch verkürzt unter ›Russlanddeutschen‹ alle Nachfahren deutschsprachiger Bevölkerungsgruppen verstanden, die hauptsächlich im 18. Jahrhundert und unter der deutschstämmigen Zarin Katharina II. auf das Gebiet des Russischen Reichs eingewandert sind. Die geographische Ausdehnung und politische Orientierung Russlands an Europa in dieser Zeit erhöhte einerseits den Bedarf an Handwerkern mit Kenntnissen im europäischen Baustil und andererseits an Bauern, die die neugewonnenen Areale besiedeln und bebauen konnten. Da sich die meisten russischen Bauern in Leibeigenschaft befanden, griff Katharina II. auf ihre eigenen deutschen Landsleute zurück (vgl. Eisfeld 2000, S. 16). Als Anreize dienten etliche Freiheiten: Religionsfreiheit, Befreiung vom Militärdienst, von Steuern für die ersten 30 Jahre, das Recht auf Selbstverwaltung und staatliche Hilfen bei der Emigration. Dies alles stellte für viele deutsche Bauern am Ende des 18. Jahrhunderts tatsächlich Vorteile gegenüber der Situation in den von den napoleonischen Kriegen gebeutelten deutschen Ländern dar. Einen ersten Einschnitt in der sonst erfolgreichen Ansiedlung der Deutschen in Russland stellte die Aufhebung der russlanddeutschen Privilegien Ende des 19. Jahrhunderts dar: Einführung des Militärdienstes, Aufhebung der Selbstverwaltung und der Steuerfreiheit (vgl. ebd., S. 19; Greuel 2009, S. 91; Roesler 2003, S. 20). Diese politischen Entscheidungen leiteten eine relativ instabile Periode für die russlanddeutsche Bevölkerung ein: der Erste Weltkrieg, der Vorwurf der Kollaboration mit dem (deutschen) Feind gefolgt von Zwangskollektivierung 1 Dieser Abschnitt bietet nur einen sehr knappen Überblick über die Hintergründe der Russlanddeutschen. Ausführlichere und informative Darstellungen finden sich zum Beispiel bei Eisfeld 2000; Greuel 2009; Koch 1995; Kotzian 1991; Roesler 2003. Besonders verwiesen sei auf das Kurzdossier der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema Russlanddeutsche, welches auch gerade identitätsrelevante Aspekte beleuchtet und sich für den schulischen Einsatz gut eignet (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2017) und das ausführliche Dossier (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2018).

›Russlanddeutsche‹ Texte im Literaturunterricht

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in fast allen Kolonien und damit ihrer wirtschaftlichen Zerstörung (vgl. Eisfeld 2000, S. 19; Roesler 2003, S. 22). Nach Kriegsende und mit Einsetzen der sowjetischen Politik der Vielvölkerstaatlichkeit entstand eine Autonomiebewegung unter den Russlanddeutschen, die 1924 zur Einrichtung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) führte, in der Deutsch zur Amts- und Bildungssprache wurde (vgl. Eisfeld 2000, S. 20; Greuel 2009, S. 94). Dieser Wandel zwischen Wohlstand und Notlage sollte charakteristisch für die Situation der Russlanddeutschen werden, denn mit dem Einmarsch der Wehrmacht 1941 und dem erneuten Kollaborationsvorwurf nach dem sowjetischen Sieg über Nazideutschland kam es zu den Ereignissen, welche heute noch als prägend für die Russlanddeutschen angesehen werden: In Deportationszügen wurden fast alle Deutschen nach Zentralasien (vor allem nach Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan) und Sibirien in Sondersiedlungen verbannt, die Arbeitsfähigen in Arbeitslagern (Trudarmeen) festgehalten bzw. die restliche Bevölkerung einer Meldepflicht und der völligen Einschränkung ihrer Freizügigkeit unterworfen (vgl. Eisfeld 2000, S. 21; Koch 1995, S. 14; Roesler 2003, S. 22f.). Roesler sieht in genau diesen letztgenannten Ereignissen den Katalysator für die Entstehung einer russlanddeutschen Identität: Die zuvor de facto stark unterschiedlichen Siedlungsgruppen der Russlanddeutschen wurden durch die gemeinsamen Leiderfahrungen in der Nachkriegszeit geeint, und es wurde der Eindruck einer homogenen Identität erweckt (vgl. Roesler 2003, S. 23, 79). Die Bezeichnung ›Russlanddeutsche‹ ist letztlich als Sammelbegriff für alle auf dem Gebiet des ehemaligen russischen Zarenreichs angesiedelten Deutschen zu verstehen, vereint jedoch unterschiedliche und teilweise sehr heterogene Siedlungsgruppen unter dem Konstrukt einer homogenen Identität, die es bei den Russlanddeutschen als Kollektiv zuvor so nicht gegeben hat. Die Selbstidentifikation der Siedler_innen lief meist über die konfessionelle und nicht regionale Zugehörigkeit, man sprach »Katholisch« oder »Evangelisch« (Dubinin 2011, S. 84). Zudem verfügten die deutschen Kolonisten auch über kein nationales Gruppenbewusstsein und keine innere Assimilationseinstellung (vgl. Neutatz 1996, S. 66f.): Die Auswandernden kamen aus damals unterschiedlichen deutschen Staaten und sprachen unterschiedliche Varietäten des Deutschen, sodass kein deutsches Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen konnte. Gab es aufgrund der ausbleibenden Wiederherstellung der ASSRdWD erste Rückwanderungen nach Deutschland (v. a. in die DDR) bereits in den 50er Jahren, erhöhte sich der Migrationsdruck bei den Russlanddeutschen insbesondere nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und aufgrund verstärkter nationalistischer Tendenzen und desolater Wirtschaftslage in den zentralasiatischen Ländern wie Usbekistan und Kasachstan. Dies zeigt sich auch an konkreten Zahlen: Die anfängliche jährliche Einwanderung russlanddeutscher

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Aussiedler_innen belief sich ab 1955 auf nur 250 Personen, steigerte sich in den 70er Jahren auf etwa 1000 mit dem Höhepunkt 1976 mit über 10.000 Einwanderer_innen (vgl. Bauer et al. 1999, S. 46). Die größte russlanddeutsche Einwanderung vollzog sich aber erst nach 1992. Seit 1993 sind 95 % der Aussiedler_innen Russlanddeutsche (vgl. Roll 2003, S. 27), vorrangig aus Kasachstan (vgl. Heinen 2000, S. 38). Der aktuelle Zuzug fällt deutlich geringer aus, bis 2012 kamen jährlich knapp 2.000 Spätaussiedler_innen nach Deutschland, seitdem steigt die Quote leicht und liegt für 2017 bei etwa 7.000 Personen (vgl. BAMF 2018, S. 173). Rechtlich werden in die BRD eingewanderte Russlanddeutsche heute unter der Bezeichnung ›(Spät-)Aussiedler_innen‹ erfasst. Sie gelten als Deutsche nach Art. 116, Abs. 1 des Grundgesetzes (vgl. Greuel 2009, S. 99): (1) Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.

Von anderen deutschen Einwanderungsgruppen wie Vertriebenen und Flüchtlingen werden Aussiedler_innen differenziert durch »[d]ie politische Semantik des Begriffs Aussiedler[, die] impliziert – im Gegensatz zu Vertriebenen und Flüchtlingen –, dass die Ausreise von den Ausreisewilligen selbst initiiert und betrieben wird« (Roll 2003, S. 22).

2.1

Forschungsstand zur russlanddeutschen Literatur

Die Schwierigkeiten gerade bei der Erforschung der russlanddeutschen Literatur sind zahlreich: Aus diachroner Sicht erschweren die Deportationen der Russlanddeutschen aus ihren Siedlungsgebieten und die Auflösung der deutschsprachigen Gemeinschaften (damit einhergehend Verlust von Texten, Abschriften, Kopien, Manuskripten etc., aber auch der Verlust von Autor_innen) eine lückenlose Aufarbeitung. Die besondere Situation der Russlanddeutschen in den Sondersiedlungen nach der Deportation schränkte erneute, freie literarische Tätigkeiten ein. Zahlreiche Werke, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg verfasst wurden, konnten erst in den 80er Jahren veröffentlicht werden – wenn sie denn überhaupt erhalten waren. Aus synchroner Sicht ist ein relatives Desinteresse der Germanistik an der Gruppe russlanddeutscher Autor_innen festzustellen: Auf der Seite der russischen Germanistik müssen an dieser Stelle vor allem die Arbeiten von Seifert (vgl. Seifert 2009a, 2009b) hervorgehoben werden, diese beschränken sich gleichwohl nur auf die noch in Russland lebenden Autor_innen deutscher Abstammung. Zugleich ist die größte Schwierigkeit bei der Erfor-

›Russlanddeutsche‹ Texte im Literaturunterricht

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schung der in Deutschland lebenden russlanddeutschen Autor_innen ihre selbstbetriebene Abschottung: Sie sind fast ausschließlich über die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. organisiert und nutzen deren Publikationsorgane. Wer sich mit ihren Werken befassen will, muss sich daher erst in den Kreis der Landsmannschaft einarbeiten. Die größte Fundgrube an russlanddeutschen Texten bleibt daher das WorldWide-Web, wo sich zahlreiche, vor allem jüngere Autor_innen mittlerweile erfolgreich tummeln. Zu den auch ›analog‹ bekannteren Autor_innen gehören die in den 70er Jahren tätige Nelly Däs2 und die Chamisso-Preisträgerin Eleonora Hummel.3 Weitere lesenswerte Autor_innen mit zahlreichen Weiterverweisen auf Mitstreiter_innen sind Max Schatz,4 Lena Klassen5 und die anonyme, derzeit aktuellste Bloggerin ›Scherbensammlerin‹6 mit zahlreichen Rezensionen und Informationen zur Literatur der Russlanddeutschen.7 Dieser Exkurs zur russlanddeutschen Literatur zeigt: Immer noch liegt diese am Rand des literaturwissenschaftlichen Fokus. Generell erscheint die Literaturszene der Russlanddeutschen, ob in diachroner oder synchroner Sicht, weitgehend losgelöst von der deutschen Literaturwissenschaft und erst recht vom Literaturunterricht.

3

Kollektivansatz und fuzzy culture

Wie der kurze historische Abriss zeigt, kann die Gruppe der Russlanddeutschen nur auf rechtliche, jedoch nicht auf kulturelle Weise definiert werden. Sowohl sprachliche, religiöse als auch deportationsbedingte Unterschiede in der Art der Lebensführung und die unterschiedlichen Zeitpunkte der Remigration nach Deutschland lassen kaum die Beschreibung einer spezifischen russlanddeutschen Kultur zu. Auch auf literarischer Ebene kann keine Homogenität einer russlanddeutschen Literatur für die Zeit nach 1990 beschrieben werden. Das einzig gehäuft Verbindende ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Bio-

2 *1930, Werke u. a. Wölfe und Sonnenblumen (EA 1969); Der Zug in die Freiheit (EA 1976); Das Mädchen vom Fährhaus (EA 1988), verfilmt vom ZDF 1996; www.nellydaes.de [03. 12. 2020]. 3 *1970, Werke u. a. Die Fische von Berlin (2005); Die Venus im Fenster (2009); In guten Händen, in einem schönen Land (2013); www.eleonora-hummel.de [03. 12. 2020]. 4 *1981, https://schachmax.jimdo.com [03. 12. 2020]. 5 Alias Maja Winter, *1971, http://www.lenaklassen.de [03. 12. 2020]. 6 https://scherbensammeln.wordpress.com [03. 12. 2020]. 7 Weiterführend siehe auch: Der Literaturkreis der Autoren aus Russland e.V. mit dortigen Weiterverweisen und der Herausgeber des jährlichen Almanachs der Russlanddeutschen Literatur (https://literaturkreis-autoren-aus-russland.de/nuetzliche-links/ bzw. https://literatur kreis-autoren-aus-russland.de/almanach/ [03. 12. 2020]).

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graphie oder Familiengeschichte, insbesondere dem Trauma der Deportation, oder die Erfahrungen der Rückwanderung und Integration in Deutschland. Klassische Konzeptionen der interkulturellen Literaturdidaktik erscheinen daher für diese Art der Literatur unbefriedigend, da sie oftmals nach dem Vergleich der eigenen Kultur mit einer als homogen verstandenen anderen streben. Der vorliegende Beitrag möchte an dieser Stelle einen anderen Ansatz skizzieren, der die gegebene Heterogenität eines Textes, einer Gattung, eines Autors / einer Autorin usw. nicht didaktisch zu reduzieren, sondern zu vermitteln versucht. Dieser Versuch, die authentische und teilweise widersprüchliche Diversität von Literatur in den Literaturunterricht aufzunehmen, geht auf den Kollektivansatz nach Hansen zurück, weshalb an dieser Stelle einige kurze Termini erläutert werden.

3.1

Kollektivansatz nach Klaus P. Hansen

Hansens Hauptfokus liegt auf der Etablierung einer Alternative zum Kulturbegriff als Analysekategorie der Sozialforschung, da dieser in seinen Augen ethnisch-nationale Zugehörigkeiten überbewertet (vgl. Jammal 2014, S. 107).8 Mit dem Alternativterminus Kollektiv9 bezeichnet Hansen »ein Konstrukt von Individuen mit mindestens einer partiellen Gemeinsamkeit […]. So gibt es das Kollektiv der Kaffeetrinker, der Blondinen, der Deutschen et cetera« (ebd., S. 109). Innerhalb eines Kollektivs regeln bestimmte Standardisierungen das Handeln, Denken, Fühlen und Kommunizieren der einzelnen Mitglieder untereinander. Diese standardisierten Gewohnheiten sorgen für das gegenseitige Verstehen innerhalb eines Kollektivs und stellen für Hansen »Kultur« dar:

8 So empfinden Menschen in interkulturellen Kontexten trotz jeglicher Gleichheit (Alter, sozialer Status, Interessen, Hobbies usw.) jemanden oftmals als anders aufgrund seiner ethnischnationalen Zugehörigkeit. Eigene Landsleute, die sich jedoch deutlich in Alter, sozialem Status und Interessen unterscheiden, würden in Anwesenheit von ethnisch-national Anderen jedoch als weniger fremd empfunden werden und dies würde mit der kulturellen Ähnlichkeit begründet werden. Kultur wird damit im Alltagsverständnis mit Ethnie / Nationalität gleichgesetzt und als wichtigstes Unterscheidungskriterium empfunden. 9 Kollektive sind nicht zwangsläufig eindimensional, vielmehr gibt es auch hier hierarchische Strukturen. So kann Nationalität ein »Dachkollektiv« (Hansen 2011, S. 165) bilden, unter welchem sich verschiedene Kollektive fassen lassen: Unter dem Dachkollektiv ›Deutsche‹ finden sich dann Kollektive zweiter Ordnung wie ›Metzger_innen‹, ›Fußballspieler_innen‹, ›Christ_innen‹ usw. Damit wird auch bei Hansen ein prinzipiell offener, aber ausgeglichener Kulturbegriff aufgestellt, der einerseits hohe individuelle Heterogenität impliziert, das Vorhandensein von übergeordneter Homogenität jedoch nicht vollständig negiert (vgl. Jammal 2014, S. 109–112).

›Russlanddeutsche‹ Texte im Literaturunterricht

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Diese Gewohnheiten sind nie statisch oder abgeschlossen. Sie verändern sich unablässig, sind heterogen und häufig widersprüchlich. Mitglieder eines Kollektivs müssen diese Gewohnheiten weder teilen noch gut finden. Kultur liegt dort vor, wo Menschen, die im Rahmen eines Kollektivzusammenhangs miteinander zu tun haben, bestimmte kollektive Gewohnheiten bekannt oder vertraut sind. (Hansen / Fischer 2018, S. 38f.)

Die Zugehörigkeit zu bestimmten Kollektiven bestimmt folglich die Identität eines Individuums (vgl. Jammal 2014, S. 110), die jedoch keinesfalls als fest gilt, sondern durch wechselnde Kollektivzugehörigkeiten und innerhalb der Kollektive sich verändernde Standardisierungen10 von starker Dynamik geprägt ist (vgl. Hansen 2011, S. 194–199). Individuen werden damit nur auf Basis ihrer ethnischnationalen Kulturzugehörigkeit nicht vorhersagbar, da ihre weiteren Kollektivzugehörigkeiten für ihre Identität prägender sein können. Damit wird aber auch das Schubladendenken und die Reduktionsfunktion des Kulturbegriffs überflüssig (vgl. ebd., S. 201–222).

3.2

Weiterentwicklung zum fuzzy culture-Konzept von Jürgen Bolten

Boltens Weiterentwicklung des Kollektivansatzes zum Konzept der fuzzy culture trägt der grundsätzlichen Problematik der westlichen Logik und Theoriebildung, welche sich im Begriffsfeld ›-kultur-‹ zeige, Rechnung: Die aristotelisch geprägte Denkweise der westlichen Forschung gehe immer von einem Entweder-OderVerhältnis aller Elemente aus, in Bezug auf Kultur z. B. ist man Angehörige_r von Kultur A oder B (vgl. Bolten 2011, S. 57f.) oder in Bezug auf Mehrsprachigkeit Muttersprachler_in von Sprache A oder B, jedoch nicht beides. Für Bolten ist für ein realistisches Verständnis von Interkulturalität und kulturellen Zugehörigkeiten daher die Fuzzylogik die geeignetere Herangehensweise und Grundlage für interkulturelle Lernsettings. Er zitiert dabei die Kernaussage der Fuzzylogik mit den Worten ihres ersten Vertreters Lotfi Zadeh: based on the premise that the key elements in human thinking are not numbers, but labels of fuzzy sets, that is, classes of objects in which the transition from membership to nonmembership is gradual rather than abrupt. Indeed the pervasiveness of fuzziness in human thought processes suggests that much of the logic behind human reasoning is not the traditional two-valued or even multi-valued logic, but a logic with fuzzy truths,

10 »Jeder feiert sowieso anders Geburtstag, und Vegetarier haben bei der Gestaltung der Feier andere Probleme als statusbewusste Millionäre. Jede konkrete Umsetzung einer Standardisierung und jede Aufnahme in eine individuelle Identität bedeutet insofern sofort und zwangsläufig Modifikation und Anstoß zur Veränderung, und selbst wenn ein gemeinsamer Nenner gewahrt bleibt, wandelt auch er sich ständig, wenn auch vielleicht in kleineren Schritten« (Hansen 2011, S. 196).

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fuzzy connectives, and fuzzy rules of inference. (Zadeh 1972, S. 4, zitiert nach Bolten 2011, S. 57f.)

Zadeh (und Bolten) vertritt bzw. vertreten eine mehrwertige Logik, in der es nicht mehr um Entweder-Oder-Entscheidungen geht, sondern ein Spektrum zwischen beiden Standpunkten angenommen werden muss, welches auch mit Teilmengen (›ein bisschen‹, ›etwas‹) operiert. Damit geht erneut eine Orientierung an einem offenen Kulturbegriff einher, der nicht mehr mit »weitgehend homogenen Modellen von Länder- oder Nationalkulturen« (Bolten 2011, S. 59) arbeitet und nach Bolten den heutigen globalgesellschaftlichen Gegebenheiten besser entspricht (vgl. ebd.). Statt von kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten spricht Bolten hier jedoch von fuzzy sets, die »Zugehörigkeitsgrade von Elementen zu einer Menge« (ebd., Hervorheb. i. O.) darzustellen erlauben. Fuzzy culture ist damit ein stark netzwerkorientierter Kulturbegriff, der auf hochgradige Mehrwertigkeiten der Akteure setzt. Fuzzy (engl. verschwommen, unklar, unscharf) bezieht sich dabei auf die aus einer solchen Sichtweise folgende Wahrnehmung von Zugehörigkeiten: Menschen werden damit nicht mehr einem Kollektiv eindeutig zuordenbar (z. B. als Deutsche_r, Migrant_in, Mehrsprachige_r etc.) und voneinander trennbar, da zwischen den Kollektiven Wechselbeziehungen bestehen. Und je näher man ein vermeintlich homogenes Kollektiv betrachtet oder in den Worten Boltens an es »heranzoomt« (Bolten 2013, S. 6), umso offensichtlicher werden diese Mehrfachzugehörigkeiten und die kollektivinterne Heterogenität, umso verschwommener, sprich fuzzier wird jedoch das Gesamtbild (vgl. ebd.).

3.3

Mehrwert und literaturdidaktisches Potenzial des Kollektivansatzes

Hansen und Fischer präzisieren bei ihrer Übertragung des Kollektivansatzes auf die allgemeine Pädagogik, dass »Lernen als multikollektiver Prozess« (2018, S. 36) verstanden werden muss, in dem einseitige schulische Zuschreibungen (›die hochbegabte Schülerin‹, ›der behinderte Schüler‹, […] ›Der Migrant‹ usw.) viel zu kurz greifen, weil man immer nur einen Aspekt oder eine Dimension schulischer oder erzieherischer Bedarfslagen erfasst und in seinem pädagogischen Handeln fokussiert, gleichzeitig dabei aber andere, genauso wichtige Dimensionen aus dem Blick geraten. Vielmehr muss nach dem Ansatz von Klaus Hansen erkannt werden, dass Menschen gleichzeitig unterschiedlichen kollektiven Gruppen zugehören und aus diesen unterschiedlichen Zugehörigkeiten auch unterschiedliche Identitäten ausbilden, die teilweise erwartungswidrig sein können. (Ebd.)

›Russlanddeutsche‹ Texte im Literaturunterricht

145

Für die (interkulturelle) Literaturdidaktik impliziert diese Perspektive zwei Möglichkeiten: Aus literarpädagogischer Sicht einerseits, Migrationstexte nicht nur mit Blick auf vermeintliche ›Migrant_innen‹ in der Klasse als Gegenstand auszuwählen und von diesen ›Migrant_innen‹ ein besseres Verständnis oder höheres Identifikationspotential der Migrationstexte zu erwarten. Vielmehr sollte der didaktische Rahmen genügend interpretativen Spielraum für alle Schüler_innen und deren jeweilige multikollektiv geprägte Deutungsmuster lassen. Noch deutlicher trägt hierzu Boltens Erweiterung zum fuzzy cultureKonzept bei, dessen Nutzen für die Pädagogik auf der Hand liegt: In der pädagogischen Praxis dürfte es dagegen nicht um Entweder-Oder gehen, sondern darum, die Positionen als Spannungsfeld zu begreifen. Zugleich wird damit verdeutlicht, dass ein wesentliches Kennzeichen professionellen pädagogischen Handelns in der Wahrnehmung und Gestaltung von ambivalenten und sich ständig verändernden Handlungsstrukturen liegt. (Holzbrecher 2004, S. 23)

Schüler_innen können und dürfen demnach nicht einer bipolaren Position (›Einheimische_r‹ vs. ›Migrant_in‹) zugeordnet werden. Hier dienen die Modelle von Hansen und Bolten eher als fachdidaktisches Reflexionswissen für Lehrkräfte. Somit ermöglicht Boltens Ansatz einen Verzicht auf den oftmals unklar definierten oder zu stark auf Ethnisch-Nationales fokussierten Kulturbegriff: Unsere Vorstellung des Verhältnisses zwischen Individuum und sozialer Umwelt gleicht in diesem Sinne häufig der eines Baumes im Wald. Eingebettet in seine ›Lebenswelt‹ oder […] in seine ›Kultur‹, steht der Einzelne verwurzelt als Teil des Ganzen, dessen Einfluss er unterliegt. […] Wir sind in diesem Sinne [des Kollektivansatzes aber] also Bäume, die paradoxerweise gleichzeitig in unzähligen Wäldern stehen. (Hansen / Fischer 2018, S. 37f.)

Ein möglicher Migrationstext sollte nicht als etwas vollkommen Fremdes inszeniert werden, die Suche nach Ähnlichkeiten jedoch auch nicht auf übergeordnete kulturelle Muster beschränkt bleiben. Vielmehr geht es darum, individuelle Erfahrungen und Ansichten der Schüler_innen und die von ihnen selbst wahrgenommenen Differenzen in den Blick zu nehmen und konsequent in die Textanalyse einzubeziehen sowie den Interpretationsprozess dahingehend offenzulassen, statt im Vorfeld auf von der Lehrkraft ausgesuchte Differenzen auszurichten. Hansen / Fischer formulieren daher allgemeinpädagogisch ausgerichtet ein wesentliches Ziel eines fuzzy concept-orientierten Kollektivansatzes: Die Aufgabe der Bildungspraxis ist es also hier zu beobachten, zu analysieren und anzusprechen, welche Differenzwahrnehmungen für die Teilnehmenden interessant und relevant sind und so zur erweiterten Reflexion und Perspektivierung anzuregen. Lernen und die Gestaltung von Lernsituationen (Beziehungssituationen) sind damit […] ein Angebot an die Teilnehmer_innen, ihre Wirklichkeitskonstruktionen mit an-

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deren auszutauschen, über sie nachzudenken, sie mit anderen zu vergleichen […] und gemeinsam an Problemlösungen zu arbeiten. (Hansen / Fischer 2018, S. 178)

Andererseits bedeutet dies aus literarästhetischer Sicht, Migrationstexte selbst und die darin enthaltenen Figuren nicht auf ihre Rolle als ›Migrant_innen‹ zu reduzieren, sondern auch nach anderweitigen Zugehörigkeiten zu suchen, wobei in höheren Jahrgangsstufen die Modelle von Hansen und Bolten auch als Reflexionswissen für die Schüler_innen vermittelt werden könnten. Für die russlanddeutsche Literatur bedeutet dies, in den Texten nicht ausschließlich nach dem spezifisch Russlanddeutschen zu sondieren, sondern die unterschiedlichen Kollektivzugehörigkeiten der Figuren und deren zum Teil widersprüchliche Handlungsmuster zu analysieren. Was prägt die Figur als Vater, als Russe, als Deutscher, als Sohn, als Einwanderer, als Auswanderer usw.? Ein solcher Ansatz kann dazu beitragen, Stereotypenbildung zu verhindern, da er einer Kategorie wie ›Migrant_in‹ oder ›Russlanddeutsche_r‹ nicht klare Merkmale zuweist, sondern die Diversität innerhalb eines Kollektivs zu begreifen hilft – in der Hoffnung, dass das anhand literarischer Texte vermittelte kritische Kulturbewusstsein auch im Alltag der Schüler_innen Eingang findet. Der skizzierte Ansatz eignet sich daher insbesondere für die Verfolgung literarischer / literaturpädagogischer Erziehungsziele, wie sie hinlänglich für die Literaturdidaktik benannt werden, allen voran für die Entwicklung von Ambiguitätstoleranz und für die Konfrontation mit alternativen Lebenskonzepten, wie sie ein jeglicher literarischer Text erlaubt. Geeignete Methoden finden sich hierfür in der Literaturdidaktik zur Genüge, daher seien an dieser Stelle beispielweise das Heidelberger Modell des literarischen Unterrichtsgesprächs (vgl. Härle / Steinbrenner 2004), welches in starkem Maße die interpretativen Zugänge der Schüler_innen fokussiert, oder die Dialogdidaktik nach Roche / Schiewer (2018) genannt, die den Austausch unterschiedlicher Interpretationsansätze zwischen Schüler_innen befördert. Welchen Mehrwert eine relativ kulturalisierungsfreie Interpretation eines konkreten Textes mithilfe der kollektivwissenschaftlichen Ansätze nach Hansen und Bolten zusätzlich zu einer klassischen, auf Migrationsaspekte fokussierten Auslegung bieten kann, sollen die folgenden Textbeispiele zeigen.

›Russlanddeutsche‹ Texte im Literaturunterricht

4

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Textanalysen: Kindheit in Russland. Eine Anthologie des Verstehens.

Die Anthologie vereint kurze Texte mit Kindheitserinnerungen an die 30er bis 90er Jahre unterschiedlicher russlanddeutscher Autor_innen. Dabei handelt es sich um Auszüge aus epischen Langtexten, Übersetzungen aus dem Russischen, aber auch um kleinere anekdotische Erzählungen.

4.1

Gottlieb Eirich: Wie wir Krebse und Hechte fischten

Die Erzählung Eirichs (*1925) wird im Vorwort zur Anthologie von Brantsch (vgl. 2005, S. 9) mit Hemingways Der alte Mann und das Meer (1951) in Beziehung gesetzt: In beiden Texten geht es um den Kampf mit einem Riesenfisch. Bei Eirich verbringen drei Jungs (Ich-Erzähler, seine Freunde Heinrich und David) den Tag an der Wolga mit Krebsfangen. Die geschilderte Natur gleicht einer idyllischen Oase: Ein »Prachtsommertag« mit »[w]arme[m] Südwind« (Eirich 2005,11 S. 20), »tiefblau[em]« und »klar[em]« Wasser (ebd.), seinem »beruhigende[n] Rauschen« (GE 21) und dem »gemächlich[en] [T]reiben« (ebd.) im Boot wird durch die üppige Ausbeute der Jungen an frischen Krebsen komplementiert. Doch jäh wird die paradiesische »Stille« (ebd.) am Fluss durch das Zucken der Angelrute durchbrochen: Ein Hecht hat angebissen, gibt sich jedoch nicht den jungen Fischern kampflos hin. Als sie sich siegessicher wähnen und den bissigen Fisch endlich ins Boot geholt haben, entgleitet er ihnen doch und die vielversprechende Beute bleibt aus. Allein die Einsicht – »Fischfang ist doch bloß ein Vergnügen – und Beute nur Beigabe« (GE 23) – und die zuvor gefangenen Krebse stimmen die Jungen doch versöhnlich mit dem Ausgang des Tages. Prüfen wir zunächst, wie eine (in Kap. 3 kritisierte) ethnozentrische Lesart im Text spezifisch Russlanddeutsches identifizieren könnte. Die Schilderung eines Kindheitserlebnisses, welches sich nur aufgrund des Flussnamens Wolga als nicht in Deutschland spielend preisgibt, lässt ansonsten kaum Rückschlüsse auf die Russlanddeutschen zu. Gleichwohl kann eine gewisse Kenntnis der russlanddeutschen Geschichte zu einer im historischen Kontext verortenden Interpretation beitragen: Die Erzählung spielt in den 30er Jahren, zur Zeit des relativen Wohlstands der Russlanddeutschen in der eigenen autonomen Sowjetrepublik. Die verträumte Landschaft, das unbekümmerte Angeln am Fluss und die umgebende Stille zeugen von der wortwörtlichen Ruhe vor dem Sturm: Der Hecht – auch Wasserwolf genannt und Raubfisch – kann als Symbol der Aggressivität

11 Im Folgenden: GE.

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Julia Podelo

gedeutet werden, die in einigen Jahren über die Idylle der russlanddeutschen Siedler_innen in Form des Zweiten Weltkriegs und der Deportationen hereinbrechen wird. Noch ist der bevorstehende Kampf nur angedeutet, wird als »fair« (GE 23) anerkannt, der »wackere« (ebd.) Hecht kann entkommen – jedoch nicht ohne einen der Jungen kräftig zu beißen. Die jungen Angler kehren zwar verletzt und erschöpft heim, doch versöhnt mit dem Ausgang ihres Tages. In welch starkem Kontrast steht diese Schilderung zu den späteren Erlebnissen während des Zweiten Weltkrieges und den erfahrenen Leiden, wenn nach erfolgter Enteignung aller Besitztümer ein bis heute nicht bestimmbarer Teil der Russlanddeutschen verhungert. Die Aussage, »[d]ie ganze Plackerei« sei »umsonst gewesen« (GE 23), ist dann nicht nur als Enttäuschung der angelnden Jungen zu verstehen, sondern einer ganzen Generation von Siedler_innen, die ihren über Jahrhunderte aufgebauten Wohlstand von einem Tag auf den anderen verloren sehen mussten. Eine zweite Analyse unter kollektivwissenschaftlicher Perspektive erlaubt allerdings noch weitere Interpretationsspielräume, die vom Vorwissen der Leser_innen unabhängig sind: Die Figuren sind Angehörige der Kollektive (männlicher) Jugendlicher, Angler, Deutsche (erkennbar an den deutschen Vornamen). Zudem gehören sie zu einer Dorfgemeinschaft, in welcher sie sich aufgrund des großen Fangs als »richtige Fischer« (GE 22) profilieren wollten. Den Hecht zu fangen ist damit nicht nur eine reine Nahrungsbeschaffungsmaßnahme, sondern auch ein im Kollektiv standardisiertes Statussymbol – oder eine Art Bewährungsprobe und Männlichkeitsritual, welches aus den jugendlichen Anglern erwachsene Fischer hätte machen können. Die ethnische Zugehörigkeit oder kulturell-historische Prägung des Textes spielt für diese Lesart kaum eine Rolle, behindert unter Umständen vielleicht sogar das Erkennen einer – so man will – anthropologischen Konstante: Erwachsenwerden und Finden einer eigenen gesellschaftlichen Position, zu welcher jede_r Leser_in Anschluss finden kann. Ohne konkretes Wissen zur russlanddeutschen Thematik bleibt das Hauptmotiv der Erzählung dasselbe (und ähnlich wie bei Hemingway): Im Kampf des Menschen mit der Natur kann es offenbar keinen Sieg für den Menschen geben. Je nach Alter und Zusammensetzung der Schülerschaft können die historischen Hintergründe thematisiert und diese differenzierten Interpretationen konkret diskutiert werden, insbesondere wenn Schüler_innen mit eindeutiger russlanddeutscher Selbstpositionierung im Unterricht vorhanden sind. Ist dies nicht der Fall oder sind die Schüler_innen noch jünger, bietet die kollektivwissenschaftliche Interpretation eine Einsatzmöglichkeit des Textes ohne Fokussierung auf seine Zugehörigkeit zur Migrationsliteratur. Dies gilt ebenso für das zweite Textbeispiel.

›Russlanddeutsche‹ Texte im Literaturunterricht

4.2

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Georg Gaab: Trusy

»Das russische Wort Trusy hat zwei Bedeutungen – abhängig von der Aussprache. Fällt die Betonung auf die erste Silbe, so bedeutet es ›Feiglinge‹. Wird die zweite Silbe betont, so heißt es so viel wie ›kurze Unterhosen‹« (Gaab 2005,12 S. 234). So beginnt die sicherlich humorvollste Erzählung in der Anthologie, wobei ›Beschreibung‹ vielleicht die passendere Gattungsbezeichnung darstellt: In seinem kurzen Text schildert der Ich-Erzähler die Bedeutung der Unterwäsche für das Sozialsystem der Sowjetunion in den 60er Jahren: Der durchschnittliche Sowjetbürger trug eine schwarze Trusy, die »Funktionsträger der Gesellschaft, wie der Direktor eines Betriebes oder der Oberst in der Armee oder sogar der örtliche Parteisekretär« (ebd.) eine dunkelblaue. Ergänzt wurde dieses ZweiKlassen-System durch den dritten Stand, die »Kolchosniki« (GG 235), Personen mit knielanger Unterhose und dem Ruf, ein »dummer Kolchosbauer« (ebd.) zu sein. Die verfügbare Unterwäsche bestimmte also nicht nur den sozialen Stand, sondern auch die Selbstidentifikation der Träger: Trotz minderwertiger Halteeigenschaften (»Das unaufhörlich dünner werdende Gummiband der Trusy erfüllte immer schlechter seine Funktion, so dass man ständig Gefahr lief, seine Unterhose gänzlich zu verlieren«, ebd.) widerstrebte dem Ich-Erzähler eine Modifikation des Kleidungsstücks: »Diese Maßnahme hätte natürlich den Wert der Unterhose und somit, nach dem damaligen Stand meiner Identität, auch meiner stolzen Person deutlich verringert« (ebd.). Auch in dieser humoristischen Erzählung finden sich keine Verweise auf eine spezifische russlanddeutsche Kulturgegebenheit. Der historische Kontext der sowjetischen Planwirtschaft, die die Verfügbarkeit anderer Kleidungsstile stark eingrenzte, ist sicherlich zum Verständnis relevant, für die weitere Interpretation jedoch marginal. Auch hier zeigen sich mit dem kollektivwissenschaftlichen Zugang interessante Anknüpfungspunkte für individuelle Lesarten: Die Unterhose wird zum Identifikationsmerkmal eines Kollektivs (Oberschicht vs. Normalbürger vs. Bauer), ihr Erhalt und ihre öffentliche Zurschaustellung an heißen Sommertagen Teil der Selbstdarstellung – ihr Verlust führt zum unweigerlichen Statusverlust. Die Identität des Ich-Erzählers ist in dieser Lebensphase noch von einem Kleidungsstück bestimmt, er selbst aber erkennt retrospektiv die Dynamik jeglicher Identitätskonstruktion (»nach dem damaligen Stand meiner Identität«, GG 235). Zugleich zeigt der Text, dass kollektive Standardisierungen einem Wandel unterliegen können, wenn die sowjetische Trusy später »den ›amerikanisch-imperialistischen‹ Unterwanderungen von Slip und Badehose zum Opfer [fällt]« (GG 236). Die Zugehörigkeit des Erzählers (und Autors) zum Kollektiv der Russlanddeutschen findet in diesem Text keinerlei Eingang und ist damit 12 Im Folgenden: GG.

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Julia Podelo

auch für sein Verständnis als irrelevant einzustufen. Die Analyse der im Text aufgezeigten Kollektivzugehörigkeiten und ihrer Standardisierungen ermöglicht stattdessen weitere, produktive Auseinandersetzungen der ( jungen) Leser_innen mit eigenen kindlichen Kollektiven und ihren Symbolen (z. B. das Sammeln von Stickern, Fußballkarten, Bedeutung von Markenkleidung usw.).

5

Fazit

Der Beitrag versuchte neben der Einführung in die russlanddeutsche Literatur auch eine Anregung für eine nicht an national-ethnische Kategorien gebundene Auseinandersetzung mit Migrationsliteratur im Literaturunterricht. Als Alternative wurde der bisher wenig in der Literaturwissenschaft rezipierte Kollektivansatz nach Hansen mit der Erweiterung durch Bolten zum fuzzy cultureKonzept gewählt, der einen stärkeren Fokus auf die multikollektive Prägung von Individuen legt und sich sowohl für eine differenzierte kulturbezogene Textinterpretation eignet, als auch einen Blick auf die Schülerschaft jenseits eindimensionaler Kategorisierungen impliziert. Die hier vorgestellten Beispiele sind dabei nur als erster Schritt zu verstehen: Sie zeigen beide unterschiedliche Facetten des russlanddeutschen Lebens – belegen somit im kleinen Rahmen die fuzziness dieses Kollektivs –, thematisieren keine klassischen Migrationsmotive und sind auch ohne entsprechendes Hintergrundwissen für Schüler_innen zugänglich, wenn ein entsprechendes Unterrichtssetting gewählt wird. Für eine ganzheitliche Umsetzung des Kollektivansatzes in der Literaturdidaktik bedarf es einer deutlich fundierteren Auseinandersetzung mit den Implikationen des Ansatzes für die konkrete Analyse von unterschiedlichen Textgattungen, für die Modellierung literaturdidaktischer Rahmenkonzeptionen und die Ausbildung zukünftiger Lehrer_innen. Dies kann im vorliegenden Beitrag jedoch nur als ausdrückliches Forschungsdesiderat identifiziert werden.

Quellenverzeichnis Primärtexte [GE] Eirich, Gottlieb: ›Wie wir Krebse und Hechte fischten‹, in: Literaturkreis der Deutschen aus Russland (Hg.): Kindheit in Russland. Eine Anthologie des Verstehens. Erzählungen und Erinnerungen russlanddeutscher Autoren. Vechta-Langfördern 2005, S. 20–23.

›Russlanddeutsche‹ Texte im Literaturunterricht

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[GG] Gaab, Georg: ›Trusy‹, in: Literaturkreis der Deutschen aus Russland (Hg.): Kindheit in Russland. Eine Anthologie des Verstehens. Erzählungen und Erinnerungen russlanddeutscher Autoren. Vechta-Langfördern 2005, S. 234–236.

Sekundärliteratur Brantsch, Ingmar: ›Vorwort. Der Kindheit Zauber von Wolgastrand bis Sibiriens Eiswüsten und Kasachstans Gluthitze. Zur ›Anthologie Kindheit in Russland‹ von den 30er Jahren bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts‹, in: Literaturkreis der Deutschen aus Russland (Hg.): Kindheit in Russland. Eine Anthologie des Verstehens. Erzählungen und Erinnerungen russlanddeutscher Autoren. Vechta-Langfördern 2005, S. 8–18. Bauer, Rupprecht S. / Chlosta, Christoph / Krekeler, Christian / Wenderott, Claus: Die unbekannten Deutschen. Ein Lese- und Arbeitsbuch zu Geschichte, Sprache und Integration rußlanddeutscher Aussiedler. Baltmannsweiler 1999. Beutin, Wolfgang (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 7. Auflage. Stuttgart 2008. Bolten, Jürgen: ›Unschärfe und Mehrwertigkeit: ›Interkulturelle Kompetenz‹ vor dem Hintergrund eines offenen Kulturbegriffs‹, in: Dreyer, Wilfried / Hoessler, Ulrich (Hg.): Perspektiven interkultureller Kompetenz. Göttingen 2011, S. 55–70. Bolten, Jürgen: ›Fuzzy Cultures: Konsequenzen eines offenen und mehrwertigen Kulturbegriffs für Konzeptualisierungen interkultureller Personalentwicklungsmaßnahmen‹, in: SIETAR – Journal für interkulturelle Perspektiven (19) 2013, S. 4–9. Bolten, Jürgen: ››Diversität‹ aus der Perspektive eines offenen Interkulturalitätsbegriffs‹, in: Moosmüller, Alois / Möller-Kiero, Jana (Hg.): Interkulturalität und kulturelle Diversität. Münster 2014, S. 47–60. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge / Bundesministerium des Innern (BAMF / BMI): Migrationsbericht 2016 / 2017. Nürnberg / Berlin 2018, verfügbar unter: http://www. bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migrationsbe richt-2016-2017.pdf ?__blob=publicationFile [03. 12. 2019]. Dubinin, Sergej: ›Die Wolgadeutschen und ihre autonome Republik (1924–1941)‹, in: Ammon, Ulrich / Kemper, Dirk (Hg.): Die deutsche Sprache in Russland. Geschichte, Gegenwart, Zukunftsperspektiven. München 2011, S. 82–94. Eisfeld, Alfred: ›Die Entwicklung in Russland und in der Sowjetunion‹, in: Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) (Hg.): Informationen zur politischen Bildung: Aussiedler (267) 2000, S. 16–25. Glaser, Horst A. (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte zwischen 1945–1995. Eine Sozialgeschichte. Bern 1997. Greuel, Frank: Ethnozentrismus bei Aussiedlerjugendlichen. Eine explorative, qualitative Studie in Thüringen. Hamburg 2009. Hansen, Christina / Fischer, Katharina: »Erziehung als Gestaltungsraum« – Pädagogisches Handeln unter kontextualer Perspektive. Person – Beziehung – Kollektive – Systeme. Münster 2018. Hansen, Klaus P.: Kultur und Kulturwissenschaft: Eine Einführung. Tübingen 2011.

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Julia Podelo

Härle, Gerhard / Steinbrenner, Marcus (Hg.): Kein endgültiges Wort. Die Wiederentdeckung des Gesprächs im Literaturunterricht. Baltmannsweiler 2004. Heinen, Ute: ›Zuwanderung und Integration in der Bundesrepublik Deutschland‹, in: Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) (Hg.): Informationen zur politischen Bildung: Aussiedler (267) 2000, S. 36–49. Holzbrecher, Alfred: Interkulturelle Pädagogik. Berlin 2004. Jammal, Elias: ›Vielfalt, Kollektivität und Lebenswelt‹, in: Moosmüller, Alois / MöllerKiero, Jana (Hg.): Interkulturalität und kulturelle Diversität. Münster 2014, S. 105–123. Koch, Kristine: ›Zur Geschichte der Rußlanddeutschen‹, in: Deutsch lernen. Zeitschrift für den Sprachunterricht mit ausländischen Arbeitnehmern (1) 1995, S. 4–18. Kotzian, Ortfried: Die Aussiedler und ihre Kinder. Eine Forschungsdokumentation über die Deutschen im Osten der Akademie für Lehrerfortbildung und des Bukowina-Instituts. Augsburg 1991. Neutatz, Dietmar: ›Zwischen Spracherhalt und Assimilierung. Russlanddeutsche und Donauschwaben vor 1914 im Vergleich‹, in: Rothe, Hans (Hg.): Deutsche in Russland. Köln 1996, S. 61–86. Roche, Jörg / Schiewer, Gesine Lenore: ›Grundlagen einer dialogischen Literaturdidaktik‹, in: Roche, Jörg / Venohr, Elisabeth (Hg.): Kultur- und Literaturwissenschaften. Tübingen 2018, S. 170–184. Roesler, Karsten: Rußlanddeutsche Identitäten zwischen Herkunft und Ankunft. Eine Studie zur Förderungs- und Integrationspolitik des Bundes. Frankfurt a. M. 2003. Roll, Heike: Jugendliche Aussiedler sprechen über ihren Alltag. Rekonstruktion sprachlichen und kulturellen Wissens. Inaugural Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwigs-Maximilians-Universität München. München 2003. Rötzer, Hans Gerd: Geschichte der deutschen Literatur. Epochen – Autoren – Werke. Bamberg 2008. Schnell, Ralf: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. 2. Auflage. Stuttgart 2003. Seifert, Elena [Zejfert, Elena Ivanovna]: Vesneg. Stichi i perevody [Vesneg. Gedichte und Übersetzungen]. Moskau 2009a. Seifert, Elena [Zejfert, Elena Ivanovna]: Zˇanr i e˙tnicˇeskajakartinamira v poe˙zii rossijskich nemcev v toroj poloviny XX – nacˇala XXI vv [Genre-Prozesse in der Poesie der Russlanddeutschen in der zweiten Hälfte des XX. und dem Beginn des XXI. Jahrhunderts.]. Lage 2009b. Zadeh, Lotfi: ›A fuzzy-set-theoretical interpretation of linguistic hedges‹, in: Journal of Cybernetics (2) 1972, S. 4–34.

Internetquellen Bundeszentrale für politische Bildung: Russlanddeutsche und andere postsozialistische Migranten, 2017, verfügbar unter: https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossier s/252533/russlanddeutsche-und-andere-postsozialistische-migranten [03. 12. 2020]. Bundeszentrale für politische Bildung: Russlanddeutsche, 2018, verfügbar unter: http:// www.bpb.de/gesellschaft/migration/russlanddeutsche [03. 12. 2020].

›Russlanddeutsche‹ Texte im Literaturunterricht

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Däs, Nelly: Autoren-Webseite, 2020, verfügbar unter: http://nellydaes.de [03. 12. 2020]. Hummel, Eleonora: Autoren-Webseite, 2020, verfügbar unter: https://www.eleonora-hum mel.de [03. 12. 2020]. Klassen, Lena: Autoren-Webseite, 2020, verfügbar unter: http://www.lenaklassen.de [03. 12. 2020]. Literaturkreis der Deutschen aus Russland: Almanach, 2020, verfügbar unter: https://litera turkreis-autoren-aus-russland.de/almanach [03. 12. 2020]. Literaturkreis der Deutschen aus Russland: Portal für russlanddeutsche Literatur und Literaturgeschichte, 2020, verfügbar unter: https://literaturkreis-autoren-aus-russland.de [03. 12. 2020]. N. N.: Scherben sammeln, 2020, verfügbar unter: https://scherbensammeln.wordpress.com [03. 12. 2020]. Schatz, Max: Autoren-Webseite, 2020, verfügbar unter: https://schachmax.jimdofree.com [03. 12. 2020].

Eszter Propszt

Lernen mit der ungarndeutschen Literatur – Identitätsperspektiven

Im Fokus meines Beitrags steht ein Studienbuch, das ich (u. a.) zur literarischen Identitätsförderung zukünftiger Pädagog_innen der in ihrer Sprache und Identität durch fortschreitende Assimilation gefährdeten Minderheit der Ungarndeutschen1 entworfen habe: Zum Studium der ungarndeutschen Literatur (2015). Das Ziel, das ich mit dem Studienbuch verfolgte, war, systematisch zu Bedeutungs- und damit Identitätsleistungen der ungarndeutschen Literatur (seit 1973)2 hinzuführen und Erfahrungen mit dieser Literatur zu fazilitieren. Das Buch versteht sich als exemplarische Verwendung von Theorien, die Literatur als identitätskonstitutiv begreifen und deren Funktionen sich auf semiotischer Grundlage beschreiben lassen. Beim Verfassen des Studienbuches ließ ich mich von der Grundannahme leiten, dass die Literatur über eine identitätsfördernde Funktion verfügt. Diese Annahme impliziert zwei weitere: Erstens, dass Identität eine Bedeutungskonstruktion darstellt, zweitens, dass Literatur im Prozess der Bedeutungskonstruktion als Vorlage funktioniert. Diese zwei Annahmen sollen näher betrachtet werden. 1 Die Lehrer_innenausbildung Deutsch und Deutsch als Nationalitätensprache befähigt die Studierenden zum wissenschaftlich fundierten, zeitgemäßen Unterricht der Geschichte, Literatur, Sprache, Sprachverwendung sowie Kulturkunde der ungarndeutschen Volksgruppe. Die Student_innen eignen sich in sprachlich-sprachwissenschaftlichen, literaturwissenschaftlichen und -geschichtlichen Studien all die Inhalte an, die die traditionellen germanistischen Studien anbieten, sie erhalten aber auch spezielle Zusatzkenntnisse auf den oben aufgezählten Gebieten. Diese Kenntnisse befähigen die Studierenden auch, sprachlich und fachlich kompetent an der Arbeit der deutschen Nationalitätenorganisationen, MinderheitenSelbstverwaltungen und am öffentlichen Leben der Nationalitäten in Ungarn teilzunehmen. Die Nationalitäten-Herkunft ist keine notwendige Anforderung für diese Studienmöglichkeit, es ist jedoch von Bedeutung, dass die angehenden Lehrer_innen sich motiviert für die Pflege, Bewahrung und Vermittlung von Sprache, Literatur und Kultur der ungarndeutschen Minderheit fühlen bzw. dass sich diese Motivation im Zuge des Studiums herausbildet. 2 Die ungarndeutsche Literatur wird 1973 mit dem Preisausschreiben »Greift zur Feder!« als institutionalisierte Literatur konstituiert. Den Prozess der Institutionalisierung und die Tendenzen der ungarndeutschen Literatur zwischen 1973 und 2006 erörtere ich in Propszt 2007.

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Eszter Propszt

Identität wird in verschiedenen psychologischen (ich-psychologischen, sozialpsychologischen, kognitiv psychologischen, entwicklungspsychologischen, erziehungspsychologischen usw.), soziologischen und wissenssoziologischen Ansätzen als ein flexibles, formbares, jedoch relativ stabiles Ergebnis von bedeutungskonstitutiven Prozessen konzeptualisiert.3 In diesen Ansätzen wird davon ausgegangen, dass im Prozess der Identitätsbildung soziokulturell bereitgestellte Kategorien, d. h. thematische Einheiten (selektiv) internalisiert werden. Auch die Literatur funktioniert in diesem Prozess als Vorlage: Sie liefert der Leserschaft gesellschaftlich-kulturelle Bedeutungen tragende Kategorien und aus diesen Kategorien – über narrative Integration und Organisation – erstellte kohärente Bedeutungs-Muster zur Identifikation und Gegenidentifikation. Der Prozess lässt sich mit Jürgen Links Literaturtheorie (vgl. Link / LinkHeer 1980; Link 1983) ausführlicher beschreiben. Die spezifische Leistung der Literatur für die Konstruktion persönlicher Bedeutungen legt Links literarische Interdiskursanalyse in der Produktion von »erlebbaren Applikations-Vorgaben« (Link / Link-Heer 1990, S. 92) fest. Diese Applikations-Vorgaben entstehen mit der literarischen Verarbeitung kulturell parat gestellter, spezifisch-historischer elementar-literarischer Zeichenarsenale: Literatur löst nach Link mehr oder weniger komplexe Zeichen und ZeichenKonstellationen (z. B. bildliche Analogien, Metaphern, Symbole, Figurationen menschlicher Subjekte usw.) aus ihren pragmatischen Kontexten heraus und verleiht ihnen eine literarische Kohärenz. Die je historisch-spezifische semiotische Struktur der Literatur, die damit entsteht bzw. die Texte, die in dieser Struktur entstehen, stellen jedoch nicht nur eine Reproduktion dar. Link betont, dass Literatur, die als sprachlich-semiotische Struktur deutlich von anderen gesellschaftlichen Praktiken getrennt und immanent sinnvoll ist, und dadurch während ihrer Rezeption eine zeitweilige relative Suspension der realen Praktiken bewirkt, Erfahrungen nicht nur reproduzieren, sondern auch modellhaft konstruieren und fingieren kann.4 Durch das Rezipieren der modellhaft (re)konstruierten Konstellationen wird für den / die Leser_in Wahrnehmung und Zugriff auf die Realität strukturiert: In der Rezeption werden die literarisch verarbeiteten Zeichen und Zeichen-Konstellationen pragmatisch neu verankert, die Literatur wird über die Applikation von Konfiguration, Handlung, Situation, Symbolik usw. zum bedeutungsstrukturierenden Medium der Lebenspraxis der Leser_innen. Die Strukturierung verläuft nicht zuletzt über die Einnahme divergierender sozialer Perspektiven, die in der literarischen Verarbeitung der vorliterarischen Zeichen und Zeichen-Konstellationen artikuliert werden (die 3 Wesentlich für meine Arbeit sind u. a. Erikson 1968; Berger / Luckmann 1969; Pataki 1982; Bruner 1997; Pataki 2001. 4 Vgl. Link / Link-Heer 1980, S. 136–164.

Lernen mit der ungarndeutschen Literatur – Identitätsperspektiven

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semantisch positive und negative Besetzung eines kollektiv verwendeten Symbols durch unterschiedliche Figuren bewirkt bspw., dass Konflikte ausgetragen werden), die unterschiedliche Wertungsmöglichkeiten erlauben, und damit bedeutungskonstruktive Prozesse auch reflektieren helfen. Über die Applikation der literarischen Vorgaben können also Identitäten erweitert, d. h. in ihren Kategorien angereichert, gestaltet und auch reflektiert werden. In der Konsequenz der ausgeführten Annahmen ergeben sich für den Literaturunterricht die folgenden Aufgaben: die pragmatische Anwendbarkeit literarischer Texte zu betonen, und die Leser_innen / Studierenden zum Erstellen von Gebrauchssinn zu motivieren; den Leser_innen / Studierenden Lesestrategien und -schemata zu vermitteln, die ihre spontanen, unreflektierten Lesestrategien und -schemata entwickeln bzw. reflektieren helfen und damit auch die Mechanismen ihrer alltäglichen Wirklichkeitskonstruktion; und dadurch einen Beitrag zum Erarbeiten von Bedeutung und Sinn der Lebensereignisse der Leser_innen / Studierenden zu leisten. Zur Darstellung des Studienbuches präsentiere ich hier Aufgaben, die hauptsächlich die folgenden vier identitätsrelevanten Kompetenzen5 zu fördern beabsichtigen: 1. die komplexe und kritische Analyse von Bedeutungskonstrukten, 2. die Identifizierung diverser Be-Deutungs-Kriterien6 und deren Reflexion, 3. die Integration persönlicher Erfahrungen in begriffliche und wissenschaftliche Systeme 4. und die Reflexion der eigenen Bedeutungskonstruktion sowie die Fähigkeit der Um- oder Neustrukturierung von persönlichen Bedeutungen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass die anvisierten Kompetenzen (auch in ihrer Entwicklung durch die Literatur) nicht scharf, sondern eher nur aus untersuchungs- und darstellungspraktischen Gründen voneinander zu trennen sind.

5 Unter Kompetenz verstehe ich im Folgenden die zahlreichen Ergebnisse der Kompetenzforschung zu einer für meine Ausführungen hinreichenden Definition verallgemeinernd (wegweisend für mich Nagy 2000 und Csapó 2001, S. 270–293), ein sich aus Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie aus mit diesen verbundenen und System bildenden Kenntnissen aufbauendes Wissen, das in verschiedenen Praktiken des Alltags adäquat verwendbar ist. 6 Mit dieser Schreibweise möchte ich betonen, dass es stets um einen Deutungsakt geht, dass Bedeutungen nicht in der Sache, Erfahrung usw. selbst liegen, sondern diesen stets zugewiesen werden.

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1

Eszter Propszt

Komplexe und kritische Analyse von Bedeutungskonstrukten

Die Erörterung der Institutionalisierung der ungarndeutschen Literatur in den 1970er Jahren (Einheit 2 im Studienbuch, vgl. Propszt 2015, S. 17–24) erfordert eine komplexe und kritische Analyse bedeutungskonstitutiver Zusammenhänge. Die Student_innen bekommen eingangs die Aufgabe, das Preisausschreiben, mit dem die erste ungarndeutsche Anthologie begründet worden ist (vgl. Áts 1974), sorgfältig auf seine Strukturen hin zu lesen: Lesen Sie das Preisausschreiben »Greift zur Feder!« und rekonstruieren Sie dessen soziokommunikativen Kontext! Lesen Sie die »Vorbereitung« des Preisausschreibens und machen Sie sich am Rand Notizen – neben Ihren eigenen – zu den folgenden Fragen: – Wie könnte die Textsorte bestimmt werden? – Welches inhaltliche Ziel verfolgt der Autor? Was für Wirkungsabsichten dürfen vermutet werden? – Welche Sinneinheiten sind festzustellen? (Sie können diese auch graphisch markieren.) Wie wird ihre Kohäsion hergestellt? Versuchen Sie auch die Komposition des gesamten Textes zu bestimmen! – Welcher sprachlich-rhetorischen Mittel bedient sich der Autor? – Welche syntaktischen Mittel fallen auf ? (Neben- und Unterordnung, Vergleichssätze, Folgesätze; Komplexität der Sprache, Klarheit, Verständlichkeit usw.) – Welche Argumentationsstrategien sind zu erkennen? (Beweisführung, Relativierung, Verallgemeinerung, Verleugnung, Nahelegung usw.) – Lesen Sie den Text aufmerksam auf Anspielungen, Implikationen, Bildlichkeit, Stil usw. hin! – Was für ein Literatur- und Gesellschaftsverständnis konturiert sich hier? (Propszt 2015, S. 18) Der Auszug aus Tilkovszky Loránts Nemzetiségi politika Magyarországon a 20. században […] hilft Ihnen, den bearbeiteten Text (in seinem historisch-sozialen Kontext) nun systematisch darzustellen und zu interpretieren.7 (Ebd., S. 23)

In einem nächsten Schritt können die festgestellten Strukturen in den Texten der Anthologie identifiziert werden (ebd., S. 25f.):

7 Für die bessere Lesbarkeit ist in diesem Beitrag von der Nummerierung der Aufgaben im Studienbuch abgewichen worden. Für die Zuordnungen vgl. die in Klammern angegeben Seitenzahlen von Propszt 2015.

Lernen mit der ungarndeutschen Literatur – Identitätsperspektiven

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Aus den »Greift zur Feder!«-Beiträgen entstand die Anthologie Tiefe Wurzeln. – Untersuchen Sie zunächst, wie die in Aufgabe 1 ausgearbeiteten ideologischen und sozialen Bedingungen in einige Texte eingehen! [zwei Gedichte] – Verschaffen Sie sich dann ein Gesamtbild über die Anthologie! Reflektieren Sie in einem Aufsatz die im Vorwort dargestellte Konzeption, prüfen Sie ihre Verwirklichung, referieren Sie die literarische und gesellschaftliche Position, die die Autoren einnehmen usw.

Die dritte Aufgabe (ebd., S. 26) verortet das Preisausschreiben in breiteren Kontexten und lässt die für die ungarndeutsche Literatur vorgeschriebenen BeDeutungs-Muster als zeittypische erkennen: Haben Sie von dem »Bitterfelder Weg« gehört? […] Setzen Sie sich mit der sich hier abzeichnenden (und der in Aufgabe 1 festgestellten) Literaturauffassung auseinander!

Die vierte Aufgabe (ebd., S. 27) leitet die kritische Reflexion der eigenen Wertungs-, also Be-Deutungs-Positionen ein: Diskutieren Sie in der Gruppe die Möglichkeit neutraler oder ideologiefreier Literaturproduktion und -rezeption!

Mit dem Studienbuch habe ich versucht, neben der sozialen und ideologischen auch die emotionale Bedingtheit der Bedeutungskonstruktion bewusst und erlebnismäßig zugänglich zu machen. Für die Behandlung von Robert Baloghs Fern vom Auge, fern vom Herzen (Balogh 2008)8 (Einheit 19, vgl. Propszt 2015, S. 140) habe ich folgende Aufgabe geplant: Robert Baloghs Einakter Fern vom Auge, fern vom Herzen – nach seiner Selbstdefinition »Emotionen, Schicksalsvarianten« – thematisiert Bewältigungsmöglichkeiten des Vertreibungstraumas. – Diskutieren Sie mögliche Motivationen der Figuren! Arbeiten Sie mit »inneren Stimmen«: Wählen Sie Szenen aus, die Sie für besonders wichtig halten, und während Gruppenmitglieder die Textpartien nach Rollen vorlesen, sollen andere Mitglieder 8 Es muss angemerkt werden, dass die ungarndeutsche Literatur einen deutsch- und einen ungarischsprachigen Strang hat. Genauer formuliert: Für meine Untersuchungen definiere ich, wie in Propszt 2007 näher ausgeführt, den ungarndeutschen literarischen Diskurs nicht über die Sprache, sondern über die direkte, d. h. semantisch explizite Konstruktion der ungarndeutschen ethnischen und / oder nationalen Identität. Das bedeutet, ich definiere ihn über die konfigurations- und / oder konfliktkonstitutive Aktualisierung des Sems ›ungarndeutsch‹ in einem Text. Die Einheiten, die ungarischsprachige (und bis dato nicht ins Deutsche übersetzte) Texte erörtern, sind im Studienbuch – auch einer breiteren Anwendbarkeit zuliebe – in ungarischer Sprache ausformuliert, d. h. die angeführten Beispiele habe ich für diesen Beitrag ins Deutsche übertragen.

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der Gruppe versuchen, unausgesprochene Gefühle und Gedanken der Figuren laut zu formulieren! Wechseln Sie die Rollen, probieren Sie verschiedene Identifikationen! Zeichnen Sie die aufgedeckten Bedeutungen auf und reflektieren Sie Ihre Erfahrungen!

Mit der Aufgabe können auch die Fähigkeiten entwickelt werden, die Krappmann als identitätsfördernd kennzeichnet (vgl. Krappmann 2000, S. 133ff.): Empathie, also die Fähigkeit, Gedanken, Emotionen, Absichten eines anderen Menschen nachempfindend zu erkennen und zu verstehen; Rollendistanz, d. h. die Fähigkeit, Rollenerwartungen zu interpretieren und mit ihnen kritisch und reflektierend so umzugehen, dass die eigenen Bedürfnisse in das Geschehen eingebracht werden können; und auch Ambiguitätstoleranz als die Fähigkeit, Widersprüchlichkeiten der Rollen und einander widerstrebende Motivationsstrukturen wahrzunehmen und einzusehen, dass in einer Situation nicht alle (einander widerstrebenden) Bedürfnisse befriedigt werden können.

2

Identifizierung diverser Be-Deutungs-Kriterien und deren Reflexion

Die Ausdifferenzierung verschiedener Be-Deutungs-Kriterien ist für viele Studierende, wie meine Erfahrung zeigt, zu Anfang der Kurse keine leichte Aufgabe, deshalb wollen verschiedene Aufgaben diese Fähigkeit trainieren. Bei der Thematisierung eines aufschlussreichen Textes der 1980er Jahre (Einheit 6, vgl. Propszt 2015, S. 53) bitte ich die Kursteilnehmer_innen – nachdem wir soziokommunikative Kontexte der ungarndeutschen Literatur in diesen Jahren rekonstruiert haben – darum, konträre Erzählerpositionen als Deutungspositionen auszuarbeiten. Franz Szieberts Wann kommen die Störche wieder? […] ist ein exemplarischer Text der 1980er Jahre. – Kontrastieren Sie die Erzählerpositionen des Textes auf der Grundlage Ihres Geschichtsverständnisses! Tragen Sie konkrete Textstellen in Ihre Skizze ein!

Erzähler 1 – – –

Erzähler 2 – – –

Beschreiben Sie die Erzählerpositionen im Hinblick auf das »offizielle« Geschichtsverständnis der 1980er Jahre!

Lernen mit der ungarndeutschen Literatur – Identitätsperspektiven

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Darauf folgen im späteren Verlauf des Kurses auch vertiefende Übungen, bspw. zu Robert Baloghs Schvab evangiliom (Balogh 2001) (Einheit 16, vgl. Propszt 2015, S. 125f., Übersetzung aus dem Ungarischen von E. P.): [Robert Baloghs Schvab evangiliom beinhaltet mehrere »Bücher«: Buch der Fragen, Buch des Opapas, Buch der Omama, Buch des Enkels usw.] Arbeiten Sie (in Partneroder Gruppenarbeit) inhaltliche und sprachlich-rhetorische Eigentümlichkeiten der Bücher heraus und präsentieren Sie Ihre Ergebnisse in der Gruppe! – Lesen Sie, nachdem Sie die Ergebnisse präsentiert haben, etwa als Synthetisierung, Geschichten, die von mehreren Figuren erzählt werden, noch einmal durch! Was denken Sie, sind es dieselben Geschichten? Diskutieren Sie die Zusammenhänge von Geschichte und Geschichtserzählung in der Gruppe! – Opapa, Omama und der Enkel erleben ungarndeutsche Kultur und ungarndeutsche Tradition unterschiedlich und lassen Kultur und Tradition auch unterschiedlich wahrnehmen. Wessen Perspektive lädt Sie zur Identifikation ein? Warum?

Die Aufgabe möchte auch Wissen über die bedeutungskonstitutive Funktion des Geschichtserzählens vermitteln und Folgendes erfahrbar machen. Erstens, dass unsere Geschichten in intra- und interpersonalen Bedeutungszusammenhängen bzw. soziokulturellen Zusammenhängen eingebettet, also relativ sind. Zweitens, dass wir uns mittels Geschichten verschiedenen Gemeinschaften (Familie, Generation, gesellschaftlicher Gruppe) anschließen, um an deren Wir-Gefühl zu partizipieren und uns von dem ›Nicht-Wir‹ abzugrenzen. Drittens, dass wir uns durch die Rezeption der Geschichten Anderer kulturelle und soziale Muster und Regeln aneignen, die auch die Konstruktion und die soziale Mitteilbarkeit unserer Geschichten bestimmen. Und viertens, dass die Geschichten, die wir über uns erzählen, über die mit ihnen ausgearbeiteten Bedeutungen die Stabilität unseres jeweils aktuellen Ich-Systems sichern. Dadurch möchte ich auch die Fähigkeit der Identitätsdarstellung9 entwickeln, die meines Erachtens die narrative Kompetenz tangiert. Letztere ist – den Ausführungen von Ricoeur folgend (vgl. Ricoeur 1996) – darin zu fassen, dass die Narration zwischen den zwei Polen der Identität, der Idem- und der Ipse-Identität, vermittelt, wodurch sie das Veränderliche und Dynamische in eine zeitliche Dauer, vielfältige und verschiedene Zustände und Erfahrungen in eine zusammenhängende Temporalstruktur integriert, Kohärenz zwischen Zielen, Ursachen und Zufällen stiftet, und dadurch zur Ausgestaltung einer einheitlichen, konsistenten, jedoch immer wieder neu gestaltbaren Persönlichkeit beiträgt.10 9 Vgl. Krappmann 2000. 10 Es liegt viel daran, ob die Identitätsarbeit auch narrativ eine kompetente ist. Daran, ob das Individuum fähig ist, sein Dasein in einer zusammenhängenden, sich entwickelnden Geschichte zu integrieren, d. h. in Bezug auf sich selbst narrative Komplexität und Kohärenz zu

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Integration persönlicher Erfahrungen in begriffliche und wissenschaftliche Systeme11

In der Arbeit mit Denk- und Bedeutungsstrukturen scheint es sehr förderlich, von persönlichen Leseeindrücken, Leseerfahrungen auszugehen und auf diese während der Arbeit stets Bezug zu nehmen. Folgende Aufgaben – zu Márton Kalász’ Téli bárány/Winterlamm (Kalász 1986 und 1992) (Einheit 10, vgl. Propszt 2015, S. 85f.) und zu Robert Baloghs Schvab legendariom (Balogh 2004) (Einheit 17, vg. Propszt 2015, S. 129) – zielen in dieser Erwägung darauf ab, die leserische12 Informationsverarbeitung zu systematisieren und reflektierbar zu machen. Machen Sie sich Notizen, während Sie Márton Kalász’ Téli bárány/Winterlamm lesen! Teilen Sie ein Blatt Papier in zwei Hälften, zeichnen Sie in der linken Spalte Zitate, Schlüsselwörter, Bilder, Gedanken auf, die Ihr Interesse geweckt haben, Gedanken oder Emotionen hervorgerufen haben, Sie überrascht haben usw. und reflektieren Sie die

stiften, ist der Grad der Ich-Reife abzulesen (siehe dazu beispielsweise die Forschungsergebnisse von Dan P. McAdams, vgl. McAdams 1988, S. 48–68). Die Stiftung der Komplexität und der Kohärenz (vor allem durch die Abbildung zeitlicher Verhältnisse von Lebensereignissen und durch die Herstellung von Kausalverbindungen zwischen diesen Ereignissen) stellt auch die Stiftung jener Kontinuität dar, die für das mentale Gleichgewicht des Individuums notwendig ist. Die Komplexität und die Kohärenz zeigen, ob die soziale Adaptation des Individuums erfolgreich ist, ob es ihm gelingt, seine Position in gesellschaftlichen Situationen und Prozessen genau und relativ dauerhaft, jedoch für Veränderungen offen zu bestimmen, und ob die Elaboriertheit und die Flexibilität seiner sozialen Identität die Konsistenz seiner persönlichen Identität zu begründen vermögen. Die Notwendigkeit und die Möglichkeiten der Kohärenzstiftung werden stets durch Theorien und Analysen in Frage gestellt, die den Zerfall, die Auflösung, die Fragmentierung des Ich postulieren bzw. behaupten. Das kann als Kampf gegen einen Essenzialismus, gegen falsche Sicherheiten verstanden werden, vgl. dazu Pléh 1996, S. 265–282; Pléh 1999, S. 25–34. Trotzdem macht die Feststellung, dass unser Leben durch Konstruktionen bestimmt ist, die Kohärenzstiftung weder überflüssig noch unmöglich: Die Einsicht in integrative Konstruktionsprozesse kann die Herausbildung einer hochgradig reflektierten Identität herbeiführen, und zwar im Zeichen der Toleranz. In diesem Zusammenhang kann angemerkt werden, dass auch soziologisch-sozialpsychologische Forschungen eine Notwendigkeit der Kohärenzstiftung konstatieren, so die Forschungen von Heiner Keupp u. a. 1999, der versucht, den Kohärenzbegriff, der innere Einheit, Harmonie oder geschlossene Erzählung meint, durch einen Kohärenzbegriff zu ersetzen, der eine offene Struktur meint, in der Optionen offen gehalten werden können, scheinbar widersprüchliche Fragmente verknüpft werden können, und in der allein entscheidend ist, ob die Verknüpfung für das verknüpfende Subjekt selbst eine authentische Gestalt hat und einen Kontext von Anerkennung und Unterstützung anderer Subjekte. Vgl. auch die Forschungen von Kraus 2000. 11 Zu dieser Kompetenz sei am Rande angemerkt, dass in Ungarn die Fähigkeit, wissenschaftliche Systeme im Unterricht sachgemäß anzuwenden seit einigen Jahren auch unter den Qualifizierungskriterien bzw. -indikatoren der angehenden und der praktizierenden Lehrer_innen vorgeschrieben ist. 12 D. i. die Informationsverarbeitung des Lesers / der Leserin.

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ausgewählten Textteile in der rechten Spalte, formulieren Sie Ihre Assoziationen, Probleme, Fragen usw.! Téli bárány / Winterlamm Textteile, die mich beschäftigen

meine Reflexionen

Diskutieren Sie Ihre Leseerfahrungen in der Gruppe und halten Sie hier wichtige Fragen, Probleme usw. fest! – Können Sie aus der Diskussion Gesichtspunkte für die Textanalyse gewinnen? Zählen Sie einige von diesen auf, formulieren Sie dann mögliche Arbeitsschritte der Textanalyse, und versuchen Sie ein logisches Nacheinander der Arbeitsschritte auszuarbeiten! Arbeiten Sie mit Mindmaps und Diagrammen! – Notieren Sie Deutungsfragen und -probleme, denen Sie beim Lesen von Robert Baloghs Schvab legendariom begegnet sind. Versuchen Sie aus diesen Fragen und Problemen Aspekte einer Interpretation zu gewinnen. Überlegen Sie Möglichkeiten der Informationsbeschaffung zu den Problembereichen (besuchen Sie auch Bibliotheken!), versuchen Sie Ihre Interpretation theoretisch und methodologisch zu fundieren!

Der Ausbau von Denk- und Bedeutungssystemen im Gedankenaustausch in Partner- oder Gruppenarbeit, also im Austausch von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹, wird in den Rückmeldungen meiner Studierenden oft hoch bewertet, viele stellen jedoch auch fest, dass ihnen die Vermittlung von Konkretem und Abstraktem Schwierigkeiten bereitet.

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Reflexion der eigenen Bedeutungskonstruktion und die Fähigkeit der Um- oder Neustrukturierung von persönlichen Bedeutungen

Die Verankerung des Erfahrenen und des Gelernten in alltäglichen und persönlichen Kontexten setzt die Fähigkeit der Reflexion auf die eigene Bedeutungskonstruktion und die Fähigkeit der Umstrukturierung von persönlichen Bedeutungen voraus. Für die Förderung dieser Fähigkeit hat sich in meiner Praxis die Behandlung ungarischsprachiger Werke als besonders ertragreich erwiesen, da diese entschiedener das persönliche Rezipieren fazilitieren als viele deutschsprachige Texte, die bestrebt sind, auf einer gemeinsamen Konvention

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beruhende, verbindliche Sinnzuweisungen auszuarbeiten. Aus dem Ungarischen von mir für diesen Aufsatz übersetzte Beispiele dafür sind eine Aufgabe zu István Elmers Volksbarock (Elmer 1991) (Einheit 15, vgl. Propszt 2015, S. 119) und eine zu Robert Baloghs Schvab evangiliom (Einheit 16, vgl. Propszt 2015, S. 127): Stellen Sie zentrale Figuren in [István Elmers] Volksbarock fest, und rekonstruieren Sie (in Einzel- oder Partnerarbeit) deren Lebensgeschichten! Suchen Sie dann (in Gruppenarbeit) gemeinsame Elemente dieser Geschichten! Figuren

Episoden der Lebensgeschichte(n)

Was für Muster konturieren sich in der Geschichte der dargestellten Familie? – Haben Sie schon über das Muster nachgedacht, das Ihre eigene Familiengeschichte abgibt? – Versuchen Sie einen persönlichen Bezug zu den den Band abschließenden Zeilen zu finden! für breuchen⃰ Die Landstraße der Toten ist die Landstraße der Lebendigen. Das ist das Einzige was verbindet. Das ist das Einzige was bleibt Wer den Weg durchgegangen ist soll darüber mit Zuversicht berichten. Damit es leichter ist das zu glauben Damit wir es nicht als Scherz hinnehmen. Denn der Vogel kommt um Und der Kranke wird heil. (⃰Für »Gesundbeten«. Ungarndeutscher Dialekt i. O.)

Am Ende meines Studienbuches stehen zwei Aufgaben (Propszt 2015, S. 159f.), die aus derselben Überlegung heraus (wahlweise) zum Nachdenken über den gesamten Lernprozess anregen möchten: Hier finden Sie den Lexikonartikel »Minderheitenliteratur« aus Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart […]. Lesen Sie ihn und kontrastieren Sie ihn – in einem Essay – mit Ihrer Minderheitenliteratur-Erfahrung! Gehen Sie auch darauf ein, was Ihre Erfahrung bestätigt und was nicht! Formulieren Sie schließlich Ihr eigenes Ungarndeutsche-Literatur-Verständnis […]!

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Reflektieren Sie in einem Essay, welche Erkenntnisse Sie durch das im Kurs Gelernte bzw. Erfahrene gewonnen haben! Was haben Sie über sich selbst erfahren?

Das kritische Denken und die Fähigkeit zur Metakognition, zu denen diese Aufgaben anhalten, sind Schlüsselkompetenzen (auch) der Identitätskonstruktion. Meine mit dem Studienbuch vertretene Absicht ist, die Ausführungen abschließend, darin zusammenzufassen, durch die ungarndeutsche Literatur möglichst viele Studierende darin zu unterstützen, aktiv an ihren eigenen Lernund Erziehungsprozessen teilzunehmen, zum engagierten, interessierten und verantwortlichen Konstrukteur von Bedeutungen, und d. h. auch zum engagierten, interessierten und verantwortlichen Konstrukteur von Identitäten zu werden.13 Der thematische Schwerpunkt, die Minderheitenproblematik, schränkt dabei die Möglichkeiten keinesfalls ein. Das Gegenteil ist der Fall. Die Studierenden lernen – wenn ihre Bedeutungsstrukturen anschlussfähig bzw. für die gemeinsame Arbeit erreichbar sind14 –, dass Freude, Kummer und Ängste der Minderheiten nicht minderheitenspezifisch sind, auch wenn alltagsweltliche oder geschichtliche Erfahrungen einer Minderheit diese Ängste, Träume und Hoffnungen vielleicht intensiver erleben lassen. Durch das Bewusstmachen des Gemeinsamen, aber auch durch die Entwicklung der Reflexionskompetenz trägt die Arbeit mit Bedeutungsstrukturen auch zu einem sensiblen und handlungskompetenten Umgang mit Möglichkeiten und Konflikten kultureller Vielfalt bei. Das Verstehen historischer, politischer und weltanschaulicher Zusammenhänge, das Verstehen soziokultureller Eingebundenheit von Verhalten und Kommunikation entwickelt die Fähigkeit der (inter)kulturellen Reflexion und kann auch die Bereitschaft erhöhen, eigene Bedeutungsstrukturen zu verändern, zu relativieren oder zu erweitern.

13 Über meine Praxis-Erfahrungen mit den Identitäts-Kompetenzen schreibe ich auch in Propszt 2010, S. 377–385 und 2011, S. 78–96. 14 Die eingeschobene Einschränkung soll daran erinnern, dass die Arbeit mit Bedeutungsstrukturen auf die reifen (oder jedenfalls auf die an Reife interessierten) und schaffensfreudigen Persönlichkeitsanteile baut, und dass geschlossene oder wenig flexible oder aber instabile Bedeutungsstrukturen nur sehr schwierig, wenn überhaupt, für die Arbeit gewonnen werden können. Hinzufügen möchte ich, dass der Widerstand der Studierenden, den selbstverständlich auch ich von Zeit zu Zeit erlebe, eher selten thematischer und / oder technischer Natur ist. Der Widerstand resultiert leider immer häufiger, kurz formuliert, aus einer Fehlorientierung im Beruf und aus der Unfähigkeit der Korrektion, daraus, dass Studierende das Fach oder den Lehrberuf selbst im Besitz nur von vagen oder unrealistischen Vorstellungen wählen und nicht bereit oder fähig sind, diese Vorstellungen, und damit ihre Bedeutungsstrukturen, den Anforderungen und der Realität des Berufs anzupassen.

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Quellenverzeichnis Áts, Erika (Hg.): Tiefe Wurzeln. Eine ungarndeutsche Anthologie. Budapest 1974. Balogh, Robert: Schvab evangiliom. Nagymamák orvosságos könyve. Budapest 2001. Balogh, Robert: Schvab legendariom. Álmoskönyv. Budapest 2004. Balogh, Robert: ›Távol a szemto˝l, távol a szívto˝l‹, in: Nyílt Fórum Füzetek. 2008, S. 7–42. Berger, Peter L. / Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main 1969. Bruner, Jerome: Sinn, Kultur und Ich–Identität. Zur Kulturpsychologie des Sinns. Heidelberg 1997. Csapó, Beno˝: ›A kognitív képességek szerepe a tudás szervezo˝désében‹, in: Báthory, Zoltán / Falus, Iván (Hg.): Tanulmányok a neveléstudomány körébo˝l. Budapest 2001, S. 270–293. Elmer, István: Parasztbarokk. Budapest 1991. Erikson, Erik H.: Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart 1968. Kalász, Márton: Téli bárány. Budapest 1986. Kalász, Márton: Winterlamm. Aus dem Ungarischen übers. v. Paul Kárpáti. Graz 1992. Keupp, Heiner / Ahbe, Thomas / Gmür, Wolfgang / Höfer, Renate / Mitzscherlich, Beate / Kraus, Wolfgang / Straus, Florian: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek bei Hamburg 1999. Krappmann, Lothar: Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart 2000. Kraus, Wolfgang: Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne. Herbolzheim 2000. Link, Jürgen / Link-Heer, Ursula: Literatursoziologisches Propädeutikum. München 1980. Link, Jürgen: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. München 1983. Link, Jürgen / Link-Heer, Ursula: Diskurs, Interdiskurs und Literaturanalyse, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (77) 1990/20, S. 88–99. McAdams, Dan P.: Power, Intimacy and the Life Story. Personological Inquiries into Identity. New York 1988. Nagy, József: XXI. század és nevelés. Budapest 2000. Pataki, Ferenc: Az én és a társadalmi azonosságtudat. Budapest 1982. Pataki, Ferenc: Élettörténet és identitás. Budapest 2001. Pléh, Csaba: ›A narratívumok mint a pszichológiai koherenciateremtés eszközei‹, in: Holmi 1996/2, S. 265–282. Pléh, Csaba: ›Interakciós és narratív identitás‹, in: Magyar Pszichológiai Szemle 1999/1, S. 25–34. Propszt, Eszter: Zur interdiskursiven Konstruktion ungarndeutscher Identität in der ungarndeutschen Gegenwartsliteratur. Würzburg 2007. Propszt, Eszter: ›Az irodalomtanítás mentálhigiénés leheto˝ségeiro˝l‹, in: Embertárs 2010/4, S. 377–385 und Embertárs 2011/1, S. 78–96. Propszt, Eszter: Zum Studium der ungarndeutschen Literatur. Budapest 2015. Ricoeur, Paul: Das Selbst als ein Anderer. München 1996.

Kristina Krieger

Das literarische Unterrichtsgespräch nach dem Heidelberger Modell aus interkultureller Perspektive

Ein Literaturunterricht, der die kulturelle Heterogenität seiner Schüler_innen ernst nimmt und ihr durch die Öffnung des Literaturkanons für interkulturelle Texte1 gerecht zu werden versucht, muss sich der Frage nach adäquaten methodischen Möglichkeiten zur praktischen unterrichtlichen Entfaltung des in den Texten enthaltenen interkulturellen Potenzials stellen. Wenn das Ziel eines interkulturell sensiblen Literaturunterrichts darin liegt, bei Lernenden die Fähigkeit zur selbstreflexiven Auseinandersetzung mit der eigenen kulturgebundenen Prägung sowie mit sozialer Stereotypisierung zu fördern (vgl. KMK 2013, S. 4), muss im Unterricht die Möglichkeit gegeben werden, über Erfahrungen von Fremdheit gemeinsam zu reflektieren und (Be-)Deutungspotentiale von interkulturellen literarischen Texten dialogisch auszuhandeln. Eine Möglichkeit hierzu bietet das literarische Unterrichtsgespräch nach dem Heidelberger Modell (im Folgenden lit. UG), dessen vorrangiges Ziel in einem offenen Austausch über die individuellen Erfahrungen mit dem literarischen Text sowie dem gemeinsamen Suchen nach »Sinnmöglichkeiten« (Steinbrenner / Wiprächtiger-Geppert 2010, S. 9) besteht, was zugleich zu einer genaueren Textwahrnehmung führt. Dies bedeutet, dass die Gesprächsteilnehmer_innen sich gleichberechtigt über ihre individuellen Sinnzuschreibungen, Hypothesen und Interpretationen sowie über Fragen und Irritationen, die der Text bei ihnen auslöst, austauschen. Es gibt mehrere Möglichkeiten, das lit. UG interkulturell auszugestalten. Erstens können sich Lernende einer gemeinsamen kulturellen Prägung in einem lit. UG über einen interkulturellen literarischen Text austauschen. Zweitens können Lernende unterschiedlicher kultureller Prägungen über einen nicht-interkulturellen Text sprechen. Drittens kann eine kulturell heterogene Gruppe über einen interkulturellen literarischen Text reden. In deutschen Schulen sind heute mehrheitlich kulturell heterogene Lerngruppen anzutreffen, weshalb die erste Möglichkeit für die Reflexionen im Fol1 Zur Definition von interkultureller Literatur vgl. Kap. 3.1.

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Kristina Krieger

genden uninteressant erscheint. Vor dem Hintergrund, dass das lit. UG den Gesprächsteilnehmer_innen die Möglichkeit geben soll, ihre persönlichen Erfahrungen mit einer genauen Textwahrnehmung zu kombinieren, was auch subjektive Involviertheit erfordert (vgl. Spinner 2006), erscheint die zweite Option im Vergleich zur dritten weniger interessant. Vielmehr ist die Wahrscheinlichkeit subjektiver Involviertheit wesentlich höher, wenn eine kulturell heterogene Schülerschaft einen interkulturellen Text liest, der Fremdheitserfahrungen explizit thematisiert, und diesen im Gespräch reflektieren kann. Daher lohnt es besonders, darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten für interkulturelles Verstehen ein auf der Textebene und auf der Ebene der Teilnehmenden interkulturell geprägtes lit. UG bietet. Diese Reflexion möchte der vorliegende Beitrag leisten, indem zunächst theoretisch Parallelen zwischen dem interkulturellen Dialog nach Georg Auernheimer und dem literarischen Unterrichtsgespräch nach dem Heidelberger Modell auf den drei Ebenen Interaktion, Lehrperson und Gegenstand herausgestellt werden und anschließend anhand empirischer Daten untersucht wird, inwiefern sich diese Parallelen in einem konkreten lit. UG wiederfinden. Wichtig ist hierbei, dass sich in einem lit. UG stets ein interkultureller Dialog auf zwei unterschiedlichen Ebenen ereignet: Einerseits treten die Lesenden in einen interkulturellen Dialog mit dem Text und den darin handelnden Figuren, was Irritationen hervorrufen kann. Andererseits beginnen die Beteiligten auch miteinander einen interkulturellen Dialog und nehmen sich hierdurch womöglich gegenseitig als fremd(-kulturell geprägt) wahr. Im Folgenden sollen diese beiden Ebenen immer parallel durchdacht werden.

1

Interaktion im (interkulturellen) literarischen Unterrichtsgespräch

Das lit. UG folgt einem fest definierten Ablauf (vgl. Abb. 1), dessen Ziel es nicht ist, eine im Vorhinein festgelegte Interpretation zu erarbeiten, sondern gemeinsam nach Sinnpotentialen und Deutungsmöglichkeiten des Textes zu suchen. Dies setzt voraus, dass sich alle Gesprächsteilnehmer_innen gleichberechtigt und offen in das Gespräch einbringen können. Gerade in einer kulturell heterogenen Lerngruppe kann dieser dialogische Austausch, welcher eine interkulturelle Kommunikationssituation darstellt, durch die vier Dimensionen Machtasymmetrien, Kollektiverfahrungen, Fremdbilder und differente Kulturmuster (vgl. Auernheimer 2013, S. 48) beeinflusst werden.

Das literarische Unterrichtsgespräch nach dem Heidelberger Modell

Phasen des lit. UGs

Geschehen

1) Einstieg

Alle stellen zusammen einen Sitzkreis her. Man achtet auf eine gute Gesprächsatmosphäre. Die Regeln für das Gespräch werden verdeutlicht.

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Der Text wird einmal (oder mehrmals) laut und gestaltet vorgelesen. 2) Textbegegnung Schüler_innen lesen den Text still noch einmal für sich und markieren Textstellen, über die sie sprechen möchten. Auf einen offenen Impuls (bspw. »Welche Stelle hat mich besonders 3) Erste Runde angesprochen oder irritiert?«) hin äußern sich alle Beteiligten einmal. Alle Beteiligten nehmen in einem möglichst freien Dialog Bezug auf 4) Offenes den Text und auf eigene Erfahrungen. Gespräch Moderator_in gibt ggf. gesprächsfördernde Impulse. Jede_r Beteiligte äußert sich nochmal mit einem persönlichen Re5) Schlussrunde sümee / Fazit. 6) Abschluss

1.1

Moderator_in beendet in Ruhe das Gespräch.

Machtasymmetrien im literarischen Unterrichtsgespräch

In Gesprächen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen könne laut Auernheimer eine Machtasymmetrie herrschen, die eventuell dazu führe, dass Angehörige der Mehrheits- bzw. »Dominanzkultur«2 (Rommelspacher 1995, S. 23) höhere Redeanteile für sich in Anspruch nähmen sowie von der Überlegenheit der eigenen Argumente ausgingen. Machtasymmetrien entstünden i. d. R. aus einem ungleichen Status, welcher auf sozialstrukturelle, gesellschaftlich-diskursive und identitäre Dimensionen zurückgeführt werden könne (vgl. Auernheimer 2013, S. 50). Dies bedeutet für eine kulturell heterogene Lerngruppe, dass sog. »Schüler_innen mit Migrationshintergrund«,3 welche in Deutschland häufig sog. sozial schwachen Familien entstammen und im gesellschaftlichen Diskurs regelmäßig als Risikogruppen o. Ä. bezeichnet werden (vgl. Stanat / Rauch / Segeritz 2010, S. 200f.), von Schüler_innen ohne Migrations2 Mit dem Begriff der Dominanzkultur bezeichnet Birgit Rommelspacher das Phänomen struktureller Diskriminierung. Dies bedeutet, dass sich Formen der Ausgrenzung nicht aus der kulturellen Verunsicherung einer Mehrheitsgesellschaft durch die Begegnung mit fremden Kulturen ereigneten, sondern durch die dominanten kulturellen Normen einer Gesellschaft, welche sich einer fremden Kultur überordne. 3 Als Menschen mit Migrationshintergrund werden im Folgenden bezeichnet: Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit oder Mehrstaatler_innen, die in Deutschland leben; Menschen deutscher Staatsangehörigkeit, die im Ausland geboren wurden; Menschen deutscher Staatsangehörigkeit, deren Eltern im Ausland geboren wurden; Menschen deutscher Staatsangehörigkeit, deren Großeltern im Ausland geboren wurden.

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hintergrund als nicht zugehörig eingestuft und dementsprechend im Gespräch übergangen oder in ihrem Rederecht beschnitten werden könnten. Zwar ist es möglich, dass die am Gespräch Beteiligten die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Gruppen durch die gemeinsame institutionelle Schülerrolle überblenden, doch gerade im Gespräch über einen interkulturellen literarischen Text ist es möglich, dass diese Überblendung durch die individuelle und kulturell geprägte Wahrnehmung des Textes gebrochen wird, wodurch die Entstehung einer Machtasymmetrie im lit. UG denkbar ist und von der Gesprächsleitung berücksichtigt werden sollte. Das lit. UG scheint allerdings gerade durch seine ergebnisoffene und wertschätzende Konzeption dazu geeignet, möglichen Machtasymmetrien im Gespräch entgegenzuwirken. Inwiefern Machtasymmetrien im lit. UG eine Rolle spielen und wie diese durch die Beteiligten ausgehandelt werden, scheint eine interessante Untersuchungsfrage zu sein (vgl. Kap. 4.4.1).

1.2

Kollektiverfahrungen im literarischen Unterrichtsgespräch

Eine weitere Dimension interkultureller Dialoge besteht nach Auernheimer in der Existenz kollektiver Erfahrungen (vgl. Auernheimer 2013, S. 54). Demnach sind die im Alltag erlebten Erfahrungen von Machtasymmetrie, Ungleichheit und Diskriminierung zwischen sozialen Gruppen in den Köpfen derer, die einer unterlegenen Gruppe angehören, stets präsent. Hierbei könne es sich auch um historisch zurückliegende Ereignisse handeln sowie um Erfahrungen von Verwandten oder Bekannten, welche im kulturellen Gedächtnis verankert seien und in einer aktuellen Situation wachgerufen würden. In der Auseinandersetzung mit einem interkulturellen literarischen Text können diese Erfahrungen auf zwei Ebenen wachgerufen werden: Durch die inhaltlichen Darstellungen im literarischen Text sowie durch die konkrete Gesprächssituation. Gerhard Härle betont bezüglich der Begegnung mit dem literarischen Text, dass die eigentliche Wirkung eines literarischen Textes immer von der individuellen und situativen Leser-Text-Beziehung abhänge (vgl. Härle 2014, S. 35), was bedeutet, dass auch das Wachrufen von Kollektiverfahrungen abhängig von dem lesenden Individuum ist. Der Dimension von Kollektiverfahrungen wird das lit. UG in besonderer Weise gerecht, da die Formulierung von text- und subjektbezogenen Beiträgen ein Grundanliegen dieser Gesprächsform darstellt (vgl. Steinbrenner / Wiprächtiger-Geppert 2010, S. 4). Dies bedeutet, dass gerade die Kollektiverfahrungen, welche bei den Gesprächsteilnehmer_innen durch den Text wachgerufen werden, explizit thematisiert und damit zum Kommunikationsgegenstand für alle werden können. Hierdurch birgt die Methode des lite-

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rarischen Gesprächs ein besonders großes Potential für interkulturelles Lernen, da sich alle Beteiligten bewusst zu den vom Text aufgeworfenen Fragen und Themen in Bezug setzen können. Bezüglich der konkreten Gesprächssituation bedeutet dies, dass insbesondere die Gesprächsleitung sich der Tatsache bewusst sein muss, dass im Gesprächsverlauf (sofern die Lernenden sich zu unterschiedlichen Gruppen zugehörig fühlen) durch Kommentierungen einzelner Schüler_innen der Mehrheitsgesellschaft bei den jeweils anderen Schüler_innen Kollektiverfahrungen wachgerufen werden können, welche die offene Kommunikation möglicherweise behindern. Vor diesem Hintergrund ist es spannend zu untersuchen, inwiefern die Beteiligten an einem literarischen Gespräch einerseits auf ihre kollektiven Erfahrungen Bezug nehmen und diese in ein Verhältnis zum Textinhalt setzen und ob sich andererseits im Gesprächsverlauf Situationen ergeben, in denen durch persönliche Kommentare Kollektiverfahrungen wachgerufen und thematisiert werden (vgl. Kap. 4.4.2).

1.3

Fremdbilder im literarischen Unterrichtsgespräch

Fremdbilder sind nach Auernheimer Konstrukte, die sich dem gesellschaftlichen Diskurs verdanken oder sich aus kollektiven Erfahrungen speisen (vgl. 2013, S. 57). Diese Bilder stellen eine weitgehend unreflektierte Vorstellung von Mitgliedern einer Fremdgruppe dar und beeinflussen unsere Erwartungen und somit auch unsere Aktionen und Reaktionen. Sie sind gesellschaftlich vermittelt und werden meist als Stereotype und Vorurteile bezeichnet (vgl. Auernheimer 2005, S. 5). Problematisch sind Fremdbilder insofern, als dass sie häufig projektiv sind, was bedeutet, dass wir unerwünschte Eigenschaften auf eine Out-Group, z. B. ›die Muslime‹ oder ›die Griechen‹, projizieren. Darüber hinaus können Fremdbilder dazu führen, dass wir in Kommunikationssituationen zu Ethnisierung neigen (›Mit denen ist es aufgrund ihrer Mentalität schwierig‹), womit wir die Verantwortung für das Misslingen von Kommunikation teilweise abschieben (vgl. Auernheimer 2005, S. 19). Auf die Begegnung mit einem interkulturellen literarischen Text bezogen bedeutet dies, dass Lesende individuelle eigenkulturell geprägte Erwartungshaltungen an die literarischen Figuren herantragen, welche sie noch nicht als eigenkulturelle Erwartungen reflektiert haben und der sie sich deshalb nicht unbedingt bewusst sind. Dies kann zu hoch emotionalen Reaktionen hinsichtlich bestimmter Handlungen, die eine Figur vollzieht, führen. Handlungen, die nicht unserer Erwartungshaltung entsprechen, irritieren. Hierin liegt ein weiterer

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Grund dafür, warum das lit. UG sich besonders für die Auseinandersetzung mit interkulturellen Texten eignet: Über dieses interkulturelle Irritationspotential können Lernende ins Gespräch kommen und gerade innerhalb einer kulturell heterogenen Lerngruppe feststellen, dass nicht alle Rezipient_innen des Textes die Handlungen und Erlebnisse der Figur ähnlich interpretieren wie sie. Hierdurch kann man sich eigener Fremdbilder bewusst werden und diese reflektieren. Besonders belastend für interkulturelle Kommunikationssituationen ist es, wenn Fremdbilder dem Selbstbild von anderen widersprechen. Gerade in einer kulturell heterogenen Lerngruppe könnte bspw. die Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft aufgrund eines Migrationshintergrunds o.Ä. infrage gestellt werden, was zu Konflikten innerhalb des Gesprächs führen kann. Gerade die Auseinandersetzung mit interkulturellen Texten im lit. UG lässt durch die möglichen Bezüge auf eigene Erfahrungen das Selbstbild der Gesprächsteilnehmer_innen deutlicher erkennen als es in anderen Unterrichtssituationen der Fall ist. Die damit verbundene Irritation und das Nicht-Verstehen auszuhalten, darin liegt das große Lernpotential des lit. UGs (vgl. Steinbrenner / WiprächtigerGeppert 2010, S. 5). Vor diesem Hintergrund gilt es zu untersuchen, inwiefern Gesprächsteilnehmer_innen sich in der Kommunikationssituation gegenseitig unterstellen, (nicht) Teil der Mehrheitsgesellschaft zu sein. Darüber hinaus wäre zu untersuchen, inwiefern der Text Fremd- oder Selbstbilder der Lernenden anspricht und wie dies im Gespräch verhandelt wird (vgl. Kap. 4.4.3).

1.4

Differente Kulturmuster im literarischen Unterrichtsgespräch

Als »differente Kulturmuster« bezeichnet Auernheimer (2013, S. 59) Deutungsmuster, die ein ganz selbstverständliches Element einer einzelnen Kultur sind und durch ihre Spezifität dazu beitragen, dass sich Kulturen voneinander unterscheiden. Sie steuern unsere sozialen Erwartungen und bestehen meist vollkommen unreflektiert. Häufig auch als kulturelle Codes oder Scripts bezeichnet, also »Drehbücher, die für unterschiedliche Situationen die Regieanweisungen enthalten, so dass mit ihnen unser Alltagsleben organisiert wird« (ebd.), steuern diese Alltagsmuster unser tägliches Handeln. Deshalb können sie gerade in interkulturellen Kontaktsituation zu Irritationen und Missverständnissen führen. In einem lit. UG über einen interkulturellen Text können gerade diese vermeintlich selbstverständlichen Muster zu einem Kommunikationsanlass werden, wenn sich z. B. auf Textebene Figuren abweichend von Alltagsmustern der Gesprächsteilnehmer_innen verhalten. Darüber hinaus ist es möglich, dass die Lernenden das Figurenverhalten, abhängig von ihren eigenen Kulturmustern, als

Das literarische Unterrichtsgespräch nach dem Heidelberger Modell

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mehr oder weniger stark abweichend empfinden und sich im Gespräch darüber austauschen. Gerade differente Perspektiven werden im lit. UG als bereichernd wertgeschätzt (vgl. Härle / Heizmann 2019, S. 77), weshalb sich diese Gesprächsform besonders für den Austausch über interkulturelle Literatur und damit für eine Reflexion differenter Kulturmuster eignet. Erst durch den gemeinsamen Austausch können die unterschiedlichen wirkungsästhetischen Facetten des Textes, also die gedanklichen und emotionalen Wahrnehmungsfacetten, welche immer individuell und kulturell geprägt sind, zur Geltung kommen. Steinbrenner und Wiprächtiger-Geppert stellen heraus, dass im lit. UG Gesprächskompetenz entwickelt werden kann, indem Bedeutungsvielfalt analysiert, Bedeutungssicherheit relativiert, Ambivalenzen ertragen und mit Missverständnissen umgegangen wird (vgl. 2010, S. 6). Hiermit werden die gleichen Ziele genannt, welche Auernheimer als relevant für den gelungenen interkulturellen Dialog einstuft. Für eine empirische Untersuchung wäre es dementsprechend interessant herauszufinden, inwiefern die Lernenden einerseits im Verhalten von literarischen Figuren differente Kulturmuster erkennen. Andererseits wäre zu fragen, inwiefern Unterschiede in der Wahrnehmung dieses differenten Verhaltens bei den Lernenden bestehen (vgl. Kap. 4.4.4). Bisher wurde die Interaktion im lit. UG hinsichtlich der vier Dimensionen interkultureller Dialoge reflektiert. Da der interkulturelle Dialog als kommunikativer Austausch in einer multikulturellen Gruppe laut Auernheimer die Reflexion eigener Normvorstellungen sowie die Korrektur falscher Eindrücke und Annahmen bezüglich einer fremden Kultur ermögliche (vgl. 2013, S. 64), ist davon auszugehen, dass das literarische Unterrichtsgespräch über einen interkulturellen literarischen Text innerhalb einer kulturell heterogenen Lerngruppe zu einer ebensolchen Reflexion der eigenen kulturell geprägten Vorstellungen von Richtig und Falsch sowie zur Beschäftigung mit stereotypen Annahmen bezüglich fremder Kulturen führen kann. Im Folgenden sollen die Rolle der Lehrperson sowie die Bedeutung der Textauswahl für ein interkulturelles lit. UG betrachtet werden.

2

Die Lehrperson im (interkulturellen) literarischen Unterrichtsgespräch

Wie in den vorangegangenen Ausführungen bereits anklang, kommt der Gesprächsleitung im lit. UG eine besondere Rolle zu, da sie »weder neutraler Beobachter noch moderierender Organisator« (Rubner / Rubner 2014, S. 141) ist,

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sondern das Gespräch teilnehmend leitet und gleichzeitig leitend am Gespräch teilnimmt. Dies bedeutet, dass die Lehrperson, welche das lit. UG leitet, einerseits eine moderierende Funktion übernimmt und damit Redebeiträge organisieren und darauf achten muss, dass möglichst wenige verloren gehen, und zugleich selbst mit einem ehrlichen Erkenntnisinteresse und persönlichen Fragen gleichberechtigt mit den Lernenden am Dialog teilnimmt. Dabei ist hervorzuheben, dass die Lehrperson im lit. UG »Teil des Wir« (Härle / Heizmann 2019, S. 78) ist und keine Hoheit über die Deutung des Textes besitzt. Zwar könne und müsse sie Überlegungen zu den Zielsetzungen des Gesprächs in die unterrichtliche Vorbereitung einfließen lassen (vgl. Härle 2014, S. 49), doch dies bedeutet nicht, dass sie, wie im fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch, die Lernenden zu einem bestimmten Interpretationsziel lenken darf. Das lit. UG setzt damit einen sehr hohen Anspruch an die Lehrkraft, von welcher Authentizität und Selektivität (vgl. Härle 2014, S. 50) zugleich erwartet werden. Die Fähigkeit, ein lit. UG auf die geforderte Art und Weise zu führen, muss für ein gelingendes Gespräch in die Haltung der Lehrkraft integriert sein (vgl. Härle / Heizmann 2019, S. 78). Hierin liegt die größte Parallele zur Gesprächsleitung im interkulturellen Dialog, in welchem es darum geht, ein gutes Gesprächsklima herzustellen, um ein Gespräch auf Augenhöhe zu ermöglichen (vgl. Auernheimer 2013, S. 63). Die Gesprächsleitung ist durch ihre Leitungsfunktion automatisch in einer dominanten Position, welche mit der Versuchung verbunden ist, die Macht der Deutung für sich zu beanspruchen, was auch in einer interkulturellen Kommunikationssituation problematisch ist. Auernheimer geht davon aus, dass dominantes Auftreten bei Angehörigen der Minderheit Hilflosigkeit bewirke und zur Auflehnung reize (vgl. ebd., S. 55). Insofern scheint das lit. UG wiederum prädestiniert für Gespräche in kulturell heterogenen Lerngruppen über interkulturelle Texte, da die Haltung einer guten Gesprächsleitung im lit. UG mit der einer interkulturell kompetenten übereinstimmt. Der häufige Anspruch des »Wahren« oder »Authentischen« (Härle 2014, S. 46), welcher häufig an das lit. UG gestellt wird, ist insofern problematisch, als dass es sich immer um ein künstlich herbeigeführtes Gespräch handelt, welches in einem klar definierten institutionellen Kontext stattfindet. Diese Tatsache beeinflusst selbstverständlich alle Aktant_innen des Gesprächs, welche dazu ermutigt werden müssen, ihre Gedanken, Gefühle, Befürchtungen, Hoffnungen und Erwartungen auszusprechen. Dies ist insbesondere in einem interkulturellen Setting herausfordernd, da hierin zusätzliche Kommunikationsstörungen (vgl. Auernheimer 2013, S. 61), insbesondere Anerkennungs- und Wertekonflikte, zum Tragen kommen können. Anerkennungs- und Wertekonflikte entstehen dann, wenn Symbole, Werte und Praktiken, die für das Selbstverständnis eines Menschen von Bedeutung sind, nicht anerkannt bzw. missachtet werden. Diese

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Konflikte betreffen entscheidend die Beziehungsebene, da eine offene Kommunikation über Gefühle, Gedanken etc. auf Augenhöhe nicht mehr möglich ist, wenn sich ein_e Kommunikationsteilnehmer_in nicht angenommen fühlt. Die Aufgabe der Gesprächsleitung besteht darin, für solche Kommunikationsstörungen sensibilisiert zu sein und entsprechend zu interagieren, damit eine konstruktive und angstfreie Gesprächssituation erhalten bleibt. Für eine Untersuchung wäre es interessant zu sehen, inwiefern in einem institutionellen Rahmen tatsächlich ein authentisches Gespräch über die Gedanken und Gefühle der Gesprächsteilnehmer_innen stattfindet. Hierfür wäre es möglich, die Sprachverwendung der Lernenden zu untersuchen, da diese Aufschluss über das Bewusstsein des institutionellen Kontexts geben kann. Darüber hinaus wären persönliche Aussagen der Teilnehmenden daraufhin zu untersuchen, ob sie Aufschluss über die Authentizität und die damit einhergehende Gleichberechtigung der Gesprächspartner_innen geben.

3

Der Text im (interkulturellen) literarischen Unterrichtsgespräch

Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welche interkulturellen Texte sich für den Einsatz in lit. UGen besonders eignen. Hierfür werden zunächst theoretisch Kriterien reflektiert, bevor die Eignung des Romans 33 Bogen und ein Teehaus von Mehrnousch Zaeri-Esfahani herausgestellt wird, der die Grundlage für die in Kapitel 4 thematisierten Daten aus einem lit. UG darstellt.

3.1

Eignung von Texten für (interkulturelle) literarische Unterrichtsgespräche

Als besonders geeignete Gegenstände für ein lit. UG werden häufig Gedichte und kurze Prosatexte genannt (vgl. Härle 2014, S. 45), da diese als ästhetisch, poetisch und stilistisch komplex gelten. Die Lernenden sollen an dem ausgewählten Text Entdeckungen machen können, welche ihr ästhetisches Empfinden von Literatur fördern. Gerade stilistisch schwer zugängliche Texte rufen Irritationen hervor, die zur Entwicklung von Deutungshypothesen herausfordern und über die man ins Gespräch kommen kann. Dies ist auch mit Ausschnitten aus längeren Texten möglich, sofern diese von der Lehrkraft sinnvoll ausgewählt werden. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die Lehrkraft, die das Gespräch initiiert, eine echte Beziehung zum Text hat und sich selbst Fragen zu dem Text stellt, welche sie auf einen Austausch mit Lernenden neugierig machen.

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Die Interkulturalität eines literarischen Textes bemisst sich allerdings nur bedingt anhand seiner ästhetischen oder poetischen Komplexität, sondern sehr häufig anhand inhaltlicher Kriterien, wenn bspw. ethnische Mehrfachadressiertheit oder die Vermeidung rassistischer Argumentationsmuster (vgl. Rösch 2006, S. 97f.) als relevante Faktoren ins Feld geführt werden. Gerade bei der Auswahl eines interkulturellen Textes kann man dementsprechend Gefahr laufen, einen Text lediglich aufgrund der darin geschilderten interkulturellen Begegnungssituationen oder aufgrund der interkulturellen Figurenkonstellation auszuwählen. Diese Kriterien reichen aber nicht aus, um ein fruchtbares lit. UG zu initiieren. Vielmehr kommt es darauf an, dass Kriterien für interkulturelle Literatur mit Kriterien der Ästhetizität und Poetizität zusammenwirken. Ein interkultureller literarischer Text ist nur dann für ein literarisches Gespräch geeignet, wenn er sich nicht allein über inhaltliche Kriterien als fruchtbarer Kommunikationsgegenstand definieren lässt, sondern auch über seine Poetizität.

3.2

Mehrnousch Zaeri-Esfahanis 33 Bogen und ein Teehaus als Grundlage für ein (interkulturelles) literarisches Unterrichtsgespräch

Der 2016 erschienene autobiografische Roman 33 Bogen und ein Teehaus der iranisch-deutschen Autorin Mehrnousch Zaeri-Esfahani erzählt die Geschichte der Familie Zaeri, welche sich nach der islamischen Revolution 1979 in Iran und der damit einhergehenden Gefahr für den ältesten Sohn, für den Iran-Irak-Krieg eingezogen zu werden, zur Flucht gezwungen sieht. Aus der Perspektive der kleinen Mehrnousch erleben die Lesenden die Suche der Familie nach einer neuen Heimat mit, welche sie zunächst in die Türkei und von dort über die DDR nach Westdeutschland führt. Gerahmt wird der Roman von einem Pro- und einem Epilog, welche aus der Sicht der erwachsenen Mehrnousch mit einem zeitlichen Abstand zu den Geschehnissen von ca. 30 Jahren verfasst sind. Der Roman zeichnet sich auf verschiedenen Ebenen als interkulturell aus: Zum einen werden unterschiedliche interkulturelle Begegnungssituationen geschildert, da die Familie in Deutschland mit verschiedenen Menschen in Kontakt tritt. Häufig verläuft dieser Kontakt allerdings negativ, wenn die Familienangehörigen sich mit Diskriminierungen durch Beamte oder Anfeindungen von Menschen auf der Straße konfrontiert sehen. Auch wenn Heidi Rösch es für interkulturelle Literatur als relevant erachtet, dass diese dominanzkritisch gestaltet sei und darin gelungene Begegnungssituationen geschildert würden (vgl. Rösch 2006, S. 99), scheinen sich gerade die Textstellen, in welchen eine Begegnung nicht auf Augenhöhe verläuft, für einen kommunikativen Austausch hierüber anzubieten. Daher scheint es sinnvoll, aus dem Roman gerade solche

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Textstellen für ein lit. UG in einer kulturell heterogenen Lerngruppe auszuwählen, um mit den Lernenden über Stereotype und Vorurteile sowie ihre persönlichen Erfahrungen hiermit ins Gespräch zu kommen. Durch die gewählte Erzählperspektive unterstützt der Roman zudem einen Perspektivwechsel, da alle Lesenden die Geschehnisse aus der Sicht eines der Minorität angehörigen kleinen Mädchens wahrnehmen, deren Neugier und Naivität gerade Jugendliche gut nachvollziehen können. Durch die Rahmung der Handlung durch Pro- und Epilog erklingt zudem die Stimme der erwachsenen Mehrnousch, welche sich in Deutschland eingelebt und eine hybride Identität4 entwickelt hat, aus deren Sicht sie die deutsche Kultur betrachtet. Hierdurch scheint sich der Roman gerade für eine multiethnische Leserschaft besonders zu eignen, da Lernende mit Migrationshintergrund sich mit dieser Perspektive auf Deutschland womöglich identifizieren können, was zu einer Reflexion der Perspektive innerhalb des Gesprächs führen kann. Für Lernende ohne Migrationshintergrund resultiert eine Herausforderung daraus, dass der Roman zwar multiethnisch adressiert, aber nicht multiperspektivisch gestaltet ist. Dementsprechend eignen sich Ausschnitte aus dem Roman, in welchen die Erzählperspektive und die kulturelle(n) Zugehörigkeit(en) Mehrnouschs eine Rolle spielen, besonders für ein lit. UG, um die unterschiedlichen Perspektiven auf den Text zueinander in Bezug setzen zu können. Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei dem Roman um eine Autobiografie handelt, könnte der Anspruch Heidi Röschs, dass interkulturelle Kinder- und Jugendliteratur (KJL) literarisch und nicht dokumentarisch zu lesen sei (vgl. Rösch 2006, S. 102), gefährdet sein. Allerdings fordert die spezifische Sprachverwendung im Roman zum literarischen Lesen und Verstehen heraus. Aus der Erzählperspektive resultiert einerseits ein kindlicher Sprachgestus, der die Identifikation mit der Protagonistin und damit den Perspektivwechsel erleichtert. Dieser Sprachgestus geht allerdings mit ›märchenhaft-poetisierenden Arabesken‹ (El Kurdi 2016) eine Symbiose ein, welche die Ästhetizität und Metaphorik des Textes unterstreichen. Gerade aufgrund dieser einzigartigen Sprachverwendung eignen sich Ausschnitte aus diesem Roman nicht nur inhaltlich (und damit unter interkulturellen Gesichtspunkten), sondern auch sprachlich zur Thematisierung in einem lit. UG, da der märchenhafte Erzählstil bei der Rezeption Irritationen hervorrufen und zur Thematisierung herausfordern kann.

4 Der Begriff der hybriden Identität wurde von Homi Bhabha (2010) geprägt. Er bezeichnet hiermit die Identität von Menschen, welche sich problemlos in unterschiedlichen kulturellen Kontexten bewegen können und sich nicht einem dieser Kontexte, sondern allen gleichermaßen zugehörig fühlen.

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Ein Ausschnitt aus 33 Bogen und ein Teehaus im (interkulturellen) literarischen Unterrichtsgespräch

Im Folgenden wird anhand von empirischen Daten aus einer Erhebung untersucht, inwiefern sich die in den Kapiteln 1.1–1.4 dargestellten Parallelen zwischen interkulturellen Dialogen und dem lit. UG in konkreten Schüler_innenäußerungen wiederfinden lassen. Hierzu wird zunächst die Gruppe der an der Untersuchung Teilnehmenden skizziert, um Aufschluss über die Heterogenität der Lerngruppe zu geben. Dann wird der Aufbau der Studie erläutert und die Auswahl des Textausschnitts vor dem Hintergrund der in 3.2 genannten Kriterien für interkulturelle KJL begründet, bevor anschließend die Parallelen herausgestellt werden.

4.1

Die Stichprobe

Die Erhebung, welcher die im Weiteren thematisierten Daten entstammen, wurde im Juli 2018 in einer 10. Klasse einer Höheren Handelsschule durchgeführt. Die Lernenden waren zu diesem Zeitpunkt zwischen 16 und 18 Jahren alt. Aus der gesamten Lerngruppe wurde eine geschichtete Stichprobe von elf Teilnehmenden ausgewählt, welche hinsichtlich der Merkmale Geschlecht (fünf männlich, sechs weiblich), Migrationshintergrund (sieben mit, vier ohne), Religionszugehörigkeit (vier Christen, fünf Muslime (Schiiten), zwei Konfessionslose) und Diskriminierungserfahrungen (sechs mit und fünf ohne) heterogen zusammengesetzt war. Alle Schüler_innen mit Migrationshintergrund leben in zweiter Generation in Deutschland und sind somit den Postmigranten zuzuordnen, da sie nicht persönlich migriert sind.

4.2

Aufbau der Studie

Die Lernenden lasen den Roman unterrichtsvorbereitend zu Hause, wobei sie ihren Leseprozess individuell in einem Lesetagebuch festhielten. Hierin waren sie aufgefordert, einzelne Textstellen, die sie emotional besonders angesprochen hatten, zu kommentieren und ihre zugeordnete Emotion zu erläutern. Für das lit. UG wurde eine Textstelle ausgewählt, welche von allen Lernenden im Lesetagebuch kommentiert worden war. Von dem lit. UG wurde eine Audioaufnahme angefertigt, welche anschließend transkribiert wurde. Im Anschluss an das lit. UG waren die Lernenden aufgefordert, einen Reflexionsbogen auszufüllen, in welchem sie der gelesenen Textstelle erneut eine Emotion zuordneten und

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mögliche Änderungen in der Wahrnehmung der Textstelle durch das Gespräch kommentierten. Die Daten befinden sich aktuell noch in der Auswertung, wobei im Folgenden erste Hypothesen aus einer qualitativ inhaltsanalytischen Auseinandersetzung mit den Daten generiert werden sollen. Gelegentlich werden zu einzelnen Aspekten auch quantitative Aussagen getroffen, welche bei der Auswertung der Gesprächsdaten ins Auge fielen, die aber aufgrund der geringen Stichprobengröße (N=11) keine Repräsentativität beanspruchen.

4.3

Die Auswahl des Textausschnitts

Für das lit. UG wurde eine Textstelle aus dem ersten Teil des Romans ausgewählt, welcher in Iran spielt. In dieser Szene schildert die kleine Mehrnousch den Tag vor ihrer Einschulung, an dem ihre Mutter und ihre Tante sie vom Tragen eines Kopftuchs, welches in der Schule Pflicht ist, überzeugen wollen. Mehrnousch lehnt dies zunächst vollkommen ab, doch die beiden Frauen können sie überreden, das Kopftuch zumindest anzuprobieren. Leider sind Mehrnouschs wilde Locken so lang und unbändig, dass sie nicht unter das Kopftuch passen und die beiden Frauen schließlich aufgeben und Mehrnousch zum Spielen in den Garten schicken. Als die Mutter Mehrnousch am Abend ins Bett bringt, flechtet sie wie immer ihre Haare zu einem Zopf und bindet diesen mit einer besonderen weißen Schleife zu. Dann schneidet sie den Zopf ab. Mit diesem traumatischen Ereignis beginnt für die kleine Mehrnousch ihre Schulzeit. Der ausgewählte Textausschnitt ist aus mehreren Gründen interessant für ein lit. UG. Einerseits können sich durch die Thematisierung der Einschulung alle Lernenden mit der Protagonistin identifizieren, da in sehr vielen Kulturen die Einschulung eine Art Initiationsritus darstellt, der entsprechend lange in Erinnerung bleibt. Andererseits löst die Textstelle Befremden aus, da der Protagonistin körperliche Gewalt widerfährt, indem ihr ihre geliebten Haare abgeschnitten werden. Die Tatsache, dass diese Gewaltanwendung mit einem vermeintlich religiösen Symbol, dem Kopftuch, verbunden ist, wirkt besonders irritierend. Allerdings wird das Kopftuch in dieser Szene nicht als religiöses Symbol verwendet, sondern in seiner Funktion als Instrument staatlicher Kontrolle. Diese Zusammenhänge sind äußerst komplex und für Lernende, welche in einer Demokratie mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und freie Entwicklung der Persönlichkeit aufwachsen bzw. aufgewachsen sind, nicht leicht nachzuvollziehen. Zudem ist es für Lernende muslimischen Glaubens, für die das Kopftuch ein Symbol des Glaubens ist, besonders herausfordernd, diese doppelte Konnotation zu erkennen und darüber ins Gespräch zu kommen. Stilistisch zeichnet sich der Ausschnitt durch eine besonders einprägsame Sprachverwendung aus. Während zu Beginn gerade die Handlung recht naiv

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einleuchtend aus Sicht der kleinen Mehrnousch geschildert wird, wechselt der Sprachgebrauch zum Ende hin in eine metaphorische Umschreibung ihrer Gefühle: An jenem grauen Abend wurde mir nicht einfach nur ein Zopf abgeschnitten. Ganz tief in mir wurde etwas abgetrennt, wofür ich keinen Namen hatte, sondern nur eine Erinnerung. In der Nacht vor der Einschulung war ich voller Kummer und tränkte mein warmes Kissen mit Tränen. Ich weinte nicht vor Trauer, sondern vor Wut. So begann für mich meine Schulzeit – in einer Mädchenschule, denn die Schulen waren auf Geheiß des Führers in Mädchen- und Jungenschulen getrennt worden. Die Wut in mir steigerte sich mit jedem neuen Schuljahr, wie ein hässlicher Kürbis mit Fratze, der nicht aufhören wollte zu wachsen. (Zaeri-Esfahani 2016, S. 39)

Die Tatsache, dass alle Teilnehmenden diese Textstelle in ihrem Lesetagebuch kommentierten und darin vorrangig Wut und Irritation zum Ausdruck brachten, gibt zusätzlich Anlass zu einer Thematisierung der Textstelle in einem lit. UG.

4.4

Die Dimensionen interkultureller Dialoge im literarischen Unterrichtsgespräch

4.4.1 Machtasymmetrien Im Vergleich zu anderen lit. UGen, welche mit der teilnehmenden Gruppe geführt wurden, fällt bei dem Gespräch zu dem ausgewählten Ausschnitt eine deutliche Ungleichverteilung hinsichtlich der Menge und des Umfangs der Redebeiträge auf. Die muslimischen Schüler_innen haben wesentlich höhere und längere Redeanteile als die anderen Lernenden. Allein diese Tatsache lässt darauf schließen, dass innerhalb des Gesprächs keine Machtasymmetrie herrscht, welche dazu führt, dass den Lernenden der religiösen Minderheit innerhalb der gesamten Klasse ihr Rederecht aberkannt würde. Vielmehr ist das Verhältnis umgekehrt und die christlichen oder konfessionslosen Schüler_innen ohne Migrationshintergrund folgen der Diskussion ihrer Mitredenden aufmerksam. Aufgrund der Thematik des Gesprächs, in dem einerseits immer wieder das Kopftuch als Symbol muslimischen Glaubens diskutiert wird, andererseits die Frage nach Regeln einer vom vertrauten deutschen Staatssystem abweichenden Ordnung gestellt wird, scheinen die Lernenden mit Migrationshintergrund und muslimischen Glaubens von ihren Mitschüler_innen als kompetenter eingestuft zu werden. So kommentieren zwei Schülerinnen am Ende des Gesprächs:

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Anna: Ich fands einfach nur interessant so jetzt so hier in der Gruppe, weil hier ja auch eher türkische Leute sind, die Meinung zu hören, was die über das Kopftuch sagen und ich kenn mich da jetz nich so aus, mit dem Gesetz und so. #00:45:45–5# Selina: Aber Türkei ist ja eine Nationalität und Islam is ja die Religion. Das ist ein Unterschied. #00:45:48–1# Anna: Ja, oder Islam. Also Leute, die sich halt vielleicht ein bisschen besser als ich damit auskennen, so die Meinung zu hören. #00:45:55–7#

4.4.2 Kollektiverfahrungen In dem ausgewählten lit. UG lassen sich keine Indizien dafür finden, dass innerhalb des Gesprächs durch Einzelaussagen von Mitschüler_innen bei Angehörigen der Minderheit Kollektiverfahrungen wachgerufen und thematisiert würden. Vielmehr ist es der literarische Text, der bei einigen Gesprächsteilnehmerinnen Erfahrungen wachruft, auf die explizit Bezug genommen wird. Auffällig ist hierbei der Unterschied zwischen den Geschlechtern: Während die männlichen Teilnehmer kaum persönliche Erfahrungen mit dem Thema verknüpfen, aber klare Meinungen vertreten, führen die weiblichen Teilnehmerinnen Beispiele aus ihrem sozialen Umfeld an, mit der sie die Situation der Protagonistin im Roman vergleichen. So ist ein männlicher Teilnehmer beispielsweise der Meinung, dass sich das Gefühl, ein Kopftuch aus Überzeugung und Liebe zu tragen, auch mit der Zeit entwickeln kann, in der man gezwungen ist, das Kopftuch zu tragen: Bayram: Oder das Gefühl, was halt ihr dazu bringt, dass aus dem Herzen kommen wegen Glauben, kann auch in der Zeit sich entwickeln, wo die das tragen muss. (2) Vielleicht tragen die das dann später freiwillig, (1) kann auch sein. #00:35:14–7#

Diese Meinung widerlegt eine Mitschülerin, indem sie ein persönliches Beispiel aus ihrer Kollektiverfahrung heranzieht. Sibel: Ähm, kann ich ein Beispiel nennen, weil das steht jetzt aber nicht im Text, sondern ein persönliche Beispiel? Ähm, meine Tante wurde von meinem Opa gezwungen, Kopftuch zu tragen, also auch aus Zwang. Und die hat das jetzt ähm / ich sag mal, jetzt trägt sie kein Kopftuch mehr. Also sie hat sich überhaupt nicht dran gewöhnt. Also denke ich nicht, dass aus Zwang was daraus wird. #00:38:28–2#

Diese Erfahrung ist kein individuelles Einzelbeispiel, sondern erweist sich als Kollektiverfahrung, da im Anschluss an diese Aussage alle Schülerinnen muslimischen Glaubens von persönlichen Erfahrungen innerhalb ihrer muslimischen Familien- und Freundeskreise berichten, in denen Diskussionen über das (Nicht-)Tragen eines Kopftuchs ausgetragen werden.

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Interessant ist, dass den Argumenten, welche sich aus Kollektiverfahrungen speisen, im Gespräch eine hohe Autorität zugesprochen wird, sodass diese nicht infrage gestellt, sondern als Tatsachen akzeptiert werden. Dies äußert sich darin, dass Kollektiverfahrungen stetig durch weitere ergänzt, aber nicht durch Gegenargumente zu widerlegen versucht werden. 4.4.3 Fremdbilder Die Frage nach bestehenden Fremdbildern hängt sehr eng zusammen mit dem Aspekt der Machtasymmetrien, da Fremdbilder meist zum Bestehen einer Machtasymmetrie beitragen. Dementsprechend kann die Tatsache, dass Lernende ihren türkischen oder muslimischen Mitschüler_innen eine höhere Kompetenz beim Entschlüsseln des interkulturellen literarischen Textes zusprechen (vgl. Kap. 4.4.1), auch hier beispielhaft angeführt werden. Allerdings wird das Fremdbild, nach dem die muslimischen Mitschüler_innen deutlich einer anderen Gruppe zugeordnet werden, im Gespräch nicht negativ gewertet, sondern positiv. Die Gesprächsteilnehmer_innen scheinen davon auszugehen, dass ihre Gegenüber sich in einem gewissen Bereich aufgrund ihrer hybriden Identität und der damit einhergehenden Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturkreisen besser auskennen als sie selbst. Insofern führt das Fremdbild dazu, dass die Mitschüler_innen positiv diskriminiert werden. Dass hierin zugleich ein Risiko besteht, wird daran deutlich, dass auch tendenziell unsachliche Aussagen der vermeintlich kompetenten Gesprächsteilnehmer_innen nicht kritisch hinterfragt werden, worin ein großes Risiko für interkulturelle lit. UGe liegt. Orkun: Ich glaube, es gibt zwei ähm zwei Gruppen, einmal die Leute mit Kopftuch und ohne. Ich glaube, die Leute mit Kopftuch sind bisschen (2) niedriger vom Rang her damals und mit / also ohne Kopftuch eher höher gestellt, die hatten glaube ich / die hatten auch bestimmt besseren / bessere Berufe (2) und ja. #00:30:11–4#

Das bestehende Fremdbild bezüglich der muslimischen Mitschüler_innen ist besonders problematisch, da hiermit die Handlungen im literarischen Text, welche Ende der 1980er Jahre in Iran spielen, überblendet werden. Postmigrant_innen, deren Eltern in der Türkei aufgewachsen sind, werden als stellvertretend für die Kultur des gesamten Nahen Ostens angesehen und ihre Aussagen werden nicht kritisch hinterfragt. Hierin zeigt sich, wie stark Fremdbilder die Kommunikation, auch in einem interkulturellen lit. UG, beeinflussen.

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4.4.4 Differente Kulturmuster In dem ausgewählten lit. UG ist im Vergleich mit anderen Gesprächen, die mit der teilnehmenden Gruppe geführt wurden, auffällig, dass die Verhaltensweisen der Figuren nicht auf differente Kulturmuster zurückgeführt werden. Dies könnte v. a. darin begründet liegen, dass die Figuren selbst in einem Konflikt mit dem Gesetz stehen, welches ihnen das Tragen eines Kopftuchs vorschreibt, und damit grundsätzlich den Anspruch der Teilnehmenden auf eine Möglichkeit zur freien Entscheidung teilen. Nichtsdestotrotz verorten die Lernenden das Geschehen in einem fremdkulturellen Kontext, welcher sich sowohl räumlich wie auch zeitlich von ihrem Bezugsrahmen unterscheidet. So wird die Handlung von den Lernenden regelmäßig mit Begriffen wie »damals« in einem weit zurückliegenden Kontext lokalisiert. Überdies wird die Irritation über den staatlichen Zwang zum Tragen eines Kopftuchs auch geographisch umschrieben: Orkun: Halt die Anmerkung war hier / Das Mädchen wollte ja kein Kopftuch / kein Kopftuch tragen (1) und ich weiß nich, (2) wo man schon mit sechs Kopftuch tragen muss. #00:11:37–5# Selina: Vielleicht mögen die Menschen dort / also die Menschen im Dorf gar nicht. #00:29:50–6#

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Fazit

In diesem Beitrag wurde gezeigt, dass die Methode des literarischen Unterrichtsgesprächs nach dem Heidelberger Modell starke Parallelen zum interkulturellen Dialog nach Georg Auernheimer aufweist und somit für den Austausch über einen interkulturellen literarischen Text in einer kulturell heterogenen Lerngruppe besonders geeignet scheint. Das lit. UG wird durch seine ergebnisoffene und gleichberechtigte Anlage den 4 Dimensionen interkultureller Dialoge Machtasymmetrie, Kollektiverfahrungen, Fremdbilder und differente Kulturmuster in besonderer Weise gerecht. Anhand von Schüler_innenaussagen konnte demonstriert werden, dass jede dieser vier Dimensionen im lit. UG zum Tragen kommen kann, wobei insbesondere die Äußerung von Kollektiverfahrungen für das Textverständnis der Lernenden gewinnbringend sein kann. Durch den Einblick in die persönlichen Erfahrungen der Mitschüler_innen wurde den Lernenden eine neue Perspektive auf die Handlung im literarischen Text ermöglicht, worin eventuell eine Ursache für eine Änderung der Textwahrnehmung liegen könnte. Es konnten Potenziale des lit. UG angedeutet werden, Lernenden im interkulturellen Literaturunter-

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richt Raum zu geben, eigene Erfahrungen mit dem literarischen Text in Beziehung zu setzen und dies für die gesamte Lerngruppe fruchtbar zu machen. Als besonders problematisch für das lit. UG hingegen könnte sich die Dimension der Fremdbilder herausstellen, durch die in einigen gezeigten Fällen die Identität der muslimischen Gesprächsteilnehmer_innen überblendet wurde. Diese Überblendung führte dazu, dass die Lernenden stereotyp einem fremden Kulturkreis zugeordnet und für diesen als stellvertretend angesehen wurden. Hieraus ergibt sich die Frage, wie im lit. UG für Fremdbilder sensibilisiert werden kann, welche nicht vom Text ausgehen, sondern sich innerhalb der Gruppe etablieren.

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Das literarische Unterrichtsgespräch nach dem Heidelberger Modell

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Maris Saagpakk

Deutsch(baltisch)e Texte als Gegenstand des interkulturellen Lernens im DaF-Unterricht in Estland

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Einleitung

Wie alle osteuropäischen Länder blickt Estland auf eine lange Geschichte der kulturellen Kontakte mit dem deutschsprachigen Raum zurück. Im 13. Jahrhundert wurde das Territorium der heutigen Republik Estland mit dem Ziel der Christianisierung durch den Deutschen Orden erobert. Seit dieser Zeit bis zur Gründung der selbständigen Republik Estland im Jahre 1918 bildeten die Deutschbalten1 als der landbesitzende Adel, als Kaufleute und Intellektuelle die Oberschicht und prägten wesentlich die Wirtschaft, Politik und Kultur des Landes. Es gelang den Deutschbalten auch während der schwedischen und russischen (in einigen Regionen des Landes auch dänischen und polnischen) Herrschaft, ihre Privilegien (Deutsch als Amtssprache und protestantischer Glaube in der russischen Periode) zu behalten. Somit hatte die deutsche Sprache und Kultur ein hohes Prestige und die Titularnation des Landes, die Esten, lernten die Kulturen Europas durch die Vermittlung der Deutschen und vermittelt über die deutsche Sprache kennen. Bis zur Umsiedlung der Deutschbalten im Jahre 19392 wurden in Estland Deutsch, Estnisch und Russisch als die ›drei Ortssprachen‹ verwendet (vgl. Johansen 1963, S. 92; Rannut 2010, S. 13f.) und alle gebildeten Esten sprachen und lasen Deutsch. Die lange Vorherrschaft der deutschen Kultur macht sich auch im Stadtbild bemerkbar – man findet an und in älteren Gebäuden noch zahlreiche Texte auf 1 Obwohl die Deutschen in Estland und Lettland sich selbst als ›Balten‹ bezeichneten, scheint diese Bezeichnung irreführend, da man heute im Allgemeinen unter diesem Begriff Esten, Letten und Litauer versteht. Deswegen hat sich in der Nachkriegszeit die Benennung ›Deutschbalten‹ eingebürgert (vgl. Wilpert 2005, S. 10). 2 Die Umsiedlung der in Estland und Lettland ansässigen Deutschbalten geschah, nachdem der Molotow-Ribbentrop-Pakt vom 23. 08. 1939 unterschrieben worden war. Der Pakt selbst war geheim, doch die daraufhin gestartete Umsiedlungsaktion der Deutschen ließ erahnen, dass die Sowjetunion das Baltikum okkupieren wird. Die Deutschen aus dem Baltikum wurden in den darauf folgenden Monaten in die damals von den Deutschen bereits eroberten Gebiete im Westen Polens umgesiedelt (›Wartheland‹) (vgl. Pistohlkors 1994, S. 541).

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Deutsch und sogar in niederdeutscher Sprache. Es zeigt sich auch hier, dass das Vorhandensein der Texte in einer bestimmten Sprache im öffentlichen Raum nicht nur darauf hinweist, dass diese ethnische Gruppe diesen Raum bewohnt (hat), sondern auch, dass diese Gruppe über die finanziellen sowie politischen Möglichkeiten verfügt(e), ihrer Sprache eine hohe Präsenz zu verschaffen (vgl. Van Mensel / Vandenbrouke / Blackwood 2016, S. 434). Trotz dieser starken historischen Bindung ist es jedoch keineswegs selbstverständlich, die deutschbaltische Geschichte des Landes als Gegenstand des DaF-Unterrichts in Estland vorzufinden. Als Folge der gewaltsamen Zäsur durch die Umsiedlung, den Zweiten Weltkrieg und die nachfolgende sowjetische Okkupation, haben die mit den Deutschbalten verbundenen Aspekte im kulturellen Gedächtnis der Esten ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt (vgl. Tuchtenhagen 2005, S. 93–99). Im vorliegenden Beitrag wird nach Wegen gesucht, die Geschichte der Deutschbalten und die Spuren der deutschen Sprache im öffentlichen Raum zum Bestandteil des DaF-Unterrichts zu machen. Nach einem kurzen Exkurs über die Behandlung des Themas der Deutschbalten im kollektiven Gedächtnis in Estland werden im Folgenden einige Projekte von Lernenden und Studierenden beschrieben, die um die Sichtbarmachung älterer, mit der deutschen Kultur verbundener Schichtungen der estnischen Geschichte bemüht gewesen sind. Dabei wird im vorliegenden Beitrag die Beschäftigung mit der historischen Mehrsprachigkeit, für die das Vorhandensein der deutschen Sprache im öffentlichen Raum ein Ausdruck ist, als interkultureller Lernort begriffen. Als didaktische Konzepte treten bei den vorgestellten Projekten die Beschäftigung mit den Erinnerungsorten (vgl. Nora 2005; Francois / Schulze 2009, in der Fremdsprachendidaktik Badstübner-Kizik / Hille 2015), sowie der aus der Soziolinguistik entlehnte Ansatz der Erforschung der Linguistic Landscape (vgl. Marten / Saagpakk 2017; vgl. Badstübner-Kizik / Janíková 2018) hervor. Die Interkulturalität wird im Sinne von Kramsch verstanden; einerseits als das Zusammentreffen und dem daraus resultierenden Erklärungsbedarf von zwei Kulturen aus unterschiedlichen Nationalstaaten, andererseits aber auch von unterschiedlichen Kulturen innerhalb eines Staates (vgl. Kramsch 2006, S. 81). Das Ziel des Fremdsprachenunterrichts ist es, dieses Treffen auf eine Art und Weise vorzubereiten, dass die Möglichkeit einer durch Missverständnisse ungestörten, erfolgreichen interkulturellen Kommunikation erhöht wird.

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Die Deutschbalten als ›Erinnerungsort‹ im DaF-Unterricht

Die deutschbaltische Kultur und Geschichte eignet sich gut zur Analyse der estnischen Landesgeschichte als eine Verflechtungsgeschichte (vgl. Kaljundi / Plath 2017, S. 2), an der unterschiedliche ethnische, religiöse und politische Akteure beteiligt waren. Die Beschäftigung mit deutschbaltischen Themen im DaF-Unterricht bietet reichhaltige Möglichkeiten zur Mehrperspektivierung, wie sie im Rahmen des Konzepts der Erinnerungsorte (vgl. François / Schulze 2009, S. 18) geleistet werden kann. Die Einbeziehung der lokalen deutschen Kulturgeschichte in den DaF-Unterricht könnte als Mittel genutzt werden, die heterogene Entwicklungsgeschichte der estnischen Nationalkultur sichtbar werden zu lassen und so zu einer Herausbildung eines dynamischen und sich wandelnden Kulturverständnisses unter den Lernenden beizutragen. Der Hinweis auf den Zustand des plurikulturellen Mit- oder Nebeneinanders, der für Estland über Jahrhunderte prägend gewesen ist, hat das Potential dazu, eine Diskussion über den Konstruktionscharakter kollektiver kultureller Selbstbilder aufkommen zu lassen und kann zeigen, dass es sich bei den »Vermischungen und Verwischungen kultureller Orientierungen« (in Bezug auf ›kulturelle Deutungsmuster‹ Altmayer 2010, S. 1407) nicht lediglich um neue, mit der Globalisierung verbundene Phänomene handelt, sondern dass diese – zumindest im estnischen Kulturraum – schon immer existierten. Daher scheint es begründet, die Deutschbalten als Erinnerungsort (vgl. Kaljundi / Plath 2017) in den DaF-Unterricht einzubeziehen und die deutschbaltische Geschichte und Kultur als »ein historisches Zeichen mit einem großen symbolischen Wert im kollektiven Gedächtnis« aufzufassen, wie der estnische Kulturwissenschaftler Jaan Undusk ›Erinnerungsorte‹ definiert (Undusk 2011, S. 2). Trotz der hier betonten Vorteile der Behandlung des Themas im DaF-Unterricht sind die Deutschbalten als Erinnerungsort keineswegs unproblematisch. Erstens muss auf den kolonialen Charakter der deutschbaltischen Lebenswelt adeliger Kreise verwiesen werden (vgl. Plath 2011), die durch die hegemoniale Stellung genährt wurde und trotz der Existenz der weniger privilegierten Literaten, Pastoren und Kleinbürger das historische Bild über die Deutschbalten prägt. Über die deutschbaltische Geschichte zu sprechen, bedeutet stets, einen Seiltanz auszuführen zwischen der Betonung der befruchtenden kulturellen Kontakte und der Thematisierung des historischen Unrechts an den (bis 1816 leibeigenen) estnischen (und lettischen) Bauern. Zweitens muss betont werden, dass die Geschichte der Deutschbalten in Deutschland heute kein Medieninteresse genießt. Durch die Beteiligung der Deutschbalten an der (teils aus heutiger Sicht problematischen) Arbeit der Vertriebenenverbände in der unmittelbaren Nachkriegszeit standen auch sie damals im Fokus des bundesdeutschen politischen und gesellschaftlichen Interesses, doch heute kann man das nicht mehr

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behaupten. Auch wenn die deutsche Bestsellerautorin Juli Zeh in ihrem Roman Nullzeit (2012) eine der Figuren Jolante Augusta Sophie von der Pahlen vom baltischen Adel abstammen lässt und Klaus Modick in Kayserlings Geheimnis (2018) die baltische Lebenswelt in ihrer ›guten alten Zeit‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor Augen führt, bleiben solche Bezüge auf die Deutschen im Baltikum in der jüngeren bundesrepublikanischen Kulturwelt mittlerweile selten und erklärungsbedürftig. Doch gerade wegen der relativen Unbekanntheit besteht bei den Deutschbalten als Thema im DaF-Unterricht in Estland ein großes Potential für interkulturelles Lernen. Wie Claire Kramsch betont, muss der Fremdsprachenunterricht die Schüler_innen darauf vorbereiten, gerade die eigene Kultur in der Zielsprache zu erklären und nicht die Kultur des Zielsprachenlandes (vgl. Kramsch 2018), da es in einer interkulturellen Kommunikationssituation häufiger darum geht, das eigene Land dem kulturell Anderen zu erklären. Indem die estnischen Schüler_innen befähigt werden, die Herkunft der deutschsprachigen Texte in ihren Städten zu erklären und etwas über die Geschichte der Deutschen im Osten erzählen zu können, was die meisten Deutschen heute nicht kennen, werden für sie wertvolle Möglichkeiten des kulturellen Austausches geschaffen.

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Linguistic-Landscape-Ansatz im Kontext des kulturhistorischen und interkulturellen Lernens

Als ein Weg, wie man sich dem Thema Deutschbalten als Erinnerungsort nähern kann, bietet sich die Erkundung und Analyse von Ausschnitten aus Linguistic Landscapes (im Folgenden abgekürzt: LL) in estnischen Städten und Ortschaften an. Unter LL wird im vorliegenden Beitrag vor allem »die Präsenz der sprachlichen Zeichen im öffentlichen Raum« (Warnke 2011, S. 357) in ihrer »konkreten und vergleichsweise dauerhaften Materialität« (Schiedermair 2015, S. 175) verstanden. Wie Monica Barni und Carla Bagna in ihrem Aufsatz zur methodologischen Vielfalt der LL-Studien feststellen, umfasst der Begriff ›linguistic‹ heute in vielen Studien neben der geschriebenen und gesprochenen Sprache auch den gesamten semiotischen Raum, sowie auch die Nutzer_innen dieses Raumes als Autor_innen und Rezipient_innen der Zeichen (vgl. Barni / Bagna 2015, S. 7). Gorter schlägt deswegen eine weiter gefasste Definition vor, die aktuell angemessener scheint: »The dynamic field of Linguistic Landscape attempts to understand the motives, uses, ideologies, language varieties and contestations of multiple forms of ›languages‹ as they are displayed in public spaces.« (Gorter

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2018, S. 41f.) Im Rahmen der vorliegenden Studie wird Gorters Definition in ihrer ganzen Breite jedoch nicht vollkommen ausgeschöpft. Die Studien zu den LL, angefangen mit der bahnbrechenden Studie von Landry und Bourhis, betonen stets, dass die Repräsentation der Sprachen auf der LL einen »carryover«-Effekt (Landry / Bourhis 1997, S. 23) auf das Sprachverhalten der Benutzer dieses Raumes hat. Diese Einsicht bildet auf vielfache Weise ebenfalls das Zentrum der folgenden Überlegungen – im besten Fall verändert die Beschäftigung mit der LL die Sicht, wie wir Texte in unserer Umgebung wahrnehmen, deuten und vielleicht auch gestalten (vgl. die Forschungen zu schoolscape in Purkathofer 2014; Menken / Rosaria / Valerio 2018). Neben den zahlreichen soziolinguistisch fokussierten Arbeiten (für einen aktuellen Überblick vgl. Shohamy 2018; Gorter 2018 oder Ehrhardt / Marten 2018) ist aus der Sicht der vorliegenden Studie aber vor allem der Ansatz von Malinowski (2015) wichtig, der, sich auf Lefebvre stützend, Wege aufzeigt und systematisiert, wie die LL für das Fremdsprachenlernen fruchtbar gemacht werden und zur gesteigerten und bewussteren Wahrnehmung von Sprachen führen können (in der deutschsprachigen Forschung vgl. Marten / Saagpakk 2017; Badstübner-Kizik / Janíková 2018; Saagpakk 2018).3 Hierbei muss noch betont werden, dass der in der soziolinguistischen Forschung eher üblichere quantitative Ansatz im fremdsprachendidaktischen Bereich normalerweise keine Verwendung findet und hier eher das ›Spotten‹ (vgl. Heimrath 2017; Marten / Saagpakk 2017) verbreitet ist – also keine umfassende Erfassung aller Zeichen in einem bestimmten Raum, sondern die gezielte Suche nach bestimmten Texten (normalerweise in einer bestimmten Sprache oder Sprachkombinationen). Durch die Wahrnehmung und Deutung der LL können unterschiedliche Kompetenzen gefördert werden. Besonders wichtig sind dabei Sprachbewusstsein (language awareness), implizites Lernen (incidental learning) und critical literacy (vgl. Darquennes 2017, S. 183). Badstübner-Kizik / Janíková (2018, S. 13) nennen in Anlehnung an Kramsch außerdem Kulturbewusstsein (culture awareness) und Symbolkompetenz (symbolic competence), die im Kontext der vorliegenden Studie besonders wichtig sind. Darüber hinaus werden im Rahmen der Beschäftigung mit der LL auch fremdsprachliche und translatorische Kenntnisse erweitert, sowie die schriftliche Kompetenz in der Muttersprache verfeinert. Man muss Durk Gorter zustimmen, wenn er behauptet: »Newcomers to the field of Linguistic Landscape studies should be warned that one can easily get ›hooked‹. Once you have started to study the language on the signage in urban

3 In dieser Publikation wird eingehender auf den Erinnerungsort Deutschbalten in der estnischen Gesellschaft eingegangen und versucht, größere Schüler_innenprojekte zu diesem Thema aus den letzten 15 Jahren übersichtlich darzustellen.

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environments, the experience of walking down a shopping street is forever different.« (Gorter 2012, S. 10). Hinsichtlich der methodischen Vorgehensweise kann die Beschäftigung mit den LL in zwei Kategorien eingeteilt werden. Erstens und vor allem sind es Studien, die in Form der Projektarbeit durchgeführt werden, in denen aktive Partizipation der Lernenden auch die physische Erkundung des Raumes miteinschließt. Dabei wird ein großer Wert auf induktive Prozesse der Wissensaneignung gelegt – Lernende sollen ihre Wahrnehmung schärfen und Spuren entdecken, Gemeinsamkeiten feststellen, kategorisieren, etc. Indem die Lernenden ihren gewohnten Lebensraum (lived space)4 unter anderen Gesichtspunkten wahrnehmen oder bisher nicht wahrgenommene Orte der Begegnung mit deutscher Sprache aufsuchen (Kirchen, Friedhöfe, Museen), entdecken sie historische und gegenwärtige Kontaktfelder der deutschen Sprache und Kultur zu ihrem Heimatland. Diese Vorgehensweise hat den Vorteil, durch den außerschulischen Schauplatz, durch die spielerische Art und die Bewegung die Lernmotivation zu steigern, andererseits ist der aktive Kontakt zur gelernten Fremdsprache geringer als im Klassenraum. Dieser Nachteil kann etwa durch Vlogs oder ähnliche Mittel entschärft werden, es bleibt jedoch stets zu bedenken, dass diese Erkundungsspaziergänge zeitaufwendig sind. Die andere Möglichkeit besteht darin, die Aufgaben zu LL im Klassenraum anhand von Arbeitsblättern, Web-LL-Studien (google street view), Präsentationen und Videos durchzuführen. In diesem Fall ist die induktive Komponente geringer, der Prozess ist aber abgekürzt und der Schwerpunkt liegt auf der inhaltlichen Reflexion, Analyse und Deutung der Zeichen. Diese Arbeitsform ist effizienter und kann auch etwa als einführende Aktivität zur Einleitung des Sprachunterrichts eingesetzt werden. Da die letztere Vorgehensweise sich in der Regel in einem einzelnen Klassenraum abspielt, ist es schwieriger, darüber Aussagen zu treffen, wie häufig sie eingesetzt wird. Da das Konzept der LL im DaF-Kontext relativ neu ist, darf vermutet werden, dass es nicht allzu häufig geschieht (vgl. dazu Saagpakk 2018). Im Folgenden werden Unterrichts- bzw.

4 Um die Abhängigkeit der sprachlichen Zeichen im Raum von den diesen Raum bestimmenden soziopolitischen und kulturellen Aspekten aufzuzeigen, schlägt David Malinowski (vgl. 2015, S. 105; angelehnt an Henri Lefebvre (1991) und Nira Trumper-Hecht (2010)) ein dreistufiges Modell vor. Den ersten, weitesten Kreis der die LL beeinflussenden Momente (conceived space) bilden die Rahmenbedingungen, die die LL regulieren und beeinflussen – Informationen zur Sprachpolitik, Bevölkerungszusammensetzung und ihre Raumnutzung, Traditionen, etc. Die physische Manifestation dieser gesetzlichen, sozialen und kulturellen Regeln bilden dann die realen, für alle zugänglichen Texte im öffentlichen Raum (perceived space). Die dritte Dimension der LL bildet die Rezeption dieser Texte durch die Bewohner und Besucher dieses Raumes (lived space), wobei die unterschiedlichen Praktiken der Decodierung kultureller Zeichen zum Ausdruck kommen.

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Seminarkonzepte vorgestellt, die methodisch als Projektunterricht einzustufen sind.

3.1

LL-Projekte zu ›deutschen Spuren‹ an den Schulen

Die häufig benutzte Bezeichnung der deutschsprachigen Texte und historischen Artefakte als ›Spuren‹ hat etwas Angestaubtes an sich, könnte jedoch zutreffender nicht sein. Es handelt sich gerade um Spuren von Menschen, die nicht mehr da sind, aber durch die Zeichen, die von ihrer früheren Existenz zeugen, im heute von anderen Personen be- und gelebten Raum wieder Aufmerksamkeit bekommen. Genauso gut ist es aber auch möglich, dass diese Zeichen übersehen und ignoriert werden. Das Wahrnehmen und Deuten der Spuren erfordert Übung, Geduld und Lernbereitschaft. Den Schüler_innenprojekten zur deutschbaltischen Kulturgeschichte und zu deutsch-estnischen Kulturkontakten, die in Estland durchgeführt worden sind, ist die Bemühung gemeinsam, die semiotische Dichte aufzuzeigen, die sich in Gebäuden und mit bekannten deutschbaltischen Persönlichkeiten verbundenen Erinnerungsobjekten wie Denkmälern und Gedenktafeln (Erinnerungsorte) sowie in den sprachlichen Zeichen im öffentlichen Raum (LL) manifestiert und dadurch die symbolische Kompetenz der Schüler_innen zu stärken. Diese Akzentuierung setzt ein interdisziplinäres Lernen und Lehren voraus, neben dem DaF- und Geschichtsunterricht kommen auch Elemente der Fächer Kunst, Unterricht in anderen Sprachen, Sport, Wirtschaft oder Gesellschaftskunde ins Spiel. Wie oben beschrieben, können LL-Projekte dazu beitragen, Bedeutungsbildungsprozesse zu verstehen und zu analysieren. Die wichtigste Aufgabe der Lehrpersonen besteht somit darin, für die Suche und Aufnahme der Texte einen stimulierenden Rahmen zu schaffen. 3.1.1 Online-Projekt zu Objekten und Texten im öffentlichen Raum Die Lehrerin des Deutschen Gymnasiums Kadriorg Diana Kollin-Poom organisierte im Frühjahr 2016 ein Spiel namens Nutikalt saksa jälgede [Clever / Mit dem Handy auf deutschen Spuren],5 an dem Schüler_innen aus allen Schulen Estlands teilnehmen konnten. Ziel war die Popularisierung der deutschen Sprache und Kultur und die Herstellung der Verbindung zwischen dieser und der Geschichte und Gegenwart von Tallinn. Für dieses Spiel brauchten die teilnehmenden 5 Das Wort nuti ermöglicht im Estnischen ein Wortspiel, weil es beides bedeuten kann: Clever und mit Handy.

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Gruppen ein Handy, das Spiel lief über die App LoQuiz. Es handelte sich um eine Art Schatzsuche, bei der die entsprechende Frage erst auftaucht, wenn man nah genug am Objekt ist, zu dem die Frage gestellt wird. Gleichzeitig ist es aber auch ein Strategiespiel, man muss nicht alle Fragen beantworten, da die Beantwortung einiger Fragen ein Überspringen von einigen Punkten ermöglicht. Man bekommt Punkte für richtige Antworten und auch für die Geschwindigkeit. Das Spiel wurde in der Altstadt von Tallinn durchgeführt. Die Fragen betrafen sowohl Politik, Wirtschaft, historische Fakten wie auch Elemente der LL im engeren Sinne. So wurde etwa bei der Residenz des deutschen Botschafters nach dessen Namen gefragt und beim Goethe-Institut sollte man wissen, welche Institution sich mit der Entwicklung der deutschen Sprache und Kultur in Estland beschäftigt. In Bezug auf die LL gab es Fragen wie: »Der größte Turm der Stadtmauer trägt einen niederdeutschen Namen. Wie lautet der Name und was bedeutet er?« Der Turm heißt Kiek in de Kök und der Name ist am Gebäude angeschrieben, die Frage konnte also beantwortet werden, wenn die Lernenden den Turm mit Hilfe der GPS-Systeme in ihren Geräten gefunden hatten und dort ankamen. Ähnlich etwa auch: »Mit welchem Namen war Saiakang unter den Deutschen bekannt?« Die richtige Antwort, Weckengang, steht an einem Schaufenster in der Straße und konnte gefunden werden, wenn dieser Punkt erreicht wurde. Auch die Frage zu einem Stück der Berliner Mauer, das sich in Tallinn in der Toompea-Straße 8 befindet, konnte an Ort und Stelle beantwortet werden. Neben dem Mauerstück, das als Geschenk der Bundesrepublik Deutschland in der Funktion eines Mahnmals am 9. 11. 2014 eingeweiht wurde, befindet sich eine Tafel mit Erläuterungen in deutscher und estnischer Sprache. Dieses interaktive Spiel ist in vielerlei Hinsicht ein Kind der Zeit. Erstens folgt es dem Prinzip Bring your own device (BYOD) – da die Schüler_innen alle im Besitz von Handys sind, ist es nicht mehr notwendig, technische Geräte für Wettbewerbe dieser Art bereitzustellen. Zweitens ist das Spiel interdisziplinär, es verbindet Deutsch, Geschichte, Kunstgeschichte und Wirtschaft. Der fächerübergreifende Unterricht hat heute Priorität an estnischen Schulen. Drittens beantworteten im ausgewählten Beispiel 36 Gruppen von 40 die Fragen auf Estnisch statt auf Deutsch, da diese Möglichkeit zur Auswahl stand. Daher ist der Lerneffekt hinsichtlich der deutschen Sprache bei diesem Projekt einerseits vermutlich geringer gewesen als bei früheren Projekten. Andererseits leitete das Spiel stärker als die vorherigen Projekte die Lernenden zum Lesen und Entziffern deutschsprachiger Texte im öffentlichen Raum an. Damit konnte das Hauptziel – die Sensibilisierung der Schüler_innen für die historischen und heutigen Beziehungen zwischen der estnischen und deutschen Kultur – erreicht werden. Hinsichtlich einer Didaktisierung der LL gibt es aber sicher noch großes Entwicklungspotential. Man könnte die Lernenden z. B. die vorhandenen historischen deutschsprachigen Texte entziffern und in ihre Geräte eintippen oder Texte

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gezielt suchen lassen. Die Popularität des Spiels – die Teilnehmer kamen aus ganz Estland, insgesamt 3640 Gruppen – zeigt jedoch, dass man künftig die Idee weiterentwickeln und ähnliche Spiele mit spezifischerem Profil gestalten sollte. 3.1.2 Wettbewerb »Deutsch in meiner Umgebung« Im Herbst 2017 wurde von der Universität Tallinn6 der Schülerwettbewerb »Deutsch (DACH) in meiner Umgebung« ausgerufen. Die Idee des Projekts war, zusammen mit den Schüler_innen zu schauen, wie präsent Deutsch, die deutsche Geschichte (Erinnerungsorte) und die deutschsprachigen Länder in der Umgebung der Schüler_innen ist bzw. was sie als zur deutschbaltischen Kultur, zu Deutschland, Österreich und der Schweiz gehörig verstehen und einordnen. Im Folgenden werden nur die Ergebnisse referiert, die sich auf die deutschbaltische Geschichte beziehen (für eine nähere Beschreibung des Projekts siehe Saagpakk / Frick 2019 (im Druck)). Im Projektaufruf wird deutlich, dass neben deutschsprachigen Texten auch Symbole und Produkte aufgenommen werden dürfen. Damit gehen wir von einem erweiterten Begriff der LL aus, in der didaktischen Umsetzung wurden wir aber inspiriert durch ein ähnliches Projekt in Malta 2014 (vgl. Heimrath 2017), bei dem die eingetroffenen Beiträge zu einem ursprünglich auf Texte zielenden Projekt auch Zeichen anderer Art beinhalteten und so auch akzeptiert wurden. Dort wurde dieses Vorgehen ›Spot German‹ genannt und es sollte eine Suche nach Deutschem im breiteren Sinne sein: »Gegenstände, die einen Zusammenhang mit einem der deutschsprachigen Länder herstellen« (ebd., S. 21). Ziel der Verbindung von Texten und Symbolen war es, das ›unsystematische‹ Wahrnehmen der Varietät sprachlicher Zeichen im Alltag zu simulieren (vgl. Marten 2017, S. 179). Des Weiteren ist der Spot-German-Ansatz im Schulkontext leichter zu erklären und praktischer in der Durchführung als ein reines LL-Projekt, weil eine größere mögliche Anzahl von Funden motivierender wirkt. Da wir keine Möglichkeit hatten, ein Einführungsseminar für betreuende Lehrpersonen zu veranstalten, war es wichtig, dass die Aufgabe auch ohne theoretisches Vorwissen in Bezug auf die LL-Forschung betreut werden konnte. Da im Fach Deutsch sowohl regional wie auch überregional häufig Wettbewerbe stattfinden, sind die Lehrer_innen darin geübt, Projektmethoden im Unterricht anzuwenden.

6 Die Partner und Unterstützer waren das Goethe-Institut, die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen, die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, das Deutsche Gymnasium Tallinn, die Deutsch-Baltische Gesellschaft, die Botschaft der Republik Österreich und private Unterstützer.

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Das Ziel des Projekts war nicht eine allumfassende Aufnahme und Beschreibung der vorhandenen DACH-Elemente im öffentlichen Raum der jeweiligen Ortschaften. Vielmehr sollten die Schüler_innen dazu animiert werden, ihre Umgebung durch die DACH-Brille zu sehen und eine Kategorisierung für die Funde zu entwickeln. Durch die offene Art des Aufrufes, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhob, hatten die Lernenden einen Einfluss auf die Art des Kulturkontaktes – sie konnten sich die Themen und Orte selbst aussuchen, sich etwa mit der deutschbaltischen Geschichte oder mit der Okkupationsgeschichte befassen, konnten es aber auch lassen. Als erste Phase des Wettbewerbs mussten die Schülergruppen einen Fragebogen ausfüllen; das haben 26 Gruppen gemacht. Ziel dieser Erhebung war, die Ausgangssituation der Lernenden vor dem Projekt abschätzen zu können. Die Frage »Gibt es in deiner Schule/Stadt deutsche Texte?« wurde von allen Gruppen mit »ja« beantwortet. Auf die Frage, wo sie die deutschen Texte vermutlich finden würden, antworteten die Schüler_innen am häufigsten »Straße, Stadt« (11 Mal), was aber sehr unspezifisch ist und eigentlich nicht eine genauere thematische Ausrichtung verrät. Die zweitgrößte Gruppe »Lebensmittelgeschäft, Kaufhaus« (10) deutet aber auf ein Vorwissen über Deutschland als eine starke Wirtschaftsmacht hin. Die nächste große Kategorie »Friedhof« (9) zeigt, dass den Schüler_innen die starke Verknüpfung der estnischen Geschichte mit der deutschen Geschichte und die Bedeutung der deutschen Minderheit im Lande bewusst ist, sei es aus dem Unterricht oder aus persönlicher Erfahrung, da sie womöglich Gräber mit deutschen Texten bei Friedhofsbesuchen gesehen haben. Durch den Fragebogen sollte das Vorwissen der Schüler_innen aktiviert werden, damit sie nachdenken, wo sie bereits etwas mit Deutsch oder den deutschsprachigen Ländern Verbundenes gesehen haben. Die Reflexion über die geschichtlichen, sozialen, wirtschaftlichen Determinanten des Raums (conceived space) sollte die Fähigkeit fördern, den gesellschaftlich erschaffenen Raum gleichzeitig als Voraussetzung und Ergebnis weitgefasster sozial-geschichtlicher Entwicklungen zu sehen. Auf der Ebene des lived space – das Vorhandensein der Zeichen im Raum – konnte gesehen werden, dass die sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen im Alltag nicht selten übersehen werden und es einer eingehenderen Beschäftigung bedarf, sich der semiotischen Vielfalt der eigenen Lebensumgebung gewahr zu werden. Die 30 eingereichten Arbeiten enthielten sechs bis 57 Bilder, im Durchschnitt waren es 23 (vgl. Goethe-Institut, Webgalerie). Die häufigsten Kategorien waren Lebensmittel (genannt in 24 Arbeiten), sonstige Produkte (20), Bücher (20), DaFMaterialien (16), Autos (13), etc. Die deutschbaltische Geschichte kam nur bei einem Drittel der Gruppen vor (10), es waren meistens Grab- oder Gedenksteine (Abb. 1, 2) oder historische Namen (Abb. 3).

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Abb. 1: Grabstein für Franz Burchard Dörbeck in Viljandi. Foto: Andreas M. Reili, Artur Leppik (Gymnasium Viljandi)

Abb. 2: Grabstein für Anna von Krusenstiertn auf dem Friefhof von Rapla. Foto: Liis Tepner, Triin Tepner, Anna Lisett Hansen, Alexandra Lehrmets (Rapla Vesiroosi Gymnasium)

Die geringe Präsenz der Fotos mit deutschbaltischen Objekten war aus der Sicht der Organisator_innen eine Enttäuschung, da die gesamte Aktion insgeheim darauf abgezielt hatte, gerade die historischen Bezüge zu aktivieren. Dass es so selten geschah, ist bestimmt auch auf die geringe Lenkung der Lehrer_innen zurückzuführen, die das Thema der deutschbaltischen Geschichte eben (wie oben behauptet) nicht als Gegenstand des DaF-Unterrichts sehen. Somit haben die Universitäten in Estland künftig die Aufgabe, durch an den DaF-Kontext angepasste Materialien und Lernvideos den Deutschlehrenden die Thematisierung der deutschbaltischen Geschichte im Unterricht einfacher zu machen.

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Abb. 3: Auszug aus der Präsentation von Eliise Uibo, Katariina Uibo und Marta Magrareeta Bender (Katholisches Bildungszentrum Tartu)

3.1.3 Linguistic-Landscape-Projekte mit den Studierenden der Universität Tallinn Seit dem Frühjahr 2013 habe ich an der Universität Tallinn mit Germanistikstudierenden im Rahmen von Seminaren zum Thema Kultur und Geschichte deutschsprachiger Länder Miniprojekte zu LL durchgeführt. Die Studierenden bekommen dabei die Aufgabe, in der Altstadt von Tallinn nach deutschsprachigen Texten zu suchen. Die fotografierten Texte werden kulturell-historisch verortet und gemäß der Entstehungszeit und dem Stil werden die Epochenmerkmale besprochen, bei den modernen Texten wird zudem stets der Bezug zur deutschbaltischen Geschichte aufgeklärt. Das Verfahren kann auch als Spot German-Projekt bezeichnet werden, da das Suchen nach deutschsprachigen Texten ausdrücklich im Mittelpunkt steht und Texte in anderen Sprachen, die ebenfalls zu derselben sprachlichen Landschaft gehörten, außer Acht gelassen werden (vgl. Heimrath 2017). Die Studierenden haben z. B. festgestellt, dass die in Stein gehauenen älteren Texte an Kirchen oder am Rathaus in Tallinn (vgl. Abb. 4) in der Regel auf Deutsch und in einigen Fällen Niederdeutsch verfasst sind. Diese Texte sind manchmal etwas verblichen und schwer lesbar oder sie befinden sich an höheren Stellen oder Nischen der Gebäude und werden daher häufig übersehen; umso überraschender war es für die Studierenden, viele Texte dieser Art vorzufinden. Weitere deutschsprachige Texte mit deutschbaltischem Bezug lassen sich in Form vieler Gedenktafeln (vgl. Abb. 5) für bedeutende Persönlichkeiten finden, die in Tallinn gelebt haben, oder für Organisationen, die in Tallinn tätig gewesen sind. Die zweisprachigen (Estnisch-Deutsch) Gedenktafeln für herausragende Deutschbalten sind normalerweise nach 1991 im öffentlichen Raum angebracht worden und ihre Sprachkombination unterscheidet sich von den sonstig übli-

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Abb. 4: Niederdeutsches Kenotaph für Hans Paulsen aus dem 16. Jh. an der Olaikirche in Tallinn. Foto: Siret Aus

chen Sprachpaaren Estnisch-Englisch (für Tourist_innen) oder Estnisch-Russisch (für die lokale russischsprachige Minderheit, nur bei Tafeln aus der Sowjetzeit).

Abb. 5: Zweisprachige Gedenktafel für Friedrich Georg von Bunge. Foto: Karol Tsarnetski

Eine weitere interessante Gruppe von Texten im öffentlichen Raum bilden die Fälle der Kommodifizierung (der kommerziellen Nutzung) – Namen von Lokalen wie Karl Friedrich, Balthasar, Grillhaus Daube, Olde Hanse oder Cafe Weckengang. Diese nehmen auf unterschiedliche Weise Bezug auf die deutsche Geschichte der Stadt Tallinn, die offensichtlich als werbewirksam eingestuft wird. Das Bild mit dem Restaurantnamen Balthasar in gotischer Schrift ist ein interessanter Fall der Mehrsprachigkeit, es finden sich drei Sprachen (Estnisch, Englisch und Deutsch) auf dem Foto, wobei der deutsche Name Balthasar auch auf dem Wappen vorkommt und die gotische Schrift die historische Dimension

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Abb. 6: Restaurant Balthasar am Rathausmarkt. Foto: Grete Aron

unterstützt. Unten rechts sieht man das einsprachig estnische Straßenschild (Raekoja plats – Rathausplatz), was dem Foto auch eine sprachpolitische Note7 verleiht. Des Weiteren schauten wir uns bei mehrsprachigen Texten die Übersetzungen an, woraus sich interessante Schlussfolgerungen ergaben. Teilweise enthalten die Übersetzungen Auslassungen, die zum Nachdenken anregen. Zum Beispiel findet sich auf dem Denkmal für die im Freiheitskrieg 1918–1920 gefallenen Deutschbalten (vgl. Abb. 7) das estnische Wort vabadussõjas [dt.: im Freiheitskrieg], in der deutschsprachigen Version steht dies jedoch nicht. Die anderen Wörter sind direkt und wörtlich übersetzt worden. Vermutlich kann der Krieg, welcher am Ende den massiven Bedeutungsverlust der Deutschbalten und eine Enteignung ihres Gutslandes mit sich brachte, aus deutschbaltischer Sicht nicht als ›Freiheitskrieg‹ bezeichnet werden. Derartige Fälle schärfen bei einer multiperspektivischen Betrachtungsweise die Aufmerksamkeit und das historische Bewusstsein der Studierenden und regen zu Diskussionen an. Beobachtungen wie diese können im Unterricht gut zur Problematisierung historischer Fragen genutzt werden. Wie gezeigt werden konnte, eröffnen die LL die Möglichkeit, die Studierenden auf die deutschsprachige Geschichte des Landes aufmerksam zu machen, den

7 Das Keeleseadus [Sprachgesetz] vom 23. 02. 2011 postuliert die Stellung der estnischen Sprache als Staatssprache und legt die Regeln ihrer Benutzung im öffentlichen Raum fest. Die wichtigste Forderung ist, dass alle nicht-estnischen Texte nur mit einer Übersetzung ins Estnische angebracht werden dürfen, vgl. §16, Punkt 1 und 2 (10. 06. 2019).

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Abb. 7: Denkmal für die Gefallenen des Deutschbalten-Regiments 1918–1920 auf dem Domberg von Tallinn. Foto: Karel Tsarnetski

Fokus auf den heutigen Umgang mit dem deutschbaltischen Erbe in Estland zu lenken und der Verwendung der einst dominanten deutschen Sprache und den deutschbaltischen Erinnerungsorten im gegenwärtigen öffentlichen urbanen Raum nachzugehen. Durch die Beschäftigung mit den LL kann erreicht werden, dass Studierende die Palimpsestartigkeit der Stadtkultur8 auf eine einprägende Weise erleben und zu schätzen lernen.

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Zusammenfassung und Ausblick

Es scheint das Gebot der Zeit zu sein, dass man heute, statt die Schüler_innen sowie Studierende zu Forschungsarbeiten anzuregen, nach weniger aufwendigen und auch mit geringeren Sprachkenntnissen durchführbaren Projektideen greift. Die Erkundung der LL bietet sich im estnischen DaF-Unterricht dazu an, eine Sensibilisierung der Lernenden für das Thema der estnisch-deutschen Kulturkontakte und der Geschichte der Deutschen im Lande erzielen zu können. Es kann gelingen, die Aufmerksamkeit der Schüler_innen für etwas zu gewinnen, das sie scheinbar bereits kennen, als Ergebnis der Beschäftigung mit Texten und 8 Vgl. dazu auch Pasewalck / Bender 2017.

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Objekten im öffentlichen Raum aber differenzierter betrachten können als bisher. Es bleibt zu hoffen, dass durch derartige Projekte die Entdeckung der historischen Dimension des eigenen Lebensumfeldes befördert wird und die Rolle, die das Deutsche dabei gerade in Estland spielt, unterstrichen wird. Mittels einer kritischen Reflexion über das multikulturelle Miteinander im Estland der vergangenen Zeiten sollten Lernende dazu angeregt werden, ihr im Moment mitunter stark ethnisch-national geprägtes Identitätsbild als eine Summe von unterschiedlichen kulturellen Einflüssen zu verstehen.

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Deutsch(baltisch)e Texte als Gegenstand des interkulturellen Lernens

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Renata Behrendt

Identität ist etwas Persönliches. Migration, Identität und Schreiben in Wir Strebermigranten von Emilia Smechowski

Die Journalistin Emilia Smechowski debütierte 2017 als Schriftstellerin mit einem Buch, in dem sie ihre Migrationserfahrung und ihre Identitätssuche thematisiert. Migration, Identität und Schreiben stehen in Wir Strebermigranten1 im engen Zusammenhang miteinander. Um diese Wechselbeziehung erläutern zu können, ist es notwendig, transdisziplinäre Verbindungen zwischen den Identitätstheorien in der Psychologie und der Autobiografie-Forschung herzustellen. Aus der Perspektive der Psychologie stellt der Aufbruch in ein anderes Land und in eine unbekannte Zukunft einen Umbruch im Leben der Migrant_innen dar. Die Migration bringt neue Anforderungen mit sich: Migranten wechseln von einer relativ eindeutigen Wirklichkeit ihrer Herkunftskultur unter Aufgabe bekannter Verhaltens- und Erlebnismuster in eine relativ mehrdeutige Wirklichkeit mit der Notwendigkeit des Erwerbs neuer Verhaltensweisen. (Calliess / Bauer / Behrens 2012, S. 36–37)

Migrationserfahrung ist mit »de[m] Verlust der Verankerung als Person in einem dauerhaften mitmenschlichen und kulturellen Gefüge, das Halt gibt und schützt« (Ermann 2011, S. 138) verbunden. Im neuen Lebensumfeld kann es zu Orientierungslosigkeit, Ratlosigkeit und Unsicherheit im Handeln kommen (vgl. ebd.). Folglich können Identitätskrisen entstehen. Identitätsdiffusion drohe allerdings auch denjenigen Migrant_innen, die in der neuen Umgebung aufgehen, ohne ihre Unverwechselbarkeit zu bewahren (vgl. Rosa 2007, S. 49). Um die Gefahr der Identitätsdiffusion abwenden zu können, muss die Erfahrung der Migration in das Identitätskonzept integriert werden. Diese Aufgabe stellt die Migrant_innen vor die Herausforderung, das Leben, das bereits hinter ihnen liegt und die Gegenwart und die Zukunft so miteinander zu verbinden, dass »Kontinuität und Kohärenz des Selbst« (ebd., S. 49) aufgebaut werden können. Der Frage ›wer man war‹ komme dabei derselbe Stellenwert wie der Frage ›wer man sein wird‹ zu (vgl. ebd.). 1 Stellennachweise im Folgenden im Text mit der Sigle WSM.

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Eine Möglichkeit, die Kontinuität seiner Lebensgeschichte herzustellen, liegt im Erzählen oder im Schreiben. Jede_r Migrant_in entscheidet dabei selbst, welche Ereignisse und Erfahrungen für sie / ihn besonders bedeutsam sind und in welcher Reihenfolge sie im Akt des Erzählens oder des Schreibens aneinander geordnet werden können, damit Kohärenz und Sinnhaftigkeit des Lebens (wieder) hergestellt werden können. In der Autobiografie-Forschung hat Günter Niggl zur Bezeichnung dieses Vorgehens den Begriff der Instanzen vorgeschlagen, »welchen der Autobiograph eine lebensbestimmende Rolle zuweist« (Niggl 2012, S. 44). In neueren psychologischen Ansätzen der Identitätsforschung ist die Rede vom »narrativen (›erzählenden‹) Charakter der Identitätsbildung« (Rosa 2007, S. 49) und vom »autobiographischen Prozeß«, mit dem die Ordnung der Lebensgeschichte im Prozess der Narration erfolge, sodass ein mehr oder weniger kohärenter Zusammenhang entstehe (vgl. Brockmeier 1999, S. 23). Smechowski hat ihrem Werk keine Gattungsbezeichnung – weder als Autobiografie noch als Roman – beigefügt. Auf der ersten Seite meldet sich eine IchErzählerin zu Wort, die über den Auszug der sechzehnjährigen Emilia Smechowski aus dem Elternhaus im Jahr 2000 im Präsens berichtet. Bereits vier Seiten weiter positioniert sich diese Ich-Erzählerin eindeutig in der Gegenwart – »Heute weiß ich, dass dieser Ausbruch von zu Hause […]« (WSM 10) – und reflektiert über das gerade Erzählte. Auf diese Weise werden zwei Erzählebenen markiert: die Gegenwart des erlebenden Ich, z. B. der sechzehnjährigen Emilia Smechowski im Jahr 2000, und die Gegenwart des erzählenden Ich, d. h. der erwachsenen Emilia Smechowski zum Zeitpunkt der Niederschrift des Textes, die auf ihr Leben zurückblickt, ihre Erinnerungen aufschreibt und kommentiert. Mit Niggl kann man hier von der »doppelten Identität« (Niggl 2012, S. 45) der Autorin mit der Figur und mit der Erzählerin sprechen. Um die beiden Erzählebenen im folgenden Beitrag voneinander unterscheiden zu können, wird in Bezug auf das erlebende Ich von Emilia und in Bezug auf das erzählende und reflektierende Ich von Smechowski die Rede sein. Diese Unterscheidung – darauf sei hier ausdrücklich hingewiesen – muss allerdings ein Wagnis bleiben, denn Smechowskis Buch ist der psychologischen Identitätsforschung zufolge als Produkt eines autobiografischen Prozesses zu bezeichnen, »in dem Erinnerung und Erzählung unauflösbar verwoben sind« (Brockmeier 1999, S. 24). Der Titel dieses Beitrags knüpft an eine Äußerung der Autorin an. Im Interview für Deutschlandfunk Kultur anlässlich des Erscheinens ihres Buches sagte Smechowski am 24. 07. 2017: »Identität ist so etwas Persönliches […], es ist ein totales privates Ding und das muss jeder mit sich selber auch ein bisschen aushandeln.« (Smechowski 2017) In Wir Strebermigranten bietet Smechowski dem Lesepublikum einen tiefen Einblick in ihren Prozess des Aushandelns der Identität im Kontext der Migration. Dabei zeigt sie Schwierigkeiten wie auch Möglichkeiten, die Identität zu einer persönlichen Sache zu machen.

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Migration

Wir Strebermigranten ist ein Werk der Migranten- und der Migrationsliteratur zugleich. Die Autorin ist 1988 als fünfjähriges Kind mit ihren Eltern aus Polen nach Deutschland gekommen. In ihrem Buch thematisiert sie die Assimilationsbestrebungen ihrer Eltern und ihren Kampf gegen die Erwartungen der Eltern an sie, der sich zugleich als Kampf um ihre Identität erweist. Smechowski schreibt über Schamgefühle, Armut und selbstverordnete Anpassung an die deutsche Wirklichkeit. Sie bricht ein familiäres Tabu und schafft es doch, zu ihrer Mutter wieder eine Beziehung der Nähe aufzubauen. Wie kein_e andere_r Autor_in vermag sie das Phänomen der Unsichtbarkeit der Polen in Deutschland aus der Perspektive gelebter und reflektierter Soziologie des Alltags begreifbar zu machen (vgl. Loew 2014). Dadurch erschreibt sie sich den Ruf der »mutigsten Autorin ihrer Generation« (Maxim Biller, Buchcover). Die Flucht aus Polen – so schreibt darüber die Tochter in ihrem Buch – wird im Leben der Familie Smechowski zu einer Zäsur, die nicht nur die Vergangenheit und Zukunft voneinander trennt, sondern auch ein Leben in Armut von einem im Wohlstand. Diese Differenz wird zur Grundlage der familiären Identitätskonstruktion als Deutsche. Mit der Flucht lassen die Smechowskis ihre kleine Wohnung in einem grauen Wohnblock, ihr perspektivloses Berufsleben im Krankenhaus und die Güterknappheit im Polen der 1980er Jahre hinter sich. Nach der Ankunft in Berlin werden die Unterschiede zwischen Deutschland und Polen noch auffälliger. Im Vergleich mit den Deutschen fühlen sich die Smechowskis arm. Da sie sich ihrer Herkunft schämen, wollen sie nicht auffallen oder als Migrant_innen erkannt werden. Armut und Scham werden zu den wichtigsten Motivationsfaktoren, das Ungleichgewicht zwischen der aktuellen Situation und den Wunschvorstellungen der Familie zu nivellieren. Die Machtkonstellation, in der Deutschland das wirtschaftlich stärkere und kulturell dominante Land darstellt, wird von ihnen unhinterfragt akzeptiert. Die Smechowskis nehmen eine untergeordnete Position an und passen sich schnell an. Vom Phänotyp her fallen sie nicht auf, die anderen Differenzen oder »Markierungsstrukturen« (Foroutan 2013, S. 92) sollten getilgt werden. In Sprachkursen beim Goethe-Institut lernen sie die Sprache, lassen ihre Studiendiplome anerkennen und fangen bald in einem Berliner Krankenhaus als Anästhesisten zu arbeiten an. Die geleisteten Überstunden und der Verzicht auf Urlaub ermöglichen es der Familie, in kürzester Zeit ein neues Auto zu kaufen und in eine geräumige Wohnung umzuziehen. Die Smechowskis lernen schnell das Gefühl kennen, sich alles leisten zu können. Autos werden gewechselt, für die Töchter gibt es Markenkleider, ein Eigenheim wird gebaut. Eine sich durch den Konsum realisierende kulturelle Assimilation bezeichnet Jan Nederveen Pieterse als »Universalisierung« oder »kulturelle Konvergenz« (vgl. Mill 2004, S. 437). Der

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Konsum wird bei den Smechowskis zum Medium der Angleichung an die deutsche Kultur und Gesellschaft. Die Fernsehwerbung und die Zeitschrift Brigitte spielen dabei als Kompass im alltäglichen Leben eine entscheidende Rolle (vgl. WSM, S. 103). Deutsch zu sein bedeutet aber nicht nur, wie die Deutschen zu leben, sondern es erfordert von den Smechowskis auch, die Polen in sich ›auszuradieren‹. Sie »legten die Rolle der Polen ab. Und büffelten dafür umso mehr für die der Deutschen.« (WSM, S. 96) Die Töchter dürfen kein Polnisch mehr sprechen. Die Mutter kocht nie Polnisch, weder für die Gäste zu Hause noch für ein Schulfest. Der Familienname und die Vornamen werden eingedeutscht. Kurz vor Emilias Kommunion wechselt die Familie in eine deutsche Kirche (vgl. WMS, S. 112). Die Smechowskis schaffen es, in Deutschland eine neue Heimat zu finden, weil sie sich nie auf die Vergangenheit konzentrieren, sondern stets in die Zukunft schauen. Ihr Handeln ist nicht nach innen, d. h. auf die Herkunftskultur, sondern nach außen, auf die Aufnahmekultur gerichtet. Das frühere Leben in Polen wird nicht in Erinnerungen wachgehalten. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie ihr Ziel nur erreichen können, wenn sie sich an der Kultur der für sie zunächst fremden deutschen Gesellschaft orientieren. Die von der Familie der Autorin gewählte Akkulturationsstrategie hat ihre Wurzeln in einem Denken in binären Ordnungen – arm / wohlhabend, grau / bunt, Güterknappheit / Überfluss –, die ausschließlich eine Entweder-oder-Logik im Prozess der Akkulturation zulassen. Zwangsläufig wird die als minderwertig bewertete Kultur abgelegt, während Normen, Wertvorstellungen und kulturelle Praktiken der anderen Kultur übernommen werden. Auf die Smechowskis trifft zu, was Naika Foroutan als »NeuHeimigkeit« beschreibt, d. h. das »Verschwinden der ehemaligen Herkunftsidentität und ein vollkommenes Aufgehen in kulturelle[n] Sozialisationsmuster[n] Deutschlands als Akkulturationsstrategie« (Foroutan 2013, S. 94). In der Terminologie John W. Berrys lässt sich die Form der Akkulturation bei den Smechowskis als Assimilation auffassen (vgl. Thomas 2005, 80f.). Auf den ersten Blick scheint diese Strategie erfolgreich zu sein, ermöglicht sie den Smechowskis doch in der deutschen Kultur zu handeln, einen hohen materiellen Status zu erreichen und die Schamgefühle zu verdrängen. Glücklich und stressfrei sehen sie aber nur noch auf den vergilbten schwarz-weißen Familienfotos aus Polen aus (vgl. WSM, S. 13). Die Assimilationsbemühungen führen allmählich zum Zerfall der Familie. Die älteste Tochter zieht mit sechzehn von Zuhause aus. Einige Jahre später lassen sich die Eltern scheiden. Jahrelang sind die Smechowskis nicht imstande, über ihre Vorgehensweise zu reflektieren. Erst die Tochter Emilia setzt sich mit den Assimilationsbemühungen der Eltern kritisch auseinander und weist auf die Folgen hin. Mit ihren Anpassungsmaßnahmen haben sich die Eltern selbst verleugnet. Sie sind deutscher geworden als alle Deutschen. Smechowski findet einen dazu passenden, negativ konnotierten Superlativ: »Turbodeutsche«

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(WSM, S. 119). Als Erwachsene reflektiert sie über ihre damalige Entscheidung: »Heute weiß ich, dass dieser Ausbruch von Zuhause mehr war als die Rebellion eines Teenagers. Es war auch eine Absage an die Art, wie wir in Deutschland lebten.« (WSM, S. 10) Der Ausbruch von Zuhause ist der erste Versuch, die Identität als etwas Persönliches aufzufassen. Nach Erik H. Eriksons Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung (vgl. Erikson [1959] 1973, S. 55–122) befindet sich Emilia zu diesem Lebenszeitpunkt in der fünften Krise und sie handelt auf die für diese Entwicklungsphase charakteristische Weise. Sie hat sich mit ihren Eltern als den wichtigsten Bezugspersonen auseinandergesetzt, ihre Lebensweise in Frage gestellt und daraus ihre Konsequenzen gezogen, indem sie ihren eigenen Weg eingeschlagen hat. Erst die Autorin Smechowski wird sich dessen bewusst, dass zwischen der jugendlichen Suche nach sich selbst und der Migrationserfahrung der Familie ein enger Zusammenhang besteht. Ihr Kommentar lässt den Auszug von Zuhause als eine Absage an die Assimilationsbestrebungen der Eltern und als einen Bruch mit der Identität als Kind von Migrant_innen erscheinen.

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Identität wird heute als ein dynamischer Prozess der Selbstkonstruktion und der Selbstvergewisserung definiert, in dem der Reflexion über das Verhältnis zu sich selbst und zu anderen sowie über das Selbst- und Weltverständnis große Bedeutung zukommt (vgl. Frederking [2010] 2013, S. 427–429). Mit Heinz Abels Worten sei Identität das Bewusstsein, ein unverwechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein, in seinem Handeln eine gewisse Konsequenz zu zeigen und in der Auseinandersetzung mit anderen eine Balance zwischen individuellen Ansprüchen und sozialen Erwartungen gefunden zu haben (ebd. S. 428).

Menschen mit Migrationserfahrung bilden ihre Identität nicht auf eine andere Weise aus als Menschen, die nicht migriert sind. Jeder Mensch wird sich in seinem sozialen Umfeld mit Erwartungen, die von anderen an ihn herangetragen werden, auseinandersetzen müssen, jeder ist gefordert, vergangene und gegenwärtige Erfahrungen in einen für ihn sinnvollen Zusammenhang zu bringen und dadurch das Gefühl der Kontinuität und Kohärenz im Leben herzustellen. Migration bedeutet aber den Wechsel des sozialen Umfelds, was Migrant_innen mit anderen Denk- und Handlungsweisen, mit anderen Normen des sozialen Zusammenlebens und Wertvorstellungen konfrontiert. Zudem müssen Migrant_innen Erlebnisse und Erfahrungen in ihre Lebensgeschichte aufnehmen, welche sie nicht gesammelt hätten, wenn sie nicht migriert wären. Für die Analyse

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der Identitätsbildung bei Emilia spielen darum die Erkenntnisse des Psychologen Erik H. Erikson und des Soziologen Lothar Krappmann eine besonders wichtige Rolle. Als eine weitere Grundlage wird das Konzept der Transdifferenz herangezogen. Solch eine Vorgehensweise ermöglicht es, Emilia als Menschen in den Vordergrund zu stellen und ihre Migrationsgeschichte dabei so zu berücksichtigen, dass sie nicht auf die Rolle einer Migrantin reduziert wird. Erik H. Erikson teilte das menschliche Leben in acht verschiedene Entwicklungsstadien auf. Vom Säuglingsalter bis zum reifen Erwachsenenalter muss der Mensch in jedem Stadium eine Krise bewältigen. Durchsteht »die gesunde Persönlichkeit« die jeweilige Krise, geht sie daraus mit einem gestärkten Gefühl innerer Einheit, einem Zuwachs an Urteilskraft und der Fähigkeit hervor, ihre Sache gut zu machen, und zwar gemäß den Standards derjenigen Umwelt, die für diesen Menschen bedeutsam ist (Erikson [1959] 1973, S. 56, Hervorhebung im Original).

Beispielsweise kann in der Pubertät (fünfte Phase) die Ich-Identität herausgebildet werden oder es kommt zur Identitätsdiffusion. In dieser Phase stelle der / die Jugendliche alle Identifizierungen und Sicherungen erneut in Frage. Er / sie sei damit beschäftigt, seine / ihre soziale Rolle zu festigen und seinen / ihren eigenen Weg zu finden (vgl. ebd., S. 105f). Werden bestimmte Grundqualitäten entwickelt und in das Persönlichkeitskonzept integriert, kann der / die Jugendliche seine / ihre Ich-Identität herausbilden. Bei der Nicht-Erfüllung der Aufgabe besteht die Gefahr der Identitätsdiffusion. Ich-Identität wird von Erikson als eine Synthese der in der Kindheit gesammelten Ich-Werte und des Vertrauens darauf, »daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität […] aufrechtzuerhalten«, aufgefasst (ebd., S. 106). In Bezug auf Emilia stellen sich die Fragen, ob und wie es ihr gelingt, die frühe Kindheit in Polen in das Selbstkonzept der in Deutschland lebenden Emilia zu integrieren, welchen individuellen Weg sie einschlägt und welche soziale Rolle sie für sich erkämpft. Lothar Krappmann hat in die Identitätsforschung den Begriff der ›balancierenden Identität‹ eingeführt. Krappmann unterscheidet zwischen der personalen Seite der Identität, die die unverwechselbare Lebensgeschichte jedes Menschen umfasst und der sozialen Seite, die »durch freie Anerkennung der anderen legitimiert« (Krappmann [1971] 1973, S. 29) wird. Das Individuum kann seine Identität wahren, wenn es ihm gelingt, die personale und die soziale Seite der Identität in Balance zu halten. Vor diesem Hintergrund gilt es bei der Untersuchung der Lebensgeschichte Emilias die Aufmerksamkeit auf solche Elemente zu lenken, die notwendig sind, um die besagte Balance zu finden. Der Begriff der Transdifferenz wurde von Helmbrecht Breinig und Klaus Lösch im Rahmen des Erlangener Graduiertenkollegs Kulturhermeneutik im

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Zeichen von Differenz und Transdifferenz entwickelt. Demnach werden mit Transdifferenz »Phänomene der spannungsreichen und unaufgelösten Ko-Präsenz von gegensätzlichen Semantiken, Sinn-Komponenten oder Zugehörigkeiten« (Lösch 2005, S. 252) bezeichnet: »Der Transdifferenzbegriff zielt auf die Untersuchung von Momenten der Ungewissheit, der Unentscheidbarkeit und des Widerspruchs, die in Differenzkonstruktionen auf der Basis der binären Ordnungslogik ausgeblendet werden«, die aber im Leben von Individuen aufscheinen können und sie dann fordern, jedwede Zweifel auszuhalten, ohne die Differenzen aufzuheben oder zu dekonstruieren (vgl. ebd. S. 252f.). Durch das Aufscheinen des Ausgeblendeten wird deutlich, »dass das spezifische Schema der Inklusion und Exklusion zur Identifizierung von Gruppen nicht permanent ist und oftmals sogar arbiträr ist, oder durch Machtinteressen gesteuert wird« (Mill 2004, S. 431). Das Aufscheinen des Unterdrückten hat die Kraft, die konventionellen Differenzkonstruktionen ins Wanken zu bringen und sie temporär ungültig zu machen (vgl. Lösch 2004, S. 27). In diesem Kontext gilt es zu fragen, ob Emilia es schafft, die überkommenen Differenzen hinter sich zu lassen und ihre Identität neu zu konstruieren oder ob die Transdifferenz ihr Selbstkonzept nachhaltig destabilisieren wird. Emilias Auszug aus dem Elternhaus ist als ein wichtiger, identitätsfördernder Schritt zu verstehen. Für Krappmann kann der Mensch Identitätszuwachs alleine dadurch erreichen, dass er über Anpassungsanforderungen reflektiert. Emilia geht einen großen Schritt weiter. Mit ihrer Entscheidung stellt sie unter Beweis, dass sie die Fähigkeit, »sich über die Anforderungen von Rollen zu erheben, um auswählen, negieren, modifizieren und interpretieren zu können« (Krappmann [1971] 1973, S. 133) bereits erworben hat. Die Sechzehnjährige löst sich von der Rollenidentität als Migrantin bzw. als Tochter von polnischen Migrant_innen ab, nachdem sie die von den Eltern aufgestellten Normen und deren Lebensweise kritisiert und diese abgelehnt hat. Sie ist weiterhin nicht bereit, die an sie herangetragenen Erwartungen zu erfüllen, sondern sie setzt sich mit ihrem Willen durch und beginnt ihre Zukunft selbst zu gestalten. Der Traum, Opernsängerin zu werden, so resümiert Smechowski in ihrem Buch, war der größte Emanzipationsakt ihres Lebens. »Opernsängerin – einen größeren Kontrast zum Leben meiner Eltern hätte ich nicht wählen können.« (WSM, S. 173) Smechowski fehlt allerdings die Reflexion darüber, dass sie mit ihrer Entscheidung, das Elternhaus zu verlassen und einen künstlerischen Beruf zu wählen, von einem Extrem ins andere gefallen ist und somit einen zweiten Umbruch in ihrem Leben herbeigeführt hat. Mit den Folgen dieser Entscheidung wird sie selbstständig fertig werden müssen. Nach dem Auszug von Zuhause beginnt im Leben von Emilia ein beschleunigter Reifungsprozess. Sie überspringt die Phase der Pubertät und wird von einem Tag auf den anderen erwachsen. Sie wohnt in heruntergekommenen WG-Zimmern, schlägt sich mit Mini-Jobs durch, durchsteht Krankheiten und

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Hunger. Ihr neues Leben bildet im doppelten Sinne einen Gegensatz zu der Lebensweise ihrer Eltern – sie ist arm und findet dies großartig (vgl. WSM, S. 13). Auch wenn sich Emilias neuer Lebensentwurf von dem der Eltern diametral unterscheidet, ist sie ihnen mit ihrer Strebsamkeit und Zielorientierung doch sehr ähnlich. Genauso wie die Eltern hat sie einen Schlussstrich unter ihr früheres Leben gezogen und beschäftigt sich damit, sich als Opernsängerin zu profilieren. Ähnlich wie ihre Eltern konzentriert sie sich auf die Gegenwart und die Zukunft, die Vergangenheit spielt für das aktuelle Selbstkonzept keine Rolle. Im Hinblick auf die Entwicklungsstadien nach Erikson scheint Emilia einerseits die fünfte Krise erfolgreich überstanden zu haben. Sie hat sich mit den Erwartungen der Familie kritisch auseinandergesetzt und für ihr Leben die Verantwortung übernommen. Andererseits wäre es für einen gelungenen Aufbau der Ich-Identität nach Erikson notwendig gewesen, die vergangenen und aktuellen Erfahrungen so auf die Zukunft auszurichten, dass ein Gefühl der Kontinuität des Lebensentwurfs entstehen könnte. Zu diesem Zeitpunkt kann von einer positiven Erfüllung der Aufgabe, Ich-Identität aufzubauen, noch nicht die Rede sein. Zu einer großen Identitätskrise kommt es allerdings erst Jahre später in einem Italienischkurs in Rom. Unverhofft passiert dort etwas, was Emilias bisheriges Selbstkonzept tiefgründig erschüttert. Die Lehrerin in diesem Kurs stellt eines Tages fest: »Emilia, du hast ja einen polnischen Akzent!« (WSM, S. 175) Die im Prozess der Assimilation in Deutschland jahrelang verdrängte polnische Sprache setzt sich unerwartet durch. Es ist zwar lediglich der Akzent, der auf der Oberfläche der konstruierten Identität als Deutsche hörbar wird. Dies aber reicht, um Emilias bisherige Identitätskonstruktion ins Wanken zu bringen. Was seit Jahren verdrängt wurde, sprudelt nun aus der jungen Frau heraus. Sie erzählt im Kurs über die Flucht aus Polen und das Ankommen in Deutschland, ohne die Gefühle der Scham und den Aspekt der Unsichtbarkeit auszuschließen (vgl. WSM, S. 175). Auf die emotionale folgt die kognitive Reaktion. Diese findet einen adäquaten Ausdruck in der Frage: »Warum nur hatte ich bisher das Polnische in mir so gut versteckt?« (WSM, S. 175) Nach diesem Erlebnis beschließt Emilia, ihre polnische Herkunft nicht mehr zu verdrängen. Sie nimmt das Polnische in ihre Selbstdarstellung immer wieder auf, indem sie beispielsweise in die Gespräche und Unterhaltungen den Satz »Ich komme aus Polen.« (WSM, S. 175) einfügt. Ihre Gesprächspartner reagieren darauf meistens mit einer Frage, die Emilia verunsichert: »Und, fühlst du dich mehr als Deutsche oder als Polin? Ich verstand die Frage nicht. Ich kam aus Polen, aber ich war keine Polin, völlig ausgeschlossen.« (WSM, S. 175) Die Kommunikation mit anderen erweist sich als äußerst prekär, zwingt sie Emilia doch dazu, erneut über etwas nachzudenken, was sie für sich bereits ausgehandelt hat. Solchen Situationen kommt in Bezug auf die Identitätsbildung große Bedeutung zu. Für Krappmann kann Identität nur in sozialen Beziehungen, in der Inter-

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aktion mit anderen gewonnen werden (vgl. Krappmann [1971] 1973, S. 20). Entscheidend für eine gelungene Identitätsbildung sind allerdings »identitätsfördernde Fähigkeiten«, zu denen Krappmann Rollendistanz, Empathie, Ambiguitätstoleranz und Selbstdarstellung zählt (vgl. ebd. S. 132–173). Interaktionssituationen wie die oben dargestellte erfordern von Emilia Ambiguitätstoleranz, d. h. die Fähigkeit, Widersprüche in der Selbstwahrnehmung und in den Reaktionen der anderen auf ihr aktuelles Selbstbild auszuhalten (vgl. ebd. S. 150f). Für Emilia beginnt eine Zeit der Transdifferenz – der Unsicherheit und der Unentscheidbarkeit, ob sie nun Polin oder Deutsche ist. Die Fragen häufen sich: Musste ich mich entscheiden? Und wenn mein Leben in Deutschland spielte, wie viel Polnisch vertrug dann mein deutscher Alltag? (WSM, S. 185) Ich war weder eine >neue Deutsche< noch eine >alte Polin