Gesellschaftstheorie zwischen Autologie und Ontologie: Reflexionen über Ort und Gegenstand der Soziologie [1. Aufl.] 9783839414460

Anhand des spannungsreichen Wechselspiels von »Autologie« und »Ontologie« arbeitet dieses Buch Konvergenzen und Konflikt

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Gesellschaftstheorie zwischen Autologie und Ontologie: Reflexionen über Ort und Gegenstand der Soziologie [1. Aufl.]
 9783839414460

Table of contents :
INHALT
Vorwort
I Einleitung: Gibt es ein gesellschaftstheoretisches Programm?
Das Bild der Soziologie in der Soziologie
Die Frage nach der Einheit des Fachs
Autologie und Ontologie als Grundlinien einer gesellschaftstheoretischen Programmatik
II Rückblende: Comtes konstitutives Programm der Soziologie
Autologie und Ontologie der Gesellschaftswissenschaft bei Comte
Positivismus als Methode
Statik und Dynamik der Gesellschaft
Comtes positivistische Soziologie: Gescheitertes Begründungsprogramm oder Formierung eines konstitutiven Bezugsproblems?
III Zwischen soziologischer Aufklärung und Sozialtechnologie: Das autologische Moment der Gesellschaftstheorie
Soziologie und wissenschaftliches Selbstverständnis
Fortschrittsoptimismus und Gestaltungsanspruch in der vorakademischen Soziologie
Neutralitätsformeln und Praxisintentionen in der bürgerlichen Sozialwissenschaft
IV Zwischen Geist und Materie: Das ontologische Moment der Gesellschaftstheorie
Die Objektivität der Gesellschaft im Spiegel der Soziologie
Gesellschaftliche Totalität und ihre Elemente
Organismus und Mechanismus als komplementäre Paradigmen
V Exkurs: Über den funktionalen Zusammenhang von Religion und Moral
Elementare Bestimmungen der Religion und ihre gesellschaftliche Wirkungskraft
Die Funktion der Religion
Die moralische Differenz von Individuum und Gesellschaft
Moral als religionsspezifische Form der strukturellen Kopplung
VI Gesellschaftliche Mechanismen: Organisation und Öffentlichkeit
Organisation und Öffentlichkeit als Charakteristika der modernen Gesellschaft
Kulturelle und institutionelle Mechanismen
Begriffliche Präzisierungen
VII Zur gesellschaftlichen Verbindlichkeit der Soziologie
Literatur

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Michael Beetz Gesellschaftstheorie zwischen Autologie und Ontologie

Michael Beetz (Dr. phil.) ist als Soziologe an der Universität Jena tätig. Seine Arbeiten verstehen sich als Beitrag zu einer kultursoziologisch gewendeten Theorie der funktionalen Differenzierung.

Michael Beetz

Gesellschaftstheorie zwischen Autologie und Ontologie Reflexionen über Ort und Gegenstand der Soziologie

Dieses Buch entstand im Rahmen des DFG-Projekts »Gegenstandsauffassung, wissenschaftliches Verständnis und gesellschaftliche Selbstverortung im gesellschaftstheoretischen Diskurs der Soziologie« und wurde gedruckt unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Michael Beetz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1446-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

I N H AL T

Vorwort I

Einleitung: Gibt es ein gesellschaftstheoretisches Programm? Das Bild der Soziologie in der Soziologie Die Frage nach der Einheit des Fachs Autologie und Ontologie als Grundlinien einer gesellschaftstheoretischen Programmatik

II Rückblende: Comtes konstitutives Programm der Soziologieȱ Autologie und Ontologie der Gesellschaftswissenschaft bei Comte Positivismus als Methode Statik und Dynamik der Gesellschaft Comtes positivistische Soziologie: Gescheitertes Begründungsprogramm oder Formierung eines konstitutiven Bezugsproblems? III Zwischen soziologischer Aufklärung und Sozialtechnologie: Das autologische Moment der Gesellschaftstheorieȱ Soziologie und wissenschaftliches Selbstverständnis Fortschrittsoptimismus und Gestaltungsanspruch in der vorakademischen Soziologie Neutralitätsformeln und Praxisintentionen in der bürgerlichen Sozialwissenschaft IV Zwischen Geist und Materie: Das ontologische Moment der Gesellschaftstheorieȱ Die Objektivität der Gesellschaft im Spiegel der Soziologie Gesellschaftliche Totalität und ihre Elemente Organismus und Mechanismus als komplementäre Paradigmen

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V Exkurs: Über den funktionalen Zusammenhang von Religion und Moralȱ Elementare Bestimmungen der Religion und ihre gesellschaftliche Wirkungskraft Die Funktion der Religion Die moralische Differenz von Individuum und Gesellschaft Moral als religionsspezifische Form der strukturellen Kopplung VI Gesellschaftliche Mechanismen: Organisation und Öffentlichkeitȱ Organisation und Öffentlichkeit als Charakteristika der modernen Gesellschaft Kulturelle und institutionelle Mechanismen Begriffliche Präzisierungen

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VII Zur gesellschaftlichen Verbindlichkeit der Soziologieȱ

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Literatur

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VORWORT

Ein abstrakter Text zur Gesellschaftstheorie mag bei der gegenwärtigen Lage der Soziologe als schnödes Ornament betrachtet werden. Um eines besseren Verständnisses willen seien daher einige Bemerkungen zu den persönlichen Beweggründen und zur Vorgeschichte dieses Buches vorausgeschickt. Das Interesse an einer gezielten Betrachtung des gesellschaftstheoretischen Diskurses im Hinblick auf Gegenstandsauffassung und gesellschaftliche Selbstverortung erwuchs aus einem Bedürfnis der ideengeschichtlichen Rückversicherung. Nachdem ich bereits in früheren Arbeiten sowohl von „Organisation“ als auch von „Öffentlichkeit“ als „gesellschaftlichen Koordinationsmechanismen“ gesprochen hatte, scheiterte eine weitergehende theoretische Begründung zunächst an der geradezu babylonischen Sprachverwirrung innerhalb der Gesellschaftstheorie. Die systematische Gegenüberstellung von Organisation und Öffentlichkeit schien auf die grundlegendere Unterscheidung von Institutionen und Kultur (und diese letztlich auf die Unterscheidung von Materie und Geist) zu verweisen. Aufgrund der uneinheitlichen Terminologie, einer Vernachlässigung der Begriffsgeschichte und nicht zuletzt logischer Inkonsistenzen innerhalb der einzelnen soziologischen Theorien selbst blieben mir die innerhalb der Gesellschaftstheorie bestehenden Familienähnlichkeiten jedoch zu unbestimmt und von vermeintlichen Gegensätzen überlagert. Dies hatte mich vor einigen Jahren dazu bewogen, die gesellschaftstheoretischen Problemstellungen der soziologischen Klassiker gezielt unter die Lupe zu nehmen. Vor allem die Auseinandersetzung mit den aus dem kollektiven Gedenken weitestgehend ausgeschlossenen Ahnen des Faches – Auguste Comte und Herbert Spencer – erwies sich hierbei als aufschlussreich. Paradigmatische Gegensätze konnten – 7

GESELLSCHAFTSTHEORIE ZWISCHEN AUTOLOGIE UND ONTOLOGIE

im Kopf des Autors – anhand ihrer ideengeschichtlichen Rekonstruktion in Unterscheidungen übersetzt werden. So ließ sich der besagte Begriff des „Mechanismus“ als Gegenstück von „Organismus“ nun nicht nur auf den Gegensatz von Reduktionismus (bzw. methodologischem Individualismus) und Holismus beziehen, sondern zugleich auch als komplementäres Konzept zu dem der „funktionalen Differenzierung“ begreifen. Ohne mit den herausgearbeiteten Linien den Anspruch zu verbinden, ein für allemal die Probleme im Wesentlichen gelöst zu haben, entstanden im Zuge der betriebenen Studien eine Reihe von Aufsätzen und Fragmenten, deren geistiges Zentrum das zwischen Autologie und Ontologie bestehende Spannungsverhältnis bildet. Einzelne Themen ließen sich aus dem Gesamtzusammenhang auskoppeln und für sich präsentieren. Allerdings konnte so bspw. der Zusammenhang von Moral und Religion nie thematisiert werden, da im Kontext der Moralforschung nur über Moral, im Kontext der Religionssoziologie über Religion zu sprechen war, zumal selbst solche Teilthemen der Gesellschaftstheorie für den Kontext von Tagungen und Aufsätzen beinahe zu komplex sind. Gleichwohl bot nicht zuletzt das in Jena etablierte, exzellente Expertennetz ein vorzügliches Umfeld für die systematische Bündelung der Studien im Rahmen eines übergreifenden Projekts, dessen Finanzierung glücklicherweise von der Deutschen Forschungsgemeinschaft übernommen wurde, der ich hiermit meinen ergebensten Dank ausspreche. Der Text selbst protokolliert letztlich nur Eckpunkte eines Denkprozesses, dessen Urheberschaft nicht allein in der Person des Autors liegen kann. Allen, die sich im Geiste wie im Gespräch offen für die gesellschaftstheoretische Frage gezeigt haben, bin ich zutiefst verbunden. Besonderer Dank gilt jenen Freunden und Kollegen, die seit 2003 verschiedene Fassungen oder Auszüge des Manuskriptes gelesen haben, namentlich Michael Kauppert, Ralph Schrader, Jörg Oberthür, Sabine Ernst, Tobias Kosellek, Michael Corsten, Hartmut Rosa und Martina Philippi. Ohne ihre Anregungen und Korrekturen wäre dieses Buch bei weitem unvollkommener geblieben. Einer individuellen Lektüre sollte damit hoffentlich nichts mehr im Wege stehen. Hierzu noch eine Anmerkung: Der dominante Gestus des Poststrukturalismus, dem der Autor skeptisch gegenübersteht, soll durch den Text eher unterlaufen als überboten werden. Daher bleiben dem Leser verschiedene Lesarten: Dem theoriekritischen Leser wird im Sinne eines indirekten Beweises vorgeführt, wie das Programm einer „starken“ Gesellschaftstheorie systematisch scheitert. Der konstruktive Rezipient bekommt dagegen Möglichkeiten zur „Rettung“ der Soziologie an die Hand. – Möge dieser Deutungsspielraum Anlass für konstruktive Diskussionen geben. 8

I

EINLEITUNG: GIBT

ES EIN

G E S E L L S C H AF T S T H E O R E T I S C H E S

P R O G R AM M ?

Das Bild der Soziologie in der Soziologie ȱ

Die unter dem etwas kryptisch anmutenden Titel „Gesellschaftstheorie zwischen Autologie und Ontologie“ versammelten Studien dieses Buches widmen sich dem Gegenstandsverständnis und der gesellschaftlichen Selbstverortung der Soziologie und ihrer Gesellschaftstheorie. Sie thematisieren sowohl theoriegeschichtliche Aspekte der Begründung des Fachs wie die Frage nach seiner aktuellen Bedeutung, unternehmen den Versuch einer Systematisierung der konkurrierenden Paradigmen und befassen sich mit der gesellschaftlichen Bedeutung von Religion und Moral, um vor dem damit (re-)konstruierten Hintergrund einen Vorschlag zur theoretisch adäquaten Beschreibung der modernen Gesellschaft und ihrer charakteristischen Mechanismen zu unterbreiten. Die damit in Angriff genommene Aufgabe, eine Vielzahl zwar nicht separater, jedoch je für sich bereits äußerst komplexer Grundsatzfragen der Soziologie in ihrem übergreifenden Zusammenhang zu bearbeiten, stellt zugegebenermaßen ein äußerst gewagtes Unterfangen dar und bedarf daher in jedem Falle einiger vorbereitender Erläuterungen. Die Frage, was die Soziologie untersucht und wozu ihre Untersuchungen dienlich sein mögen, beschäftigt den Soziologen im Allgemeinen kaum und spielt thematisch allenfalls in Einführungsveranstaltungen für Erstsemester eine Rolle. Wenngleich wissenschaftliche Disziplinen der Öffentlichkeit diesbezüglich per se eine kurze Antwort schulden, so können sie es sich doch keinesfalls leisten, sich durch derartige philoso-

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GESELLSCHAFTSTHEORIE ZWISCHEN AUTOLOGIE UND ONTOLOGIE

phische Grundsatzfragen dauerhaft von ihrer Arbeit abhalten zu lassen.1 Als Teilaspekt einer Soziologie der Soziologie gehört das Problem gewiss zu den Inhalten des Fachs, da die Soziologie formal als Teil ihres eigenen Gegenstandes betrachtet werden kann. Aber wie wichtig ist dieser Teil? Die Soziologen unterstellen sich in der Regel ja wechselseitig, zu wissen was Soziologie ist. Eine explizite Thematisierung muss da beinahe schon als Nestbeschmutzung erscheinen. Hin und wieder gibt es natürlich Reflexionen über die Identität der Disziplin und Versuche einer aktuellen Standortbestimmung.2 Es ist dann die Rede von den Berufsaussichten, den Drittmittelquoten und geeigneten Strategien zur Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung des Fachs. Vorstöße, die Identität der Soziologie über den beschränkten Horizont eines Feuilletonartikels3 hinaus auch mit den theoretischen Mitteln der Soziologie zu erfassen, entstammen fast ausschließlich dem Umfeld der Systemtheorie, wo man permanent um eine Demonstration der universellen Anwendbarkeit und höheren Reflexivität des hauseigenen Begriffsinstrumentariums bemüht ist.4 Da es ab und an und vermehrt in jüngster Zeit zu (politischen) Reformen im Universitätsbereich kommt und sich im Wissenschaftsreich immer auch wissenschaftsintern induzierte Bewegungen vollziehen, wird der Anschein eines übergreifenden Zusammenhangs der soziologischen Vielfalt in Forschung und Lehre zumindest noch nach außen hin suggeriert. Demnach gäbe es angeblich ein genuin soziologisches Wissen und eine professionelle Zuständigkeit des Soziologen für diese oder jene drängende Frage der Zeit. Wo derartiges unterstellt wird, sind Nachfragen jedoch in der Regel nicht zugelassen. Zum wissenschaftlichen Habitus scheint es von jeher zu gehören, dass bestimmte Annahmen implizit bleiben. Der Mythos des Logos ist der heilige Gral des wissenschaftlichen Experten. In jede Mathematik1

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In einem einschlägigen Einführungsbuch heißt es in diesem Sinne gleich zu Beginn: „Die beständige Reflexion der Grundlagen der Soziologie hält vermutlich eher von den eigentlichen Aufgaben ab“. Hartmut Esser: Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt a.M. 1993, S. 18. Vgl. Bettina Franke/Kurt Hammerich (Hg.): Soziologie in deutschen Universitäten: Gestern – heute – morgen, Wiesbaden 2006; Barbara Orth (Hg.): Soziologische Forschung. Stand und Perspektiven, Opladen 2003; Jürgen Friedrichs/Rainer Lepsius/Karl Ulrich Mayer (Hg.): Die Diagnosefähigkeit der Soziologie. KZSS, Sonderheft 38, Opladen 1998; Helmut Schelsky: Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf 1959. Vgl. Joachim-Fritz Vannahme (Hg.): Wozu heute noch Soziologie? Ein Streit aus der „Zeit“, Opladen 1996. Vgl. Dirk Baecker: Wozu Soziologie?, Berlin 2004; André Kieserling: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung, Frankfurt a.M. 2003; Armin Nassehi: Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 2006.

GIBT ES EIN GESELLSCHAFTSTHEORETISCHES PROGRAMM?

vorlesung gehören bspw. einige Nebenbemerkungen zum wissenschaftlichen oder sogar gesellschaftlichen Kontext der jeweiligen mathematischen Theorien, ohne dass diese Aspekte als fremdreferenzieller Bestandteil mathematischer Kommunikation erkannt und erklärt werden. Die Forschung geht zügig darüber hinweg und widmet sich – sich selbst. Dahinter verbirgt sich nicht allein Bescheidenheit. Wissenschaft ist als soziale Institution auf gesellschaftliche Zuschreibungen angewiesen, die nicht ihrerseits wissenschaftlich gedeckt sind. Wissenschaftliche Programme haben infolgedessen nur in Grenzfällen den manifesten Charakter eines expliziten Projekts. Sie formieren sich negativ im Zuge einer latenten Logik der Bewährung heimlicher Selektionen. Dieser Befund gilt nicht zuletzt auch für die Soziologie und die historische Genese ihres gesellschaftstheoretischen Programms. Die „Programme“ gesellschaftlicher Funktionssysteme, so lehren uns die Beobachtungen der Systemtheorie, sind nicht auf Zielerreichung ausgerichtet und werden auch nicht eingelöst.5 Vielmehr kondensieren sie im Falle der Wissenschaft anhand von konstitutiven Bezugsproblemen, indem es in einem dynamischen Prozess wissenschaftlicher Kontroversen zur systematischen Reproduktion impliziter Hintergrundannahmen kommt. Diese nehmen für die Beteiligten eher die Form eines Dissenses als die eines Konsenses an, denn das kommunikative Geschehen kommt niemals zum Stillstand und erreicht daher allenfalls temporär einen stabilen Zwischenzustand allgemein anerkannter Prämissen. Ein wissenschaftlicher Disput ist aber immer noch ein Disput über dasselbe Thema. Dieses muss als ein objektiv gegebener wissenschaftlicher Gegenstand konstruiert werden, dessen Definition dann nicht seinerseits permanent hinterfragt werden darf. Erst durch die partielle Selbstentbindung – fast könnte man sagen: die Tabuisierung – von sachlichen Begründungsverpflichtungen ist es daher möglich, sich als Disziplin gesellschaftlich zu etablieren. Die Nicht-Identität der Soziologie wird damit zur Bedingung ihrer Möglichkeit. Wie ein Ameisenlöwe vergräbt sie sich in einem intellektuellen Trichter und verleugnet alle ausdrücklich vorgetragenen Ansprüche. Wenn aber wer ahnungslos daherkommt und auf dem gesellschaftlichen Informationsmarkt Steuerungswissen feilbietet oder geistige Aufklärung verspricht, zerrt sie das Opfer in ihre Falle und nährt sich von ihm, denn nun kann die eigene Relevanz reklamiert werden. Die akademischen Sozialwissenschaften brauchen sich dann bloß noch für externe Zuschreibungen bereitzuhalten, und schon sind sie allerorts präsent. Die5

Vgl. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 419-427, 446-463. 11

GESELLSCHAFTSTHEORIE ZWISCHEN AUTOLOGIE UND ONTOLOGIE

se evolutionär entwickelte Strategie bringt es mit sich, dass der Sozialwissenschaftler gehalten ist, im Hinblick auf Gegenstand und Wirkung der Sozialforschung über weite Strecken auf krude Alltagsevidenzen zu setzen. Hierdurch gerät man allerdings mit den kühnen Ansprüchen und großtheoretischen Prämissen der ambitioniertesten Vertreter des Fachs in Konflikt, welche gleichzeitig als in Stein gebannte Säulenheilige und provisorische Leuchttürme der Gesellschaftswissenschaft fungieren. Denn Konzepte wie „funktionale Differenzierung“, „kommunikative Rationalität“ oder „sozialer Sinn“ versperren sich den Intuitionen lebensweltlicher Erfahrungshorizonte in hartnäckiger und zum Teil sogar intendierter Weise. In ihrem totalisierenden Allerklärungsanspruch neigen jene Supertheorien dazu, auch die Wissenschaften, die Weltbilder und zuletzt sich selbst erklären zu wollen. Soziologische Theorien dieser Größenordnung werden durch den allgegenwärtigen Ideologieverdacht6 in besonderem Maße dafür sensibilisiert, sich als Teil ihres eigenen Gegenstands auszuweisen. Die Analyse der Theorie als Teil einer Analyse der Gesellschaft beschränkt sich dabei gerade nicht auf die Berechnung von spezifischen Arbeitsmarktchancen und Berufsbildern des Fachs, sondern betrifft vor allem die Erkundung der Wirksamkeit von soziologischen Ideen und des gesellschaftlichen Status von Selbstbeschreibungen im Allgemeinen. Obgleich die außeralltägliche Sonderfrage nach Aufgabe und Sinn einer Disziplin zwar auch hier nicht zum Tagesgeschäft gehört, liegt sie zumindest nicht ganz außerhalb des Blickfeldes. Und so wie Metamathematik selbst Mathematik bleibt, lässt sich auch eine Metasoziologie als Soziologie betreiben und in die logische Form einer soziologischen Theorie bringen. Die hier präsentierten Überlegungen sollen dazu einen Beitrag liefern, indem sie eine neuerliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Fachs wie mit den jüngeren, noch nicht in allen Konsequenzen erprobten Theoriekonzepten anregen und den systematischen Vergleich der soziologischen Paradigmen weiter vorantreiben. Die vorliegende Arbeit stellt es sich somit zur Aufgabe, die Frage nach dem Programm der Gesellschaftstheorie neu zu beleben und damit dem gängigen, ambitionslosen Pluralismus des Faches gehörig zu widerstreiten. Innerhalb wie außerhalb des Fachs wird heute allerdings kaum jemand ohne weiteres von der Fruchtbarkeit eines Unternehmens zu überzeugen sein, das auf die theoretische Beschäftigung der Soziologie mit sich selbst setzt, anstatt sich auf empirische Weise den praktischen Kernproblemen der Gegenwartsgesellschaft zuzuwenden. Ein solches Unterfangen hält sich daher gut daran, von Anfang an den Verdacht der 6 12

Vgl. Terry Eagleton: Ideologie. Eine Einführung, Stuttgart 2000.

GIBT ES EIN GESELLSCHAFTSTHEORETISCHES PROGRAMM?

steril selbstbezüglichen Hyperreflexion auszuräumen. Wohlan. Das Selbstverständnis eines Fachs ist konstitutiver Bestandteil seiner Forschungskultur. Diese erfordert geradezu eine Rückbesinnung auf die eigenen Wirkungspotentiale und Möglichkeiten einer methodologischen Gegenstandsbegründung. Von einer Analyse der gesellschaftlichen Selbstverortung und des Gegenstandsbezugs der allgemeinen Soziologie sind daher generelle Impulse für Theorie und Empirie zu erhoffen, wenn es in groben Zügen gelingt, die impliziten Programme und Denkvoraussetzungen der einzelnen Theorieansätze und konkurrierenden Forschungsschulen systematisch freizulegen. Darüber hinaus geht es nicht zuletzt auch um die Offenlegung von Rissen im soziologischen Gebälk, die allein schon durch das beharrliche Aufwerfen naiver Rückfragen zum Vorschein kommen. Die geforderten Reflexionsbemühungen sind also keineswegs als destruktive Schikane zu verstehen. Sie können stattdessen sogar als wirksame Werbemaßnahme gelten, denn Soziologie wird schließlich erst dort interessant, wo es ihr gelingt, den Nimbus des kryptischen Expertenwissens abzustreifen und durch ein wenig mehr Transparenz öffentliche Aufmerksamkeit zu binden. Dies lässt sich bereits an der zunächst etwas sophistisch anmutenden Frage nach der Einheit des Faches verdeutlichen, welche einer ersten Annäherung an den Verflechtungszusammenhang der behandelten Themenkomplexe dienen soll, um anschließend einen Ausblick auf jenes argumentative Gesamtgefüge zu gewähren, in dessen Zentrum die hier vertretene Kernthese von der programmatischen Bedeutung der heimlichen Leitgesichtspunkte „Autologie“ und „Ontologie“ zu entwickeln sein wird.

Die Frage nach der Einheit des Fachs Der bis auf Adam Smith zurückgehende und insbesondere von Emile Durkheim aus der politischen Ökonomie in die akademisch gerade im Entstehen begriffene Soziologie überführte Begriff der Arbeitsteilung7 ist in der soziologischen Selbstbeschreibung der Gesellschaft längst durch den Begriff der Differenzierung8 ersetzt worden.9 Auch in Bezug auf die insti7

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Vgl. Hans-Peter Müller/Michael Schmid: Arbeitsteilung, Solidarität und Moral. Eine werkgeschichtliche und systematische Einführung in die „Arbeitsteilung“ von Emile Durkheim, in: Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1992, S. 481-521 (Nachwort). Vgl. Uwe Schimank: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen 1996. 13

GESELLSCHAFTSTHEORIE ZWISCHEN AUTOLOGIE UND ONTOLOGIE

tutionalisierungskräftige soziologieinterne Unterscheidung zwischen Allgemeiner und Spezieller Soziologie10 gilt es besser von einer internen Differenzierung als von wirklicher Arbeitsteilung zu sprechen. Als primärer Fundus für die Befriedigung des Bedarfs an theoretischem Rückhalt dient der Soziologie noch immer die Beschäftigung mit ihren Gründervätern. Hinzu kommen solche durch ihren wunderlichen Eigenjargon hohen Distinktionsgewinn versprechende Leuchtgestirne wie Foucault, Bourdieu oder Luhmann. Das Geschäft des theoretischen Soziologen ist in jedem Falle häufig eines der Exegese, nicht jedoch der Genese von Theorien, wobei sich das beständige Interesse an der Geschichte der Soziologie nicht zuletzt aus einem Identitätsproblem des Faches ergibt, das seinerseits aus der Ermangelung einer allgemeinverbindlichen theoretischen Grundlage erwächst. Dieses Identitätsproblem der Soziologie mag innerhalb des alltäglichen Forschungsbetriebs keine größere Rolle spielen; die Frage nach einem Mythos11 der Soziologie gewinnt aber überall dort an Relevanz, wo es um die Repräsentation des Faches nach außen geht, sei es im Zuge der Akkumulation von Ressourcen, im Kontext interdisziplinärer Forschung oder auch im Rahmen der universitären Lehre. Allem voran kumuliert das bezeichnete Problem in der Frage nach der Einheit der Soziologie. Mit anderen Worten: Setzt sich das, was innerhalb der Universitäten und der akademischen Wissenschaftslandschaft als „Soziologie“ bezeichnet wird, lediglich aus partiellen Fragestellungen und Wissenssegmenten zusammen, oder gibt es ein die unterschiedlichen Bindestrichsoziologien einendes Band, welches sich in einem fachinternen Kanon an Ideen, Begriffen und Forschungszielen oder -fragen niederschlägt? Die Teilerfolge der einzelnen „speziellen Soziologien“, ihre wissenschaftliche Bedeutung und die gesellschaftliche Relevanz der verhandel-

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Der Begriff der Differenzierung hatte bereits bei Herbert Spencer die zentralere Position eingenommen, während der Begriff der Arbeitsteilung in Spencers Soziologie vornehmlich im wirtschaftssoziologischen Teil des Werkes Verwendung findet. Vgl. dazu auch Dietrich Rüschemeyer: Spencer und Durkheim über Arbeitsteilung und Differenzierung, in: Niklas Luhmann (Hg.): Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee, Opladen 1985, S. 163-180. 10 Vgl. Leopold von Wiese: System der allgemeinen Soziologie als Lehre von den sozialen Prozessen und Gebilden der Menschen (Beziehungslehre), München/Leipzig 1933. 11 Im positiven Sinne von Werner Helsper: Schulkultur und Schulmythos, Opladen 2001; Jeanette Böhme: Schulmythen und ihre imaginäre Verbürgung durch oppositionelle Schüler. Ein Beitrag zur Etablierung erziehungswissenschaftlicher Mythosforschung, Bad Heilbrunn 2000. 14

GIBT ES EIN GESELLSCHAFTSTHEORETISCHES PROGRAMM?

ten Probleme sind selbstverständlich kaum zu bestreiten. Gleichwohl spricht dies nicht per se für das Fach Soziologie als solches. Warum ginge es nicht an, die Soziologie als organisatorischen Zusammenhang aufzulösen und die einzelnen soziologischen Teilbereiche den jeweils benachbarten sozialwissenschaftlichen Fächern zuzuschlagen? Zweifellos würden an den heutigen Universitäten die Wirtschaftswissenschaft von einer wirtschaftssoziologischen, die Politikwissenschaft von einer politiksoziologischen oder die Agrarwissenschaft von einer agrarsoziologischen Verstärkung nur profitieren können. Die Medien- und Kommunikationswissenschaft firmiert ohnehin bereits als eine Art eigenständiger Ableger der Soziologie. Sozialstatistik und Meinungsforschung könnten zu großen Teilen ebenso gut von Mathematikern, Psychologen, Politologen, Ökonomen oder Informatikern betrieben werden. Sollten das entsprechende Know How und die soziologische Beobachtungsweise nicht direkt dort einfließen, wo sie benötigt werden: nämlich bei den fachspezifischen Experten? Die Soziologie würde sich in diesem – zugegebenermaßen rein hypothetischen – Fall als ein typisches Neben- und Ergänzungsfach ohne eigenes Berufsfeld präsentieren.12 Eine übergreifende Fachkultur, welche die jeweiligen Bindestrichsoziologien miteinander verschmilzt, wäre dann weitestgehend zu entbehren, wenngleich eine interdisziplinäre Zusammenarbeit natürlich weiterhin möglich bliebe. Was also – neben strategischen Gründen der Besitzstandswahrung – spricht gegen eine derartige Umgruppierung? Was macht die Soziologie zu einer in sich (wenn auch nicht hermetisch) geschlossenen Einheit? Vom logisch-analytischen Standpunkt aus gesehen wäre es die einfachste und damit naheliegendste Lösung, die Einheit des Faches entweder in dessen Gegenstand oder in einem übergreifenden praktischen Problembezug zu vermuten. Das „Leben“ im Falle der Biologie oder die „Materie“ im Falle der Physik sind (durchaus ambivalente) Beispiele für den historischen Konstitutionsprozess einer Disziplin anhand eines einheitlichen Gegenstandes, während die Medizin ihre Identität augenscheinlich aus dem Bezugsproblem der „leiblichen Heilung“ gewinnt. Dies führt für die einzelnen wissenschaftlichen Subdisziplinen zu wissenschaftstheoretisch und wissenschaftshistorisch gehaltvollen Folgefragen, auf die hier einzugehen nicht der Ort ist. Gleichwohl wird man davon ausgehen können, dass es der Soziologie schwer fallen dürfte, die 12 Vgl. für eine entsprechende Diskussion gegen Ende der Sechziger Jahre Theodor W. Adorno: Einleitung in die Soziologie, Frankfurt a.M. 2003, S. 9ff., für eine umfassende empirische Analyse Christoph Oehler/Christian Solle: Die Lehrgestalt der Soziologie in anderen Studiengängen, Kassel 1995. 15

GESELLSCHAFTSTHEORIE ZWISCHEN AUTOLOGIE UND ONTOLOGIE

Vielzahl ihrer faktischen Teilprobleme unter einen allgemeinen Fall13 zu subsumieren, und dass andererseits derzeit auch keine einheitliche, verbindliche Grundlagentheorie zur Verfügung steht, welche eine ausgewogene Integration ihrer multiplen Forschungstraditionen ermöglichen könnte. Solange sogar die Existenz der „Gesellschaft“ in einem ontologischen, über umgangssprachliche Redeweisen hinausgehenden Sinne von vielen Soziologen schlichtweg bezweifelt wird, kann dies weder handlungstheoretisch, noch systemtheoretisch, noch irgendwie sonst gelingen. Natürlich herrscht keineswegs eine völlige Beliebigkeit vor. Wie den Lehrbüchern und Studienordnungen zu entnehmen ist, gibt es auch in der Soziologie anerkannte Standards. Die Frage nach der Einheit des Faches erschöpft sich jedoch nicht in der bloßen Verständigung über themenbezogene Schlagworte und mit Namen assoziierte Schlüsselreize. Vielmehr gilt es zu prüfen, inwieweit es ein soziologisches „Programm“ im engeren Sinne einer geordneten Garbe von untereinander zusammenhängenden Leitfragen, Schlüsselbegriffen und Konzepten gibt, welche die Existenzberechtigung der Disziplin auch in sachlicher Hinsicht rechtfertigen würde. Inwieweit ergänzen sich die Befunde sämtlicher Forschungsfelder auf intelligente Weise zu einem fachspezifischem Wissensfundus? Die gängigen Phrasen des sozialwissenschaftlichen Jargons wie etwa die Rede vom „gesellschaftlichen Wandel“, von den „zwischenmenschlichen Beziehungen“ oder dem „sozialen Handeln“ wären in diesem Zusammenhang kritisch auf ihren substanziellen Gehalt abzuklopfen und hierbei zu klären, ob sich am Forschungsstand einzelner Subdisziplinen und Sektionen tatsächlich übergreifende „Formen der Vergesellschaftung“14 auffinden lassen. Der durch die Bezeichnung „soziale Welt“ selbst vorgegebene, gemeinsame Nenner einer Gesamtheit aller „gesellschaftlichen Probleme“ und „sozialen Fragen“ ist nicht mehr als eine tautologische Verlegenheitsformel. Der im Hinblick auf die Identität der Disziplin nachzuweisende innere Zusammenhang zwischen den einzelnen Phänomenen setzt augenscheinlich gewisse theoretische Übereinkünfte über die Totalität der Gesellschaft oder das Wesen sozialer Strukturen voraus. Die Vorstellung einer einheitlichen, kollektiv verbindlichen Theoriegrundlage käme in der derzeitigen Situation der Soziologie indes einer Utopie gleich, zumal diese wohl die Vielfältigkeit der soziologischen Forschung 13 Etwa: „Das menschliche Zusammenleben besser gestalten.“ im Sinne von Karl-Heinz Hillmann: Die Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens. Eine Herausforderung für die Soziologe, Opladen 2003. 14 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a.M. 1992. 16

GIBT ES EIN GESELLSCHAFTSTHEORETISCHES PROGRAMM?

willkürlich beschneiden würde und entsprechende Ambitionen daher mit Sicherheit auf breite Ablehnung stoßen, wenn sie explizit geäußert werden.15 Die Frage nach impliziten Berührungspunkten lässt sich im Gegenzug offenkundig nur unter Inkaufnahme beobachterabhängiger Idiosynkrasien beantworten. Die vermeintliche Konvergenz der unterschiedlichen handlungstheoretischen Paradigmen, die seinerzeit Parsons zu sehen meinte, beruht beispielsweise auf einer Entscheidung zugunsten der Kategorie „Handlung“, die theoretisch keineswegs unstrittig ist. Und wenn der „philosophische Diskurs der Moderne“ und die Rationalitätskonzepte der soziologischen Klassiker ihren Fluchtpunkt in einer „Theorie des kommunikativen Handelns“ zu finden scheinen, so verdeckt die Stringenz der theoriegeschichtlichen Rekonstruktion keineswegs den theoretischen Standpunkt ihres Autors.16 Hinzu kommen der latente Ethnozentrismus der westlichen Soziologie und semantische Beschränkungen, wie sie sich etwa im terminologischen Zuschnitt einer politikzentrierten Gesellschaftsauffassung anhand von Begriffen wie „kommunikative Macht“, „symbolische Gewalt“, „kulturelle Werte“ usw. niederschlagen. Dies alles erschwert eine objektive Gewichtung der vielfältigen Theorieangebote und führt somit zu einer im wörtlichen Sinne „Schule machenden“ Selektivität in der jeweiligen Wahrnehmung des relevanten Forschungsstandes. Die hier berührte Problematik kann jedoch auch als Frage nach einem ursprünglichen Programm der Soziologie an die Gründerväter des Faches zurückgereicht werden. Gab es nicht zumindest eine historische Ausgangsproblemlage der Soziologie, aus der dann im Zuge eines weitergehenden Differenzierungsprozesses die heutigen Forschungsthemen, mithin: der soziologische Diskurs der Gesellschaft mit all seinen Stammlinien und Verzweigungen erwuchsen? Wenngleich die vielfältigen Versuche zur Begründung einer „sozialen Physik“, „wissenschaftlichen Gesellschaftslehre“, „Socialwissenschaft“ oder ähnlich betitelten Disziplin bereits Ende des 19. Jahrhunderts untereinander komplexe Wechselwirkungen zeitigen, sie auf einem bis in die Antike zurückreichenden Geflecht an geistigen Wurzeln fußen und die erfolgreicheren

15 Vgl. Andreas Reckwitz: Warum die „Einheit“ der Soziologie unmöglich ist: Die Dynamik theoretischer Differenzproduktion und die Selbsttransformation der Moderne, in: Uwe Schimank/Rainer Gresshoff (Hg.): Was erklärt die Soziologie? Soziologische Erklärung, Modellbildung, Simulation Bd. 2, Berlin 2005, S. 65-77. 16 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981; ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985. 17

GESELLSCHAFTSTHEORIE ZWISCHEN AUTOLOGIE UND ONTOLOGIE

von ihnen untereinander bizarre Kreuzungen hervorbringen: Das Thema der Einheit erfordert in jedem Falle eine soziologiegeschichtliche Rückversicherung.17

Au t o l o g i e u n d O n t o l o g i e a l s G r u n d l i n i e n e i n e r gesellschaftstheoretischen Programmatik Die Titelphrase „Autologie und Ontologie“ könnte den Eindruck erwecken, dass es sich bei dem vorliegenden Text um ein rein begriffsakrobatisches Unterfangen im Hinblick auf eine systemtheoretische Spezialthematik handelt, das sich etwa mit dem Ziel der Abgrenzung einer autologisch fundierten von einer alteuropäisch-ontologischen Auffassung der Gesellschaft verbinden könnte.18 Der Re-Import systemtheoretisch auf-

17 In der Literatur kursieren unterschiedliche, sich teilweise überlappende Deutungen der Geschichte soziologischen Denkens und dessen prägender Strömungen. Im Unterschied zur heuristisch hilfreichen Gegenüberstellung einer am Problem der Ordnung orientierten und einer konfliktorientierten Denktradition (Vgl. Anthony Giddens: Die klassische Gesellschaftstheorie und der Ursprung der modernen Soziologie, in: Wolf Lepenies (Hg.): Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1981, S. 96-136) ergeben gründliche Darstellungen der Geschichte gesellschaftstheoretischer Ansätze eher ein komplexes Bild vernetzter Heterogenität – die Mannigfaltigkeit der Gesellschaftslehren weist nach Auffassung der einschlägigen Soziologiehistoriker weder einen gemeinsamen Kanon an theoretischen Leitfragen auf, noch lässt sie sich anhand zentraler wissenschaftlicher Konfliktlinien ordnen (so ausdrücklich Friedrich Jonas: Geschichte der Soziologie, Bd. 1 u. 2, Opladen 1981). Die Publikationen zur Geschichte der Soziologie sind deshalb in ihrem Darstellungsstil eher durch Dementi unterkomplexer Vorurteile als durch die Offerte durchgearbeiteter Systematiken geprägt. Vgl. mit einer entsprechenden Forderung Robert Merton: Zur Geschichte und Systematik der soziologischen Theorie, in: Wolf Lepenies (Hg.): Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1981, S. 15-74. 18 Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 879, 892, 895ff. (Ontologie), 1128ff. (Autologie). Der dem Kontext sprachlogischer Überlegungen entstammende Begriff „autologisch“ bezieht sich im Anschluss an den Mathematiker Kurt Grelling ursprünglich auf die Eigenschaft der Selbstbezüglichkeit von Worten wie „kurz“, „mehrsilbig“ oder „deutsch“, er lässt sich jedoch auch auf die Selbstanwendbarkeit von Theorien erweitern. Nach systemtheoretischer Lesart wird die „reflektierte Autologie“ in diesem Zusammenhang zu einem zentralen Kriterium für die Qualität gesellschaftstheoretischer Konzepte stilisiert, während eine „ontologische“ Gegenstandsauffassung zwar auf eine breite philosophische Tradition verweist, aber unter erkenntnistheoreti18

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geladener Begriffe verpflichtet jedoch nicht auf eine entsprechende Beschränkung der Perspektive. Stattdessen umfasst die zu verhandelnde Frage nach dem Verhältnis von Gesellschaftstheorie und Gesellschaft ein ganzes Bündel hinlänglich bekannter Probleme der Soziologie, welche mit Blick auf die fragwürdige Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse19 und die (Un-)Möglichkeit eines externen Standpunktes zur soziologischen Beobachtung gesellschaftlicher Sinnzusammenhänge diskutiert werden. Die erkenntnistheoretischen Teilaspekte des Themas werden in der soziologischen Diskussion gemeinhin anhand von Begriffen wie „Hermeneutik“, „Konstruktivismus“ oder „Sozialontologie“ reflektiert, die gesellschaftlichen Bedingungen und Auswirkungen der Gesellschaftstheorie dagegen unter Stichworten wie „Reflexion“, „Ideologie“ oder „Weltbild“ behandelt. Abgesehen von terminologischen Differenzen und paradigmatisch bedingten Nuancen zieht sich das Grundthema des Verhältnisses von „Theorie und Praxis“ quer durch alle einschlägigen Theorieschulen und wird dabei von den namhaften Autoren des Faches auf je eigene Weise behandelt.20 Die hier vorgetragenen Analysen lassen sich von der Idee leiten, dass der gesellschaftstheoretische Diskurs von zwei Momenten geprägt ist: der gesellschaftlichen Selbstverortung der Soziologie einerseits sowie der Frage nach der Verfassung ihres Gegenstandes Gesellschaft andererseits. Übersetzt in die titelgebende Terminologie führt dies zu der These, dass das wissenschaftliche Programm der Gesellschaftstheorie durch die beiden Themen der Autologie und der Ontologie bestimmt wird. Diese beiden Leitaspekte werden, wie zu zeigen sein wird, zuerst von Auguste Comte als explizites Programm einer philosophie positive eingeführt. Positivismus heißt im Sinne Comtes nichts anderes, als den wissenschaftlichen Gegenstand der Soziologie „positiv“ im Sinne einer objektiven Tatsache zu definieren und dabei gleichzeitig die gesellschaftliche Rolle des Soziologen selbst als die eines „positiven“ Gestalters zu begreifen. Die Wirkung der Soziologie auf das gesellschaftliche Ganze wird im positivistischen Konzept also bereits mitgedacht, sodass

schen Gesichtspunkten aufgrund ihres metaphysischen Charakters angeblich als überholt zu betrachten ist. 19 Vgl. Max Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 146-214. 20 Vgl. etwa Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt a.M. 1979. Jürgen Habermas: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt a.M. 1963. Hans Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Leipzig/Berlin 1930. 19

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„die“ Gesellschaftstheorie in diesem formalen Sinne21 bei Comte, der ja gemeinhin als bloßer „Namensgeber“ der Soziologie betitelt wird, ihren Ausgangspunkt hat. Mit einem gewissen Maß an pointierender Zuspitzung kann der Positivismus Comtes insofern als konstitutives Programm der Soziologie bezeichnet werden. Natürlich konnte das Programm des comteschen Positivismus über dessen sektenhafte Anhängerschaft hinaus niemals eine verbindliche Geltung für die mannigfaltigen Bereiche der soziologischen Theorieentwicklung erlangen. Im Gegenteil: Die späteren Soziologien gewinnen ihr Profil vor allem durch die Spezifik ihrer impliziten oder expliziten Abgrenzung vom Positivismus Comtes. Schon Herbert Spencer ist deutlich bemüht, den recht offensichtlichen Einfluss Comtes konsequent zu leugnen. Obgleich er mit so exzellenten Kennern des Positivismus wie George Henry Lewes, George Eliot oder John Stewart Mill eng befreundet war, versucht er in seiner Autobiographie akribisch nachzuweisen, dass er Comtes Schriften seinerzeit kaum gekannt hätte und die auffälligen Gemeinsamkeiten beider Werke sich bei genauerer Betrachtung als fundamentale Gegensätze heraustellten: „Außer der Aneignung seines Wortes Altruismus, was ich verteidigt habe, und der Aneignung seines Wortes Soziologie, da dafür kein passenderes Wort vorhanden war, (wegen dieser beiden Aneignungen wurde ich angegriffen) verdanke ich ihm nur das Eine: meinen Widerspruch geweckt zu haben.“22 Ähnliches gilt für Deutschland: Die Kontroversen über die Begründung der Geisteswissenschaften (Dilthey) bzw. der formalen Soziologie (Simmel, von Wiese), der Werturteilsstreit und die Positivismusdebatte sind Stichworte, welche die Geschichte der Soziologie als eine Geschichte der Distanzierung vom Positivismus umreißen. Die sinnlogische Einheit der Disziplin Soziologie konstituiert sich historisch anhand der Auseinandersetzungen um die doppelte Leitfrage,

21 Die konkreten Inhalte von Comtes Theorie lassen sich selbstverständlich auf Vorläufer wie Turgot, Condorcet oder Saint-Simon zurückführen; die Beschäftigung mit sozialphilosophischen Fragen im Allgemeinen, demographischen Entwicklungen, sozialen Problemen usw. geht bekanntlich bis in die Antike zurück. 22 Herbert Spencer. Autobiographie, Stuttgart 1905 Bd. 1, S. 218 f., 253, 289 (Zitat) Bd. 2, S. 66-68, 303, 310-318 (Brief an Lewes) 1905. Vgl. ferner Herbert Spencer: The Classification of the Sciences, to wich are added Reasons for Dissenting from the Philosophy of M. Comte, London 1873. David Hesse: George Eliot and Auguste Comte. The Influence of Comtean Philosophy on the novels of George Eliot, Frankfurt a.M. 1996. John Stuart Mill: August Comte und der Positivismus, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9, Aalen 1968. George Henry Lewes: Comte`s Philosophy of the Sciences, London 1853. 20

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wie man zum Gegenstand des Faches stehe, sowie welches die Rolle der Soziologie innerhalb der Gesellschaft sein solle bzw. sein könne. Die durch die Begriffe der Autologie und der Ontologie bezeichneten Themen und die sich daran entzündenden Kontroversen sind wegweisend für die Entstehung eines soziologischen Diskurszusammenhangs. Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Autologie und Ontologie wird deshalb im Folgenden als Programm der Gesellschaftstheorie beschrieben werden: Die theorietechnischen Selektionen der einzelnen „Ansätze“ haben im Problem der Entfaltung einer aus der Verbindung beider Aspekte erwachsenden Paradoxie ihre gemeinsame Wurzel. Die Unterscheidung Autologie/Ontologie fungiert mithin als implizite Leitunterscheidung des gesellschaftstheoretischen Diskurses. Ihre verblüffende Bestandsfähigkeit resultiert nicht zuletzt aus der Eigenschaft, für das Format einer expliziten Selbstbeschreibung gleichsam zu sperrig zu sein, sodass diesbezügliche Reflexionen kaum Aufmerksamkeit binden. Das öffentliche Aufbrechen von Grundlagenkrisen kann damit weitestgehend vermieden werden. Gleichzeitig gelingt es nur so, das gesellschaftstheoretische Programm auf Dauer zu stellen, würde doch das zugrunde liegende Problem an Relevanz verlieren, sobald das Fach einen endgültigen Konsens darüber erzielte und die damit verbundenen Fragen somit als „erledigt“ zu betrachten wären. Für die Teilhabe am kommunikativen Geschehen ist es im Übrigen weniger entscheidend, ob man eine ontologische Auffassung von Gesellschaft vertritt oder einer solchen entschieden widerspricht, ob man eine aktiv-kritische Selbstverortung der Soziologie in der Gesellschaft propagiert und entsprechende funktionale oder normative Begründungen bemüht oder die entsprechende Haltung gerade ablehnt und vehement attackiert. Ausschlaggebend ist allein die darüber vollzogene operative Reproduktion der latenten Leitunterscheidung. Wie aber kommt es dazu? Die Soziologie braucht, um wissenschaftliche Dispute führen zu können, einen äußeren, kommunikativ externalisierbaren Gegenstand, da es sonst keine Grundlage für die Fiktion intersubjektiver Debatten gibt. Dennoch wird, wer die Existenz eines solchen gesellschaftlichen Gegenstandes behauptet, sofort auf Widerspruch stoßen.23 Er würde, so der ihm stets entgegen zu bringende Vorwurf, Annahmen treffen, die bloße idealistische Konstruktionen darstellten und durch die empirische Welt 23 Vgl. Friedrich Tenbruck: Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 10, 1981, H. 4, S. 333-350; Urs Stäheli: Gesellschaftstheorie und die Unmöglichkeit ihres Gegenstands, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, H. 2, 1995, S. 361-390. 21

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nicht gedeckt seien. Gleichwohl gehört diese Diskussion selbstredend zum Fach, ja sie konstituiert dieses überhaupt erst als solches. Theorie und Empirie, Gesellschafts-Begriff und gesellschaftliches Sein, wissenschaftsinterne Abstraktion und wissenschaftsexterne soziale Komplexität müssen in der soziologischen Kommunikation zugleich als dasselbe und als nicht dasselbe behandelt werden.24 Daraus resultiert ein dauerhaftes Oszillieren: Es konstituiert sich ein Kommunikationssystem.25 Dies ist die ontologische Seite des Programms. Ebenso hat sich die Soziologie in Bezug auf ihr gesellschaftliches Selbstverständnis permanent zu legitimieren, indem sie auf die Wirkungsmacht soziologischen Wissens verweist und sich somit ihrer Bedeutung und der Notwendigkeit ihrer Existenz versichert. Wer dies aber als soziologisches Konzept formuliert, erntet umgehend Kritik, sei es in ideologischer, ethischer oder methodologischer Hinsicht. Die autologische Reflexion ist gleichermaßen inhaltlicher Bestandteil der Gesellschaftstheorie, wie sie aus methodischen Gründen externalisiert werden muss, um jene neutrale Haltung gegenüber den gesellschaftlichen Tatsachen zu bewahren, welche die Voraussetzung einer wissenschaftlich objektivierenden Einstellung bildet. Gerade weil es immer für die Provokation von Kontroversen taugt, taucht das Reizthema des gesellschaftlichen Anspruchs der Soziologie regelmäßig dort auf, wo es um den Versuch einer Vergewisserung ihrer Identität geht. Um die damit vorweggenommenen Thesen auch empirisch einzuholen und argumentativ zu erhärten, gilt es zunächst Comtes positivistisches Programm strukturell zu rekonstruieren und dabei im Hinblick auf seine autologischen und ontologischen Dimensionen zu untersuchen (Kapitel II). Aus der kritischen Gegenüberstellung von Comtes Begründungsversuch der Soziologie einerseits und aktuellen Identitätsproblemen des Faches andererseits lassen sich bereits erste Ansatzpunkte für die Diskussion über ein zeitgemäßes und angemessenes Verständnis des Gegenstandes und der gesellschaftlichen Relevanz der Soziologie gewinnen. 24 Von der daraus resultierenden Irritation zeugen nicht zuletzt die Übersetzungsschwierigkeiten, die René König mit Durkheims Begriff „fait social“ hat. Vgl. René König: Einleitung, in: Emile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt a.M. 1976, S. 38. Unter Bezug auf Parsons entscheidet König sich unter Abweichung von der wörtlichen Bedeutung bekanntlich für die bis heute übliche Formel des „soziologischen Tatbestandes“. 25 Eine ähnliche Figur identifiziert Stichweh im Kontext der Entstehung der Physik als wissenschaftlicher Disziplin. Vgl. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt a.M. 1984, S. 305f. 22

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Anschließend wird den ontologischen und autologischen Momenten soziologischer Theorien im Einzelnen nachzugehen sein. In einem ersten Schritt sollen deshalb die von klassischen und neueren Autoren implizit zugrundegelegten Wirkungskonzepte der Soziologie einer genaueren Untersuchung unterzogen werden (Kapitel III). Die systematische Rekonstruktion des gesellschaftlichen Selbstverständnisses einiger exemplarischer Vertreter des Fachs, welches natürlich in zirkulärer Weise mit deren spezifischer Gesellschaftsauffassung verschränkt bleibt, wird dabei als Ausgangspunkt für eine idealtypische Kontrastierung der beiden autologischen Optionen „Sozialtechnologie“ und „soziologische Aufklärung“ dienen. In einem zweiten Schritt wird die Betrachtung dann durch das ontologische Moment soziologischer Gegenstandskonstruktionen ergänzt (Kapitel IV). Die Frage nach der substanziellen Verfassung einer mutmaßlichen gesellschaftlichen Entität konzentriert sich zunächst auf das Verhältnis von materiellen und ideellen Momenten sozialer Strukturen. Die Diskussion um die Einheit des Gegenstands führt – wie sich zeigen wird – auf die klassische paradigmatische Unterscheidung von „Organismus“ (Holismus) und „Mechanismus“ (Reduktionismus), die sich im Kontext der Gesellschaftstheorie in Gestalt eines vordergründig unversöhnlichen Gegensatzes von Funktionalismus und methodologischem Individualismus niederschlägt. Auf der Basis der bis zu diesem Punkt noch recht formalistisch gehaltenen Analysen, die nun in Richtung eines substanziellen Beitrags zur Gesellschaftstheorie fruchtbar gemacht werden müssen, gilt es anschließend eine aktuelle Einschätzung der verbliebenen Optionen zu Gegenstandsauffassung und gesellschaftlichem Selbstverständnis der Soziologie zu treffen. Das hartnäckige Problem moralischer Ansprüche der Soziologie und der ungeklärte Status des Verhältnisses von Mensch und Gesellschaft machen in diesem Zusammenhang einen ausführlicheren Exkurs zum Thema Religion und Moral erforderlich, da das Problem der vermeintlichen Einheit von Individuum und Gesellschaft in direkter Weise mit dem gesellschaftlichen Funktionszusammenhang von Religion und Moral verschränkt ist (Kapitel V). Während in religiösen und moralischen Sinnkontexten grundsätzlich eine lebenspraktische Einheit von Individuum und Gesellschaft unterstellt wird, da die entsprechende Idealisierung die Grundlage religiöser Transzendierungsprozesse und den Ansatzpunkt für die moralische Thematisierung diesbezüglicher Divergenzen darstellt, gebietet die Gesellschaftstheorie, beide Seiten systematisch auseinanderzuziehen. Erst im Anschluss an die somit gewonnenen Präzisierungen lässt sich ein Vorschlag zur theoretischen Modellierung des gesellschaftli23

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chen „Gegenstandes“ entwickeln, der die beiden ontologisch relevanten Unterscheidungen von Geist und Materie bzw. Organismus und Mechanismus konzeptionell zu integrieren gestattet. Orthogonal zum Muster der funktionalen Differenzierung sollen dabei zwei reflexive Mechanismen identifiziert werden, von denen der eine die materiellen, der andere die geistigen attributa (Spinoza) der Gesellschaft betrifft (Kapitel VI). Während der Mechanismus der Organisation über die operative Verknüpfung von Entscheidungen die institutionelle Koordination menschlichen Verhaltens ermöglicht, reguliert der Mechanismus der Öffentlichkeit über die generalisierte Beobachtung von Beobachtungen den kulturellen Abgleich individueller Deutungen.26 Die Unterscheidung zwischen kulturellen und institutionellen Mechanismen schlägt sich in autologischer Hinsicht darin nieder, dass die gesellschaftliche Wirkungsweise der Soziologie idealtypisch entweder (materialistisch) als organisatorisch zu implementierende Sozialtechnologie zu konzipieren ist oder (idealistisch) im Sinne einer die öffentliche Wahrnehmung beeinflussenden Aufklärung verstanden werden muss. Im einen Falle wirkt die Soziologie eher als professioneller Berater, im anderen prägt sie durch ihre Begrifflichkeiten in entscheidender Weise das kulturelle Selbstverständnis der Gesellschaft mit. Vor diesem Hintergrund lässt sich schließlich ein Resümee bezüglich der Frage nach der gesellschaftlichen Verbindlichkeit der Soziologie formulieren (Kapitel VII).

26 Die klassischen Diagnosen der Gesellschaftstheorie arbeiten je nach Akzentuierung mit unterschiedlichen Begriffen wie Bürokratie und Kultur, System und Lebenswelt, Arbeitsteilung und Moral, die sich trotz ähnlicher Einsichten natürlich nicht ohne weiteres problem- und verlustfrei auf die Begriffe Organisation und Öffentlichkeit projizieren lassen. Die dezidierte Hervorhebung der Prinzipien Organisation und Öffentlichkeit dürfte im Angesicht dieser Traditionen gleichwohl einiges an Originalität einbüßen, und selbst die Terminologie wird letztlich kaum überraschen. 24

II R Ü C K B L E N D E : C O M T E S K O N S T I T U T I V E S P R O G R AM M D E R S O Z I O L O G I E

Au t o l o g i e u n d O n t o l o g i e d e r G e s e l l s c h a f t sw i s s e n s c h a f t b e i C o m t e Im Gegensatz zu Max Weber, Karl Marx oder Georg Simmel, die neben Emile Durkheim gerne als Klassiker der theoretischen Soziologie bemüht und rege zitiert werden, wird Auguste Comte (1798-1857) im allgemeinen nicht ernsthaft rezipiert. Man kennt ihn als Namensgeber des Fachs und erinnert sich vielleicht noch seines „Drei-Stadien-Gesetzes“ als einer aus heutiger Sicht abstrusen Konstruktion. In Deutschland hatte er ohnehin nie namhaften Einfluss erlangt und seine vereinzelten Anhänger konnten innerhalb der akademischen Soziologie nur wenig Anerkennung gewinnen.1 Comtes Schriften sind – in deutscher Übersetzung 1

Ein von Yvonne Bernart durchgeführte soziologiegeschichtliche Rekonstruktion der Auswirkung des Positivismus auf die Genese der Soziologie in Deutschland offenbart eine frühe Rezeptionswelle bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts (u. a. F. Brentano), welche allerdings für die Soziologie selbst keine nachhaltige Wirkung zeitigt. Auch die im Banne der Ideen Comtes und Spencers stehende „Socialwissenschaft“, die sich seit den 1870er Jahren in Deutschland entwickelt hatte und sich mit Namen wie P. von Lilienfeld, A. Schäffle und L. Gumplowicz verbindet, kann sich mit ihrem organizistischen Gesellschaftsverständnis nicht durchsetzen. Schließlich bildete sich aus dem seit Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden „Leipziger Positivistenkränzchen“ um K. Lamprecht und W. Wundt die sogenannte „Leipziger Schule“ heraus, die sich im Werturteilsstreit und im lamprechtschen Methodenstreit Gefechte mit den vorherrschenden Historikern und neukantianisch geprägten Sozialwissenschaftlern lieferte. 25

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lediglich fragmentarisch vorhanden – größtenteils nur antiquarisch erhältlich und können wohl kaum als soziologische Pflichtlektüre gelten. Sein schrulliger Hang zur systematischen Einheit2 und sein ebenso uncharmanter wie umständlicher Schreibstil3, vor allem aber sein Größenwahn4 mögen dafür verantwortlich sein, dass über ihn – wenn überhaupt – zumeist in einem überaus gereizten und distanzierten Tonfall geschrieben worden ist, sodass man Auguste Comte gut und gerne als ältesten Sündenbock des Fachs bezeichnen kann. Die Beschäftigung mit Comte beschränkt sich heute in der Regel auf wissenschaftsgeschichtliche bzw. wissenssoziologische Aspekte5; ansonsten scheint sein Ideengut in der Soziologie nicht anschlussfähig zu sein. Dennoch soll im Folgenden ausgerechnet auf das comtesche Programm zurückgegriffen werden, um auf aktuelle Fragen der Identität einer Disziplin Bezug zu nehmen, die sich mit eben diesem Programm niemals hat identifizieren können. Diese eher ungewöhnliche Vorgehensweise ergibt sich, wie sich bereits oben (Kapitel I) angedeutet hatte, aus der hier zugrundegelegten problemgenetischen Perspektive: Comte muss im Sinne dieser Arbeit als der erste und expliziteste Vertreter des gesellschaftstheoretischen Programms gelten.6

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Vgl. Yvonne Bernart: Der Beitrag des erfahrungswissenschaftlichen Positivismus in der Tradition Auguste Comtes zur Genese der Soziologie. Rekonstruktion exemplarischer Entwicklungslinien, Göttingen 2003. Zu ergänzen ist die Einflusslinie des comteschen Positivismus über den von Ernst Haeckel gegründeteten Deutschen Monistenbund. Während bereits Haeckel in wissenschaftstheoretischer wie ethischer Hinsicht einen in der Tradition Comtes und Spencers stehenden „positivistisch-synthetischen“ Ansatz verfolgt, zählen auch die späteren Vorsitzenden des Bundes, der Chemiker W. Ostwald (zugleich Mitglied des Leipziger Professorenkränzchens) und der Münchner Arzt und Soziologe F. Müller-Lyer zu den Anhängern Comtes und bemühen sich explizit um die Popularisierung positivistisch-soziologischen Gedankenguts. Vgl. Wilhelm Ostwald: Auguste Comte. Der Mann und sein Werk, Leipzig 1914. Franzcarl Müller-Lyer: Der Sinn des Lebens und die Wissenschaft, München 1910. Vgl. John Stuart Mill: August Comte und der Positivismus, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9, Aalen 1968, S. 99. Vgl. Wolf Lepenies: Die drei Kulturen, Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2002, S. 15ff. Vgl. Werner Fuchs-Heinritz: Auguste Comte. Einführung in Leben und Werk, Opladen 1998, S. 322ff. Vgl. Bernhard Plé: Die „Welt“ aus den Wissenschaften. Der Positivismus in Frankreich, England und Italien von 1848 bis ins zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1996. Michael Bock geht sogar soweit, die Bedeutung des szientistischen Modells von Saint-Simon und Comte in Zusammenhang mit der Entstehung eines soziologischen Weltbildes zu bringen. Vgl. Michael Bock: Soziologie als Grundlage des Wirklichkeitsverständnisses. Zur Entstehung des

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Aus dem lebensgeschichtlichen Hintergrund, der verantwortlich für Comtes Motivation zur Begründung der Soziologie ist, lässt sich bereits auch das charakteristische Profil seines Werkes ableiten.7 Die tiefgreifenden gesellschaftlichen Krisenerscheinungen im Kontext der Französischen Revolution bringen für Comte die beeindruckende Erfahrung fundamentaler gesellschaftlicher Veränderungen mit sich. Die Entstehung revolutionärer Ansprüche an die gesellschaftliche Ordnung – wie jene auf Volkssouveränität und Menschenrechte – gehen dabei faktisch mit zutiefst chaotischen Umbruchseffekten einher. Politische Zerwürfnisse innerhalb der republikanischen Führung führen zu einer sich immer weiter hochschaukelnden Gewaltspirale des Terrors und des Gegenterrors sowie zum anschließenden Konflikt zwischen Revolution und Restauration. Zugleich war bereits deutlich die Irreversibilität dieser Entwicklungen zu erahnen.8 Tragbare politische Positionen konnten mithin nur noch in Verbindung mit klaren Visionen einer möglichen zukünftigen Gesellschaftsordnung bezogen werden. Hinzu kommt eine zweite Komponente, die in der mathematischnaturwissenschaftlichen Sozialisation Comtes im Bannkreis der Pariser école polytechnique besteht. Die Naturwissenschaft stand seit dem 17. Jahrhundert als Garant der Rationalität und der gesetzesmäßigen Ordnung im Gegensatz zu den Wirrungen und dem Gemetzel der verschiedenen Kriege. Galilei, Newton und Descartes waren die Wegbereiter eines Glaubens an die Rationalität der Natur und des menschlichen Denkens. Was lag für einen mit dem antireaktionären Geist der école polytechnique infizierten jungen französischen Mathematiker wie Comte also näher, als eine den naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten analoge Ordnung auch im Bereich der sozialen Phänomene herbeizusehnen? Wenn die wissenschaftliche Methode der einzig verfügbare Garant von Gewissheit und Sicherheit war, konnte auf dieser Basis nicht auch für die gesellschaftlichen Verhältnisse Ordnung und Fortschritt zu erlangen sein? Wenn man abklären könnte, was von den gesellschaftlichen Verhältnissen zu erwarten sei, wären diese dann auf einer solchen Grundlage nicht auch vernünftiger zu gestalten? Das Motiv zur Begründung der Soziologie erwächst also bei Comte aus der Verbindung einer gesellschaftlichen Krisenerfahrung mit dem Eindruck der kognitiven Überlegenheit naturwissenschaftlicher Erkenntnis-

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modernen Weltbildes, Stuttgart 1980. Vgl. auch Friedrich Tenbruck: Die Sozialwissenschaften als Mythos der Moderne, Köln 1985. Vgl. Roger Repplinger: Auguste Comte und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der Krise, Frankfurt a.M./New York 1999. Vgl. Gerhard Wagner: Auguste Comte zur Einführung, Hamburg 2001, S. 9-21. 27

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methoden. Die wissenschaftlichen Intentionen, welche sich auf die objektive, rationale Erkenntnis der gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten richten, wurzeln in dem Wunsch nach einer vernünftigen sozialen Praxis. Das Streben nach soziologischem Wissen ist bei Comte strikt an die Idee der Anwendbarkeit dieses Wissens zugunsten gesellschaftlicher Gestaltungsansprüche geknüpft. Wie setzt Comte nun diese Motivation in ein soziologisches Werk um? Ein früher, die wesentlichen Elemente und Thesen bereits enthaltender Entwurf der comteschen Theorie findet sich in der Schrift „Plan des travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société“ von 1822.9 Ausgehend von einer Analyse der Konfliktdynamik, welche die gesellschaftliche Krisensituation der französischen Gesellschaft zu Anfang des 19. Jahrhunderts aus dem Wechselspiel der revolutionären und der restaurativen Kräfte zu erklären sucht, konstatiert Comte ein Defizit an positiven gesellschaftlichen Leitideen, welches der Ausbildung eines stabilen sozialen Systems im Wege stünde. Es herrsche geistige Anarchie. Comte fordert daher die Bildung eines „Systems systematischer Gedanken“10, „welches zur Führung der Gesellschaft bestimmt ist“11. Er unterscheidet im Weiteren zwischen einer „geistigen Gewalt“ und einer „weltlichen Verwaltung“12, die gleichermaßen für die Aufrechterhaltung einer gesellschaftlichen Ordnung erforderlich seien.13 Bisher habe man sich lediglich „mit dem verwaltungstechnischen Teil der Reorganisation beschäftigt [...] ohne den theoretischen durchzuarbeiten“14, der jenem doch vorangehen müsse. Als verantwortliche geistige Macht identifiziert Comte die „Gelehrten“, welche über den geeigneten „geistigen Einfluss“, die nötige „mo9

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Im Folgenden zitiert nach der deutschen Ausgabe: Auguste Comte: Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind, München 1973 (zit. als Plan). Ebd., S. 42 Ebd., S. 55 Ebd., S. 57 Das „Dogma von der Freiheit des Gewissens“ und das „Dogma von der Souveränität des Volkes“, die im Zuge der Überwindung veralteter theologischer Glaubens- und feudaler Herrschaftssysteme ihre historische Berechtigung hatten, verhinderten bisher die soziale Reorganisation: „Wie das eine [...] nichts anderes darstellt als die individuelle Infallibilität an Stelle der päpstlichen Infallibilität, so ersetzt das andere die Willkür der Könige durch die Willkür der Völker oder vielmehr die der Einzelnen. Es bewirkt die vollständige Zerstörung des politischen Körpers und führt dazu, daß die Macht im Staat seinen wenigst kultivierten Klassen übergeben wird. Ebenso strebt das erste Prinzip die völlige Isolierung der Geister an, indem es die wenigst gebildeten Menschen mit dem Recht einer absoluten Kontrolle über das System der Gedanken ausstattet, welche von den höheren Geistern entwickelt worden sind, um der Gesellschaft als Führung zu dienen.“ (ebd., S. 44) Ebd., S. 56

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ralische Gewalt“15 und den erforderlichen „paneuropäischen Charakter“16 verfügten. An diese wendet er sich nun, um sie von der Notwendigkeit einer positiven Gesellschaftswissenschaft auf der Basis wissenschaftlicher Beobachtungen zu überzeugen. Comte begründet sodann die Trennung der Sozialwissenschaft von der „physiologischen“ Untersuchung des Menschen und betont die Abhängigkeit sozialer Ordnungen vom kulturellen Stand historischer Entwicklungen, den es systematisch zu analysieren gelte. Dabei sei im Unterschied zu den anorganischen Wissenschaften bei der Erforschung der Gesellschaft vom Ganzen aus vorzugehen17, da man sonst über die Anhäufung unendlicher Details nicht hinauskäme. „Jede ausgedehnte Anwendung der Mathematik auf die Sozialwissenschaft“ hält der Mathematiker (!) Comte aus diesem Grunde für unfruchtbar.18 Mit der Ausarbeitung der geforderten sozialwissenschaftlichen Theorie und der anschließenden „Reorganisation der Gesellschaft“ wird Comte Zeit seines Lebens beschäftigt sein. Sieht man sich nun Comtes umfangreiches Hauptwerk, den „Cours de philosophie positive“19 (1830-1842), an, so fällt auf, dass ein Großteil dieses Werkes sich gar nicht mit der Gesellschaft befasst, sondern es sich vielmehr um ein übergreifendes wissenschaftliches System handelt, in dem Comte die Soziologie „enzyklopädisch“20 zu verankern sucht. Diese universalistische Orientierung führt dazu, dass Comte „von den einfachen zu den verwickelteren“ Phänomenbereichen die einzelnen Wissenschaften nacheinander durchwandert. Vorangestellt werden umfassende Ausführungen von Mathematik über Astronomie, Physik, Chemie und Biologie, bevor Comte in den letzten dreien der sechs Bände des Cours schließlich die Soziologie behandelt, die als systematisch und historisch letzte Wissenschaft gewissermaßen die Krönung des wissenschaftlichen Systems darstellt. Während die Physik sich bspw. mit den Naturgesetzen der Mate15 Ebd., S. 69 16 Ebd., S. 73. Nach Comte handelt es sich um eine „europäische Krisis“, die „eine europäische Behandlung“ erfordere (ebd., S. 69). Später wird Comte mit seinem Konzept des „positiven westlichen Komitees“ die Idee einer europäischen Union auch in verwaltungstechnischer Hinsicht vorwegnehmen. Vgl. dazu Auguste Comte: Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, Stuttgart 1974, S. 447. 17 A. Comte, Plan, S. 150 18 Ebd., S. 134 19 Im Folgenden zitiert nach den (unvollständigen) deutschen Ausgaben: August Comte: Soziologie, Bd. 1-3, Jena 1907 (zit. als Soziologie) bzw. Auguste Comte: Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, Stuttgart 1974. 20 Zur Tradition enzyklopädischer Wissenschaftsklassifikationen vgl. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt a.M. 1984, S. 7-14. 29

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rie beschäftigt, bekommt die Biologie es mit den Gesetzmäßigkeiten des organischen Lebens zu tun, wohingegen die Soziologie die Tatbestände der sozialen Praxis betrachtet.21 Das Bemerkenswerte und Entscheidende an dieser enzyklopädischen Vorgehensweise ist, dass Comte nicht zuerst den Gegenstand der Gesellschaft analysiert, um dann im nachhinein danach zu fragen, in welchem Verhältnis die Sozialwissenschaft zu den bereits vorhandenen anderen Wissenschaften steht. (Zur Zeit Simmels und Webers wird man hier vor allem konkurrierende sozialwissenschaftliche Disziplinen wie politische Ökonomie, Staatswissenschaft, Geschichte und die „Geisteswissenschaften“ im Blick haben.) Stattdessen entspricht es Comtes wissenschaftlichem Verständnis, von einem allgemeinen System der Wissenschaften her zu denken. Er führt somit die Soziologie zunächst abstrakt als die Wissenschaft von den sozialen Phänomenen ein und leitet erst anschließend ab, welches ihre speziellen Methoden, Inhalte und Phänomene zu sein hätten. Ausgangspunkt ist der Gedanke einer Einheit der Wissenschaft, aus dem heraus Comte freilich die eigenständigen Prinzipien der jeweiligen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen kontrastiv zu entwickeln bestrebt ist. Die Systematik seines Systems ergibt sich bei Comte aus der Vorstellung einer internen Differenzierung der Wissenschaft anhand eigenständiger Gegenstandsbereiche. Diese sind jedoch nicht etwa nach dem Muster von Segmenten gedacht (so als ob man die Politikwissenschaft intern nach Staaten oder die Soziologie nach gesellschaftlichen Funktionsbereichen differen21 Einer ähnlichen Logik wird im Übrigen auch Herbert Spencers „Synthetic Philosophy“ (London 1862-1896) folgen. Spencer beginnt mit einem Band „First Principles“, der im Wesentlichen Überlegungen über das Wissbare und das Unwissbare und den Zusammenhang bzw. den Unterschied von Wissenschaft und Religion enthält. Zugleich wird hier das übergreifende „Evolutionsgesetz“ in seinen allgemeinen Grundzügen entwickelt. Die beiden folgenden Bände zur anorganischen Wissenschaft, also zur Physik und zur Chemie, spart Spencer aus lebenszeitökonomischen Gründen ein und geht sogleich zu zwei Bänden „The Principles of Biology“ über, dem zwei Bände „The Principles of Psychology“ folgen, bevor Spencer in drei Bänden mit dem Titel „Principles of Sociology“ die Soziologie (neuerlich) zu begründen versucht. Schließlich folgen zwei Bände „The Principles of Ethics“. Vergleicht man diese beiden Monumentalwerke, so fällt zum einen Comtes Ausblendung der Psychologie aus, die zu einem gewissen Teil auf eine biographisch bedingte Abneigung zurückgeht, denn Comte musste bei der zwischenzeitlichen Zwangseinweisung in eine psychiatrische Heilanstalt unangenehme Erfahrungen mit den damaligen Therapiemethoden machen. Zum anderen ist bei Spencer die übergeordnete Rolle der Ethik bemerkenswert, auf die im Zusammenhang mit dem Thema der Moral (Kapitel V) genauer einzugehen sein wird. Das wissenschaftliche System Spencers beginnt demnach mit der Religion und endet mit der Ethik – es wird gewissermaßen von einem spirituell-moralischen Bezugsrahmen umklammert. 30

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zieren würde), sondern folgen einer hierarchischen Ordnung vom Einfachen zum Komplexen, sodass jede Wissenschaft eine ganz neue Art von Phänomenen zum Gegenstand hat. Ein solcher Ansatz zwingt nun regelrecht dazu, den inhaltlichen Fokus der Soziologie als Gegenstand – also quasi ontologisch – zu begreifen. Wird auch erst bei Durkheim explizit von den berühmten sozialen Tatsachen („fait social“) die Rede sein, so ist eine entsprechende Auffassung bei Comte bereits mehr als nur angelegt. Wenn es die Gesellschaft und die sozialen Phänomene nicht im Sinne positiver Tatsachen gäbe, dann könnte man sie schließlich nicht wissenschaftlich untersuchen! Gleichzeitig wird bei Comte nachdrücklich der (aristotelische) Gedanke hervorgehoben, dass es sich bei der Gesellschaft um ein Ganzes handele und die Gesellschaftsanalyse in Analogie zur Biologie notwendig von diesem Ganzen auszugehen habe.22 Die Gesellschaft wird dezidiert zu einer Realität sui generis erklärt und ist damit insbesondere mehr als eine lediglich begriffliche Abstraktion, die eine Pluralität sozialer Phänomene nurmehr künstlich zusammenfassen würde.23 Neben dem großen wissenschaftlichen System des „Cours de philosophie positive“ wird die Theorie Comtes durch ein Spätwerk ergänzt, das der Umsetzung der positivistischen Lehre in gesellschaftliche Praxis Vorschub leisten soll. Zu erwähnen sind namentlich das vierbändige Werk „Système de politique positive, ou traité de sociologie, instituant la religion de l’humanité“ (1851-1854) sowie der „Catéchisme positiviste ou sommaire exposition de la religion universelle“24 von 1851. In einer eklektizistisch-synthetisch entworfenen „Religion der Humanität“ verbindet sich Comtes Lehre mit rituellen Versatzstücken der großen Weltreligionen und praktischen Lebensvorschriften.25 So treten sich im positivistischen Katechismus in dreizehn Unterredungen der „Hohepriester der Menschheit“ und die „positivistische Jungfrau“ gegenüber, in denen Comte seine Geliebte Clotilde de Vaux und sich selbst literarisch verewigt (was den scheinbar obskuren Charakter dieser Spätschriften unterstreicht).

22 Durkheim wird diese These später auf den Begriff der gesellschaftlichen „Totalität“ bringen, der auch im Jargon der Kritischen Theorie eine prominente Rolle spielt. Der luhmannsche Begriff der „Weltgesellschaft“ verweist im Übrigen in eine ähnliche Richtung, wenngleich das Konzept des Ganzen und seiner Teile explizit verabschiedet wird. 23 Zum Unterschied zwischen einer realistischen und einer nominalistischen Auffassung von Gesellschaft vgl. bereits Gabriel de Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt a.M. 2003, S. 31 (zuerst 1890). 24 Deutsche Ausgabe: Auguste Comte: Katechismus der positiven Religion, Leipzig 1891. 25 Vgl. W. Fuchs-Heinritz, Auguste Comte, S. 235-277. 31

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Die vermeintlich überraschende Wendung des späten Comte hin zur Religion, die vor allem von John Stuart Mill, der dabei auf die Rettung des seriöseren Teils des comteschen Werkes bedacht war, einer einsetzenden geistigen Verwirrung Comtes zuzuschreiben versucht wurde26, liegt gleichwohl ganz in der Konsequenz des oben erwähnten „Plans der wissenschaftlichen Arbeiten“, der wissenschaftlich begründeten Gesellschaftslehre in Form einer geistigen Macht zur Wirkung zu verhelfen. Im historischen Kontext betrachtet kommt die Religionsstiftung keineswegs unerwartet.27 Bereits Comtes Mentor Saint-Simon28 hatte in seinen letzten Lebensjahren den Weg zur Begründung eines „neuen Christentums“ eingeschlagen. Auch der zwischen 1793 und 1806 die christliche Zeitrechnung ersetzende Revolutionskalender oder die im Anschluss an die Französische Revolution erfolgende Umwidmung von Kirchen in Tempel der Vernunft sind Anzeichen eines allgemeinen Gespürs für die kulturelle und gesellschaftliche Wirkungskraft der Religion.29 So darf es auch nicht über26 Vgl. J. S. Mill, August Comte und der Positivismus, S. 3. 27 Vgl. G. Wagner, Auguste Comte zur Einführung, S. 9-21. 28 Der biographische Zusammenhang zwischen Comte und Henri de SaintSimon (1760-1825) und die Ähnlichkeit der von ihnen vertretenen Ideen sind dahingehend missinterpretiert worden, dass Saint-Simon als eigentlicher Urheber des Positivismus bezeichnet wurde. Saint-Simon bleibt jedoch ein „ideenreicher Dilettant“ (W. Fuchs-Heinritz, Auguste Comte, S. 32); seine Schriften ergeben ein fragmentförmiges Sammelsurium von zum Teil widersprüchlichen, spontan hingesprochenen Vagheiten. Die von ihm geforderte „Wissenschaft vom Menschen“ unterscheidet nicht hinreichend zwischen physiologischen, psychischen und sozialen Tatsachen. Comte dagegen arbeitet seine Thesen in streng-argumentativer Form aus; seine Schriften ergeben – im Unterschied zu denen Saint-Simons – ein wissenschaftliches Werk. (Gleichwohl gibt es freilich eine ideengeschichtliche Einflusslinie, die direkt von Saint-Simons protosozialistischen Idealen hin zur kommunistischrevolutionären Theorie von Marx und Engels führt. Die analytisch strengen Diagnosen der marxistischen Kapitalismustheorie und des historischen Materialismus basieren jedoch der Logik nach auf der Hegelschen Dialektik, die im Übrigen aufgrund ihres metaphysisch-dogmatischen Charakters die wissenschaftliche Diskussionsfähigkeit der marxschen Thesen massiv beschränkt. Marx ist alles andere als Positivist!) 29 Vgl. Kapitel V, Abschnitt „Elementare Bestimmungen der Religion“. Darüber hinaus scheint eine derartige späte Hinwendung zum Religiösen bei Soziologen und Philosophen eine recht typische „Alterserscheinung“ zu sein: Inhaltlich zeigt sich diese neben Weber bei Durkheim, Tugendhat, Habermas oder gar Luhmann, konzeptionell findet sich bei Parsons, Mead und Kohlberg ein Zug zum ganzheitlich-religiösen Denken. Spencers Kritik an Comtes „Religion der Humanität“ ist in dieser Hinsicht bezeichnend. Der Gedanke einer religiösen Verehrung der „Humanität“ wird als unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten absurd zurückgewiesen. Absurd ist für Spencer aber nur das religiöse Objekt! Stattdessen müsse, so Spencer weiter, das „Unwissbare“ im Zentrum der religiösen Verehrung stehen. Herbert Spencer: 32

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raschen, dass Comtes Überlegungen zur Entstehung eines monotheistischen Weltbildes und zur Rolle des Protestantismus für die Entstehung der modernen Gesellschaft die späteren Forschungsthemen Max Webers vorwegnehmen (wenngleich dieser später zu konträren Auffassungen gelangen sollte).30 Obgleich Comte vom politischen Gestus her alles andere als ein Revolutionär war, so kann er andererseits keinesfalls als schlichtweg reaktionär gelten31, tritt der comtesche Positivismus doch dezidiert als soziales Reformprogramm auf. Ausgangspunkt ist das Problem der Notwendigkeit einer Reorganisation der Gesellschaft, für die es aus Comtes Sicht eines wissenschaftlichen Fundaments an soziologischem Wissen bedarf. Die autologische und die ontologische Komponente der Gesellschaftswissenschaft werden somit auf systematische Weise miteinander verschränkt. Inwieweit sind nun aber wissenschaftlicher Erkenntnis- und gesellschaftlicher Gestaltungsanspruch überhaupt miteinander vereinbar, verbindet sich ersterer doch mit einer neutral-objektivierenden, letzterer mit einer aktivteilnehmenden Haltung gegenüber der sozialen Praxis? Zunächst gilt es zu klären, was das Besondere des comteschen Wissenschaftsverständnisses ausmacht, welche Konsequenzen dies für eine positivistisch begründete Soziologie hätte und in welchem Verhältnis ein solcher Ansatz zur Realität der sozialwissenschaftlichen Forschungspraxis steht.

Positivismus als Methode Folgt man der üblichen Auffassung, so verbirgt sich hinter dem wissenschaftstheoretischen Etikett des Positivismus nichts weiter als eine partikuläre Dogmatik. Die Behauptung, der Positivismus könne als konsensuelle Grundlage des soziologischen Wissenschaftsverständnisses fungieren, muss deshalb heute gänzlich abwegig erscheinen. Diese gängige Überzeugung musste sich nicht zuletzt im Anschluss den sogenannten Positivis-

The Classification of the Sciences, to which are added Reasons for Dissenting from the Philosophy of M. Comte, London 1873. 30 Vgl. A. Comte, Die Soziologie, S. 168-303; W. Fuchs-Heinritz, Auguste Comte, S. 318f. Es geht Comte dabei um die Frage nach dem europäischen „Privilegium der wichtigsten sozialen Entwicklung“: „Weshalb ist Europa der Ort für diese überwiegende Zivilisation?“, A. Comte, Die Soziologie, S. 170. 31 So aber Nietzsche, der Comte aufgrund seiner katholizistischen Anleihen als „klügsten Jesuiten“ bezeichnet, „der seine Franzosen auf dem Umweg der Wissenschaft nach Rom führen wollte“. Friedrich Nietzsche: Götzendämmerung, Frankfurt a.M. 1985, S. 58. 33

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musstreit32 allgemein verbreiten, da selbst die vermeintlichen Anhänger des „Positivismus“33 die Erfahrung nicht leugnen konnten, dass die Unterstellung einer anerkannten Basis expliziter wissenschaftstheoretischer Grundannahmen sich innerhalb der scientific community nicht als bewährungsfähig erwies. Eine solche enge Interpretation der „positiven Philosophie“ resultiert einerseits aus einem von Comtes ursprünglicher Theorie abweichenden Verständnis des Positivismus als gesellschaftstheoretisch enthaltsamer Strategie der (sozial-)wissenschaftlichen Auswertung von empirischen Einzelfakten.34 Andererseits wird eine Distanzierung vom positivistischen Programm auch durch Comtes teilweise recht provokanten Ansichten zu konkreten soziologischen Themenfeldern befördert. Liest man die soziologischen Überlegungen Comtes jedoch etwas wohlwollender als forschungsfelderschließende Pionierleistung und interpretiert das „DreiStadien-Gesetz“ bspw. als idealtypische Heuristik, dann dürfte es möglich sein, zwischen den allgemeineren theoretischen Konzepten und den konkreteren inhaltlichen Positionen schärfer zu unterscheiden.35 Legt man in diesem Sinne ein weiter gefasstes Verständnis des Positivismus zugrunde, so fällt auf, dass es sich bei der „positivistischen Methode“ gar nicht um eine konkrete Lehre, sondern vielmehr um einige grundsätzliche methodologische Überlegungen handelt. Durkheim kleidet diesen Eindruck in die Worte: „Die großen Soziologen [...] sind tatsächlich über einige Allgemeinheiten über die Natur der Gesellschaft, über das Verhältnis des sozialen Lebensbereiches zum biologischen, über den allgemeinen

32 Vgl. Theodor Adorno u.a. (Hg.): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied 1969. 33 Das Label des „Positivisten“ wird typisch durch externe Zuschreibungen verliehen und dient als denunzierende Kampfvokabel. Ein Bekenntnis zum Positivismus darf daher heute als Akt der Provokation gelten. 34 Es ist fraglich, ob eine solche Position je explizit vertreten worden ist. Während die soziologische Positivismuskritik sich vor allem auf die am Kriterium der Falsifizierbarkeit orientierte Wissenschaftsphilosophie Karl Poppers konzentriert, bezieht sich der philosophische Positivismusdiskurs jedenfalls eher auf den (naturwissenschaftlichen) Empiriokritizismus im Anschluss an Ernst Mach, sowie auf den logischen Positivismus des Wiener Kreises. Vgl. etwa Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1967. 35 Comte relativiert seine inhaltlichen Konkretisierungen ausdrücklich selbst und koppelt sie vom Gültigkeitsanspruch des Positivismuskonzepts ab: „Wenn ich mich über das Gesetz der menschlichen Entwicklung geirrt hätte, so wäre nur die Begründung einer besseren Theorie nötig, und ich hätte trotzdem die einzige Methode festgestellt, die den menschlichen Geist zur positiven Erkenntnis führt.“ A. Comte, Die Soziologie, S. 471. 34

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Gang des Fortschritts nicht hinausgekommen.“36 Sofern man am Anspruch einer wissenschaftstheoretisch-methodologischen Begründung des Faches Soziologie festhält, lassen sich die Kernpunkte von Comtes Wissenschaftsphilosophie in der Tat in einem bis heute ebenso relevanten wie vertretbaren Sinne interpretieren. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um drei Postulate.

Postulat 1: Keine Anthropomorphismen oder Wesensannahmen! Positivistische Theorien werden dem Drei-Stadien-Konzept zufolge von theologischen, sowie von metaphysischen Theorien unterschieden. Während die Menschheit im „theologischen Stadium“ die Welt notwendig nur anhand der Projektion menschlicher Wesenszüge erfassen kann37, stellt das „metaphysische Stadium“ bereits eine Übergangsphase zum „positiven Stadium“ dar, indem es die Wirksamkeit von Wesenheiten unterstellt.38 Da jedoch auch eine an die Phänomene von außen herangetragene Hypostasierung abstrakter Begriffe nichts erklären würde, dürften zur positiven Erklärung von natürlichen und gesellschaftlichen Phänomenen weder Anthropomorphismen noch Wesensannahmen verwendet werden. Grundsätzlich kann diese Maxime wohl gegenwärtig als unstrittig betrachtet werden. Ein Erdbeben als göttliche Strafe zu interpretieren oder einem widerspenstigen Computerprogramm gut zuzureden widerspricht einer wissenschaftlichen Haltung gegenüber den empirischen Phänomenen, da sie diesen unzulässigerweise Intentionen und Gefühle zuschreiben. Auch die Erklärung einer Flutwelle aus einem Ungleichgewicht der „Natur“, die Hegelsche Figur des „Weltgeistes“ oder die dogmatische Überzeugung, der „Sexualtrieb“ oder der „Wille zur Macht“ seien die wesentlichen Motoren menschlichen Handelns, sind sicherlich Beispiele für wissenschaftlich fragwürdige Anschauungen. Wesensannahmen dieser Art führen zu einer selektiven Wahrnehmung der Welt. Die resultierenden Interpretationen reduzieren die Realität auf unkontrollierte Weise und sind deshalb nicht mehr diskursiv verhandelbar.

36 Emile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt a.M. 1984, S. 103. 37 Comte vertritt hier eine ähnliche Auffassung wie Ludwig Feuerbach. Personale Gottesvorstellungen werden als demnach anthropomorphe Projektion interpretiert, mit anderen Worten: Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde. Vgl. W. Fuchs-Heinritz, Auguste Comte, S. 304. 38 Comte spricht in diesem Zusammenhang auch von „personifizierten Abstraktionen“. A. Comte, Plan, S. 75. 35

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Allerdings offenbaren etliche wissenschaftliche Begriffe bei genauerer Betrachtungen eine gewisse „anthropomorphe“ bzw. „metaphysische“ Tendenz. Soziologisch relevant dürfte der Verdacht des Anthropomorphismus vor allem im Hinblick auf die Interpretation der Handlungslogik kollektiver Akteure bzw. „Systeme“ sein. „Der Staat“ oder „das Kapital“, „der Wähler“ oder „der Terrorismus“ werden oft in einem nicht nur metaphorischen Sinne als Handlungssubjekte verstanden. Dies lässt sich zwar teilweise theoretisch legitimieren, da insbesondere formale Organisationen nach außen hin als zurechnungsfähige Akteure (Rechtssubjekte, Verhandlungspartner, Entscheidungsträger) auftreten müssen. Ohne solche explizierbaren Zusatzannahmen derartige Beschreibungen jedoch kaum als wissenschaftlich befriedigend gelten.39 Das Problem der Wesensannahmen lässt sich heute hingegen mit dem wissenschaftsphilosophischen Thema des Konstruktivismus in Verbindung bringen. Sobald zentrale Größen wie etwa Kraft und Energie (Physik), Art (Biologie), Motiv (Psychologie), Kapital (Ökonomie) oder Macht (Politik) als „absolute Begriffe“ aufgefasst werden, verweist dies auf „die metaphysische oder ontologische Denkweise“40 im Sinne Comtes. Wesensfragen beinhalten bis heute eine gewisse Brisanz, da die Wissenschaftler diesbezüglich häufig unbewusst eine ambivalente Einstellung einnehmen, die sich nach dem jeweiligen Kontext richtet, in dem sie damit konfrontiert werden.41 Dass der Positivismus, der doch üblicherweise vor allem für eine strenge Konzentration auf empirische Gewissheiten und damit den Glauben an die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnisse steht, mithin ursprünglich bei Comte im Hinblick auf die Ablehnung „absoluter Begriffe“ eine tendenziell konstruktivistische Position beinhaltet, kann vordergründig als paradoxe Ironie der Wissenschaftsgeschichte gelesen werden. Eine methodologische Relativierung wissenschaftlicher Hintergrundannahmen

39 Insbesondere Verschwörungstheorien erscheinen daher vom soziologischen Standpunkt aus zumeist als unseriös, da die Eigendynamik sozialer Zusammenhänge zugunsten der Fiktion einer willentlichen Manipulierbarkeit komplexer Ereignisketten ignoriert wird. Aber auch die Gesellschaftstheorie von Ferdinand Tönnies wäre bspw. in diesem Sinne als grundsätzlich problematisch anzusehen, da sie auf einer – an Schopenhauer angelehnten – Theorie des kollektiven Willens basiert. 40 Auguste Comte: Rede über den Geist des Positivismus, Hamburg 1994 (zit. als A. Comte, Rede), S. 14. 41 So lässt sich bei Mathematikern die eigentümliche Beobachtung machen, dass die konstruierten Modellgrößen in der Forschungspraxis intern als Realitäten behandelt werden, während man auf Nachfrage eine konstruktivistische Position einnimmt. Vgl. Philip Davis: Erfahrung Mathematik, Basel/Boston/Stuttgart, 1986, S. 337f. 36

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muss jedoch nicht mit einer Situation theoretischer Beliebigkeit einhergehen. Sie ist vor allem sinnvoll im Hinblick auf die Verhinderung fundamentalistischer Positionen, indem sie die argumentative, sachorientierte Auseinandersetzung über theoretische Begriffsentscheidungen erzwingt und im Sinne eines „gemeinsamen Gebrauchs der Vernunft“42 die habermassche Philosophie der kommunikativen Rationalität43 intuitiv vorwegnimmt. Wie bei Habermas wird auch bei Comte ein geschichtliches Argument zugunsten der eigenen Position in Anschlag gebracht: Man liege gleichsam auf der Linie der Zeit. Anstelle eines gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesses, der in Richtung der Ausdifferenzierung von System und Lebenswelt voranschreitet und dabei die Potentiale einer lebensweltlich verankerten kommunikativen Vernunft erst historisch entfaltet, steht bei Comte freilich das ungleich schlichtere Drei-Stadien-Gesetz. Wenngleich die drei Stadien sich faktisch überlagern, da insbesondere die Wissenschaften mit den einfacheren Gegenstandsbereichen in der Entwicklung weiter fortgeschritten seien als jene mit komplexeren Phänomenen befassten, so bildet der comtesche Positivismus seinem Selbstverständnis zufolge den Fluchtpunkt einer übergreifenden wissenschaftsgeschichtlichen Dynamik. Erst mit der Etablierung einer positivistisch ausgerichteten Soziologie und der Formulierung eines entsprechenden philosophischwissenschaftlichen Systems durch Comte würde daher nun der endgültige Siegeszug des Positivismus eingeläutet.44 So elegant und einleuchtend eine solche Vorstellung noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert gewesen sein mag, so unbefriedigend und un-

42 „Im positiven Zustand erkennen wir endlich die Unmöglichkeit, zu absoluten Begriffen zu gelangen; wir geben es auf, den Ursprung und die Bestimmung des Weltalls zu ermitteln und die inneren Ursachen der Erscheinungen zu erkennen. Stattdessen suchen wir deren Gesetze durch gemeinsamen Gebrauch der Vernunft und der Beobachtungen zu entdecken.“ A. Comte, Die Soziologie, S. 2. 43 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981. 44 Eine ähnlich egozentrisch-autologische Theoriefigur, die den Autor einer Theorie in dieser selbst an herausgehobener Stelle vorkommen lässt, findet sich bekanntlich bei Hegel (zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Comte und Hegel vgl. Oskar Negt: Strukturbeziehungen zwischen den Gesellschaftslehren Comtes und Hegels, Frankfurt a.M. 1964) und in etwas abgeschwächter Form in der daran anschließenden marxistischen Theorietradition (vgl. bspw. die Rolle des Intellektuellen bei Gramsci). Auch Parsons wird der Versuchung nicht widerstehen können, sich – wenn auch etwas dezenter – in den Kästchen-in-Kästchenstrukturen seines AGILSchemas zu verorten. Dazu J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, S. 374. 37

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differenziert erscheint sie nach heutigen Maßstäben. Indem die Typologie der drei Stadien als unumstößliches „Gesetz“ eingeführt wird, bleibt letztlich ungeklärt, wie dieses empirisch nachgewiesen werden könnte, da es ja überhaupt erst als heuristisches Schema zur Erschließung der Geistesgeschichte dient. In Comtes überschwänglichen Formulierungen gerät ihm das Drei-Stadien-Gesetz mithin selbst zu einer metaphysischen Erklärung. Den Implikationen, die dies für Comtes historisches Verständnis beinhaltet, kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Im Rahmen einer Diskussion der positivistischen Methodologie interessieren vor allem etwaige Konsequenzen für die Bildung soziologischer Theoriemodelle. Hier hat die Zurückweisung von Wesensannahmen unter anderem zur Folge, dass alle impliziten modelltheoretischen Annahmen überall dort problematisch sind, wo nicht ein konkreter Erklärungseffekt aufgezeigt wird. Auch wenn begriffliche Dispositionen typisch theorietechnisch begründet sind, gilt, dass sie sich letztlich immer an den zu beobachtenden empirischen Phänomenen zu bewähren haben. Der sich hieraus ergebende Primat der Beobachtung führt zu einem weiteren positivistischen Postulat.

Postulat 2: Unterordnung der Einbildungskraft unter die Beobachtung!45 Anstatt mit dogmatischen Wesensaussagen zu operieren, hätte eine positive Soziologie Comte zufolge ihre Begriffe zuerst am Gegenstand zu erklären: Es müsse eine Unterordnung der „Phantasie“ unter die „Beobachtung“ stattfinden.46 Die Soziologie könne daher nur mit „bedingten Begriffen“ operieren. Eine so verstandene Soziologie gerät namentlich in scharfen Kontrast zum gängigen Stil „sozialphilosophischer“ Ansätze, da hier entweder der normative Standpunkt die Reflexion über die zugrundegelegten Kategorien der Problemdeutung behindert oder aber die Disputation über Ethik, Gerechtigkeit, Sprache und Ästhetik empirieferne Lehnstuhldogmatik bleibt. Aufgrund ihrer virtuellen Teilnehmerperspektive, die in der ethischen Leitfrage „Wie sollen wir leben?“ zum Ausdruck kommt, droht die Moralphilosophie gleichsam den Ideologien der gesellschaftlichen Praxis auf den Leim zu gehen und sich zugleich in praxisferne Scheinprobleme zu verstricken. Die Unterstellung einer vermeintlich intendierten Fokussierung des Positivismus auf empirische Forschungsprojekte nach dem Motto „Messen statt Spekulieren“ entspricht indes einem gar zu einfachen Verständnis. Comte führt den Terminus „Soziologie“ – anstelle der ursprünglich favori-

45 A. Comte, Die Soziologie, S. 79. 46 A. Comte, Plan, S. 81. 38

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sierten Bezeichnung „Sozialphysik“ – ja überhaupt erst ein, um sich explizit von der Sozialstatistik Adolphe Quetelets zu distanzieren. Allein die erwähnte Skepsis gegenüber den Potentialen einer mathematischen Durchdringung sozialer Phänomene weist bereits darauf hin, dass Comtes Positivismus sich mitnichten mit dem Anspruch einer rein demographischen oder ethnologischen Deskription der sozialen Tatsachen begnügt. Der geforderte Primat der Beobachtung ist daher keinesfalls mit einer Beschränkung auf reine Beobachtungen gleichzusetzen. Demzufolge liegt es der positivistischen Geschichtsauffassung ebenso fern, die historische Analyse auf eine Beschreibung dessen zu beschränken, „wie es eigentlich gewesen“ (Ranke) ist. Stattdessen ist Comte sich des zirkulären Verhältnisses von Theorie und Empirie genau bewusst: Ohne Kategorien keine sinnvollen Daten, ohne empirische Erdung keine begründete Theorie. Wenn es einen solchen zirkulären Zusammenhang gibt, bleibt allerdings zunächst unklar, warum ausgerechnet der Beobachtung ein Vorrang eingeräumt werden soll. Der spezifische Sinn des Postulats „Unterordnung der Einbildungskraft unter die Beobachtung“ hängt nicht zuletzt davon ab, wie man den Begriff der „Beobachtung“ auffasst. Die Forderung, von der Beobachtung auszugehen, legt noch nicht auf ein spezifisches Verständnis dessen fest, was unter einer Beobachtung zu verstehen sei. Es fungiert zunächst nur als methodisches Komplement zur Konstitution einer Disziplin anhand eines ausgewiesenen Gegenstandsbereichs. Da die wissenschaftliche Kommunikation grundsätzlich darauf angewiesen ist, ein externes Referenzobjekt zu hypostasieren, begreift die Soziologie das Gesellschaftliche in der Form „soziologischer Tatbestände“47. Anders gesagt: Um ihren Gegenstand beobachten zu können, muss sie ihn methodologisch externalisieren. Im Übrigen scheint es eine typische Strategie der Grundlagenwissenschaften zu sein, diese Externalisierung des Gegenstandes in die Form von spezifischen Weltbegriffen (eine Paradoxie!) zu bringen. Für die Mathematik stellt sich dieser Gegenstand entsprechend als die „Menge aller Mengen“ dar, während die Astronomie die Welt als „All“ beobachtet. Die Welt der Physik heißt „das Universum“, die der Biologie jedoch „das Leben“. Die Welt der Soziologie aber ist die Gesellschaft.48

47 Emile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt a.M. 1984, S. 105ff. 48 Eine entsprechende Auffassung findet sich explizit auch bei Emile Durkheim: „Wenn es eine Soziologie gibt, muß es ihre Aufgabe sein, eine bisher unbekannte Welt zu erforschen, verschieden von der, die die anderen Wissenschaften untersuchen.“ Und weiter: „Aber diese Welt wäre ein Schemen, wenn sie nicht ein System von Realitäten darstellt.“ Emile Durkheim: Der Selbstmord, Frankfurt a.M. 1990, S. 360. 39

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Das grundsätzliche methodologische Argument zugunsten einer soziologischen Beobachtung dieser „sozialen Welt“ beinhaltet nun allerdings ein breites Spektrum an Interpretationsspielräumen. Wie sich zeigt, ist eine derartige „positivistische“ Forschungshaltung nicht per se auf einen „affirmativen“ Empirismus und quantitativ-statistische Datengrundlagen festgelegt. Neben einer Auslegung im Sinne reproduzierbarer Messergebnisse lässt sich der Begriff der Beobachtung bspw. auch systemtheoretisch nach dem Muster unterscheidungsbasierter Operationen49 begreifen oder gemäß dem Paradigma der qualitativen Sozialforschung als textförmiges „Protokoll sozialer Wirklichkeit“50 verstehen. Das positivistische Beobachtungspostulat birgt so gesehen insbesondere eine Nähe zur Grounded Theory51 oder anderen hermeneutischqualitativen Traditionen verstehender Sozialforschung. So lesen sich die Ausführungen Ulrich Oevermanns über den Zusammenhang von Beobachtungsdaten und sozialer Wirklichkeit ganz im Sinne des positivistischen Ideals: „Methodologisch ist einzig und allein von Belang, welche Protokolle die Beobachtungen, die als solche kognitive Operationen in der unmittelbaren Lebenspraxis selbst sind und deshalb als flüchtige Vollzüge an das ‚Hier und Jetzt‘ der Handlungsgegenwärtigkeit gebunden bleiben, hinterlassen haben. Deshalb ist auch die Charakterisierung des Unterschiedes zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften nach dem Kriterium, die ersteren hätten es mit Beobachtungstatsachen zu tun und die letzteren mit interpretativen oder normativen Tatbeständen, schon immer irreführend gewesen. Für beide Wissenschaftsabteilungen gilt gleichermaßen, daß sie ihre theoretischen Erklärungen und Deutungen mit den Erfahrungstatsachen zu konfrontieren haben, die ihnen einzig und allein in Form von Protokollen von Ereignissen und Prozessen gegeben sind.“52

Ebenso verkörpert Luhmanns methodologische Mahnung zur Beobachtung zweiter Ordnung ein positivistisch-relatives Verständnis gesellschaftlicher Phänomene, da sie Wesensannahmen über die zu beobachtenden ge-

49 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt a.M. 1984, S. 596-600. 50 Im Sinne von Ulrich Oevermann: Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis, in: Klaus Kraimer (Hg.): Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung, Frankfurt a.M. 2000, S. 58-156. 51 Vgl. Anselm Strauss/B. Glaser: Grounded Theory, Bern 1998. 52 Ulrich Oevermann: Klinische Soziologie auf der Basis der Methodologie der objektiven Hermeneutik – Manifest der objektiv hermeneutischen Sozialforschung, Manuskript, Frankfurt a.M. 2002, S. 4f. 40

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sellschaftlichen Bereiche wie Kunst oder Religion explizit verbietet.53 Der systemtheoretisch geschulte Soziologe wird zu einer distanzierten Haltung gegenüber sozialen Sinnkonstruktionen angehalten und enthält sich somit – abgesehen von einigen theoretisch ausgewiesenen, sehr abstrakten Begriffsentscheidungen – systematisch aller unreflektierten normativen oder kognitiven Vorurteile. Auch der amerikanische Pragmatismus im Anschluss an Charles S. Peirce steht für eine Position der Ablehnung von Wesensannahmen. Philosophische Probleme der letzten Klärung von Begriffsbedeutungen und psychischem oder sprachlichem Sinn werden gleichsam an die beobachtbare Praxis zurückverwiesen. Sprache etwa wird real erlernt und gebraucht, und die Pragmatik dieses Vorgangs gilt es zu ergründen, anstatt realitätsfremd über das Verhältnis von Sachverhalten und Aussagen nachzugrübeln. Der Pragmatismus lehnt sich (insbesondere bei William James) überdies auch im Hinblick auf das Kriterium der praktischen Relevanz des Wissens an Vorstellungen des Positivismus an. Positiv soll nämlich das erzeugte Wissen Comte zufolge nicht nur im Sinne des Tatsächlichen im Gegensatz zum Eingebildeten bzw. des Gewissen und Genauen im Gegensatz zum Unsicheren und Vagen sein54. Es soll auch einen gestaltenden, nützlichen, kurz: „setzenden“ Charakter besitzen. Das Kriterium der Relevanz des gewonnenen Wissens bzw. der erforschten Probleme dient somit gleichzeitig der pragmatischen Beschränkung der Forschungstätigkeit, würde man doch ansonsten die Gefahr einer Tendenz zur unkontrollierten Anhäufung unbegrenzter Datenmassen (etwa im Stile der humboldtschen Expeditionsberichte zu dessen Südamerikareise) heraufbeschwören.55 Diese Nuance des Positivismus wird häufig im Sinne der rein instrumentellen Reduktion wissenschaftlicher Forschung hin auf eine strikte Anwendungsorientierung interpretiert.56 Die mag im Falle einiger seiner Vertreter berechtigt sein. Comte selbst jedenfalls ist weit davon entfernt, in Wirtschaftswachstumsraten, Drittmittelquoten und Absolventenzahlen zu denken. Sowohl seine Beobachtungen wie auch seine Gestaltungsbemühungen richten sich durchweg in holistischer Weise auf das Gesellschaftganze. Doch wie beobachtet man eine gesellschaftliche Totalität empirisch? 53 Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 70, 393; ders.: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 14f.; ders.: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 397; ders.: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 14f.; ders.: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 27f. 54 A. Comte, Rede, S. 45f. 55 A. Comte, Die Soziologie, S. 104. 56 So bspw. Rupert Riedl: Riedls Kulturgeschichte der Evolutionstheorie, Berlin 2002, S. 30-38. 41

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Postulat 3: Die Gesellschaft vom Ganzen her begreifen! Das zirkuläre Verhältnis von Theorie und Empirie ergibt sich unter anderem auch aus der methodischen Anforderung einer Beobachtung der Gesellschaft als eines „Ganzen“57. Diese sieht man als solche weder im Fernsehen noch bei einem Blick aus dem Fenster, sodass das zu Beobachtende gewissermaßen erst durch die Theorie des Beobachters konstruiert wird. Das diesbezügliche Postulat der Ganzheitlichkeit folgt direkt aus dem enzyklopädischen Wissenschaftsanspruch Comtes. Ferner ist es eine Konsequenz des zugrundeliegenden gesellschaftlichen Problemverständnisses, geht es doch nicht um die konkrete Lösung einzelner sozialer Probleme – etwa der Bereitstellung einer gesicherten Trinkwasserversorgung oder einer berufsorientierten Ausbildung –, sondern um die materielle und geistige „Reorganisation der Gesellschaft“. Das Wissenschaftssystem ist bei Comte nicht einfach eine korporative Vereinigung von für je spezifische Wissenssegmente zuständigen Experten. Den Möglichkeiten wissenschaftlicher Arbeitsteilung und Spezialisierung steht Comte skeptisch gegenüber58, wenn er sie auch nicht vollständig aufzuheben trachtet. Um Comtes Verständnis des Zusammenhangs der wissenschaftlichen Teilbereiche59 zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass er strikt zwischen abstrakten und konkreten Wissenschaften unterscheidet. Während die letzteren in der Tat weitestgehend separate Teilbereiche anwendungsorientierten, praxisnahen Wissens sind, welches in seiner Typik dem „Know-how“ von Ingenieuren und Handwerkern nahesteht, bilden die ersteren als Grundlagenwissenschaften erst jene übergreifende Klammer eines wissenschaftlichen Systems, für das Comte sich primär interessiert. Nach Comtes Auffassung korrespondiert mit diesem übergreifenden Grundlagenwissen nun offenbar auch eine reale Einheit des Gegenstands. So heißt es explizit: „Nur die Menschheit ist wirklich, namentlich auf geistigem und moralischem Gebiet“, dagegen sei „der Mensch eigentlich nur eine Abstraktion.“60 Insbesondere die Einheit des Faches Soziologie konstituiert sich demnach keineswegs allein anhand eines disziplinspezifischen Methodenkanons, wie Vertreter einer formalen Soziologie à la Simmel argumentieren würden. Vielmehr handelt es sich um das Pendant 57 A. Comte, Die Soziologie, S. 90. 58 Ebd., S. 8f., 396ff., ähnlich Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt a.M. 1992, S. 424f. 59 A. Comte, Die Soziologie, S. 14. 60 Ebd., S. 460. Für ein ähnliches Verständnis der „Erfindung des Menschen“ und der Konstruiertheit individueller Identitäten stehen heute Autoren wie Niklas Luhmann oder Michel Foucault. 42

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zur realen Wirkung gesellschaftlicher Dynamiken und Mechanismen, ja mehr noch: des Operierens von Gesellschaft als autonomer Instanz. Aber widerspricht Comte hier nicht, so darf man fragen, seinem eigenen Postulat der Vermeidung von Anthropomorphismen und Wesensannahmen? Wäre eine als Totalität agierende Gesellschaft nicht ein „Wesen“ bzw. ein „Geist“?61 Wer von Holismus und Ganzheitlichkeit, von gesellschaftlicher Totalität und sozialem Geist spricht und dies nicht etwa nur metaphorisch meint, sondern in einem buchstäblichen Sinne versteht, kommt in jedem Falle in argumentative Verlegenheiten und handelt sich beträchtlichen Erklärungsbedarf ein. Die Hypostasierung der Gesellschaft als hyperindividualer Macht ist von einigen soziologischen Skeptikern gar als totalitäre Ideologie ausgelegt worden: Wer gesellschaftliche Strukturen ontologisch begreift, würde die individuelle Handlungsfreiheit durch das Aufsetzen ideologischer Scheuklappen beschneiden und damit die Würde des Menschen verletzen.62 Gesellschaftliche Verhältnisse würden als unabänderlich hingestellt und die menschlichen Gestaltungspotentiale geleugnet. Allerdings wird die Forderung, Gesellschaft als Totalität zu begreifen, im Zuge des sogenannten Positivismusstreits ausgerechnet von Adorno gegenüber Popper erhoben. Dem „Positivismus“ wird dabei vorgeworfen, die Gesellschaft nicht hinreichend in einem ganzheitlichen Zusammenhang zu betrachten.

61 Ähnliche Vorstellungen über Gesellschaft als Totalität finden sich gleichwohl bei Emile Durkheim, der damit nicht nur verlangt, die sozialen Tatsachen als „Dinge“ zu betrachten, sondern darüber hinaus die Gesamtheit der sozialen Welt als gottesgleiche Kraft beschreibt, die auf das Individuum einen moralischen Zwang ausübe. Als Paradebeispiel für derartige übermenschliche „Ganzheiten“ kann überdies die Hegelsche Konstruktion eines Weltgeistes angesehen werden, der im Zuge einer komplexen dialektischen Entwicklung schließlich (in Hegels Kopf) zu sich selbst kommt. Aus der vermeintlich nüchternen Distanz des rationalen, aufgeklärten Weltverständnisses unseres gegenwärtigen Zeitalters erscheinen solche „Weltbilder“ freilich kaum weniger absurd als der primitive Glaube an die Kraft eines Totems. 62 Vgl. Paul Kellermann: Kritik einer Soziologie der Ordnung. Organismus und System bei Comte, Spencer und Parsons, Freiburg 1967. Einem entsprechenden Verdacht sah sich auch Durkheim ausgesetzt, als es um die akademische Etablierung der Soziologie in Frankreich ging. Durkheims Standpunkt im Streit zwischen Holisten und Individualisten ist eindeutig: „Unter dem Vorwand, die Soziologie fester zu untermauern, indem man sie auf die psychologische Konstitution des Menschen gründet, bringt man sie von dem einzigen Gegenstand ab, der ihr zusteht. Man sieht nicht, daß es keine Soziologie geben kann, wenn es keine Gesellschaften gibt, und daß es keine Gesellschaften gibt, wenn es nur Individuen gäbe.“ E. Durkheim, Der Selbstmord, S. 21. 43

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Poppers wissenschaftstheoretische Positionen haben ohne Frage so wenig mit Comte gemein, wie man Adorno totalitärer Züge verdächtigen kann. Die oben bereits erwähnte, übliche Gegenüberstellung von Positivismus und Idealismus stößt im Hinblick auf das Problem der Ganzheitlichkeit soziologischer Forschung an ihre Grenzen. Comtes Postulat der Ganzheitlichkeit steht hier Paretos mechanistischem Handlungsmodell gegenüber, Hegels Phänomenologie des Geistes kontrastiert mit Webers Gestus des Verstehens von Handlungen, obgleich die beiden ersteren Parsons zufolge der positivistischen, die beiden letzten der idealistischen Strömung zuzuordnen sind.63 Die entscheidende „ontologische“ Konfliktlinie der Soziologie verläuft vielmehr zwischen den beiden Paradigmen einer organisch-funktionalen Gesellschaftsauffassung einerseits und einem mechanistischen, akteurszentrierten Verständnis dessen, was eine soziologische „Erklärung“ sein könne, andererseits.64 Das Deutungsschema der Ganzheitlichkeit wird daher am schärfsten mit Argumenten konfrontiert, die vom Standpunkt des methodologischen Individualismus formuliert werden. Während der methodologische Individualismus davon ausgeht, dass soziale Strukturen grundsätzlich auf das Handeln von Individuen zugerechnet werden müssen, um überhaupt zu wissenschaftlich sinnvollen Erklärungen gelangen zu können, machen Comte und andere Holisten auf Phänomene der Emergenz komplexer, „verwickelter“ Strukturen aufmerksam und werfen ihren Gegnern eine „reduktionistische“ Haltung vor. Von entscheidender Bedeutung ist dabei letztlich, wie beide Fraktionen das „Ganze“ in Elemente dekomponieren.65 Die Reduktionisten zerlegen das Forschungsobjekt in unabhängig existierende, „reale“ Bausteine wie etwa Menschen, neuronale Impulse oder Atome. Die Holisten zergliedern ihren Gegenstand stattdessen in Elemente, die sich überhaupt erst im Kontext des „Ganzen“ konstituieren, und bezweifeln daher die Unabhängigkeit der Existenz von Elementen für sich.66 Mit dem Problem der Dekomposition eines Ganzen in Teile hat sich im Kontext der soziologischen Theorie besonders Talcott Parsons ausei-

63 Vgl. Talcott Parsons: The Structure of Social Action, New York 1968. 64 Vgl. Kapitel IV, Abschnitt „Organismus und Mechanismus als komplementäre Paradigmen“. 65 Vgl. Kapitel IV, Abschnitt „Gesellschaftliche Totalität und ihre Elemente“. 66 Schließlich kann man auch Individuen und Atome wiederum – sowohl analytisch als auch real – in kleinere Bestandteile dekomponieren. Insbesondere ist es nicht unproblematisch, von einer anthropologisch verankerten Natur des Menschen auszugehen und die kulturabhängige Varianz individueller Akteure zu leugnen. 44

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nandergesetzt.67 Comte belässt es im Vergleich dazu bei einigen wenigen, wenngleich richtungsweisenden Bemerkungen: Da der wissenschaftliche Erkenntnisprozess immer vom Bekannten zum Unbekannten fortzuschreiten habe, müsse er im Falle der anorganischen Phänomene vom Konkreten zum Allgemeinen, im Falle der organischen und überorganischen Gegenstände aufgrund der großen „Verwickeltheit“ – sprich: Komplexität – dagegen vom Allgemeinen zum Besonderen vorgehen.68 Mit anderen Worten: In Physik und Chemie mag man mit der Beobachtung elementarer Kausalzusammenhänge zurande kommen, in Biologie und Soziologie hat man sich dagegen zunächst mit funktionalen Analysen zu behelfen.69 Es ist für Comte daher selbstverständlich, dass die hochaggregierten Strukturzusammenhänge einer Gesellschaft nicht über die Untersuchung von Handlungen einzelner Individuen erschlossen werden können. Das Individuum, so Comte explizit, sei nicht die Elementareinheit der Gesellschaft. Stattdessen schlägt Comte vor, die Familie, welche die kleinste soziale Einheit sei, als das Grundelement der Gesellschaft anzusetzen: „Da jedes System sich aus ihm gleichartigen Elementen bilden muß, so gestattet es der wissenschaftliche Geist nicht, daß man die Gesellschaft als aus einzelnen Elementen zusammengesetzt auffasse. Die soziale Einheit liegt in der Familie, wenigstens in dem Paare, das deren Grundlage bildet. Die Familie erscheint als der Keim für die Einrichtung im sozialen Organismus. Sie bildet ein Mittelglied zwischen dem einzelnen und seiner Gattung; der Mensch beginnt dadurch aus seiner Persönlichkeit herauszutreten und lernt im anderen zu leben.“70

Diese Lösung wird heute allenfalls Familiensoziologen überzeugen. Bekanntlich hat man stattdessen dafür plädiert, Handlungen (Parsons) bspw. sprachliche Kommunikationen (Mead, Luhmann) als entsprechende Elementareinheiten zu konzipieren. Am Grundproblem und damit am Streit 67 Bereits in seinem handlungstheoretischen Frühwerk befasst sich Parsons unter dem Stichwort des „analytischen Realismus“ ausdrücklich mit der Frage, inwieweit die analytische Aufgliederung eines Phänomens auf die vorherige Ausweisung eines „frame of reference“ angewiesen ist, der durch die wissenschaftliche Bezugsebene – physikalisch, psychologisch oder eben soziologisch – bestimmt wird. Dazu Harald Wenzel: Die Ordnung des Handelns. Talcott Parsons’ Theorie des allgemeinen Handlungssystems, Frankfurt a.M., S. 157-272. 68 Vgl. A. Comte, Die Soziologie, S. 25, 89f. 69 Comte reproduziert hier ein Argument Kants aus der Kritik der Urteilskraft. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1995, S. 316326, 352. 70 A. Comte, Die Soziologie, S. 122. 45

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zwischen Holisten und methodologischen Individualisten hat sich damit jedoch nicht viel geändert. Daher ist es auch vor allem dieses dritte methodologische Postulat, welches das comtesche Programm in sachlicher Hinsicht daran hindern würde, eine fachübergreifende Verbindlichkeit beanspruchen zu können. Die Forderung nach einer Vermeidung von Anthropomorphismen und Wesensannahmen deckt sich weitestgehend mit dem seit Kant gängigen epistemologischen Relativismus. So würde heute wohl – zumindest innerhalb der Soziologie – niemand im Rahmen einer methodologischen Diskussion darauf beharren, das „Wesen“ der Gesellschaft erfasst zu haben. Auch dass die theoretischen Aussagen der Soziologie in entscheidender Weise an die empirisch zu beobachtenden Phänomene gebunden werden sollten, wird man nicht ernsthaft bezweifeln können. Ebenso lässt sich im akademischen Kontext staatlich geförderter Universitäten die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Relevanz der bearbeiteten Forschungsthemen kaum infrage stellen. Empirie- und Praxisbezug können als etablierte Ansprüche professioneller Wissenschaft gelten. An der Ganzheitsfrage aber spaltet sich die Soziologie! Indessen ist der rein abstrakte Streit um „gesellschaftliche Totalität“ versus „individuelles Handeln“ ohnehin unfruchtbar, solange die vertretenen Positionen nicht auch am konkreten inhaltlichen Ertrag bemessen werden. Um die Tragfähigkeit bzw. die Irrtümer des positivistischen Programms besser einschätzen zu können, gilt es daher als Nächstes die comtesche Gesellschaftsauffassung einer eingehenderen Analyse zu unterziehen.

S t a t i k u n d D yn a m i k d e r G e s e l l s c h a f t Im Unterschied zu Marx, Tönnies oder Weber verbindet sich Comtes Name weder mit einer eingängigen Gesellschaftsdiagnose noch mit einschlägigen empirischen Studien. Wo sich Comte um Prägnanz bemüht, etwa bei der Formulierung seines Drei-Stadien-Gesetzes oder bei der Verkündigung quasireligiöser Botschaften71, wird dies gemeinhin nicht als überzeugend empfunden. Dennoch kann man sicherlich sagen, dass in seinem Werk die gängigen soziologischen Einsichten über die spezifische historische Dynamik, welche die moderne Gesellschaft okzidentaler Prägung hervorgebracht hat, sowie deren innere Verfassung in gewisser Weise bereits angelegt sind.

71 Das Motto der positivistischen Religion lautet bspw. „Liebe als Prinzip, Ordnung als Basis, Fortschritt als Ziel“. A. Comte, Katechismus, S. 1. 46

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Wegweisend und theoretisch entscheidend für Comtes umfangreiche Ausführungen zur Soziologie ist die formale Unterscheidung zwischen einer sozialen Statik und einer sozialen Dynamik, welche die beiden Hauptteile von Comtes Gesellschaftslehre bilden. Die Statik befasst sich mit dem gesellschaftstheoretischen Problem der Ordnung und der Bestandserhaltung gesellschaftlicher Strukturen und weist daher eine gewisse Affinität zum Funktionalismus auf (a).72 Die Dynamik hat dagegen die Phänomene des sozialen Wandels zum Gegenstand und richtet sich auf die Analyse der solchen Transformationsprozessen zugrundeliegenden historischen Logik, die Comte mithilfe der Kategorie des gesellschaftlichen Fortschritts begreift (b).73 Zu (a): Die Ausführungen zur Statik sind im Vergleich zur Dynamik weniger umfangreich ausgearbeitet. Comte beschränkt sich im Cours auf wenige Überlegungen zum Individuum, zur Familie und zur Gesellschaft im Allgemeinen. Die damit bezeichnete Dreiteilung ist gleichwohl als solche bereits interessant, zeigt sich in ihr doch ganz deutlich das Bemühen um die Berücksichtigung unterschiedlicher sozialer Aggregationsniveaus. Heute ist es indessen üblicher, Ebenen wie: Individuum – Gruppe – Netzwerk – gesellschaftliches Funktionssystem oder etwas schlichter: Interaktion – Organisation – Gesellschaft zu unterscheiden.74

72 Zum entsprechenden Paradigma des „Organismus“ vgl. Kapitel IV, Abschnitt „Gesellschaftliche Totalität und ihre Elemente“. In der heutigen Soziologie würde man anstelle von Statik und Dynamik eher von „gesellschaftlicher Ordnung“ und „sozialem Wandel“ sprechen. In der Systemtheorie werden die entsprechenden Funktionen durch die Theorie gesellschaftlicher Differenzierung (Statik) bzw. die Evolutionstheorie (Dynamik) übernommen. Ein skurriles Rudiment der comteschen Idee, das Verhältnis von Statik und Dynamik als Zusammenspiel von Ordnung und Fortschritt zu begreifen, stellt die Formel „ordem e progresso“ dar, die sich als Banner auf der brasilianischen Nationalflagge findet. Der Positivismus war in Brasilien lange Zeit Staatsdoktrin und bis heute findet man dort noch Anhänger der „positiven Religion“. Vgl. Carl Goerdeler: Das Gesetz des Glücks, in: Die Zeit, Nr. 55 vom 6.12.2007. Pedro Goergen: Der Positivismus Auguste Comtes und seine Auswirkungen in Brasilien, Augsburg 1976. 73 Obgleich man in der gegenwärtigen Transformationsforschung vorsichtiger geworden ist und sich von naiven Fortschrittsmodellen nachdrücklich distanziert, finden sich ähnliche, wenngleich differenziertere Vorstellungen in soziologischen Konzepten wie „Rationalisierung“ oder „Modernisierung“ sowie implizit in der politischen Semantik, wenn von „Entwicklungshilfe“, von „Demokratisierung“ oder auch vom „Aufbau Ost“ die Rede ist. 74 Vgl. Niklas Luhmann: Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Anwendungen der Systemtheorie, in: ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 2, Opladen 1975, S. 9-19. 47

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Die Bemerkungen zum Individuum haben vor allem das Ziel, sich von der Vorstellung zu distanzieren, gesellschaftliche Institutionen müssten als Willensäußerungen vernünftiger Akteure verstanden werden. Zwar leugnet Comte keineswegs die Rolle des Individuums als Träger sozialer Strukturen, jedoch glaubt er nicht an die ordnungsstiftende Kraft einer quasinatürlichen Neigung des Menschen zu rationalem Verhalten. Statt auf vernünftige Einsichten zu setzen müsse man realistischerweise eher mit einem von Instinkten getriebenen Verhalten rechnen: „Die [...] soziale Eigentümlichkeit der menschlichen Natur besteht darin, daß die niedrigsten und selbstsüchtigsten Instinkte die edleren Neigungen an gesellschaftsbildender Kraft übertreffen.“75 Da die Gesellschaft die prosozialen Anlagen im Menschen erst zur Entfaltung bringen muss, bedarf es hegelianisch gesprochen einer List der Vernunft, um die für die Erhaltung einer stabilen gesellschaftlichen Ordnung erforderlichen moralischen Einstellungen zu erzeugen. Comte prägt bezüglich der entsprechenden gesellschaftlichen Haltung den Begriff des „Altruismus“76, der bei ihm insofern die Rolle von Durkheims „organischer Solidarität“ einnimmt. Ähnliche Beobachtungen hinsichtlich der menschlichen Natur waren bereits der Ausgangspunkt für Schillers Überlegungen zur ästhetischen Erziehung des Menschen gewesen.77 Schiller glaubte allerdings zeigen zu können, wie die Kunst zwischen Naturtrieben und Vernunft spielerisch vermitteln könne. Comte dagegen ordnet vor allem der Familie die Aufgabe zu, die „sympathisierenden Instinkte“78 zu wecken. Die Familie fungiert Comte zufolge als eine Individuum und Gesellschaft verkoppelnde Klammer. Als elementare Grundeinheit der Gesellschaft ist die primäre Sozialisationsinstanz und bereitet den Heranwachsenden auf eine am Anderen orientierte Lebensweise vor.79 Die für eine überzeugende soziologische Theorie der Sozialisation erforderlichen empirischen Untersuchungen kann Comte allerdings nicht liefern. Anstelle einer weiterführenden, vergleichenden Analyse historischer Familienformen80 finden sich im Cours lediglich einige heute regelrecht chauvinistisch anmuten75 A. Comte, Die Soziologie, S. 120. 76 J. S. Mill, August Comte und der Positivismus, S. 98. 77 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Stuttgart 2000. 78 A. Comte, Die Soziologie, S. 136. 79 Es ist dies ein Argument, welches – konsequenter ausgearbeitet – 150 Jahre später in der amerikanischen Sozialphilosophie des „Kommunitarismus“ eine zentrale Rolle spielen wird. Axel Honneth (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1993. 80 Vgl. Herbert Spencer: Die Prinzipien der Soziologie, Bd. 1, Stuttgart 1877; Franz Müller-Lyer: Formen der Ehe, München 1911. 48

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de Bemerkungen über die Rolle der Frau. Diese müssen umso abstruser erscheinen, wenn man sich vor Augen hält, welche zentrale Rolle die kultische Verehrung des Weiblichen in Comtes zur Religion ausgebautem Spätwerk einnimmt. Hervorzuheben ist allerdings die besondere Bedeutung, welche Comte der Familie im Hinblick auf die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen den Generationen zuspricht, wobei er vor allem die Herrschaft der älteren über die jüngeren Generationen im Auge hat.81 Die autoritären Vorstellungen über die Binnenstruktur der Familie, die sich im Cours finden, bilden jedoch wiederum einen auffälligen Kontrapunkt zum Prinzip der Liebe, welches später das Leitmotto der positivistischen Religion abgeben wird. Sie stehen im Übrigen auch im Kontrast zur heutigen Auffassung der Soziologie über das Medium der Liebe, der zufolge sich Intimbeziehungen und Familie als sozialer Ort begreifen lassen, bei dem es um die Anerkennung als ganze Person geht.82 Die Ausführungen zur Gesellschaft als dritter Ebene der Statik erheben das Thema der Arbeitsteilung zum Mittelpunkt. Die Idee der „gemeinsamen Arbeit“ wird dabei als unhintergehbarer Ausgangspunkt einer „Untersuchung der Gesellschaft“83 identifiziert. Die subjektive Erfahrung einer mit der ökonomischen Spezialisierung einhergehenden Individualisierung korrespondiert dem Prinzip nach mit dem Effekt einer funktionalen Zusammenfügung der einzelnen Arbeiten zu einem sozialen Organismus: „Kann man wohl ein wunderbareres Schauspiel ersinnen, als diese Übereinstimmung von einzelnen, von denen jeder eine bestimmte und bis zu einem gewissen Grade unabhängige Existenz hat, und die trotz der Verschiedenheit ihrer Talente und Charaktere bereit sind, freiwillig in derselben allgemeinen Entwicklung mitzuwirken, ohne sich dazu verabredet zu haben, ja, ohne daß die meisten es bemerken, indem sie meinen, nur ihren persönlichen Antrieben zu folgen?“84

Gleichzeitig werden die kritischen Momente fortgeschrittener Arbeitsteilung in „industriellen“ Gesellschaften herausgestellt: Der „Handwerker [...], der sein ganzes Leben mit Anfertigung von Messergriffen oder Nadelköpfen beschäftigt ist“, gilt Comte als Ausdruck einer „Art menschlichen Automatentums“, das bei ihm auf Ablehnung stößt, weil es „eine verderbliche Gleichgültigkeit für den allgemeinen Gang der menschlichen 81 A. Comte, Die Soziologie, S. 126. 82 Vgl. Niklas Luhmann: Sozialsystem Familie, in: ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 5, Opladen 1990, S. 196-217. Im Kontext der systemischen Familientherapie gelten die Liebe und die hierarchische Ordnung der Generationen allerdings durchaus als vereinbar. 83 A. Comte, Die Soziologie, S. 139. 84 Ebd., S. 127. 49

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Angelegenheiten“85 erwecken würde. Die dysfunktionalen Effekte überzogener Arbeitsteilung – das webersche „Fachmenschentum“ – werden von Comte vor allem im Hinblick auf das Phänomen der wissenschaftlichen Spezialisierung thematisiert.86 Comte behauptet gar, dass die „Herrschaft der Spezialisten [...] schwere Irrtümer“87 veranlasst habe, und konstatiert ein Zeitalter der Spezialisierung, bei dem der „Sinn für das Einzelne“ überwiege und es stattdessen am „Sinn für das Ganze“ mangle.88 Da zudem „die Arbeitsteilung dem Sinn für das Individuelle eine Entfaltung gibt“, damit aber tendenziell den „Gemeingeist“ erstickt89, ergibt sich die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Korrektivs bezüglich jener zersetzenden Wirkung der Arbeitsteilung. Einerseits – in institutioneller Hinsicht – soll Comte zufolge die Regierung die Aufgabe übernehmen, „neben groben Aufgaben für die materielle Ordnung [...] den Gedanken an die Gesamtheit und das Gefühl der gemeinsamen Solidarität mit um so größerer Energie wachzurufen, als die individuelle Tätigkeit auf deren Auslöschung hinwirkt.“90 Indem er somit ökonomische Arbeitsteilung und politische Integration in einen funktionalen Zusammenhang bringt, berührt Comte Fragen einer Theorie der funktionalen Differenzierung, ohne diese jedoch in ihrer Tragweite hinreichend zu erkennen.91 Andererseits – in kultureller Hinsicht – thematisiert Comte das Problem der gesellschaftlichen Integration unter moraltheoretischen Gesichtspunkten. Dabei unterscheidet Comte die mit der ökonomischen Arbeitsteilung korrespondierende geistige Haltung deutlich von der im Kontext des häuslichen Familienlebens entwickelten Gemeinschaftsmoral. Die unter Bedingungen der Arbeitsteilung erforderliche „Moral“ geht insofern über diese hinaus, als sie ein gewisses funktionales Verständnis

85 Ebd., S. 132. Vgl. auch Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen, München 1999, an dessen Überlegungen Comte hier anschließt. 86 A. Comte, Die Soziologie, S. 8f. 87 Ebd, S. 396. 88 Ebd., S. 133. 89 Ebd., S. 131. Vgl. auch Emile Durkheim: Der Selbstmord, Frankfurt a.M. 1990, S. 233, 292. 90 A. Comte, Die Soziologie, S. 132. 91 Diese Schwäche setzt sich im Übrigen bei Durkheim fort, dessen Lebenswerk sich thematisch vom Problem der Arbeitsteilung hin zu einer Analyse der Funktionen der Religion bewegt, ohne den Zusammenhang von Ökonomie, Religion, Politik usw. systematisch auf den Begriff zu bringen. Implizit folgen jedoch beide einem Schema der vergleichenden Betrachtung unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilbereiche. Inwieweit das Problem der Funktionsbestimmung bei Spencer, Parsons bzw. Luhmann eine angemessenere Lösung gefunden hat, sei einmal dahingestellt. 50

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der gesellschaftlichen Zusammenhänge voraussetzt.92 Anhand der Dreiheit von Individuum, Familie und Gesellschaft identifiziert Comte drei quasi entwicklungspsychologisch gedachte Stufen der Moral: Diese „ist zunächst eine individuelle, dann eine häusliche und endlich eine soziale; die erste unterstellt die Erhaltung des einzelnen einer vernünftigen Zucht; die zweite strebt nach einem Übergewicht des Mitgefühls über den Egoismus; die letzte leitet die Gesamtheit unserer Neigungen nach den Anweisungen einer angemessen entwickelten Vernunft und hat immer die Ökonomie der Gesamtheit im Auge, so daß sich alle Kraft unserer Natur nach deren Gesetzen für das gemeinsame Ziel vereinen läßt.“93

Was in diesem Zusammenhang beinahe wie eine normative Forderung klingt, wird an anderer Stelle der Statik methodologisch als „loi de la solidarité universelle“ formuliert: Comtes Prinzip des universellen consensus besagt nichts anderes, als dass alle kulturellen Erscheinungsformen einer bestimmten gesellschaftlichen Epoche durch einen einheitlichen Zeitgeist geprägt sind. Dieser Consensus ist Ausdruck „einer Harmonie, die sich zwischen dem Ganzen und den Teilen des sozialen Systems zu bilden sucht. Nicht nur die politischen Einrichtungen auf der einen Seite und die Sitten und Ideen auf der anderen sind immer solidarisch, sondern sie verknüpfen sich auch mit der entsprechenden Entwicklung der Menschheit, sowohl ihrer geistigen wie moralischen und physischen Wirkung nach.“94

Comte vertritt hier eine der Diskursanalyse Foucaults durchaus verwandte Auffassung.95 Während sich die kulturellen Phänomene in rein materieller Hinsicht natürlich grundlegend voneinander unterscheiden – eine Stechuhr ist keine Zwangsjacke, eine Klinik kein Gefängnis – gilt in geistiger Hinsicht:

92 An dieser Stelle streift Comte geradezu ein ganzes Bündel gesellschaftstheoretischer Probleme, die sich – in Begriffen von Herbert Spencer – auf den Zusammenhang von Differenzierung und Integration beziehen lassen. Es scheint hier nicht nur bereits die spätere Fragestellung der durkheimschen Arbeitsteilungsstudie durch, sondern auch die tönnissche Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft sowie die habermassche Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt. 93 A. Comte, Die Soziologie, S. 136, vgl. auch S. 508ff. 94 Ebd., S. 85. 95 Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973. In diesem Zusammenhang ergibt auch das vielzitierte provokante Bekenntnis Foucaults zum „fröhlichen Positivismus“ einen besonderen Sinn. 51

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„Jedes Element wird als solidarisch mit den übrigen aufgefasst.[...] So stehen alle Wissenschaften und alle Künste in einem solchen Zusammenhang, daß man schon aus der Kenntnis des Zustands eines Teils den Zustand aller übrigen entnehmen kann, und dasselbe gilt, wenn man, statt die sozialen Vorgänge bei einer einzigen Nation zu betrachten, diese bei mehreren Nationen derselben Zeit prüft, wenn auch der Consensus dann weniger erkennbar ist.“96

Der Begriff des Consensus, der die geistige Einheit einer Gesellschaft bezeichnet, bildet daher das Pendant zum Postulat der Ganzheitlichkeit soziologischer Gesellschaftsbetrachtung: „[...] man hat deshalb die verschiedenen sozialen Gebiete gleichzeitig zu betrachten.“97 Zu (b): Das Konzept der geistigen Einheit bildet zugleich auch die Leitidee für die soziale Dynamik, da es die unterschiedlichsten Varianten nebenund nacheinander bestehender Gesellschaftsformen als verschiedene Stadien eines kontinuierlichen Entwicklungsvorgangs zu betrachten erlaubt. Comte bedient sich hiermit eines von Condorcet98 entlehnten „Kunstgriffs“99, der es gestattet, sozialen Wandel zunächst grundsätzlich im Sinne einer inhärenten Logik des Fortschritts zu lesen. Die Geschichte erscheint dann nicht mehr als zufälliges Auf und Ab diverser Kulturformen oder als verschlungenes Gewirre pfadabhängiger Entwicklungsketten, sondern gleichsam als ein evolutionärer Lernprozess. Diskontinuitäten, restaurative Tendenzen sowie Abweichungen vom consensus werden als „Modifikationen“ interpretiert, welche die Gesetze der Dynamik allenfalls verzögern. Die soziokulturelle Entwicklung kann freilich nur in einem sehr abstrakten Sinne als durch derartige Gesetze determiniert – oder besser: beschränkt – gelten. So lässt sich die Evolution bspw. als ein Prozess zunehmender Differenzierung, Rationalisierung bzw. Komplexitätssteigerung verstehen.100 Die inhaltliche Konkretisierung solcher Modelle ge-

96 A. Comte, Die Soziologie, S. 84f. 97 Ebd., S. 89. 98 Vgl. Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, Frankfurt a.M. 1976. 99 W. Fuchs-Heinritz, Auguste Comte, S. 193. 100 Spencer wird diesbezüglich ein universelles Evolutionsprinzip der Entwicklung von einer unzusammenhängenden Homogenität kohärenten Heterogenität postulieren, heute würde man sagen: Evolution produziert Negentropie. Comte vertritt im Übrigen bereits die später durch Herbert Spencer und Ernst Haeckel prominent gewordenen Auffassung, dass die Individualentwicklung die Gattungs- bzw. Kulturentwicklung rekapituliert. A. Comte, Rede, S. 105; G. Wagner, Auguste Comte zur Einführung, S. 49ff. zufolge entlehnt er diesen Gedanken bei Blaise Pascal. Vgl. auch W. Fuchs-Heinritz, S. 123f. 52

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schieht in der Regel mithilfe von Typologien, die es gestatten, verschiedene „Phasen“ der Entwicklung zu unterscheiden.101 Die comtesche Spezifikation schlägt sich in dem bereits mehrfach thematisierten Drei-Stadien-Gesetz nieder, das die Entwicklung des menschlichen Geistes vom „theologischen“ über das „metaphysische“ hin zum „positiven“ Denken beschreibt. Diesen geistigen Stadien werden materielle Korrelate zugeordnet, sodass die Geschichte zugleich als ein Prozess der Ablösung einer „militärischen“ Handlungslogik durch „industrielle“ Kalküle dargestellt wird, wobei Comte eine Zwischenphase konstatiert, bei der es zu einer Vorherrschaft der „Rechtsgelehrten“ kommt. Indem er entlang dieses Interpretationsrahmens das unermessliche Feld der Kulturgeschichte abarbeitet, gelingt es Comte eine Vielzahl soziologischer Ideen einzuknüpfen, die sich größtenteils aus seinem theoretischen Bezugssystem herauslösen und unabhängig davon diskutieren lassen.102 Die (im doppelten Sinne) vollzogene Idealisierung der Geschichte als einer Fortschrittsdynamik des Geistes103 bleibt natürlich historisch unter101 Als moderne Variante einer solchen evolutionären Typologie kann das von Luhmann (in Anschluss an Spencer und Parsons) vertretene dreistufiges Konzept der gesellschaftlichen Differenzierungsformen gelten, das eine Entwicklung von segmentären über stratifizierte hin zu funktional differenzierten Gesellschaften unterstellt. Aus historischer Sicht lassen sich gleichwohl grundsätzlich Einwände gegen derartige Generalisierungen erheben. Hier gilt: Ohne These keine Diskussion! Das Drei-StadienGesetz entspricht im Übrigen im Hinblick auf seine – gewöhnlich als überholt angesehene – entwicklungslogische Formalstruktur den heute noch gebräuchlichen Stufenmodellen der Entwicklungspsychologie im Stile Jean Piagets und Lawrence Kohlbergs. Jean Piaget: Das moralische Urteil beim Kinde, Stuttgart 1983; Lawrence Kohlberg: Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt a.M. 1996. 102 So konstatiert Comte gleichsam nebenher einen historischen Vorgang der Verinnerlichung sozialer Normen, der an den von Norbert Elias herausgearbeiteten „Prozess der Zivilisation“ erinnert. Vgl. Norbert Elias: Der Prozeß der Zivilisation, Frankfurt a.M. 1976. Als begünstigende Parameter des gesellschaftlichen Wandels werden Bevölkerungswachstum und Lebensdauer diskutiert, wobei die gesellschaftliche Etablierung von Innovationen an den Wechsel der Generationen gebunden wird. Comte entwirft unter anderem einen Begriff der „Solidarität zwischen den Generationen“ und kann in diesem Sinne bspw. als Vorläufer heutiger Nachhaltigkeitsdebatten gesehen werden. 103 Comte bewegt sich mit seinem Konzept des geistigen Fortschritts im Rahmen einer breiten Tradition geschichtsphilosophischer Konzepte. Genannt seien nur Condorcet, Herder, Hegel und Lucretius. Obgleich der Vorrang der geistigen vor den materiellen Aspekten in der Gesellschaftstheorie spätestens seit Marx heftig umstritten ist, kann die soziologische Bedeutung kultureller Phänomene auch vom materialistischen Standpunkt aus kaum geleugnet werden. Trotz ihres gedämpften Fortschrittsglaubens verfügt die Soziologie gegenwärtig bezüglich der geisti53

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komplex. Derartige Komplexitätsreduktionen erweisen gleichwohl als hilfreich, sofern sie als Heuristik zur systematischen Erschließung der soziologischen Tatbestände genutzt werden. Anhand des theoretischen Schemas kann dann der Gang der historischen Ereignisse als gestaltgeschlossene „Geschichte“ erzählt werden kann.104 So sehr sie im Detail auch mehr Kritik als Beifall provoziert hat, kann Comtes „soziale Dynamik“ im Hinblick auf die kreative Synthese von Theorie und Geschichtsdeutung in diesem Sinne als paradigmatisch gelten, markiert sie doch den programmatischen Anspruch der Soziologie auf umfassende historische Untersuchungen. Die starke Betonung, die der Begriff des „Geistes“ im comteschen Positivismus erfährt, beinhaltet über die ontologische Funktion hinaus, den gesellschaftlichen Gegenstand somit als Ganzes erfassen zu können, auch autologische Konsequenzen im Hinblick auf das gesellschaftliche Selbstverständnis des Soziologen. Comte zufolge soll der „Gelehrte“ den „Priester“ in der Rolle als Inhaber der „geistigen Gewalt“ ablösen und damit die positivistisch-vernünftige Reorganisation der Gesellschaft einleiten.105 gen Dimension des gesellschaftlichen Lebens über ein breites Spektrum nahezu äquivalenter Begriffe. Zu den Bekanntesten zählen „Kultur“, „Sinn“, „System“, „Deutungsmuster“, „Ideenevolution“ oder „Hegemonie“. Was trotz aller theoriespezifischen Modifikationen bleibt, ist das grundsätzliche Problem, die Wirksamkeit und individuelle Verbindlichkeit des „kollektiven Bewusstseins“ erklären zu müssen (vgl. Kapitel VI, Abschnitt „Kulturelle und institutionelle Mechanismen“). 104 In dieser Hinsicht kann Comtes „Dynamik“ etwa mit Parsons’ beiden Bänden „Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven, Frankfurt a.M. 1975.“ bzw. „Das System moderner Gesellschaften, München 1972.“ verglichen werden, wobei beider je eigene theoretische Heuristik sich in der Darstellung deutlich niederschlägt. Interessant ist auch eine Kontrastierung mit den Arbeiten Max Webers, welche ein inverses Verhältnis von Detailreichtum und theoretischer Systematik zum Vorschein bringt. Dieses Phänomen verweist auf ein tieferliegendes Problem der Geschichtsschreibung, bei der eine gelungene Mischung aus detailgetreuer und quellenintensiver Deskription, komplexitätsreduzierender Geschichtsdeutung und gegenwartsbezogener Lehre gefunden werden muss. Vgl. Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit, München 1996, S. 7ff. In jedem Falle ist eine Grundausstattung an theoretisch-soziologischen Bezugsrahmen erforderlich, um über eine hinreichende Souveränität im Hinblick auf die konstruktive, komparative Verknüpfung so unterschiedlicher Bereiche historischen Wissens wie Religion, Kunst, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft zu verfügen. 105 In dieser Hinsicht ist Prokops Interpretation des comteschen Positivismus als Technokratie irreführend, da es Comte ja nicht primär um eine verwaltungsmäßig-bürokratische Steuerung der Gesellschaft geht. Vgl. Dieter Prokop: Auguste Comte, Massenbewußstsein und praktischer Positivismus, in: A. Comte, Plan, S. 9-32. Eher wäre also ein Vergleich mit Platons Staatsideal eines Herrschaftsreiches der Philosophen angebracht. 54

COMTES KONSTITUTIVES PROGRAMM DER SOZIOLOGIE

Wie im Abschnitt über die positivistische Methode bereits dargelegt wurde, ist die comtesche Konzeption einer geistigen Dynamik insofern autologisch, als die Unterscheidung von theologischem, metaphysischem und positivem Stadium eine wissenschaftsgeschichtliche Einordnung des Positivismus selbst ermöglicht. Die Bezeichnung „Geist des Positivismus“106 (bzw. „Geist der Soziologie“107) ist entsprechend zweideutig. Dieser kann nämlich sowohl als wissenschaftliches Programm als auch im Sinne einer gesellschaftlichen Tatsache verstanden werden. Comte verwendet den Begriff esprit in der Tat in beiden Bedeutungen. So wird der „Geist der statischen Soziologie“108 programmatisch durch den Vorrang des als organisch verstandenen Ganzen vor den Teilen charakterisiert109, während der „Geist der dynamischen Soziologie“110 sich in der Auffassung ausdrückt, „daß man jeden der einander folgenden sozialen Zustände als das Ergebnis des vorangegangenen Zustandes auffaßt“111. Gleichzeitig gibt der „Geist“ aber auch den inhaltlichen Gegenstand von Statik und Dynamik ab. Für die soziale Statik wird wie oben dargelegt im „Consensus“ ein Prinzip zur Erschließung des Zusammenhangs vom gesellschaftlichen Ganzen und seinen Teilbereichen identifiziert, über den sich die „geistigen Einflüsse“112 gleichsam in der Form eines Zeitgeistes bündeln und somit soziologisch erfassen lassen. Und im Hinblick auf die soziale Dynamik wird „die Entwicklung des Geistes als Prinzip der gesamten menschlichen Entwicklung“113 hingestellt, wobei „die materielle Entwicklung gleichen Schritt mit der geistigen zu halten hat“114. Der innere Zusammenhang von positivistischer Haltung und soziologischem Gegenstand, von wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Geist ist indes leicht zu entdecken. Erstens erfordert die postulierte Einheit des Faches nach Auffassung Comtes als Pendant offenbar die Einheit einer gesellschaftlichen Totalität, welche aufgrund der außerordentlichen Komplexität gesellschaftlicher Vorgänge nur als Geist, nicht aber als materieller Kausalzusammenhang gedacht werden kann.115 Der wissenschaft106 107 108 109 110 111 112 113 114 115

A. Comte, Rede, S. 5. A. Comte, Die Soziologie, S. 83. Ebd., S. 90. Ebd., S. 89. Ebd., S. 91. Ebd., S. 91. Ebd., S. 136. Ebd., S. 144. Ebd., S. 160. Ähnlich wird später auch Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a.M. 1981, argumentieren. Da „der soziale Druck über geistige Wege ausgeübt wird“ (S. 288), gibt es „ein Gebiet in 55

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liche Ort der Soziologie lässt sich dann anhand der Einheit ihres Gegenstands identifizieren: Sie ist Ausdruck jener geistigen Kraft, die das positive Zeitalter einleitet und entsprechend gesellschaftliche Reformen in Gang setzt. Zweitens kann eine Reorganisation der Gesellschaft mithilfe der Soziologie nach Einschätzung Comtes realistischerweise nur als geistiger Vorgang einer soziologischen Aufklärung der Gesellschaft konzipiert werden. Die Gesellschaftstheorie muss sich dann praktisch in Form einer allgemeinen gesellschaftlichen Selbstbeschreibung116 auswirken: Sie fungiert als geistige, nicht als materielle Gewalt.117 Sinnstiftend kann die Soziologie in dieser Weise aber überhaupt nur dann wirken, wenn die soziale Praxis auch wirklich grundsätzlich sinnhaft strukturiert ist. Der geistigen Gewalt muss in der Gesellschaftstheorie Vorrang eingeräumt werden können. Die Gewissheit über die gesellschaftliche Gestaltungskraft der Soziologie ergibt sich wiederum aus der Einsicht in ihre historische Bedingtheit: Die geplante Reorganisation der Gesellschaft wird von Comte nicht als ein Prozess externer Steuerung, sondern als interne Dynamik einer geistigen Entwicklung der Menschheit verstanden. Die Soziologie ist Teil der Gesellschaft. Sie besetzt eine bedeutsame gesellschaftliche Position, die sich im Rahmen der sozialen Dynamik historisch und im Rahmen der sozialen Statik strukturell ausweisen lässt. Sowohl die Reflexion des wissenschaft-

der Natur, wo die Formel des Idealismus fast wörtlich genommen werden kann: den sozialen Bereich. Die Idee ist dort, mehr als anderswo, die Wirklichkeit.“ (S. 312) Daher müssten die sozialen Tatsachen durch eine außerhalb der Individuen stehende kollektive Kraft „sui generis“ erklärt werden. Das Thema der Eigenständigkeit eines soziologischen Gegenstandsbereiches berührt übrigens weniger das Problem des scholastischen Universalienstreits bezüglich einer nominalistischen bzw. realistischen Auffassung begrifflicher Hypostasierungen. Es geht also nicht um eine bloße Realitätsunterstellung sozialwissenschaftlicher Kategorien im Sinne der Frage: Gibt es soziale Schichten, Einkommensklassen etc. wirklich? Vielmehr muss in Analogie zur in der philosophischen Logik um 1900 geführten Psychologismusdebatte, in der es um die Objektivität logischer Strukturen ging, die Dinghaftigkeit sozialer Tatsachen begründet werden, indem diese als in einer Art von „Kollektivbewusstsein“ verankerte Sinnstrukturen – als objektiver Geist – aufgefasst werden. (Und hier verbirgt sich dann auch der methodologisch so entscheidende wie häufig missachtete Unterschied zwischen einer Klassifikation und einer Typisierung.) 116 Vgl. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 866ff. 117 Vgl. A. Comte, Plan S. 57f.; ders., Rede, S. 49-54. 56

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lichen als auch des gesellschaftlichen Ortes der Soziologie bedingen bei Comte also eine primär geistige Gesellschaftsauffassung.118

C o m t e s p o s i t i vi s t i s c h e S o z i o l o g i e : Gescheitertes Begründungsprogramm oder F o r m i e r u n g e i n e s k o n s t i t u t i ve n Bezugsproblems? Die soziologische Theorie Auguste Comtes ist von dem expliziten Bemühen um die Klärung von Grundsatzfragen geprägt. Der erhobene Anspruch auf Begründung einer neuen wissenschaftlichen Disziplin Soziologie erfordert die Ausweisung eines separaten Forschungsgegenstandes, den Comte als ein gesellschaftliches „Ganzes“ begreift. Die methodischen Überlegungen zur Beobachtung dieses Ganzen münden in einer holistischen Gesellschaftsauffassung, die sowohl in statischer („consensus“) wie in dynamischer Hinsicht (“Drei-Stadien-Gesetz“) ein einendes geistiges Prinzip zu erkennen meint. Gleichzeitig kann aus diesem idealistischen Verständnis auch eine praktische Legitimation des neuen Faches abgeleitet werden: Die Soziologie fungiert als gesellschaftliche Reflexionsinstanz, wodurch ihr als „geistiger Gewalt“ innerhalb der Gesellschaft eine herausgehobene Rolle zufällt. Comte gelangt gemäß der Konsequenz dieses Gedankens in seiner Spätphase zu einer eigentümlichen religiösen Wendung, welche ihn schließlich dazu treibt, die Rolle des spirituellen Führers und Hohepriesters der Menschheit für sich zu beanspruchen.119

118 In diesem Sinne kann Comtes Positivismus als idealistisch bezeichnet werden. Dieser Idealismus betrifft freilich nicht den hegelianischen Sinn einer Wirklichkeit der Vernunft. Es handelt sich nicht um einen philosophischen, sondern um einen soziologischen Idealismus, der die geistige Formbarkeit des Menschen unterstellt. Diese stellt einerseits die Voraussetzung für eine institutionelle Eigendynamik gesellschaftlichen Sinns dar und eröffnet andererseits die Möglichkeit einer informalen, ideenbasierten Koordination gesellschaftlicher Praxis, bspw. in Form einer ästhetischen Erziehung des Menschen (im Sinne Schillers). 119 Wie konsequent Comte diese Rolle ausübt, lässt sich an folgender Begebenheit ablesen: „1851 stirbt de Blainville, der von Comtes erstem Auftreten an sein Freund, Berater und Förderer gewesen war. An seinem Grabe spricht nach Priestern und Vertretern der Kollegenschaft Comte. Er wirft sich in die Rolle des Hohen Priesters der Menschheit und beurteilt Blainvilles Leben zusammenfassend als mißlungen: Der Verstorbene habe seine Fähigkeiten und Gedanken zu wenig entwickelt im Sinne der positiven Philosophie. [...] Dieser Auftritt Comtes bewirkt einen Skandal.“ W. Fuchs-Heinritz, Auguste Comte, S. 62. 57

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Trotz dieser extravaganten Selbstüberhöhung liefert der Positivismus erstmals eine wissenschaftliche Begründung, die es gestattet, Gesellschaft in einem übergreifenden Sinne als soziologischen Gegenstand aufzufassen. Worin besteht der Unterschied zwischen der Soziologie im Sinne Comtes und den sozialphilosophischen Konzepten der Moral- bzw. Geschichtsphilosophie, wie sie von der Antike bis zur Gegenwart in mannigfachen Variationen entwickelt werden? Traditionell wird die „Ethik“ entsprechend der antiken Trias des „Guten, Wahren und Schönen“ als philosophischer Gegenstand neben „Erkenntnistheorie“ und „Ästhetik“ gestellt. Nicht zuletzt im Anschluss an Kant versteht die „praktische Philosophie“ daher Themen der sozialen Praxis vorzugsweise als moralische Fragen. Diese philosophische Moralisierung des Sozialen bedeutet soziologisch gesehen eine enorme Beschränkung der Perspektive. Überdies werden dadurch die gesellschaftliche Bedingtheit ästhetischer Urteile sowie die soziale Dimension jeglichen Wissens systematisch ausgeblendet. Die Geschichtsphilosophie betrachtet die gesellschaftlichen Verhältnisse zwar bereits unter strukturellen Gesichtspunkten, konzentriert sich dabei jedoch jeweils einseitig auf religiöse, politische oder ökonomische Aspekte. Der deutsche Idealismus hatte die gesellschaftliche Ordnung bspw. vom Staat her begriffen.120 Der theoretisch eher nachrangige Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft“ wurde an eine konkrete historische Situation gebunden, die damit selbst als das „Ende der Geschichte“ erscheinen musste. Das Verhältnis von Politik und Recht, Kunst und Wirtschaft, Wissenschaft und Religion konnte im Rahmen der Rechtsphilosophie allerdings nicht systematisch reflektiert werden. Ein Relikt dieser philosophischen Tradition mag das Phänomen sein, dass man die moderne Gesellschaft je nach Kontext als Rechtsstaat, Marktwirtschaft, Wissensgesellschaft, Demokratie usw. bezeichnet, während mit „die Gesellschaft“ – wie man an Formulierungen wie „Politik und Gesellschaft“, „Wirtschaft und Gesellschaft“ oder “Wissenschaft und Gesellschaft“ sieht – zugleich immer noch „das Andere“ gemeint sein kann. Sozialwissenschaftliche Diagnosen werden im akademischen Diskurs entsprechend in einem etablierten Spektrum zwischen politischer Ökonomie, Rechtswissenschaft und Geschichte eingeordnet, sodass sich der Eindruck ergibt, sie beträfen lediglich spezifische Nebenfolgen des politisch-ökonomischen Tagesgeschäfts.

120 Vgl. Johann G. Fichte: Ausgewählte politische Schriften, Frankfurt a.M. 1977; G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Stuttgart 1981. 58

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Die Besonderheit des comteschen Positivismus liegt demgegenüber darin, die „Soziologie“ im Wissenschaftssystem direkt neben Physik, Chemie und Biologie zu platzieren. Sie wird damit als eigenständige Disziplin begründet und zu einer umfassenden Grundlagenwissenschaft erklärt. Staat, Markt, Religion und Wissenschaft – alle gesellschaftlichen Phänomene sind grundsätzlich Bestandteil des soziologischen Gegenstandsbereichs. Aufgabe der Gesellschaftstheorie wäre es demnach, vor dem Hintergrund eines umfassenden Gesellschaftsbegriffs den Zusammenhang zwischen diesen einzelnen Teilbereichen überhaupt erst systematisch zu erhellen. In diesem programmatischen Sinne gab es vorher keine Soziologie! Kann die philosophie positive aber wirklich als das für das Fach Soziologie konstitutive Programm angesehen werden? Tatsächlich übernimmt die gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstehende wissenschaftliche Disziplin – wenn auch murrend121 – als Selbstbezeichnung zwar die von Comte eingeführte Wortschöpfung „Soziologie“. Die positivistische Theorie selbst erlangt dagegen niemals auch nur ansatzweise den offiziellen Status einer soziologisch verbindlichen Verfassung. Obgleich vielfach der außerordentliche Einfluss betont wird, den der Positivismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf die neu entstehenden Sozialwissenschaften122, die Naturwissenschaften123 und das moderne Weltbild im Allgemeinen124 gehabt haben soll, bleibt Comte die gebührende Anerkennung versagt. In italienischen Sozialforschung des beginnenden 20. Jahrhunderts, wo der Positivismus angeblich als vorherrschendes Paradigma wirkt125, beruft man sich weder auf Comte noch folgt man seinen Argumenten. Die Gründerväter der amerikanischen Soziologie hatten sich zwar noch explizit auf Comte (und Spencer) gestützt126, dies führte jedoch in der zweiten Generation zu einer umso entschiedeneren Diskreditierung jeglicher soziologischen Systementwürfe, die bereits im Pragmatismus 121 Vgl. Herbert Spencer: The Principles of Sociology 1, Honolulu 2004, S. ix. 122 Vgl. Igor Kon: Der Positivismus in der Soziologie, Berlin 1968. 123 Vgl. etwa zur Bedeutung des Cours für die Entwicklung der französischen Biologie Georges Canguilhem: Auguste Comtes Philosophie der Biologie und ihr Einfluß im Frankreich des 19. Jahrhunderts, in: Wolf Lepenies (Hg.): Geschichte der Soziologie, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1981, S. 209-226. 124 Vgl. M. Bock, Soziologie als Grundlage des Wirklichkeitsverständnisses; B. Plè, Die „Welt“ aus den Wissenschaften. 125 Vgl. T. Parsons, The Structure of Social Action, Bd. 1; Y. Bernart, Der Beitrag des erfahrungswissenschaftlichen Positivismus in der Tradition Auguste Comtes zur Genese der Soziologie, S. 193-222. 126 Für die comtesche Tradition steht vor allem Lester F. Ward: Dynamic Sociology, New York 1883. 59

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(Peirce, James) zu offener Polemik gegen Comte führt. Spätestens mit der endgültigen akademischen Etablierung der Soziologie nach Ende des ersten Weltkriegs ist eine ablehnende Haltung gegenüber Comte die vermutlich einzige innerhalb des Faches allgemein geteilte Auffassung, sodass nicht einmal mehr eine sachliche Auseinandersetzung mit dessen Werk stattfindet. Wo Comte daher zentrale Leitideen und Themen späterer soziologischer Theorien vorweggenommen hat, bezeugt dies womöglich eher seinen Sinn für denkbare soziologische Konzepte. Er mag – wenn er überhaupt gelesen wurde – allenfalls unbewusst zur Nachahmung und thematischen Vertiefung angeregt haben, sei es in seinen Bemerkungen über die fundamentale Rolle der Religion und insbesondere des Protestantismus für die Genese der europäischen Zivilisation, sei es im Hinblick auf Fragen der Arbeitsteilung und der geistig-moralischen Integration der Gesellschaft oder sei es in Bezug auf das in der Soziologie so verpönte wie unentbehrliche Entwicklungsschema gesellschaftlichen Wandels. Den Nachweis auf eine geistige Urheberschaft Comtes zu erbringen, dürfte allerdings schwer fallen. Wenn es eine heimliche Wirkung Comtes gibt, dann am ehesten in Bezug auf die grundsätzliche Etablierung eines wissenschaftlichen Forschungsanspruchs der Sozialwissenschaften. Die comteschen Lösungen einer ganzheitlichen Auffassung des gesellschaftlichen Gegenstandes als geistiger Einheit (a) sowie einer sich mit dem Anspruch auf grundlegende gesellschaftliche Reformen verbindenden Selbstbestimmung der Soziologie als geistiger Gewalt (b) bleiben dagegen unbefriedigend. a) Zwar lässt sich die Soziologie kaum ohne zugehörigen Gegenstand begreifen. Die Hypostasierung einer geistigen Totalität zieht jedoch andererseits reflexartig den Vorwurf einer Verdinglichung sozialer (Herrschafts-)Verhältnisse nach sich, die in Verleugnung der menschlichen Handlungs- und Gestaltungsfreiheiten als unabänderlich hingestellt würden.127 Zudem scheint eine Relativierung des Postulats der geistigen Einheit auch deshalb erforderlich, um der kulturellen Vielfalt und Komplexität sozialer Ereignisse und Strukturen innerhalb der gesamten soziologischen Forschungslandschaft überhaupt ansatzweise gerecht werden zu können.128 Die Spezialisierung der Forschungstätigkeit in Richtung einzelner „Bindestrichsoziologien“ erzwingt darüber hinaus eine Differenzierung des Gegenstandes, zumal die entsprechend praxisorientierte und konkrete Forschungsperspektive hier ohnehin die materiellen Kontextbe-

127 Vgl. Paul Kellermann, Kritik einer Soziologie der Ordnung. 128 Vgl. Gregor Matjan: Auseinandersetzung mit der Vielfalt. Politische Kultur und Lebensstile in pluralistischen Gesellschaften, Frankfurt a.M./New York 1998; G. Wagner, Auguste Comte zur Einführung, S. 106. 60

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dingungen sozialer Strukturgefüge stärker in den Vordergrund rückt.129 Dabei gehen die Vorteile einer praxisnahen Problembestimmung tendenziell auf Kosten einer methodologischen Sensibilität bezüglich der (ontologischen) Definition des Forschungsgegenstandes. b) Obgleich die gesellschaftliche Relevanz der Soziologie nicht zu leugnen ist – oder dies innerhalb der akademischen Welt jedenfalls niemandem ansteht –, so muss es doch als überzogen erscheinen, wenn die Soziologie gegenüber der Gesellschaft explizit eine geistige Führerschaft beansprucht. Soziologische Diagnosen üben schließlich nur soweit Einfluss auf den Geist der Zeit aus, wie sie umgekehrt von diesem geprägt sind. Der Versuch, aus gesellschaftstheoretischen Modellen praxisrelevante „Werturteile“ abzuleiten, muss deshalb durchweg als ideologieverdächtig erscheinen und gefährdet daher den wissenschaftlichen Charakter soziologischer Forschung. Zudem kann von einer einheitlichen, allgemeinverbindlichen Selbstbeschreibung der Gesellschaft selbst innerhalb der Soziologie kaum die Rede sein. Die Relevanz soziologischen Wissens scheint sich eher an der problemspezifischen Passgenauigkeit wissenschaftlicher Expertisen und professioneller Beratungstätigkeiten zu bemessen. Dies lässt die Legitimation theorieorientierter Forschungsarbeit fraglich erscheinen und beeinträchtigt überdies die (autologische) Einheit des Faches. Das comtesche Programm einer Autologie/Ontologie des Geistes scheitert somit in seiner Intention, der Soziologie eine verbindliche Grundlage zu verschaffen, auf ganzer Linie. Gleichzeitig bleibt das zugrundeliegende Problem mangels Alternativen aber ein latenter Reibungspunkt für vielfältige methodologische und moralische Auseinandersetzungen.130 Wenn es keine geistige Totalität gibt, was ist dann der Gegenstand der Soziologie? Wie lässt sich Sozialität wissenschaftlich erfassen? Ist der Soziologe zur Neutralität verpflichtet oder trägt er gesellschaftliche Verantwortung? Wozu (und wem) dient die Soziologie und welches sind ihre geistigen Hintergründe? Das zwischen den beiden Polen „Autologie“ und „Ontologie“ generierte Spannungsfeld verschafft dem soziologischen Diskurs mithin einen unerschöpflichen Vorrat an Treibstoff. Von einem konstitutiven Programm der Gesellschaftstheorie kann insofern dann gesprochen werden, wenn sich genetisch aufzeigen lässt, wie sich die Identität des Fa129 Comte weist ausdrücklich darauf hin, dass er diese „besonderen“ und „praktischen“ Bereiche der Wissenschaften, die er durchaus anerkennt, vorerst ausklammern muss, um sich zunächst der „allgemeinen“ und „theoretischen“ Soziologie zu widmen. A. Comte, Die Soziologie, S. 21. 130 Ähnlich Johannes Weiß: Tabula Rasa. Auguste Comte und der soziologische Suprematismus, in: Sociologia Internationalis, Bd. 40, H. 1, 2002, S. 73-83. 61

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ches an den beiden gesellschaftstheoretischen Fragen der Autologie bzw. Ontologie gleichsam auskondensiert. Dazu gilt es nun den autologischen und ontologischen Momenten soziologischer Theorien im Einzelnen nachzugehen.

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III Z W I S C H E N S O Z I O L O G I S C H E R A U F K L ÄR U N G U N D S O Z I AL T E C H N O L O G I E : D AS AU T O L O G I S C H E M O M E N T D E R G E S E L L S C H AF T S T H E O R I E

Soziologie und wissenschaftliches S e l b s t ve r s t ä n d n i s Eine der simpelsten Begründungsstrategien für die Berechtigung soziologischer Forschung besteht in der Berufung auf die Freiheit der Wissenschaft. Ähnlich wie die Kunst gehört die Wissenschaft dem modernen Weltbild zufolge zu den kulturellen Eckpfeilern des gesellschaftlichen Wertesystems. Sie verdient es daher, uneingeschränkt gefördert zu werden. Allein wenn sie als Selbstzweck betrieben wird, kann die Forschung der Wahrheitsfindung dienen. Nur so wirft sie ihre saftigen Früchte ab, stellt uns ein aufgeklärtes Weltbild bereit und erlaubt jenen unverstellten Blick auf die Realität1, der allein eine rationale Orientierung der Praxis ermöglicht. Die Effektivität der ökonomischen Befriedigung von Bedürfnissen wird in der modernen Gesellschaft wesentlich durch die Innovationskraft der Technik garantiert. Die Basis hierfür stellt eine nachhaltige wissen-

1

So heißt es bei Spinoza: Die Ethik, Stuttgart 1997, S. 488ff. (Teil IV, Lehrsatz 26): „Quicquid ex ratione conamur, nihil aliud est, quam intelligere; nec Mens, quatenus ratione utitur, aliud sibi utile esse judicat, nisi id, quod ad intelligendum coducit.“ (Alles das, wonach wir aus Vernunft streben, ist nichts anderes als das Erkennen; und der Geist beurteilt, insofern er von der Vernunft Gebrauch macht, nur das als für ihn nützlich, was zum Erkennen führt.) 63

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schaftliche Infrastruktur und ein leistungsstarkes Bildungssystem dar. Die Prinzipien einer fortschrittlichen Technik fußen auf der kühl-nüchternen Geisteshaltung einer distanziert-objektiven Perspektive, deren Voraussetzung wiederum eine systematische Entbindung von normativen und subjektiven Weltbezügen ist. Diese hat zur Folge, dass das wissenschaftlich generierte Wissen sich allein am Geltungsanspruch der Wahrheit zu bewähren hat: Die wissenschaftliche Kommunikation kann sich unter diesen Umständen strukturell am Code wahr/unwahr ausrichten. Zur Konzeption eines Forschungsprojektes genügt es daher in der Regel, aus der Existenz eines leidlich zugänglichen Gegenstandes die Berechtigung für einen wissenschaftlichen Bedarf an dessen Erforschung abzuleiten: Der Forschungsantrag kann dann ordnungsgemäß bearbeitet werden. Das Kriterium der praktischen Relevanz lässt sich hingegen häufig mit vagen Andeutungen abspeisen. Als Hauptargument gilt der Status quo.2 Wenn die Soziologie auf diese Linie einschwenkt, stellt sie sich schutzsuchend in den Schatten ihrer Mutter – der Wissenschaft –, um im verwaltungstechnisch zivilisierten Verteilungskampf öffentlicher Forschungsmittel geduldig den Finger zu heben und so einige bescheidene Krumen des begehrten Kuchens abzufassen. Indessen dient die an den Universitäten geforderte Akquirierung von Drittmitteln nicht lediglich einer Aufbesserung des Etats, sondern wird auch als Indikator für einen gelingenden Theorie-Praxis-Transfer des Wissens interpretiert. Anwendungsorientierte Probleme werden ohnehin in den darauf spezialisierten Unternehmen gelöst. Deren Nachfrage gegenüber den Hochschulen richtet sich vor allem auf praxistauglich ausgebildetes Fachpersonal. Die Forschungstätigkeit erfolgt dagegen größtenteils im Geheimen. Ökonomisch verwertbare Ergebnisse werden heute eher patentiert als publiziert. In der professionellen Praxis des modernen Wissenschaftsbetriebs gehen objektiver Erkenntnisanspruch und instrumenteller Gegenstandsbezug daher Hand in Hand. Der Wille zum Wissen verbindet sich mit dem selbstbewussten Pathos der gesellschaftlichen Bedeutsamkeit. Der historische Zusammenhang von mathematisch-naturwissenschaftlichem Weltbild und bürokratisch verwalteter Industriegesellschaft ist nun von philosophischer Seite auf das Schärfste kritisiert worden. Durch die Symbiose von objektivierendem Blick und instrumenteller Vernunft sei es zu einer Ontologisierung der Natur gekommen, durch die das Welt-Verhältnis des Menschen nachhaltig beschädigt worden wäre.3 Hin2 3

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Vgl. Niklas Luhmann: Status quo als Argument, in: Horst Baier (Hg.): Studenten in Opposition, Bielefeld 1969, S. 72-81. Vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 1996.

ZWISCHEN SOZIOLOGISCHER AUFKLÄRUNG UND SOZIALTECHNOLOGIE

ter der vermeintlichen Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnisse ständen materielle Interessen.4 Die moderne Wissenschaft diene der Legitimation gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse und ließe sich daher als Teil einer übergreifenden bürgerlich-kapitalistischen Ideologie begreifen.5 Die wissenschaftsphilosophische Kritik an den unreflektierten Prämissen zeitgenössischer Forschungsmethoden und Theorien beinhaltet zugleich eine Kritik der Gesellschaft selbst. Mittels einer „genealogischen“ Methode lässt sich die historische Genese der vermeintlich absolutgültigen Wissens- und Moralvorstellungen aufzeigen. Dies relativiert alle impliziten Wesensannahmen des modernen Weltbildes und erschüttert somit die selbstverständlichen Gewissheiten des „okzidentalen Rationalismus“. Das philosophische Projekt der Moderne6, welches einst unter dem Deckmantel der Kritik gestartet war, verwandelt sich dabei unter der Hand selbst zum „Mythos der Aufklärung“. Es gerät zum Bestandteil einer dunklen Macht der „Kulturindustrie“.7 Anstelle der positiven Vision einer wissenschaftlich begründeten Vernunft, wie sie das positivistische Programm Comtes systematisch zu realisieren versucht hatte und die zur heimlichen Religion eines Zeitalters der Technik und der Technokratie geworden war, kann augenscheinlich nur noch eine negative Haltung aufrechterhalten werden. Diese sucht indes den falschen Schein zu entlarven, ohne ihm doch selbst entfliehen zu können.8 Zum programmatischen Ziel der poststrukturalistischen Kritik wird die „Subversion“ des Wissens.9 Insbesondere der Gesellschaftswissenschaft fällt dabei die Aufgabe zu, die gesellschaftlichen Bedingungen der Wissenschaft (also ihrer selbst) zu reflektieren und somit der naiv-affirmativen Einfügung in die vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse – genannt „traditionelle Theorie“ – eine reflexiv-hinterfragende Grundhaltung – genannt „Kritischen Theorie“ – entgegenzusetzen.10 Die Soziologie ist von dieser Problemlage gleich doppelt betroffen. Als wissenschaftliche Disziplin wird sie einerseits von der philosophischen Wissenschaftskritik selbst tangiert. Als prekärer Bestandteil der mo4 5

Vgl. Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a.M. 1968. Vgl. Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt a.M. 1968. 6 Vgl. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985. 7 Vgl. Theodor Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1988. 8 Vgl. Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst, Frankfurt a.M. 1984. 9 Vgl. Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1978. 10 Vgl. Max Horkheimer: Traditionelle und Kritische Theorie, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1988, S. 165-225. 65

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dernen Gesellschaft gehört die Wissenschaft andererseits zu ihrem Gegenstandsbereich und gilt in ihren sozialen Dimensionen erforscht zu werden. Mit anderen Worten: Als Gesellschaftswissenschaft muss die Soziologie sich gleichermaßen wissenschaftlich ausweisen und überdies Auskunft über die gesellschaftlichen Bedingungen der Wissenschaft selbst geben können. Eine Theorie der Gesellschaft wird dann gleichsam mit dem Anspruch konfrontiert, sich selbst zu erklären. Ihr erwächst ein autologisches Bezugsproblem. Daher werden in der Soziologie bspw. der Werturteils- oder der Positivismusstreit selbst als wissenschaftliche Debatten geführt. Die von einigen beanspruchte Neutralität der Soziologie gegenüber politischen Inhalten und das Ideal der Reinheit wissenschaftlicher Forschung sind nämlich nicht nur aus ethischen, sondern aus genuin soziologischen Gründen fragwürdig. Die unter affirmativem Bezug auf gesellschaftlich etablierte Deutungsmuster unterstellte Rolle der Wissenschaft als Instanz der Rationalität ist unmittelbar mit einer Idee der scientifisch interpretierten Aufklärung verknüpft, die mit der Machtphantasie einer technischen Herrschaft über die Natur einhergeht. Der damit verbundene instrumentelle Objektbezug wird im Falle der Sozialwissenschaften unter der Hand zur Technokratie. Eine gesellschaftlich derart etablierte Wissenschaft bildet – dem wohlwollenden Verständnis des akademischen Establishments zufolge – zwar den einzig möglichen Gegenpol zur fundamentalistischen Ideologie einer politisch oder religiös motivierten Dogmatik. Die Erwartung einer wissenschaftlich verbürgten Sozialtechnologie kann gleichwohl ihrerseits als Ideologie verstanden werden, die eine extreme Ausprägung in Form der totalitären Bürokratie sozialistischer „Organisationsgesellschaften“11 angenommen hat. Sie bildet in jedem Falle ein zentrales Moment des historischen Selbstverständnisses moderner Gesellschaften. Die soziologische Forschungspraxis scheint auf dieses (scheinbare) Problem allerdings nach dem Muster der Evolution schlechthin zu reagieren: mit Differenzierungsprozessen.12 Zum einen entstehen mit der Wissens- und der Wissenschaftssoziologie spezielle Bindestrich-Soziologien, die sich der Sache als eines speziellen Gegenstandes annehmen: Obgleich Wissenschaftsforschung gewissermaßen eine Forschung zweiter Ordnung darstellt, lässt sie sich auf diese Weise nach den gleichen Routinen betreiben wie andere Forschung auch. Wissenschaftssoziologen wun11 Vgl. Detlef Pollack: Das Ende einer Organisationsgesellschaft. Systemtheoretische Überlegungen zum Umbruch in der DDR, in: Zeitschrift für Soziologie 19, 1990. S. 292-307. 12 Vgl. Armin Nassehi: Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2003, S. 311. 66

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dern sich dann, wenn sie von ihren vermeintlichen Kollegen misstrauisch beargwöhnt werden.13 Zum anderen kommt es zu einer deutlichen Distanzierung von den naturwissenschaftlichen Erkenntnisidealen. Im Anschluss an Dilthey unterscheidet man zunächst zwischen Geistes- und Naturwissenschaften – bzw. im englischsprachigen Raum: zwischen science und humanities. Später formieren sich die Sozialwissenschaften weitestgehend zu einem eigenständigen Bereich.14 Auch wenn die Systematik dieser Differenzierung nie ganz deutlich wird, genügt die architektonische Statik des modernen Wissenschaftsgebäudes doch offenbar dem Druck der philosophischen Kritik, indem sie ihn in hinreichend kleinen Portionen auf ihre einzelnen Abteilungen verteilt. So ist die Geschichtlichkeit der Wissenschaft heute zu einem unhintergehbaren Moment der Selbstbeschreibungen des Wissenschaftssystems geworden. Die dadurch permanent drohende Grundlagenkrise wird aber strukturell geschickt aufgefangen, indem die Geschichtlichkeit an wissenschaftshistorische Sonderstellen delegiert wird, wobei die Geschichte eines Faches teilweise von historisch gar nicht ausgewiesenen Fachwissenschaftlern betreut wird. Die Fächer selbst reagieren auf den historischen Anspruch vor allem durch die Benennung ihrer Objekte mit den Namen großer Personen der Fachgeschichte. Die Normalwissenschaft begegnet der wissenschaftsphilosophisch drohenden Kritik somit durch das Alibi der Errichtung von Denkmalen, die gleichsam einer Versteinerung des historischen Stachels dienen. Was an philosophischen Fragen übrigbleibt, kann dann an Moralkommissionen und Stellen für angewandte Ethik verwiesen und bürokratisch ausgesessen werden. Überhaupt steht es damit grundsätzlich in Frage, ob die vermeintliche gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft sich im Wesentlichen auf die Naturwissenschaften im engeren Sinne beschränkt. Und es bleibt offen, ob es für die Sozial- und Geisteswissenschaften diesbezüglich ein alternatives Modell geben könnte. Die – in ihrer Gründerzeit noch stark historisch ausgerichtete – Soziologie manövriert diesbezüglich zunächst deutlich im Windschatten der akademischen Debatten über Sinn und Zweck der Geschichtswissenschaften, die sich in Deutschland mit Namen wie Schiller, Ranke, Nietzsche und Lamprecht verbinden. Wenn ein gesellschaftlicher Bedarf an sozialwissenschaftlichem Wissen reklamiert wird, muss es jedenfalls eine implizite Vorstellung darüber geben, wie dieses Wissen in die Praxis transferiert werden soll. Auch dieses in der 13 Vgl. Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a.M. 2002. 14 Vgl. Hans Freyer: Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie, Leipzig 1928; ders.: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Leipzig/Berlin 1930. 67

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Gründungszeit der Soziologie beharrlich mitschwingende Thema induziert ein autologisches Moment soziologischer Theorien. Im Durchgang durch exemplarische Vertreter und Traditionslinien des Fachs sollen im Folgenden deren diesbezügliche Standpunkte rekonstruiert und die Ergebnisse anschließend systematisch miteinander konfrontiert werden. Wie sich zeigt, lassen sich die implizit in Anwendung gebrachten Modelle, welche zur Erklärung der praktischen Wirksamkeit der Soziologie dienen und das Fach somit gesellschaftlich legitimieren, auf zwei idealtypische Varianten zurückführen. Erstens kann die Wirkung der Soziologie im Sinne einer soziologischen Aufklärung konzipiert werden. Firmiert die moderne Wissenschaft seit dem 17. Jahrhundert zugleich als Weltanschauung, so reklamiert die Soziologie vor diesem Hintergrund nun ein Monopol auf gesellschaftliche Selbstdeutung. Soziologie tritt dann als „Volksphilosophie“ auf. Indem sie ihre allgemeinen Konzepte und Ideen in die breitere Öffentlichkeit trägt, reduktionistische Ideologien enttarnt und zur Bildung eines kritischen gesellschaftlichen Bewusstseins anregt, fördert sie die individuellen Autonomiepotentiale und leistet damit einen gesellschaftlich funktionalen und gleichzeitig humanistischen Beitrag. Die – nicht zuletzt pragmatisch bedingte – Einengung der gesellschaftlichen Geschicke auf den Operationsbereich weniger elitärer Kreise wird so tendenziell in Richtung einer weiteren, „zivilgesellschaftlichen“ Peripherie ausgedehnt. Zumindest soll nach dem Verständnis einiger Vertreter einer solchen „demokratischen“ Konzeption die Legitimität gesellschaftlicher Institutionen über die sachlich-technische Funktionalität hinaus an soziale Kriterien der kommunikativen Bewährung gebunden werden. Ein offensiv aufklärerischer Anspruch dieser Art ist typisch für frühe Begründungsversuche der Soziologie und gerät mit der akademischen Etablierung des Faches als universitärer Disziplin tendenziell in Verruf, ohne damit jedoch gänzlich aufgegeben zu werden. Zweitens kann der Wissensexport aus der Soziologie in Anlehnung an die etablierten naturwissenschaftlichen Disziplinen nach dem Muster einer Sozialtechnik konzipiert werden. Mithilfe soziologischen Wissens soll in diesem Falle eine Steuerung gesellschaftlicher Institutionen ermöglicht werden. Das entsprechende technokratische Verständnis sozialer Ordnungen zieht allerdings den Vorwurf der Kritischen Theorie auf sich, die Autonomie der Individuen zu untergraben und in affirmativer Weise den bestehenden Herrschaftsstrukturen zu dienen, indem an sich kontingente soziale Arrangements künstlich verdinglicht werden. Auch der Anspruch einer sozialtechnischen Kontrolle wird daher heute in der Soziologie nicht mehr explizit erhoben, wenngleich er als implizites

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Deutungsmuster soziologischen Erkenntnisinteresses bei der Konzipierung von Forschungsprojekten stets präsent bleibt.

Fortschrittsoptimismus und G e s t a l t u n g s a n s p r u c h i n d e r vo r a k a d e m i s c h e n Soziologie Im Alter von knapp vierzig Jahren beschließt ein den Sozialwissenschaften bisher nur indirekt nahestehender Mann, sein Leben fortan ausschließlich der Soziologie zu widmen. Der Quereinsteiger kann sich für seinen Plan, in einem Dutzend Bände ein umfassendes gesellschaftstheoretisches Gesamtkonzept vorzulegen, auf umfangreiche Vorüberlegungen stützen, die er im Laufe von zwei Jahrzehnten in Form unzähliger Notizen in einem gigantischen System von Zettelkästen geordnet hat. Die konzipierte Großtheorie soll Bücher zu allen wesentlichen Kulturbereichen wie Wirtschaft, Politik, Recht, Familie, Erziehung, Wissen, Religion und Kunst beinhalten. Aufgrund des vorzeitigen Todes bleibt das Theorieprojekt unvollendet, einige Bände werden noch aus dem Nachlass herausgegeben. Trotz der weiten Verbreitung seiner Schriften, die beachtliche Auflagenstärken erreichen, und einer gewissen populären Prominenz des Autors wird sein Werk innerhalb der akademischen Fachwelt nie systematisch rezipiert – man verwehrt sich gegenüber jeglichen großtheoretischen Anmaßungen. Es bleibt daher – abgesehen von einem gewissen prägenden Effekt im Hinblick auf das gesellschaftliche Bild der Soziologie außerhalb der gebildeteren Kreise – langfristig gesehen wirkungslos. Die Rede ist hier nicht, wie man vielleicht meinen könnte, von Niklas Luhmann, sondern von F. Müller-Lyer (1857-1916), dem Münchner Monisten und unabhängigem Privatgelehrten. Bereits der Name gibt einige Rätsel auf, steht F. doch für einen uneinheitlichen Gebrauch des Vornamens Franz, Franzxaver bzw. Franzcarl. Auch die Herkunft des Namenszusatzes Lyer bleibt weitestgehend ein Geheimnis. Daher konkurrieren eine englische und eine deutsche Sprechweise miteinander, wenngleich es Quellen gibt, die nach Frankreich verweisen, wo der frühere „Dr. F. C. Müller“ mit einer gewissen Mademoiselle Lyer bekannt gewesen sein soll.15 Interessant ist der in der Soziologie heute nahezu unbekannte Müller-Lyer aber vor allem als Autor eines übergreifenden soziologischen Forschungskonzepts, welches die unterschiedlichen Teilbereiche der So-

15 Vgl. Sigrid Curth: Soziologie als Programm sozialer Reform, Marburg 1984, S. 7. 69

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ziologie in einen systematischen Gesamtzusammenhang integriert, um darüber eine theoretisch kontrollierbare Fülle empirischer Zugänge zum gesellschaftlichen Gegenstand gewinnen zu können. Dabei vertritt MüllerLyer den bemerkenswerten Anspruch, das derart gewonnene soziologische Wissen in allgemeinverständlicher Weise darzustellen und damit offensiv in eine gesellschaftsweit vermittelbare „Volksphilosophie“ übersetzen zu wollen. Müller-Lyer geht es damit nicht nur um eine konkrete Theorie der Gesellschaft als solche. Er will vielmehr das Fach Soziologie als systematische Forschungspraxis etablieren, die ihre Einheit nicht zuletzt aus der Idee ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit gewinnen soll. Das Konzept einer solchen Soziologie darf deshalb als typische Variante der theoretischen Entfaltung des autologischen Moments der Gesellschaftstheorie gelten, die sich bei Müller-Lyer gewissermaßen in Reinform studieren lässt. Das soziologische Werk des ursprünglich als Arzt praktizierenden und als Psychologe bekannt gewordenen Müller-Lyer – man spricht in der Wahrnehmungspsychologie auch heute noch von der sogenannten „Müller-Lyer-Täuschung“ – umfasst die auf dreizehn Bände konzipierte Reihe „Die Entwicklungsstufen der Menschheit. Eine systematische Soziologie in Überblicken und Einzeldarstellungen“, sowie eine parallel angelegte Serie zur angewandten Soziologie. Während von dieser zu Lebzeiten lediglich ein Buch zur „Soziologie der Leiden“ erscheint, wurden die ersten sieben Bände der „Entwicklungsstufen“ tatsächlich publiziert.16 Bereits der Titel des einleitenden Bandes „Der Sinn des Lebens und die Wissenschaft“17 verrät das wissenschaftliche Selbstverständnis und den gesellschaftlichen Anspruch Müller-Lyers. Wie der Fortschritt der Naturwissenschaften mittels technischer Errungenschaften die zunehmende Beherrschung der Natur ermöglicht hat, soll die Soziologie dem Menschen nun zur „Kulturbeherrschung“ verhelfen: Mit „die Wissenschaft“ ist letztlich die Soziologie gemeint. Das soziologische Wissen kann Müller-Lyer zufolge vor allem über die Institutionen der Erziehung und der Bildung in die gesellschaftliche Praxis einfließen. So heißt es im typisch euphorischen Tonfall:

16 Vgl. Franz Müller-Lyer: Die Entwicklungsstufen der Menschheit, München 1908-1924; ders.: Soziologie der Leiden, München 1914. Letzteres Werk stand Pate für das gleichnamige Vorhaben des Freimaurers Settembrini in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“. Etliche Manuskripte aus dem Nachlass, der sich in der Münchner Staatsbibliothek befindet, sollen in der Zeit des Nationalsozialismus verlorengegangen sein. Vgl. S. Curth, Soziologie als Programm sozialer Reform, S. 38. 17 Vgl. Franz Müller-Lyer: Der Sinn des Lebens und die Wissenschaft. Grundlinien einer Volksphilosophie, München 1910. 70

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„Und wie das 19. Jahrhundert durch die Naturwissenschaft gekennzeichnet war, so wird der Ausbau der Kulturwissenschaft, der Soziologie, mit aller Wahrscheinlichkeit die große Tat des 20. Jahrhunderts werden. Erfreulicherweise wendet sich auch der Geschmack der gebildeten Lesewelt (wie die Statistik zeigt) allmählich von der bloß unterhaltenden Lektüre ab, und immer stärker tritt das Bedürfnis nach wissenschaftlicher Aufklärung hervor. Ja die Wissenschaft verdrängt (bis zu einem gewissen Grad natürlich!) die Poesie; denn die bedeutsamen Fragen der Menschheit werden nun viel erfolgreicher durch die Wissenschaft behandelt, als es vorher durch die Poesie und die Künste geschehen konnte. Von allen Wissenschaften aber steht die Soziologie dem Menschen am nächsten, sie ist die eigentlich zentrale Wissenschaft, die immer mehr in den Vordergrund des menschlichen Denkens einrücken wird. – Schon in wenigen Jahrzehnten wird die Soziologie ihren Einzug in die Hoch- und Mittelschulen halten und schließlich auch dem Volksschüler kein fremder Gegenstand mehr sein. Auf immer breitere Schichten wird sich die Erweiterung des soziologischen Bewußtseins ausdehnen. Unmerklich wird sich das Denken ändern, und mit dem Denken ändert sich auch der Geist.“18

Müller-Lyer ist nun marxistisch geschult genug, um dabei auch auf die materiellen Entsprechungen zu achten, die mit einer solchen „Bewußtwerdung der Kultur“ einhergehen müssten. Zum einen argumentiert MüllerLyer, dass die „Idee der Kulturbeherrschung [...] die notwendige und unausbleibliche Folge unserer wirtschaftlichen Verhältnisse“19 sei. Zum anderen hat er im Hinblick auf die praktische Verwirklichung dieser Kulturbeherrschung als Trägerstruktur eine „genossenschaftliche“ Form der sozialen Organisation vor Augen, bei der das staatliche Herrschaftsmonopol durch korporative Strukturen von „Gesinnungs- und Interessengenossenschaften“ ergänzt werden soll.20 Als Kondensationspunkte und Mediatoren des Zusammenspiels von Selbstorganisation und geistigem Wandel hat Müller-Lyer überdies eine „Sozialaristokratie“ charismatischer Führungspersönlichkeiten im Blick.21 Allen voran bedürften dabei wiederum die politischen Führer einer soziologischen Grundbildung. „Der soziologisch unwissende Staatsmann gleicht einem blinden Lotsen, der sein Schiff zum Verderben seiner Passagiere steuert, ohne von dem Fahrwasser, auf dem er herumsegelt, eine Ahnung zu haben.“22

18 F. Müller-Lyer, Der Sinn des Lebens, S. 162. 19 Ebd., S. 163. 20 Hier zeigt sich eine interessante Parallele zu Durkheims Konzept der organischen Solidarität, die in institutioneller Hinsicht vor allem durch Berufskorporationen gestützt werden sollte. 21 Vgl. Franz Müller-Lyer: Die Zähmung der Nornen 1, München 1918, S. 195-197. 22 F. Müller-Lyer, Sinn des Lebens, S. 151. 71

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Die soziologische Durchdringung des Bewusstseins soll Müller-Lyer zufolge zur Bildung einer altruistischen Orientierung führen, die auch in materieller Hinsicht auf Prozesse der Selbstorganisation etwa des Proletariats hinwirken wird. „Organisiert euch!“ lautet dementsprechend der von Müller-Lyer formulierte „synergetische Imperativ“.23 Staatlichen Steuerungsbemühungen und insbesondere der Eugenik steht Müller-Lyer dagegen eher skeptisch gegenüber. Die Effektivität administrativer Maßnahmen zur Regulierung der Bevölkerungsentwicklung, wie sie damals – nach dem praktischen Vorbild der USA – diskutiert wurden, wird äußerst kritisch beurteilt. „Viel weiter wird man wahrscheinlich kommen, wenn man statt der Polizei das Gewissen und das Ehrgefühl in Bewegung setzt: vor allem durch Aufklärung. So gut die Naturmenschen sich den verwickeltsten Regeln [...] fügen, weil ein Zuwiderhandeln als eine unaustilgbare Schande gilt, so wird auch der Kulturmensch es lernen, auf soziale Interessen Rücksicht zu nehmen, sobald die öffentliche Meinung soweit herangereift ist, daß sie den erforderlichen Druck auf den Einzelnen ausübt.“24

Mit Kulturbeherrschung ist freilich gemeint, dass der Mensch die Kultur beherrscht, und nicht umgekehrt: die Kultur den Menschen. Daher geht es Müller-Lyer in erster Linie darum, mittels soziologischer Aufklärung einen Prozess der „Reflexion“25 in Gang zu setzen, der dem autonomen „Vollmenschen“ dazu verhilft, sich seiner Kultur stärker bewusst zu werden. Dabei soll er einen „Sozialintellekt“ ausbilden, der sich nach MüllerLyer wie von selbst mit der Idee der Kulturbeherrschung verbindet. Die primäre Aufgabe der Soziologie besteht demnach darin, den Menschen die dafür angemessenen (realistischen) Ideale an die Hand zu geben.26 Wie Müller-Lyer sich die Entwicklung zur „Vollkultur“ konkret vorstellt, ergibt sich aus den von ihm extrapolierten „Richtungslinien des Fortschritts“. Das zugrundegelegte Modell sogenannter „Entwicklungsstufen der Menschheit“ steht in der geschichtsphilosophischen bzw. soziologischen Tradition der Rekonstruktion einer gesellschaftsinhärenten Fortschrittslogik, für die namentlich Herder und Hegel bzw. Comte und Spencer stehen. In der systematischen Form einer Beschreibung typischer Phasen finden sich umfangreiche, anschauliche Schilderungen unterschiedli23 F. Müller-Lyer: Die Zähmung der Nornen 1, S. 193. „Synergie“ ist für Müller-Lyer ein zentraler Begriff, der die Rationalitätspotentiale menschlicher Kooperation bezeichnen soll. 24 Ebd., S. 201f. 25 Ebd., S. 155. 26 Eine ähnliche Figur wird uns unten mit Giddens‘ Konzept des „utopischen Realismus“ begegnen. 72

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cher Kulturen des Wohnens und der Bekleidung27, des Tauschhandels28 oder der Sexualität29. Nicht nur in der Familiensoziologie werden dabei starke Anleihen bei Herbert Spencer deutlich, entspricht doch die Gliederung der „Formen der Ehe“ anhand der Formen Promiskuität, Polyandrie, Polygynie, Monogamie und Gruppenehe exakt den entsprechenden Ausführungen Spencers in „The Principles of Sociology.“ Die sehr detailreichen ethnologischen Beobachtungen, welche Müller-Lyer zusammenträgt, erinnern überhaupt durchweg an Spencers Projekt einer „Descriptive Sociology“ und bedienen sich auch intensiv der spencerschen Schriften als Quelle. Auch die Kontinuität zum Positivismus Auguste Comtes ist offensichtlich. Comtes Aussage: „Wenn die Begründung der sozialen Physiologie erledigt ist, so überlasse ich es dann meinen Nachfolgern, diese Auffassung genauer auszubilden mit Hilfe des Studiums der Verknüpfungen der mehr und mehr abnehmenden Zwischenzeiten“30 passt prophetisch exakt auf Müller-Lyers „phaseologische Methode“ der historisch-typisierenden Untersuchung gesellschaftlicher Teilbereiche, mit der die soziale Dynamik empirisch stärker an vergleichende kulturanthropologische Befunde rückgebunden wird. Wenn sich in den einzelnen Studien ineinander verschachtelte Drei-Phasen-Modelle finden31, so ist dies gleichwohl nicht als einfache Subsumtion unter das Drei-Stadien-Gesetz Comtes zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um einen der hegelschen Dialektik wahlverwandten Versuch einer genetisch-strukturellen Erklärung. Zudem wird eine grundsätzliche Tendenz der vernunftsblinden gesellschaftlichen Evolution hin zu einer ziellosen Verwicklung sozialer Beziehungen durchaus gesehen.32 Der jener ungerichteten und unsteuerbaren Eigendynamik komplexer evolutionärer Entwicklungsprozesse entgegengesetzte emphatische Fortschrittsglaube der „euphorischen Philosophie“ Müller-Lyers erwächst primär aus einem spezifischen Verständnis der Soziologie als Schlüssel zur Bewusstwerdung der Kultur, das eher als utopisch-charismatisches Szenario einer soziologischen Zukunft zu verstehen ist denn als technische Prognose. Wie bei Comte und – mehr noch – bei Spencer (sowie ähnlich auch bei Parsons) indizieren die „Richtungslinien des Fortschritts“ zunächst lediglich auf idealtypische Weise eine struktu27 Vgl. Franz Müller-Lyer: Phasen der Kultur und Richtungslinien des Fortschritts, München 1923, S. 122-144. 28 Vgl. Müller-Lyer, Phasen der Kultur, S. 246-256. 29 Vgl. Franz Müller-Lyer: Formen der Ehe, München 1911. 30 Auguste Comte: Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, Stuttgart 1974, S. 168. 31 Bspw. in Franz Müller-Lyer: Die Familie, München 1924. 32 Vgl. bspw. Franz Müller-Lyer: Der Sinn des Lebens und die Wissenschaft, München 1921, S. 304ff. 73

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rell angelegte Dynamik der Steigerung gesellschaftlicher Komplexität anhand von abstrakten funktionalen Differenzierungsprozessen, ohne dass daraus bereits unmittelbar konkrete historische Prognosen abzuleiten wären. Diese idealtypisch unterstellte Steigerungslogik von miteinander kompatiblen funktionalen Strukturarrangements – über deren objektiven Gehalt zu urteilen hier nicht der Platz ist – schlägt erst in dem Moment in ein auch normativ verstandenes Ideal um, wo es um ethische Aspekte der soziologisch qualifizierten Herausbildung angemessener individueller Identitätsmuster geht. Die Soziologie Müller-Lyers will als „Volksphilosophie“ die Versöhnbarkeit von Individuum und Gesellschaft unter anderem anhand einer visionären Theorie der „Individualisierung“33 aufzeigen, die mittels der autologischen Reflexion über die gesellschaftliche Wirksamkeit der Soziologie ein positives Selbstverständnis von Individuum und Gesellschaft ermöglichen soll. Mit anderen Worten: Erst das sich seiner kulturellen Situation bewusste, d.h. soziologisch aufgeklärte Individuum erfüllt die in der Theorie bereits vorausgesetzten, oder besser: prophezeiten Bedingungen. Eine solche Gesellschaftstheorie kann sich mithin nur in der Form einer selbsterfüllenden Prophezeiung bewahrheiten. Müller-Lyer entwickelt dazu in Abgrenzung von den bisher historisch auf den Plan getretenen Typen des „sozialistischen“ Menschen, der als wilder bzw. barbarischer „Herdenmensch“ geschildert wird, und des „individualistischen Menschen“, der als einseitig leistungsorientierter „Erwerbsmensch“ und zynischer „Familienegoist“ charakterisiert wird, den utopischen Typus des „sozialindividualistischen Menschen“, der als „Vollmensch“ sein Dasein als „Leben“ gestaltet. Diese drei „soziologischen Rassen“ unterscheiden sich insbesondere durch die Art, „wie sich der Einzelne zur Gesellschaft verhält [...]. Die erste findet ihr Glück in dem Aufgehen in der Gesellschaft; die zweite in der möglichen Ausbeutung der Gesellschaft; die dritte in dem ausgebildeten Eigenleben, das zu der Gesellschaft in dem Verhältnis gegenseitiger Förderung und harmonischer Wechselwirkung steht.“34

Die empirische Validität und die kulturellen Bedingungen dieser Phasentypologie expliziert Müller-Lyer unter anderem im Kontext seiner historischen Familiensoziologie.35 Gegenüber Comte schwindet bei Müller-Lyer gleichwohl die gesellschaftliche Bedeutung der Familie. Sie tritt insofern in den Hintergrund, als sie von einer elementaren Einheit der Gesellschaft 33 F. Müller-Lyer, Die Familie, S. 362. 34 F. Müller-Lyer, Sinn des Lebens, S. 210-227, Zitat S. 227. 35 Vgl. F. Müller,-Lyer, Die Familie, S. 309-389. 74

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zu einem bloßen Teilbereich der Kultur degradiert wird.36 Nachdem die gesellschaftliche Ordnung in einer ersten, „verwandtschaftlichen“ Phase der Menschheitsentwicklung in der Form eines „Sippenwesens“ organisiert gewesen sein soll, treten in einer zweiten, der eigentlichen „familialen“ Phase Familie und Staat – und damit wirtschaftliche und politische Funktionen – auseinander. Erst in der gegenwärtig bereits aufdämmernden „individualen“ Phase der Familienevolution entwickelt sich eine autonome Moral der individuellen Verantwortung. Müller-Lyer diskutiert nun die sich daraus ergebenden Konsequenzen unter anderem im Hinblick auf das Verhältnis der Geschlechter, den Wandel des Eherechts, des Erbrechts, sowie der Kranken- und der Altersversorgung. Da es hier vor allem auf die autologische Form dieser Soziologie ankommt, soll auf eine ausführlichere Darlegung solcher inhaltlichen Vorstellungen verzichtet werden. Entscheidend ist vor allem der sich mit diesem Konzept verbindende aufklärerische Gedanke, den Müller-Lyer soziologisch zu begründen sucht, indem er der Soziologie eine exakt bestimmte historische Bedeutung zuweist und die (potentielle) Wirkung dieser Aufklärung bis ins Detail ausbuchstabiert. Der sozialreformerische Anspruch Müller-Lyers findet seinen praktischen Ausdruck in einer aktiven Mitgliedschaft im Deutschen Monistenbund, deren Vorsitzender er von 1915 an bis zu seinem Tode ist. Seine unermüdlichen Bemühungen um die Reorganisation des intern zerstrittenen Bundes und seine Vermittlungsversuche zwischen den unterschiedlichen theoretischen Fraktionen zeugen davon, dass es ihm mehr um die Praxis wissenschaftlicher Aufklärung als solche und weniger um eine konkrete Dogmatik ging.37 Entsprechend seinem soziologischen Konzept ist Müller-Lyer weder Revolutionär noch subversiver Gesellschaftskritiker, weder ein affirmativer Repräsentant des politischen Establishments noch ein erklärter oder verdeckter Oppositioneller. Sein intellektuelles Wirken kann stattdessen ähnlich wie bei Ferdinand Tönnies als „soziales Engagement“ interpretiert werden. Dies als „sozialromantischen“ Idealismus zu verstehen, wird dem Bemühen um eine soziologische Untermauerung des Engagements jedoch nicht gerecht, denn Tönnies wie Müller-Lyer sind in ihren politischen Ansichten alles andere als naiv. Die Überzeugung, dass sozialwissenschaftliches Wissen in der gesellschaftlichen Praxis einen Unterschied machen könnte, bildet ein typisches Motiv früher Soziologen, welche die Begründung des Faches wie selbst36 Stattdessen streicht Müller-Lyer die fundamentale Rolle der Sprache und insbesondere der Schrift für die Initiierung einer gesellschaftlich-kulturellen Evolution heraus. Vgl. F. Müller-Lyer, Phasen der Kultur, S. 42-46. 37 Vgl. S. Curth, Soziologie als Programm sozialer Reform, S. 19ff. 75

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verständlich in Zusammenhang mit der Frage nach deren gesellschaftlicher Relevanz bringen. Der deutsche „Kathedersozialismus“ im Umkreis des Vereins für Sozialpolitik kann als weiteres Beispiel für die expliziten Gestaltungsansprüche der vorakademischen Soziologie um 1900 gelten. Insbesondere Rudolf Goldscheid, der heimliche Initiator der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und große Gegenspieler Max Webers38 verkörpert eine solche offensive Auffassung. Wie Müller-Lyer ist er engagierter Monist. Goldscheid ist nicht nur am Aufbau des Österreichischen Monistenbundes beteiligt, er gründet auch die bis heute bestehende Liga für Menschenrechte. Soziologisches Wissen und soziales Engagement bilden hier gewissermaßen eine Einheit. Auch in Großbritannien sind die sozialwissenschaftlichen Studien des 19. Jahrhundert von sozialreformerischen Motiven geprägt.39 Ob es um die Enthüllung von Missständen oder um die Demonstration staatlicher Verantwortung geht, die empirische Sozialforschung dient in jedem Falle der Erhebung praxisrelevanter Fakten, die unmittelbar auf einen politischen Handlungsbedarf verweisen. Im Unterschied zu den im Kontext ökonomischer Risikokalkulationen relevanten statistischen Daten, wie sie bspw. durch das sich seit dem 17. Jahrhundert etablierende Versicherungswesens erhoben wurden40, rückten in Folge der Industrialisierung nun genuin „soziale“ Fragen in den Mittelpunkt. Die verstreuten Untersuchungen richten sich auf konkrete Themen wie Bevölkerungsentwicklung (Robert Malthus), Kriminalität (Thomas Plint) oder Armut (Charles Booth). Im Hintergrund steht gleichwohl die allgemeinere Debatte über die grundsätzlichen Aufgaben des Staates, die eine Diskussion über das „Wesen“ der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaftsform selbst erforderlich macht. An diesem Punkt verzichtet die britische Empirie jedoch explizit darauf, gesellschaftstheoretische Ansprüche zu erheben. Die Interpretation der bereitgestellten Informationen wird „der Politik“ überlassen. Daher erweist sich die vorakademische Sozialforschung Großbritanniens als unfähig, das autologische Bezugsproblem des Fachs aus sich heraus, mit den eigenen Mitteln zu reflektieren. Man bleibt – vermeintlich aus wissenschaftlicher

38 Vgl. Günther Rudolph: Die philosophisch-soziologischen Grundpositionen von Ferdinand Tönnies. Ein Beitrag zur Geschichte und Kritik der bürgerlichen Soziologie, Hamburg 1995, S. 45, 128f. 39 Vgl. Stephen Cole: Kontinuität und Institutionalisierung in der Wissenschaft. Eine Fallstudie des Scheiterns, in: Wolf Lepenies (Hg.): Geschichte der Soziologie, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1981, S. 31-110, insbesondere S. 6276; J. R. Hallyday: Die soziologische Bewegung, die .Sociological Society und die Entstehung der akademischen Soziologie in Großbritannien, in: W. Lepenies, Geschichte der Soziologie, Bd. 3, S. 381-412, hier. S. 383. 40 Vgl. Wolfgang Bonß: Vom Risiko, Hamburg 1995, S. 178ff. 76

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Verpflichtung – neutral und scheitert im Gegenzug hinsichtlich der Etablierung als wissenschaftlicher Disziplin.41 Eine signifikante Besonderheit Müller-Lyers zeigt sich demgegenüber im Grade seiner wissenschaftstheoretischen Reflexion, die sich aus dem Einfluss Comtes, Spencers und der monistischen Weltanschauung ergeben. Waren die „Kathedersozialisten“ um Schmoller primär Nationalökonomen, so zeigt sich auch im Werk von Tönnies, dass dieser „keinen einheitlichen Wissenschaftsbegriff hat, der die Soziologie als selbständige Wissenschaft hätte legitimieren können.“42 Die von Ferdinand Tönnies vertretene Soziologie transportiert zwar explizit gestalterische Ansprüche: Allein die Analyse der modernen Lebenszusammenhänge im Lichte der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft mündet in einer unverhohlenen Parteinahme zugunsten des Gemeinschaftlichen. Tönnies sozialpolitisches Engagement richtet sich allerdings spezifischer auf konkrete Probleme der Zeit, sodass die latente autologische Komponente seiner Theorie durch einen direkten politisch-aktivistischen Gestus überdeckt wird. Müller-Lyer rechnet es dagegen dezidiert zu den Aufgaben der Soziologie, auch die Bedingungen der Wirkung soziologischer Gestaltungsimpulse zu explizieren. Eine wichtige Rolle spielt dabei die implizit vorausgesetzte Einheit des Faches, da das in Aussicht gestellte Wissen nicht in der Form einer disziplinintern verwalteten Sammlung einzelner Informationen über dies und jenes gedacht wird, sondern dieses sich vielmehr aus dem das Fach definierenden Gesamtzusammenhang heraus konstituieren soll. Müller-Lyer lässt sich von der Vision einer als Volksphilosophie verstandenen soziologischen Aufklärung leiten. Der Grundgedanke dieser Aufklärung ist der Glaube, dass eine vernünftige Lebensordnung in dem Maße möglich wird, als die Einsicht in die gesellschaftlichen Zusammenhänge allgemeine Verbreitung findet.43 Durch die Verinnerli41 Vgl. Perry Anderson: Soziologische Gründe für das Ausbleiben der Soziologie, in: W. Lepenies: Geschichte der Soziologie, Bd. 3, S. 413-442. 42 Friedrich Jonas: Geschichte der Soziologie 2, Opladen 1981, S. 168. 43 Die Szenarien gesellschaftlicher Veränderung im Lichte soziologischer Erkenntnis richten sich bei Müller-Lyer sowohl auf die geistige (Aufklärung) wie auf die materielle Dimension (Implementierung). Da der Fortschritt eine geistige Tendenz darstellt, die durch äußere, materielle Umstände nur gehemmt und behindert wird, gilt es die Menschen aufzuklären und somit die geistigen Ideale unter ihnen zu verbreiten, auf dass sie die gesellschaftlichen Verhältnisse dann diesen Idealen anpassten. Gleichzeitig wären institutionelle Bedingungen zu schaffen, welche etwa der Erziehung und kulturellen Vervollkommnung des Menschen förderlich sind. Vgl. F. Müller-Lyer: Soziologie der Leiden, S. 162. Diese Auffassung der Wirksamkeit von Gesellschaftstheorie ist vergleichbar mit dem marxistischen Konzept, nach dem vereinfacht gesagt ein (allerdings materialistisch verstandenes) Gesetz der 77

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chung von soziologisch zertifizierten Idealen soll mithin eine Versöhnung von Individuum und Gesellschaft ermöglicht werden. Das gesellschaftliche Bewusstsein kann dann das gesellschaftliche Sein mitbestimmen. Der sozialreformerische Impetus einer solchen Soziologie steht insbesondere im Kontrast zum tendenziell „fatalistischen“ Verständnis sozialer Ordnungen, wie es in der an Machiavelli und Pareto anschließenden italienischen Forschungstradition zum Ausdruck kommt. Die hier einsetzende Elitenforschung birgt – wie vor allem vom Standpunkt der Kritischen Theorie bemerkt worden ist44 – die Gefahr einer allzu engen Fokussierung auf jene sozialen Mechanismen, die im Kontext vorgegebener gesellschaftlicher Umweltbedingungen individuellen Erfolg im Hinblick auf die Sicherung von Herrschaftsansprüchen, sozialen Aufstieg bzw. pures Überleben versprechen. In der öffentlichen Wahrnehmung der vorakademischen Phase muss stattdessen vor allem eine solche Soziologie als „ehrbar“ erscheinen, bei der das Erkenntnisinteresse an den Mechanismen und Dynamiken gesellschaftlicher Ordnung sich mit dem Anspruch auf deren positive Gestaltung verbindet. Die „Volksphilosophie“ Müller-Lyers beinhaltet demzufolge den Gedanken einer kontrollierten Manipulierbarkeit der Geschichte. Als Agent der gesellschaftlichen Gestaltung soll niemand anders als die Menschheit selbst fungieren. Diese Interpretation des zirkulären Strukturierungszusammenhangs von Individuum und Gesellschaft, von Akteuren und Institutionen ist freilich nur in Verbindung mit einer ganz bestimmten Diagnose historischer Prozesse möglich. Diese müssen einer Kombination aus Zielgerichtetheit und Offenheit entsprechen, d.h. weder dürfen die grundlegenden Gesellschaftsstrukturen durch die Geschichte vollständig determiniert, noch darf das Spektrum der möglichen stabilen Zustände unendlich breit sein. Im ersten Fall wäre jeglicher Versuch der Einflussnahme aussichtslos. Im zweiten Fall bestünde keine Hoffnung, durch die Manipulationen ausgerechnet das erwünschte Ergebnis herbeizuführen. Die in den gesellschaftlichen Verhältnissen angelegte Dynamik verweist günstigenfalls von selbst auf eine utopische Idealisierung. Die konstruierte Utopie erscheint dann zugleich als realistisches Szenario, deren Realisierungsbedingungen ihrerseits davon abhängen, inwieweit sich die entsprechenden Ideale tatsächlich „materialisieren“ und als „objektiver Geist“ wirksam werden. Sei es als Philosophenstaat, als Verfassung oder gesellschaftlichen Entwicklung durch seine ideologische Bekanntmachung beeinflusst und seine materielle Verwirklichung in Form einer Revolution vorangetrieben werden kann. 44 Vgl. Theodor W. Adorno: Einleitung in die Soziologie, Frankfurt a.M. 2003, S.29f. 78

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als gelungener militärischer Befreiungsschlag45 – es genügen vermeintlich einige wenige Weichenstellungen, um die beschworene Idealgesellschaft institutionell und kulturell zu stabilisieren. Die klassischen Utopien von Platon bis Campanella und Morus bedienen sich durchweg dieser suggestiven Vorstellung, in der sich gewissermaßen eine spezifische Verbindung von Materialismus und Idealismus niederschlägt. Wenngleich es die verschiedensten Spielarten dieser autologischen Figur gibt, bleibt sie doch ein Grundzug der großen soziologischen Gesellschaftstheorien. Konnte Comte sich noch (wie Hegel) als unmittelbaren Agenten der Geschichte selbst sehen, so verstehen spätere Theorien sich eher als Medium der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung. Sie fungieren dann insgeheim gleichsam als Katalysator der Vernunft: „Was die Gesellschaftstheorie aus Eigenem leisten kann, gleicht der fokussierenden Kraft eines Brennglases.“46 Der Gedanke der Aufklärung als eines Zusammenhangs zwischen der methodischen Genese wissenschaftlich gesicherten Wissens und dessen kultureller Wirksamkeit im Hinblick auf den Fortschritt des menschlichen Geistes findet sich in explizit ausgearbeiteter Form vor allem bei Condorcet.47 Auch der historische Materialismus im Anschluss an Marx und Engels stellt trotz seiner Skepsis gegenüber dem ideologischen Überbau gesellschaftlicher Ordnungen in eigener Sache die aufklärerische Wirkung seiner Theorie im Hinblick auf die Formierung eines proletarischen Klassenbewusstseins in Rechnung. Das Erkennen gesellschaftlicher Ordnungsmechanismen und der Impuls zu ihrer Manipulation gehen von Haus aus Hand in Hand.48 Eine entsprechende Neigung zur Intervention ist oft auch Vertretern einer explizit liberalistischen Auffassung zu Eigen. Im Anschluss an den Sozialdarwinismus Spencerscher Denktradition und die „protestantische“ Wirtschaftsethik im Sinne Webers lässt sich das Prinzip der marktwirtschaftlichen Selbstauslese zur Grundlage einer politischen Vision des „gesellschaftlicher Fortschritts“ stilisieren. Diese Deutungslinie droht in den Augen ihrer Kritiker schnell zu einer unreflektierten politischen „Ideologie“ zu werden, in deren Namen die erforderliche „Frei45 Sozusagen als „operation infinite justice“, wie das amerikanische Verteidigungsministerium bezeichnenderweise seinen weltweiten Feldzug gegen den Terrorismus zunächst nennen wollte. 46 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1981, S. 563. 47 Vgl. Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, Frankfurt a.M. 1976; dazu J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 212. 48 Ohnehin scheint es bereits bei Säuglingen ein erkenntnispragmatisches, geradezu anthropologisch verwurzeltes Prinzip zu sein, die Dinge kognitiv zu begreifen, indem man sie manuell begreift. 79

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heit“ des Marktes und der „demokratischen“ Machtakkumulation notfalls gewaltsam durchgesetzt wird. Da insbesondere die gesellschaftliche Selbstbeschreibung in der US-amerikanischen Kultur durch eine solche Tradition des Liberalismus geprägt wurde49, meinte die US-amerikanische Friedenbewegung der sechziger Jahre in der Tat eine gewisse Tendenz ihrer Regierung ausmachen zu können, unter dem Banner der Freiheit eine „militante und imperialistische Machtpolitik“ zu betreiben. Der originäre Liberalismus Herbert Spencers ist hingegen zunächst Ausdruck eines theoretisch begründeten politischen Steuerungspessimismus. Die propagierte „laissez-faire“-Haltung sollte daher nicht leichthin als Plädoyer für einen ökonomisch auszutragenden egoistischen Überlebenskampf des Individuums missverstanden werden. Der Verzicht auf kurzfristige bürokratische Interventionen ist stattdessen lediglich Voraussetzung für eine langfristige Evolution des Geistes. Die entscheidenden Entwicklungen wären hingegen kultureller Natur. Spencer will die Gesellschaft gestalten, indem er die Individuen verändert. Seine Ethik verweist auf eine autologische Reflexion ihrer eigenen progressiven Wirkungspotentiale. Sie soll sich als Idee öffentlich etablieren und ist daher als kommunikativ überzeugende „Ideologie“ konzipiert. In diesem Sinne wendet sich Spencer explizit gegen jede Form von (machtbasierter) Sozialtechnologie. Das gesamte kosmologische System der „synthetischen Philosophie“ kulminiert in Spencers Ethik, die sich daher als ultimativer Ausdruck eines soziologischen Aufklärungsanspruchs verstehen lässt. Ein solcher aufklärerischer Impuls ist in der einen oder anderen Form ohnehin Bestandteil der meisten politischen, philosophischen und pädagogischen Strömungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Für die Soziologie, sofern sie sich als disziplinäre Einheit versteht, erwächst aus jenem aufklärerischen Anspruch aber zugleich die systematische Aufgabe, Genese und Wirkung dieser Idee mit ihren eigenen theoretischen Mitteln explizit abzuklären. Gegenüber den ansonsten eher naiv verfolgten Steuerungsambitionen und dem unterreflektierten Verhältnis von Theorie und Praxis hätte die Soziologie als Gesellschaftswissenschaft die strukturellen Bedingungen zu untersuchen, die auf Seiten der Gesellschaft mit der Idee der Aufklärung korrelieren bzw. kollidieren. Dies setzt unter anderem ein distanziertes Verhältnis zu den rhetorisch konstruierten Sachzwängen des politischen Tagesgeschehens voraus. Der von Spencer geforderte Verzicht auf unkontrollierte Interventionen bleibt daher an die Idee des Fortschritts und der gesellschaftlichen Differenzierung gebunden. Er reduziert soziale Praxis also mitnichten auf das Prinzip eines freien marktwirtschaftlichen Daseinskampfes. So49 F. Jonas, Geschichte der Soziologie, Bd. 2, S. 255-269. 80

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ziologische Aufklärung und damit gesellschaftliche Gestaltung sind auch hier die latenten Motive zur Begründung des Faches. Die sozialreformerische Grundhaltung der vorakademischen Soziologen wird jedoch aufgrund ihres „tendenziösen“ Charakters genau dort zum Problem, wo die Soziologie sich als akademisch-wissenschaftliche Disziplin tatsächlich zu etablieren versucht. Die intransparente Durchmischung von Ideal und Realität ist heftig umstritten, zumal aufgrund der Streitbarkeit der Ideale automatisch Ideologieverdacht aufkommt. Die Universitäten scheinen in diesem Zusammenhang zu einer neutralen Haltung verpflichtet zu sein. Es ist jedenfalls kaum denkbar, dass eine vom Staat getragene Institution unbehelligt gesellschaftskritisches und staatsfeindliches Gedankengut transportieren darf. Von dieser Problematik ist der Marxismus im Grunde gleichermaßen betroffen wie der Monismus, der Positivismus comtescher Prägung oder auch der Sozialdarwinismus, wenngleich sich die Verdachtsmomente und rhetorischen Attacken faktisch am stärksten auf die marxistische Theorie konzentrieren. Das Unterfangen eines akademischen Etablierungsversuches wird allerdings von den Ur- und Protosoziologen gar nicht in so vehementer Form betrieben, wie man zunächst meinen könnte. Condorcet agiert aus dem Untergrund, trotz seines grundsätzlich wissenschaftlichen Anspruchs erfährt er nie die zersetzende Wirkung der rhetorischen Widerhaken eines zivilisierten wissenschaftlichen Diskurses. Saint-Simon nimmt einen eher vorwissenschaftlichen Standpunkt ein und orientiert sich eher an Politik und Lebensphilosophie. Marx lehnt den akademischen Betrieb als bürgerlich ab und bezeichnet bereits Comtes methodische Begründungsversuche zur Genese eines systematischen soziologischen Wissens als „Scheißpositivismus“.50 Das Problem einer Verbindung von professioneller Distanz und wissenschaftlicher Neutralität einerseits mit den aus der gesellschaftlichen Involviertheit resultierenden Ambitionen gesellschaftlicher Gestaltung, die in der Regel auch ein biographisches Motiv des Soziologen abgeben, andererseits zeigt sich in aller Deutlichkeit zuerst bei Comte. Diesem bleibt – wie Müller-Lyer – die formale akademische Anerkennung freilich versagt. Der von Comte angestrebte „Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte“ wird zu dessen Lebzeiten nie eingerichtet; die im Zuge des freigeistigen Münchner Universitätsputsches von 1915 von den Studenten vorgetragene Forderung nach einer Berufung von Müller-Lyer bleibt unberücksichtigt.51 Als Privatgelehrte wiederstehen beide – wenn man so will: aus der Not he50 Karl Marx und Friedrich Engels: Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 212, zit. nach Werner Fuchs-Heinritz: Auguste Comte, Opladen 1998, S. 309. 51 Vgl. Ludwig Gurlitt: Erinnerungen an Müller-Lyer, in: Dem Andenken an Müller-Lyer, München 1926, S. 53-60, Zitat S. 56. 81

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raus – den korrumpierenden Disziplinierungsmechanismen einer akademischen Karriere. Und bis auf den heutigen Tag würde andererseits keine Universität jemanden einstellen, auf dessen Türschild „Prof. Comte, Hohepriester der Menschheit“ geschrieben stände. Ernsthafte Bewährungsprobleme in der akademischen Praxis ergeben sich erst für Emile Durkheim. Der Durkheimschule war es um die Jahrhundertwende herum gelungen, innerhalb Frankreichs erheblichen intellektuellen Einfluss zu gewinnen. Ihre Bemühungen konzentrierten sich maßgeblich auf die institutionelle Etablierung der Soziologie.52 Im Bemühen um wissenschaftliche Legitimität standen vor allem die konfliktträchtigen Auseinandersetzungen mit den Historikern im Mittelpunkt, welche später indirekt auch zur Entstehung der Annales-Schule beitrugen.53 Die Beschäftigung mit dem autologischen Bezugsproblem der Gesellschaftstheorie musste im Zuge der von Durkheim verfolgten Professionalisierungsstrategie systematisch in den Hintergrund gedrängt werden. Zwar folgt Durkheim der comteschen Linie einer ontologischen Begründung des soziologischen Gegenstandes durchaus offensiv, indem er die „soziologischen Tatbestände“ als objekthafte Dinge zu begreifen sucht und die Gesellschaft explizit als „Totalität“ auffasst. Bezüglich der beabsichtigten gesellschaftlichen Wirkung der Soziologie changiert Durkheim jedoch geschickt. Es erfolgt eine partielle Verdrängung dieses Themas, wobei es Durkheim gleichsam gelingt, die Leiche Comtes sorgsam in seinem Keller zu verstecken. Lediglich ein leichter, nur für Spürnasen zu identifizierender Geruch des positivistischen Führungsanspruchs hängt ihm noch nach. So distanziert sich Durkheim hinsichtlich der Absichten und Ansprüche seiner moralischen Studien nachdrücklich von den ideologischen Herrschaftsansprüchen der Moralphilosophie, um am Ende seiner Arbeitsteilungsstudie – im schroffen Widerspruch zu den am Anfang abgegebenen Neutralitätserklärungen – unter der Hand selbst zum Moralisten zu werden. Durkheim hält zwar Vorlesungen über moralische Erziehung und greift in der Tradition Condorcets bspw. das Thema des zirkulären Zusammenhangs von Wissenschaft und öffentlicher Meinung durchaus auf.54 Dennoch sind die erhobenen Gestaltungsansprüche deutlich defensiv geworden: Durkheim ist akademisch etabliert. 52 Vgl. Victor Karady: Strategien und Vorgehensweisen der DurkheimSchule im Bemühen um die Anerkennung der Soziologie, in: W. Lepenies, Geschichte der Soziologie, Bd. 2, S. 206-262. 53 Vgl. John Craig: Die Durkheim-Schule und die Annales, in: W. Lepenies, Geschichte der Soziologie, Bd. 3, S. 298-322. 54 Vgl. Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981, S. 586. 82

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Neutralitätsformeln und Praxisintentionen in d e r b ü r g e r l i c h e n S o z i a lw i s s e n s c h a f t Der Versuch eines Eingriffs in die beiden großen Mächte der Natur und des Geistes kann dem, der Einblick in die dabei am Werk befindlichen Gewalten und komplexen Wechselwirkungen bekommen hat, leicht als größenwahnsinnige Barbarei erscheinen. Stellen sich die Konsequenzen eigenmächtiger Manipulationen im Hinblick auf die Natur heute als die große Problematik der Ökologie dar, so erscheinen sie im Hinblick auf Kultur und Gesellschaft unter dem Aspekt der Ideologie. Viele vermeintlich in individueller oder lokaler Verantwortung liegende Missstände offenbaren sich – wie Georg Simmel dies am Beispiel des Großstadtlebens durchexerziert hat – dem soziologischen Blick als in übergreifende gesellschaftliche Gesamtzusammenhänge eingebettete Symptome: „Sie enthüllen sich als eines jener großen historischen Gebilde, in denen sich die entgegengesetzten, das Leben umfassenden Strömungen wie zu gleichen Rechten zusammenfinden und entfalten. [...] Indem solche Mächte in die Wurzel wie in die Krone des ganzen geschichtlichen Lebens eingewachsen sind, dem wir in dem flüchtigen Dasein einer Zelle angehören – ist unsere Aufgabe nicht, anzuklagen oder zu verzeihen, sondern allein zu verstehen.“55

Mit der akademischen Etablierung der Soziologie ändern sich auch die Bedingungen für die Kommunikation über Gesellschaftstheorie grundlegend. Das Programm der offensiven Beanspruchung eines wissenschaftlichen Monopols auf den Gegenstand „Gesellschaft“ in Verbindung mit der Idee seiner positiven Gestaltung lässt sich nun nicht mehr explizit vertreten. Stattdessen gilt es den Argwohn konkurrierender Disziplinen zu zerstreuen, indem die Fähigkeit des Faches zur Adaption jener harmlosen Routinen der trockenen Generierung standardisierten Fachwissens unter Beweis gestellt wird, die dem „Wissenschaftler“ gemeinhin die notwendige habituelle Sicherheit verleihen. So erscheint weise Zurückhaltung als empfehlenswert. Die „fittesten“ Soziologen arrangieren sich gewissermaßen – ganz im Sinne des Sozialdarwinismus – mit den gegebenen Verhältnissen und vermeiden allenfalls in Antizipation eines möglichen zukünftigen Wechsels der „Herrschaftsordnung“ eine allzu enge Verstrickung und Bindung an das weltlich Vergängliche sozialer Ordnungsstrukturen.

55 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, in: ders.: Das Individuum und die Freiheit, Berlin 1984, S. 192-204, Zitat S. 204. 83

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Der Verweis auf die Möglichkeit alternativer Gesellschaftsordnungen dient nun nicht mehr einer Konfrontation der Realität mit Visionen einer besseren Zukunft, sondern wird zum Bestandteil einer sozialwissenschaftlichen Selbstzensur. Indiz einer solchen selbstauferlegten Unbestimmtheit soziologischer Zeitdiagnosen ist die erstaunliche Karriere von Schlagworten wie „neue Unbestimmtheit“, „Individualisierung“, „Postmoderne“, „Poststrukturalismus“ oder „Kontingenz“. Der Erfolg der Soziologie bemisst sich so gesehen am Kriterium einer nachhaltig gelingenden Kontingenzadaption. Aus der bequemen Position heraus, welche die akademisch verbürgte Expertenrolle gewährt, fällt eine Distanzierung von der Annahme der Zielgerichtetheit gesellschaftlicher Entwicklungen, das Dementieren eines unmittelbaren Führungsanspruchs und sogar das Zurückweisen der Definierbarkeit des gesellschaftlichen Gegenstands ausgesprochen leicht. Jede vorgenommene Relativierung erzeugt nur weiteren Forschungsbedarf, während das Verfechten starker Thesen zu diesen drei gesellschaftstheoretischen Knackpunkten einem akademischen Suizid gleichkommt. Eine gesteigerte Ablehnung gesellschaftstheoretischer Ambitionen kommt bei den beiden deutschen „Premiumbürgen“ des Fachs zum Ausdruck: Weber und Simmel verstehen sich selbst nur mit starken Einschränkungen als Soziologen.56 Da der eine eher Ökonom, der andere eher Schriftsteller ist, erscheinen beide der akademischen Konkurrenz als nicht mit dem Verdacht behaftet, allzu hohe Generalisierungsabsichten zu verfolgen. Bei Simmel ist die eingeforderte formale Neutralität seiner „formalen Soziologie“ ein leichtes Zugeständnis, durch das die sozialwissenschaftliche Konkurrenz in ihrer Skepsis besänftigt werden kann. Simmel setzt damit jedoch gleichzeitig die eigenen Anforderungen an die soziologische Theorie herab. Der an wissenschaftlichen Verweisen und Literaturangaben arme, essayistische Schreibstil Simmels offenbart deutlich seine künstlerisch-journalistischen Neigungen. Er ist in affirmativer Weise auf die intellektuelle Wohlgefälligkeit der bürgerlichen Kultur zugeschnitten, wobei selbstverständlich auch die Äußerung von Kritik und das bekundete Unbehagen mit den Konsequenzen der Moderne zum guten Ton gehören. Simmels „Soziologie“57 zeichnet gleichwohl fraglos ein scharfes Bild der modernen Kultur und bildet damit eine wertvolle Ergänzung zum ökonomischen, politischen und histori56 Vgl. Klaus Lichtblau: Soziologie und Anti-Soziologie um 1900. Wilhelm Dilthey, Georg Simmel und Max Weber, in: Peter-Ulrich Merz-Benz/Gerhard Wagner (Hg.): Soziologie und Anti-Soziologie. Ein Diskurs und seine Rekonstruktion. Konstanz 2001, 17-35. 57 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a.M. 1992. 84

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schen Selbstverständnis des zeitgenössischen Bildungsbürgertums. Doch der Blick für das Detail verdirbt bei Simmel den Gang auf das Ganze: Als wissenschaftliche Einheit bleibt sie eine Farce. Ähnlich gebrochen erweist sich das Verhältnis Webers zur Gesellschaftstheorie. Bereits als Kind ein begeisterter Liebhaber detailgesättigter Historien, findet er Zeit seines Lebens Gefallen am „deutenden Verstehen“ kultureller Prozesse. Entgegen seiner eigenen „Wissenschaftslehre“ agiert Weber jedoch nur als Nationalökonom in der Rolle des „Fachmenschen“58. Der Soziologie bedient er sich vor allem, um sich gekonnt von den fachlichen Standards der professionellen Historiker distanzieren zu können, ohne sogleich das Stigma des Dilettanten auf sich zu ziehen. Obgleich dieses Webers Verdienst in der Tat zu Unrecht schmälern würde, dient ihm doch die Bezeichnung „Soziologie“ gewissermaßen nur als zeitgemäßer Deckmantel seines geistigen Steckenpferdes.59 Er benutzt sie gleichzeitig wissenschaftspolitisch, um die ihm verhassten gesellschaftskritischen „Werturteile“60 der Marxisten zu bekämpfen. Dagegen liegt es Weber ganz und gar fern, die Fragmente zur Rechts-, zur Religions- oder zur Herrschaftssoziologie systematisch in Form eines integrativen gesellschaftstheoretischen Konzepts zusammenzuführen. Der Gesellschaftsbegriff bleibt bei ihm eine unliebsame, leere Restkategorie. Aus diesem Grund enthalten Webers wissenschaftstheoretischen Polemiken auch keine genuin soziologische Theorie der Wissenschaft und des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft. Der gesellschaftliche Wert der Wissenschaft besteht für Weber schlicht in der Produktion von nicht an Personen gebundenem Wissen, das in der Form von Technik den Lebensstandard heben hilft.61 Der Wissenschaftler wird in diesem Zusammenhang als Fachbeamter konzipiert, dessen wertneutrale 58 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 576ff. 653. 59 Vgl. Volker Kruse: Max Weber, der Anti-Soziologe, in: P. Merz-Benz/G. Wagner, Soziologie und Antisoziologie, S. 37-60. 60 Max Weber: Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, S. 489-540, insbesondere S. 499ff. 61 Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 582-613, insbesondere S. 593, 607; Max Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 146-214, S. 148ff., 185f. Weber sieht zwar durchaus den ideellen, d.h. ideenfreilegenden und rekonstruktiven Aspekt „kulturwissenschaftlicher“ Analysen, er klärt das Verhältnis zwischen den beiden Modellen aber nur unzureichend und bleibt letztlich aufgrund seines nationalökonomischen und gleichzeitig konservativen Standpunktes dem Paradigma der „Technik“ verhaftet. 85

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Ausbildung an den Universitäten Bedingung für sein Funktionieren innerhalb des übergreifenden bürokratischen Apparates ist. Angesichts des Sonderfalls der verstehenden Sozial- und Geisteswissenschaften argumentiert Weber eher defensiv, indem er den Drang nach „Klarheit“ in den Vordergrund stellt.62 Wissenschaft soll als Selbstzweck betrieben werden, jede weitere Diskussion erscheint Weber als unwürdig. Da Weber solche weiterführenden funktionalen Fragen systematisch ausspart, kann er die Erträge seiner Analyse der Berufsidee nicht konsequent auf sein wissenschaftliches Selbstverständnis als Soziologe anwenden.63 Obgleich er insbesondere durch seine berühmten Vorträge „Politik als Beruf“ und „Wissenschaft als Beruf“ die moderne Auffassung professionellen Handelns entscheidend beeinflusst hat, bleiben seine Analysen den gemeinen Vorstellungen verhaftet, das idealtypische Motiv des Wissenschaftlers sei das Streben nach klarer Erkenntnis und die Früchte der Wissenschaft nähmen grundsätzlich die Form technischer Errungenschaften an. Die Übertragung des sich im Motiv der „Klarheit“ ausdrückenden Autonomieanspruchs der Wissenschaft auf die Soziologie bereitet – abgesehen von ihrem ohnehin kontrafaktischen Charakter – keine weiteren Probleme. Die in Aussicht gestellte (externe) Leistung der Genese von Technik kann jedoch keinesfalls uneingeschränkt auf die Gesellschaftswissenschaft übertragen werden. Gerade in Verbindung mit der beanspruchten „Wertneutralität“ der Forschung ist die von Weber gewählte Form des Umgangs mit der Autologiefrage daher äußerst problematisch. So ist die unmittelbare technische Verwertbarkeit soziologischer Forschungsergebnisse äußerst begrenzt und betrifft nur partielle Bereiche der Soziologie: Die Steuerungsfähigkeit gesellschaftlicher Institutionen beschränkt sich im Wesentlichen auf die Ebene von Organisationen, deren Strukturen grundsätzlich durch explizite Entscheidungen modifiziert werden können. Eine auf derartige Leistungen spezialisierte Soziologie würde daher aus pragmatischer Not ihren Gegenstand künstlich einschränken und einem bürokratischen Missverständnis von Gesellschaft Vorschub leisten. Gleichzeitig unterliegt die durch Webers Wissenschaftsauffassung nahegelegte Vision einer soziologisch gewonnenen Sozialtechnologie von vornherein einer technokratischen Ideologie, deren historische Bedingtheit 62 Max Weber: Wissenschaft als Beruf, Stuttgart 1995, S. 37, 39. Vgl. auch Wolfgang Lefèvre: Zum historischen Charakter und zur historischen Funktion der Methode bürgerlicher Soziologie. Untersuchung am Werk Max Webers, Frankfurt a.M. 1971. 63 Vgl. zu einer solchen Möglichkeit die gesellschaftstheoretische Auslegung der „Berufsidee“ in Kapitel IV, Abschnitt „Organismus und Mechanismus als komplementäre Paradigmen“. 86

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selbst zum Gegenstand der Soziologie gehören würde.64 Schwächt man den technokratischen Anspruch andererseits ab, so gerät die Soziologie bezüglich ihrer gesellschaftlichen Legitimation in Erklärungsnot, sobald sie sich von den finanziellen Leistungen staatlicher Wissenschaftsförderung abhängig macht. Will sie nicht wieder dem expliziten aufklärerischen Anspruch der Gründungszeit verfallen, so ist sie darauf angewiesen, ein alternatives Szenario ihrer gesellschaftlichen Wirkungsweise auszuweisen. Wie geht das Fach mit diesem Problem um? In der sich akademisch etablierenden Soziologie kommt es zu einer eigentümlichen Blockierung solcher Fragen, die bis heute nachwirkt. Aus der Notwendigkeit, in der Öffentlichkeit intellektuellen Anschluss an die bildungsbürgerliche Vertrautheit mit allen Angelegenheiten der Gesellschaft zu bewahren, erwachsen auffällige Explikationstabus. Der souveräne Stil des Gebildeten beruht auf der gegenseitigen Unterstellung des Verfügens über Wissen und Kompetenzen.65 Geschmack bleibt implizit. Dazu gehört auch der Gestus des selbstsicheren Auskennens in sozialen Fragen. Für eine Rolle des Soziologen als „Experten der Gesellschaft“ ist im Salon kein Platz vorgesehen, denn dann müsste allen anderen die Rolle von Laien zugemutet werden. Dies steht jedoch im Widerspruch zum elitären Selbstverständnis des Bildungsbürgertums. Daher meiden Soziologen gewöhnlich das Thema „Gesellschaft“ und beschäftigen sich stattdessen bspw. mit unverdächtigen methodischen Spezialproblemen. Indem die Soziologie gängige Schlagwörter aufgreift und zu förderungswürdigen Projekten umkomponiert, erforscht sie dann gleichsam das in Ökonomie und Politik abfallende thematische Aas. Der latente Gestaltungsanspruch, den vor allem die amerikanische Sozialforschung in diesem Zusammenhang unreflektiert übernimmt, lässt sich am Beispiel von George Lundberg herausarbeiten.66 Unter dem Deckmantel statistischer Objektivität wird ein politisches Leitbild der technokratischen Verwaltung reproduziert, das als heimliches Fortschrittsideal in Vorworten und Festreden transportiert, in der methodologischen Reflexion jedoch systematisch verleugnet wird. Die Möglichkeit der Berufung auf den charismatischen „Antisoziologen“ Max Weber kommt in diesem Zusammenhang gerade recht. Noch in einem anderen

64 Vgl. Max Horkheimer: Traditionelle und Kritische Theorie, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1988, S. 165-225; J. Habermas, Technik und Wissenschaft als Ideologie. 65 Vgl. Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles was man wissen muss, Frankfurt a.M. 1999, S. 395-399. 66 Vgl. Michael Bock: Soziologie als Grundlage des Wirklichkeitsverständnisses. Zur Entstehung des modernen Weltbildes, Stuttgart 1980, S. 91-95. Vgl. auch F. Jonas, Geschichte der Soziologie, Bd. 2, S. 289f. 87

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Punkt als der Berufsidee hat Weber daher ein quasi-autologisches Moment berührt: Wenn sowohl der Gedanke der wissenschaftlichen Einheit als auch die gesellschaftlichen Gestaltungsansprüche der Soziologie zurückgewiesen werden, dann wird vor allen Dingen das persönliche Charisma des Soziologen zur entscheidenden Bedingung seiner Bewährung. Der individuelle oder kollektive „Wille zur Macht“ ersetzt dann den Bezug zum Ganzen. Erst die Kritische Theorie vertritt demgegenüber eine Strategie der dialektisch reflektierten Parteinahme zugunsten der Praxis. Die bestehenden Verhältnisse sollen transzendiert und vor dem Hintergrund der gewonnenen utopischen Folie kritisiert werden. Die traditionelle Theorie und deren Grundsatz der „Wertneutralität“ werden relativiert.67 Der webersche Standpunkt wird angesichts der ethischen Probleme um Atombomben, Menschenversuche und „arische Reinigungen“ an den Universitäten auch für Soziologen problematisch. Er kann nun assoziativ mit der nationalsozialistischen Ideologie der „reinen Wissenschaft“ in Verbindung gebracht werden.68 Die „kritische“ Gesinnung erzwingt dagegen geradezu einen normativen Standpunkt, denn die ihr entspringende Soziologie will die Perspektive des gesellschaftlich involvierten Teilnehmers reflektieren. Angesichts der Erfahrung von Auschwitz scheint auch klar, dass es sich dabei vor allem um den Standpunkt der Unterdrückten, Benachteiligten und Stigmatisierten handeln müsse.69 Die autologische Reflexion des affirmativen Charakters einer vermeintlich neutralen, technokratisch geprägten Wissenschaft droht allerdings den in akademischen Kreisen erwarteten wissenschaftlichen Anspruch zu korrodieren. Hierüber wird erbittert gestritten.70 Andererseits wäre die marxistische Strömung eine zu starke externe Konkurrenz, um sie aus dem akademischen Betrieb verdrängen zu können. Sie wird stattdessen nach und nach assimiliert. Bei den Vertretern der Kritischen Theorie lassen sich dementsprechend Indizien dafür beobachten, dass man sich in Form eines bequemen Arrangements innerhalb der akademi67 Vgl. M. Horkheimer, Traditionelle und Kritische Theorie. 68 Vgl. Herbert Mehrtens: Verantwortungslose Reinheit. Thesen zur politischen und moralischen Struktur mathematischer Wissenschaften am Beispiel des NS-Staates, in: Georges Fülgraff/Annegret Falter (Hg.): Wissenschaft in der Verantwortung. Möglichkeiten der institutionellen Steuerung, Frankfurt 1990, S. 37-54. 69 Der ausgezeichnete Ort für die entsprechende Gesellschaftskritik ist nicht zufällig Deutschland, zum Teil auch das im zweiten Weltkrieg von Deutschland annektierte Frankreich, in dem das Trauma der Kollaboration aufzuarbeiten ist. 70 Vgl. Theodor Adorno u.a. (Hg.): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied 1969. 88

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schen Strukturen zu „versöhnen“ bereit ist.71 Revolutionäre Intentionen werden widerrufen. In den siebziger Jahren ergibt sich, zumindest an den deutschen Universitäten, eine Pattsituation im Bereich der Gesellschaftswissenschaften. Die Marxisten werden toleriert – und ruhiggestellt. Die seither vollzogene Integration der Soziologie in das institutionelle System der modernen Gesellschaft ist wohl am ehesten mit Mitteln der parsonsschen Systemtheorie zu reflektieren. Soziologische Theorien bedienen demnach Funktionen der Bestandserhaltung des Gesellschaftssystems.72 Vor diesem Hintergrund lässt sich bspw. das Phänomen des sozialwissenschaftlichen Massenstudiums als sozialisatorische Maßnahme begreifen, die es gestattet, revolutionäre und kritische Potentiale der jüngeren Generationen73 zu entschärfen und diesbezügliche „Anomieeffekte“ einzudämmen. Aus dem ursprünglich mit gesellschaftlichen Reformansprüchen aufgetretenen Fach ist damit eine gut getarnte, weil unintendierte reaktionäre Kraft geworden. Wie wirkt sich diese Situation auf den Umgang mit dem autologischen Moment der Gesellschaftstheorie aus? Sowohl das Paradigma der Sozialtechnologie wie jenes der Aufklärung mussten in dem gleichen Maße ihre explizite Überzeugungskraft einbüßen, wie sie ihre implizite Suggestivität bewahrt haben. Bezüglich der Problematik einer Sozialtechnologie hat dies zu zahlreichen theoretischen Scheingefechten geführt, die von systematischen 71 So geht Adorno trotz seiner Sympathien mit der 68er Bewegung als es ernst wird auf sichere Distanz. Bei Habermas finden sich ganz subtile Anzeichen einer weisen - oder je nachdem: feigen – Zurückhaltung direkt im Text: Im Abschlusskapitel der Theorie des kommunikativen Handelns (J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 548-593) sollen die „Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie“ ausgewiesen werden. Habermas folgt somit der strukturellen Logik, eine Gesellschaftstheorie durch ein autologisches Kapitel zu beenden, welches die eigenen gesellschaftlichen Bedingungen und die eigene Wirksamkeit reflektiert. (Bereits bei Comte trägt die letzte Lektion des Cours den Titel „Die endgültige Wirkung der positiven Philosophie“.) Anstatt hier jedoch Aussagen über mögliche Zusammenhänge zwischen Kritischer Theorie und gesellschaftlicher Öffentlichkeit/Lebenswelt zu treffen, beschränkt sich Habermas aber auf eine wissenschaftsinterne Aufgabendeutung. Die Fruchtbarkeit der Theorie erweise sich „allein“ (!, ebd., S. 562) in der sozialwissenschaftlichen und philosophischen Anschlussforschung. 72 Zum „affirmativen“ Charakter der parsonsschen Theorie selbst vgl. Tanja Kohlpoth: Gesellschaftsbild und Soziologische Theorie. Talcott Parsons’ Funktionalismus im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung der USA in den 1950er und 1960er Jahren, Kassel 2006. 73 Im Sinne von Raoul Vaneigem: Handbuch der Lebenskunst für die jüngeren Generationen, Hamburg 1980. 89

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Missverständnissen und gegenseitiger Irritation geprägt waren. Die vorgebrachten Kritikpunkte richten sich vor allem auf die empirische Sozialforschung. Da das Vorhaben einer zentralen Top-Down-Steuerung komplexer sozialer Zusammenhänge offensichtlich ein illusorisches Unterfangen ist – wie sich historisch nachdrücklich im Falle der sozialistischen Organisationsgesellschaften gezeigt hat – wird der Anspruch einer sozialtechnischen Kontrolle der Gesellschaft im Ganzen in der Soziologie gegenwärtig allerdings nirgendwo explizit erhoben. Stattdessen begnügt man sich mit der Konzentration auf eng begrenzte soziale Felder, in denen spezialisierte Soziologen ihr feldspezifisches Wissen beratend einbringen oder konkrete Auftragsforschung betreiben. Das vermeintliche Technokratieproblem lässt sich dadurch weitestgehend entschärfen: Die empirische Sozialforschung wird von der gesellschaftlichen Totalität und einer auf den Gegenstand Gesellschaft abzielenden, allgemeinen Soziologie schlichtweg abgekoppelt. Insofern sich der jeweilige Forschungsgegenstand somit direkt aus dem Anwendungsbezug ergibt, konvergieren Theorie und Praxis gewissermaßen. Das Bezugsproblem der Autologie verschwindet damit schlichtweg: Soziologische Forschungsinstitute, -programme und Schulen müssen sich genauso etablieren (und genauso wenig legitimieren) wie Dönerbuden, private Rundfunksender oder Fußballvereine. Mit anderen Worten: Das Soziologieunternehmen funktioniert genau dann, wenn seine Leistungen gefragt sind, sei es als suggerierte Sozialtechnik oder sei es als politischer Legitimationsbeschaffer. Die „technische“ Deutung soziologischer Forschung als gesellschaftlicher Dienstleistung lässt sich überdies gut mit einer liberalen Gesinnung vereinbaren, welche großen Wert auf die äußerlich bewahrte Wertneutralität der Sozialwissenschaften legt. Weiterführende gesellschaftstheoretische Ambitionen werden von dieser Seite mit äußerster Skepsis betrachtet oder von vornherein als ideologisch eingefärbt abgelehnt. Der Begriff der Gesellschaft gerät damit zur augenzwinkernd gebrauchten Metapher. Der mit dem Aufklärungsanspruch verbundene Gestus des „Besserwissens“ erregt seinerseits Verdacht. Der Aufklärer ist ohnehin gezwungen, sich als bloßes Medium zu stilisieren und nicht etwa als moralische Autorität aufzutreten.74 Eine derart verstandene Soziologie würde somit als gesellschaftliche „Reflexionsinstanz“ fungieren, bliebe aber inhaltlich grundsätzlich neutral. Einer als Reflexion begriffenen Aufklärung geht es vorrangig um eine gesellschaftsübergreifende „Erziehung zur

74 Religiöse Propheten bedienen sich von jeher einer solchen Figur der Selbstinszenierung als Medium, indem sie ihre Ideen als „Eingebungen“ interpretieren. 90

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Mündigkeit“75. Im Hinblick auf die soziologische Theoriearbeit im engeren Sinne führt dies zu einer zurückhaltenden Haltung: Die Kompatibilität mit den moralischen Konfliktlagen der lebensweltlichen Öffentlichkeit erscheint wichtiger als gesellschaftstheoretische Stringenz. Wenn die überkommenen Vorstellungen einer gesellschaftlichen Fortschrittsentwicklung nicht mehr überzeugen, bei der die Soziologie sich noch als geistiger Katalysator begreifen konnte, kann immer noch auf Kritik umgestellt werden.76 Es geht dann zumindest um die Vermeidung drohender Katastrophenszenarien, eines Verfalls in Entfremdung und Barbarei und um die Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, kurz: um das Offenhalten der Zukunft. Der Gesellschaftsbegriff wird damit zu einer bloßen Chiffre für die Möglichkeit einer moralisierenden Haltung.

Tabelle 1: Die Paradigmen Sozialtechnologie und Soziologische Aufklärung in idealtypischer Gegenüberstellung Wirkungsparadigma

Sozialtechnologie

Primäre Affinität

Empirische Sozialforschung Konkrete soziale Probleme Informationen Rationalität durch Expertise „falscher“ Positivismus

Fokus Resultate Erfolgsformel Methodologie

Soziologische Aufklärung Gesellschaftstheorie Gesellschaftliche Prinzipien Erkenntnisse Vernunft durch Einsicht „praktischer“ Idealismus

Die beiden Paradigmen der „Technik“ und der „Aufklärung“ (vgl. zusammenfassend Tabelle 1) sind trotz dieser immanenten Probleme keineswegs obsolet geworden und finden sich in eleganten Variationen und Kombinationen auch bei den neueren gesellschaftstheoretischen Konzepten jenseits der Kritischen Theorie wieder.77 In exemplarischer Wei-

75 Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a.M. 1971. 76 Comte zum Trotz blieb der „kritische Zustand“ und der damit einhergehende Mangel an „positiven Ideen“ so gesehen keineswegs auf die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts beschränkt. 77 Vgl. René König: Soziologie heute, Zürich 1949. 91

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se soll dies im Folgenden anhand des Konzepts der reflexiven Modernisierung (a) und der Systemtheorie (b) verdeutlicht werden. Zu (a): In der von Giddens und Beck geprägten Formel der „reflexiven Modernisierung“78 wird die zirkuläre Verschränkung des sozialwissenschaftlichen Wissens mit der sozialen Praxis neuerlich auf den Begriff gebracht. Angesichts jener Struktur der „doppelten Hermeneutik“79 werden die unreflektierten Gestaltungshoffnungen der vorakademischen Soziologen drastisch relativiert. Die Einschlägigkeit soziologischer Gegenwartsdiagnosen bemisst sich direkt an der Rezeptionsfähigkeit der Praxis. Anders gesagt: Bestimmte Konzepte bewähren sich, andere nicht.80 Welche Diagnosen den Charakter einer „selbsterfüllenden Prophezeiung“ im Sinne Mertons annehmen, ist im Voraus kaum absehbar. Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Soziologie folgen insofern allenfalls dem Muster einer „Hilfe zur Selbsthilfe“. Als kontrollierte „Begriffstherapie“ kann jede Gesellschaftstheorie daher nur scheitern. Wenngleich Begriffe in der Tat realitätsprägend wirken können, so verbürgt eine visionäre Begrifflichkeit doch weder das tatsächliche Eintreten einer entsprechenden Zukunft, noch gibt es die Soziologie als verbindliche Deutungsinstanz für gesellschaftliche Angelegenheiten. In der Öffentlichkeit findet stattdessen ein permanenter Deutungskampf um konkurrierende Rahmungsversuche statt. Wie Comte bereits gesehen hatte, bleiben die wissenschaftlichen Begriffe und das gewonnene Wissen relativ, erfassen also niemals in einem endgültigen Sinne das „Wesen“ der Gesellschaft. Der moderne Soziologe ist der Praxis immer nur einen kleinen Schritt voraus.81 Er beobachtet die Gesellschaft nicht von einem neutralen, archimedischen Punkt aus, sondern gleitet – mit einem Wort von Bataille – gleichsam auf seifigen Brettern dahin. Im Sinne der „reflexiven Modernisierung“ ist die Soziologie daher mehr Reflexionsmedium als steuernde Instanz. Der Versuch einer bewussten Steuerung sozialer Strukturen ist zwar ein charakteristisches Merkmal im Handeln gerade jener Akteure, die tatsächlich einen entscheidenden Einfluss auf gesellschaftliche Transformationsprozesse 78 Ulrich Beck/Anthony Giddens/Scott Lash: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a.M. 1996. 79 Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York 1995, S. 49, 338. 80 So auch Ulrich Beck: Wissenschaft jenseits von Wahrheit und Aufklärung? Reflexivität und Kritik der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung, in: ders.: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986, S. 254-299. 81 Vgl. Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a.M. 1996, S. 52-63, insbes. S. 60. 92

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ausüben. Die konkurrierenden Steuerungsmanöver neutralisieren sich jedoch in der Folge gegenseitig und führen zu einer ergebnisoffenen Dynamik. Giddens vergleicht die Gesellschaft in diesem Zusammenhang mit einem unlenkbaren „Dschagannathwagen“.82 Als Konsequenz aus der Einsicht in den durch und durch reflexiven Charakter der Moderne entwickelt Giddens denn auch sein Konzept des „utopischen Realismus“.83 Wenn auch zuverlässige Prognosen nicht möglich seien, so könne die Soziologie doch wenigstens potentielle Zukunftsdynamiken extrapolieren und entsprechend positive oder negative Szenarien entwerfen. Diese Leitbilder bzw. Katastrophenmodelle könnten für die Praxis dann als ideelle Folie dienen, aus denen sich zwar kein konkretes Problemlösungskonzept, aber doch eine grobe Orientierung ergebe. Wie es auf den ersten Blick scheint, folgt die Theorie der „reflexiven Modernisierung“ daher dem Wirkungsmodell der soziologischen Aufklärung. Sie tritt mit dem ausdrücklich formulierten Anspruch einer „Wiederbelebung der Soziologie“ an, der über die Inszenierung einer „öffentlichen Debatte“ eingelöst werden soll.84 Giddens lehnt es explizit ab, konkrete Akteure für die Aufgabe einer Initiierung der gegenwärtig erforderlichen sozialen Wandlungsprozesse verantwortlich zu machen. Andererseits werden in der Tat verschiedene herausgehobene Akteure, wie bspw. der Staat oder soziale Bewegungen identifiziert. Als spezifischer Adressat der giddensschen Soziologie können sowohl „die Politik“, auf die beratend eingewirkt werden soll85, als auch die qualifizierte Öffentlichkeit sozialer Bewegungen und gesellschaftlicher Eliten gelten. Da der „Stoff“ der reflexiven Modernisierung in der Form sozialwissenschaftlichen Wissens gedacht ist, wird hier das sozialtechnische Wirkungsparadigma insoweit aufgegriffen, als die Akteure der sozialen Praxis dieses Wissen im Sinne strategischer Steuerungskalküle assimilieren. Die Praxis rüstet gleichsam soziologisch auf. Und wie Flugzeugbomber heute kein taugliches technisches Mittel sind, um einen Krieg zu gewinnen – da die Gegenseite inzwischen auch welche hat –, werden Mittel, die sich in Konkurrenzsituationen neutralisieren, im Allgemeinen umso unvermeidlicher zu Standards. So wird zwar die Hoffnung auf ei-

82 83 84 85

Ebd., S. 187-190. Ebd., S. 190-195. U. Beck/A. Giddens/S. Lash, Reflexive Modernisierung, S. 10. Giddens prägte in diesem politikberatenden Zusammenhang das Schlagwort des Dritten Weges, welches sich Ende der neunziger Jahre mit der Idee der Erneuerung der Sozialdemokratie verband. Vgl. Anthony Giddens: Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt a.M. 1999. 93

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nen Erfolg der Sozialtechnologie offiziell aufgegeben, nicht jedoch das Mittel als solches! Ein Ulrich Beck ist folglich Experte und populärer Begriffspräger in einem. Ob diese Form des kritischen Arrangements – für die Beck und Giddens heute stehen können – in seiner vermeintlich gesteigerten Reflexivität tatsächlich – wie von den Autoren suggeriert – einen Fortschritt gegenüber „einfachen Modernisierungstheorien“ darstellt, bleibt ebenso fraglich wie das dieser Deutung zugrundeliegende Fortschrittskonzept selbst. Zu b): Die Systemtheorie luhmannscher Provenienz hält sich in Sachen eigener Wirkungsanspruch noch weiter zurück als dies in der Soziologie ohnehin schon üblich ist. Für Beratungszwecke steht man selbstverständlich gleichwohl zur Verfügung und eine gewisse popkulturelle Wirkung der Systemtheorie ist nicht zu verkennen. Ist die Zurückhaltung also nur Bescheidenheit – oder gar Strategie? Immerhin reflektiert die Systemtheorie den Zusammenhang von Soziologie und Gesellschaft und das damit berührte Verhältnis von Theorietechnik und Moral gründlicher als irgendjemand sonst.86 Dies geschieht zum Teil aus einer inneren Konsequenz des Nachspürens von Selbstbezüglichkeiten und beobachterabhängigen Konstruktionen, zum Teil aber auch aufgrund des öffentlichen Rechtfertigungsdrucks, unter den die Systemtheorie durch die vehemente externe Kritik gerät. Das Thema der Autologie bildet gewissermaßen die Klammer, unter der die luhmannsche Gesellschaftstheorie ihre Werkgestalt in sich schließt.87 Identifiziert man den offiziellen Anfang des luhmannschen Theorieprojekts in dem Aufsatz „Soziologische Aufklärung“88, der mit seiner in Münster gehaltenen Antrittsvorlesung korrespondiert, so ergibt sich bereits aus dem Titel die Vermutung eines ideellen Wirkungsverständnisses. Die Systemtheorie will – so erfährt man – durch das Einnehmen einer „inkongruenten Perspektive“ das Selbstverständnis der Gesellschaft irritieren. Die geplante Gesellschaftstheorie wird somit als eine Art anspruchsvolle Verfremdungstechnik eingeführt. Luhmann geht in diesem Zusammenhang auf Distanz zum „Projekt der Aufklärung“ 86 Vgl. Niklas Luhmann/Stephan Pfürtner (Hg.): Theorietechnik und Moral, Frankfurt a.M. 1978. 87 Zum Begriff des Gestaltschließungszwangs vgl. Fritz Schütze: Die Technik des narrativen Interviews in Interaktionsfeldstudien. Dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen. Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, Arbeitsberichte und Forschungsmaterialien Nr. 1. 88 Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung, in: ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 1, Opladen 1979, S. 66-91. 94

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und stellt eine „Abklärung der Aufklärung“ in Aussicht. Die autologische Reflexion bezieht sich hier folglich noch in erster Linie auf die anderen, bereits vorhandenen gesellschaftstheoretischen Entwürfe. Der von Habermas89 bereits früh erhobene Verdacht, die Systemtheorie sei insgeheim als Sozialtechnologie konzipiert (infolgedessen Luhmann überhaupt erst zu Prominenz gelangen konnte), lässt sich anhand dieses Antrittsprogramms jedenfalls kaum decken. Die entfachte Diskussion erweist sich gleichwohl als äußerst hartnäckig und bezieht sich im Wesentlichen auf das angemessene „normative“ Selbstverständnis der Soziologie. Noch der dramaturgische Schlussakkord der Systemtheorie, welcher gleichzeitig ihre theoretische Klimax darstellt, zehrt genau von diesem thematischen Grundmotiv. Bereits im Titel „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ – den Luhmanns theoretisches Vermächtnis trägt – wird der zirkuläre, ja konstitutive Zusammenhang von Systemkonstruktion und Selbstbeobachtung des Systems im Allgemeinen konsequent auf das Gesellschaftssystem im Konkreten übertragen. Dass Luhmann sein Werk nicht einfach „Theorie der Gesellschaft“ nennt, ist dem Umstand geschuldet, dass „Gesellschaft“ nur ein durch diese selbst konstituierter Begriff sein kann und die Bewährung einer solchen Theorie mithin der Logik der Beobachtung zweiter Ordnung unterworfen ist. Damit ein System sich operativ schließen kann, muss es sich selbst von seiner Umwelt unterscheiden können. Dies erfolgt auf der Ebene der elementaren Operationen zunächst anhand der basalen Unterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz. Auf der Ebene des systemeigenen Gedächtnisses kommt es zur Kondensierung von Identitäten. Komplexe Sinnsysteme arbeiten darüber hinaus mit Selbstbeschreibungen, die aus bestimmten semantischen Verdichtungen oder rituell beschworenen Mythen bestehen können, insbesondere im Falle gesellschaftlicher Funktionssysteme aber auch eine theoretisch elaborierte Form annehmen können. Luhmann nennt diesen Typus theoretischer Selbstbeschreibungen die „Reflexionstheorien“ der Funktionssysteme. Dem damit umrissenen Thema der „Selbstbeschreibungen“ widmet Luhmann den letzten von fünf Teilen seines Hauptwerkes und räumt diesem damit eine immense theorieimmanente Bedeutung ein. Der Text mündet schließlich in einem Teilkapitel mit dem Titel „Reflektierte Autologie: die soziologische Beschreibung der Gesellschaft in der Gesellschaft“, welches – abgesehen

89 Vgl. Jürgen Habermas/Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung? Frankfurt a.M. 1971. 95

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von einer letzten Nachbemerkung über das Schlagwort der „sogenannten Postmoderne“ – den Abschluss des Werkes bildet.90 Diese reflektiert-autologische Struktur kann als gleichermaßen absurd wie bezeichnend gelten. Boshaft interpretiert heißt dies ja, dass das Projekt „Soziologische Aufklärung“ nach 30 Jahren theoretischer Begriffsakrobatik – die für Uneingeweihte schwer zu durchschauen ist und daher mit viel Skepsis beäugt wird – am Ende zu nichts anderem als purer Selbstbezüglichkeit führt. Luhmanns Abschiedsvorlesung schließt, ganz in diesem Sinne, mit den Worten: „Was steckt dahinter? Nichts.“91 Andererseits zeigt sich in der damit am eigenen Beispiel performierten Figur das zirkuläre Prinzip der autonomen Konstitution von Sinn. Gesellschaftlicher Sinn muss sich operativ bewähren. Es gibt keine externen Sicherheiten und damit auch kein theologisches, vernunftphilosophisches oder soziologisches Fundament, von dem aus die Gesellschaft sich objektiv beobachten ließe. All dies ist immer schon Teil der Gesellschaft. Damit geraten all jene Selbstbeschreibungen potentiell unter Druck, die mit einer solchen reflektiert-autologischen Gesellschaftstheorie zu konkurrieren beanspruchen, denn es stellt sich die Frage: Wer kann es besser? In Politik und Massenmedien, in Wirtschaft und Kultur ist man indessen von einer explizit eingeräumten Grundlagenkrise weit entfernt. Niemand ist unmittelbar gezwungen, sich ausgerechnet auf eine theoretisch konsistente Selbstbeschreibung zu stützen. Eine entsprechende empirische Umfrage würde vermutlich zeigen, dass im Allgemeinen andere „Werte“ bevorzugt werden: Unterhaltung, Gesundheit, Wirtschaftswachstum, Freiheit, Demokratie. Kommunikationssysteme operieren autonom und lassen sich daher grundsätzlich nicht von Systemtheorie, Soziologie oder Wissenschaft diktieren, wie sie die Welt zu sehen haben. Denn Autonomie bedeutet auch, eigenständig Prämissen zu setzen, ohne dass dies durch die vollständige Erkenntnis aller relevanten Umstände determiniert wäre. Informationsbeschaffung bindet Zeit und Ressourcen. „Theoriegenese“ ist deshalb in der Praxis nur eine unwahrscheinliche, beinahe schon pathologische Option, zumal abzusehen ist, dass daraus noch nicht einmal etwas Konkretes folgt. Die gesellschaftlichen Bewährungschancen der Gesellschaftstheorie sind daher vordergründig eher gering. Wenn es einmal Gesellschaftstheorien gibt, ziehen diese gleichwohl aus ganz unterschiedlichen und zum Teil diffusen Gründen Auf90 Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 1128-1142. 91 Niklas Luhmann: „Was ist der Fall“ und „Was steckt dahinter“. Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, H. 4, S. 245-260. 96

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merksamkeit auf sich. Dies beeinflusst zweifellos auch die öffentlich kursierenden, oft formelhaft greifbaren Selbstbeschreibungen der Gesellschaft.92 Schlagworte und kluge Phrasen sind karrierefähig. Ob die Soziologie tatsächlich „als Grundlage des Wirklichkeitsverständnisses“, also des „modernen Weltbildes“93 gelten kann, ist daher eine Frage mit beträchtlichem Interpretationsspielraum.94 Die großen soziologieinternen Akzeptanzprobleme der Systemtheorie resultieren – ganz entgegen dem habermasschen Verdacht – vermutlich gerade aus ihrer Unverträglichkeit mit dem Modell einer sozialtechnologischen Manipulation der Gesellschaft und ihrer Teilbereiche. Unter empirischen Sozialforschern wie auch unter den mit gesellschaftskritischem Gestus auftretenden Sozialphilosophen ruft das Konzept operativ geschlossener, autopoietischer Sinnsysteme starken Widerwillen hervor, weil die im projektförmigen Forschungsbetrieb suggerierten Erkenntnishoffnungen und die durch die gesellschaftskritische Philosophie angestoßene politische Agitation von der heimlichen Idee einer wissensbasierten Steuerbarkeit der untersuchten sozialen Felder zehren. Die formulierte Gesellschaftskritik unterstellt überdies die moralische Zurechenbarkeit der kritisierten Verhältnisse auf die Praxis und ignoriert dabei, dass erst die Kritik diese Verhältnisse zu dem verdinglicht, was sie zu sein scheinen.95 Die durch die Systemtheorie favorisierte Verbindung ei92 An der operativ erforderlichen Komplexitätsreduktion in Politik, Massenmedien, Wirtschaft und Biographie ist dabei prinzipiell nichts zu ändern. Der Manipulationsverdacht durch selektive Darstellung kann somit entkräftet werden, es sei denn, diese erfolgt wider besseres Wissen. Die Wissenschaft steht erkenntnistheoretisch vor demselben Problem, dass die Welt an sich nur durch Schematisierungen zugänglich ist. Die Bewährung soziologischer Selbstbeschreibungen höherer Komplexität ist mithin auch an die Aufnahmefähigkeit der Praxis gebunden. 93 M. Bock, Soziologie als Grundlage des Wirklichkeitsverständnisses. 94 In der öffentlichen Wahrnehmung gelten in jedem Falle andere, zumeist destruktive Faktoren als entscheidend. Es heißt eher „Leben nach Auschwitz“ als „Leben nach Adorno“. Man hört: „9/11 changed the world!“, aber selten: „Luhmann hat die Welt verändert!“. 95 Jeder, der Bourdieus Studie über die in der ästhetischen Distinktion sich manifestierenden Statuszuschreibungen liest, wird unmittelbar einen Impuls spüren – nicht: dagegen aufzubegehren, sondern seine eigenen Geschmackspräferenzen kritisch zu prüfen und Hinweise zur persönlichen Erwirtschaftung von Distinktionsgewinnen entnehmen. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M. 1987. Die dem Marxismus verwandte „Praxistheorie“ Bourdieus scheint vom primären Wirkungsverständnis her gleichwohl eher ein wissens- als ein machtbasierter Manipulationsversuch zu sein. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt a.M. 1979. Da hier aber die politischen Probleme etwas kleinteiliger in den Blick geraten und das gesellschaftliche Ganze als Kategorie daher in den Hintergrund tritt, mag es einen stärkeren aktionistischen 97

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nes am Sinnbegriff orientierten, kommunikationszentrierten Gesellschaftsverständnisses mit dem Anspruch auf soziologische Aufklärung verträgt sich weder mit der materialistischen Gesellschaftsauffassung der marxistisch geprägten Gesellschaftskritik, noch mit dem an kleinteiligeren Krisenphänomenen orientierten universitären Forschungsbetrieb und schon gar nicht mit der auf quantitativ fassbare „brute facts“ ausgerichteten Praxis empirischer Sozialforschung. Stärker noch als der Kritischen Theorie gelingt es der Systemtheorie deshalb, sich dem in der bürgerlichen Sozialwissenschaft gefundenen Ausgleich zwischen ideologischen Neutralitätsformeln und rhetorisch reklamierten Praxisintentionen partiell zu widersetzen und stattdessen die ideengeschichtliche Kontinuität zum ursprünglichen vorakademischem Selbstverständnis der Soziologie zu reaktivieren. Es zeigt sich somit, dass die latente Tendenz soziologischer Schulen zu einer der beiden idealtypischen Wirkungsparadigmen nicht zuletzt auch vom gesellschaftlichen Gegenstandsverständnis abhängt. Das Szenario der Aufklärung setzt die Annahme eines ideellen Spielraums gegenüber den Sachzwängen der materiellen Realität voraus, während das Modell der Technik die materielle Manipulierbarkeit sozialer Sinnzusammenhänge unterstellt.96 Ob eher materiell-institutionelle Interventionen nach dem Paradigma der Sozialtechnologie angestrebt oder aber geistigkommunikative Selbstbeobachtungen nach dem Muster der Aufklärung anvisiert werden, hängt davon ab, ob die Gesellschaft primär als Aggregat individualer Handlungsentscheidungen und historisch sedimentierter, materialer Herrschaftsverhältnisse einerseits oder als kommunikativsymbolischer Sinnzusammenhang andererseits verstanden wird. Paradoxerweise korreliert eine ontologische Hypostasierung der Gesellschaft als eigendynamischer, emergenter Sinnzusammenhang sinnlogisch mit der autologischen Form einer internen Perturbation anhand soziologischer Aufklärung. Dieses Modell war als comtesche „Lösungdie-keine-ist“ des konstitutiven Programms der Soziologie rekonstruiert worden (Kapitel II). Das Konzept einer externen Manipulation sozialer Strukturen in der Form einer Sozialtechnologie – die doch aus Sicht der Hang zur implementierungsförmigen Anwendung soziologischer Konzepte geben: Bourdieu mischt sich jedenfalls kritisch in politische Debatten ein und drängt auf die konkrete Veränderung der bestehenden Verhältnisse. 96 Es liegt der Vergleich der Konzepte Technik und Aufklärung mit den beiden religiösen Varianten eines theozentrischen bzw. eines kosmozentrischen Weltbildes nahe. Im ersten Falle geht es um akteursbezogene Entscheidungen (des Gottes bzw. Sozialingenieurs), im zweiten um die ganzheitliche ideelle Einheit der Gesellschaft bzw. der Welt, die auf kontemplative Weise zu sich selbst kommt. 98

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Kritischen Theorie gerade als „positivistische“ Variante der Verdinglichung gesellschaftlicher Verhältnisse in Verdacht gestanden hatte – geht stattdessen mit einer Relativierung des starken Begriff von Gesellschaft als einer sozialen Totalität einher. Die Abschwächung des ontologischen Moments der Gesellschaftstheorie führt in der Folge zur Vernachlässigung des autologischen Moments: Das Bezugsproblem verschwimmt. Während die erste Variante als typisch für den vorakademischen Gründergeist des Faches gelten kann, verträgt die zweite Variante sich besser mit den formalen Entscheidungsroutinen des wissenschaftlichen Lehrund Forschungsbetriebs. Das Programm einer soziologischen Gesellschaftstheorie würde damit allerdings insgeheim aufgegeben. Indes ist die Lage nicht gar so schlicht.97 Augenscheinlich besteht auch in den soziologischen Ansätzen der Gegenwart ein innerer Zusammenhang zwischen dem durch ein soziologisches Paradigma vertretenen wissenschaftlichen Anspruch sowie dessen methodologischer Umsetzung einerseits und gewissen apriorischen Annahmen über die Beschaffenheit der sozialen Welt andererseits. Dies wird in der aktuellen Forschungslandschaft bspw. an der paradigmatischen Differenz zwischen quantitativen und qualitativen Methoden deutlich. So ist in der qualitativen Sozialforschung die methodische Begründung der Generalisierbarkeit von Ergebnissen grundsätzlich an die Unterstellung einer sinnhaften Verfassung der sozialen Welt gebunden. Die entwickelten Hypothesen werden an exemplarischen Fällen und Textstellen gewonnen und durch Mittel einer kontrastierenden Forschungslogik erhärtet. Die in diesem Zusammenhang hermeneutisch erschlossenen Sinnstrukturen fungieren mithin als „Medium“ der soziologischen Forschung. Erst die Annahme einer durchgreifenden, permanenten Strukturierung von alltäglichen Interaktionssituationen durch Kontexte sozialer Beziehungen rechtfertigt die Forschungslogik einer extensiven Ausdeutung qualitativen Datenmaterials hin zu einer Fallhypothese, die unter sukzessivem Ausschluss sonstiger Deutungsmöglichkeiten gewonnen wird. Die quantitative Methodik der repräsentativen Erhebung variablenförmig operationalisierbarer Daten und deren statistische Ausbeutung setzt demgegenüber die empirische Validität der einschlägigen Kategorien und Items voraus. In der Forschungspraxis kondensieren sich dabei Erfahrungswerte aus, welche professionelle Routinen etablieren. Den97 Als Beleg für das Fortdauern jenes ersten Typus innerhalb der akademischen Soziologie wäre neben Niklas Luhmann bspw. an die Soziologie Hans Freyers zu denken. Vgl. Elfriede Üner: Soziologie als „geistige Bewegung“. Hans Freyers System der Soziologie und die „Leipziger Schule“, Weinheim 1992. 99

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noch bleiben die verhandelten Zusammenhänge eine raffinierte, wenngleich wie im Falle von Meinungsumfragen zum Teil selbst praktisch wirksame Konstruktion. „Wer je eine Statistik interpretiert hat, weiß, dass das bloße rechnerische Verhältnis von Variablen noch keine soziologische Bedeutsamkeit darstellt, sondern diese erst durch die Handhabung soziologischen Unterscheidungs- (i.e. Urteils-)Vermögens zustande kommt. Wem das Missverhältnis der unscharfen Konstruktion von Variablen und der Exaktheit der statistischen Berechnungen je aufgefallen ist, wird der Selbstbezüglichkeit des forschenden Blicks gewahr werden müssen.“98

Das autologische Moment quantitativer Sozialforschung beschränkt sich demgegenüber zumeist auf die methodische Frage nach der stochastischen Aussagekraft der ermittelten statistischen Korrelationen. Diese eigentümliche Zirkularität, die aus einer scheinbar unzulässigen Vermischung von Forschungsmotiven, theoretischen Grundannahmen und empirischen Hypothesen resultiert, muss für die Einheit und damit Identität des Faches Soziologie nicht per se ein unüberwindbares Problem darstellen. Allerdings sollten dann die konkreten Alternativen kontrastiv in einen identitätsstiftenden soziologischen Diskurs eingeführt werden. Der auf den ersten Blick unauflösbare Konflikt zwischen einer aufklärerischen Soziologie mit starkem, auf Sinnstrukturen abstellendem Gesellschaftsbegriff und einer sozialtechnologisch ausgerichteten Soziologie mit schwachem, auf materiale Sozialstrukturen bezogenem Gesellschaftsbegriff erweist sich bei genauerer Betrachtung (Kapitel IV) als theoretisch grundsätzlich integrierbare Unterscheidung. Das Problem ist nicht in der Sache begründet, es liegt vielmehr in der Kommunikationslogik der wissenschaftlichen Praxis.

98 A. Nassehi, Geschlossenheit und Offenheit, S. 31. 100

IV Z W I S C H E N G E I S T U N D M AT E R I E : D AS O N T O L O G I S C H E M O M E N T D E R G E S E L L S C H AF T S T H E O R I E

Die Objektivität der Gesellschaft im Spiegel der Soziologie Ansichten über zentrale gesellschaftliche Zusammenhänge gelten in der Regel als Meinungen. Ganz gleich ob sich ein soziologischer Ansatz an das Wirkungsparadigma der Sozialtechnologie oder das der soziologischen Aufklärung anlehnt, das anzuwendende bzw. zu vermittelnde Wissen wird bezüglich des implizierten objektiven Geltungsanspruchs problematisch, sobald konkurrierende Auffassungen auftauchen. Dies ist gewöhnlich der Fall, und die mit politisch-praktischem Anspruch auftretenden Gesellschaftstheorien ziehen daher durchweg Ideologieverdacht auf sich. Sie lassen sich stets auf die dahinter stehenden Interessen befragen. Jedes philosophisch noch so ausgefeilte „Weltbild“ ist das Resultat einer Reflexion konkreter historischer Lebensumstände und kann somit als Ausdruck des Selbstverständnisses einer bestimmten gesellschaftlichen Lage interpretiert werden. Der entsprechend spekulative Charakter von Theorien über die Gesellschaft, den Menschen und die Welt darf als Erbe der Metaphysik gelten und haftet auch den verschiedensten sozialphilosophischen Ansätzen an.1 1

Vgl. die vielleicht einschlägigsten „Klarstellungen“ zu diesem Thema in Max Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, S. 146-214, insbesondere S. 151-156. 101

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Die sozialen Strukturen beinhalten typisch selbst „subjektive“ Komponenten.2 Sie sind abhängig von kollektiv akzeptierten Werten, religiösen Glaubensvorstellungen, individuellen Handlungsmotiven und moralischen Überzeugungen. Über solche Belange mag intellektuell räsoniert und debattiert werden, denn innerhalb der einzelnen Kulturen bedarf man durchaus einer argumentativ ausgetragenen Selbstvergewisserung sozialer Identitäten und des entsprechenden Weltverständnisses. Kunst, Religion und Philosophie leisten hierzu einen unentbehrlichen Beitrag. Der gewonnene Standpunkt bleibt jedoch an kontextabhängige und willkürliche Momente gebunden und ist daher bezüglich seiner Wahrheitsfähigkeit als wissenschaftliche Aussage grundsätzlich fragwürdig. Die Zweifel an der Objektivität gesellschaftstheoretischer Diagnosen lassen sich im Wesentlichen auf zwei Ursachen zurückführen. Zum einen werden Gesellschaftsordnungen durch individuelles Handeln erzeugt und reproduziert, und dieses Handeln ist – auch wenn nicht immer alles nach Wunsch gelingt – von den bewussten Intentionen der einzelnen Akteure abhängig. Menschen sind keine Maschinen. Sie verfügen – wie schwer zu bezweifeln ist – über einen freien Willen, der sich nicht an soziologische Prognosen zu halten braucht. Zwar basieren auch naturwissenschaftliche Gesetze zum Teil auf statistischen Wahrscheinlichkeiten und gewisse mikrophysikalische Teilchenbewegungen bleiben unvorhersehbar. Dennoch ergeben sich aus der unterstellten Willensfreiheit des Menschen, der menschlichen Lernfähigkeit und der kollektivem Handeln inhärenten Rationalitätspotentiale bezüglich der Möglichkeit statistischer bzw. anthropologischer Generalisierungen einige gegenstandsabhängige Besonderheiten. Zum anderen ist ein objektiver Standpunkt aufgrund der notwendigen Bindung soziologischer Beobachtungen an die Perspektive des Teilnehmers zumindest solange verstellt, wie sich diese Teilhaberperspektiven untereinander fundamental unterscheiden. Bei aller Distanz zu den in der Gesellschaft beobachteten (normativen) Urteilen bleibt Gesellschaftstheorie immer gesellschaftsinterne Beobachtung.3 Obgleich dies natürlich auch für naturwissenschaftliche Forschung gilt, gleißen die resultierenden erkenntnistheoretischen und -praktischen Probleme in den Sozialwissenschaften ungleich drastischer.4 Gesellschaftstheorien scheinen über ihre Verankerung in einem spezifischen wissenschaftshistorischen Kontext hinaus auch 2 3

4

Vgl. Hans Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Leipzig/Berlin 1930. Die verbleibenden Nuancen geben freilich noch genug Anlass zu fachinternen Auseinandersetzungen, gerade wenn es um den normativen Anspruch der Soziologie geht. Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd.1, Frankfurt a.M. 1981, S. 158-174.

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inhaltlich an implizite Werturteile und kulturabhängige Deutungsmuster gebunden zu sein, wobei hinzukommt, dass die zugrundeliegenden Prämissen diskursiv nur schwer zugänglich sind. Soziologische Diagnosen leiden daher an einer Tendenz zum latenten Ethnozentrismus. Gibt es divergierende Auffassungen über die „richtige“ Gesellschaftstheorie, dann können die resultierenden Kontroversen grundsätzlich nicht anhand reiner Wahrheitskriterien entschieden werden. Dies bedeutet für das Programm der Gesellschaftstheorie akademisch gesehen einen schweren Stand. Wo die Soziologie Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, muss sie ihre „subjektiven“ Komponenten möglichst zu eliminieren suchen. Eine Wissenschaft braucht einen ausgewiesenen Gegenstand, anhand dessen sich die Objektivität der getroffenen wissenschaftlichen Aussagen bemessen lässt. Selbst die Theologie kann sich in dieser Hinsicht noch auf das verfügbare Material an überlieferten Schriften beziehen. In der Soziologie fällt es hingegen traditionell ausgesprochen schwer, die empirische Grundlage der Disziplin genauer zu bestimmen. Gegenstand der Gesellschaftswissenschaft ist – so möchte man meinen – die Gesellschaft. Da jedoch eine Definition dessen, was Gesellschaft „ist“, ausgesprochen schwerfällt, bietet es sich schon aus pragmatischen Gründen an, anstelle eines Gesamtobjektes „Gesellschaft“ eine Objektgesamtheit der „sozialen Tatsachen“ zum externen Bezugspunkt der soziologischen Forschung zu nehmen.5 Eine naheliegende Strategie sozialwissenschaftlicher Forschung besteht folglich darin, sich auf die verfügbaren Fakten zu beziehen und auf theoretische Generalthesen vorerst zu verzichten.6 Was aber macht die „Substanz“ des Sozialen aus, welche Fakten und Strukturen können als Grundlage für objektive Analysen dienen? An objektiven Daten mit sozialer Relevanz herrscht kein Mangel. Vom Standpunkt der methodischen Erschließbarkeit lassen sich unter diesen allerdings bereits im Voraus einige kategoriale Unterschiede ausmachen. So bedürfen archäologische Fundstücke und historische Quellen, Texte und Bilder in der Regel einer Interpretation, die von theoretischen Hinter5

6

So auch die Definition von Jürgen Habermas: „Der Objektbereich der Sozialwissenschaften umfasst alles, was unter die Beschreibung ‚Bestandteil einer Lebenswelt‘ fällt.“ (ebd., Bd. 2, S. 159) Die Objektgesamtheit wird bei Habermas durch den Begriff der Lebenswelt zum Gesamtobjekt integriert. Was Gesellschaft für uns bedeutet, so die vermeintliche Konsequenz, kann und muss der politischen Selbstverständigung überlassen werden. Indem die Funktion der Weltdeutung politisch externalisiert wird, vermag das soziologisch erzeugte Wissen dann u.a. im Gegenzug als legitimierende Basis für politisches Handeln dienen. Zur Problematik dieser vor allem in der „empirischen Sozialforschung“ vertretenen Auffassung vgl. Michael Bock: Soziologie als Grundlage des Wirklichkeitsverständnisses, Stuttgart 1980, S. 70-109. 103

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grundannahmen abhängt. Zumindest der Vorgang des Archivierens kann jedoch auch bei qualitativem Datenmaterial vergleichsweise neutral erfolgen und bietet gleichzeitig die Qualitäten eines Steckenpferdes. Voraussetzungsloser sind dagegen quantifizierbare Daten zu handhaben, zumal diese auch den Anwendungsbedürfnissen moderner Computertechnik besser entgegenkommen. Betrachtet man nun die forschungspraktischen Vorund Nachteile dieser unterschiedlichen empirischen Datenkategorien, so stößt man unmittelbar auf das ontologische Grundsatzproblem der Soziologie. Die Gesellschaft lässt sich einer konsequent quantitativen Methodologie zufolge als sozialwissenschaftliche Grundgesamtheit aller messbaren sozialen Größen definieren. Diese umfassen Statistiken über deskriptive Merkmale, die von Alter, Einkommen und Konfession bis zu sexuellen Präferenzen reichen können, aber auch standardisierte Meinungsäußerungen und Wertskalen berücksichtigen. Als Maßstäbe zur Normierung der erhobenen Daten kommen abstrakte Kategorien wie Zeit, Raum und Anzahl, allem voran jedoch Geld in Frage. Da Geld selbst ein genuin sozialer Quantifizierungsmaßstab ist – im Geld liegt Sozialität sozusagen natürlich vorgemessen vor7 –, schmiegen sich monetäre Daten in vielen Belangen besonders gut an die reale Sozialstruktur an. (Man denke etwa an den Zusammenhang zwischen Einkommen und sozialer Schichtung.) Auch Indikatoren wie Bildungsabschluss oder Konfession richten sich nach realen Zuschreibungen aus der Verwaltungspraxis, tragen an das Material also keine künstlichen und daher theoretisch zweifelhaften Kategorien heran. Problematisch wird diese Logik einer quantifizierenden Vermessung der sozialen Welt, sobald die zugeschriebenen Labels mit den tatsächlichen „Werten“, der „Bildung“ oder „Religiosität“ von Personen und Feldern verwechselt werden. Die erfassten Kategorien (Bildung, Eigentum, Status, Ehrenamt, Sozialkapital, Rechtsradikalismus) sind in der Regel, auch wenn sie nur anhand methodischer Konstrukte messbar sind, genuin sozial konstituiert. Sie erwachsen, je nach Auftraggeber der Forschung, aus den praktischen Relevanzen politischer Diskurse bzw. ökonomischer Kalküle. Welche Indikatoren und Skalen benutzt werden, erweist sich daher als eine Quelle unkontrollierter Selektivität der sozialwissenschaftlichen Forschung oder macht zumindest umfangreiche methodologische Reflexionen erforderlich. Die qualitative Konstitution jener als Quantoren benutzten Entitäten wie Macht, Geld8, Bildung, Milieu, Religion usw. wäre demnach erst zu begreifen, bevor sie als objektive Rahmenbedingungen

7 8

In marxistischer Terminologie lässt sich dieses Phänomen als „Realabstraktion“ bezeichnen. Vgl. Georg Simmel: Philosophie des Geldes, Frankfurt a.M. 1989.

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menschlichen Handelns behandelt werden können und entsprechend die quantitative Logik von Strukturreproduktion und Wandlungsprozessen modelliert werden kann. Weitere Folgeprobleme einer allzu materialistischen Auffassung des Gegenstandsbereiches liegen in der Abgrenzung der Soziologie zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen und in der fehlenden (begrifflichen) Einheit des Gegenstandes. Die Grenzen zwischen den einzelnen Sozialwissenschaften erscheinen willkürlich, wenn sie lediglich an eine spezifische Perspektive auf dieselbe Grundgesamtheit an Daten gebunden werden (so etwa in der formalen Soziologie simmelscher Prägung). Erfolgt die Begründung der Soziologie rein methodologisch, so etabliert sich das Fach als bloße Hilfsdisziplin der Politik-, Wirtschafts- oder Geschichtswissenschaft. Die damit verbundene Negation bzw. Aufweichung des Postulats der gesellschaftlichen Wirksamkeit zieht wiederum eine habitualisierte Müdigkeit9 nach sich, die mit einem Klima der akademischen Erstarrung und Beharrung am Status quo korreliert. In dem Maße, wie Daten- und Theoriegenese, Erhebung und Auswertung auseinandergezogen werden, droht die Aussagekraft der Forschung ins Triviale herabzusinken, es entstehen Datengräber und armchair-Theorien. Eine auf die emergente Eigenlogik der Genese gesellschaftlicher Strukturen fokussierte Soziologie neigt stattdessen gewöhnlich dazu, das Soziale selbst als ein „Seiendes“ zu verstehen. Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit und der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt bedingen eine methodologische Haltung, bei der Soziologie empirisch mit Objekten eigener Art konfrontiert wird. Gleichzeitig wirkt sich eine ontologische Konzeption von Sozialität mittelbar auf die philosophisch möglichen Vorstellungen des Seins10 im Allgemeinen aus. Aus der Annahme, dass Sprache nicht nur Abbild, sondern zugleich Teil der Welt ist, ergeben sich bspw. erhebliche logische Probleme. Damit kommt es noch einmal zu einer Verschärfung jener konstruktivistischen Konsequenzen, mit denen eine moderne Erkenntnistheorie spätestens seit Kant ohnehin konfrontiert ist.11

9

Vgl. Meinhard Creydt: Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit, Frankfurt a.M./New York 2000. 10 Eine einschlägige Variation dieses Themas bietet Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1949. 11 Der positivismuskritische Vorwurf, die ontologische Auffassung von Gesellschaft als sozialem Gegenstand – als „Ding“ – würde zu einem statischen, affirmativen und der gesellschaftlichen Dynamik und Historizität unangemessenen Verständnis führen, die überdies politisch bedenklich sei, dürfte heute eigentümlicherweise vor allem die Psychologen treffen, welche die Reflexion über den ontologischen Status der Gesellschaft gerade 105

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Wie Mead gezeigt hat, spielt für Prozesse der sozialen Identitätsbildung die evolutionäre Entstehung von Sprache eine zentrale Rolle.12 In sprachlichen Symbolen wird die Bedeutung von zunächst kontextabhängigen Gesten generalisiert. Diese gewinnen in der Folge eine interaktionsleitende Bedeutung. Obgleich auch Fragen der sachlichen Verständigung in der Kommunikation relevant werden können, geht der koordinative Effekt einer gemeinsamen Sprache keinesfalls in der Möglichkeit einer Bezugnahme auf materiell unmittelbar gegebene Gegenstände wie konkrete Äpfel, Bälle oder Gavagais auf.13 Vielmehr werden die durch das Symbol bezeichneten Objekte typisch durch den praktischen Kontext erst definiert (Begriff), identifiziert (Gebrauch) und produziert (Technik). Definiert werden Objekte insofern, als ein Sprachwort analytische Unterscheidungen impliziert, die durch die Welt an sich nicht vorgegeben sind. Identifiziert werden Objekte, indem ihre Bezeichnung einen praktischen Bezugsrahmen voraussetzt, innerhalb dessen sie in einen funktionalen Verwendungszusammenhang eingebunden sind. Produziert werden sie, wenn ihre materielle Existenz durch instrumentelle Handlungen bewusst herbeigeführt wird. Ob bspw. etwas Bank oder Tisch ist, kann dann nicht mehr allein anhand einer rein materiellen Bestimmung ausgemacht werden. Die sprachlich generierten Schemata der Realitätsdeutung gerinnen schließlich zu gesellschaftlichen Kategorien wie Macht, Herrschaft, Arbeit oder Geld. Sie sedimentieren sich zugleich in sozialen Institutionen, d.h. in stabilisierten, generalisierten und situationsenthobenen Regelräumen. In Anlehnung an Hegel lässt sich der Gegenstand der Soziologie mithin als objektiver Geist begreifen. Begriffe wie „Sinn“, „Idee“, „Geist“, „Deutungsmuster“, „kognitives Schema“, „Kultur“, „Semantik“ oder „Wert“ können in diesem Zusammenhang zunächst als Synonyme aufgefasst werden. Entscheidend ist die Irreduzibilität gesellschaftlicher Phänomene auf materielles Verhalten oder materielle Objekte auf der einen, psychische Intentionen, Interessen oder Impulse auf der anderen Seite. Der Gegenstandsbereich der Soziologie wäre damit grundsätzlich geistiger Natur14: Es ginge um die spiritualistische Rekonstruktion soziaausblenden, sodass er als verdeckte Präsumtion umso drastischer zum Ausdruck kommt. 12 Vgl. George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1973. 13 Vgl. Williard v. O. Quine: Wort und Gegenstand, Stuttgart 1980. 14 In diesem Sinne ist etwa für Wilhelm Wundt die „Geschichte im eigentlichen Sinne Geistesgeschichte“. Wilhelm Wundt: Elemente der Völkerpsychologie, Leipzig 1913, S. 515. Vgl. auch den Standpunkt der objektiven Hermeneutik. Roland Burkholz/Christel Gärtner/Ferdinand Zehentreiter (Hg.): Materialität des Geistes. Zur Sache Kultur – im Diskurs mit Ulrich Oevermann. Weilerswist 2001. 106

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len Sinns, wobei die je konkrete Forschung sich dann (anhand eines primär qualitativ verfassten Datenmaterials) im weiteren auf so unterschiedliche Themen wie den „Geist des Kapitalismus“, die Verfasstheit und Genese eines moralisch qualifizierten „Kollektivbewusstseins“, historische Semantiken und kulturspezifische Sinnstrukturen, Regeln oder Deutungsmuster zu richten hätte. Die Annahme einer gesellschaftlichen Wirksamkeit sozialen Sinns beinhaltet nun jedoch erhebliche allgemeine Erklärungsprobleme, die bspw. in Max Webers Protestantismusstudie durch Abschwächungen wie die Rede von einer bloßen „Wahlverwandtschaft“ oder der Relativierung der Kausalitätsbeziehung durch die Aussage, die protestantische Ethik sei eben nur eine Voraussetzung für die Entstehung des Kapitalismus gewesen, zwar entschärft, aber nicht prinzipiell gelöst werden. Die diesbezüglichen Grundsatzfragen der Gesellschaftstheorie werden eigentümlicher Weise bis heute offen gelassen. So sollte erstens die Verbindlichkeit des kollektiven Geistes in seiner intersubjektiven Geltungskraft erklärt werden. Woraus ergibt sich jener überwältigende Konformitätsdruck der öffentlichen Meinung15, welcher überhaupt erst die strukturellen Bedingungen für eine Reproduktion kollektiver Ideen in den Sinnhorizonten individueller Lebenspraxen ermöglicht? Zweitens ist das Verhältnis von gesellschaftlicher Realität und gesellschaftlicher Selbstbeschreibung, von Idee und Wirklichkeit genauer zu beleuchten. Dabei gilt es unter anderem den genauen Status des Geistes innerhalb der Gesellschaft zu bestimmen: Ist die Gesellschaft einzig objektiver Geist oder stellt dieser nurmehr ein gesellschaftliches Teilmoment dar? Webers Kompromiss bezüglich des Verhältnisses von materialistischen und spiritualistischen Erklärungsansätzen am Ende der Protestantischen Ethik lautet bekanntermaßen: „Beide sind gleich möglich.“16 Bereits bei Comte wird – wie wir gesehen haben – die Erörterung des Gegenstandes wie der Wirksamkeit der Soziologie nicht ausschließlich an den Begriff des Geistes gebunden.17 Die Wirksamkeit des positiven Geistes ergibt sich nicht allein aus der Leitkraft eines gleichsam 15 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann: Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale, Frankfurt a.M. 1996. 16 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, Weinheim 2000, S. 155. 17 Comte unterstellt allerdings eine Dominanz des Geistes über das Materielle: „Die Bildung einer festen und dauernden Gesellschaft verlangt den vereinten Einfluß gemeinsamer Ansichten, die dem Auseinanderfallen der Meinungen der einzelnen Einhalt tun können. [...] Die geistigen Kräfte bestimmen das soziale und noch mehr das politische Leben; sie allein können die allgemeine Rückwirkung der Gesellschaft auf die einzelnen begründen.“ Auguste Comte: Die Soziologie, Stuttgart 1974, S. 151. 107

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freischwebenden Wissens. Vielmehr verlangt die Idee wie von selbst nach Institutionalisierungen, etwa in der Form von Institutionen der Bildung, der Erziehung, der Forschung oder der politischen Integration. Das System der positiven Philosophie impliziert daher ein Moment der Steuerungstechnologie, das den Soziologen zu einer Art von Sozialingenieur stilisiert. Der genaue Zusammenhang zwischen der ideellkulturellen Seite des positiven Geistes und der institutionellen Seite eines Mechanismus seiner Implementierung bleibt dabei zunächst ungeklärt, zumal Comte die geistige Gewalt ja gerade gegen die materielle Gewalt von Staat und Wirtschaft setzt. Wie also stehen geistige und materielle Aspekte der Gesellschaft zueinander?18 Es entspricht einer langen soziologischen Traditionslinie, bezüglich der Betrachtung einer gesellschaftlichen Entwicklungsgeschichte zwischen äußeren und inneren Faktoren zu unterscheiden.19 Während innere Faktoren typisch ideeller Art sind, hier also durchweg Soziales durch Soziales zu erklären ist, indem wir uns bspw. mit Durkheim auf die Wirksamkeit moralischer Zwänge berufen, können äußere Faktoren demographischer, biologischer oder physikalischer – kurz: materieller – Natur sein. Je nach Schwerpunktsetzung ergeben sich hieraus unterschiedliche Paradigmen soziologischer Erklärungen. Im einen Falle kann die historische Eigendynamik der Gesellschaft nach dem Muster einer Realität sui generis, mit anderen Worten: nach dem Paradigma der Selbstorganisation begriffen werden. Im anderen Falle wäre nach einer kausal-mechanischen Erklärung gesellschaftlicher Vorgänge zu suchen, indem man sich am handlungstheoretischen Paradigma des methodologischen Individualismus zu orientieren hätte. Eine soziologische Modellierung gesellschaftlicher Phänomene kann durchaus auf äußere Faktoren abstellen. Sobald die Ursächlichkeit der geistigen Sphäre kollektiver Ideen aber gänzlich geleugnet und – wie im 18 Dass es offenbar sowohl überindividuelle „geistige“ Strukturen – wie soziale Deutungsmuster, kulturelle Werte oder milieuspezifische Geschmacksurteile – als auch individuenübergreifende „materielle“ Strukturmuster der Gesellschaft gibt – etwa diverse Infrastrukturen (Verkehrsnetz, Immobilien, Energieversorgung), demographische Faktoren und institutionell verankerte Verhaltensnormen –, wird man als Soziologe nur schwer leugnen können. 19 Nach Comtes deterministischem Verständnis haben äußere Faktoren wie Klima, Lebenserwartung oder Bevölkerungsdichte vor allem Einfluss auf die Geschwindigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung. Vgl. A. Comte, Die Soziologie, S. 139-144. Spencer integriert die Unterscheidung zwischen externen und internen Faktoren bereits in den biologischen Teil seines Evolutionskonzeptes. Parsons übersetzt die sich daraus ergebenden funktionalen Aspekte in sein AGIL-Schema. Die Unterscheidung wird aber auch von Max Weber verwendet. 108

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historischen Materialismus – als bloßer ideologischer Überbau „entlarvt“ wird, gewinnt die Gesellschaftsdiagnose typisch einen unsoziologischen Charakter in dem Sinne, dass die vertretene Gesellschaftsauffassung einer eigenständigen Konstitution des Faches als wissenschaftlicher Disziplin tendenziell zuwiderläuft. Die Negation der Hypostasierung eines genuin geistigen Gegenstandes der Soziologie scheint eine „antisoziologische“ Haltung nach sich zu ziehen, da sie die kategoriale Abgrenzbarkeit eines Objektbereiches sozialer Tatsachen infragestellt. Die bezüglich methodologischer Ansprüche defensiv verfahrende formale Soziologie gibt indes die Suche nach dem Gegenstand der Soziologie bereits an dieser Stelle auf und begnügt sich mit einer zur historischen Realität auf Distanz gehenden Aufsammlung allgemeiner sozialer Formen. Die Soziologie ordnet sich dabei konkurrierenden Disziplinen wie Geschichte oder Ökonomie als Hilfswissenschaft unter und rückt stilistisch in die Nähe einer primär ästhetisch motivierten Gesellschaftsbetrachtung (Simmel) bzw. eines pedantisch unsouveränen Empirismus (von Wiese). Verfolgt man stattdessen die Möglichkeiten einer soziologischen Gegenstandsbegründung offensiv weiter, so ist natürlich im Besonderen die reklamierte Einheit des Gegenstands als gesellschaftlicher Totalität mit der unabweisbaren Tatsache empirischer Heterogenität zu konfrontieren. Wenn die Soziologie eine empirisch sensitive Wissenschaft sein soll, so muss der Begriff, den sie sich von der Gesellschaft macht, die systematische Identifikation der mannigfaltigen gesellschaftsinternen Strukturen und Dynamiken ermöglichen und vor der kurzschlüssigen eindimensionalen Reduktion des Sozialen auf Kategorien wie Staat oder Ökonomie gerade bewahren helfen.20 Das Problem des Verhältnisses von materiellen und geistigen Momenten der Gesellschaft verweist somit letztlich auf die in den vorangegangenen Kapiteln bereits mehrfach berührte Frage nach der Einheit des Gegenstandes. Zur Debatte steht dabei nicht nur die These, dass es kulturübergreifende „Grundgesetze“ oder „Formen“ sozialer Strukturgenese gäbe, sondern auch die damit zusammenhängenden methodologischen Positionen in Bezug auf deren historische Variabilität. Dies wiederum beinhaltet die Notwendigkeit, die logische Art des Zusammenhangs zwischen den einzelnen, untereinander ähnlichen oder strukturverwandten Formen innerhalb eines kulturellen Feldes zu erklären. Das idealistische Paradigma betrachtet Gesellschaft ja nicht nur als Objektmenge diskreter, je für sich stehender Einzelideen, sondern als ideelles Gesamtgefüge. Es begreift sei20 Die Frage, ob es historisch gesehen zu Phasen der Dominanz einer bestimmten Strukturlogik (bspw. der Ökonomie) kommen kann, bleibt dabei freilich unberührt, wenn auch die Begründungsanforderungen an solche Diagnosen steigen. 109

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nen Gegenstand mithin als gesellschaftliche Totalität. Andererseits bekommt die Soziologie es empirisch mit einer historisch, regional und kommunikativ distinkten Vielzahl von Kulturen, Diskursen, Systemen und Gesellschaften zu tun. Wie also lässt sich das Verhältnis von Einheit und Vielheit, von Homogenem und Heterogenem, von Individualität und Differenzierung theoretisch einfangen?

Gesellschaftliche Totalität und ihre Elemente Die Idee einer geistigen Einheit der Gesellschaft war im Zusammenhang mit dem autologischen Moment der Gesellschaftstheorie bereits provisorisch als Voraussetzung für das Wirkungsschema der „soziologischen Aufklärung“ diskutiert worden. Dem idealtypischen Szenario zufolge wird sich der „Geist“ in der Soziologie gewissermaßen seiner selbst bewusst. Eine entsprechende Verbindung von Objektauffassung und Selbstverständnis findet sich nicht nur in Auguste Comtes Philosophie des Positivismus und anderen frühen Begründungsversuchen der Soziologie. Analoge Denkfiguren entwickeln auch Autoren wie Hegel, Dilthey, Freyer oder Mead21. Die soziologischen dieser Konzepte der geistigen Einheit platzieren den Begriff der Gesellschaft konsequent in der Nähe des Gottesbegriffs.22 21 Auf das philosophische System, welches die bekannten sozialpsychologischen Arbeiten Meads untermauert, hat als einer der ersten Michael Bock aufmerksam gemacht: „Für Mead ist Sozialität das Geheimnis des Universums, das sich in der (gesellschaftlichen) Entstehung des Geistes manifestiert und in der Soziologie endgültig offenbar wird. [...] erst die Soziologie belehrt den Menschen über diese seine Grundbeschaffenheit, seine Einheit mit dem und seine Entstehung aus dem Universum. Wird sich der menschliche Geist in dieser Weise seines Ursprungs und seiner Beschaffenheit bewußt, kann er seine eigene Beschaffenheit bewußt zur Grundlage seiner Problemlösungen machen. Für Mead ist damit verbürgt, daß der ständige gesellschaftliche Rekonstruktionsprozeß, in dem die Soziologie immer universalere Perspektiven ermöglicht, unter eine rationale Kontrolle gebracht werden kann, die ihn der (kosmischen) Bestimmung des Menschen zuführt.“ M. Bock, Soziologie als Grundlage des Wirklichkeitsverständnisses, S. 137. 22 Besonders deutlich ist dies bei Comte und Durkheim, wie auch bei den Monisten Müller-Lyer und Goldscheid. Während letztere wie schon Comte explizit eine neue Wissenschaftsreligion zu etablieren suchen, verfährt Durkheim gewissermaßen umgekehrt, indem er das Begriffssystem der Religion als eine Art Vorläufer des wissenschaftlichen Denkens rekonstruiert. Auch in der idealistischen Denktradition im Anschluss an Hegel übernimmt der Begriff des Geistes gleichsam eine göttliche Funktion: Der absolute – „göttliche“ – Geist verwirklicht sich hier durch die (Hegelsche) 110

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Die Soziologie als Beobachter der Gesellschaft tritt damit an die Stelle Gottes als Beobachter der Welt. Im Anschluss an die philosophische Religionskritik à la Feuerbach werden die religiösen Ideen als Projektionen enttarnt und in ihrer Funktion als Weltbild soziologisch dingfest gemacht. Wie Gott die Einheit der Welt, so verbürgen der geistige Consensus, das Kollektivbewusstsein bzw. der objektive Geist die ideelle Einheit der Gesellschaft. Da die Zuständigkeit für Belange der Weltdeutung – so die Vorstellung – mehr und mehr an die Wissenschaft übergeht, rückt insbesondere die Soziologie – zumindest in gewisser, noch näher zu präzisierender Hinsicht – mit ihrer Entstehung an eine gesellschaftliche Position, welche vorher die Religion eingenommen hatte. Wie weit dies gehen soll, darüber gehen die Ansichten auseinander. Da die religiösen Heilsvorstellungen ursprünglich die übergreifende Einheit von Körper, Geist und Gemeinschaft betroffen hatten23, handelt sich die Soziologie konzeptionelle Schwierigkeiten ein. Entweder sie muss ihren Erklärungsanspruch ausdehnen oder aber sich in ihrem Bezug auf den Menschen zu Präzisierungen zwingen. Während die luhmannsche Systemtheorie die letztere Variante realisiert, indem sie die Individuen aus der Gesellschaft verbannt und lediglich einen abgespeckten Begriff der „Person“ als einer kommunikativ zugeschriebenen Identität beibehält, stehen Mead und Parsons für die erste Option, wenn sie in ihren Spätwerken das gesamte Universum in ihr theoretisches System zu integrieren suchen. In dem Maße, in dem eine Gesellschaftstheorie konzeptionell auf die Einheit der Gesellschaft setzt, erwachsen ihr – sei es nun in psychischer oder aber in leiblicher Hinsicht – in jedem Falle Erklärungsprobleme bezüglich ihres Verhältnisses zum Menschen. Auch gesellschaftliche Teilbereiche wie Recht, Wirtschaft oder Erziehung – solange man sie nicht kommunikationstheoretisch umdefiniert – gewähren ja kraft ihrer Funktion nicht nur innergesellschaftliche Koordinationschancen, sondern greifen direkt auf die Einheit von Individuum und Gesellschaft durch. Interessen und Bedürfnisse müssen vermittelt, Sozialisation ermöglicht werden. Bei den Betroffenen handelt es sich – wer wollte das bestreiten – durchweg um Menschen. Wo Gesellschaft funktioniert, funktioniert sie mithin inklusive ihrer menschlichen Teilhaber. Das „SoziaPhilosophie. Entsprechend wird der Begriff der Gesellschaft statusniedriger angesetzt und rangiert auf einer Ebene mit Begriffen wie Staat oder Gemeinschaft. Die Geisteswissenschaft wird (insbesondere bei Dilthey) daher nicht als Soziologie konzipiert. An die Stelle der „Gesellschaft“ als soziologischem Weltbegriff rückt dann der Begriff der „Sittlichkeit“. Freyers Konzept der „Wirklichkeitswissenschaft“ nimmt in diesem Zusammenhang eine eigentümliche Zwitterstellung ein. Vgl. H. Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. 23 Kapitel V wird explizit auf dieses Thema zurückkommen. 111

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le“ gerät dabei im populären Verständnis gar zur Restkategorie für gesellschaftlich schwer vermittelbare Personen, Gruppen, Regionen und Ansprüche. Erst wenn Wirtschaft, Recht, Politik und Erziehung versagen, entstehen „sozialstaatliche“ Relevanzen, die von Sozialpolitik bis Sozialpädagogik reichen. Mithin zieht die Gesellschaftstheorie paradoxerweise bevorzugt im moralisch aufgeladenen Kontext von Problemen Aufmerksamkeit auf sich, die mit Phänomenen der Exklusion in Zusammenhang stehen. Soziologen werden gefragt, wenn Gesellschaft nicht funktioniert. Die Schwächen einer geistigen Auffassung des soziologischen Gegenstandes liegen angesichts dieser Lage in der Vernachlässigung materieller Komponenten – Mauern, Leiber, Eigentumsverhältnisse, oder allgemeiner: Ressourcen24 – durch die sich jene entscheidenden gesellschaftlichen Probleme, die für die öffentliche Wahrnehmung relevant erscheinen, überhaupt erst ergeben. Durch die begriffliche Absonderung der gesellschaftlichen Strukturen von den externen materiellen „Umweltbedingungen“ ergibt sich überdies aus „kritischer“ Sicht eine Tendenz zur Objektivierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sozialer Sinn weist von Haus aus einen hohen Grad an Kontingenz auf. In dem Maße, wie die sozialen Konstrukte des Warenwerts oder der Lohnarbeit, desgleichen aber auch religiöse Fetische, moralische Normen oder wissenschaftliche Begriffe für objektive Parameter der Lebenswelt genommen werden, wird die Praxis der Begegnung zwischen Menschen unabwendbar auf die Logik von Objekten reduziert. Die individuellen Menschen erscheinen dann nur noch als „Arbeitskraft“, als „Klient“ oder als „Fall“, kurz: sie werden selbst zu Dingen.25 Die wissenschaftstheoretische Dimension der Verdinglichungskritik moniert entsprechend, dass die geronnenen sozialen Strukturen als statisch und unabänderlich begriffen werden, obgleich sie doch ständig durch menschliches Handeln überhaupt erst reproduziert werden und eine Änderung folglich stets möglich wäre. Die methodologisch motivierte Einheit des Gegenstandes würde Gesellschaft demnach ungerechtfertigter Weise zur Totalität erheben und somit die gesellschaftlichen Gestaltungspotentiale des Menschen vermeintlich vorschnell leugnen. „Der Mensch“ bedeutet in dieser generalisierten Formulierung freilich nichts anderes als die idealisierte Gesellschaft – die humanité – selbst. Die reklamierte Freiheit des Individuums lässt sich ja gerade als gesellschaftliche Konsequenz jener Autonomie verstehen, die dem Individuum allererst 24 Vgl. Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York 1995, S. 67-77, 313-320. 25 Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, Berlin 1962, S. 85f.; Georg Lukácz: Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats, in: ders.: Werke, Bd. 2, Neuwied 1968, S. 257-397. 112

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in der modernen Gesellschaft sozial zugemutet wird. Was für den soziologistischen Soziologen die gesellschaftliche Totalität, das ist für den humanistischen Menschen der Mensch. „Die Gesellschaft“ ist im Kontext dieses sprachlichen Spiels der philosophischen Vernunft genau so real wie „der Mensch“, es handelt sich um ein zirkuläres Bedingungsverhältnis, das sich je nach Vorliebe und Pflichtgefühl einseitig auflösen lässt. Das Standardargument, der Mensch sei das letzte, also unteilbare Element aller gesellschaftlichen Vorgänge26, ist in seiner Prägnanz daher äußerst kurzsichtig. Denn auch das Individuum ist nicht im wörtlichen Sinne in-dividuell, sondern lässt sich sehr wohl dekomponieren, nämlich in Zellen, Gene, Moleküle und Atome, oder – etwas weniger materialistisch: in Motive, Rollen und Lebensabschnitte. Handlungen lassen sich aus soziobiologischer Sicht über das Vorhandensein bzw. Fehlen bestimmter Hormone oder Gene erklären. Wem das reduktionistisch vorkommt, der müsste seinen Einwand der Logik nach auch für höhere Aggregationsniveaus gelten lassen – oder zumindest genauer argumentieren. Das Problem der Dekomposition einer Ganzheit in Elemente bedarf daher einer etwas gründlicheren Betrachtung, die einige generellere Überlegungen erfordert. Wenn Biologen die Funktionsweise von Zellen wissenschaftlich untersuchen, interessieren sie sich für genau diejenigen strukturellen Komplexe, welche sie als Elemente der Zelle identifizieren. Aus dem Zusammenspiel dieser Elemente können dann „funktionale“ Effekte wie Stoffwechsel, Zellteilung, Kontraktion oder neuronale Impulse modellhaft „erklärt“ werden. In diesem „funktionalen“ Sinne gibt es auf der Ebene komplexer Organismen Phänomenzusammenhänge wie Wahrnehmung, Sexualverhalten und Immunreaktion, obwohl die Lebewesen streng genommen nicht wirklich „wahrnehmen“, „sexuell agieren“ oder „Krankheitserreger bekämpfen“, sondern allenfalls auf externe Reize reagieren. Und selbst das Schema von „Reiz“ und „Reaktion“ birgt in seiner kognitiven Standardisierung noch eine theoretisch motivierte Zuschreibungsleistung. Das konstruktivistische Dilemma bei der Dekomposition wissenschaftlicher Gegenstände nach dem Schema von Teil und Ganzem besteht folglich in dem Problem, dass nicht nur die begriffliche Einheit des Gegenstandes, sondern noch die kleinsten Einheiten seiner Elementarstruktur (ob Atome, Individuen, Gene oder Werte) letztlich kontextabhängige Konstruktionen sind, die immer einen theoretisch vorgegebenen wissenschaftlichen Bezugsrahmen voraussetzen.27

26 Vgl. Paul Kellermann: Kritik einer Soziologie der Ordnung. Organismus und System bei Comte, Spencer und Parsons, Freiburg 1967. 27 Vgl. Talcott Parsons: The Structure of Social Action, New York 1937, S. 728-753. 113

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Die Konstruktion funktionaler Identitäten lässt sich indes als erkenntnispragmatische Notwendigkeit erklären. Selbst ein – des Holismus doch ganz unverdächtiger – moderner Informatiker, der an der Programmierung einer komplexen Software arbeitet, ist aus heuristischen Gründen gezwungen, die zugehörigen Hardwarekomponenten als funktionale Einheiten zu betrachten. Er stülpt der nackten Realität ihrer Existenz mithin ein fiktives Modell über, das die logische Interaktion abstrakter Funktionselemente fingiert, obgleich er doch genau weiß, dass „in Wirklichkeit“ keine „Informationen“, sondern lediglich elektrische Impulse ausgetauscht werden und die Realität – zum Ärger des Programmierers – obendrein häufig nicht mit dem die Erwartungen konstituierenden Idealmodell übereinstimmt. Dass der materielle Unterbau mitspielt, ist aus der pragmatischen Sicht eines Softwareschmieds schlichtweg Aufgabe der Hardwareingenieure.28 Von dieser heuristischen Maxime der Aufgliederung einer Objekteinheit in funktionale Elemente, welche die Makrostruktur des Gegenstandes als Arrangement struktureller Subeinheiten betrifft, ist die Frage nach einem die Objektgesamtheit übergreifenden operativen Prinzip zu unterscheiden, welches Auskunft über die substantielle Mikroverfassung der betreffenden Muster geben könnte, jedoch selbst nichts über die phänotypische Gestalt des Ganzen aussagt. Während der Blick auf funktionale Differenzierungsmuster es gestattet, die Konstitution von Elementen im ganzheitlichen Kontext des jeweils relevanten Bezugssystems zu analysieren, schlägt die Einheit des Gegenstandes sich auch im Mikrokosmos der Elementarstruktur kleinster Fragmente nieder. Entsprechende Phänomene lassen sich in ganz unterschiedlichen Bereichen der Wissenschaft auffinden. Im Folgenden seien einige Beispiele angeführt. • Der genetische Fingerabdruck identifiziert ein Lebewesen anhand winzigster organischer Überreste, und dies sowohl im Hinblick auf das individuelle Exemplar wie auf seine Spezies. Das Prinzip der Biogenese – anhand einer einzelnen Spezies wie etwa der Fruchtfliege rekonstruiert – gilt gar für alle Spielarten des Lebens in exakt gleicher Weise. • Die atomare Verfassung physikalischer Materie ist für das gesamte Universum dieselbe, im Klartext: Atomphysiker müssen nicht mit Raumschiffen durch das Weltall reisen, um für ihre Experimente repräsentative Stichproben an Elementarteilchen zu sammeln. (Wenn es möglich wäre, würde man es natürlich trotzdem machen). 28 Das Beispiel ist Pirsigs großem Roman über Qualität entnommen. Robert Pirsig: Lila. An Inquiry into Morals, New York 1992, S. 173-182. 114

ZWISCHEN GEIST UND MATERIE



Im Kontext qualitativer Sozialforschung manifestiert sich die Fallstruktur bereits in der Anfangssequenz einer Interaktion, eines Interviews, in der symptomatischen Äußerung eines Politikers oder in einer einzelnen freudschen Fehlleistung. Zwar sind zufällige Abweichungen sicher nicht auszuschließen, dennoch ist erfahrungsgemäß eine Interpretationsstrategie der starken Generalisierung zur Formulierung von heuristischen Hypothesen äußerst dienlich, welche dann methodisch durch systematische Suche nach Falsifikation zu validen Urteilen verdichtet werden können. • Auch die Alltagserfahrung bestätigt dies: Beim „Zapping“ durch das Fernsehprogramm urteilen wir innerhalb von Sekundenbruchteilen über Gattung und Qualität einer Fernsehsendung und der erste Eindruck eines Menschen erlaubt uns ein vorläufiges Urteil, anhand dessen wir bei souveränem Umgang mit naheliegenden Vor-Urteilen zu einer soliden Einschätzung kommen können. Makro- und Mikrostruktur eines Systems sind analytisch streng voneinander zu unterscheiden, obgleich sich das integrative Zusammenspiel der Funktionseinheiten erst auf der Ebene der substantiellen Elementarstruktur operativ nachweisen lässt, während die Genese der funktionalen Strukturen umgekehrt den elementaren Operationsmechanismen des Systems unterliegt.29 Die weitergehende Bearbeitung solcher Zusammenhänge ist Aufgabe einer allgemeinen Kybernetik. Die damit verbundenen Grundlagenfragen können hier lediglich kursorisch gestreift werden. Die skizzierten Überlegungen lassen sich gleichwohl bereits auf den zur Diskussion stehenden ontologischen Status der Gesellschaft beziehen, um das spezifische Erklärungsproblem der Gesellschaftstheorie im Hinblick auf das Verhältnis von geistigen und materiellen Aspekten einerseits, von Individuum und Gesellschaft andererseits weiter zu präzisieren. Auf den ersten Blick ist dabei allerdings noch nicht ersichtlich, in welchem inneren Zusammenhang Mikro- und Makroebene der Gesellschaft stehen, wo genau die Unterscheidung geistig/materiell sich theoretisch verorten lässt und in welchem Bezug die Gesellschaft und ihre strukturellen Elemente zu den Individuen stehen. Zur Erschließung des zirkulären Verhältnisses von gesellschaftlicher Totalität und ihren Elementen bietet sich für einen ersten Schritt unmittelbar ein differenzierungstheoretisches Konzept30 an. Das Paradigma 29 „Does Life produce Organization, or does Organization produce Life?“ fragt bereits Herbert Spencer: Principles of Biology, Vol. 1, New York 1888, S. 153. 30 Zur Geschichte des Begriffs vgl. Hartmann Tyrell: Zur Diversität der Differenzierungstheorie, in: Soziale Systeme 4, H. 1, 1998, S. 119-149. Gerhard Wagner: Schwierigkeiten mit der Differenzierungstheorie. Interna115

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einer „organischen Gesellschaftsauffassung“31 besitzt in der soziologischen Theoriegeschichte eine lange Tradition, die sich vor allem auf Herbert Spencer zurückführen lässt. Nach dem Verständnis organizistischer Gesellschaftstheorien lässt sich die Relation zwischen der Gesellschaft und ihren Teilbereichen nach dem Muster von biologischem Organismus und einzelnen Organen begreifen.32 Auch wenn bei Sozialwissenschaftlern wie Schäffle33 oder Lilienfeld34 die Analogiebildung so stark überzogen wurde, dass dies den gesamten Ansatz in Verruf gebracht hat, lassen sich in Durkheims Studie über soziale Arbeitsteilung, im Strukturfunktionalismus oder in den Systemtheorien von Talcott Parsons und Niklas Luhmann Kontinuitätslinien dieses Paradigmas rekonstruieren. Obgleich die systemtheoretische Schule von „funktionaler Differenzierung“ spricht und alle Bezüge zum als überholt geltenden Organismusansatz aus kommunikationsstrategischen Gründen dementiert, soll aus begriffsgeschichtlichen Rücksichten im folgenden von den entsprechenden Konzepten als „dem Organismusparadigma“ die Rede sein. In jedem Falle konzentriert sich das besagte Paradigma auf Aspekte der horizontalen Differenzierung. Daher bleibt sein gesellschaftstheoretischer Erklärungswert zunächst strittig. Insbesondere die konzeptionelle Bewältigung vertikaler Abstufungen erweist sich als logisch schwierig.35 Das bezeichnete Problem ist auch unter Historikern bekannt. Während auf den niedrigeren Aggregationsebenen das materielle Handeln konkreter Akteure, insbesondere „großer Männer“ und Genies unabweisbar von historischer Bedeutung ist, geht es auf höheren Aggregationsebenen vor allem um geistige Muster.36 Die Geschichte bleibt an menschliche Lebenszusammenhänge gebunden, kann jedoch angesichts der komplexen

31 32

33 34 35

36

tionales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 23, 1998, S. 147-165. Im Unterschied zu Wagner soll „Differenzierung“ hier jedoch nicht als absoluter Begriff, sondern als heuristisches Prinzip des „organischen“ Paradigmas verstanden werden. Dankmar Ambros: Über Wesen und Formen organischer Gesellschaftsauffassung, in: Soziale Welt 14, 1963, S. 14-32. Spencers synthetische Philosophie stützt sich zur Formulierung eines Biologie, Psychologie und Soziologie übergreifenden Konzeptes vor allem auf die für ihn zentralen Begriffe „Struktur“ und „Funktion“. Vgl. Albert Schäffle: Bau und Leben des socialen Körpers, Tübingen 1896. Vgl. Paul von Lilienfeld: Die menschliche Gesellschaft als realer Organismus. Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft 1, Mitau 1873. Vgl. Niklas Luhmann: Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Anwendungen der Systemtheorie, in: ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 2, Opladen 1975, S. 9-19. Vgl. Fernand Braudel: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, München 1985.

116

ZWISCHEN GEIST UND MATERIE

Eigendynamik sozialer Strukturen nicht auf individuell zuschreibbare Einzelhandlungen reduziert werden. Es könnte daher so scheinen, als ob gesellschaftliche Makrostrukturen sich nach dem Modell hochaggregierter geistiger Deutungsmuster und kultureller Leitideen begreifen ließen, während auf der Mikroebene die Materialität individueller Verhaltensmuster ausschlaggebend ist. Das Differenzierungsmuster der Gesellschaft ließe sich dann anhand autonomer Sinnzusammenhänge und „Wertsphären“ identifizieren; zur Erfassung der konkreten sozialen Praktiken wäre jedoch auf die Perspektive eines „akteurszentrierten Institutionalismus“ umzuschalten, da sich auf dieser Ebene individuelle Verhaltensmuster und institutionelle Zwänge wechselseitig strukturieren. Durch derartige Feststellungen wird das Problem der Ontologie aber eher weiter verschleiert als erklärt. Die kulturell verankerten Deutungsmuster sind ja auch psychisch wirksam, wenngleich alle Individuen über ein autonom operierendes Bewusstsein verfügen. Individuelles Verhalten korreliert permanent mit individuellem Denken. Auch Individuen weisen also materielle und geistige Momente auf. Die Gesellschaftstheorie lässt sich ebenso wenig auf diese Weise auf den Status einer Geisteswissenschaft zurückbiegen.37 Autoren wie Durkheim, Freyer oder Giddens haben immer wieder den Doppelcharakter der sozialen Tatsachen als geistige und materielle Komponente, als Idee und Leben, als Regeln und Ressourcen hervorgehoben. Das Leib/Seele-Problem der Philosophie findet hier gewissermaßen seine soziologische Fortsetzung. Nichtsdestotrotz erkennt Durkheim in dieser Verschlingung von materiellen und sozialen Komponenten eine Objektivität sui generis, die für ihn als fait social den zur Totalität vergegenständlichten Objektbereich der Soziologie abgeben. Auch das luhmannsche Postulat der Existenz von Systemen38 knüpft – trotz aller konstruktivistischer Reflexion – an diese ontologische Denktradition an. Bereits bei Auguste Comte wird die methodologische Einheit der Gesellschaft als soziologischem Gegenstand nicht aus deren geistiger 37 In ähnlichem Sinne spricht auch Durkheim von einer, „Einheit“ nicht ausschließenden „Dualität des Menschen“ (Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981, S. 306): „Der Mensch ist vom physischen Gesichtspunkt aus nichts anderes als ein System von Zellen, und vom geistigen Standpunkt aus ein System von Vorstellungen“ (ebd., S. 311). Trotz des „wesentlichen Idealismus“ (ebd., S. 313), d.h. der geistigen Konstitution des Sozialen, gilt: „Sie umfasst auch Materielles [...] Die soziale Tatsache wird manchmal so sehr zur Wirklichkeit, daß sie zu einem Gegenstand der äußeren Welt wird.“ Emile Durkheim: Der Selbstmord, Frankfurt a.M. 1983, S. 365. 38 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt a.M. 1984, S. 30: „Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt.“ 117

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Substanz, sondern aus der „organischen Philosophie“ eines Vorrangs des „Ganzen“ vor den „Teilen“ hergeleitet.39 Die durch die „priesterlichen Kasten“ begründete „erste Trennung von Theorie und Praxis“40, welche eine „Arbeitsteilung“ zwischen „geistiger und weltlicher Gewalt“41 einleitet, wird von Comte als historisch entscheidende Errungenschaft betrachtet, da sie die Voraussetzung für weitere Entwicklungs- und Differenzierungsprozesse darstellt. Das bereits erwähnte soziologische System Müller-Lyers kann nun auch im Hinblick auf das Problem der gesellschaftlichen Differenzierung als Einlösung des comteschen Programms einer sozialen Statik angesehen werden. Müller-Lyer entwickelt das comtesche Konzept durch die separate und gleichwohl systematisch-vergleichende Untersuchung unterschiedlicher Bereiche der Kultur – denen Müller-Lyer wie erwähnt in seinem Gesamtwerk je eigene Monographien widmet – weiter und eröffnet diesem größere Forschungsarenen.42 In diesem Kontext ist vor allem Müller-Lyers Variante einer organischen Kombination materieller und geistiger Momente interessant. Dem Modell liegt die intuitiv zunächst einleuchtende Vorstellung zugrunde, dass eine Gesellschaft sowohl materielle Bezugsprobleme wie Ernährung, Fortpflanzung und Herrschaftsausübung zu lösen, als auch geistige Funktionen wie Wissensvermittlung, spirituelle Erbauung oder ästhetische Sensibilisierung zu erfüllen habe. Bei der als organische Einheit gedachten Untergliederung der Gesellschaft in separat zu betrachtende Kulturbereiche folgt Müller-Lyer daher einer groben (marxistisch inspirierten) Unterscheidung zwischen Unterbau und Oberbau. Während bezüglich der materiellen Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft zwischen Ökonomie (Wirtschaft), Geneonomie (Fortpflanzung) und sozialer Organisation (Politik) unterschieden wird, lässt sich der geistige Oberbau zunächst in Wissen (Wissenschaft, Religion, Philosophie), Moral (Recht) und Ästhetik (Kunst) einteilen. Innerhalb des organischen Paradigmas werden damit also materielle und geistige Funktionen analytisch separiert und strukturell gegenübergestellt.43 39 A. Comte, Die Soziologie, S. 89f. 40 Ebd., S. 152. 41 Auguste Comte: Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind, München 1973, S. 58ff. 42 Comte war hier ja über einige allgemeine Überlegungen zur Familie, zur Arbeitsteilung und zur Aufgabe der Regierung nicht hinausgekommen. Vgl. A. Comte, Die Soziologie, S. 118-136. Verblüffenderweise hatte auch ausgerechnet Spencer es in seinem Frühwerk „Social Statics“ von 1850 nicht vermocht, das Statikkonzept differenzierungstheoretisch auszufüllen. 43 Ähnlich unterscheidet auch Durkheim zwischen gesellschaftlichen Bereichen, „die das moralische Leben sichern (Recht, Moral, Schöne Künste)“ 118

ZWISCHEN GEIST UND MATERIE

Das Müller-Lyersche System macht bereits die Notwendigkeit feinerer Differenzierungen, etwa zwischen Wissenschaft und Religion oder zwischen Wirtschaft und Politik, deutlich. Für die moderne Gesellschaft lassen sich dann weitere Teilbereiche wie das Rechts-, das Erziehungssystem und die Kunst unterscheiden und auf ihren gesellschaftlichen Stellenwert hin untersuchen. Dies erfordert eine Präzisierung der Funktionsbestimmung und eine Identifizierung der diesen Funktionen zuzuordnenden Strukturen.44 Bei der näheren Bestimmung der funktionalen Einheiten gibt es allerdings erhebliche Interpretationsspielräume, die gesellschaftstheoretisch nicht ohne Konsequenzen bleiben und andererseits ohne theoretisch motivierte Begriffsentwicklungen nicht systematisch abzuklären sind.45 Gleichwohl fällt bei genauerer Betrachtung auf, und solchen, „die dem materiellen Leben dienen (Naturwissenschaften, industrielle Techniken)“. E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 306 44 Trotz der Umstrittenheit jener durch diese Problemstellung nahegelegten strukturfunktionalistischen Logik besitzt die Annahme, die moderne Gesellschaft sei „funktional differenziert“, innerhalb der Soziologie in der Tat eine hohe Plausibilität, solange sie im Sinne einer unverbindlichen Heuristik verstanden wird. Im soziologischen Jargon hat sich daher die dubiose Gepflogenheit entwickelt, von „funktionaler Differenzierung“ zu sprechen und sich gleichzeitig von einem wörtlichen, theoretisch gehaltvollen Verständnis der Begriffe „Funktion“ und „Differenzierung“ auf das Schärfste zu distanzieren. 45 Problematisch wird es, sobald es um die Frage der Eigenständigkeit/ Eigendynamik dieser Bereiche geht. Unterschiedliche Ansichten wird es bspw. über die Frage geben, ob ein funktionaler Unterschied zwischen Recht und Politik besteht, wo beide Bereiche doch einerseits konstitutiv miteinander verschränkt sind und andererseits institutionell getrennt operieren (Gesetzgebung, Staat, Professionen). Die Wissenschaft wiederum ist gewissermaßen zwischen Wirtschaft (Technik) und Kunst/Religion (Weltdeutung) angesiedelt. Hier ergeben sich Nischen für Zeitdiagnosen, die häufig in Richtung des Gegensatzes zwischen einer Dominanz des Wirtschaftssystems und politischen Steuerungsansprüche zielen. Ein weiterer Punkt betrifft den Status solcher Funktionsbereiche. Wie sind sie mit dem Rest verzahnt, inwieweit autonom und eigendynamisch? Die abduktive Logik soziologischer Theoriebildung sollte daher darauf ausgerichtet sein, differenzierungstheoretische Vorschläge zu unterbreiten und deren Plausibilität in Konfrontation mit den dadurch ausgeschlossenen Deutungen zu prüfen. Es handelt sich um einen prinzipiell unabgeschlossenen Prozess. Der im Folgenden unterbreitete Deutungsvorschlag verzichtet bewusst auf systemtheoretische Spezialbegriffe, da es um eine knappe und anschauliche Plausibilisierung des Differenzierungskonzepts geht. Für Folgefragen muss gleichwohl auf die Systemtheorie (und deren Kritik) verwiesen werden. Eine ausführlichere Darstellung würde den hier verfügbaren Rahmen sprengen. Vgl. dazu als gesellschaftstheoretische Gesamtausgabe Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2003. 119

120

Wirtschaft

Waren

als Bedarfseinheiten

als Produkte

Zahlung

Teilbereich

Elemente

Geistiger Pol (Sinnstruktur)

Materieller Pol (Objekt)

Operativer Modus

Frage

als Gegenstände

als Begriffe

Wissen

Wissenschaft

Rechtsurteil

als Tatbestände

als normative Erwartungen

Normen

Recht

Tabelle 2: Die elementare Konstitution gesellschaftlicher Teilbereiche

Werturteil

als kollektive Lebensformen

als kultische Artefakte Ritual

Ästhetisches Urteil

als Glaubensinhalte

Heiligtümer

Religion

als Kunstwerke

als Figuren

Ästhetische Gestalten

Aspekte des Gemeinwohls als Werte

Kunst

Politik

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ZWISCHEN GEIST UND MATERIE

dass sich die Beziehung von Geist und Materie kulturbereichsintern als eine der Kongruenz darstellt: Die funktionsspezifischen Sinnkonstrukte haben durchweg ein materielles Substrat (vgl. Tabelle 2).46 Besonders deutlich zeigt sich diese Kongruenzeigenschaft in der Ökonomie. Es dürfte zunächst einleuchtend sein, der Wirtschaft Funktionen der Bedürfnisbefriedigung zuzuschreiben. Dabei werden unterschiedlichste Waren produziert und kollektiv verteilt. Angesichts der chronischen Knappheit ökonomischer Güter ergibt sich ein Problem der Zukunftssicherheit, denn Produktivität und Handel müssen sich auch lohnen.47 Dies lässt sich bereits an ganz simplen Beispielen verdeutlichen. Eine Kultur kann keine Landwirtschaft betreiben, wenn die gesamte Ernte nach dem Einbringen regelmäßig Raubzügen zum Opfer fällt. Und niemand würde sich auf die Herstellung eines Produkts spezialisieren, wenn es nicht die Erwartung gäbe, dafür potentielle Abnehmer zu finden. Ökonomische Aktivitäten setzen daher die institutionelle und kulturelle Etablierung einer ihnen entgegenkommenden sozialen Alltagspraxis voraus. Die ökonomische Lösung dieses Bezugsproblems besteht in den Prinzipien der Arbeitsteilung und des Warenaustauschs. Andererseits werden viele Bedürfnisse überhaupt erst kulturell erzeugt. Die Ökonomie schafft sich gewissermaßen erst selbst ihre eigenen Voraussetzungen. Sie konstituiert sich als ein umfassendes System von Waren, d.h. von gegen Zahlung standardmäßig verfügbaren Bedarfseinheiten. Während die marxsche Theorie sich vor allem auf den materialistischen Aspekt der Ware als Tauschwert konzentriert hat, der die ökonomische Verwertungslogik von Geld und Kapital betrifft, beinhaltet jede Ware

46 Bereits bei Comte wird die Unterscheidung geistig/materiell doppeldeutig verwendet. Comte unterscheidet zunächst zwischen materieller und geistiger Macht, um einen historischen Vorrang des Geistes – d. h. der Religion und der Wissenschaft – über das Materielle – sprich: Wirtschaft und Politik – zu konstatieren. Im Weiteren spricht Comte dann aber auch bspw. von einem „wirtschaftlichen“ und einem „militärischen Geist“ und diskutiert deren Verhältnis zu „theologischem“ und „wissenschaftlichem Geist“. Vgl. A. Comte, Die Soziologie, S. 161ff. Eine ähnliche Figur findet sich bei Müller-Lyer, der die Entwicklung der Wirtschaft von zwei Seiten her betrachtet, „je nachdem, ob wir nämliche das Produkt oder die Produktion mehr oder weniger ausschließlich ins Auge fassen [...]: 1. Entwicklungsgeschichte der Güter und 2. Entwicklungsgeschichte der Arbeit“ Franz Müller-Lyer: Phasen der Kultur und Richtungslinien des Fortschritts, München 1923, S. 49. Die ökonomische Kategorie der Arbeit besitzt sowohl den materiellen Charakter der Herstellung konkreter Produkte als auch den ideellen Charakter einer kulturspezifisch sinnhaften Tätigkeit. 47 Vgl. Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 63-71. 121

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auch einen Gebrauchswert.48 Dieser Gebrauchswert einer Ware wird aber kulturell definiert, er ergibt sich aus den Differenzen dieser Ware zu anderen Waren. Jede standardisierte Bedarfseinheit ist in ein Netzwerk vergleichbarer und komplementärer Bedarfseinheiten eingebettet, sodass eine Ware ihren gesellschaftlichen Sinn letztlich erst im Kontext des gesamten kategorialen Systems aller Warenangebote gewinnt.49 Waren sind in diesem Sinne die Elemente des Wirtschaftssystem. Als kognitive Kategorien der Bedürfnisbefriedigung bilden sie strukturelle Sinneinheiten.50 Als objektive Produkte bilden sie das materielle Korrelat von Zahlungen, die im Medium des Geldes operativ miteinander verknüpft werden. Die Warenform besitzt somit einen geistig-materiellen „Doppelcharakter“. Auch andere gesellschaftliche Teilbereiche etablieren sich als Gesamtheit von Elementen, die einen solchen Doppelcharakter aufweisen. Die Wissenschaft konstituiert sich als ein umfassendes System von Begriffen. Diese bilden ein assoziatives Netz an gesellschaftlich konstruiertem Wissen, durch das die gesellschaftliche Praxis kognitive Erwartungssicherheiten gewinnt. Die mittels wissenschaftlicher Begriffe bezeichneten Objekte bilden das materielle Korrelat von Fragen, die im Medium des Wissens operativ miteinander verknüpft werden.51 Die befragten Gegenstände werden begrifflich geordnet und zueinander in Beziehung gesetzt.52 Wissenschaft setzt einen Prozess der Weltordnung in Gang, der aus sich heraus nie zu einem Abschluss kommen kann, da sich immer wieder neue Fragen ergeben. Wenngleich sie sich somit ihre eigenen Sinnbezüge schafft, verändert dies doch auch den gesellschaftlichen Blick auf die Welt. Diese lässt sich dann nur noch so denken, dass

48 Vgl. K. Marx, Das Kapital. 49 Sonderanfertigungen und Auftragsproduktionen seien einmal vernachlässigt, da auch diese entweder eine gewisse Standardisierung des Leistungsangebots von Firmen voraussetzen oder aber für die soziale Logik der Ökonomie schlichtweg untypisch sind. 50 Was es gibt, sind kandierte Äpfel, Tapetenkleister, Kräutersalz, Eierkocher und Einbauküchen. Was es nicht gibt, sind flambierte Karotten, Lebensmittelkleber, Seitenumblätterer und Kellerlogen. Das Assoziationsnetz des Warensystems lässt sich am deutlichsten am Sortiment eines Supermarktes veranschaulichen. Würden die Produkte einfach nur nebeneinanderstehen, ohne jeweils sinnhaft aufeinander zu verweisen, dann könnte man beim Einkaufen nichts mehr finden. Bekannte Artikel ließen sich noch beim Personal erfragen, Neues hätte jedoch keine Chance. 51 Mit dem Zusammenhang von theorieinternen Sätzen und objektiven Sachverhalten befasst sich vor allem die analytische Philosophie, vgl. etwa W. Quine, Wort und Gegenstand, S. 51-58. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a.M. 1984. 52 Vgl. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 315-130. 122

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alle möglichen Ereignisse einer wissenschaftlichen Ordnung der Dinge genügen. Das Recht der Gesellschaft konstituiert sich als ein umfassendes System von Normen. Der durch diesen normativen Sinnhorizont aufgespannte imaginäre Regelraum bildet ein umfassendes Netz an normativen Erwartungen, durch das die gesellschaftliche Praxis Orientierungssicherheit gewinnt.53 Die Geltung eines normativen Schemas garantiert indes nicht deren Befolgung, sondern definiert einen kategorialen Hintergrund, der die soziale Bedeutung individuellen Verhaltens interpretativ zugänglich macht. Die zum Ausdruck gebrachten normativen Urteile verketten sich nicht nur zu einer mehr oder weniger kohärenten Kultur der Regelauslegung, die sich idealtypisch als normative Selbstkontrolle der Praxis im Hinblick auf die zweckrationale Verfolgung individueller Interessen verstehen lässt, da sie im Kontext einer kollektiv geteilten Lebenswelt handlungspraktische Verbindlichkeiten erzeugt. Die im Medium des Rechts operativ miteinander verknüpften Rechtsurteile entfalten darüber hinaus auch eine juristische Sanktionsmacht, die auf ihr objektives Gegenstück: die normativ zu beurteilenden Tatbestände prägend zurückwirkt. Die Politik lässt sich dagegen als ein System begreifen, das sich als Gesamtheit von Bestandteilen einer kollektiv gültigen Ethik des „guten Lebens“ konstituiert. Diese bilden ein umfassendes Netz von aufeinander verweisenden Aspekten des Gemeinwohls, die sich gleichwohl schon dadurch voneinander unterscheiden, dass sie im pragmatischen Kontext politischer Entscheidungen untereinander um Ressourcen konkurrieren, wodurch insbesondere ein Gegensatz von konservativen und progressiven Positionen resultieren kann. Der Politik fällt dabei die Funktion der gemeinwohlorientierten Koordination kollektiver Lebenspraktiken zu. Konkret kann es sich dabei um staatlich zu bewältigende Aufgaben wie innere Sicherheit, Stadt- und Straßenbau, das Schulwesen oder das Sozialversicherungssystem handeln. Betroffen sind aber auch Themen wie Kulturpflege, Vereinswesen, politische Leitkultur und Umweltschutz, bei denen es in praktischer Hinsicht vor allem auf Zivilcourage, bürgerschaftliches Engagement und die kulturelle Kraft öffentlicher Debatten ankommt. Als geistige Ordnung bildet die Politik ein System von Werten54; die in der politischen Kommunikation operativ miteinander verknüpften Werturteile sind gleichwohl an das materielle Korrelat kollektiv praktizierter Lebensformen gekoppelt. 53 Vgl. Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1993, 131-150. 54 Vgl. Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, 175-183, 359-365. 123

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Die Kunst konstituiert sich als System ästhetischer Gestalten. Diese manifestieren sich in Kunstwerken55, bedürfen jedoch einer operativen Identifikation anhand ästhetischer Urteile, durch welche Stile, Figuren und Techniken miteinander verknüpft werden und sich als ein umfassender ästhetischer Verweisungszusammenhang etablieren, der sich als figuraler Äther in subtiler Weise über die gesamte gesellschaftliche Alltagspraxis legt. Kunst erfüllt dabei eine gesellschaftliche Funktion, die der Rolle der Mathematik für die Naturwissenschaften gleichkommt: Sie vermittelt ein Instrumentarium für komplexe ästhetische Standards – und ein Spielfeld zur Einübung entsprechender Gestaltungs- und Wahrnehmungskompetenzen. Von der politischen Rede bis zum wissenschaftlichen Bild, von der ökonomischen Marke bis zum religiösen Ritual, die Vermittelbarkeit der intendierten Botschaften hängt in hohem Maße von der Etablierung entsprechender ästhetischer Trägerfiguren ab. Eine eingehendere Erörterung alternativer Auslegungen des Organismusparadigmas – etwa nach dem Muster des parsonsschen AGILSchemas – würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Die hier vertretene Interpretation verdeutlicht in jedem Falle die Stoßrichtung einer holistischen Gesellschaftsauffassung, bei der die Makrostruktur des Gegenstands „vom Ganzen her“ erschlossen wird.56 Die sich gegeneinander ausdifferenzierenden Funktionselemente der Gesellschaft (Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst etc.) konstituieren sich ihrerseits als Gesamtzusammenhang spezifischer Elemente (Waren, Begriffe, Kunstwerke). Vergleicht man die operative Logik der Verknüpfung dieser Elementareinheiten in der Form von Zahlungen, Fragen oder ästhetischen Urteilen, so deutet sich die oben bereits erwähnte Möglichkeit an, die Einheit des Gesellschaftssystems auch auf der Mikroebene ihrer elementaren Operationen konzeptionell zu rekonstruieren, denn all diese Operationen können im Sinne der luhmannschen Systemtheorie als spezifische Typen von Kommunikation aufgefasst werden. Gesellschaft lässt sich daher auch als umfassendes System aller Kommunikationen definieren, und jede Gesellschaftsform – so wäre hypothetisch hinzuzufügen – hinterlässt in ihren Kommunikationen einen kulturellen Fingerabdruck.

55 Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 40f., 118ff., 188. 56 „Die Funktion ergibt sich aus dem Bezug auf das Gesellschaftssystem als Einheit“ heißt es entsprechend bei N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 156. 124

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Organismus und Mechanismus als komplementäre Paradigmen Die beschriebenen gesellschaftlichen Teilbereiche zeichnen sich durch ein hohes Maß an interner struktureller Eigendynamik aus, die eine gewisse Eigenständigkeit der historischen Betrachtung rechtfertigt. Waren, Kunstwerke oder wissenschaftliche Begriffe konstituieren sich nur im Bedeutungskontext der Wirtschaft, der Kunst bzw. der Wissenschaft. Andererseits ist die gegenseitige Durchdringung dieser Sinnsphären offensichtlich. Sie lassen sich zwar analytisch trennen und als je in sich geschlossener Sinnverweisungszusammenhang begreifen. Die Situationen der Alltagspraxis sind jedoch polykontextural geprägt und betreffen (zumindest marginal) immer alle Funktionen zugleich. Es fragt sich daher, welcher methodologische Status dem Organismusparadigma überhaupt zukommt und welchen Erklärungswert das Konzept funktionaler Differenzierung folglich haben kann. Kybernetischen Strukturmodellen haftet grundsätzlich der Geruch einer Tautologie an: Erklären sie doch scheinbar nur ad hoc, dass die verblüffenden Phänomene komplexer Ordnungen der Realität durchaus so hätten entstehen können, wie sie sind! Mit konkreten Voraussagen und Prognosen tut man sich dagegen schwer, denn wann ein Apfel fällt, eine Zelle sich teilt, ein Berg oder ein Erdbeben entsteht, ist kaum vorherzusehen. Auch die politischen Theorien können nicht mit Sicherheit vorhersagen, wer die Wahlen gewinnt. Die abstrakten Modelle disziplinspezifischer Grundlagentheorien eröffnen lediglich ein Erwartungsspektrum, innerhalb dessen es bspw. möglich sein kann, die Formulierung kleinteiligerer Forschungsfragen anzuleiten und Risiken abzuschätzen, indem man Erdbebengebiete auszeichnet oder auf mögliche Nebenwirkungen hinweist. Zwar lässt sich, wie die vorgetragenen Überlegungen gezeigt haben, das Ganzheitsdenken nicht einfach nur als Ausdruck der Verblendung zahlreicher Philosophen des 19. Jahrhunderts und einiger unverbesserlicher Soziologen der Gegenwart abtun. Gleichwohl bleibt vorerst unklar, welches reale Korrelat Aussagen wie: „Das Kollektivbewusstsein übt einen gesellschaftlicher Zwang aus.“ oder „Das System operiert und beobachtet.“ haben können. Bereits Comte hatte sich ja schärfstens gegen eine anthropomorphe Deutung von Phänomenen ausgesprochen und Durkheim hatte auf die Gefahr eines funktionalistischen Fehlschlusses aufmerksam gemacht. Auch wenn funktionalistische Annahmen von heuristischem Nutzen sein können, bleibt es daher fraglich, welchen Stellenwert sie innerhalb wissenschaftlicher Erklärungen einnehmen. Bezogen auf die eingangs aufgeworfenen Fragen nach der Einheit des Gegenstands, dem Zusammenhang von geistigen und materiellen 125

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Komponenten und dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zeichnen sich bisher nur Teilantworten ab. Um zu klären, wie es der Gesellschaft grundsätzlich gelingt, die Individuen in ihrem Sinne zu disziplinieren, wären unter anderem die psychologischen und materiellen Motive freizulegen, welche die einzelnen Akteure und Rollenträger zu einem mit der historischen Eigendynamik der einzelnen Systeme kompatiblen Denken und Verhalten treibt. Gegner des Organismusparadigmas fordern daher von der Soziologie „individualistische“ Erklärungen. Die verstehende Soziologie Max Webers behandelt in diesem Sinne „das Einzelindividuum und sein Handeln als unterste Einheit, als ihr Atom“, wobei „der Einzelne auch nach oben zu die Grenze und der einzige Träger sinnhaften Sichverhaltens“ ist. Obgleich die soziologischen „Begriffe, in denen Handeln erfaßt wird, dieses im Gewande eines beharrenden Seins, eines dinghaften oder ein Eigenleben führenden ‚personenhaften‘ Gebildes erscheinen lassen“, ist es „ihre Aufgabe, sie auf ‚verständliches‘ Handeln, und das heißt ausnahmslos: auf Handeln der beteiligten Einzelmenschen zu reduzieren.“57 Im Zusammenhang mit dem Schema der funktionalen Differenzierung ist dem weberschen Berufskonzept andererseits indirekt ein generelles Argument für die Verträglichkeit der Autonomie gesellschaftlicher Teilbereiche mit den situationsspezifischen Handlungshorizonten individueller Lebensführung zu entnehmen (a). Weber selbst reizt dieses nicht weiter aus, da er sich nicht für derartige Aspekte einer systematischen Theoriegenese interessiert. Anhand der entsprechenden Überlegungen lässt sich allerdings noch nicht begründen, wie die übergreifende Koordination der beschriebenen Sinneinheiten und Objekte, welche die für die moderne Gesellschaft typische „Rationalität“ flexibler Ordnungen gewährleistet, im einzelnen überhaupt möglich ist – sei es in der Form des positiven Rechts und als Demokratie, sei es als Marktordnung oder als ästhetische Stilentwicklung. Diese Fragestellung verweist auf das Paradigma gesellschaftlicher „Mechanismen“ (b). Zu a) Eine Rekonstruktion des gesellschaftstheoretischen Ertrages von Webers Protestantismusstudie führt zwangsläufig auf die Frage, was man über die Gesellschaft weiß, wenn man mit Weber die geistigen Hintergründe der Entstehung des Kapitalismus untersucht hat. Dass die kapitalistische Wirtschaftsform eine zentrale Erscheinungsform der modernen Gesellschaft darstellt, kann selbstverständlich kaum geleugnet

57 Max Weber: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 427-474, Zitate S. 439. 126

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werden. Dennoch gibt es andere Symptome des modernen, okzidentalen Rationalisierungsprozesses, die sich nicht unmittelbar aus dem Prozess der ökonomischen Rationalisierung ergeben, obgleich sie mit diesem in einem engen Wechselwirkungsverhältnis stehen. Weber selbst nennt als solche Phänomene die wissenschaftliche Rationalität, die Entstehung des modernen Rechtsstaats oder Entwicklungen in der Kunst, bspw. die auf wohltemperierter Stimmung und standardisierter Notenschrift basierende westliche Musik in ihrer symphonischen Komplexität. Bei aller Evidenz bezüglich der Bedeutung der Wirtschaft für die Gesellschaft wäre es aus gesellschaftstheoretischer Perspektive daher ratsam, auf begriffliche Genauigkeit zu drängen. Ist der „Kapitalismus“ also lediglich ein historisch-spezifischer Stil des Wirtschaftssystems, wie es bspw. den Impressionismus oder den Surrealismus als Schulen bzw. Epochen in der Kunst gibt? Oder beinhaltet die Formel des Kapitalismus bereits eine gesamtgesellschaftliche Diagnose, wie es aufgrund der ökonomischmaterialistischen Deutung von Gesellschaft in der marxistischen Gesellschaftstheorie unterstellt wird? Da die letzte Annahme bei Weber nicht systematisch belegt wird, ist zunächst vom ersten Fall auszugehen, zumal er ohnehin der allgemeinere von beiden ist. Da der Begriff des Kapitalismus überdies unter die gesellschaftstheoretische Kategorie der Selbstbeschreibung fällt, kann er auf zweierlei Weise gedeutet werden. Erstens lässt sich die Beschreibung der modernen Gesellschaft mittels der Formel Kapitalismus als soziologisches Selbstbeschreibungsangebot an die Gesellschaft verstehen. Im Sinne einer „inkongruenten Perspektive“58 wird die gesellschaftliche Komplexität auf einen zentralen Aspekt – hier: den ökonomischen – projiziert und durch die entsprechende Irritation des Alltagsverständnisses gleichsam ein gesellschaftlicher Lerneffekt stimuliert. Da es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, einen Teilaspekt für das Ganze zu nehmen, ergeben sich konkurrierende Selbstbeschreibungsformeln der modernen Gesellschaft wie bspw. „Demokratie“, „Informationsgesellschaft“, „Risikogesellschaft“, „Rechts-“ oder „Sozialstaat“. Ein solcher Reduktionismus wäre nun im Hinblick auf die Diagnose „Kapitalismus“ eindeutig die Strategie von Marx, weniger jedoch die von Weber. Zweitens kann die Selbstbeschreibung der Gesellschaft als „Kapitalismus“ auch als empirisches Phänomen gedeutet werden. Die funktionalen Teilbereiche der Gesellschaft tendieren scheinbar dazu, sich in ihren Selbstbeschreibungen für das Ganze zu nehmen und das Wirtschaftssystem oder den Staat mit Gesellschaft schlechthin gleichzuset58 Im Sinne von Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung, in: ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 1, Opladen 1979, S. 66-91. 127

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zen. Das „Soziale“ wird dann stattdessen als Auffangkategorie für Restprobleme und Exkludierte umgedeutet. Diese Tendenz kann aus der Distanz des Theoretikers als ein typisches Symptom für die operative Schließung von Sinnzusammenhängen interpretiert werden: Indem etwas Partielles für das Ganze genommen wird, werden alle externen Bezüge gekappt bzw. assimiliert. Im Falle der „protestantischen Ethik“ heißt dies: Religiöse Erlösung und ökonomisches Handeln werden qua Prädestinationslehre auseinandergezogen und der Beruf zum (religiös legitimierten, aber nicht inhaltlich determinierten) Selbstzweck freigegeben. Aus dem Kontext des Berufslebens heraus erscheint die Gesellschaft dann als Kapitalismus. Diese Deutung mag sich kulturhistorisch belegen lassen oder sich als unhaltbar erweisen. Wie dem auch sei: Für gesellschaftstheoretische Zwecke wäre ohnehin der Zusammenhang zwischen dem ökonomischen Geist des Kapitalismus und den ideellen Hintergründen in anderen gesellschaftlichen Bereichen, wie auch deren strukturelle Gemeinsamkeiten und Interdependenzen erst noch genauer zu ergründen und systematisch herauszuarbeiten. Die weberschen Studien erscheinen dadurch, wie sich sogleich zeigen wird, in einem gänzlich fremden Licht. Die von Weber herausgestellte Besonderheit des westlichen „Kapitalismus“ besteht im Wesentlichen darin, dass dieser in seiner Entstehung von einem Geist getragen wird, bei dem es um den Erwerb um des Erwerbs willen geht. Diese selbstbezügliche Logik ist in struktureller Hinsicht bereits im Begriff des Kapitals angelegt. Kapital ist im Unterschied zu einfachem Geld nicht zum Ausgeben, sondern zum Investieren da. Der idealtypische (protestantische) Unternehmer im Sinne Webers fungiert als perfektes Medium der kapitalistischen Verwertungslogik, indem er seine persönlichen Bedürfnisse, individuelle Vorlieben und überkommene Traditionen weitestgehend zurücknimmt und der nackten ökonomischen Rationalität dadurch unbehindert freien Lauf lässt. Analoge Formen der Selbstbezüglichkeit, begleitet von einem Geist des Selbstzwecks, finden sich indes auch in anderen Bereichen der Gesellschaft. In der Kunst gibt es seit dem 19. Jahrhundert Autonomiebestrebungen, die Kunst um der Kunst willen zu betreiben59. In der Wissenschaft wird das Drängen des wahrhaften Wissenschaftlers auf nichts als die reine Erkenntnis proklamiert.60 Wissen wird nicht erzeugt, um es anzuwenden, sondern Wahrheit und Klarheit werden um ihrer selbst willen erstrebt. Auch die Politik findet im Ruf nach Demokratie eine selbst59 Vgl. Georg Simmel: L’art pour l’art, in: Der Tag, Nr. 5, 4.1.1914, Ausgabe A, Morgenausgabe, Illustrierter Teil Nr. 3, Berlin. 60 Und in Spinozas Ethik gar als Erkennen des Erkennens zum Urinhalt der ethischen Selbstvervollkommnung erklärt. 128

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bezügliche Formel, bei der die Idee der Ausübung der Herrschaft durch die Beherrschten selbst zu einem Eigenwert wird, der keiner externen, instrumentellen Begründung bedarf. In unorthodoxer Anlehnung an Weber kann man nun die Gemeinsamkeit dieser Fälle auf den Begriff bringen: Man betreibt Politik, Wissenschaft, Kunst usw. gerade dann professionell, wenn man dem Eigensinn der Sache (sei es Wissenschaft, Kunst oder Politik) seinen Lauf lässt, die Dinge mithin einfach geschehen lässt. Das Autonomie-Prinzip einer sich über die Berufsidee vollziehenden selbstreferentiellen Schließung funktionaler Sinnzusammenhänge im Hinblick auf die damit verbundene individuelle Sinngebung betrifft somit ganz verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche. Die Wurzel dieser Idee lässt sich mit Weber – auch wenn diese Interpretation heute umstritten ist – in der calvinistischen Prädestinationslehre identifizieren. In jedem Falle kann das Berufsmotiv in der modernen Gesellschaft als säkularisiert gelten: Es hat sich im Sinne einer öffentlich vorgegebenen normativen Erwartungshaltung etabliert.61 Wie aber gewinnt die moderne Gesellschaftsstruktur – die Rede vom „Kapitalismus“ soll im Weiteren vermieden werden – Unabhängigkeit von der idiosynkratischen Motivstruktur einzelner Gruppen? Warum – um es mit Weber zu sagen – müssen wir heute Berufsmensch sein? Die Antwort Webers beruht auf einem sozialdarwinistischen Argument: Die Gesellschaft stelle für den Einzelnen ein „unabänderliches Gehäuse“ dar, das diesem seine „Normen“ im Zuge eines evolutionären Prozesses der „Auslese“ aufzwingt.62 Es ist nun gemeinhin bekannt, dass der Erfolg des kapitalistischen Wirtschaftsystems nicht allein aus den ihn tragenden produktivistischen Motiven resultiert, sondern zu großen Teilen auch auf kulturell verankerten Konsumeinstellungen beruht, die durch penetrante Werbekampagnen stets aufs Neue geschürt werden müssen. Diese Feststellung lässt sich in analoger Weise auch für die anderen Teilsysteme der Gesellschaft treffen. Wenn der systeminterne Idealismus eines starken Berufsmotivs als Anschub wirkt, zahlt sich dies offenbar gesellschaftlich auch als externe Leistung aus. Zur angemessenen psychischen Einstellung der professionellen Akteure kommt dann auch ein materielles Interesse des Publikums hinzu. Das Funktionssystem kann sich gesellschaftlich etablieren – und dies durchweg mit ambivalenten Folgen (vgl. Tabelle 3). 61 Vgl. Michael Corsten: Die Kultivierung beruflicher Handlungsstile. Einbettung, Nutzung und Gestaltung von Berufskompetenzen, Frankfurt a.M. 1998, S. 17. 62 Vgl. Max Weber: Die protestantische „Ethik“ und der Geist des Kapitalismus, Weinheim 2000, S. 16f. 129

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Tabelle 3: Interne und externe Erfolgsbedingungen für die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche Gesellschaftlicher Teilbereich Wirtschaft Wissenschaft Politik Kunst

Professionelle Einstellung (intern) Erwerb um des Erwerbs willen Erkenntnis um der Erkenntnis willen Demokratie als politischer Wert L’art pour l’art

Gesellschaftliche Leistung (extern) Massenkonsum Technologie Kollektiver Lebensstandard Unterhaltungskultur

Für die Wirtschaft wird dies wie bereits erwähnt in Form eines industriell ermöglichten Massenkonsums realisiert. Der kapitalistisch erwirtschaftete Wohlstand wirkt auch für die nicht zur Berufsarbeit unmittelbar Motivierten als bestechende Verheißung. Kaugummis und Cola stellen freilich nicht per se eine Verbesserung der Lebensqualität dar. Die Kehrseite der Massenproduktion lässt sich mit Stichworten wie Verdinglichung, Kulturindustrie oder Globalisierung griffig umschreiben. Die entsprechende Kapitalismuskritik sollte Soziologen hinlänglich vertraut sein und bedarf daher keiner ausführlicheren Erläuterung. Die Wissenschaft verzeichnet ihren externen Erfolg als Triumph der Technik. Dies beeinflusst wiederum rückwirkend die wissenschaftliche Evolution. Bestimmte, eher materialistische Paradigmen setzen sich nicht zuletzt deshalb durch, weil sie finanzielle und ideologische Unterstützung erfahren. So führt die mathematische Mengentheorie, die sich in Physik und Informatik ausgezeichnet bewährt, letztlich zu einem quantitativen, instrumentellen Verständnis von Wissenschaftlichkeit auch in Bereichen, wo dies von der Sache her gar nicht nahe liegt. Die instrumentelle Logik der gesellschaftlich etablierten Spielart von Wissenschaft zieht dann wiederum den Unmut alternativer Bewegungen auf sich, die auf eine eher holistische Sichtweise setzen, so bspw. in der Medizin. Auch die entsprechende philosophische Kritik am modernen Wissenschaftsverständnis dürfte als allgemein bekannt gelten. Die Politik gewährleistet in demokratisch verfassten Staaten im Allgemeinen eine effektive Steigerung des Gemeinwohls. Wie immer dies im Einzelnen aussieht, die Migrationsstatistiken zeigen, dass es sich in Demokratien einfach besser lebt. Die vielbeschworenen demokratischen Werte werden dabei wie selbstverständlich an der Realisierung sozialer Wohltaten wie Steuerentlastungen oder Sozialleistungen gemessen. Hinzu kommen symbolträch130

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tige Erfolge wie Mondlandungen und militärische Durchgriffe. In Ausnahmefällen können dann freilich auch demokratische Außenseiter politisch punkten, wenn sie die vorhandenen Interessenkonstellationen geschickt zu nutzen verstehen, man denke an die „Erfolge“ Hitlers in Sachen Autobahnbau, Jugendarbeit und Olympiade. Eine zu „materialistische“ Einstellung der politischen Kultur stellt daher demokratietheoretisch gesehen ein großes Problem dar, dem an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden kann. Erwähnt sei schließlich auch das moderne Kunstsystem, welches über seine populären Nebenprodukte für einen nie gekannten Unterhaltungswert sorgt. Als prominente Kondensate massenmedial vermittelter sozialer Zuschreibungen entsteht dabei auch die personale Form des Superstars, der als strukturelle Kopplung zwischen Kunst- und Wirtschaftssystem die Autonomie der Kunst auf die Probe zu stellen scheint – was den Einfluss auf die Ästhetik des Alltags betrifft: mit einigem Erfolg; aus Sicht des Kunstkenners: offensichtlich erfolglos. Zu b) Die operative Funktionsweise eines gesellschaftlichen Strukturzusammenhangs, die Bedingungen seiner Stabilität und die Dynamik sozialen Wandels sind durch das Organismusparadigma allerdings nicht erschöpfend zu bestimmen. Die funktionale Anatomie einer Gesellschaft sagt noch kaum etwas über den konkreten Ablauf interner Strukturierungsprozesse aus. Hierfür ist – neben situativen Arrangements – die Etablierung eigendynamischer Mechanismen entscheidend, die eine systematische Koordination des sozialen Geschehens bedingen. Das komplementäre Paradigma des Mechanismus63 hätte deshalb sowohl die ideelle Logik der Konstitution gesellschaftlicher Teilbereiche als Bedeutungssysteme zu erklären, wie auch die materiellen Prinzipien zu entschlüsseln, die als Pendant dazu eine Ordnung der Objekte und Handlungen manifestieren. Angesichts der akteursabhängigen Aggregationslogik sozialer Institutionen und kultureller Muster sind dabei nicht zuletzt auch die Ausgangslagen individueller Handlungs- und Deutungszusammenhänge zu berücksichtigen. Die oben beschriebenen, abstrakten Motive der Berufseinstellung und des Leistungsempfängers bilden hierfür allerdings keine hinrei-

63 Zum Gegensatz von Mechanismus und Organismus vgl. auch Alfred North Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt, Frankfurt a.M. 1988, S. 93-98. Nicht zuletzt bieten die vorherrschenden ökonomischen Modellvorstellungen und wissenschaftsphilosophischen Ideale einen optimalen akademischen Nährboden für die abstrakte Forderung nach „mechanismischen Erklärungen“, an die man in jüngster Zeit seitens der soziologischen Theorie große Erwartungen setzt. Vgl. Michael Schmid: Die Logik mechanismischer Erklärungen, Wiesbaden 2006. 131

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chende Grundlage, erklären sie doch noch nicht die Logik der kollektiven Stabilisierung einer je bestimmten Ordnung. Als früher Vertreter einer dezidiert mechanistischen Auffassung kann dagegen Gabriel Tarde gelten, der alle „sozialen Ähnlichkeiten“ auf das Prinzip der Nachahmung zurückzuführen versucht und damit die vermeintlichen Kollektivphänomene der Soziologie auf einen psychologischen Mechanismus reduziert.64 Auch der sozialwissenschaftliche Behaviorismus, die Chicagoer Schule und die gängigen Rational-Choice-Traditionen liegen auf der Linie eines solchen Paradigmas. Die Unterscheidung von Organismus und Mechanismus als komplementären Paradigmen wissenschaftlicher Gegenstandsauffassung geht auf Georg Ernst Stahl (1660-1734) zurück, der unter anderem durch die von ihm entwickelte Phlogistontheorie bekannt geworden ist. Stahl wollte dem Ende des 17. Jahrhunderts dominanten, mechanistischen Weltbild, das von Wissenschaftlern wie Kepler oder Descartes geprägt worden war, vor allem für den Bereich der Medizin als Alternative eine ganzheitliche Sichtweise entgegenstellen, die er mit dem Begriff des Organismus bedachte. Diese Unterscheidung ist dann vor allem durch Kant65 in die philosophische Erkenntnistheorie eingeführt und später unter anderem von Schelling, Hegel und der Romantik aufgegriffen worden.66 Kant hatte in der „Kritik der Urteilskraft“ (1790) argumentiert, dass innerhalb des biologischen und gesellschaftlichen Phänomenbereiches aufgrund der außerordentlichen Komplexität der Kausalverkettungen die mechanisch-kausale Erklärung durch eine organisch-zweckbezogene zu ergänzen sei.67 Im Rahmen der Möglichkeiten unseres Urteilsvermögens ließen sich die Strukturen und Formen des Lebens nur durch die Unterstellung von Naturzwecken hinreichend entschlüsseln. Dieses Argument wurde später bei Comte und Spencer enzyklopädisch interpretiert und im Hinblick auf die diskrete Unterscheidung wissenschaftlicher Gegenstandsbereiche umgedeutet: Physik und Chemie hätten es mit einem unorganischen, Biologie und Soziologie

64 „Kurz gesagt, auf die anfangs gestellt Frage, was Gesellschaft sei, haben wir geantwortet: Sie ist Nachahmung. Nun bleibt uns noch zu fragen: Was ist Nachahmung? Hier muß der Soziologe dem Psychologen das Wort überlassen.“ Gabriel Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt a.M. 2003 (zuerst 1890), S. 98. 65 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1995, S. 316326 (§§ 64-66). 66 Vgl. Georg von Below: Die Entstehung der Soziologie, Jena 1928, S. 16. 67 So heißt es bei I. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 352: „Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können.“. Stattdessen wäre die „Idee des Ganzen“ (ebd., S. 321) zu berücksichtigen. 132

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mit einem organischen (bzw. überorganischen) und daher separaten Gegenstand zu tun. Späterhin wurde das Paradigma „organischer Gesellschaftsauffassung“68 deshalb zur heimlichen Basis derjenigen soziologischen Theorien, die mit einem systematischen Autonomieanspruch auftraten. Bereits bei Kant war freilich die organische Erklärung bloß als pragmatische Ersatzlösung gedacht gewesen. Da nach Kant nicht zu beweisen, ja nicht einmal davon auszugehen war, dass in der Natur „Zwecke an sich“ vorkommen könnten, musste die Berechtigung des Organismusparadigmas – selbst als einer zweitrangigen Ausweichstrategie – erst umständlich als unausweichlich begründet werden.69 Wenngleich spätere Theorien (Spencer, Durkheim, Parsons, Luhmann) terminologisch auf den Begriff der „Funktion“ umstellen und damit der Permanenz systeminterner Bestandserhaltung stärker Rechnung tragen, bleibt das sich im Gegensatz von Organismus und Mechanismus ausdrückende Bezugsproblem doch grundsätzlich erhalten. Zwar kann die Erfüllung bestimmter Funktionen als notwendige Bedingung für den Bestand einer Gesellschaft im Ganzen gelten, sodass aus der funktionalen Perspektive wertvolle Möglichkeiten des Vergleichs funktionaler Äquivalente sowie der Diagnose pathologischer Entwicklungen erwachsen.70 Gleichwohl beinhaltet die Funktionalität einer Struktur weder einen hinreichenden Grund für deren Entstehung noch für deren Bestandserhalt.71 Erklärungen nach dem Prinzip des methodologischen Individualismus neigen hingegen zur Unterstellung einer bestimmten menschlichen Natur oder anthropologisch verwurzelter Triebe, die als konstanter Parameter in das 68 D. Ambros, Über Wesen und Formen organischer Gesellschaftsauffassung. 69 In Kants Worten: „Wie aber Zwecke, die nicht die unsrigen sind, und die auch der Natur (welche wir nicht als intelligentes Wesen annehmen) nicht zukommen, doch ein besondere Art der Kausalität, wenigstens eine ganz eigene Gesetzmäßigkeit derselben ausmachen können oder sollen, lässt sich a priori gar nicht mit einigem Grunde präsumieren.“ I. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 305. 70 Vgl. Emile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt a.M. 1984, S. 141-165. 71 Vgl. ebd., S. 181. Selbst im Rahmen einer evolutionstheoretischen Erklärung der Genese funktionaler Muster bleibt das sogenannte „Trittbrettfahrerproblem“ eine hartnäckige Herausforderung: Der Selektionsvorteil bzw. die Bewährungsfähigkeit eines strukturellen Arrangements muss sich evolutionär auch auf der Ebene der partikulären Elemente nachweisen lassen. Abweichendes Verhalten darf sich nicht systematisch lohnen (wobei eine gewisse Toleranz gegenüber Parasiten erträglich sein kann). Vgl. John Maynard Smith/Eörs Szathmáry: Evolution. Prozesse, Mechanismen, Modelle. Heidelberg 1996, S. 9. Richard Dawkins: Das egoistische Gen. Reinbek 1996. 133

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Erklärungsmodell eingehen könnten.72 Eingedenk des zirkulären Bedingungsverhältnisses von individuellen Situationsdeutungen und kulturell verankerten Deutungsmustern einerseits, von habitualisierten Verhaltensmustern und gesellschaftlichen Institutionen andererseits wird man die gesellschaftliche Mechanik jedoch heute nicht mehr – auch dies ist ein Unterschied zu Kant – nach dem linearen Muster von Ursache und Wirkung verstehen können.73 Organisches und mechanisches Paradigma müssten stattdessen gesellschaftstheoretisch in ein konstruktives Verhältnis wechselseitiger Ergänzung gebracht werden. Die Entscheidung, ob ein „organischer“ oder ein „mechanischer“ Ansatz gewählt wird, scheint auf den ersten Blick davon abzuhängen, welche Auffassung von der Beschaffenheit des Forschungsgegenstandes Gesellschaft vertreten wird. Eine „mechanische“ Erklärungsstrategie dürfte demnach mit einer eher „materiellen“ Auffassung einhergehen: Zu erklären sind ja die faktisch je konkreten Eigentumsverteilungen, Machtverhältnisse, Kriminalitätsstatistiken oder Konnubiumsopportunitäten. Ein „organisches“ Verständnis dagegen verbindet sich anscheinend mit einer eher „geistigen“ Auffassung: Die einzelnen Funktionsbe72 Im Gegensatz dazu startet F. Jonas seine Soziologiegeschichte gerade deshalb mit Montesquieu, weil dieser (wie später bspw. auch Hume) bereits die Formbarkeit der menschlichen Natur im Wechselspiel mit den gesellschaftlichen Institutionen erkannte. Vgl. Friedrich Jonas: Geschichte der Soziologie, Opladen 1981. Die Intentionalität menschlichen Handelns scheint den Weg einer rein kausalen Erklärung nach dem Muster naturwissenschaftlicher Gesetze ohnehin zu verstellen und statt dessen ein handlungstheoretisches Modell der akteursbezogenen Wahl zwischen situativen Alternativen nahezulegen, das unter der kontrafaktischen Voraussetzung einer zweckrationalen Nutzenmaximierung auf Seiten der Akteure bei (relativ) konstanten Präferenzen prognosefähige Theorien in Aussicht stellt, die dann an der empirischen Wirklichkeit getestet werden könnten. Vgl. Daniel Dennett: Intentionale Systeme, in: Peter Bieri (Hg.): Analytische Philosophie des Geistes, Bodenheim 1993, S. 162-183. Das entsprechende Paradigma beruht allerdings auf apriorischen Annahmen über die Beschaffenheit der sozialen Welt, wird doch stillschweigend eine Optionalität der Praxis unterstellt, die das Handeln eines Akteurs als fortlaufende Entscheidung zwischen objektiven Alternativen konzipiert. (So als ob man bspw. abends entweder fernsehen oder schlafen gehen kann. Dies zu unterstellen vernachlässigt aber die Kreativität der Praxis, ständig neue Mischvarianten zu erfinden: zum Beispiel vor dem Fernseher einzudösen.) Die mechanistischen Erklärungen dieses Typs beruhen somit auf dem gegenüber Kant zugestandenen Kompromiss, dass die offenbar unvermeidlichen „Zwecke“ wenn auch nicht den gesellschaftlichen Strukturen, so doch in Form von Intentionalität den handelnden Individuen zugeschrieben werden. 73 Vgl. Niklas Luhmann: Funktion und Kausalität, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 14, 1962, S. 617-644. 134

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reiche konstituieren sich schließlich erst auf der Ebene gesellschaftlicher Sinnzusammenhänge, ob man diese nun als objektiven Geist (Hegel), conscience collective (Durkheim) oder Kommunikationssysteme (Luhmann) versteht. Die vorgetragenen Betrachtungen machen jedoch klar, dass es die Gesellschaftstheorie immer mit „materiellen“ und „geistigen“ Phänomenen, mit „organischen“ und „mechanischen“ Zusammenhängen zu tun hat. Es handelt sich bei den beiden Unterscheidungen Mechanismus/Organismus bzw. Geist/Materie also nicht per se um Theorieentscheidungen: Mechanische und funktionale Erklärung müssen sich nicht zwangsläufig widersprechen. Die formalen Möglichkeiten zur Kombination beider Begriffspaare lassen sich anhand einer unterscheidungstheoretischen Überlegung näher ausloten. Die naheliegendste Alternative zur synchronen Handhabung zweier Unterscheidungen – wie in der Entscheidungsalternative mechanisch/materiell versus organisch/geistig – besteht darin, die eine der Unterscheidungen in eine Seite der anderen Unterscheidung hineinzukopieren. So unterscheiden Müller-Lyer, Durkheim und andere gleich dem Muster von Hirn und Hand zwischen materiellen und geistigen Gesellschaftsbereichen. Die Unterscheidung von Geist und Materie wird dadurch aber lediglich auf die Funktionen der gesellschaftlichen Kulturbereiche bezogen, während diese selbst immer zugleich materielle und ideelle Momente umfassen. Gesellschaftliche Funktionsbereiche lassen sich daher als spezifische Verbindung von (geistigen) Ideen und (materieller) Praxis begreifen, so dass die Beziehung von Geist und Materie sich bereichsintern weitestgehend als eine der Kongruenz darstellt – denn sinnhafte Operationen haben immer auch ein materielles Substrat. Wenn aber auf der Organismusseite Geist und Materie als Einheit erscheinen, muss ihr Unterschied dann nicht folglich auf der anderen, der Mechanismusseite der Unterscheidung zu finden sein? Im Folgenden wird es um den Versuch gehen, solche materiellen und geistigen Mechanismen konkret zu identifizieren und deren Unterscheidung gesellschaftstheoretisch zu plausibilisieren. Bei den gesuchten Mechanismen ginge es in jedem Falle nicht oder nur mittelbar um die partikuläre Erklärung ereignis- oder episodenhafter gesellschaftlicher Kausalzusammenhänge – etwa: Wie konnte es zur Entstehung des Nationalsozialismus kommen?, Welchen Gesetzen folgt der gesellschaftliche Wandel im Zuge des sozialistischen Systemzusammenbruchs?, Wie wurde der europäische Kulturkreis zum zentralen Motor der modernen Zivilisation? –, sondern eher um evolutionäre Uni-

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versalien74, die sich nach dem Muster einer rekursiven Vernetzung sozialer Operationen begreifen lassen. Mit anderen Worten: Es kommen nur reflexive Mechanismen in Frage.75 Dabei wäre die gesellschaftstheoretische Aufmerksamkeit auf polykontextual wiederverwendbare und daher theoretisch generalisierbare Formen zu richten, die – einmal gesellschaftlich etabliert – gesellschaftsweit Komplexität in spezifischer Weise strukturieren und somit der soziologischen Beobachtung Vergleichbarkeiten quer zum Muster der gesellschaftlichen Differenzierung ermöglichen. Die „materielle“ Seite der Gesellschaft dürfte dabei aus heutiger Sicht unter dem Aspekt der Institution, die „geistige“ unter dem Aspekt der Kultur zu erfassen sein. In der empirischen Wirklichkeit besteht zwischen Kulturen und Institutionen in der Regel ein zirkuläres Bedingungsverhältnis. Die Sinnzusammenhänge gesellschaftlicher Praxis konstituieren sich als mit kulturellen Bedeutungen ausgestattete institutionell verfestigte Handlungsnetze. Alle Operationen sind gleichzeitig Beobachtungen und umgekehrt. Ein weiter Begriff der Kultur umfasst daher gewöhnlich ebenso soziale Institutionen, wie ein weiter Institutionenbegriff Aspekte der Kultur umfassen kann. Der Unterschied besteht im Verhältnis von abhängiger und unabhängiger Variable, also in der Perspektive. Institutionen koordinieren unter den Bedingungen eines durch die gegebenen kulturellen Hintergründe eröffneten Optionenspielraums Handlungszusammenhänge, indem sie das individuelle Verhalten selektiv strukturieren und in die entsprechenden Bahnen lenken – etwa im Rahmen eines Kriegszuges oder in der Form regelmäßiger Gottesdienste –, und sie werden umgekehrt in der Form einer Selektivität von individuellen, an sich kontingenten Handlungszusammenhängen reproduziert. Kultur sorgt dagegen unter den Bedingungen vorgegebener institutioneller Praktiken für jene Interpretationen, welche die lebensweltliche Bedeutung der einzelnen Situationen vor dem Hintergrund impliziter Weltbilder, sozialer Rollen und personaler Identitäten definieren, und sie wird im Gegenzug durch die zum Ausdruck gebrachte Selbstverständlichkeit der individuellen Inanspruchnahme von kollektiv geteilten Deutungsmustern reproduziert. Die gesuchten institutionellen bzw. kulturellen Mechanismen hätten somit insbesondere das Problem der gesellschaftlichen Adäquatheit individuellen Handelns zu lösen: Wie ist angesichts der intentionalen Willkür 74 Vgl. Talcott Parsons: Evolutionäre Universalien der Gesellschaft, in: Wolfgang Zapf (Hg.): Theorien des sozialen Wandels. Köln/Berlin 1969, S. 55-74. 75 Vgl. Niklas Luhmann: Reflexive Mechanismen. Soziale Welt 17, 1966, S. 1-23. 136

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menschlichen Handelns gesellschaftliche Ordnung möglich? Der üblicherweise als Freiheit begriffenen autonomen Disposition menschlicher Lebenspraxis müssten dazu disziplinierende, sozialisierende, integrierende Mechanismen entgegenstehen.76 Als Mechanismen gesellschaftlicher Koordination müssten sie die kulturelle Effektivität eines „Kollektivbewusstseins“ hinsichtlich der geistigen Prägung individueller Bewusstseinsinhalte einerseits, institutionalisierter Regelsysteme hinsichtlich einer materiellen, d.h. handlungsbezogenen Disziplinierung individuellen Verhaltens andererseits erklären. In Abgrenzung von sozialwissenschaftlichen Ansätzen des Methodologischen Individualismus, die ungeachtet ihrer partiellen Fruchtbarkeit der hier vertretenen Auffassung zufolge eben keine Gesellschaftstheorien im strengen Sinne sind, wird es in den folgenden Kapiteln also um den Versuch gehen, die Einheit des Gegenstandes Gesellschaft zu bewahren, indem das Problem des zirkulären Zusammenhangs von gesellschaftlichen Institutionen und Kulturen einerseits, von individuellem Handeln und Denken andererseits gesplittet wird: Die Frage nach der Einheit von Individuum und Gesellschaft soll dazu als Problem der Religion bzw. der Moral externalisiert werden (Kapitel V), während die Frage nach den Mechanismen gesellschaftlicher Koordination anhand der Maxime behandelt wird, allein solche gesellschaftlichen Mechanismen zu betrachten, die als reflexive, generalisierte evolutionäre Errungenschaften der modernen Gesellschaft sowohl: • der internen Koordination – insbesondere der gesellschaftlichen Funktionssysteme – dienen, als auch es prinzipiell gestatten, die Inklusion von Individuen in soziale Sinnzu• sammenhänge zu modellieren. Als die für moderne Gesellschaften zentralen derartigen Mechanismen sollen dann „Organisation“ und „Öffentlichkeit“ identifiziert werden (Kapitel VI).

76 Durkheim begreift die Existenzweise gesellschaftlicher Strukturen daher zunächst nach dem Wirkungsmuster sozialer Zwänge. Die naheliegende Vorstellung, gesellschaftliche Integration unter normativen Kategorien wie Solidarität oder moralische Autorität zu erfassen, beinhaltet jedoch aufgrund der unnötigen Verengung des Spektrums sozialer Strukturen auf den Charakter von Normen theoretisch unglückliche Konsequenzen. Günstiger wäre daher der Bezug auf den abstrakteren Begriff der Regel (bspw. im Sinne von Wittgenstein oder Giddens). 137

V E X K U R S : Ü B E R D E N F U N K T I O N AL E N Z U S AM M E N H AN G V O N R E L I G I O N U N D M O R AL

Die Ergebnisse des vorhergehenden Kapitels sprechen dafür, das Individuum in begrifflicher Hinsicht aus dem Gegenstandsbereich der Gesellschaftstheorie auszuschließen. Daraus lässt sich jedoch nicht automatisch ein Einwand gegen die gängigen sozialwissenschaftlichen Themen ableiten. An der Kopplungsstelle zwischen Psyche und Sozialität besteht durchaus ein über die Grenze zwischen Psychologie und Soziologie hinausreichender Bedarf für sozialpsychologische Forschung, sozialisationstheoretische Erwägungen oder handlungstheoretische Modelle der rationalen Wahl (Rational Choice). Bereits Auguste Comtes enzyklopädische Klassifikation der Wissenschaften anhand spezifischer Gegenstandsbereiche, in deren Rahmen er die Soziologie als eigenständige Disziplin begründen wollte, war nach dem Muster der Arbeitsteilung gedacht gewesen. Die Disziplinen sollten sich also gegenseitig zuarbeiten. Mithin gab es – und sind bis heute – in einem gewissen Maße auch interdisziplinäre Schnittstellen und transdisziplinäre Synergieeffekte zu erwarten. Der empirische Zusammenhang von Mensch und Gesellschaft ist daher möglicherweise erst dann in fruchtbarer und analytisch erhellender Weise zu thematisieren, wenn man beide Seiten wohl zu unterscheiden vermag. Andererseits bilden Mensch und Gesellschaft einen vermeintlich unhintergehbaren Nexus. Der Annahme, die Einheit eines spezifisch soziologischen Gegenstandes würde durch „die Gesellschaft“ verkörpert, wird daher häufig die vehement vertretene Ansicht entgegengestellt, dass die Soziologie sich als Wissenschaft von den zwischenmenschlichen Beziehungen konstituieren soll. Sozialität sei schließlich immer ein Ergebnis menschlichen Handelns und gesellschaftliche Ordnungen ließen sich nicht

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GESELLSCHAFTSTHEORIE ZWISCHEN AUTOLOGIE UND ONTOLOGIE

unabhängig von den Bedürfnissen und Ansprüchen der betreffenden Menschen beurteilen. Diese Auffassung lässt sich – so die hier vertretene These – als kurzschlüssige Gleichsetzung eines seinem Ursprunge nach religiösen bzw. moralischen Bezugsproblems mit der Frage der Begründung einer wissenschaftlichen Disziplin Soziologie zurückweisen. In der Tat zieht die Unterscheidung zwischen Mensch und Gesellschaft die Frage nach sich, inwieweit die Einheit von Mensch und Gesellschaft eine Identität „für sich“ ist. Mit anderen Worten: Unter welchen historischen und sozialen Bedingungen versteht sich eine Gesellschaft als humane Gesellschaft? Auf welche Weise bringt sie menschliche Bedürfnisse zum Ausdruck? Inwiefern ist sie in der Lage, individuellen Ansprüchen zu genügen? Und umgekehrt: Unter welchen Bedingungen identifizieren sich die Menschen mit ihrer Gesellschaft? Auf welche Weise verinnerlichen sie gesellschaftliche Werte? Inwiefern sind sie in der Lage, gesellschaftlichen Anforderungen zu genügen? Nur handelt es sich hierbei – sobald die Einheit von individueller Orientierung und sozial etablierter Erwartung zum transzendenten Bezugspunkt wird – um Perspektiven und Phänomene der Moral bzw. der Religion. Die damit berührte Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Religion und Moral spielt bereits soziologiegeschichtlich eine außerordentlich gewichtige Rolle.1 In Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Selbstbeschreibungen des kulturellen Selbstverständnisses entspringen an diesem speziellen Kernpunkt der Soziologie eine aus der Religionskritik erwachsende Religionssoziologie, die in ihren Wurzeln mit der Gesellschaftstheorie der soziologischen Klassiker eng verzahnt ist, sowie eine Soziologie der Moral, die sich aufgrund ihres moralexternen Beobachtungstandpunkts in nachdrücklicher Weise von der (dadurch freilich nicht widerlegten) Moralphilosophie zu emanzipieren vermag. Wenngleich Religionssoziologie und Moralforschung heute zwei separate Disziplinen sind, so verlieren die Begriffe Religion und Moral/Ethik in philosophischer Hinsicht doch nie jenen inneren Zusammenhang, in dem sie bei Comte, Spencer, Durkheim oder Weber auch gesellschaftstheoretisch gestanden hatten. Die folgenden Überlegungen dienen dazu, die Interpretation der Einheit von Individuum und Gesellschaft als spezifisch religiös-moralischem Problem eingehender zu erläutern und das Verwandtschaftsverhältnis von religiösen und moralischen Sinnzusammenhängen genauer zu bestimmten. Als Bezugsproblem religiösen Sinns wird dabei das Verhältnis von Realität und Ideal identifiziert, da sich hieraus – so die zentrale These – die 1

Sie betrifft nicht zuletzt auch die Frage nach den moralischen Verbindlichkeiten der Soziologie selbst.

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RELIGION UND MORAL

gängigen Religionsbegriffe und die etwas speziellere moralische Unterscheidung zwischen Sein und Sollen ableiten lassen.

Elementare Bestimmungen der Religion und ihre gesellschaftliche Wirkungskraft Wer heute die gesellschaftlichen Auswirkungen religiöser Praktiken und Glaubenssysteme einzuschätzen versucht, wird sich zunächst mit zwei Beobachtungen konfrontiert sehen: Einerseits erscheint Religion als konstitutiver Bestandteil kultureller Traditionen und Identitäten. Andererseits werden offensive Explikationen religiös motivierter Gestaltungsansprüche gemeinhin als Ausdruck einer fundamentalistischen Haltung aufgefasst, die für das öffentliche Leben als potentielle Gefahr empfunden wird. Die wertetradierenden und strukturkonservierenden Kräfte der Religion sollen sich – so die öffentliche Meinung – in erster Linie passiv, d.h. im Bereich des Privaten entfalten.2 Religion wirkt sich somit in gesellschaftlicher Hinsicht allenfalls indirekt aus. Sie fungiert entweder als „Modernisierungsbremse“ – manchmal gar als reaktionäre Bedrohung der modernen Gesellschaftsordnung –, oder aber sie stellt ein bereicherndes kulturelles Element dar, welches folglich in einer Reihe neben Folklore oder Vereinskultur verortet werden müsste. Die Privatisierung der Religion scheint eine Bedingung dafür zu sein, dass andere zentrale gesellschaftliche Teilbereiche wie Wirtschaft, Politik, Kunst oder Wissenschaft ihre inhärenten Rationalitätspotentiale hinreichend entfalten und damit der Weltgesellschaft den Stempel der Moderne aufdrücken können. Dem religiösen Glauben haftet dagegen der Geruch des Irrationalen an, dessen prickelnden Reiz wir uns für jene speziell dafür sozial und psychisch ausgegrenzten Orte von Kirche und innerseelischer Erbauung aufsparen. Öffentliche Wahrnehmung und religionssoziologischer Forschungsstand3 stimmen in diesen Punkten weitestgehend überein. Aus der analytischen Distanz des soziologischen Beobachters enthüllt sich jedoch zusätz-

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Religiöse Praktiken würden in diesem Sinne in der Moderne letztlich den Charakter einer unverbindlichen Angebotspalette von traditionellen Initiationsriten (Taufe, Konfirmation) über fernöstliche Meditationstechniken bis hin zu esoterisch-besinnlicher Literatur annehmen, die – ähnlich wie die Sportangebote eines Fitnessclubs – individuell und eigenverantwortlich genutzt werden können. Zum philosophischen Versuch, religiöse Kräfte für Zwecke der kommunikativen Vernunft nutzbar zu machen vgl. Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a.M. 2005. Habermas vermeintliche „Wende zur Religion“ wurde in der öffentlichen Diskussion nicht ohne Befremden wahrgenommen. Vgl. Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 1991. 141

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lich noch ein anderes Bild: Die tragenden Fundamente sämtlicher kulturellen Momente, die unsere Lebensführung strukturierenden Prinzipien, der „Geist“ von Kapitalismus und Bürokratie, Demokratie und Wissenschaft stehen unter dem historischen Einfluss religiöser Lebensformen und Glaubensinhalte. Religion schlägt also sehr wohl maßgeblich auf den gesellschaftlichen Alltag durch. Sie ist gesellschaftstheoretisch betrachtet mehr als nur ein separierter, unbedeutender Nischenbereich sozialen Handelns. Auch wenn es weitestgehend unbemerkt bleibt: Religiosität ist vielleicht aktueller denn je. Gewiss wechseln die Begriffe und Etiketten. Ist auch von Heiligem kaum mehr die Rede, so steht doch „Ganzheitlichkeit“ hoch im Kurs, sei es im Kontext alternativer Heilmethoden, im populärwissenschaftlichen Bereich oder in der Esoterik. Ist auch das Streben nach göttlicher, kosmischer oder geistiger Einheit nach Hegel philosophisch nicht mehr tragfähig, so spielt der Begriff der „Identität“ in der akademischen wie der populären Philosophie eine vehemente Vorreiterrolle.4 Reli4

Identitätsfragen sind freilich nicht ausschließlich religiöser Natur. Das Medium Sinn benötigt grundsätzlich Identitäten. Eine „Identität“ ist zunächst lediglich die (ideelle) Einheit desselben in verschiedenen Kontexten, Köpfen oder Kommunikationen. Für die sachlich, sozial und zeitlich stabile Zurechenbarkeit von Sinnreferenzen werden Dingidentitäten, WirIdentitäten und Ich-Identitäten benötigt. In sachlicher Hinsicht geht es dabei um die Identifikation von Objekten oder Gestalten: In unterschiedlichen Kontexten und Perspektiven kann es sich (bezüglich der Fremdreferenz einer Sinnoperation) um jeweils dasselbe Objekt oder die gleiche Gestalt handeln. Das Niveau der Identifizierbarkeit von Dingidentitäten wird konkret durch kommunikativ etablierte Formen (Kunst) und Begriffe (Wissenschaft) bestimmt. Soziale Identitäten betreffen dagegen die kollektive Identifikation mit einer kommunikativen Selbstbeschreibung. Konkrete Wir-Identitäten werden durch einen kollektiven Handlungszusammenhang, gemeinsame Interessen und verbindliche normative Erwartungen bestimmt und manifestieren sich kommunikativ vor allem im Medium der Politik. Personale Identitäten schließlich verbürgen die Individualität – d. h. die Einzigartigkeit und Integrität – einer Person in der diachronen Sukzession unterschiedlicher Situationen. Vordergründig scheint nur dieser letzte Punkt in einem engeren Sinne mit dem Thema der (privaten) Religion verbunden zu sein, denn die anderen Aspekte betreffen die evolutionär ausgegliederten Funktionsbereiche Kunst, Wissenschaft und Politik. Selbst personale Identitäten sind aber schon allein deshalb keine Privatsache, weil sie in einer individuellen Identifikation mit der sozialen und naturalen Umwelt gründen und daher auf ein Entgegenkommen dieser Umwelt angewiesen sind. Idee und Realität, Individuum und Gesellschaft bilden daher eine Einheit, die in ideeller und institutioneller Hinsicht einer sozialen Verwirklichung bedarf – unter anderem als Religion. Im Hinblick auf den Zusammenhang von Identität und Religion deutet sich somit bereits an, dass die gesellschaftliche Institution der Kirche gleichsam den blinden Fleck der grundsätzlichen Unterscheidung von materieller Dingwelt und ideeller Sinnwelt, sowie von Individuum und Gesellschaft besetzt. Mit anderen Worten: Sie konstruiert

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giosität in einem solchen weiten Sinne blüht allerorts und kennt mannigfaltige Formen und Surrogate. Rituale und Zeremonien prägen und tragen bspw. das institutionelle Gefüge selbst der vermeintlich durchrationalisiertesten Organisation.5 Institutionen bilden Mythen aus, deren identitätsstiftenden Kräfte und latenten Funktionen von all denen systematisch übersehen wird, welche die Realität des Mythos nicht als soziale Tatsache anerkennen und in der Religion deshalb immer nur eine Täuschung oder eine illusionäre Projektion sehen können. Gerade die rituellen Gehalte des gesellschaftlichen Alltags werden oftmals ignoriert oder verdrängt. Die Debatte über die Abschaffung der Wehrpflicht bspw. ignoriert in der Regel deren ursprünglichen Charakter als Initiationsritual. Dies erklärt auch das systematische Vorkommen von demütigenden und erniedrigenden Elementen, beginnend bereits bei der Musterung. Der Übergang zum Erwachsenenalter wird auf diese Weise durch einen selbstaufopfernden Dienst an der Gesellschaft symbolisch begleitet und so indirekt die autonome Entwicklung eines gesellschaftlichen Verantwortungsbewusstseins und somit einer individuellen Moralität befördert. Ob sich dazu heute ein Zivildienst nicht besser eignet, ist dann eine in der Konsequenz liegende Anschlussfrage. In jedem Falle lässt sich eine Tendenz in Richtung individuell wählbaren Formen beobachten, die von einheitlichen, verbindlichen Ritualen dieser Art wegführt. In diesem Sinne wäre das „Praktikum“ als ein funktionales Äquivalent zum Wehrdienst aufzufassen, welches seinen religiös-rituellen Ursprung perfekt zu tarnen versteht. Die öffentlich widerhallenden Klagerufe über fehlende Entlohnung und schlechte Behandlung der Praktikanten wären dann als Ausdruck eines eigentümlichen profanen Missverständnisses anzusehen, das aus einer Verkennung der quasireligiösen Gehalte von Sozialisationsprozessen resultiert. Ob und in welchem Kontext Erniedrigungen, Opfer und Orgien legitime Bestandteile religiöser Praktiken sein können, ist freilich nicht ohne weiteres zu entscheiden, zumal auf den ersten Blick absolut nicht zu erkennen ist, in welchem Zusammenhang Ganzheitsrhetoriken, esoterische Lehren und die rituellen Momente des Alltags zu den kirchlich institutionalisierten Weltreligionen stehen. Die Religionswissenschaft hat sich seit jeher an der Frage einer angemessenen Bestimmung ihres Gegenstandes abgearbeitet. Lässt sich überhaupt ein einheitlicher Begriff der Religion bilden, der die mannigfachen Dimensionen ihrer gesellschaftli-

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eine umfassende Weltidentität, die ein heiliges Ganzes von Körper, Geist und Gesellschaft heraufbeschwört. Vgl. John Meyer/Brian Rowan: Institutionalized Organizations. Formal Structure as Myth and Ceremony, in: American Journal of Sociology 83, 1977, S. 340-363. 143

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chen Wirkungskraft auf einen gemeinsamen soziologischen Nenner bringt? Oder ist vielmehr das, was wir Religion nennen, eine analytisch nicht gerechtfertigte In-Eins-Setzung unterschiedlicher, theoretisch wohl zu unterscheidender Teilaspekte sozialer Praxis? Das Problem der Einheit des Religiösen beinhaltet genau genommen zwei Teilfragen, die zu klären ein Interesse an der Aktualität der Religion verlangt: eine theoretische und eine praktische. Vordergründig scheint es ein Rätsel, wie religiöse Inhalte gesellschaftliche Verbindlichkeit erlangen können, wo doch verschiedene Religionen ganz unterschiedliche Antworten auf die Fragen des Lebens geben. Entweder dürfte deshalb nur eine Religion die wahre sein, oder die konkreten Inhalte religiöser Lehren wären – im Hinblick auf ihre soziologische Bedeutung – eventuell gar nicht relevant.6 Zum einen drängt sich daher das klassisch-philosophische Thema des „Wie sollen wir leben?“ auf, zu dem Religionen von jeher Kriterien und (Er-)Lösungen versprochen haben. Die Frage nach dem Sinn, den letzten Werten und der Moral resultiert direkt aus einem die Ausgestaltung der Lebensführung betreffenden Problem der Praxis. Kann die Religion uns auch unter den multikulturellen Bedingungen einer modernen Weltgesellschaft über die angemessene Ausgestaltung unseres Lebens noch etwas sagen oder ist ihr die Kompetenz für solche Themen schlichtweg abzusprechen? Zum anderen bleibt aber auch die Frage nach dem Wesen bzw. der Definition des Religiösen, die als Problem der Theorie sich soziologisch als Frage nach der Funktion darstellt. Wenn die Religion gesellschaftlich so bedeutsam ist, wie lässt sich – eingedenk der Mannigfaltigkeit religiöser Erscheinungen – ihr Verhältnis zur Gesellschaft systematisch begreifen? Nur der zweiten (theoretischen) Frage werden wir im Folgenden nachgehen. Theorie bleibt also Theorie und Praxis Praxis. Denn die Heterogenität der religiösen Phänomene und die Verwickeltheit ihrer moralischpraktischen Auswirkungen „legen [...] einen Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen nahe.“7 Daher wäre es die Aufgabe gesellschaftstheoretischer Analysen, zunächst ohne inhaltliche Parteinahme und Werturteilsbekenntnisse die Funktionen von Religion und Moral zu bestimmen. Die verschiedenen Möglichkeiten und funktionalen Äquivalente der Lösung bzw. Entfaltung des zugrundeliegenden konstitutiven Bezugsproblems sind dabei analytisch freizulegen, ohne dass dieses Thema damit im Allgemeinen bereits hinlänglich erschöpft wäre. Doch der Soziologe soll, wo-

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Man denke in diesem Zusammenhang an die klassische Unterscheidung von manifesten und latenten Funktionen im Sinne von Robert K. Merton: Social Theory and Social Structure, New York 1968. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 1131.

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rüber er nicht reden kann, schweigen und das Wort darüber an die Praxis zurückgeben.8 Das Phänomen Religion stellt die Soziologie angesichts seiner vielfältigen Erscheinungsformen vor das gravierende Problem einer definitorischen Erfassung. Bereits der ansonsten doch so auf terminologische Genauigkeit dringende Max Weber hatte die Aufforderung zurückgewiesen, einen analytisch exakten Begriff von Religion „a priori“ zu formulieren.9 Die faktisch auftretenden Glaubensinhalte unterscheiden sich in ihrer basalen Form derart, dass bspw. nicht alle Religionen einen Gottesbegriff kennen, religiöse Praktiken kaum auf bestimmte Kategorien von Handlungen einzugrenzen sind und auch die Reichweite der Geltung religiöser Symbole von individuellen, kontextgebundenen „Kräften“ bis hin zu allmächtigen, kollektiven Gottesinstanzen reicht. Jede begriffliche Bestimmung setzt sich daher unter anderem dem potentiellen Vorwurf der (ethnozentrischen) Willkür aus. Auch eine individuelle oder gesellschaftliche Funktion der Religion ist nicht unmittelbar klar zu erkennen. Eher lassen sich verschiedene Funktionen religiöser Glaubenssysteme und Praktiken beobachten, zumal jene historisch zu variieren scheinen. So sinnvoll es auch sein mag, eine selektive Einengung des empirischen Blicks durch begriffliche Vorentscheidungen zu vermeiden, bleibt aus gesellschaftstheoretischer Sicht andererseits eine zu diffuse, multidimensionale Definition des Religionsbegriffs äußerst unbefriedigend. Den klassischen Auseinandersetzungen über die gesellschaftliche Bedeutung der Religion lassen sich einige zentrale Aspekte entnehmen, die im Grundsatz sehr wohl einen gemeinsamen Kern erahnen lassen. Als übergreifendes Problem aller mehr oder weniger entwickelten religiösen Weltbilder wird im Allgemeinen die Frage der Theodizee gehandelt: Wie kann die religiös hypostasierte Perfektion des Göttlichen mit den weltlichen Erfahrungen von Unvollkommenheit, Leid und Ungerechtigkeit vereinbart werden?10 Die „ungleiche Verteilung der Glücksgüter unter den Menschen“11 ist dabei nur ein Aspekt, die Erfahrung existentieller Katastrophen biologischer und geologischer Natur – Seuchen und Erdbeben – ein anderer. Die solchen realen Krisenerscheinungen gegenüberstehenden Ideen der Perfektion und des Göttlichen werden häufig mit einem anthropologisch begründeten Bedürfnis des Men8

Inwieweit es dennoch gerechtfertigt erscheinen kann, wenn Soziologen als Berater in Praxis- und Lebensfragen gleichsam „profitabel missverstanden“ werden, wird uns an späterer Stelle noch beschäftigen. 9 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 245. 10 Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 314-319. 11 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1981, S. 280. 145

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schen nach Transzendierung in Verbindung gebracht, das sich auch identitätstheoretisch untermauern lässt.12 Als verschärfende Bedingung kommt die Beschränktheit menschlicher Existenz hinzu: Biographische Entscheidungen und Dynamiken sind in der Regel irreversibel.13 Die Endlichkeit des Lebens erzeugt somit in der individuellen Lebenspraxis einen unhintergehbaren Zwang zur Bewährung.14 In den verschiedenen soziologischen Versionen der Formulierung eines konstitutiven Bezugsproblems der Religion lässt sich durchaus ein gemeinsamer Zug erkennen, der auf die lebenspraktisch bedingte Einheit von Individuum und Gesellschaft zurückgeführt werden kann.15 Als Ausgangspunkt kann die Situiertheit des Menschen in einer primär als soziale Praxis verfassten Welt gelten.16 Prozesse individueller Sinngebung sind prinzipiell nur vor dem Hintergrund eines gemeinschaftlichen Praxiszusammenhangs und kollektiv geteilter Erfahrungen möglich! Der Grund hierfür liegt darin, dass sich die lebensweltlich verfügbaren Deutungen des Handelns und Erlebens vor allem im Medium einer gemeinsamen Sprache und Kultur niederschlagen, d.h. in der Form von Begriffen und Ritualen. Ein Begriff ist in diesem Sinne zunächst nichts anderes als ein sozial standardisiertes Deutungsmuster, ein Ritual dagegen eine sozial standardisierte Handlung.17 Aus Sicht des Individuums beinhaltet jeglicher sozialer Sinn aufgrund seines impliziten Verweises auf derartige „Standards“ ein entsprechendes quasireligiöses Moment der Trans12 Vgl. T. Luckmann, Die unsichtbare Religion; Jürgen Habermas: Individuierung durch Vergesellschaftung, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a.M. 1992, S. 187-242. 13 Die Weichenstellung erfolgt dabei in der Form einer negativen Selektion. Erfolg und Erlösung können niemals positiv garantiert werden, dagegen werden durch jede lebenspraktische Entscheidung systematisch ganze Parallelwelten vom Gleis der Möglichkeitsräume des zukünftigen Lebens abgeschnitten. 14 Vgl. Ulrich Oevermann: Strukturmodell von Religiosität, in: Karl Gabriel (Hg.): Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung. Biographie und Gruppe als Bezugspunkte moderner Religiosität, Gütersloh 1996, S. 2940. 15 Vgl. etwa Georg Simmel: Die Religion, Frankfurt a.M. 1906; Volkhard Krech: Georg Simmels Religionstheorie, Tübingen 1998. 16 So heißt es bei Weber: „Religiös oder magisch motiviertes Handeln ist, in seinem urwüchsigen Bestande, diesseitig ausgerichtet.“ M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 245. 17 „Die erste und grundlegende Einwirkung ‚religiöser‘ Vorstellungskreise auf die Lebensführung und die Wirtschaft ist also generell stereotypierend.“ stellt bereits M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 249 fest. Den genauen strukturellen Zusammenhang zwischen Religion im Besonderen und sozialem Sinn im Allgemeinen gilt es freilich im Folgenden erst noch genauer zu entschlüsseln; dies wäre ja gerade die gesuchte Antwort auf die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der Religion. 146

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zendenz. Anders gesagt: Die Menschen versichern sich ihrer Identität innerhalb der Welt im Rahmen einer kollektiv geteilten Lebenswelt, indem sie sich im Kontext gemeinsamer Handlungs- und Deutungsmuster als Individuum „verwirklichen“. Um die Welt und somit gleichzeitig ihre eigenen sinnhaften Operationen zu interpretieren, müssen sie allerdings gewisse Idealvorstellungen zugrundelegen, da die Komplexität der Welt allein durch Idealisierungen in sinnförmige Strukturen übersetzt werden kann. Idealisierung ist Bedingung der Möglichkeit von Sinn überhaupt. Sie ist wörtlich genommen nichts anderes als Projektion in das Medium des Geistes.18 Der Mensch strickt sich sein Weltbild, das zugleich seine soziale Welt ist, gleichsam aus geistigem Garn zusammen. Dieses hüllt die individuellen Geschicke in eine kollektiv verbürgte Identität und gewährt auf der anderen Seite die evolutionäre Errungenschaft einer gemeinsamen Kultur, welche über die gemeinschaftlich ritualisierte Praxis eine auch emotional verankerte Bindung an das Kollektiv erzeugt. Der gesamte Affekthaushalt, bestehend aus basalen Urängsten und fundamentalen Lebenskräften, wird dabei bereits in seiner Genese eng an eine als sakrale Überinstanz erfahrene gesellschaftliche Totalität gekoppelt. Freilich ergeben sich in der Folge permanent Probleme der Divergenz zwischen Ideal und Realität, die sich als Erfahrungen von Leid, Ungerechtigkeit, Tod oder Naturkatastrophen äußern. Die kognitiven und normativen Erwartungen werden von den Idealen her konzipiert. Sie geraten somit zwangsläufig früher oder später mit der Realität in Konflikt, denn der aus kognitiv-pragmatischen Gründen erforderliche Bezug auf Idealisierungen verführt zur Verwechslung von Ideal und Wirklichkeit. Wer nur eine konstruierte Wirklichkeit zur Verfügung hat, kann diese nicht mehr von der Realität unterscheiden, sondern allenfalls konstruktionsintern weitere Unterscheidungen einführen. In dem Maße, wie dieses Interpretationsgeschehen die Form kulturell etablierter Standards annimmt, wird aus dem medialen Substrat einer freischwebenden Urreligiosität individueller Welterfahrung sozialer Sinn – das Religiöse nimmt eine gesellschaftliche Gestalt an. 18 Zur „systematischen Idealisierung“ als „ein Wesenszug der Religionen“ vgl. auch Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981, S. 564ff. Selbst in der Wissenschaft - wenn hier auch in besonderem Maße kontrolliert - ist man zur Idealisierung gezwungen. Nicht nur sozialwissenschaftlich in der Bildung von Idealtypen (Weber), auch in den Prozessen mathematisch-naturwissenschaftlicher Modellbildung wird die Operation der Idealisierung regelrecht zum Prinzip erhoben. Schon der geometrische Begriff der Geraden fußt ja geradezu auf kontrafaktischen Prämissen, denn in der Natur selbst gibt es keine einzige wirklich gerade Linie. 147

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Die konkreten Religionen reagieren auf Probleme des Auseinanderklaffens von Sinn (=Erwartung) und Praxis (=Enttäuschung) typischerweise mit einem entsprechenden Auseinanderziehen von Realität und Ideal, bspw. in der Form von Diesseits und Jenseits. „Jenseits“ bedeutet zunächst nur eine hinreichende räumliche oder zeitliche Entfernung: Die ideale Welt wird hinter die Berge (bzw. auf den Gipfel des Olymp) oder auf die andere Seite des Flusses (jenseits des Jordan) projiziert und so vor der Korrumpierung durch die diesseitigen Missstände bewahrt.19 Schöpfungsmythen bzw. in Aussicht gestellte zukünftige Erlösungshoffnungen stellen eine zeitliche Variante dieser Figur dar: Ursprünglich herrschten paradiesische Zustände, dann aber kam das Böse in die Welt; oder: Früher oder später wird der Erlöser eintreffen bzw.: Das Jüngste Gericht steht kurz bevor. Die Vorstellung schließlich, nach dem Tode in den „Himmel“ zu kommen, stellt eine Kombination von räumlicher und zeitlicher Separierung dar. Wenn solche Unterscheidungen einmal semantisch etabliert sind, können – und müssen – die Möglichkeiten des Zugangs zur anderen Seite weiter spezifiziert werden. Die Unterscheidung ideal/real manifestiert sich dann als operative Praxis. Das Verhältnis von Ideal und Realität wird dabei nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch bestimmt. Für die konkrete Lebensführung hat dies bspw. zur Konsequenz, dass die Erlösung vom eigenen Handeln abhängig gemacht werden kann.20 Das „Ideal“ lässt sich ja auch als moralischer Imperativ interpretieren, welcher sagt, wie wir leben sollen. Die Realität kann in Einzelfällen davon abweichen, aber Delinquenz wird – so die Vorstellung – durch Ausschluss aus dem „Himmelreich“ des Ideals bezahlt. In manchen kulturellen Versionen wird die Manipulation des Glücks durch Magie zugestanden. In anderen Fällen gibt es strenge Reglementierungsvorschriften betreffs der auszuführenden rituellen Praktiken oder der zu erbringenden sozialen Leistungen. Sünde bleibt also möglich, ja sie wird als Erklärung des Erleidens von Schicksalsschlägen in begrifflicher Hinsicht sogar erst systematisch etabliert. Da die behutsam, aber beharrlich aufgeworfenen theoretischen Fragen und praktischen Probleme der Gemeinde, mit welchen die Priester als Repräsentanten der religiösen Deutungsmacht sich konfrontiert sehen, nicht verebben, kann es nicht verwundern, wenn die theologischen Interpretationen religionsgeschichtlich gesehen immer ausgefeilter werden. Dabei lassen sich im Anschluss an Max Weber religionssoziolo-

19 Ähnlich Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 77f. 20 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 321-348. 148

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gisch bestimmte, typologisch rekonstruierbare Weichenstellungen beobachten.21 Eine von zwei zentralen Entscheidungen ist, ob das Jenseits – also das Ideale – eher als menschenähnliche Willensmacht, mithin also als eine Person „Gott“ gedacht wird, oder ob das Göttliche als immanentes, unpersönliches Prinzip konzipiert ist, das dann gleichsam in oder hinter allen materiellen Dingen steht. Im einen Fall ist die Welt eine Schöpfung Gottes, im anderen Fall gibt es einen ganzheitlichen Kosmos und „das Weltliche“ setzt sich aus bloßen Erscheinungen zusammen, die auch trügerisch sein können. Im ersten Fall versteht der Mensch sich praktisch als Werkzeug Gottes, im zweiten als Gefäß des Göttlichen. Die zweite Unterscheidung betrifft das Verhältnis zur Welt. Prinzipiell wäre zunächst davon auszugehen, dass im Rahmen religiöser Glaubensvorstellungen das Jenseits das Gute und Erstrebenswerte – weil Ideale – ist und dass die reale Welt daher eher abgelehnt oder herabgewürdigt wird. Es gibt nun gleichwohl Religionen, die das Diesseits bejahen, und welche, die es verneinen, wobei sich eine weltbejahende Einstellung ausschließlich im Kontext eines kosmozentrischen Weltbildes findet. Die religiöse Grundhaltung zur Welt hat indes allgemeinere gesellschaftliche Konsequenzen, die insbesondere die (berufliche) Einstellung zur ökonomischen Tätigkeit und zu politischen Ämtern betreffen. Entscheidend ist, dass eigentümlicherweise in den Religionen, welche für den Okzident historisch prägend sind, als einziges eine weltverneinende Haltung mit einer aktiven Einstellung einhergeht. Diese okzidentelle Grundform des religiösen Weltbezugs kommt dem von Weber speziell mit der protestantischen Ethik in Zusammenhang gebrachten „Geist des Kapitalismus“ bereits entgegen, denn eine weltablehnende und gleichwohl aktive Einstellung zur Welt zieht tendenziell eine asketische, dem Genuss abgeneigte und gleichzeitig produktivistische Wirtschaftsethik nach sich.22 Eigene Bedürfnisse werden verleugnet und die fleißige Arbeit letztlich selbst zum idealen Vorbild stilisiert. Die Berufsarbeit wird somit als „Gottesdienst“ betrieben.23 21 Vgl. zum Folgenden die Weberauslegung von J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 269-298. 22 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 378. 23 Gott selbst kann dann freilich herausgekürzt werden, war er doch bloß die „nahrhafte Null“, eine imaginäre Einheit, die sich am Ende herausrechnet, eine Leiter, die nach dem Erklimmen fallengelassen werden kann, eine notwendige Prämisse, die erst am Ende als vorher so nicht begründbar enttarnt wird. Am Ende ist Gott also tot. Säkularisierung ist dann das Ergebnis einer religiösen Dialektik mit dem Effekt, den Glauben an Realität zu untermauern, indem nun alles andere als Rückkehr zum Aberglauben erscheinen muss. Die Identität der Welt ist dann als negative Religion verbürgt: Es gibt keine Geister. 149

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Solche konkreten Varianten religiöser Weltdeutung können ihre historische Plausibilität verlieren, das Bezugsproblem aber bleibt und differenziert sich gleichzeitig weiter aus. Die Unterscheidung von Realität und Ideal erscheint dabei unter kognitiven Aspekten als die jeglichen religiösen Sinn codierende Leitunterscheidung von Immanenz und Transzendenz24: Hinter den realen Dingen (Immanenz) stehen gleichsam die Ideale (Transzendenz). Praktisch nimmt sie dagegen die Form profan/heilig an. Die Dinge, Handlungsabläufe und Orte des Alltags sind profaner Natur. Dagegen abgrenzt werden die sakralen Zonen, Riten und Fetische, denen ein heiliger Charakter zugeschrieben wird. Handelt es sich bei der Unterscheidung transzendent/immanent somit um eine analytische Codierung, so impliziert die Differenz von Heiligem und Profanem auch eine praktische Scheidung. Da das Heilige in der Form von Sakramenten real wird, stellt sie logisch gesehen eine Form des re-entry dar: Die Unterscheidung Immanenz/Transzendenz wird in die Seite der Immanenz hineinkopiert und erscheint dort als Unterscheidung von heiligen und profanen Dingen. Die Transzendenz wird dadurch immanent manifestiert und durch ausgefeilte Inszenierungstechniken (vermeintlich) sichtbar gemacht. Im Prunk der Kirchen meint man dann den Himmel zu sehen, obgleich es sich nüchtern betrachtet nur um aufwendige Formen kunstvoller Wandmalerei handelt und der Himmel in Wahrheit bloß ein Dach ist. Das Ideale erscheint mithin in der Realität nur als außeralltägliches Aufblitzen, als ein kurzer, bezaubernder Moment der Ekstase (lies: ex-stase!). Anhand des sinnlogischen Problems der Einheit von Realität und Ideal lässt sich somit bereits provisorisch jene konstitutive Leitunterscheidung bestimmen, welche religiöse Sinnzusammenhänge von anderen Sinnsphären wie Wissenschaft oder Politik unterscheidet, durch welche aber auch systemübergreifende Vergleichbarkeiten sichtbar werden. Zu zeigen bliebe nun, inwieweit die Unterscheidung immanent/transzendent es erlaubt, einen Bereich des Religiösen aus der umfassenden gesellschaftlichen Praxis auszugrenzen, ohne dass der gesellschaftliche Alltag damit seiner religiösen Sinndimension „beraubt“ würde. Als paradigmatisches Vorbild eines gesellschaftstheoretisch motivierten Ansatzes, der diesem Problem nachzugehen versucht, kann die durkheimsche Religionssoziologie gelten, auf welche die folgenden Überlegungen sich daher – unter Bewahrung einer angemessenen kritischen Distanz – in besonderem Maße stützen werden. Die Durkheimschule definiert Religion anhand dreier formaler Merkmale:

24 N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S. 77-92, 108-112. 150

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die Orientierung von Glaubensvorstellungen anhand der Unterscheidung heilig/profan, durch welche die Welt in heilige Dinge einerseits, profane Dinge andererseits unterteilt wird; • die Kopplung dieser Glaubensvorstellungen an eine rituelle Praxis; • die Einbettung der Glaubensvorstellungen und Rituale in eine als Kirche zu bezeichnende Kollektivität. Damit gelangt Durkheim zu folgender Definition: „Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.“25

Der durch die Religion erzeugte Gegensatz von Heiligem und Profanen wird als konstitutive Unterscheidung der Religion schlechthin identifiziert. Die Welt zerfällt unter ihm in sakrale und weltliche Momente. Für die gesellschaftstheoretische Suche nach der Funktion der Religion ist indes das Zusammenspiel dieser beiden Momente von zentraler Bedeutung. Aus der durkheimschen Definition ergibt sich dabei vor allem die Frage, auf welche Weise das Heiligtum, das Ritual und der Mythos auf den gesellschaftlichen Alltag und die individuelle Lebensführung durchschlagen. Angesichts moderner Säkularisierungsphänomene wird man die Notwendigkeit des Sakralen für die Aufrechterhaltung der profanen Lebenszusammenhänge (methodisch) bezweifeln müssen. Mit anderen Worten: Was geht die Welt es an, wenn hinter Klostermauern Mönche meditieren? Was außer Müll und Müdigkeit bleibt nach der ekstatischen Verzückung zurück? Wozu also dient der Gesellschaft das Sakrale, und ist es nicht gar verzichtbar?

Die Funktion der Religion Um den Studien der Durkheimschule gesellschaftstheoretische Einsichten in das Verhältnis der Religion im Besonderen zur Gesellschaft im Allgemeinen abzugewinnen, wird es hilfreich sein, sich zunächst die grundsätzliche Denkrichtung der durkheimschen Überlegungen vor Augen zu halten. Die Analyse der elementaren Formen des religiösen Lebens soll ja Aufschlüsse über Religion als solche sowie Gesellschaft überhaupt ermöglichen.26 Die beabsichtigten Untersuchungen beinhalten

25 E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 75. 26 Ebd., S. 17, 557. 151

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damit von vornherein implizite Annahmen über die Generalisierungsfähigkeit der gewonnenen Erkenntnisse. Die das durkheimsche Gesamtwerk übergreifende Fragestellung betrifft den Zusammenhang von Gesellschaft und Individuum unter besonderer Berücksichtigung der Moral als einer zwischen beiden Seiten vermittelnden Instanz. Diese durkheimsche Grundkonstellation ist freilich erst eine Folge der vorhergehenden Hypostasierung von Gesellschaft als überindividualer Entität. Der von Durkheim unterstellte Dingcharakter der sozialen Tatsachen lässt die Gesellschaft als eine außerhalb des Menschen stehende Kraft erscheinen, welche die Frage nach dem Zusammenhang von Mensch und Gesellschaft überhaupt erst in aller Schärfe aufwirft. Im Zuge des Versuchs, den Wirkungsmechanismen gesellschaftlicher Kräfte soziologisch nachzugehen, identifiziert Durkheim die Quellen der eigentümlich zwanglosen Kraft moralischer Zwänge in den sakralen Wurzeln moralischer Autorität. Im religionssoziologisch gewendeten Spätwerk sollen daher Genese, Reproduktion und handlungspraktische Effektivität des kollektiven Bewusstseins anhand elementarer religiöser Kulturen genauer studiert und entschlüsselt werden. Das gesellschaftstheoretische Hintergrundmotiv Durkheims lässt sich prima facie auf zweierlei Weise auslegen. In einer schwächeren Lesart fungiert Religion lediglich als Indikator gesellschaftlicher Strukturmechanismen. Ein entsprechendes Argument hatte Durkheim in seiner Studie über soziale Arbeitsteilung hinsichtlich des Rechts vertreten. Die historisch spezifischen Rechtsformen des repressiven bzw. restitutiven Strafrechts sollten explizit als Moralindikator Verwendung finden.27 Die moralgenerierende Wirkung des Rechtssystems selbst war dagegen eher in den Hintergrund gerückt, da Durkheim sich für den Zusammenhang von Arbeitsteilung und moralischer Integration interessiert hatte und keine genuin rechtssoziologische Fragestellung verfolgte. Im Hinblick auf die Rolle der Religion vertritt Durkheim nun jedoch eine deutlich stärkere Position, die den Anspruch erhebt, über eine indikative Interpretation gesellschaftlicher Phänomene hinauszugehen und auch deren funktionale Bedeutung auszuloten. Die Religion wäre dementsprechend auch als Motor moralischer Zwänge zu analysieren, denn nur so kann die religionssoziologische Analyse auch tatsächlich zur Erklärung gesellschaftlicher Wirkungskräfte beitragen. Hierbei lässt der durkheimsche Ansatz wiederum zwei Interpretationslinien zu. Entsprechend der Unterscheidung von profanen und heiligen Phasen bzw. Orten des sozialen Lebens kann entweder der religionsinterne Effekt der Konstitution einer gesellschaftlichen Totalität oder aber die externe 27 Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt a.M. 1992, S. 111. 152

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Auswirkung religiöser Praktiken und Glaubensvorstellungen auf das profane Leben in den Mittelpunkt des Interesses gerückt werden. Eine weniger kritische Lektüre suggeriert zunächst eine religionssoziologisch offensive Lösung, bei der Religions- und Gesellschaftsbegriff gewissermaßen konvergieren. In diesem Fall hätte man das profane Alltagsleben als bloß gesellschaftlich vermitteltes Nebeneinander individueller Handlungszusammenhänge zu begreifen, während die Gesellschaft selbst erst in der sakralen Sphäre kollektiver Rituale unmittelbare Präsenz gewinnt. Während das Heilige somit als die primäre Zone einer zu sich selbst kommenden gesellschaftlichen Öffentlichkeit aufzufassen wäre, würde das Profane lediglich einen gesellschaftlich sekundären Bereich des privaten Agierens darstellen. Religion könnte dann direkt als lebenspraktische Inkarnation von gesellschaftlicher Totalität begriffen werden, sodass, wenn die „Idee der Gesellschaft die Seele der Religion ist“28, die Gesellschaft sich im Gegenzug für die Individuen in das Gewand der Religion kleidete. Gott, Gesellschaft und Totalität wären dann Synonyme der religiös gestifteten heiligen Einheit der Welt. Nach dieser Lesart erübrigt sich die Frage nach der gesellschaftlichen Auswirkung der Religion, da ja das Sakrale nichts anderes als das eigentliche Leben ist. Es definiert die Verfassung einer gesellschaftlichen Identität, welche in göttlichem Anschein die intersubjektive Kollektivität sozialer Lebenspraxis überhaupt erst generiert. Der profane Alltag verkörpert dagegen nurmehr den praktischen Vollzug. Er reproduziert allein deren materielle Basis und dient damit gleichsam dem zeitlich-räumlichen Ausfüllen dieser sozialen Schöpfung. Im Hinblick auf den Doppelcharakter des Gesellschaftlichen als ideelles und materielles „Ding“ stößt diese Interpretationslinie allerdings auf konzeptionelle Schwierigkeiten. Gesellschaft ist mehr als eine religiös gestiftete ideelle Einheit. Die sozialen Beziehungen und Handlungen tragen ja im Bereich des Profanen typischerweise gerade nicht den Stempel der Totalität auf der Stirn, obgleich sie im Hinblick auf ihre aggregierten Effekte gleichwohl einen konstitutiven Beitrag zur Strukturierung des gesellschaftlichen Systems leisten. Allein angesichts der außerordentlichen Bedeutung ökonomischer und politischer Entwicklungen für die Gesamtverfassung einer Gesellschaft erweist sich die Strategie einer Reduktion von Gesellschaft auf Religion ganz offensichtlich als unhaltbar. Aufgrund der Verschränkung von gesellschaftstheoretischen und religionssoziologischen Fragen entsteht bei Durkheim überdies der Eindruck einer zirkulären Erklärungsstrategie.29 Der Wirkung gesellschaftlicher Kräfte soll durch Rekurs auf ihre sakralen Wurzeln nachgegangen 28 E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 561. 29 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 81. 153

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werden. Die Wirksamkeit religiöser Kräfte wiederum wird dadurch erklärt, dass hinter diesen nichts anderes als die Gesellschaft stünde. Mit dem Zusammenfallen von Religion und Gesellschaft droht auch die logische Struktur der Argumentation zu kollabieren. Die andere Seite der Religion – das Profane – muss also nichtsdestotrotz mit in die Erklärung einbezogen werden. Bei genauerer Betrachtung erweist sich somit die soziale Ausgestaltung der profanen Lebenszusammenhänge als das primäre soziologische Phänomen. Es ist wie in der biblischen Schöpfungsgeschichte: Werktags passiert das Entscheidende und sonntags wird nur geruht. Die spezifisch religiösen Glaubensvorstellungen und Rituale interessieren dann nur insofern, als sie auch auf die außerreligiösen Bereiche abfärben. Doch wie werden religiöse Glaubensinhalte zu sozialem Wissen und Rituale zu geltenden Normen? Solange es nur um die Systematisierung von göttlichen Stammbäumen und um Vorschriften zur Ausgestaltung diverser Zeremonien geht, gewinnen die religiösen Fakten keinen gesellschaftstheoretischen „Informationswert“, da die religiösen Unterschiede gesellschaftlich keinen Unterschied machen. Ob Brot und Wein oder statt dessen Malzbier und Bananen herhalten müssen30, spielt insofern erst eine Rolle, wenn dies weitere Auswirkungen auf das Denken und Handeln der Menschen nach sich zieht und Folgen zeitigt, die auf den Lebensstil, die ökonomische und politische Verfassung der entsprechenden Kultur Einfluss haben.31 Die grundlegende religionssoziologische Unterscheidung Durkheims zwischen religiösen Glaubensinhalten und ritueller Praxis korreliert mit der gesellschaftstheoretischen Unterscheidung zwischen dem kollektiv geteilten Begriffssystem, mit dessen Hilfe die Menschen ihre soziale und naturale Welt interpretieren, einerseits und den moralischen Handlungsimpulsen, welche die gelingende normative Koordination des praktischen Zusammenlebens verbürgen sollen, andererseits.32 Insofern verbindet Durkheim insgeheim den ursprünglich moraltheoretisch konzipierten Aspekt der Frage, welches die aus gesellschaftlichen Ordnungsmustern (Arbeitsteilung) resultierenden normativen Anforderungen sei-

30 N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, S. 118. 31 Ein solcher Fall liegt bspw. vor, wenn religiös geschürte Erlösungshoffnungen wie im Kontext der Calvinistischen Ethik eine entsprechende Wirtschaftsethik hervorbringen, die dann eine eigenständige ökonomische Dynamik in Gang setzt. Zur Auswirkung religiöser Ethiken auf die Lebensführung vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 348-367. Die Arbeiten Webers haben gegenüber der Durkheims allerdings den Nachteil, dass sie für die Zwecke einer funktionalen Bestimmung der Religion zu deskriptiv gehalten sind. 32 Vgl. E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 61. 154

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en, mit einem erkenntnistheoretischen – und in seiner Ausarbeitung dann: wissenssoziologischen – Aspekt. Durkheim bringt zu diesem Zweck einen sehr weiten Moralbegriff in Anschlag, der letztlich auf die Frage nach der individuellen Implementierung des Kollektivbewusstseins zugeschnitten sein soll. Es wird zunächst alles als „Moral“ begriffen, was der Genese eines kollektiv übergreifenden und gesellschaftlich integrierenden „consensus“ im Sinne Comtes entsprechen könnte. Daher rücken im weiteren neben der Frage nach der Etablierung und den Geltungsbedingungen kollektiv verbindlicher Normen auch die Frage der Genese kollektiv geteilter Deutungsmuster und Begriffe sowie der über rituell erzeugte kollektive Rauschzustände (Efferveszenz) vermittelte Prozess einer nachhaltigen emotionalen Identifikation mit der Kollektivsymbolik in den Vordergrund. Zu der vorgängigen Unterscheidung zwischen Denken und Handeln tritt damit zusätzlich eine affektive Dimension hinzu. Das Ritual lässt sich nunmehr nicht nur als Urform einer sozialen Norm, sondern auch als Institution der Genese von moralischem Bewusstsein im Allgemeinen begreifen. Das Individuum lernt unabhängig von den konkreten Inhalten ritueller Handlungsvorschriften auch, der moralischen Autorität der Gesellschaft in einem abstrakten Sinne Respekt zu zollen. Die gewonnene emotionale Bindung (an das Totem und damit an den Klan) kann dann im Nachhinein ja prinzipiell auch mit modifizierten profanen Gehalten gefüllt werden. Mit Durkheim lassen sich für elementare Gesellschaftsformationen somit drei funktionale Dimensionen der Religion herausarbeiten: normative Handlungskoordination (a), kognitive Weltdeutung (b) und affektive Bindung (c). Zu a) Religiöse Vorschriften negativer und positiver Art bestimmen in detaillierter Weise den Umgang mit den als heilig verehrten Dingen. Nicht nur in jenen Phasen des sozialen Lebens, die durch kollektive Zeremonien und Rituale geprägt sind, muss der Kontakt mit den sakralen Elementen präzise geregelt werden. Auch bestimmte profane Vergehen wie Diebstahl, Mord oder der Konsum verbotener Speisen – bspw. aus dem Fleisch der Totemtiere – verletzen die religiöse Ordnung und müssen daher als Sakrileg geahndet werden. Religiöse Tabus dienen somit indirekt auch der Reglementierung des sozialen Zusammenlebens und können als Prototyp einer sozialen Norm angesehen werden. Normverletzungen werden daher ursprünglich typischerweise wie Tabubrüche behandelt und rituell gesühnt.33 Schadensersatzansprüche, Bußgelder oder Entschädigungen sind dann Ausdruck eines restitutiven Rechtsver33 Durkheim spricht dementsprechend bereits in seiner Arbeitsteilungsstudie der Sühne einen „quasireligiösen“ Charakter zu. E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, S. 7, 150. 155

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ständnisses und setzen eine Jahrhunderte währende Evolution des Rechtssystems voraus. Zunächst jedoch begründet sich die Achtung der Normen, wie Durkheim gezeigt hat, aus dem Respekt vor dem Heiligen, hinter dem letztlich die überindividuale Kraft der Gesellschaft steht. Die moralische Autorität resultiert faktisch weniger aus bilateralen Prozessen intersubjektiver Anerkennung oder dem wechselseitigen Respekt der Menschen untereinander. Vielmehr erwächst sie aus der Achtung vor jenen höheren Kräften, welche von den in religiösen Kontexten erfahrenen sozialen Zusammenhängen ausgehen. Die Geltung einer Norm setzt also immer schon ein Moment der Transzendierung zwischenmenschlicher Sozialbeziehungen zu einer gesellschaftlichen Totalität voraus. Moral ist somit ein genuin religiöses Phänomen.34 Zu b) Religiöse Glaubensvorstellungen bestimmen durchweg die kollektiv verbindlichen Interpretationen der Erscheinungsformen des Heiligen. Dies betrifft auch die Auslegung der Unterscheidung heilig/profan selbst. Die religiös vorgegebenen Deutungen kondensieren daher in kulturell tief verankerten Weltbildern, die in der Form von Mythen und heiligen Schriften über Generationen hinweg sorgfältig tradiert werden. Allein für den Prozess der Sozialisation ist die damit verbundene, im Wesentlichen narrative Vermittlung von kulturellen Schablonen und kognitiven Landkarten unentbehrlich. Die Welt erhellt sich für das Kind allein in dem Maße, in welchem sie wieder und wieder von den Erwachsenen als Geschichte erzählt wird. Aus dem verfügbaren Reservoir an mythisch-narrativ etablierten Deutungsschemata werden dann jene Begriffe geschmiedet, die zur kognitiven Erfassung der gesellschaftlichen Umwelt benötigt werden. Gottesvorstellungen und Weltbild erweisen sich daher in der Regel als weitestgehend kongruent. Wie Durkheim bezeugt hat, gehen selbst solche grundlegenden logischen Kategorien wie Kausalität und Klasse, sowie die physikalischen Begriffe des Raumes, der Zeit und der Kraft auf in religiösen Kontexten gewonnene Erfahrungen einer gemeinsamen sozialen Praxis zurück.35 Als Prototyp der profanisierenden Transformation religiöser Glaubensinhalte in soziales Wissen kann dabei der Begriff der Kraft gelten. Die Vorstellung übernatürlicher Kräfte erscheint aus Durkheims Sicht keineswegs als unzulässige Analogie zum physikalischen Kraftbegriff. Vielmehr wird letzterer überhaupt erst aus einer transzendierenden Übertragung des mystischen Erlebens kollektiver Kräfte geboren. Auch die kognitive Etablierung eines kollektiv geteilten Systems an Begriffen und Deu-

34 Vgl. E. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 104. 35 Vgl. E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 202, 205, 282, 496, 588. 156

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tungsmustern in der Form einer gemeinsamen Sprache ist somit seinem Ursprung nach eine religiös bedingte evolutionäre Errungenschaft. Zu c) Religiöse Glaubensinhalte und rituelle Praktiken sind in der Regel für die Beteiligten mit starken religiösen Gefühlen verbunden. Die generierte Ehrfurcht vor dem Heiligen kann als eigenständige Dimension religiöser Sinngebung verstanden werden, da sie das Individuum auch innerlich an das Kollektiv bindet und eine emotionale Identifikation mit den gesellschaftlichen Symbolen bewirkt. Die etablierten affektiven Konditionierungen prägen sich als tief verwurzelte Ängste und Impulse in das sozialisatorische Fundament des Individuums ein und übersetzen sich für den profanen Alltag in Gefühle des Ekels, der Scham oder des Stolzes. Sie sind daher an der für den Prozess der Zivilisation so zentralen Domestizierung der animalischen Triebe entscheidend beteiligt. Die über religiöse Rituale eingeübte Ehrfurcht kann dabei unabhängig von den konkreten Inhalten des entsprechenden Rituals sozialisatorische Effekte zeitigen, indem das erlernte Gefühl, die übernommene Verantwortung oder das gewonnene logische Urteilsvermögen dann als abstrakte Kompetenz auf Profan-Weltliches übertragen wird. Symbole und Zeremonien dienen dabei vor allem als interne Kunstmittel zur Erzeugung affektiver Bindungen, sodass hernach von den verwendeten konkreten Formen abgesehen werden kann36: In affektiver Hinsicht macht nicht das Objekt der Verehrung, sondern das verehrende Subjekt den Unterschied. Bezogen auf das oben identifizierte konstitutive Bezugsproblem der Religion ergeben sich dementsprechend für elementare Gesellschaftsformen drei Dimensionen der gesellschaftlichen Direktion des Verhältnisses von Ideal und Realität.37 • In normativer Hinsicht geht es um den Zusammenhang von Sein und Sollen. Ideale werden demnach ethisch-moralisch als normative Verhaltenserwartungen interpretiert, Abweichungen erscheinen als Sünde. Gesellschaftliche Ordnung stellt sich in dieser Dimension als Problem der normativen Handlungskoordination dar: Wie gelingt es, einen kollektiven Willen zu generieren und diesen gleichzeitig als Gesamtheit individueller Handlungsbezüge auch faktisch als soziale Praxis zu realisieren?

36 Die Hegelsche Ästhetik bringt diesen Effekt im Begriff der „symbolischen Kunst“ zum Ausdruck. 37 In freier Anlehnung Heidegger könnte man hier entsprechend den drei Bedeutungen von lat. ponere (setzen, stellen, legen) von einer positionalen Trias aus Gesetz, Gestell und Gelage sprechen. In der positiven (!) Religion Comtes entspricht dem die Dreiheit aus Lebensordnung, Lehre und Verehrung. 157

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In der kognitiven Dimension steht dagegen der Zusammenhang von Phänomen und Interpretation im Vordergrund. Die kategorialbegrifflichen Idealisierungen kommen dabei in der Form kognitiver Ereigniserwartungen zum Ausdruck. Gegenargumente gelten als Häresie. Gesellschaft erscheint unter diesem epistemischen Aspekt als eine Frage der kollektiv geteilten Weltdeutung: Wie konstituiert sich ein kulturelles Gedächtnis (sprich: „Kollektivbewusstsein“) und auf welche Weise gewinnt dieses Einfluss auf die Pluralität individueller Bewusstseinsinhalte? • Der affektive Aspekt schließlich betrifft die Differenz von ernüchternder Vereinzelung und kollektiver Efferveszenz. Da das individuelle Weltverhältnis eines Menschen idealiter in einer kollektivlokal verbürgten Identität besteht, wird eine emotionale Identifikation mit der sozialen und natürlichen Umwelt erwartet. Wer sichtlich unberührt bleibt, kann entsprechend ergreifenden Maßnahmen der Buße ausgesetzt werden. Das Gesellschaftliche konstituiert sich in emotiver Hinsicht über die affektive Verankerung einer uneingeschränkten Identifikation mit dem Gemeinwesen. Die Aufgabe religiös eingefärbter Kulturpraktiken ist es dann, das entsprechende Kollektivgefühl in der außeralltäglichen Form kollektiver Rauschzustände für den Einzelnen erfahrbar zu machen und im Anschluss daran in dessen alltäglichem Gefühlshaushalt zu domestizieren. Wie aus der Darstellung unmittelbar hervorgeht, beschränkt sich eine solche funktionale Erklärung zunächst auf „primitive“ gesellschaftliche Formen und deren religiöse Korrelate. Auf die moderne Gesellschaft kann sie nicht unmittelbar übertragen werden, da hier ungleich diffizilere gesellschaftliche Mechanismen zum Tragen kommen und die Religion darüber hinaus ihre eindeutige und übermächtige gesellschaftliche Stellung eingebüßt hat. Obgleich die elementaren Formen des gesellschaftlichen Lebens also einen religiösen Ursprung haben, gewinnen sie doch alsbald eine teilweise von Religion unabhängige institutionelle Eigendynamik und differenzieren sich gegeneinander aus. Normen (a), Wissen (b) und Affekte (c) sind darüber hinaus in hohem Maße reflexiv geworden und entziehen sich jedwedem dogmatischen Monopol. Wie Durkheim selbst bereits gesehen hat, werden die analysierten Teilfunktionen in der modernen Gesellschaft durch spezielle Funktionsbereiche betreut, die sich jeweils einige quasireligiöse Momente bewahrt haben. Zu a) Für die normative Handlungskoordination sind in der Moderne Politik und Rechtssystem zuständig. Die kollektive Handlungsfähigkeit beruht in der modernen Gesellschaft auf dem Prinzip der flexiblen Steuerung durch Entscheidungen in der Form positiver Rechtssetzung und parlamentarischer Demokratie. Verstöße können weitestgehend 158

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durch profane Sanktionsmechanismen wie Strafrecht, Untersuchungsausschüsse oder Protestaktionen geahndet werden. Gleichwohl spielen Zeremonien und sakrale Symbolik nach wie vor eine zentrale Rolle. Wahlen weisen Züge eines Rituals auf. Nationalflaggen und Embleme fungieren als identitätsstiftende Kollektivtotems. Richter inszenieren Gerichtsverhandlungen mithilfe von Talaren und komplexem Aktenzauber. Rote Teppiche, Neujahrsansprachen und aktionistische Schlagworte dienen als säkularisierte Sakramente, anhand derer Politik überhaupt erst sichtbar wird. Zu b) Die kognitive Aufgabe der Weltdeutung geht an die Wissenschaft über.38 Über experimentelle Methoden und diskursive Argumentationstechniken wird ein dynamischer Erkenntnisfortschritt garantiert, der die Anpassung an Kriterien der technischen Effektivität ermöglicht. Da das Vertrauen in das Expertenwissen wie in die Realitätsadäquatheit und Rationalität der modernen Wissenschaft im Allgemeinen gewährleistet ist, tritt die Möglichkeit der partiellen Falsifikation an die Stelle einer kruden theologischen Dogmatik. Gleichwohl bedarf die Wissenschaft der beschwörenden Hypostasierung geeigneter Weltbegriffe – etwa: „das Universum“, „das Weltall“, „der Kosmos“, „das Leben“ oder „das Bewusstsein“ –, um ihren Gegenstand als Einheit zu präparieren. Über Fachterminologie und Zitationsnetze wird eine virtuelle Idealwelt konstruiert, innerhalb derer begriffliche Liturgien komponiert und Datenadventures ausgefochten werden. Die rituelle Inszenierung von Wissen auf Tagungen und in Publikationen, die „Heiligsprechung“ von Klassikern und die habituelle Verkörperung von Expertise bewahren gleichwohl zahlreiche modifizierte Momente einer quasireligiösen Praxis. Zu c) Den Bereich der affektiven Integration übernehmen die Kunst und die massenmediale Unterhaltungskultur. Auch jenseits aller religiös verbürgten Verbindlichkeit bleibt die Kunstrezeption eine kollektive Operation, da sie mit stilistischen und sozialen Identifikationen verbunden ist. Das ästhetische Erleben wird grundsätzlich an die kollektive Fiktion eines Publikums rückgebunden. Die Ästhetik bereitet diesem Publikum auf mannigfaltige und subtile Weise sowohl energische wie schmelzende Momente39, die den emotiven Gesamthaushalt des individuellen Gesellschaftsbezugs beträchtlich berühren. Stars werden zu 38 Bereits bei Comte wird die Religion im Zuge des Drei-Stadien-Gesetzes als geistige Macht durch die Wissenschaft abgelöst: Der Geist soll positiv werden. Ganz in diesem Sinne heißt es bei E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 574: „Das wissenschaftliche Denken ist nur eine vollkommenere Form des religiösen Denkens.“ 39 Im Sinne von Friedrich Schiller: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 2000, S. 65-70. 159

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Recht/Politik

Normative Handlungskoordination

Wissenschaft

Weltdeutung

Protofunktionen der Religion

Kunst

Affektive Integration

Religion – Privatisierung oder Ausdifferenzierung?

Abbildung 1: Funktionswandel der Religion

Wirtschaft

Magie

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RELIGION UND MORAL

Ikonen glorifiziert; Aufführungen geraten zu Orgien der kollektiven Ekstase. Durch den permanenten Konsum von kulturellen Standards werden die Wahrnehmungen synchronisiert und die affektiven Reaktionen auf die Stimuli des massenmedialen Unterhaltungsprogramms synergetisch verstärkt. Durkheim zufolge sind alle wichtigen gesellschaftlichen Institutionen inklusive der Wirtschaft40 aus der Religion erwachsen, haben sich dann aber zu weitestgehend autonomen Teilbereichen ausdifferenziert. Religion kann somit als Protofunktionssystem gelten, aus dem sich alle weiteren Teilfunktionen der Gesellschaft allmählich ausgliedern, ohne sich je vollständig abzunabeln (Abbildung 1). Politik und Wirtschaft, vor allem aber Kunst und Wissenschaft nehmen für die moderne Gesellschaft selbst einen quasi-heiligen Charakter an, ohne dass deren Funktionen für den Laien immer zweifelsfrei ersichtlich wären.41 Die Aufgabe einer aktuellen Funktionsbestimmung solcher gesellschaftlichen Teilsysteme kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen soll der Frage nach der verbleibenden Bedeutung der Religion nachgegangen werden. Auch in der Gegenwartsgesellschaft gibt es Religion noch als solche. Die Religionssoziologie muss sich keineswegs um den Fortbestand ihres Gegenstandes sorgen.42 Geht man

40 Im Falle der Ökonomie lassen sich mit Durkheim Ansatzpunkte identifizieren, die das ökonomische Handeln als modifizierte Variante magischer Manipulationstechniken zu identifizieren gestatten. Vgl. E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 561. Nach Durkheims Auffassung (ebd., S. 488f.) leitet sich nun die Magie wiederum aus der Religion ab, wobei magische Praktiken sich unabhängig vom Kollektiv an individuellen Kalkülen orientieren. Der Erfolg bei der Manipulation von anderen Individuen bzw. der Natur lässt sich – wie auch aufgrund unkalkulierbarer Risiken bei der ökonomischen Tätigkeit im Besonderen – in vielen Fällen nicht allein aus zweckrationalen Kausalzusammenhängen deduktiv ableiten und muss daher durch spezielle, tradierte und bewährte Maßregeln untermauert werden. Vgl. auch Marcel Mauss: Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie, in: ders.: Soziologie und Anthropologie, Bd. 1, München 1974, S. 43-179. 41 Künstler und Wissenschaftler werden vermutlich deshalb gemeinhin respektiert, weil sie gewissermaßen als gesellschaftliche Sinnbilder einer altruistischen Berufung gelten können. Bei Politikern sieht es da schon etwas anders aus – sie werden eher als Sündenböcke behandelt. 42 Es wäre auch überaus naiv, Religion einfach als überkommenes Relikt zu betrachten. Zwar kann aus der Existenz einer gesellschaftlichen Institution nicht unmittelbar auf deren aktuelle Funktionalität rückgeschlossen werden, zumal die Funktion ja in jedem Falle erst benannt und expliziert werden müsste. Kulturelle Rudimente können selbstverständlich – genau wie biologische Organe auch – im Laufe der Evolution einen Funktionswandel erfahren. Kirchengebäude können als Aufführungsort für Konzerte genutzt und kirchliche Bürokratien für karitative Zwecke eingespannt werden. Für 161

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einmal davon aus, dass auf der Mikroebene sozialer Praxis ein grundsätzlicher Bedarf zur Transzendierung der individuellen Lebensverhältnisse bestehen bleibt und dass dieser mit dem Problem der autonomen lebenspraktischen Bewährung verwoben ist und sich daher in der modernen Gesellschaft sogar noch steigert, so lässt sich die These vertreten, dass die im religiösen Sinnzusammenhang konstruierte symbolischpraktische Einheit der Welt nach wie vor funktionale Voraussetzung für die elementaren Formen des gesellschaftlichen Lebens bleibt. Die Rückbesinnung auf das oben rekonstruierte konstitutive Bezugsproblem der Religion macht allerdings sofort klar, dass der Vorgang einer transzendierenden Sinnstiftung bei allem Recht auf religiöse Toleranz prinzipiell keine Privatsache sein kann. Religion dient auch in der Moderne der kollektiven Idealisierung einer Lebenseinheit von Individuum und Gesellschaft, welche durch die systematisch zu erlebenden Enttäuschungen der realen Praxis permanent beschädigt zu werden droht. Die stets präsenten Divergenzen von Realität und Ideal sind psychisch durchaus individuell zu bewältigen – und sei es in Form von Ohnmachtsanfällen und Wutausbrüchen. Sie gefährden jedoch die grundsätzliche Evidenz sozialer Sinnkonstrukte, da sie die Motivation zur Teilhabe am institutionellen Gefüge der Gesellschaft schwächen und den Glauben an die kulturell etablierten Plausibilitäten erschüttern. Religion kann freilich nicht gewährleisten, dass alle Menschen sich tatsächlich emotional mit der Gesellschaft identifizieren, ihre normativen Erwartungen realiter untereinander übereinstimmen und die Welt in einheitlicher Weise auf angemessene Begriffe gebracht wird. Im Zuge der Ausdifferenzierung von für entsprechende Spezialaufgaben zuständigen Funktionssystemen wird die Religion systematisch von derartigen Fragen der normativen Handlungskoordination, der kognitiven Weltdeutung oder der Standardisierung des Affekthaushaltes entlastet. Sie wendet sich nunmehr vollständig den sinnimmanenten Teilaspekten der Transzendenz zu und widmet sich der exklusiven Pflege eines gesellschaftlichen Grundangebots an Mythen, Ritualen und Reliquien. Während im Ritual die ideale Einheit einer gemeinschaftlichen sozialen Praxis beschworen wird, indem es diese, sofern die Zeremonie gelingt und nicht bloß leeres Schauspiel bleibt, in der kollektiven Interaktion für die Dauer der Prozession wahr werden lässt, gemahnt der Mythos an die

einen religiösen Funktionswandel wird es allerdings nicht genügen, die vermeintliche „religiösen Konkursmasse“ auf diese Weise umzufunktionieren. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern sich das oben identifizierte konstitutive Bezugsproblem der Religion reproduziert oder ob es sich eventuell gleichzeitig transformiert. 162

RELIGION UND MORAL

ursprüngliche Einheit der Welt, indem er sie innerhalb der (ihrerseits rituellen) Erzählung sinnbildlich veranschaulicht. Als sinnstrukturelle Elementareinheit der Religion lässt sich das „Heiligtum“ identifizieren, dem als kultisches Artefakt der Charakter eines objektiven Dings zukommt, während sein geistiger Pol durch die in den mythischen Momenten religiöser Kommunikation zum Ausdruck gebrachten Glaubensinhalte gekennzeichnet wird. In Analogie zur netzwerkartigen Elementarstruktur anderer Funktionssysteme43 konstituiert sich Religion als ein umfassendes System von Heiligtümern, die in der Form von Ritualen operativ miteinander verknüpft werden und dabei einen umfassenden, über sämtliche religiöse Konfessionsgrenzen hinweg verstehbaren Bedeutungszusammenhang konstruieren. Nur so kann sie als omnipräsenter Begleiter aller sozialen Praxis fungieren, der den periodischen Rhythmus sozialer Zeiteinheiten (Woche, Jahreszeit, Jahr) anhand von Festen markiert und insbesondere in typischen Phasen der Diskontinuität (Jugendweihe, Hochzeit, Tod) und an diversen kritischen Punkten (Armut, Sexualität, Ernährung) institutionellen und spirituellen Beistand bietet. In institutioneller Hinsicht etabliert sich Religion als Kirche. Die durch die kirchliche Organisationsform gewährleistete Einheitlichkeit religiöser Praxis ist insofern von Bedeutung, als dadurch eine offizielle Instanz zur Verfügung steht, welche imstande ist, kultische Artefakte dauerhaft zu verwalten und rituelle Rollen durch professionelle Priester zu besetzen. Die religiöse Zentralinstitution der Kirche fungiert darüber hinaus selbst als affirmatives Symbol der kollektiv verbindlichen und damit sozial einheitlichen Religiosität. Sie vermag es, aus ihrer eigenen Geschichtsträchtigkeit heraus in den Individuen ein Gefühl des Heiligen zu erwecken, indem sie Gott als kommunikativen Eigenwert kondensiert. An der Kirche kommt daher keiner vorbei, ohne dass ein religiöses Grundgefühl initiiert wird. Ob dieses im Weiteren konfessionskonform in einer aktiven Mitgliedschaft innerhalb der Gemeinde oder aber in einer kritisch-atheistischen Distanzierung mündet, bleibt eine autonome Entscheidung des einzelnen Individuums. Wer religiöse Glaubensinhalte für Aberglauben hält, glaubt umso mehr an die Realität, genauer: an das Realitätsideal einer substanziellen Einheit der Welt – und die Religion hat gewissermaßen auch auf diese Weise ihre Aufgabe erfüllt. In kultureller Hinsicht schlagen die religiösen Sinngehalte sich in Form eines kollektiv geteilten Spektrums impliziter Glaubensinhalte nieder. Diese kulturell verankerte Spiritualität stellt ein geistiges Medium bereit, an dem individuelle Prozesse der Sinngebung konkret Anleihe nehmen. Vermittelt werden können dabei ganz unterschiedliche 43 Vgl. oben Kapitel IV, S. 120ff. 163

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Typen kommunikativer Einheitsideen, etwa Solidarität, Wahrheit, Gerechtigkeit oder Gesundheit (körperliches „Heil“). Gerade die Kontingenzformeln der anderen Funktionssysteme stellen nichts anderes als spezifische Heilsideen dar. Spiritualität lässt sich aber auch als konkreter Geist im Allgemeinen verstehen. Anders gesagt: Religiöse „Musikalität“ äußert sich als esprit. Die öffentliche Wirksamkeit kollektiv geteilter Transzendierungserfahrungen besteht nicht zuletzt in der generalisierenden Strahlkraft, die sich in Richtung der gesellschaftlichen Peripherie entfaltet, indem sie die Individuen mit der Gesellschaft neuerlich identifiziert. So kann sie diese bspw. dazu motivieren, sich über die Idee einer sozialen Bewegung, einer Geistesgemeinschaft oder einer Subkultur offensiv in der Öffentlichkeit zu positionieren.44 Inwieweit der Rückgriff auf tradierte religiöse Symboliken und Rituale der lebenspraktischen Verwirklichung einer sinnlogischen Einheit von Individuum und Gesellschaft nicht eher im Wege steht, ist damit freilich noch nicht entschieden. Eine kirchlich monopolisierte Zuständigkeit für Transzendenzfragen beinhaltet in jedem Falle paradoxe Konsequenzen, da sie dem Individuum die Gelegenheit geben kann, die ihm zugemutete Autonomie unter Berufung auf religiöse Instanzen zu verweigern.45 Mit der Umstellung auf funktionale Differenzierung erfindet die Gesellschaft – wie man im Anschluss an Foucault und Luhmann sagen kann – den Menschen als autonomes Subjekt und zwingt das Individuum damit zur Individualität. Die religiös zu betreuende Einheit von Individuum und Gesellschaft nimmt damit einen paradoxen Zug an: Individuen, die sich mit dem gesellschaftlichen Sinnangebot identifizieren, werden dazu angehalten, sich von der Gesellschaft zu distanzieren und eigene Ansprüche zu formulieren. Während kirchlich institutionalisierte Rituale und kulturell verankerte Glaubensinhalte als klassische Dimensionen der Religion die (soziale) Einheit von Individuum und Gesellschaft über die Konstitution einer praktischen bzw. ideellen Gemeinschaft direkt angehen, ergibt sich für die moderne Gesellschaft aufgrund des dialektischen, komplementären Wechselverhältnisses von Individua-

44 Man denke an die Rolle der Kirche für die politische Opposition der DDR. 45 Vgl. Albrecht Schöll: Verweigerung, stellvertretende Deutung und autonome Gestaltung von Lebenspraxis. Lebensgeschichten von Mitgliedern in religiösen Gruppen und Milieus mit strikt normativen Lebensführungskonzepten, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 18, 1998, S. 357-372. Für ein analoges Argument in Bezug auf die Sozialwissenschaften (wenngleich die betreffende Person in einem Kloster lebt) vgl. Ulrich Oevermann: Eine exemplarische Fallrekonstruktion zum Typus versozialwissenschaftlichter Identitätsformation, in: Hanns-Georg Brose/Bruno Hildenbrand (Hg.): Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen 1988, S. 243-268. 164

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lität und Vergesellschaftung daher ein drittes, eigenständiges Moment, welches der operativen Bewältigung von konfliktartigen Situationen in der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft dient. Diese religiöse Residualkategorie wird durch das Medium der Moral besetzt. Die sakralen Wurzeln moralischer Autorität hatte bereits Durkheim soziologisch freizulegen versucht. Indem die Gesellschaft in religiösen Gottesbegriffen symbolisiert wird, kann in der kollektiven Ritualpraxis eine für alle Beteiligten verbindliche moralische Autorität generiert werden. Die Einheit von Individuum und Gesellschaft wird somit über die „mechanische“ Verschmelzung des Individuums mit dem Kollektivbewusstsein garantiert. Abweichendes Verhalten kann dann per se als unmoralisch gelten. In der modernen Gesellschaft kommt es zu einer Umkehrung dieser Konstellation. Vor dem Hintergrund einer funktionalen Differenzierungsstruktur gelten verschärfte Autonomiezumutungen der Gesellschaft an das Individuum. Individualität wird dadurch genau genommen überhaupt erst möglich. Es kommt zu einer „Vergottung“ des Subjekts. Die Einheit von Individuum und Gesellschaft kann nun durch keine (aus Sicht des Individuums:) heteronome Moral mehr gewährleistet werden. Und auch die moralische Autorität der Gesellschaft lässt sich nicht mehr durch Externalisierung in Richtung transzendenter Mächte (Gott, Naturrecht) legitimieren. Die Individuen werden durch die gesellschaftlichen Strukturen in komplementäre Rollen versetzt. Das ehemals geteilte geistige Inhalte verbürgende Kollektivbewusstsein wird damit zu einer je individuell gefüllten, nur mehr abstrakten Struktur eines persönlichen Gesellschaftsbewusstseins. Diese anspruchsvolle Form einer doppelt (d.h.: psychisch und sozial) autonomen Moral kann man dann mit Durkheim als „organische“ Solidarität bezeichnen.46 In jedem Falle wird die Religion im Laufe der Zeit von Problemen der immanenten Weltordnung zugunsten von Transzendenzangelegenheiten entlastet und die Ordnung der Natur zunehmend als wissenschaftliches, die Ordnung der Gesellschaft als moralisches – im Sinne von: durch die Individuen gestaltbares – Problem verstanden. Gleichwohl bleibt die Moral eine Tochter der Religion: Das Medium der Moral stiftet bezüglich der realen Differenz von Individuum und Gesellschaft eine ideelle Einheit, die innerhalb der moralischen Kommunikation nie real erreicht wird, sie aber als transzendente Gewissheit durchweg begleitet. Die damit formulierte These bedarf einer etwas genaueren Explikation. 46 Eine alternative und in gewisser Weise äquivalente Variante, dieser Konstellation zu begegnen besteht darin, sie in der Figur eines Gesellschaftsvertrages aufzufangen. 165

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D i e m o r a l i s c h e D i f f e r e n z vo n I n d i v i d u u m und Gesellschaft Als praktisches Problem betrachtet, erscheint die „Einheit von Individuum und Gesellschaft“ gemeinhin als eine Frage der gesellschaftlichen Integration und der Inklusion der Individuen in die Gesellschaft. In Soziologie und Sozialphilosophie ist dafür traditionell nicht die Religion, sondern die Moral zuständig. Bereits bei Comte sollte der gesellschaftliche Zusammenhalt durch die solidarité ihrer Teile garantiert werden, welche die soziale Integration in Form eines übergreifenden consensus zu sichern hatte. Im weiten Sinne war damit die geistige Übereinstimmung innerhalb der Gesellschaft als Voraussetzung einer soliden Statik gemeint.47 Durkheim hatte den Zusammenhang von Differenzierung und Integration dann auf die Begriffe der „Arbeitsteilung“ und der „organischen Solidarität“ gebracht. Die Gesellschaft wird von ihm als eine moralische Autorität begriffen, die der normativen Integration des individuellen Handelns dient. Das Problem der „Einheit von Individuum und Gesellschaft“ geriet damit zu einer Frage der Moral. Es lassen sich nun eine ganze Reihe von Argumenten anführen, die gegen eine solche zentrale Stellung des Moralbegriffs sprechen. Durkheim selbst hatte bereits auf die kognitive Dimension des Kollektivbewusstseins als einem kollektiv geteilten „Begriffssystem“ aufmerksam gemacht. Begriffe besitzen jedoch keine normative Geltungskraft. Es wäre schlichtweg absurd, die individuelle Übernahme eines kulturell verankerten Deutungsmusters aus einer moralischen Verpflichtung heraus erklären zu wollen. Daher bietet es sich an, in diesem Zusammenhang auf den generalisierungsfähigeren Begriff der Regel umzustellen48. Das Phänomen der Verinnerlichung von Regeln und Regelwissen ließe sich dann auf allgemeine Prozesse der Sozialisation zurückzuführen, in denen das Individuum den sozialen consensus (sprich: den Zeitgeist) internalisiert, indem es ihn als real erfahrbares Kollektivbewusstsein (bzw. psychoanalytisch: als Über-Ich) externalisiert.49 Das 47 Die Suggestivität der etymologischen Zusammenhänge von „Staat“ und „Statik“ sowie „Solidarität“ und „Solidität“ ist auch den deutschen Äquivalenten unmittelbar zu entnehmen: Gesellschaftliche Ordnung bedarf der Durchsetzung sozialer Regeln (lat. mores) und erfordert demzufolge ein Zusammenspiel von sittlicher Verankerung und staatlicher Kontrolle. 48 Vgl. Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York 1995, 69-77, 141-144; Ulrich Oevermann: Zur Klärung der Begriffe Regel, Norm und Normalität in der Analyse von Bewußtseinsformationen, Manuskript, Frankfurt a.M. 1999. 49 Auch Piaget hatte seine Studie über das moralische Urteil auf das Erlernen von Spielregeln gegründet. Es ging also nicht um individuelle Betrügereien, sondern um die für Spiele konstitutive Voraussetzung der Entwicklung 166

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verfügbare kontextspezifische Regelwissen dient dabei gleichermaßen der individuellen Orientierung wie einer Einstellung auf die Erwartungen der gesellschaftlichen Umwelt. Es verhilft dazu, angesichts komplexer Situationen überhaupt weiter zu wissen. Der hierfür maßgebliche Lernprozess basiert auf der menschlichen Fähigkeit, seine Mitmenschen zu beobachten und deren Beobachtungs- und Verhaltensweisen systematisch zu adaptieren. Das zugrundeliegende Prinzip hat indes nicht mehr viel mit „Moral“ zu tun. (Es wird im folgenden Kapitel unter der Bezeichnung „Öffentlichkeit“ als Mechanismus der Beobachtung zweiter Ordnung beschreiben werden.) Hinzu kommt, dass die Soziologie neben der Moral längst auch andere integrative Mechanismen kennt, die das individuelle Denken und Handeln in die etablierten gesellschaftlichen Strukturen einbinden. Die konkrete Zurichtung individuellen Verhaltens auf institutionelle Erfordernisse wird in der modernen Gesellschaft relativ effektiv durch formale Organisation geregelt, welche ihre Mitglieder und Klienten über Leistungsanreize motiviert. Für ein gemeinsames Reservoir an Kollektivund Statussymbolen sorgen die Massenmedien, indem sie Tag für Tag Prominente, Schlagworte und typische Handlungsbögen vorführen. Die Kunst bewirkt einen Abgleich der individuellen Wahrnehmungsgewohnheiten mit den gesellschaftlichen Sinngestalten. Das Erziehungssystem sozialisiert. Der Staat vermittelt demokratisch zwischen individuellen Interessen und kollektiven Handlungsentscheidungen. Die Intelligenz bemüht sich um Aufklärung. Wo aber bleibt bei all dem die Moral? Im Anschluss an eine kritische Diskussion der klassischen Moralauffassungen, denen zufolge diese primär unter dem Gesichtspunkt materieller Ansprüche (a) bzw. in Form eines normativen Handlungsmodells (b) erscheint, soll für ein Konzept plädiert werden, das moralische Deutungen als eine spezifische Sinnform begreift (c).50 Zu a) In kritischen Zeiten – also praktisch immer – erscheint Moral häufig als Luxus. Diese Deutung kommt daher, dass moralische Kriterien sich in der Regel als externe Ansprüche offenbaren. Moralisieren

eines Regelbewusstseins schlechthin. Vgl. Jean Piaget: Das moralische Urteil beim Kinde, Stuttgart 1983. In der Konsequenz ließe sich daraus ableiten, dass für Fragen der Regelbefolgung nicht primär die Unterscheidung von gutem und bösem Verhalten, sondern vielmehr jene von Inklusion und Exklusion relevant wird. Mit anderen Worten: Das soziologische Bezugsproblem der Moral berührt nun nicht mehr die Erkenntnis von Gut und Böse, sondern die Erkenntnis von System und Umwelt. 50 Vgl. Michael Beetz: Was können Soziologen von Moral verstehen? Gesellschaftliche Praxisfelder und ihre moralischen Kompetenzerfordernisse, in: Berliner Journal für Soziologie 19, 2009, S. 248-267. 167

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heißt kritisieren, und Kritik ist auf den neutralen Standpunkt des Außenstehenden angewiesen. Dieser bleibt in der Regel imaginär und die moralische Kritik wird daher in die transzendierende Form der Öffentlichkeit gebracht. (Dies gilt auch für den Sonderfall der Selbstkritik.) Moralische Verfehlungen gehen alle etwas an. Die Öffentlichkeit, welche damit die Stelle des universellen Beobachtergottes einnimmt, reagiert vorzugsweise auf Divergenzen zwischen zweckrationalem Erfolg und den als unterstellbare (normative) Erwartungen etablierten sozialen Rücksichten. Solche Divergenzen erwachsen bspw. aus einer situativen Unvereinbarkeit von Eigeninteresse und Gemeinwohl und verbinden sich typisch mit Schwierigkeiten bei der Zurechnung von Verantwortlichkeiten. Für gesellschaftliche Institutionen führt dies zu Situationsdeutungen, in denen man vor die Wahl zwischen rationaler Effizienz und moralischer Legitimität gestellt wird. Aus gesellschaftlicher Sicht – und damit ist meist die Politik gemeint – muss dann kalkuliert werden, wie viel Moral man sich leisten kann, wenn dies auf der Sollseite in der Form von Standortvorteilen, Wirtschaftswachstum, innerer Sicherheit und vor allem: Zeit gegengebucht wird. In den gängigen Modellen der ökonomischen und politischen Theorie wird dementsprechend mit Rationalitätskonzepten gearbeitet, in denen Moral tendenziell als Fremdkörper auftauchen muss. Geld und Moral bzw. Macht und Moral51 erscheinen dann vorderhand als Gegensätze, deren Vermittlung einer sowohl theoretischen als auch praktischen Anstrengung bedarf. Die auf diese Deutungslage reagierende Gesellschaftskritik subsumiert das Thema der Moral vorzugsweise unter den Gesichtspunkt materieller Verteilungsgerechtigkeit. Vor dem Hintergrund eines primär ökonomisch interpretierten Gleichheitspostulats kann die faktische Ungleichheit der Ressourcenverteilung unter den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern – vor allem aus einer marxistisch geprägten Perspektive heraus – auf Herrschaftsverhältnisse, Klasseninteressen oder soziale Privilegien zugerechnet werden. In den Mittelpunkt moraltheoretischer Überlegungen rückt dann bspw. die Suche nach abstrakten Kriterien für die gerechte Verteilung unterschiedlicher Lebenschancen52. Diese materialistische Variante des Moralthemas vertreten bevorzugt Anhänger eines ökonomiezentrierten Gesellschaftsverständnisses. Da die moralische Verantwortung hier primär auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zugerechnet wird, firmieren entsprechende Theorien gewöhnlich unter dem Etikett der „Gerechtigkeit“. Obgleich der Begriff „gerecht“ theoretisch gesehen ein absolutes Attri51 Vgl. Jörn Lamla: Grüne Politik zwischen Macht und Moral, Frankfurt a.M. 2002. 52 Vgl. John Rawls: Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1975. 168

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but darstellt – ein Verteilungsschema ist entweder gerecht oder ungerecht – ist das Schlagwort der Gerechtigkeit insbesondere deshalb in der politischen Kommunikation in besonderem Maße anschlussfähig, weil es als allgemein anerkannter Wert in Bezug auf seine konkrete Umsetzung weitestgehend unverbindlich bleibt. In der Politik lassen sich Fragen der Moral daher pragmatisch handhaben: Man einigt sich auf Kompromisse. Im Hinblick auf die individuelle Lebenspraxis ergibt sich entsprechend ein Dilemma, zwischen Karriere, Geld und Ruhm einerseits und sozialen Bindungen, Menschlichkeit und Ehre andererseits entscheiden zu müssen, und dies häufig mit biographisch irreversiblen Konsequenzen. Wenn Egoismus mit individueller Rationalität gleichgesetzt wird, wäre folglich Altruismus – also Moral im Sinne eines explizit prosozialen Verhaltens – per se irrational. Die für diese Interpretationslinie zuständigen Rational-Choice-Modelle versuchen auf das vermeintliche Problem zu reagieren, indem sie Moral als individuelle „Metapräferenz“ konzipieren.53 Moral ist dann kategorial gesehen lediglich ein Kriterium neben anderen – etwa Ästhetik, Effizienz oder Gesundheit – und bleibt damit, wie sich zuhauf in menschlichen Krisenfällen offenbart: ein Luxus. Es muss daher unweigerlich nach den Motiven für moralisches Handeln gefragt werden. Da moralische Rücksichten jeglicher Art augenscheinlich eine Beschränkung der individuellen Freiheit darstellen, ist zu klären, warum es dennoch rational sein kann, sich an moralische Anforderungen zu halten und durch welche Mechanismen die Gesellschaft sich moralische Autorität über die einzelnen Individuen verschafft. Dass Verstöße gegen die Moral durch Sanktionen bestraft werden können und die einzelnen Akteure sich zum Teil aus Angst vor drohenden Strafen moralkonform verhalten, spielt dabei eine entscheidende Rolle, klärt das Problem aber nicht endgültig. Da kulturelle Werte ihren moralischen Charakter durch habituelle Verinnerlichung und den Glauben an ihre Gültigkeit gewinnen, reicht die Annahme einer omnipräsenten staatlichen Polizeigewalt als Konformität erzwingender Instanz nicht aus. Vielmehr muss der Sanktionsmechanismus sich aus der Eigendynamik der Praxis ergeben: Die Akteure sollten sich im Falle unmoralischen Verhaltens gewissermaßen gegenseitig sanktionieren. Parasitäre Strategien (Trittbrettfahrer) dürfen sich nicht als bewährungsfähig erweisen. Als „modelltauglicher“ Prüfstein für die handlungspraktische Durchsetzungskraft einer moralischen Orientierung können letztlich nur jene 53 Vgl. Birger Priddat: Moral. Restriktion, Metapräferenz. Adjustierung einer Ökonomie der Moral, in: Josef Wieland (Hg.): Die moralische Verantwortung kollektiver Akteure, Heidelberg 2001, S. 41-78. 169

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Situationen gelten, in denen eine Wahl zwischen egoistischem und altruistischem Verhalten getroffen werden muss. Egoistisches Verhalten wäre dann die individuell rationale Wahl, altruistisches Verhalten dagegen die kollektiv vernünftige Option.54 An diesem Problem: in welchem Verhältnis individuelle und kollektive Rationalität sich im Rahmen ökonomischer Entscheidungsmodelle konzipieren lassen, entzündet sich eine umfangreiche spieltheoretische Diskussion55. Der Begriff des Altruismus war allerdings von Comte ursprünglich eingeführt worden, um eine historisch begründete allgemeine geistige Umorientierung zum Ausdruck zu bringen, welche die grundlegende Verfassung der personalen Identität berühren würde.56 Die altruistische Einstellung war dabei keineswegs im Sinne eines irrationalen Märtyrertums gedacht; und Egoismus sollte gerade nicht das für das Individuum ultimative rationale Konzept darstellen, sondern meinte nur eine auf kurzfristigen Gewinn ausgerichtete, strategische Orientierung. Für erfolgreiches Sozialverhalten ist aber häufig – wie übrigens auch im Schach – Taktik wichtiger als Strategie. Im konkreten Fall kann dies bedeuten, dass die Bewahrung von Takt sich besser bewährt als das strikte Beharren auf individuellen Ansprüchen. Egoismus wäre demnach lediglich Ausdruck einer egozentrischen Situationsdeutung, und egozentrisches Verhalten weist typisch pathologische Züge auf, die auf eine verzerrte Selbstwahrnehmung zurückgehen. Altruistisches Verhalten ist daher eben nicht „selbstlos“ – wie dies gemeinhin unterstellt wird. Es zeugt im Gegenteil von einer ausgeprägten sozialen Identität, die es erlaubt, Entscheidungen aus der verbissenen Beschränktheit von eindimensionalen Kosten/Nutzen-Kalkülen herauszulösen. Solange handlungstheoretische Modelle der Moral diesem instrumentalen Rationalitätsbegriff selbst verhaftet bleiben, wird das Problem des moralischen Motivs nicht in befriedigender Weise gelöst werden können. Wenn Mensch und Gesellschaft moraltheoretisch auseinandergezogen werden, indem man das Thema in die Spezialfragen des „Altruismus“ und der „Gerechtigkeit“ aufspaltet, dann erweisen sich humanistische Zielvorgaben auf der Gesellschaftsseite mithin als externe Einschränkungen oder gar als riskante Störgröße. Die ökonomischen oder politischen Rationalitätskalküle geraten im Gegenzug in den Verdacht, Moral – hier im Sinne „sozialer“, also pro-individualer Rücksichten – 54 Der entsprechende moralische Dualismus von egoistischem versus altruistischem Verhalten ist vor allem durch soziobiologische Modellvorstellungen im Anschluss an Herbert Spencer verbreitet worden. Vgl. Herbert Spencer: Principles of Ethics, Vol. 1, Indianapolis 1978, 217-229. 55 Vgl. nur Robert Axelrodt: The Evolution of Cooperation, New York 1984. 56 Vgl. Auguste Comte, Katechismus der positiven Religion, Leipzig 1891, S. 50-62. 170

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insgeheim als gesellschaftlich dysfunktional zu betrachten. Kritische Soziologen versuchen sich demgegenüber traditionell in der Rolle des „Bestandsschützers“, indem sie die vermeintlich irrationalen und daher in den rationalistischen Selbstbeschreibungen eher vernachlässigten gesellschaftlichen Teilbereiche wie Familie, Religion und Kunst aus ihrem theoretischen Nischendasein zu befreien suchen und sich zu ihrem Patron erklären.57 Damit eröffnen sie zugleich eine philosophische Frontlinie gegenüber der instrumentellen Einstellung eines egoistischen Individualismus. Die Moralfrage wird endgültig in ein Problem der Rationalität umgedeutet. Der Rationalitätsbegriff wird so zu einem theoretischen Schlachtfeld, auf dem die „Systemrationalität“, die „Rationalität der Lebenswelt“ und die liberalistische Logik der „rationalen Wahl“ gegeneinander in Anschlag gebracht werden, wobei die in inflationärem Ausmaß vollzogene Moralisierung gleichermaßen als symbolischer Schutzschild wie als rhetorische Keule dient. Angesichts dieser drohenden theoretischen Konfliktlagen dürfte es aus gesellschaftstheoretischer Sicht ratsam sein, Moral von vornherein als gesellschaftliche Tatsache zu betrachten und im Zuge einer kritischen Analyse ihrer Funktion zu begrifflichen Präzisierungen zu gelangen, durch welche einem funktionalistischen Fehlschluss vorgebeugt und normative Missverständnisse gleichzeitig entschärft werden sollten. Zu b) Als heuristisch praktikabler Startpunkt einer solchen Funktionsanalyse scheint sich auf den ersten Blick die traditionelle Vorstellung zu eignen, dass für die Koordination des menschlichen Zusammenlebens Regeln erforderlich seien und dass diese Regeln (unter anderem) die Form von Normen annehmen müssten. Die faktische Durchsetzung dieser Normen bedarf dann einerseits einer gesellschaftlichen Autorität, welche als Rechtssetzungsinstanz das Normensystem gegebenenfalls an die aktuellen Anforderungen anpassen kann und mit einer entsprechenden Sanktionsmacht ausgestattet ist, um Verstöße wirkungsvoll und eindrücklich zu bestrafen.58 Andererseits gründet sich Macht auf die Anerkennung ihrer Legitimität, denn die Geltung von Normen setzt die Möglichkeit ihrer freiwilligen Befolgung voraus. Die Aufrechterhaltung einer puren Gewaltherrschaft würde schlichtweg zu viele Ressourcen verbrauchen. Dies wird weltweit offensichtlich, wenn das polizeiliche Gewaltmonopol einer Region aufgrund politischer Umbrüche der entsprechenden kulturellen Verankerung entbehrt. Wo immer die Anwendung von Gewalt zu einem normalen, d. h. erwartbaren Phänomen wird, wirkt die 57 Vgl. Theodor W. Adorno: Einleitung in die Soziologie, Frankfurt a.M. 2003, S. 222ff. 58 Dass gesellschaftliche Ordnung Macht erfordert, ist eine alte Erkenntnis, die man üblicherweise Autoren wie Hobbes und Macchiavelli zuschreibt. 171

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Polizei überraschend machtlos. Politische Herrschaft ist daher durchweg auf symbolische Selbstbestätigungen angewiesen, die in der Form von Uniformen, Warnsignalen oder Kameras als permanente Rahmungen mitgeführt werden. Derartige Überlegungen machen klar, dass Herrschaftsordnungen einer kulturellen und psychischen Verankerung bedürfen. Sie müssen, wenn die gesellschaftliche Ordnung stabil bleiben soll, lebensweltlich verinnerlicht werden, und diese Verinnerlichung erfolgt der üblichen Auffassung zufolge über die Etablierung allgemein anerkannter Werte und Normen. Einem weithin verbreiteten Verständnis gemäß lässt sich das Thema Moral daher dem Komplex von Ethik, Recht und Politik und damit jenem gesellschaftlichen Teilbereich zuschlagen, der für die normative Regulierung des kollektiven Zusammenlebens zuständig ist. In diesem Kontext ergibt sich ein breites Spektrum an philosophisch gehaltvollen Anschlussfragen, etwa im Hinblick auf das Ergänzungsverhältnis von Moral- und Rechtsnormen59 oder die Vereinbarkeit von moralischem Universalismus und ethisch-kulturspezifischem Partikularismus im politisch institutionalisierten Prozess der positiven Rechtsetzung. Diese normenfixierte Variante des Moralbegriffs wird von Vertretern einer ohnehin primär politischen Gesellschaftsauffassung bevorzugt, die typisch selbst zu einem dezidiert normativen Standpunkt tendieren. Moralische Normen werden dann als gesellschaftlich verbindliche Entitäten verstanden, die sich strikt auf das intellektuelle Bezugsproblem der Legitimität gesellschaftlicher Ordnungen beziehen lassen. Dieses recht eingängige Modell der Moral birgt aufgrund seines Bezugs auf konkrete normative Erwartungen allerdings diverse Schwierigkeiten. Zunächst ist zu klären, welche Kriterien für die Gültigkeit einer Norm im Sinne ihrer faktischen Anerkennungswürdigkeit bürgen. Eine rein psychologische Erklärung im Sinne einer moralischen „Illusion“ wird diesbezüglich kaum überzeugen können. Unabhängig von der faktischen Motivation zu normenkonformem Verhalten sollte es den Akteuren möglich sein, Einsicht in die Vernünftigkeit einer normativen Regel zu haben, und das heißt auch: die zugemutete Regel gegebenenfalls zurückweisen zu können. In diesem Zusammenhang verdient die Bedeutung abweichenden Verhaltens eine genauere Betrachtung. Solange der Regelverstoß die Ausnahme bleibt, können die bestehenden normativen Erwartungen durch den Sündenfall sogar bestätigt werden: Das gesühnte Verbrechen

59 Vgl. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M. 1992, S. 135-151. 172

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bestärkt die kollektive Solidarität.60 Gerade unter „modernen“ Bedingungen haben Abweichungen von der Tradition jedoch nicht zwangsläufig einen „unsozialen“ Charakter: Auch revolutionäre Ambitionen lassen sich durch moralischen Ansprüche rechtfertigen. Gesellschaftskritik wird zum Motor des Fortschritts. Während konservative Kräfte jeweils auf der moralischen Verbindlichkeit überlieferter Werte beharren, machen progressive Stimmen vorzugsweise universelle Moralprinzipien wie Freiheit, Menschenrechte oder die kollektive Maximierung des Glücks geltend. Damit ergibt sich insbesondere die Möglichkeit, individuelle Rechte gegenüber geltenden Regelungen, dem Willen der Mehrheit oder dem Staat (moralisch) einzuklagen. Aus der Legalität eines formal gültigen Normensystems folgt jetzt nicht mehr automatisch dessen Legitimität. Die Moralität einer Handlung kann somit nicht allein durch das Kriterium der Konformität bestimmt sein, weil deviantes Verhalten dann per se unmoralisch wäre. Das Abweichen von einer Norm muss jedoch prinzipiell selbst durch moralische Gründe gestützt werden können, denn Normensysteme sind aus rein funktionalen Gründen auf ein gewisses Maß an Flexibilität angewiesen. Da die Option des Rückgriffs auf externe Autoritäten wie Götter, Könige oder Ahnen verwehrt ist, muss die Moral in ihrer „Begründung“ (wie Philosophen gerne sagen) autonom werden.61 Der Sinn einer Norm lässt sich dann nur noch innerhalb eines kulturellen Kontextes erklären und ihre Befolgung bzw. Missachtung obliegt der individuellen Verantwortung. Diese moderne Tendenz zur individuellen wie gesellschaftlichen Autonomie offenbart einen gravierenden Schwachpunkt des statisch-regulativen Modells von Moral als kodifiziertem Katalog anerkennungswürdiger Normen. Es erweist sich nämlich unter diesen Bedingungen schlichtweg als unmöglich, einen solchen vorgeblich vorhandenen Normenkatalog über den exemplarischen Verweis auf diverse lokale oder kulturelle Gepflogenheiten hinaus in empirisch detaillierter Weise auszubuchstabieren. Die philosophischen Auseinandersetzungen konzentrieren sich dementsprechend vor allem auf die angemessenen Metakriterien moralischer Normensetzung (Fairness, Unvoreingenommenheit, Menschenrechte) sowie die innere Verfassung der regelsetzenden Institutionen und diskursiven Argumentationsregeln. Damit verschiebt sich der theoreti60 Durkheim hatte das (quasireligiöse) Prinzip der Sühne bekanntlich mit der „mechanischen Solidarität“ traditionaler Gesellschaften in Zusammenhang gebracht. Vgl. E. Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, S. 150ff. 61 Leider ist es nicht damit getan, pauschal auf „Vernunft“ abzustellen. Vernunft ist kein konkretes Kriterium: Obgleich selbstverständlich niemand etwas gegen eine vernünftige Lösung moralischer Konflikte hat, führt dies nichtsdestotrotz zu divergierenden Auslegungen. 173

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sche Fokus unter der Hand von der Faktizität gesellschaftlicher Normen in Richtung auf jene kommunikativ-argumentativen Prozesse, die der Thematisierung moralischer Probleme dienen. Im Kontext moralisch aufgeladener Diskurse ist es praktisch gar nicht möglich, sich gegen Moral zu entscheiden. Selbstverständlich kann man den Leitgesichtspunkt wechseln und sich etwa auf ästhetische Kriterien konzentrieren. Auch Normenverstöße bleiben grundsätzlich immer eine Option. Explizit unmoralisch zu handeln hieße jedoch, dem eigenen Selbstbild diabolische Kratzer zuzufügen.62 Zu c) Das Moralische verliert damit endgültig den Charakter einer handlungsinhärenten Qualität und erweist sich als ein durch die Praxis selbst in Anschlag gebrachter externer Gesichtspunkt der Thematisierung und Beurteilung. Die Moralkommunikation selbst ist es, die eine idealisierte Lebenseinheit von Mensch und Gesellschaft zum Maßstab des faktischen Geschehens macht. Mit der begleitenden Zuteilung von Achtung bzw. Missachtung (Ächtung) werden die betreffenden Personen jeweils in die virtuell konstruierte Gemeinschaft aufgenommen bzw. aus ihr ausgeschlossen. Tabelle 4: Drei Paradigmen der Moralforschung Gesellschaftsbegriff Gegenstand der Moralforschung Bezugsproblem der Moraltheorie Gesellschaftliche Kategorie Individuelle Leitunterscheidung

ökonomisch Moralische Ansprüche Rationalität

politisch Moralische Normen Legitimität

sinnbezogen Moralische Kommunikation Funktion

Gerechtigkeit Geltung Egoistisch/ altruistisch

Achtung/ Missachtung* Konform/ Moralisches Urabweichend teil*

* Im sinnbezogenen Paradigma findet sich die operative Leitunterscheidung auf der Gesellschaftsseite: Kommunikation ist eine gesellschaftliche Operation!

Die mögliche Ad-hoc-Thematisierung ihres Handelns wird von den Beteiligten in der Regel antizipiert. Da die stets drohenden Moralisierung

62 Die entsprechenden Charaktere des Bösewichts und des gemeinen Schurken bleiben als pathologische Extremtypen möglich, kommen gemeinhin jedoch nur in schlechten Filmen, billigen Comics oder politischer Rhetorik (zum Bsp. in der Bezeichnung der sogenannten „Schurkenstaaten“) vor. Leonardo da Vinci musste bekanntlich für die Figur des Judas im „Letzten Abendmahl“ angeblich besonders lange suchen, bis er ein geeignetes Modell finden konnte. 174

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unmittelbar die (Selbst-)Achtung und die soziale Anerkennung einer Person berühren, führt dies zu entsprechenden Vorkehrungen. Das psychische Format der Verinnerlichung von Moral ist für Soziologen allerdings schwer zu bestimmen.63 Soziologisch ist sie jedenfalls nunmehr vor allem als Kommunikations- und Deutungsphänomen interessant, während die Handlungskomponente mehr und mehr in den Hintergrund rückt. Der soziologische Leitgesichtspunkt verschiebt sich damit von moralischem Verhalten zu moralischem Sinn (vgl. Tabelle 464).ȱ Die Bemühungen der empirischen Moralforschung konzentrieren sich entsprechend auf zwei Schwerpunkte. Auf individualer Seite geraten anstelle der konkreten Entscheidung für oder gegen Moral die zur Bildung des moralischen Urteils herangezogenen Gründe und Situationsdeutungen in den Mittelpunkt des methodischen Interesses. Eine auf Jean Piaget zurückgehende Forschungstradition interessiert sich demgemäß für die entwicklungspsychologischen Prozesse der kognitiven Erfassung sozialer Regeln. Im Mittelpunkt stehen die Begründungsfiguren, welche von den untersuchten Probanden im Zusammenhang mit fiktiven moralischen Dilemmasituationen bemüht werden, wobei hinsichtlich des erreichten Moralbewusstseins unterschiedliche kognitive Stufen unterschieden werden.65 Das originelle Moment dieser Forschungsperspektive besteht darin, dass die Vorstellung fallengelassen wird, es gebe hinreichende moralische Kriterien für eine objektiv richtige Entscheidung. Moralische Kompetenzen werden statt dessen tiefer in den grundlegenden Prozessen der Sozialisation und sozialen Identitätsbildung verortet. Die aus dieser Konzeption resultierenden theoretischen Gewinne werden 63 Ob das Bewusstsein seine moralischen Vorkehrungen und die Verarbeitung von performativen Inkohärenzen als Gewissen, als Heuchelei, als Über-Ich oder (idealistisch) als Freiheit „labelt“, muss möglicherweise der individuellen Introspektion überlassen bleiben. 64 Eine abweichende Version dieser Tabelle findet sich in M. Beetz, Was können Soziologen von Moral verstehen, S. 253. 65 Vgl. Lawrence Kohlberg: Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt a.M. 1996. Auf eine ausführliche Darstellung des Stufenkonzeptes wird an dieser Stelle verzichtet, da dieses als hinreichend bekannt gelten darf. Zur Erinnerung sei nur eine relativ frühe, aber umso prägnantere Version der Paraphrasierung wiedergegeben. Stufe 1: „Befolge Regeln, um Strafe zu vermeiden.“; Stufe 2: „Verhalte dich konform, um Belohnungen zu bekommen, erwidere Gefälligkeiten usw.“; Stufe 3: „Verhalte dich konform, um die Mißbilligung und die Abneigung der anderen zu vermeiden.“; Stufe 4: „Verhalte dich konform, um die Kritik durch legitime Autoritäten und daraus folgende Schuldgefühle zu vermeiden.“; Stufe 5: „Entspreche den Regeln (Prinzipien), um die Achtung des unvoreingenommenen Zuschauers zu bewahren, der im Sinne des allgemeinen Wohlergehens urteilt.“ Stufe 6: „Entspreche den Regeln, um Selbstverurteilung zu vermeiden.“ Ebd., S. 27. 175

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allerdings größtenteils dort wieder verschenkt, wo es zu einem Rückfall auf die Frage des moralischen Handelns kommt.66 Der offen bleibende Zusammenhang zwischen moralischem Urteil und dem tatsächlichen Handeln hat in der Tradition der Kohlbergschule deshalb ein eigentümliches Scheinproblem erzeugt, da die methodische Ausklammerung des tatsächlichen Verhaltens ja gerade die Grundlage dieses Ansatzes gebildet hatte.67 Das moralische Urteilsvermögen kann jedoch nur eine notwendige Voraussetzung dafür bilden, dass sich in der sozialen Praxis (im weiteren dann soziologisch zu erklärende) institutionelle Eigenlogiken durchsetzen können, die ein bestimmtes Regelbewusstsein (bspw. des Murmelspiels) verlangen. Das primäre Defizit der entwicklungspsychologischen Moralforschung liegt daher in der fehlenden gesellschaftstheoretischen Rückbindung. Eine solche wird letztlich nur in Form eines impliziten Fortschrittskonzeptes vollzogen, bei dem sich Kohlberg als Beobachter selbst auf dem göttlichen Pyramidengipfel der moralischen Stufenleiter verorten muss. Die resultierenden Probleme lassen sich allerdings durchaus soziologisch aufarbeiten. Entsprechend ausgebaute Variationen der Rekonstruktion individueller Moralurteile finden sich bspw. im Bezug auf Gerechtigkeitsurteile als engerem, gesellschaftspolitischem Fokus68 oder in der Untersuchung konkreterer Praxiszusammenhänge, wie demjenigen von Arbeit und Beruf.69

66 Vgl. Detlev Garz/Fritz Oser/Wolfgang Althof (Hg.): Moralisches Urteil und Handeln, Frankfurt a.M. 1999. Schwachpunkt dieser Problemfassung ist die kausale Form, in der nach einer Auswirkung des moralischen Urteils auf das Handeln gefragt wird. Faktisch wird man eher annehmen müssen, dass das Handeln der Urteilsbildung vorangeht. Empirisch zu untersuchen wäre dann, wie Individuen mit Inkonsistenzen ihres Selbstbildes im Zuge moralischer Konflikte umgehen. 67 Unter dem Aspekt des Handelns ist Moral zumeist nur in der Abweichung relevant. Die Forschungsfelder konzentrieren sich daher in erster Linie auf die unterschiedlichen Formen abweichenden Verhalten: Kriminalität (bereits bei Durkheim), Terrorismus, Antisemitismus, Rechtsradikalismus usw. Märtyrer und Helden ziehen primär die populäre Aufmerksamkeit auf sich. Die vielleicht einzige Ausnahme bildet das Forschungsthema des bürgerschaftlichen Engagements, bei dem es um die Erbringung freiwilliger sozialer Leistungen geht. 68 Vgl. Hans-Joachim Giegel/Matthias Rübner/Peter Samol: Zwischen Gleichheits- und Leistungsprinzip. Gerechtigkeitsorientierungen bei ostdeutschen Studierenden im Sinnkontext selbsterzählter Lebensgeschichten. Projektbericht. Jenaer Beiträge zur Soziologie, H. 12, Jena 2001. 69 Vgl. Michael Corsten/Wolfgang Lempert: Beruf und Moral. Exemplarische Analysen beruflicher Werdegänge, betrieblicher Kontexte und sozialer Orientierungen erwerbstätiger Lehrabsolventen, Weinheim 1997. 176

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Die auf Seiten der Gesellschaft ansetzende ethnomethodologische Moralforschung orientiert sich an qualitativen Unterschieden, die sich in unterschiedlichen Gattungen moralischer Kommunikation (Vorwürfe, Beschwerden, Entrüstung etc.) niederschlagen.70 Die Kategorisierung richtet sich dabei vor allem nach formalen Merkmalen, etwa typischer Gestik und Intonation. Die sozialen Effekte und gesellschaftlichen Hintergründe der protokollierten Interaktionssequenzen werden weitestgehend ausgeklammert, sodass die Untersuchung sich gewissermaßen auf mikrosoziologische Aspekte beschränkt. Andere Forschungsprojekte befassen sich mit der Rolle der Massenmedien im Hinblick auf die (kommunikative) Erzeugung von Skandalen.71 Auch das symbolische Schema des politischen Protestes72, über das normative Ansprüche gegenüber der Gesellschaft geltend gemacht werden, ist als eine Form der moralischen Kommunikation aufzufassen. Die Umstellung auf eine kommunikationstheoretische Fassung des Moralbegriffs hat Konsequenzen für die Frage nach der Funktion der Moral. Auf der Individuenseite (psychischer Sinn) geht es nun nicht mehr um die gesellschaftlich erwünschten (lies: funktional erforderlichen) moralischen Absichten und Motive, sondern um Moralbewusstsein im Sinne einer kognitiven Kompetenz zur psychischen Erfassung von normativen Erwartungsstrukturen, sozialen Regeln und gesellschaftlichem Sinn schlechthin. Die verschiedenen gesellschaftlichen Sinnsphären stellen dabei offenbar – dies wäre genauer zu untersuchen73 – unterschiedliche Ansprüche an das moralische Urteilsniveau.74 Während als Voraussetzung für ein im Zusammenhang mit Gesetzesverstößen juristisch sanktionsfähiges Unrechtsbewusstsein (sprich: Strafmündigkeit) Stufe 1 der Kohlbergskala hinreichen dürfte, ist für ein der ökonomischen Kategorie des Tausches (bzw. der juristischen des Vertrages) adä-

70 Vgl. Jörg Bergmann/Ruth Ayaß (Hg.): Kommunikative Konstruktion von Moral, 2 Bde., Opladen 1999; Thomas Luckmann (Hg.): Moral im Alltag. Sinnvermittlung und moralische Kommunikation in intermediären Institutionen, Gütersloh 1998. 71 Vgl. Frank Bösch: Historische Skandalforschung als Schnittstelle zwischen Medien-, Kommunikations- und Geschichtswissenschaft, in: Fabio Crivellario/Kay Kirchmann/Marcus Sandl/Rudolf Schlögl (Hg.): die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004, S. 445-464. 72 Vgl. Niklas Luhmann: Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, Frankfurt a.M. 1997. 73 Vgl. M. Beetz, Was können Soziologen von Moral verstehen, S. 260ff. 74 M. Corsten/W. Lempert, Beruf und Moral, S. 16-19, 48 korrelieren das sozial erforderliche kognitive Urteilsniveau im Hinblick auf moralische Regelbindung entsprechend mit den Kompetenzerwartungen beruflicher Handlungsfelder. 177

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quates kognitives Niveau bereits Stufe 2 erforderlich: Um Übereinkünfte treffen zu können, braucht es einen gewissen Sinn für Fairness. Im Kontext einer Gemeinschaft ist hingegen Solidarität gefragt: Die Kompetenz zur Ausbildung entsprechender Wir-Identitäten lässt sich Stufe 3 zuordnen. Die Tätigkeit als Beamter bzw. Verwaltungsangestellter erfordert dagegen Stufe 4, da es im Kontext von formalen Organisationen vor allem auf Korrektheit ankommt. Für eine im strengen Sinne demokratisch funktionierende Politik müssten alle Staatsbürger – zumindest im Sinne der habermasschen Diskursethik75 – bereits über Stufe 5 verfügen. Moralisch voraussetzungsvolle Sonderrollen wie die eines politischen Funktionärs, eines religiösen Führers oder eines Gesellschaftstheoretikers76 können schließlich mit Stufe 6 in Verbindung gebracht werden. Auf der Gesellschaftsseite (sozialer Sinn) lässt sich Moral als binär codiertes Kommunikationsmedium bestimmen. Die entsprechenden systemtheoretischen Untersuchungen zeigen, dass Moral zwar typische Merkmale eines solchen Mediums aufweist, sich aber nicht als eigenständiges Funktionssystem der Gesellschaft begreifen lässt.77 So verfügt es etwa über einen eigenen Code Achtung/Missachtung, bildet aber im Unterschied zu gesellschaftlichen Funktionssystemen keine organisatorischen Trägerstrukturen aus. Ein Pendant für die Banken des Wirtschaftssystems, den Staat der Politik, die Kirche der Religion ist – darüber können auch Lehrstühle für angewandte Ethik nicht hinwegtäuschen – in Sachen Moral nicht vorhanden. Im Rahmen einer Funktionsbestimmung moralischer Kommunikation liegt es deshalb nahe, zu prüfen, ob sich Moral einem der (theoretisch etablierten) gesellschaftlichen Funktionssysteme zuschlagen lässt. Neben dem Rechtssystem kommen dafür grundsätzlich das Erziehungs- und das Religionssystem in Frage. Für das Erziehungssystem spricht die Verankerung der Entwicklung des individuellen Moralbewusstseins im Sozialisationsprozess. Hoffnungen auf die Kreierung einer der modernen Gesellschaft angemessenen moralischen Grundlage konzentrieren sich daher auf Mittel der Pädagogik.78 Allerdings wird moralische Kommunikation faktisch eher außerhalb des Erziehungssystems praktiziert. Die Schule wird hingegen

75 Vgl. Jürgen Habermas: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1983. 76 Das moralische Stufenkonzept setzt – wie bereits erwähnt – voraus, dass der Theoretiker selbst bereits die höchstmögliche Stufe erreicht hat. 77 Vgl. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 396-405. 78 Bereits Durkheim hatte Moral im Kontext von Erziehung thematisiert, als Indikator für die moralische Verfassung einer Gesellschaft aber das Recht genutzt und schließlich die Wurzeln der Moral in der Religion identifiziert. Vgl. Emile Durkheim: Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesungen an der Sorbonne 1902/03, Frankfurt a.M. 1984. 178

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von moralischen Konflikten möglichst freigehalten. Die Schüler sollen ihre moralische Autonomie erst „draußen im richtigen Leben“ ausüben. Die zwischen den Generationen bestehenden moralischen Reibungen verlagern sich dann in die Kultur und die sogenannte Lebenspolitik hinein, wo es zu typischen Konfrontationen zwischen unterschiedlichen normativen Erwartungen kommt. Klassischerweise ordnen Sozialtheorien die Moral daher dem Rechtssystem zu, dessen Funktion sie in der Aufrechterhaltung einer normativen Ordnung sehen. Normative Regeln werden dann gleichermaßen durch Sanktionen unterstützt wie qua Sozialisation verinnerlicht. Nicht jeder moralische Konflikt kann jedoch juristisch verfolgt werden und Legalität muss nicht mit Legitimität zusammenfallen. Daher kann der normative Regulierungsbedarf nicht vollständig durch die Fixierung in Gesetzen aufgefangen werden. Der normative Automatismus der Paragraphen bedarf manueller Korrekturen durch moralische Intuitionen und Sitten. Moral- und Rechtsnormen stehen so gesehen in einem Ergänzungsverhältnis.79 Die (sozialphilosophischen) Leitkriterien normativer Selbstorganisation – Gerechtigkeit und Fairness – beziehen sich jedoch auf die Besänftigung konfligierender Interessenlagen: Was kann unter Bedingungen fiktiver Gleichheit – ohne Ansehen der Person – von den einzelnen Individuen gerechterweise verlangt werden? Bei der Einschätzung von Verantwortlichkeiten und der Festsetzung des Strafmaßes können dann zwar unter anderem auch die Absichten des Angeklagten eine Rolle spielen. Grundsätzlich sind rechtliche Normen jedoch an Verhaltenserwartungen, nicht an Denkvorschriften geknüpft.80 Die moralische Perspektive ist dagegen nur indirekt mit konkreten normativen Verhaltenserwartungen verbunden. Sie greift stattdessen direkt auf die mutmaßlichen Intentionen und Kalküle der betreffenden Person durch. Es geht dann etwa um die Frage, ob sie die normativen Erwartungen aller Betroffenen in hinreichendem Maße berücksichtigt oder anstelle dessen ihre Entscheidungen rein strategisch getroffen hat. Moralisierungen zielen in diesem Sinne systematisch auf die ganze Person. Sie problematisieren mithin Identitäten. Und auch wenn es um eine Thematisierung institutioneller Arrangements geht – etwa um die Gehälter der Manager –, werden diese unter moralischen Vorzeichen als

79 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung. 80 Die moralphilosophische Suche nach einer legitimen Regelung des sozialen Miteinanders bleibt insofern, wie oben bereits deutlich wurde, den pragmatischen Anforderungen einer profanen gesellschaftlichen Handlungspraxis verhaftet. 179

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Symptome aufgefasst, die eine Abkapselung der Eigenlogik besagter Institutionen von den Sinnbezügen sonstiger Betroffener vermuten lassen. Aus diesem Grund liegt es nahe, die Moral dem funktionalen Hintergrund des Religionssystems zuzuschlagen. Diese Auslegung impliziert insbesondere eine explizite Abweichung vom konventionellen Verständnis der Systemtheorie81. Gerade weil die voranstehenden Ausführungen zur Religion der systemtheoretischen Auffassung weitestgehend gefolgt waren, müsste daher aufgezeigt werden, inwieweit sich der moralische Code als „Zweitfassung“ des religiösen Codes von Transzendenz und Immanenz begreifen lässt. Die in dieser Sache nunmehr folgenden Überlegungen münden in dem Vorschlag, Moral als religionsspezifische Form der strukturellen Kopplung zu begreifen.

Moral als religionsspezifische Form der strukturellen Kopplung In der christlichen Tradition scheint die Affinität der Unterscheidung von „Gut“ und „Böse“ mit dem (transzendenten) Ideal bzw. der (immanenten) Realität offensichtlich. Das Gute wird mit Gott im Himmel identifiziert, das Böse mit dem in der unterirdischen Hölle hausenden Teufel und der Erbsünde. Diese einfache religiöse Projektion des Moralcodes setzt allerdings eine personifizierte Gottesvorstellung voraus und stellt religionshistorisch betrachtet eher eine Ausnahme dar.82 Hinzu kommen die aus der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft resultierenden Besonderheiten einer autonomen Selbstbegründung von Religion und Moral, die einen Zusammenhang der Unterscheidungen immanent/transzendent und Achtung/Missachtung nicht unmittelbar aufdrängen. In jedem Falle kann die Moral sich unter modernen Bedingungen kaum mehr auf die religiöse Autorität göttlicher Gebote stützen, die dem Menschen einzig die Freiheit zur Sünde einräumt. Das Verhältnis von Religion und Moral wird neu bestimmt. Der moralspezifische Unterschied zwischen „traditionalen“ und „modernen“ Gesellschaften und damit die veränderten Bedingungen der modernen Moral lassen sich in idealtypischer Weise besonders plastisch herausarbeiten, indem nochmals auf die Grundfiguren der durkheimschen Soziologie zurückgegriffen wird. In elementaren Totemreligionen verkörpert das Totem den Klan. Rituale und Glaubensvorstellungen befördern die Identifikation mit der 81 Zum Verhältnis von Religion und Moral als „prekärer Allianz“ vgl. N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 95-101. 82 Ebd., S. 173-183. 180

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Gemeinschaft. Moral geht in der durch die Gesellschaft generierten Kraft des Sakralen vollständig auf und gründet sich auf der affektiven Bindung des Individuums an das Kollektiv. Wie sich an diesen elementaren Formen exemplarisch veranschaulichen lässt, greift der objektive Geist des „Kollektivbewusstseins“ in traditionalen Gesellschaften direkt auf die individuellen Weltdeutungen durch und koppelt die Psyche „mechanisch“ an die überlieferten sozialen Sinnstrukturen. Die religiöse Konstruktion „Gott“ symbolisiert Durkheim zufolge die idealisierte Gesellschaft und ihre moralische Autorität. „Gesellschaft“ ist hier zunächst nichts anderes als die soziale Einheit der Individuen als solche. Solange die moralischen Anforderungen ausschließlich in der heteronomen Identifikation mit der religiös repräsentierten Gesellschaft bestehen, kann Moral daher noch als substantielle Qualität aufgefasst werden und folglich „Tugend“ heißen. Moralische Debatten im offensiven Sinne eines verständigungsorientierten Diskurses sind dagegen nicht zugelassen. Anders in der modernen Gesellschaft. Durch den sich ergebenden Zwang zur Individuierung bedarf das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft einer „organischen“ Ausgestaltung. Dies verbietet eine kurzschlüssige Identifikation mit den faktischen gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Verwirklichung einer autonomen Identität erfordert eine Transzendierung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und stellt nunmehr Ansprüche an diese. Individuum wie Gesellschaft werden jetzt gleichermaßen idealisiert und die resultierenden Idealisierungsschemata als Folie zur Kritik des Faktischen benutzt. Für ihre (moderne) Funktion – der kollektiven Idealisierung einer Lebenseinheit von Individuum und Gesellschaft – reformiert die Sinnform Religion damit das altbewährte kommunikative Instrument der Moralisierung. Denn obgleich von jeher normative Erwartungen zum Ausdruck gebracht und moralische Urteile gefällt wurden, kann man erst in der Moderne tatsächlich auch moralisch diskutieren. Der moralische Code83 wäre demnach für Störungen im Hinblick auf die Identität der Unterscheidung zwischen Individuum und Gesellschaft zuständig. Wenn psychischer und sozialer Sinn soweit aufeinander abgestimmt wären, dass individuelle und gesellschaftliche Identität tatsächlich konvergieren, dann würde sich jede moralisch aufgeladene Kommunikation erübrigen. Gibt es aber im Hinblick auf die lebenspraktische Einheit von Individuum und Gesellschaft Divergenzen zwischen

83 Unter dem „moralischen Code“ seien hier ebenso die Unterscheidung von gutem und bösem Verhalten (bzw. guten und bösen Absichten) wie auch die auf entsprechende Beobachtungen reagierende kommunikative Zuweisung von Achtung oder Missachtung verstanden. 181

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Realität und Ideal, so kann dies zunächst in der kommunikativen Formulierung von Ansprüchen aufgefangen werden.84 Zum einen können dann gegenüber gesellschaftlichen Institutionen moralische Ansprüche zugunsten von Individuen eingeklagt werden (bspw. als „Menschenrechte“). Umgekehrt lassen sich zum anderen aber auch individuelle Bekenntnisse zur gesellschaftlichen Ordnung und die Anerkennung der durch offizielle Repräsentanten erlassenen Gesetze (insbesondere der Verfassung) einfordern. Das Grundschema moralischer Rahmungen entspricht in beiden Fällen dem kategorischen Imperativ Kants85, wobei gesellschaftliche Ordnung und individuelle Autonomie qua Fiktion in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden: Man verlangt für sich, was jedem zustehen würde, und von anderen, was von jedem verlangt werden kann. Das resultierende Kommunikationsgeschehen erschöpft sich freilich nicht im symbolischen Austausch von universalisierungskompatiblen Forderungskatalogen. Der Moralcode lässt sich stattdessen als Medium der Krisenkommunikation begreifen. Er betrifft Situationen, in denen die normative Integrität eines sozialen Lebenszusammenhangs gefährdet ist, sodass (bzw. weil) die moralische Integrität bestimmter Personen in Frage gestellt wird.86 Moral ist insofern nichts anderes als der Sinn für die (Un-)Vereinbarkeit von (individuellen wie kulturellen) Sinnzusammenhängen. Was aber macht nun die spezifische Logik moralischer Kommunikation aus? Jegliche Kommunikation kann grundsätzlich nur „verstanden“ werden, indem die anschließende Kommunikation sich als Selektion aus dem durch die erste Kommunikation eröffneten Raum an Sinnbezügen ausweist. Da Sinn sich grundsätzlich als ein Verweisungszusammenhang konstituiert, der Anschlussoptionen in der Form von Möglichkeits84 Gegenüber den klassischen Moralphilosophien, deren Begriffe und Kategorien trotz der oben formulierten Kritik im Folgenden wieder auftauchen werden, operiert die hier vorgestellte soziologische Interpretation auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Insbesondere bedeutet dies, dass der Soziologe lediglich die Formulierung von Ansprüchen beobachtet, nicht jedoch selbst moralische Ansprüche reklamiert, dass er die Logik moralischer Rahmungen rekonstruiert, ohne damit die moralische Berechtigung inhaltlicher Konsequenzen zu bestätigen usw. 85 Bzw. dessen diskurstheoretischer Fassung als Moralprinzip bei J. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 138f. 86 Moralische Anerkennung setzt die Unterstellung der Verantwortungsfähigkeit für das eigene Handeln voraus. Wenn jemand unverantwortlich handelt, kann er folglich nicht mehr als Teil jener Öffentlichkeit verstanden werden, die als transzendente (Diskurs-)Gemeinschaft über die Angemessenheit der als normative Erwartungen zum Ausdruck gebrachten moralischen Ansprüche zu befinden hätte. Als implizite Drohung wird daher stets die mögliche Exkommunikation mitgeführt. 182

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horizonten erzeugt, lassen sich Sinnstrukturen als Erwartungsstrukturen begreifen.87 Durch Moralisierung werden die den an den Kommunikationsprozessen beteiligten Personen zuschreibbaren Erwartungen thematisiert. Wird etwas unter moralischen Gesichtspunkten beobachtet, dann werden die kommunikationsinternen Sinnzusammenhänge auf das Schema von Erwartungserwartungen bezogen. Der moralische Sinngehalt drückt sich dann in der kommunizierten Erwartung aus, die beteiligten Personen würden den Erwartungen der anderen die gebührende Achtung entgegenbringen. Solange bezüglich der vorhandenen Erwartungen Konsens unterstellt werden kann, muss das nicht eigens thematisiert werden. Sobald es jedoch zu Enttäuschungen kommt, erlaubt Moral die Thematisierung der faktischen Erwartungskonstellation. Wie die Beteiligten damit umgehen, darin ist das kommunizierende System grundsätzlich autonom. Moralische Kommunikation stützt sich zwar auch auf heteronome Momente, indem sie sich systematisch auf bestehende Konventionen, Sitten und Gewohnheiten bezieht. Diese werden dann aber als allgemein bekannt unterstellt und somit in die Form erwartbarer Erwartungen gebracht – und gegebenenfalls ebenso zurückgewiesen.88 Da die drohenden Vorwürfe vorauszusehen sind, ist man zu rücksichtsvollem Betragen angehalten. Auf der anderen Seite kann sich an den kleinsten Irritationen ein Streit entzünden, der weit über den Wert der Sache hinausgeht.89 Eine 87 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt 1984, S. 92ff. 88 Das ein Insistieren auf Traditionen der moralischen Inszenierung dienlich ist, mithin also der Status quo als Argument verwendet werden kann, ist dann ein Phänomen kommunikativer Pragmatik. Vgl. Niklas Luhmann: Status quo als Argument, in: Horst Baier (Hg.): Studenten in Opposition, Bielefeld 1969, S. 72-81. Auch Moral ist schließlich auf fremdreferenzielle Bezüge angewiesen, die als rhetorische Mittel in die Kommunikation eingebaut werden. 89 Versäumt ein Rocker es bspw., einem kurz abwesenden Freund vom Tresen ein Bier mitzubringen, kann dies zur Nagelprobe für die Freundschaft selbst werden: Entweder er enttarnt sich als jemand, der das gemeinsame Biertrinken keineswegs als synchrones Ritual auffasst und gar nicht damit rechnet, dass das Mitbringen eines Bieres erwartet werden kann. In diesem Fall kann er als Teil der Trinkgemeinschaft exkommuniziert werden. Oder aber er erscheint als Parasit, der seinen eigenen Beitrag für den kollektiven Nachschub an Getränken umgehen möchte, obwohl er gleichzeitig am Kollektivgut der Kneipenrunde teilzuhaben trachtet. Dies wäre dann geradezu infam und zieht umso mehr die Missachtung des Freundes auf sich. Hätte der Rocker andererseits stillschweigend ein Bier mitgebracht, kann dies wiederum als Nötigung empfunden werden. Ist das Problem einmal derart als Beziehungsproblem definiert, dann wird ein sachlicher Lösungsversuch – schnell noch ein Bier nachholen – häufig nicht mehr helfen. Je nach sozialer Lage kann es in solchen Fällen gar zu einer Prügelei oder Messerattacke kommen, die von Außenstehenden – und im nachhi183

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Moralisierung der Kommunikation birgt stets die Gefahr zur sozialen Manifestierung der zugrundeliegenden (Sinn-)Krise. Moralische Krisen müssen indes nicht unmittelbar eine Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung darstellen. Sie manifestieren sich zunächst wesentlich kleinformatiger. Die Fiktion der lebenspraktischen Einheit von Individuum und Gesellschaft kollabiert insbesondere dann, wenn der lokal relevante Personenkreis in Konfliktparteien zerfällt oder die moralische Verantwortlichkeit von Individuen in Frage gestellt wird, da diese sich skandalös benehmen. Entsprechend lassen sich die beiden moralischen Krisentypen des Skandals (a) und des Konflikts (b) unterscheiden.90 Zu a) Im Skandalfall bewirkt die Kommunikation eine asymmetrische Verteilung der moralischen Werte „gut“ bzw. „böse“. Die Schuldfrage scheint vordergründig klar, obgleich die verantwortlichen Einzelpersonen typisch als Sündenböcke für tiefer liegende Probleme herhalten müssen, deren strukturelle Ursachen zumeist im sozialen Kontext liegen. Daher werden durch die in der Moralisierung angelegte personale Zurechnung Lernmöglichkeiten auf institutioneller Ebene häufig gerade blockiert. Die Umstände bleiben unverändert, der „Schuldige“ wird symbolisch exkludiert. Die Exklusion wird indes nur im Ausnahmefall zu einer Exekution des Sünders führen. Sie kann in der Regel in zivilisierteren Formen wie Rücktritt, Boykott oder als Weinkrampf abgegolten werden. Manche moralisch verdächtige Praxis lässt sich noch – wenn nicht überzeugend, so doch beschwichtigend – erklären und begründen. Kleine Fehltritte, Jugendsünden und Affronts bleiben entschuldbar, wenn man in gebührender Weise Reue zeigt. Anderes ist schlicht unverzeihlich und verunmöglicht daher eine kommunikative Reparatur der allen moralfreien Interaktionen zugrundeliegenden Fiktion reziproker Anerkennungsverhältnisse. Solange das System sich erinnert, wird dann Missachtung zum Ausdruck gebracht werden. Zu b) Fatalerweise gilt dies nicht nur für Skandale, sondern auch für moralische Konflikte, denn hier bewirkt ja gerade die auf Gegenseitignein von den Beteiligten selbst – als unsittliches Verhalten interpretiert wird: Man hat kein Verständnis für solche Streitereien und empfindet deshalb auch keine moralische Verantwortung mehr, auf die entsprechenden Erwartungen Rücksicht zu nehmen. 90 Die Typologie umfasst nicht nur jene politischen Skandale und ethnischen Konflikte, die in höchstem Maße massenmediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sondern lässt sich grundsätzlich auch auf moralische Auseinandersetzungen innerhalb der Mikroöffentlichkeiten von Familien, Interaktionen oder Gruppen beziehen. Vgl. für eine erweiterte Fassung M. Beetz, Was können Soziologen von Moral verstehen, S. 254. 184

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keit beruhende Unverzeihlichkeit überhaupt die Stabilität des Problems. Im Konfliktfall werden von beiden Parteien gleichermaßen moralische Ansprüche geltend gemacht. Die Moralwerte sind daher in der Kommunikation symmetrisch verteilt: Jeder muss, um die Integrität seiner sozialen Identität zu wahren, den anderen aus der – in der moralischen Kommunikation konstruierten – moralischen Geistesgemeinschaft der Gesellschaft ausschließen. Wer im Geiste vom Geiste ausgeschlossen ist, hat nur noch sekundäre Ansprüche und erhält das Stigma einer Randgruppe. Schlimmer noch, die als vorsätzlich zu unterstellende Amoralität ächtet die betreffenden Personen. Ihnen kann streng genommen nur noch Gnade gewährt, jedoch keinerlei Anspruch mehr zuerkannt werden. In Krisenfällen schlägt taktvoll gewährte Gnade allerdings schnell in Gleichgültigkeit, Schadenfreude oder gar Folter um. Die Gegenseite weiß oder ahnt dies in der Regel. Sie operiert überdies mit einem inversen Programm der moralischen Zurechnung. Wenn der Konflikt ausbricht, steuert die Krise daher automatisch in Richtung einer Katastrophe, deren Dimension von der gesellschaftlichen Ebene des moralischen Konflikts abhängt: Die Situation eskaliert. Konflikte können selbstverständlich auch latent bleiben, solange die einzelnen Fraktionen sich zwar jeweils insgeheim für die moralisch Überlegenen halten, aus taktischen Gründen aber eine Ideologie der Inklusion kommunizieren. Ein solches Verhältnis ist beispielsweise zwischen gesellschaftlichen Eliten und sozial benachteiligten Gruppen zu erwarten. Die Benachteiligten drängen ohnehin auf Inklusion und formulieren dies als moralischen Anspruch. Die Eliten bedienen sich dagegen der Inklusionsrhetorik, um ihren (aus ihrer Sicht berechtigten) Repräsentationsanspruch ideologisch zu untermauern. Solange es nicht zu einer Revolution kommt, wird der gesellschaftliche Konflikt daher politisch verschleiert.91 Die faktische Exklusion erfolgt dann anhand sekundärer Kriterien wie Wissen/Bildung, sozialer Einfluss oder Geld. Während (moralisch aufgeladene) Konflikte heute in den meisten gesellschaftlichen Bereichen zum Alltag gehören, haftet Skandalen aufgrund der Rigorosität einer kollektiven Empörung stets etwas Archaisches an. Unter modernen Bedingungen sind Skandale vor allem eine mediale Konstruktion. Da die Beschuldigten zumeist für sich über eine eigene Interpretation des Geschehens verfügen, handelt es sich somit genau genommen um den Grenzfall eines Konflikts zwischen Einzelpersonen und einer (zum Mob gewordenen) gesellschaftlichen Mehrheit. 91 Es konstituiert sich stattdessen ein soziales Feld im Sinne von Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M. 1982. 185

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In dem Maße wie die eigene moralische Bezugsgruppe eines Konflikts zu einer zahlenmäßigen Minderheit wird, werden die gesellschaftlich etablierten, normativen Erwartungen nicht mehr als anerkennungswürdig behandelt. Der Verstoß gegen die vermeintlich geltende Norm kann dann sogar die soziale Identität der moralisch konstruierten Gesinnungsgemeinschaft rituell bekräftigen. Es kommt mithin zu Effekten der moralischen Distinktion. Individuelle Identitäten orientieren sich in diesem Falle nicht mehr an einer gesellschaftlichen Totalität, sondern vielmehr an der virtuellen Gemeinschaft derjenigen, welche die ideologische Illusion der gesellschaftlichen Ordnung vorgeblich durchschaut haben. Kann der (impliziten) Kritik an der gesellschaftlichen Faktizität indes kein (impliziter) Begriff einer utopischen Gesellschaft gegenübergestellt werden, so ist die moralische Berechtigung derartiger moralischer Distinktionsstrategien leicht zu relativieren. Die moralische Kommunikation tendiert deshalb dazu, sich auf einen impliziten Begriff der Weltgesellschaft zu beziehen. Die (vermeintlich) Benachteiligten verbrüdern sich gewissermaßen mit „Ihresgleichen“, indem sie das (lokale) „Establishment“ mit der übergreifenden Gemeinschaft aller (wahren) Menschen konfrontieren und sich zu deren Repräsentanten stilisieren. Wo es den unterdrückten Klassen nicht gelingt, alternative Kulturformen zu entwickeln, gerät jedoch das sittliche Gefüge ins Wanken. Die moralische Landkarte verliert ihre Konturen. Im Extremfall werden Saboteure zu Revolutionären, Verbrecher zu Rebellen und Terroristen zu Märtyrern. Die sozial Benachteiligten können für ihre Grobschlächtigkeit, ihre Bildungsdefizite und ihre soziale Inkompetenz schlecht zur Verantwortung gezogen werden. Sie sind von Anfang an zum Scheitern verdammt. Da es ihnen an der Fähigkeit mangelt, ihren Ansprüchen auf angemessene Weise Ausdruck zu verleihen, bleibt ihnen kaum etwas anderes als die Provokation. Wer die inhärente Logik der zugehörigen moralischen Sinngehalte philosophisch zu persiflieren („begründen“) versucht, bekommt es mit Problemen der Grenzziehung zu tun.92 Wenn die Gültigkeitskriterien ei92 Selbst der evolutionsbiologische Graben, welcher zwischen der Gattung Mensch und den höheren Primaten besteht, war nicht a priori vorgegeben, sondern ist erst durch Effekte der selektiven Differenzverstärkung evolutionär entstanden. Es ist sogar vorstellbar, dass die ersten Menschen ihre protoreligiöse Identität rituell dadurch bekräftigten, dass sie ursprünglich nahe Verwandte (wie den Neandertaler) verfolgten und ausrotteten, ohne dass dies allein durch die tödliche Konkurrenz um begrenzte Ressourcen begründet gewesen wäre. Erst in segmentär differenzierten Gesellschaften werden ja symmetrische Kontrastidentitäten in den einzelnen Klans herausgebildet, die es erlauben, über rituelle Tauschprozeduren miteinander 186

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nes moralischen Diskurses die imaginäre Beteiligung aller Betroffenen unter der Bedingung gleichverteilter Argumentationschancen implizieren, dann müssen die potentiellen Argumente derjenigen Betroffenen, die über keine hinreichende kommunikative Kompetenz verfügen, in realen Diskussionszusammenhängen zumindest stellvertretend eingebracht werden.93 Warum aber sollte dies nur für Menschen gelten und nicht auch für Tiere oder Pflanzen? Die ökologischen Probleme der modernen Gesellschaft können in diesem Sinne als moralischer Extremfall interpretiert werden, bei dem das Verhältnis von Gesellschaft und Umwelt nicht mehr auf jenes von Gesellschaft und Individuum beschränkt bleibt und umgekehrt das Verhältnis von Individuum und Umwelt sich nicht mehr auf die Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft reduzieren lässt. Menschen waren selbstverständlich immer schon mit „Natur“ konfrontiert. Gesellschaften griffen in ihren Weltbildern gleichsam nach den Sternen. Aber erst angesichts ökologischer Risiken, die der Gesellschaft selbst zugerechnet werden können, wird das Verhältnis zur Umwelt zu einem Thema moralischer Kommunikation, das neben der „Globalisierung“ und dem „Terrorismus“ zu einem der zentralen Gegenstände gesellschaftsweiter Konflikte gehört. Allein im Kontext konkreter Praktiken gewinnen die betreffenden Probleme jedoch ihren moralischen Sinn. Wenngleich somit die Einheit der Welt den letztmöglichen Fluchtpunkt moralischer Ideale bildet, so bleiben Moralfragen doch grundsätzlich an soziale Lebenszusammenhänge gebunden, in denen die entscheidenden Personen als verantwortungsfähige Individuen angesehen werden können. Entsprechend der einheitsverbürgenden Funktion religiöser Sinnstrukturen lässt sich die moderne Moralkommunikation in diesem Sinne als strukturelle Kopplung zwischen Individuum und Gesellschaft auffassen. Da Moral gleichermaßen für sozialen wie psychischen Sinn eine zentrale Kategorie darstellt, bildet sie gewissermaßen eine beide Realitätssphären übergreifende Brücke. Allerdings nicht die einzige! Auch andere Funktionssysteme richten sich auf Teilmomente des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft aus: Kunst benutzt und überformt gleichzeitig die Prozesse und Schemata der individuellen Wahrnehmung. Wissenschaft bindet sich an die kognitiven Beobachtungsoperationen des Individuums, so in Experimenten, aber auch als zu kommunizieren und so die basalen Reziprozitätsverhältnisse herzustellen, welche die Bedingung für die Genese von sozialem Sinn darstellen. 93 Unzurechnungsfähige Personen und zum Teil auch Tiere bilden einen Sonderfall, da ihnen moralische Ansprüche zugeschrieben, sie aber nicht selbst als Teilnehmer in die Kommunikation einbezogen werden. Moralisch relevant ist, wie diese kommunikativen Randgruppen behandelt werden, nicht wie sie selber handeln. 187

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Wissen überhaupt. Erziehung besorgt die Sozialisation und klagt die entsprechenden Bildungsbedürfnisse gesellschaftlich ein. Das Rechtssystem reguliert die individuellen Interessen der Privatpersonen durch den Erlass und die Durchsetzung von Gesetzen, Wirtschaft befriedigt elementare materielle (leibliche) Bedürfnisse (z.B. nach Trinkwasser). Das Gesundheitssystem kümmert sich um das organische Heil der menschlichen Körper usw. Darüber hinaus ist Moral auch in anderen Funktionssystemen dauerrelevant, und sei es als Störgröße. Konfliktträchtige Debatten in Politik, Recht, Wirtschaft, ja selbst in Wissenschaft und Kunst kommen selten ohne Moralisierung aus, vor allem wenn es um Personalfragen geht. Selbst rein fachliche Probleme tendieren dort zur moralischen Aufladung, wo allgemeinere Bezüge zur Gesellschaft mit ins Spiel kommen. Moral steht insofern quer zur Struktur der funktionalen Differenzierung94 und durchsetzt die Kommunikation der unterschiedlichen Funktionssysteme mit ihrem Bouquet. Ähnliches gilt freilich auch für die Hausmedien dieser Funktionssysteme selbst. Geld, Legalität, Wissen usw. spielen in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein, sodass bspw. Banken auf Legalität, Gerichte auf Wissen (Expertisen) und Universitäten auf Geld achten müssen. Wer von solchen Beobachtungen auf einen Sonderstatus einzelner Kommunikationsmedien – etwa des Geldes – schließt, hat versäumt, seine Überlegungen durch kontrastierende Vergleiche einem Falsifikationsversuch auszusetzen. Da die moderne Gesellschaft auf Polykontexturalität basiert, haben Funktionssysteme im Allgemeinen einen Sonderstatus. Da die entsprechenden Funktionen in direkter Weise mit der Konstitution von Sinn als Medium gesellschaftlicher Kommunikation verknüpft sind, beinhalten sämtliche Funktionssysteme neben ihrer Charakteristik als ausdifferenziertes, operativ geschlossenes Teilsystem die Eigenschaft, ein gesellschaftsweit konstitutives Moment sozialer Strukturzusammenhänge zu bilden. Die gesellschaftliche Effektivität der Funktionssysteme bemisst sich daher nicht zuletzt an den durch sie bereitgestellten strukturellen Kopplungen. Für Religion hat dies spezifische Konsequenzen. Die Konstitution religiöser Sinngehalte mag vorderhand auf kirchliche Organisationsstrukturen angewiesen sein, anhand derer Religion darüber hinaus öffentlich sichtbar und handlungspraktisch erreichbar wird. Effektiv wird Religion aber erst dort, wo die bereitgestellten geistigen Ideale und Identitäten für andere soziale Belange adaptiert werden. Dies ist immer dann

94 Vgl. Hans-Joachim Giegel: Moral und funktionale Differenzierung, in: Soziale Systeme 3, 1997, S.325-348. 188

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der Fall, wenn es im Sinnfluss der kommunikativen Operationen zur immanenten Reflexion einer (transzendenten) Einheit kommt. Gesellschaftliche Funktionssysteme fangen dieses Problem in speziellen Kontingenzformeln auf. So werden in der wissenschaftlichen Forschung auch im Alltag eines ganz profanen Projektbetriebs Symbole des Glaubens an die Wahrheit mitgeführt. Diese verstecken sich oft in ganz unscheinbaren Phrasen, welche dann den Charakter von dahingemurmelten Beschwörungsformeln annehmen. Das politische Pendant hierzu wäre das zum Ausdruck gebrachte Vertrauen in eine auf das Gemeinwohl bezogene Gestaltungskraft der Politik, die selbst in Kontexten des strategischen Machtkampfes nicht aufgegeben wird. In der Kunst wird der grundsätzliche Glaube an die authentische Ausdrucksform ästhetischer Gestalten – den Gepflogenheiten gegenseitiger Imitation zum Trotz – auch innerhalb der Routinen alltäglicher Werkproduktion symbolisch durchgehalten. Der so beschworene „Heilige Geist des Systems“ ist Ausdruck einer konstitutiven Totalität des systeminternen Kommunikationsgeschehens. Wie bereits oben erwähnt, nehmen die Kontingenzformeln daher den Charakter von Heilsideen an. Sie sind insofern als strukturelle Kopplung zwischen Religion und anderen Funktionssystemen interpretierbar. Das mag erklären, warum Moralisierungen innerhalb der einzelnen Funktionssysteme typischerweise Bezug auf die entsprechende Kontingenzformel nehmen. Aber auch dann gilt durchweg: Sobald moralisiert wird, kommt das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ins Spiel. Der umrissene Funktionszusammenhang von Religion und Moral lässt sich nun abschließend zusammenfassen. Entgegen den beiden intellektuellen Traditionslinien, die beim normativen Bezugsproblem der intersubjektiven Koordination menschlichen Handelns bzw. materialistisch bei den mit unterschiedlichen Vorteilserwartungen versehenen positionalen Unterschieden innerhalb des „sozialstrukturellen“ Statusfeldes ansetzen, war das Phänomen der Moral in den Kontext des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft gerückt worden. Somit ließ es sich direkt im Funktionszusammenhang der Religion verorten. Moral wäre demnach als generalisiertes Medium der Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft zu betrachten, das der kommunikativen und emotionalen Behandlung wechselseitiger Irritationen dient. Es erfüllt diese Aufgabe, indem es jene explizit als Irritation thematisiert und so ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.95 Da es als kognitives Medium der psy95 Ergänzend zum Medium der Moral, das eher auf Divergenzen und wechselseitige Störungen im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft anspringt, werden Lifestyle-kompatible Einheitssymbole und -ideen für den privaten Gebrauch in den vielfältigen Formen der Esoterik bereitgehalten. 189

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chischen wie kommunikativen Modellierung sozialer Ansprüche fungiert, stellt sie eine Form der strukturellen Kopplung zwischen Individuum und Gesellschaft dar.96 Dabei handelt es sich – in handlungspraktischer Übersetzung – sowohl um individuelle Ansprüche an soziale Leistungen, als auch um soziale Erwartungen an individuelles Verhalten. Die moralische Perspektive beinhaltet somit prinzipiell zwei Komponenten: Auf der einen Seite umfasst sie das „moralische Urteil“ als eine dem Individuum zuzurechnende kognitive Struktur. Auf der anderen Seite beinhaltet sie die „öffentliche Moral“ als eine der Gesellschaft zuzuschreibende, generalisierte Beobachtungsweise. Eine „prosoziale“ Orientierung und ein grundsätzlicher – wie immer autonom ausgestalteter – Bezug zur Gesellschaft sind in diesem Sinne konstitutiv für die Gestaltung jeglicher individueller Identität. Sie bringen keineswegs nur eine anspruchsvolle Form von Moralität bzw. eine besondere Wertorientierung zum Ausdruck. Umgekehrt implizieren gesellschaftliche Selbstbeschreibungen, sofern ihnen jeweils ein bestimmtes Verständnis des Individuums zugrundeliegt, per se ein „humanes“ Moment. Die Berücksichtigung individueller Ansprüche kann daher kaum eine erst von außen an gesellschaftliche Ordnungen heranzutragende Forderung darstellen. Als strukturelles Bezugsproblem moralischer Deutungen lässt sich demnach auf der Seite des Individuums die Gestaltung einer Identität im Spannungsfeld zwischen sozialer Konformität (Sozialisierung) und individuellen Gestaltungsansprüchen (Individuierung) identifizieren. Dessen gesellschaftliches Äquivalent bildet das Problem der Genese einer kommunikativ bewährungsfähigen Selbstbeschreibung, bei der es einen angemessenen Ausgleich zwischen ideologischer Korrektheit und realistischer Authentizität zu finden gilt. Mit anderen Worten: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Moral lebt von der Unterstellung, dass Gesellschaft grundsätzlich akzeptiert werden kann. Die spezifische Relevanz und die genauen Kriterien der Aktivierung des Moralcodes können indes letztlich nur empirisch geklärt werden.

Esoterik stellt insofern ein Phänomen quasireligiöser Heilssemantiken unter Bedingungen gesellschaftlicher Säkularisierung dar und kann als Technik der Genese von Instant-Spiritualität verstanden werden. Während die esoterischen Ideen die geistige Einheit von Natur, Mensch und Gesellschaft konstruieren, ist die Gesellschaftstheorie gleichwohl nach wie vor gehalten, die konzeptionelle Einheit der Gesellschaft in Abgrenzung von ihrer (individualen) Umwelt zu begründen. 96 Der Sinnkomplex von Liebe und Sexualität kann demgegenüber als kommunikativer Code bzw. „symbiotischer Mechanismus“ aufgefasst werden, der einer bilateralen strukturellen Kopplung zwischen Individuen dient. Trotz aller kulturellen Bedingtheit kann man sich dann einbilden, sich im Sex und in der Liebe gegen die Gesellschaft zu profilieren. 190

VI G E S E L L S C H AF T L I C H E M E C H AN I S M E N : O R G AN I S AT I O N U N D Ö F F E N T L I C H K E I T

Soziale Strukturmuster realisieren sich systematisch hinter dem Rücken der Beteiligten. Sie können durch diese nur im Grenzfall reflexiv eingeholt und über die Aufmerksamkeitsschwelle des Bewusstseins gehoben werden.1 Gleichwohl bleibt jeglicher soziale Sinn doch andererseits an entsprechende psychische Äquivalente und akteursspezifische Verhaltensweisen gebunden. Gesellschaftsstruktur manifestiert sich in menschlichem Denken und Handeln, und sie konstituiert sich als deren Resultat.2 Soziologische Theorien bekommen es daher früher oder später immer mit dem Thema des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zu tun, und dies gerade auch dann, wenn sie das Individuum nicht als Teil der Gesellschaft begreifen. Vom gesellschaftstheoretischen Standpunkt einer Ontologie der Gesellschaft führt dies zu der Frage, wie unter den Bedingungen der individuellen Autonomie menschlichen Bewusstseins eine höherstufige Autonomie gesellschaftlicher Selbstorganisationsprozesse möglich wird. Die Systemtheorie, die in besonderem Maße sensibel für derartige Grund-

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Vgl. Ulrich Oevermann: Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Problem der Erklärung der Entstehung des Neuen, in: Stefan Müller-Doohm (Hg.): Jenseits der Utopie. Theoriekritik der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1991, S. 267-336. Die Praxis eilt dem Bewusstsein gewissermaßen voran. „Das ‚Auge‘ ist ein durch Erziehung reproduziertes Produkt der Geschichte.“ heißt es entsprechend bei Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1987, S. 20f. Vgl. Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt a.M./New York 1995. 191

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satzfragen ist, antwortet hierauf mit dem Begriff der doppelten Kontingenz.3 Dieser erlaubt es, das Phänomen der Entstehung sozialer Erwartungsstrukturen im Kontext von Interaktionen grundsätzlich plausibel zu machen, da jeder der Interaktionsteilnehmer sich in seinem Verhalten auf die vermeintlichen Erwartungen seines Gegenübers einstellt.4 Gleichsam über den Köpfen der Beteiligten entsteht so eine soziale Eigendynamik von Erwartungserwartungen, die nicht mehr unmittelbar auf die tatsächlichen Erwartungen und Präferenzen der einzelnen Akteure zurückgeführt werden kann. Das Modell der doppelten Kontingenz impliziert jedoch keine Kriterien oder gar Garantien für die tatsächliche Stabilität gesellschaftlicher Ordnungen. Es liefert daher nur eine Teilantwort für das genannte Bezugsproblem des Verhältnisses von sozialem und psychischem Sinn. Neben der soziologischen Frage nach den konkreten gesellschaftlichen Strukturierungsmechanismen, welche imstande sind, die individuellen Lebenspraktiken zu durchdringen, beinhaltet dieses bspw. auch anthropologisch-sozialpsychologische Aspekte, da die organisch-psychische Konstitution des Menschen den Spielraum dessen restringiert, was gesellschaftlich überhaupt möglich ist.5 Unter dem autologischen Gesichtspunkt einer soziologischen Selbstbeschreibung der Gesellschaft ergibt sich hingegen die Herausforderung, die gesellschaftstheoretischen Beobachtungen mit den beschränkten Horizonten einer individuell-lebensweltlichen Erfahrung „unserer“ Gesellschaft abgleichen zu müssen. Das Thema des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft findet dabei seinen sozialphilosophischen Fluchtpunkt in der (virtuellen) Teilnehmerperspektive, aus der heraus kritische Zeitdiagnosen typisch zu einer (de-)moralisierenden Haltung tendieren: Indem man die Faktizität gesellschaftlicher Verhältnisse mit den normativen Erwartungen auf Seiten der Individuen konfrontiert, lässt sich die Moderne als komplexeste, „eigentliche“ Form von Gesell-

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Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 148-190. Vgl. Talcott Parsons/Edward Shields (Hg.): Towards a General Theory of Action, Cambridge 1951, S. 16. N. Luhmann, Soziale Systeme, S. 148190. André Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt a.M. 2000, S.86-109. Vgl. dazu bereits Herbert Spencer: The Principles of Sociology, Vol. 1, New York/London 1874, in dessen erstem Teil „The Data of Sociology“ sich Spencer eingehend mit der physischen, emotionalen und intellektuellen Konstitution des „primitive man“ auseinandersetzt, vor allem aber Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940. Das vorliegende Kapitel widmet sich hingegen ausschließlich dem ersten der genannten Themen: der Frage nach gesellschaftlichen Mechanismen.

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schaft beschreiben, die wir – gemessen an ihren eigenen Ansprüchen – so, wie sie ist, nicht wollen können. Die zum Maßstab der Kritik genommenen Ideale werden gewöhnlich in ethisch-politischen bzw. moralisch-religiösen Kategorien der „kollektiven Identität“ und der „kulturellen Werte“ zum Ausdruck gebracht, während die diesen gegenüberstehende gesellschaftliche Realität in einer ökonomisch-juristisch eingefärbten Theoriesprache beschrieben wird. Das konstatierte Missverhältnis von psychischem und sozialem Sinn, von subjektivem und objektivem Geist, von freiem Willen und gesellschaftlichem Zwang wird dann als Pathologie der Gesellschaftsseite zugerechnet, die nicht „sozial“ genug sei, um die Individuen in angemessener Weise einzubeziehen. Derartige Diagnosen mögen sich durchaus förderlich auf die Popularität gesellschaftstheoretischer Konzepte auswirken, da gesellschaftliche Selbstbeschreibungen außerhalb der Soziologie kaum ohne ethische und moralische Konnotationen auskommen dürften. Gleichwohl lassen sich die moralischen Probleme, welche das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft aufwirft, systematisch von der im Folgenden zu behandelnden theoretischen Frage nach den Mechanismen gesellschaftlicher Koordination unterscheiden. Die besagte Unterscheidung hat sich für die Soziologie allerdings seit jeher als eine intellektuelle Problemstelle erwiesen. Bevor im Folgenden die bisherigen Überlegungen zum ontologischen Moment der Gesellschaftstheorie (Kapitel IV) in nunmehr explizit gesellschaftstheoretischer Absicht aufgegriffen werden, sollen daher noch einmal die grundsätzlichen Schwierigkeiten vor Augen geführt werden, welche sich aus einer (vorschnellen) Verbindung von wissenschaftlichen Motiven und kritischen Absichten, von Begriffsarbeit und Lebensphilosophie, von (soziologischer) Gesellschaftsanalyse und (philosophischer) Zeitdiagnostik ergeben.6 Die aus dem Umfeld der Soziologie heraus entwickelten Gesellschaftskonzepte sind als Reflexionstheorien der Moderne insofern von allgemeinem Interesse, als sie typischerweise einen Unterschied zwischen modernen und traditionellen Gesellschaften herausstellen.7 Dieser beinhaltet insbesondere Konsequenzen für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Allein in diesem Zusammenhang geht das Thema Gesellschaft grundsätzlich alle an, da das in modernen Gesellschaf-

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Es handelt sich also gleichsam um den Versuch, das zwischen Theorietechnik und Moral bestehende Spannungsverhältnis in Form der Unterscheidung von Ontologie und Autologie zu rekonstruieren und damit gleichzeitig „aufzuheben“. Vgl. Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt a.M. 1968, S. 60. 193

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ten bis zum Grenzpunkt der Anomie8 gesteigerte Spannungsverhältnis zwischen individueller Autonomie und moralischer Verantwortung unmittelbar für die biographische Herausbildung personaler Identitäten relevant wird, bspw. wenn es um die Frage der Zeugung und Erziehung eigener Kinder geht. Die moralischen Besonderheiten der Moderne (welche im vorhergehenden Kapitel eingehend behandelt wurden) betreffen die Öffentlichkeit (!) weitaus stärker als jedes soziologische Fachwissen, etwa konkrete Befunde über kulturelle bzw. sozialstrukturelle Wandlungsprozesse.9 Mit Schlagworten wie „Freiheit“, „Selbstbestimmung“ und „Menschenrechte“, oder vom Jargon her etwas soziologischer: „Individualisierung“, „Integration“ und „Globalisierung“ ziehen Soziologen daher verstärkt Aufmerksamkeit auf sich. Als „Theorie der Moderne“ ist die Gesellschaftstheorie gefordert, nicht nur die Konstitution des Sozialen schlechthin zu modellieren, sondern ihre Grundbegriffe darüber hinaus auf eine Zeitdiagnostik der modernen Gesellschaft hin zurechtzutrimmen. Aus dieser Anforderung ergeben sich nun erhebliche theorietechnische Schwierigkeiten, da im Prinzip immer ein allgemeiner, grundlagentheoretischer Begriff mit einem besonderen, zeitdiagnostischen Begriff gekoppelt werden muss. Typisch findet dabei auch noch ein und dieselbe Terminologie Verwendung.10 Alles Gesellschaftliche wird – ob unter fortschrittsgläubigem oder zivilisationskritischem Vorzeichen – insgeheim vom ethnozentrischen Standpunkt der Moderne aus beobachtet, wiewohl es auch erscheinen mag, als ob „die Gesellschaft“ überhaupt erst in der Moderne zur vollendeten Wirklichkeit wird.11 8

Vgl. Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt a.M. 1992, S. 421-442; ders.: Der Selbstmord, Frankfurt a.M. 1983, S. 273-318. 9 Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse dieser Art tangieren primär die Verantwortlichen im Kontext der betroffenen Organisationen (!) und besitzen außerhalb solcher, problemspezifische Entscheidungen treffenden Institutionen kaum eine praktische Relevanz. (Das alltägliche Interesse an Nachrichten aus aller Welt, welches dieser Aussage vordergründig zu widersprechen scheint, ist kein unmittelbar soziologisches Interesse, da es sich auf konveniente Einzelfakten und nicht auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge als solche richtet.) 10 Die sich aus einer Projizierung moderner Begrifflichkeiten auf vormoderne Sozialstrukturen resultierenden Verzerrungen sind vor allem von Reinhart Kosellek thematisiert worden. 11 Eines der eingängigsten Beispiele für dieses Phänomen stellt die Gesellschaftstheorie von Ferdinand Tönnies dar, bei der sich die „Gesellschaft“ in der Tat erst in der Moderne realisiert, während die traditionale Sozialform der „Gemeinschaft“ nur in rudimentären Formen überdauert. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1887. Ein anderer Fall, bei dem das partielle Verschwinden – oder soll man sagen: die Transformation? – einer (traditionellen) sozialen Größe die soziologische Aufmerksamkeit überhaupt erst auf diese lenkt, ist die (moderne) „Säkularisie194

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Liegen die Popularitätschancen einer Gesellschaftstheorie also konzeptionell in der moralischen Einheit von Individuum und Gesellschaft, sowie in der Differenz von traditioneller und moderner Gesellschaft, so erwachsen aus ebendiesen Konzepten auf der anderen Seite auch die nachhaltigsten Erkenntnishindernisse einer genuin soziologischen Theoriebildung. Eine einem strikt ontologischen Gegenstandsverständnis folgende Gesellschaftstheorie müsste ja vielmehr gerade auf den Unterschied von Individuum und Gesellschaft abstellen, um sich von den Gegenstandsbereichen der Biologie und der Psychologie im Grundsatz explizit abgrenzen zu können. Sie hätte stattdessen die evolutionäre Einheit einer historischen Dynamik der Gesellschaft zu hypostasieren – von den elementaren Formen des gesellschaftlichen Lebens bis hin zu den verwickelten Erscheinungen der modernen Weltgesellschaft –, ohne indes dabei den undifferenzierten Modellvorstellungen naiver Entwicklungs- und Modernisierungskonzepte verhaftet zu bleiben. Die folgenden Ausführungen verstehen sich als konstruktiver Beitrag zu einer auf diese Weise verstandenen Theoriearbeit.

Organisation und Öffentlichkeit als Charakteristika der modernen Gesellschaft Die Frage nach den die moderne Gesellschaft charakterisierenden typischen Eigenschaften fördert unmittelbar eine ganze Reihe von Attributen zutage, die innerhalb und außerhalb der Sozialwissenschaften als Ansatzpunkte zur Beschreibung der Moderne und zur Ergründung ihrer historischen Besonderheiten gedient haben.12 So können die Entstehung des verfassungsbasierten Rechtsstaates, die Demokratisierung politischer Machtverteilungsprozesse, die Industrialisierung, der Kapitalismus, die Verwissenschaftlichung des Wissens, die Säkularisierung, die Individualisierung der Lebensführung oder etwa die durch Massenmedien und Massenkonsum geprägte Pop(ulär)kultur als zentrale Charakteristika der modernen Gesellschaft begriffen werden, durch die diese sich von traditionellen bzw. konkurrierenden Gesellschaftsformationen unterscheidet. Während das einzigartige Wechselspiel solcher einzelnen Entwicklungen den Gegenstand detaillierter historischer Untersuchungen abgibt, stellt sich jeder gesellschaftstheoretischen Analyse angesichts der Plurarung“. Die weltliche Bedeutung der „Religion“ wird erst im Maße ihrer Abwesenheit deutlich! Vgl. etwa Charles Taylor: A Secular Age, Cambridge 2007. 12 Vgl. Hans van der Loo/Willem van Reijen: Modernisierung. Projekt und Paradox, München 1997. 195

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lität typischer Phänomene die systematische Aufgabe, nach einem diese unterschiedlichen Dimensionen und Felder übergreifenden gemeinsamen Strukturmoment zu fahnden. Bei klassischen Autoren wie Marx/Engels oder Weber finden sich zu diesem Problem ganz unterschiedliche Antworten. Während Marx und Engels die vielfältigen gesellschaftlichen Phänomene auf die materielle Basis ökonomischer Produktionsverhältnisse und deren historische Dialektik zurückführten13, glaubte Weber einen multiplen Prozess der okzidentalen Rationalisierung identifizieren zu können, der so unterschiedliche Bereiche wie Kunst, Wissenschaft, Politik oder Religion einhellig überspannt und zugleich gegeneinander ausdifferenziert.14 Der offensichtliche Gegensatz zwischen der theoretischen Dogmatik des historischen Materialismus marxistischer Prägung und der vom Historismus geprägten, polemisch eingefärbten Theorieaversion Webers offenbart eine paradigmatische Differenz: Während Diagnosen, die von der eindimensionalen Reduktion des gesellschaftlichen Geschehens auf Aspekte wie Geld15, Eigentum oder Macht profitieren, auf dem Papier Bindestrich-Gesellschaften16 entstehen lassen, denen man kaum noch anmerkt, dass sie jeweils dieselbe Gesellschaft beschreiben, werden breiter ansetzende Analysen der historischen Einmaligkeit der Entwicklung zwar gerechter, erringen diesen Facettenreichtum aber zu Lasten ihrer theoretischen Schärfe, sodass es sich genau genommen gar nicht um soziologische Theorien der Gesellschaft handelt.17 Spencer, Durkheim und Parsons, teilweise auch Simmel, bevorzugten dagegen unmittelbar ein differenzierungstheoretisches Konzept.18 Aus der Perspektive einer strukturfunktionalistisch orientierten Soziologie kann nun die Form der Differenzierung als solche zur Charakterisierung der Moderne – bzw. eines gesellschaftlichen Typus im Allgemeinen – herangezogen werden. Für die moderne Gesellschaft bedeutet 13 Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, Moskau 1932. 14 Vgl. Max Weber: Vorbemerkung, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1998, S. 1-16. Weber bleibt bezüglich möglicher theoretischer Generalisierungen äußerst zurückhaltend, sodass der implizit bleibende gesellschaftstheoretische Gehalt seiner Schriften erst ad hoc mühsam rekonstruiert werden muss, etwa im Sinne von Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981, Bd. 1, S. 207-368. 15 Vgl. Georg Simmel: Philosophie des Geldes, Frankfurt a.M. 1989. 16 Vgl. Georg Kneer/Armin Nassehi/Markus Schroer: Soziologische Gesellschaftsbegriffe, München 1997. 17 Siehe. Fernand Braudel: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, München 1985; Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980. 18 Vgl. Niklas Luhmann (Hg.): Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee, Opladen 1985. 196

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dies, dass anstelle eines einheitlichen Zentrums oder einer hierarchischen Ordnungsstruktur nurmehr ein polykontexturaler Verflechtungszusammenhang autonomer Teilbereiche wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft oder Kunst zu beobachten ist, die trotz eines gesteigerten Abhängigkeitsverhältnisses dieser Subsysteme je für sich einer eigenen evolutionären Dynamik folgen. Nichtsdestotrotz bleibt es Teil der soziologischen Theoriebildungsbemühungen, sich für jene komparativen Aspekte zu interessieren, die einen Vergleich verschiedener Teilbereiche der modernen Gesellschaft untereinander, aber auch unterschiedlicher historischer Typen von Gesellschaft überhaupt ermöglichen.19 Die bereits oben aufgeworfene Frage, welche generellen Mechanismen und übergreifenden Strukturprinzipien gesellschaftlicher Ordnungsbildung bzw. sozialen Wandels sich identifizieren lassen, gewinnt in diesem Zusammenhang eine umso entscheidendere Bedeutung. Die Fruchtbarkeit entsprechender soziologischer Theorien bemisst sich letztlich vor allem daran, inwieweit es auf überzeugende Weise gelingt, solche Grundformen des Sozialen idealtypisch herauszupräparieren. Im Folgenden sollen Organisation und Öffentlichkeit als zwei derartige gesellschaftliche Mechanismen diskutiert werden. Dazu gilt es zunächst an das durchaus gängige Bild der „Organisationsgesellschaft“20 zu erinnern, sowie kurz die verschiedenen Dimensionen und Formen von „Öffentlichkeit“ zusammenzutragen, wie sie zum einschlägigen Repertoire der soziologischen Theorie gehören. Im Rückgriff auf die oben vorgetragenen Überlegungen zum ontologischen Moment der Gesellschaftstheorie (Kapitel IV) wird anschließend nach dem systematischen Stellenwert und Erklärungsanspruch gesellschaftlicher „Mechanismen“ zu fragen sein, um schließlich ein generalisiertes Konzept vorzustellen, welches Organisation und Öffentlichkeit als komplementäre Mechanismen gesellschaftlicher Koordination begreift.

19 Ist Soziologie bereits per se als „vergleichende Gesellschaftslehre“ angelegt, so vertritt bspw. die oben (Kapitel III) dargestellte Soziologie MüllerLyers mit ihrer „phaseologischen“ Methode ganz explizit ein solches Programm des Unterscheidens und Vergleichens gesellschaftlicher Teilbereiche und historischer „Phasen“. Den Paradefall eines solchen Programms verkörpert jedoch das Werk Niklas Luhmanns. 20 Uwe Schimank: Organisationsgesellschaft, in: Georg Kneer/Armin Nassehi/Markus Schroer: Soziologische Gesellschaftsbegriffe, München 1997, S. 278-307; Klaus Türk: „Die Organisation der Welt“. Herrschaft durch Organisation in der modernen Gesellschaft, Opladen 1995; Wieland Jäger/Uwe Schimank (Hg.): Organisationsgesellschaft, Wiesbaden 2005. 197

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Die Bürokratie als Form der legalen, rationalen „Herrschaft“21 muss in der Moderne als Schlüsselprinzip der politischen Organisation gelten. Sowohl administrative Funktionen als auch parteipolitische Machtkämpfe werden konsequent in formale Strukturen eingebettet, welche die individuellen Akteure in ein flexibles institutionelles Netz einbinden und so den Aufbau komplexer Entscheidungsketten ermöglichen. Selbst jene Belange des Gemeinwohls, die nicht durch das staatliche Regierungsund Verwaltungssystem und die diesem vorgelagerte Parteienlandschaft abgedeckt werden, lassen sich – wenn überhaupt – durch sogenannte Nichtregierungsorganisationen (NGOs) auffangen. Überhaupt kann das „Bureau“ schlechthin als allegorisches Symbol der modernen Welt gelten. Spezifische Formen und Strukturen formaler Organisation finden sich nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft (Institute), in der Religion (Kirchen), im Rechtssystem (Gerichte), im Militär (Armeen) oder im Bildungsbereich (Schulen). Selbst grundlegende ökonomische Kategorien wie „Arbeit“ oder „Management“ resultieren letztlich aus der organisationsförmigen Grundstruktur eines Unternehmens. 22 Da die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, auf organisationsinternen Stellenpositionen basiert, ergeben sich überdies individuelle Karrieremuster, welche in der modernen Gesellschaft weithin zum qualitativen Hauptkriterium biographischer Orientierungen geworden sind.23 In quantitativer Hinsicht verdeutlicht allein das Zeitpensum, welches man für bürokratische Akte benötigt, die immense Bedeutung formaler Organisation. Nicht nur der Aufwand für Anträge aller Art, die sich ergebenden Bearbeitungsfristen, die in Warteschlangen vor Schaltern und Kassen, in Wartezimmern von Ämtern und Arztpraxen zugebrachten Momente, die Last der Verwaltung und der Verwahrung von Verträgen, Bescheinigungen und Urkunden gehören in diese Rubrik. Auch die in Schulen, Kasernen, Krankenhäusern, Theatern, Fabriken und Gefängnissen verbrachte Lebenszeit diszipliniert uns durch jene formalen Regeln und Rollen, welche die Eingliederung in den organisatorischen Apparat der „verwalteten Welt“ ihren Mitgliedern abverlangt. Selbst noch die doch vorgeblich „freie“ Zeit vergeht zu großen Teilen an Bahnhöfen und

21 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 125-130, 551-579. 22 Vgl. Ronald Coase: Nature of the Firm, In: Economica 4, 1939, S. 386405. 23 Wie die sozialen Routinen formaler Organisation dabei auch auf Lebensstile und Habitus im Privatleben durchschlagen, lässt sich bspw. an der Form von Reihenhaussiedlungen ablesen. Vgl. William Whyte: The Organization Man, New York 1958. 198

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Flughäfen, in Kinos, Schwimmbädern, Sportzentren, Hotels und Geschäften aller Art. Lässt sich die moderne Gesellschaft in diesem Sinne als Organisationsgesellschaft beschreiben, so bildet jene formale Durchorganisation der sozialen Praxis gleichwohl nicht ihr einziges übergreifendes Ordnungsprinzip. Im modernen Nationalstaat werden alle politischen Vorgänge rigoros durch die Öffentlichkeit24 beobachtet. Paradoxerweise ist dieser – wie es aus Sicht der Politiker manchmal erscheinen mag: – obsessive Voyeurismus Teil der staatlichen Legitimation und maßgeblich für die erreichbare Qualität der Politik selbst.25 Unter Demokratie wird üblicherweise die Kontrolle politischer Entscheidungen durch die öffentliche Meinung verstanden, wobei dies vorwiegend durch periodisch stattfindende Wahlen garantiert werden soll. Die repräsentative Öffentlichkeit parlamentarischer Debatten bildet dabei einen wichtigen, jedoch nicht den einzigen Bestandteil des demokratischen Selbststeuerungsprozesses der Politik. Damit dieser aus demokratietheoretischer Sicht funktionieren kann, sind darüber hinaus nicht nur eine hinreichende Transparenz des politischen Geschehens, sondern auch eine starke Zivilgesellschaft und eine ausgeprägte politische Kultur erforderlich.26 Des Weiteren bedarf es der kommunikativen Verbreitungsfunktion der Massenmedien, die sowohl als Monitor der Regierungspolitik, wie auch als Sprachrohr der Bürger fungieren. Die gesellschaftlichen Funktionen der massenmedialen Öffentlichkeit erschöpfen sich allerdings bei weitem nicht in jener politischen Vermittlerrolle.27 Darüber hinaus werden durch sie in mannigfacher Weise kulturelle Symbole und Identitäten transportiert, die für den Abgleich der individuellen Orientierungen innerhalb der sozialen Welt heu-

24 Klassische Studien zum Thema Öffentlichkeit sind Ferdinand Tönnies: Kritik der öffentlichen Meinung, Berlin 1922; Ernst Manheim: Die Träger der öffentlichen Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit, Brünn 1933; Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962; Lucian Hölscher: Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979. 25 Vgl. Hans-Joachim Giegel: Kompetenzen und Qualifizierung von Akteuren als Bedingung und Resultat der Qualifizierung von Demokratie, in: Dirk Berg-Schlosser/Hans-Joachim Giegel (Hg.): Perspektiven der Demokratie, Frankfurt a.M./New York 1999, S. 177-216. 26 Vgl. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt a.M. 1992, S. 435-467. 27 Vgl. Bernhard Peters: Der Sinn von Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 2007. 199

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te zum Teil unverzichtbar geworden sind, zum Teil aber auch Anlass zur Kritik an einer kulturindustriell erzeugten Gleichförmigkeit geben.28 Ein anderes Feld, das durch die Beobachtungen einer spezifischen Öffentlichkeit geprägt wird, ist die Wissenschaft. Die Logik der Bewährung anhand von wissenschaftlichen Publikationen, die zu argumentativer Klarheit und zur Berücksichtigung alternativer Thesen und Theorien zwingt, hat möglicherweise einen stärkeren Einfluss auf die Rationalität der modernen Wissenschaft gehabt als etwa das wissenschaftliche Experiment, das in den Sozialwissenschaften ohnehin nur eine untergeordnete Rolle spielt. Etwas allgemeiner kann dieser Selbststeuerungsmechanismus der Wissenschaft anhand der Publikationslage als Äquivalent zur Konstruktion des „Marktes“29 verstanden werden, jener spezifisch ökonomischen Öffentlichkeit, die als unersetzliche Projektionsfläche zur Entfaltung ökonomischer Rationalitätspotentiale dient. Ein weiteres Analogon wäre die Kategorie des „ästhetischen Geschmacks“ als Technik der Selbstbeobachtung des Kunstpublikums. Öffentlichkeit ist in jedem Falle nicht nur für die Politik, sondern auch in Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst und anderen Teilbereichen der Gesellschaft für die komplexen Prozesse der Selbstregulierung dieser Systeme von zentraler Bedeutung. Eine Mikrovariante dieses strukturtragenden Spiegeleffekts der Öffentlichkeit findet sich auf der Ebene der Bildung personaler Rollenidentitäten. In Meads Figur des generalized other oder in Goffmans Analysen der Selbstpräsentation im öffentlichen Raum verfügt die Soziologie über Konzepte, die es gestatten, der disziplinierenden und identitätsstiftenden Funktion der Öffentlichkeit auch auf der Ebene von Individuen und Interaktionen nachzugehen.30 Denn nicht nur vor laufender Kamera oder auf der Straße agiert man „vor den Augen der Öffentlichkeit“. Selbst das private Treffen unter Freunden, das intime Miteinander zu zweit, der Blick in den Spiegel31 folgen dem Muster einer öffentlichen Präsentation des Selbst, bei der es die privaten Hinterbühnen und

28 Vgl. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996; Theodor Adorno: Fernsehen und Bildung, in: ders.: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a.M. 1971, S. 50-69. 29 Vgl. Niklas Luhmann: Der Markt als innere Umwelt des Wirtschaftssystems, in: ders.: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 91-130. 30 Vgl. George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a.M. 1973; Erving Goffman: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt a.M. 1982. 31 Im Sinne von Jean-Paul Sartre: Der Ekel, Hamburg 1982. 200

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Intimsphären permanent entlang der konventionellen Schamgrenzen und persönlichen Tabus neu zu markieren und abzusichern gilt. Die für sämtliche zentralen Strukturmomente der modernen Gesellschaft konstitutive Bedeutung von formaler Organisation einerseits, öffentlicher (Selbst)beobachtung andererseits ist unschwer zu erkennen. Etwa seit dem 18. Jahrhundert ist das politische Geschehen in den Nationalstaaten westlicher Prägung durch ein Zusammenspiel von bürokratischer Verwaltung und demokratischer Herrschaftskontrolle geprägt.32 Politik orientiert sich seither in ihren Inhalten an der „öffentlichen Meinung“ und in ihrer Form an der Logik formaler Organisation. Abweichungen gelten – in der „öffentlichen Meinung“ – als Korruption. Der moderne Kapitalismus gründet sich auf einer Verbindung von lohnarbeitsbasierter Unternehmensorganisation und einer am Verhältnis von Angebot und Nachfrage orientierten Marktwirtschaft: Vom Personalmanagement bis zur Technik der doppelten Buchführung folgt – grob gesagt – die unternehmensinterne Koordination einer „Rationalität“ der formalen Organisation, während die externe Bewährung einer „Rationalität“ der Marktöffentlichkeit unterworfen ist.33 Aber nicht nur in Politik und Ökonomie finden sich solche Dualitäten von Organisation und Öffentlichkeit. Auch in Bereichen wie Wissenschaft und Kunst bilden sich Öffentlichkeiten heraus, an denen sich die Bewährungsfähigkeit einer Theorie oder eines Stils zu erweisen hat. Wissenschaft muss dazu publikationsträchtig sein, Kunst muss das Publikum ansprechen. Wenn von der Autonomie der Wissenschaft bzw. der Kunst die Rede ist, heißt dies daher auch, dass Extravaganzen gar nicht eigens sanktioniert zu werden brauchen, da die Öffentlichkeit ohnehin für eine gewisse Disziplin sorgt. Gleichwohl macht dies formale Organisation nicht verzichtbar. Im Gegenteil, denn die Zurechenbarkeit auf Organisationen (Universitäten, Institute, Verlage, Theater) scheint beinah eine notwendige Bedingung dafür zu sein, öffentlich wahrgenommen zu werden. Umgekehrt sind Organisationen in der Regel auf die Pflege ihrer public relations angewiesen, um überhaupt effektiv funktionieren zu können. Unternehmen wie Parteien, Ämter und Kirchen müssen öffentlich wahrnehmbar, zugänglich und angesehen bleiben. Dieses wechselseitige Zusammenspiel von Organisation und Öffentlichkeit lässt sich durchweg in allen gesell-

32 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 545-550. 33 „Märkte und Hierarchien“ lassen sich dann im Weiteren auch als funktionale Äquivalente auffassen und unter dem Gesichtspunkt der Transaktionskosten miteinander vergleichen. Vgl. Oliver Williamson: Markets and Hierarchies, New York 1975; ders.: The Economic Institutions of Capitalism, New York 1985. 201

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schaftlichen Funktionsbereichen auffinden. (Die einzige Ausnahme bildet die Familie als expliziter Ort des Privaten und des Informalen.) Selbstverständlich unterscheiden sich die Organisationstypen: Eine Kirche lässt sich nicht wie ein Verein handhaben; das Management eines Unternehmens folgt ganz anderen Kriterien als die Führung einer Partei. Ebenso wäre im Hinblick auf Öffentlichkeit(en) zu differenzieren. Die durch soziale Bewegungen erzeugten politischen Gegenöffentlichkeiten lassen sich bspw. nicht einfach auf massenmediale Konstruktionen reduzieren. Dennoch sollte es Ambition soziologischer Theoriearbeit sein, gerade das Unterschiedliche zu vergleichen, es auf den gemeinsamen Nenner abstrakter Begriffe zu bringen und damit die Beobachtungssensitivität für das je Spezifische zu schärfen. Der Versuch einer theoretischen Klärung des genauen Zusammenhangs von Organisation und Öffentlichkeit darf deshalb als eine relevante soziologische Herausforderung gelten. Auf den ersten Blick sind Organisation und Öffentlichkeit allerdings zwei auf derart unterschiedlichen Phänomenebenen liegende Prinzipien, dass es undenkbar oder jedenfalls irreführend erscheint, sie miteinander kombiniert in einen übergreifenden theoretischen Zusammenhang zu bringen, systematisch gegenüberzustellen, zu vergleichen und schließlich beide gleichermaßen als „gesellschaftliche Mechanismen“ zu bezeichnen. Ein solcher Schritt bedarf einer auch fachgeschichtlichen Rückversicherung im Hinblick auf Bezugsprobleme und Lösungsansätze soziologischer Gesellschaftstheorie. Um zu klären, wie Organisation und Öffentlichkeit „funktionieren“, wodurch sie sich unterscheiden und was ihnen trotz aller Gegensätzlichkeit gemeinsam ist, kann und muss deshalb direkt an die Überlegungen der vorangegangenen Kapitel angeschlossen werden.

Kulturelle und institutionelle Mechanismen Wie die Analyse der grundsätzlichen Optionen gezeigt hat, die hinsichtlich einer theoretischen Modellierung der empirischen Beschaffenheit der Gesellschaft zur Verfügung stehen (wenn diese als objektiver Gegenstand der Soziologie aufgefasst werden soll), lässt sich die Einheit des soziologischen Gegenstands weder allein materiell noch rein geistig begründen.34 Die weiterführenden Überlegungen konzentrierten sich daher auf die Frage nach den analytischen Möglichkeiten zur Dekomposition des gesellschaftlichen Ganzen in seine Elemente.35 Da sich gesellschaftliche Strukturen 34 Vgl. Kapitel IV, Abschnitt „Die Objektivität der Gesellschaft im Spiegel der Soziologie“. 35 Vgl. Kapitel IV, Abschnitt „Gesellschaftliche Totalität und ihre Elemente“. 202

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nicht einfach auf externe Kausalursachen oder auf die Wechselwirkungen unabhängig existierender Elemente (Akteure, Interessen, Gene) zurückführen lassen, liegt es nahe, die Elementarstrukturen der Gesellschaft als Ergebnis eines aus einer evolutionären Eigendynamik resultierenden Differenzierungsprozesses zu begreifen, im Zuge dessen die Elemente des Systems sich auf organische Weise36 „autopoietisch“37 konstituieren. Ganz im Sinne Comtes gilt es die Gesellschaftsstruktur überhaupt erst vom gesellschaftlichen Ganzen her zu erschließen, bevor nach Erklärungen ihrer Entstehungs- und Stabilisierungschancen gefragt werden kann. Aufgrund des emergenten Charakters sozialer Sinnstrukturen erscheint es mithin gesellschaftstheoretisch aussichtsreicher, diese zuerst auf die Funktionen hin zu analysieren, welche die einzelnen strukturellen Komplexe im Hinblick auf die Bestandserhaltung des gesamtgesellschaftlichen Ordnungsgefüges und die Fortschreibung seiner evolutionären Entwicklungsdynamik beitragen, als etwa die Notwendigkeit gerade dieser oder jener konkreten historischen Ausprägungen sogleich ursächlich erklären zu wollen.38 Aus funktionalistischer Sicht ergeben sich im Zuge der gesellschaftlichen Evolution bestimmte Bezugsprobleme, die dauerhaft gelöst werden müssen, damit das System in seiner Komplexität fortbestehen kann. Dies muss indessen nicht zwangsläufig der Fall sein! Vielmehr gibt es keinerlei theoretische Garantien für die Zukunftssicherheit einer gesellschaftlichen Ordnung. Das zu Erklärende ist angesichts der Unwahrscheinlichkeit der Entstehung und des Fortbestehens komplexer Sozialsysteme deshalb gerade, wie solche Systeme in der Tat existieren können. Teil dieser Erklärung wären aber – wie sich herausstellte – auch jene Mechanismen, welche die gesellschaftlichen Operationen intern zu koordinieren gestatten und gleichzeitig dafür sorgen, dass die dazu erforderliche Inklusion der menschlichen Individuen in das gesellschaftliche Ordnungsgefüge gewährleistet werden kann. Während die gesellschaftlich ausdifferenzierten Sinnsphären durchweg an ein materielles Korrelat gebunden sind, sollte der Unterschied zwischen materiellen und geistigen Aspekten den oben vorgetragenen 36 Im Sinne von Aristoteles, vgl. Talcott Parsons: The Structure of Social Action, New York 1937, S. 32. 37 Humberto Maturana: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig/Wiesbaden 1985; N. Luhmann, Soziale Systeme. 38 Zu vielen gesellschaftlichen Strukturen sind funktionale Äquivalente denkbar. Sie sind das Ergebnis pfadabhängiger Entwicklungen, bei denen eine einmal erreichte, jedoch für sich kontingente Selektion zur Tradition wird und in der Folge die Faktizität des Status quo für sich geltend machen kann. Welche Variante sich durchsetzt, ist deshalb zunächst eine rein empirische Frage. 203

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Überlegungen zufolge primär auf der Seite der Mechanismen zu suchen sein.39 In geistiger Hinsicht wären dabei jene Mechanismen zu entschlüsseln, die einerseits der systemübergreifenden Verbreitung und Verbindlichkeit kultureller Sinnmuster Vorschub leisten und andererseits zugleich die psychische Verankerung kollektiver Ideen sicherstellen – also gleichsam für die „ideologische“ Sozialisation der systemtragenden Individuen sorgen. In materieller Hinsicht wären hingegen jene Mechanismen zu enthüllen, welche die Manifestierung institutioneller Infrastrukturen des Soziallebens regulieren und dabei die handlungspraktische Inkarnation sozialer Regeln in der Form akteursspezifischer Verhaltensweisen ermöglichen. Vor dem Hintergrund des damit formulierten Erklärungsproblems gesellschaftlicher Mechanismen kann nun die im vorherigen Abschnitt begonnene phänotypische Beschreibung von Organisation und Öffentlichkeit als charakteristischen Grundprinzipien der modernen Gesellschaft theoretisch präzisiert werden. Zugleich erfährt damit die bisher nur analytisch begründete Forderung, zwischen kulturellen und institutionellen Mechanismen der reflexiven Verkettung sozialer Operationen zu unterscheiden, die erforderliche konzeptionelle Einlösung. Die entscheidende Operation auf der „materiellen“ Ebene gesellschaftlicher Institutionen ist zweifelsohne die Operation der Entscheidung, da diese eine Verschränkung von sozialer Regelsetzung und individueller Handlungsselektion ermöglicht. Eine Institution soll ja gerade die Willkür individueller Verhaltensspielräume beschränken, indem sie die an sich autonomen Entscheidungen der beteiligten Akteure an soziale Regeln bindet: Anstelle des Individuums entscheidet dann zunächst die Gesellschaft, was – im Sinne eines konformen Verhaltens – zu tun wäre.40 Um das individuelle Verhalten lenken zu können, muss die institutionelle Entscheidung gewissermaßen den individuellen Einzelfall vorwegnehmen. Dies setzt natürlich standardisierte Situationen voraus, wie sie durch Institutionen typisch eigens provoziert werden. Damit eine Institution mehr ist als eine zur starren Verhaltensvorschrift geronnene Tradition, muss sie andererseits einen gewissen Spielraum für individuelle Entscheidungen lassen, die nicht zuletzt auch auf sie selbst zurückwirken. Eine Institution lässt sich insofern als gesellschaftliche Einrichtung zur Produktion von Entscheidungen verstehen. Nur im speziellen Kontext einer Institution nehmen soziale Regeln die positive Form von Entscheidungen an und agieren Individuen ihrerseits im Medium von Entscheidungen – sei es, dass sie gezwungen sind,

39 Vgl. Kapitel IV, Abschnitt „Organismus und Mechanismus als komplementäre Paradigmen. 40 Vgl. Johann August Schülein: Theorie der Institution, Opladen 1987. 204

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innerhalb eines optionalen Möglichkeitsraumes zu selegieren (Speisekarte), sei es in der Form einer Entscheidung für abweichendes Verhalten (man überquert die Ampel bei Rot). Der moderne Mechanismus einer rekursiven Verknüpfung von Entscheidungen heißt nun aber formale Organisation41. Vorschriften gibt es lange vor Entstehung der Schriftsprache, Formen der Herrschaft bereits in Tiergesellschaften. Allein der webersche Typus der rational-legalen Herrschaft, d.h. einer auf der strikten Trennung von Amt und Person beruhenden aktenmäßigen Verwaltungsbürokratie konnte erst in der modernen Gesellschaft zu einem Mechanismus werden, der dieser bis in die feinsten Poren der operationalen Ver-Arbeitung gesellschaftlichen Sinns seinen Stempel eingeprägt hat und gleichzeitig das tragende institutionelle Skelett aller gesellschaftlicher Teilbereiche entspannt (wie bereits erwähnt: mit Ausnahme der Familie). Gemäß dem formulierten mechanistischen Anspruch erklärt das Konzept der formalen Organisation die individuelle Disposition über das Kriterium der Mitgliedschaft. Solange die Mitglieder hinreichend zur Mitgliedschaft motiviert bleiben, was in der Regel über Geldzahlungen gewährleistet wird42, kann die Organisation ihre Entscheidungen unabhängig von den individuellen Präferenzen der Beteiligten treffen und gewinnt dadurch einen Spielraum zur rekursiven Verknüpfung ihrer Entscheidungsoperationen.43 Die darüber generierten Strukturen sind – in einem gewissen Maße – sogar resistent gegenüber einem Austausch des Personals, woraus sich ein zusätzliches Potential an Sanktionsdrohungen ergibt. Das kulturell-ideelle Pendant zur institutionellen Operation der Entscheidung ist die Beobachtung44. Die Beobachtung ist gewissermaßen der blinde Fleck der Entscheidung, denn anhand welcher Beobachtung man die zur Entscheidung anstehenden Alternativen konstruiert, ist innerhalb dieser Entscheidung nicht selbst entscheidbar; die Optionenkonstruktion

41 Die Verknüpfung von Organisations- und Entscheidungstheorie geht ursprünglich auf Chester Barnard bzw. Herbert Simon zurück. Vgl. dazu auch James March (Hg.): Entscheidung und Organisation, Wiesbaden 1990. 42 Die historisch-kulturellen Bedingungen der Akzeptabilität von Entscheidungszumutungen können natürlich einer genaueren Analyse unterzogen werden, etwa über eine Rekonstruktion ethischer Hintergründe von Erwerbsmotiven im Sinne von Max Webers Untersuchung zur protestantischen Ethik und zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen. 43 Vgl. zur Komplexität der resultierenden Prozesse organisationsinterner Sinngebung Karl Weick: Der Prozeß des Organisierens, Frankfurt a.M. 1995. 44 Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 92-164. 205

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geht der Entscheidung ja immer voran.45 Der Entscheider wird sich zwar in der Regel damit begnügen können, auf einen Status quo vergangener Entscheidungen zurückzugreifen und die Frage nach der Beobachterabhängigkeit kulturspezifischer Deutungsmuster zu ignorieren. Dies bedeutet aber gerade nicht, dass die individuelle Umweltwahrnehmung sich unmittelbar durch die jeweils verfolgten Zwecke erklären ließe. Die Weltsicht wird durch Ideen geprägt und die gesellschaftliche Wirksamkeit von kollektiven Ideen bedarf einer gesonderten Erklärungsstrategie.46 Wie also kommt es zur kollektiven Hypostasierung eines „Kollektivbewusstseins“ und woraus beziehen kulturell verankerte Deutungsmuster ihre intersubjektive Geltungskraft? Inwieweit wir uns und unsere Umwelt durch die Brille unserer Kultur wahrnehmen, kann nicht einfach eine Frage der Moral sein. Das Denken gehorcht keinem Pflichtgefühl, allenfalls mag man sich hinterher eines illoyalen Gedankens schämen. Auf die entsprechende Schwäche der durkheimschen Theorie war bereits oben aufmerksam gemacht worden. Ein alternativer Ansatz zur Erklärung kollektiver Geistesinhalte firmierte damals unterdessen unter dem Etikett der Völker- bzw. Massenpsychologie.47 Die „Masse“ wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts allerdings vielfach als irrationaler Mob betrachtet, der aufgrund von Halbbildung und geistiger Abstumpfung den Angeboten von Massenmedien, reaktionären Demagogen oder zersetzenden Ideologien scheinbar passiv ausgeliefert sei.48 Der Abgleich individueller Bewusstseinsinhalte mit den durch die „kollektive Identität“ bereitgehaltenen Kategorien und Stereotypen darf jedoch nicht im Sinne einer nivellierenden Gleichschaltung verstanden werden, die sich unter Anwendung geeigneter Manipulationstechniken gleichsam als Automatismus vollzieht. Diesbezüglich hatte Durkheim zu Recht mit Vehemenz gegen die Imitationstheorie Tardes protestiert. Stattdessen ist auch in 45 Vgl. Hartmut Esser: Die Definition der Situation, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48, 1996, S. 1-34. 46 Die instrumentalistische Deutung von Ideologien durch dahinterstehende Motive und Interessen entspricht einer gesellschaftstheoretisch im Grundsatz zurückzuweisenden materialistischen Engführung, obgleich Phänomene einer Entsprechung von Weltbild und sozialer Position faktisch natürlich nicht zu leugnen sind. Die betreffende Sichtweise erfährt dann aber zumindest innerhalb eines bestimmten Milieus eine allgemeine Bestätigung (vgl. hierzu die Überlegungen zur „moralischen Distinktion“ in Kapitel V, Abschnitt „Die moralische Differenz von Individuum und Gesellschaft“). 47 Vgl. Gustave LeBon: Psychologie der Massen, Stuttgart 1982. Wilhelm Wundt: Probleme der Völkerpsychologie, Stuttgart 1921. 48 Vgl. Gabriel Tarde: L’Opinion et la foule, Paris 1901. Ernest van den Haag: A Dissent from the Consensual Society, in: Norman Jacobs: Culture for the Millions? Mass Media in Modern Society, New Jersey 1961. David Riesman: Die einsame Masse: Hamburg 1958. 206

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diesem Fall eine reflexive Struktur Bedingung der Möglichkeit zur Entstehung sozialer Komplexität: Die eigene Beobachtung – sei es Selbstwahrnehmung, sei es Umweltbeobachtung – orientiert sich unter gewissen Umständen aus freien Stücken an den Beobachtungen der Anderen! Dieser qualitative Schritt kann zum einen als Voraussetzung der Genese sprachlichen Sinns überhaupt angesehen werden.49 Zum anderen dient er insbesondere in speziellen Sinnsphären wie Wissenschaft, Politik oder Kunst als notwendiges Mittel zur Reduktion von Komplexität.50 Um ein bestimmtes (begriffliches, rhetorisches oder expressives) Niveau halten, ist man einfach gezwungen, Anschluss an den bisherigen Wissens-, Diskussions- und Problemstand herzustellen (ohne dass dies freilich jegliche Chancen für innovative Neufassungen zunichte machen muss). Die Beobachtung von Beobachtungen gerinnt aber nur dann zu einer sozialen Tatsache, wenn sie die Schwelle der Generalisierung überwindet. Während Mead diesen Vorgang als personifizierte Konstruktion eines generalized other begreift, bevorzugt Durkheim den Begriff opinion. Unter opinion versteht Durkheim die durch das „Kollektivbewusstsein“ repräsentierte öffentliche Meinung, der „eine psychische Energie einer bestimmten Art zukommt, die unseren Willen bezwingt und ihn in die erforderliche Richtung lenkt“51. Denn „wenn etwas Gegenstand der gemeinsamen Überzeugung ist, gewinnt die Vorstellung, die jedes Individuum davon besitzt, aus diesen Ursprüngen und Bedingungen, unter denen sie entstanden ist, eine derartige Macht, die selbst jene fühlen, die jene Überzeugung nicht teilen.“52 Dieser generalisierte Modus der Beobachtung zweiter Ordnung lässt sich am treffendsten mit dem Begriff der Öffentlichkeit bezeichnen; während die Formel einer generalisierten „Beobachtung der Beobachter“ umgekehrt die unterschiedlichen Dimensionen von „Öffentlichkeit“ am bes-

49 Vgl. G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft. 50 Vgl. N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 105-112. 51 Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981, S. 286, vgl. auch S. 577-597, insbes. S. 586. 52 E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 287. Vgl. auch Auguste Comte: Die Soziologie, Stuttgart 1974, S. 475: „Kein Einsichtiger vermag sich so von der denkenden Menge abzutrennen, daß er nicht durch die öffentliche Übereinstimmung fortgerissen würde.“ Als einer der ersten betont übrigens Voltaire die zentrale Rolle von opinions als herrschende Ideen, welche die Welt regieren und die zu untersuchen vordringliche Aufgabe der Geschichtswissenschaft sei. Voltaire: Oevres Completes, Gotha 1791, Bd. 29, S. 159 (Zitiert nach Heinrich Waentig, Auguste Comte und seine Bedeutung für die Entwicklung der Sozialwissenschaft, Leipzig 1894, S. 22.) 207

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ten auf einen gemeinsamen Nenner bringt.53 In den reflexiv aufeinander bezogenen Beobachtungen der Öffentlichkeit verschränken sich die „Selbstpräsentationen“ 54 der einzelnen Individuen mit der Repräsentation der gesellschaftlichen Umwelt als kommunizierter Totalität55. Über die abstrakte Symbolisierung von „Weltbildern“ und kollektiven Identitäten hinaus gewährleistet der ideelle Mechanismus der Öffentlichkeit die Verbreitung von kulturellen Stereotypen und milieuspezifischen Ansichten. Er dient also dem gesellschaftsweiten Abgleich der verwendeten Beobachtungsschemata, ganz gleich ob man diese nun nach dem Muster kollektiv geteilter lebensweltlicher Hintergrundvorstellungen56 oder als gesellschaftliche Selbstbeschreibungen57 begreift.58 Die damit skizzierte Unterscheidung von Organisation und Öffentlichkeit als institutionellem bzw. kulturellem Mechanismus gesellschaftlicher Koordination liegt – dies muss nicht überraschen – weitestgehend auf einer Linie mit dem klassischen Erbe soziologischer Gesellschaftsdiagnosen. So hatte Max Weber den abendländischen Rationalisierungsprozess sowohl auf der „geistigen“ Ebene religiös verankerter Weltbilder als auch im Hinblick auf die Bürokratisierung der „materiellen“ Herrschaftsstrukturen betrachtet. Während Weber die koordinativen Effekte formaler Organisation in ihren rationalen wie irrationalen Auswirkungen präzise herausarbeiten konnte und die Berufsidee des asketischen Protestantismus akribisch rekonstruiert hat, blieb er bezüglich des theoretischen Stellenwerts gesellschaftlicher Ideen jedoch eher unentschieden und setzte die gesellschaftliche Relevanz von Herrschaft einfach voraus.59 Herrschafts- wie Religionssoziologie waren allein auf das Verstehen idealtypischer Sinnzu-

53 Eine ausführlichere Analyse findet sich in Michael Beetz: Die Rationalität der Öffentlichkeit, Konstanz 2005. 54 Vgl. Erving Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life, New York 1959. 55 Vgl. die resümierende Erkenntnis „Der Begriff der Totalität ist nur die abstrakte Form des Begriffs der Gesellschaft.“ bei E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 589. Zur Realität kollektiver Idealisierungen vgl. ebd., S. 557-569. 56 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981, Bd. II, S. 182-229. 57 Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 879-893. 58 Diese theoretische Funktion hatte bei Gabriele Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt a.M. 2003 (zuerst 1903) der Begriff der Imitation erfüllt. 59 So heißt es am Anfang der Herrschaftssoziologie lapidar: „Herrschaft in ihrem allgemeinen, auf keinen konkreten Inhalt bezogenen Begriff ist eines der wichtigsten Elemente des Gemeinschaftshandelns.“ Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 541. 208

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sammenhänge hin ausgerichtet und verzichteten auf weiterführende gesellschaftstheoretische Ansprüche; die Protestantismusstudie etwa war „rein historisch“ orientiert.60 Daher bleibt es bei der relativierenden Bestimmung des Verhältnisses zwischen protestantischer Ethik und kapitalistischem Geist als einem der „Wahlverwandtschaft“. Als Mechanismus zur allgemeinen Verbreitung des kapitalistischen Geistes führt Weber überraschend plump ein sozialdarwinistisches Prinzip der „ökonomischen Auslese“ an.61 Die Wirkungsmacht der Berufsidee wird einfach unterstellt bzw. unter Kategorien des Wollens und Müssens subsumiert. So heißt es dann schlicht: „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein – wir müssen es sein.“62 Gegenüber dieser handlungstheoretischen Engführung der Soziologie durch Weber63 kommt es bei Durkheim zu einer stärkeren Betonung der symbolischen Elemente. Über die Ergründung der sakralen Wurzeln kollektiv geteilter Schemata, Kategorien und Identitätsentwürfe kann Durkheim deren Realitätsstatus methodologisch begründen und das Geistige als soziologischen Tatbestand schlechthin ausweisen. Die Idee des „Kollektivbewusstseins“ wird zwar auch bei Durkheim teilweise als „moralische Autorität“ handlungstheoretisch umgedeutet, bleibt aber an ein Konzept der gesellschaftlich vermittelten Identität gebunden. In Bezug auf die materiellen Mechanismen gesellschaftlicher Koordination fällt Durkheim dagegen weit hinter Weber zurück, da er mit einem theoretisch unzureichend reflektierten Begriff der Arbeitsteilung operiert, welcher differenzierungsund organisationstheoretische Momente kaum voneinander unterscheidet.64 Nicht zufällig kommt deshalb Weber der Verdienst zu, die systema60 Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, Weinheim 2000, S. 154. Wie er in den abschließenden Sätzen der Protestantismusstudie noch einmal hervorhebt, erkennt Weber die Möglichkeit einer „materialistischen“ wie einer „spiritualistischen“ „Kultur- und Geschichtsdeutung“ zwar explizit an, ihm selbst geht es aber weniger um die theoretische Erfassung gesellschaftlicher Mechanismen als vielmehr um die „historische Wahrheit“ (ebd., S. 155). 61 Ebd., S. 17. Weiter heißt es: „Damit jene […] ‚angepaßte‘ Art der Lebensführung ‚ausgelesen‘ werden […] konnte, mußte sie offenbar zunächst entstanden sein… Diese Entstehung ist also das eigentlich zu Erklärende.“ 62 Ebd., S. 153. 63 Vgl. die im Sinne ihrer „Gesellschaftslosigkeit“ geradezu antisoziologische Definition, die Weber von der Soziologie gibt: „Soziologie soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.“ M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 1. 64 Vgl. E. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. So ist noch in der deutschen Übersetzung im Untertitel von einer „Studie über die Organisation höherer Gesellschaften“ die Rede (Hervorhebung durch MB). Die hier zum Ausdruck kommende, ursprüngliche Bedeutung des Organisationsbe209

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tische Bedeutung bürokratischer Organisation für die moderne Gesellschaft nachdrücklich herausgearbeitet zu haben, wohingegen es Durkheim gelungen ist, die Kollektivkraft der öffentlichen Meinung bis in ihre religiösen Wurzeln zurückzuverfolgen.65 Auch in der marxistischen Denktradition bilden institutionelle Verfassung und kulturelle „Ideologie“ die beiden Grundsäulen der Gesellschaftsdiagnose. Der historische Materialismus hatte mit der Kategorie der „Produktionsverhältnisse“ zunächst die materielle Basis des ökonomischen Eigentums und der instrumentellen Verfügungsmacht über die Produktionsmittel in den Mittelpunkt einer Analyse der sozialen Herrschaftsverhältnisse gestellt. Die späteren Vertreter des westlichen Marxismus setzen hingegen einen stärkeren Akzent auf die kulturelle Eigenlogik des Kapitalismus, dessen institutionelle Struktur inzwischen auch als „verwaltete Welt“ beschrieben wird. Während die Überlegungen zur „Kulturindustrie“ oder zur „Dialektik der Aufklärung“ bei Adorno und Horkheimer durchweg im gleichen düster-resignativen Tonfall gehalten sind, so klingt die Rede von der „Kulturrevolution“ als geistig-ästhetischem Bruch mit der Kultur des bürgerlichen Materialismus bei Marcuse deutlich optimistischer.66 Angesichts der sich in den gesellschaftlichen Institutionen – insbesondere des „Staates“ – ausdrückenden Herrschaftsgewalt richten sich die politischen Gestaltungshoffnungen zunehmend auf Instanzen der „Zivilgesellschaft“ (Gramsci). Das klassische Szenario der Revolution als eines Umsturzes der institutionellen Herrschaftsverhältnisse wird damit tendenziell durch die Leitidee der Subversion abgelöst, die auf eine schleichende Untergrabung der kulturellen Hegemonie abzielt.67 Noch die habermassche Unterscheidung von „System“ und „Lebenswelt“ lässt sich als Ausdruck eines zweigleisigen Theoriekonzepts deuten, bei dem die „System“-Seite den koordinativen Effekt formaler Organisation hinsichtlich der Institutionalisierung zweckrational-instrumenteller Handlungsspielräume erfasst, während die Seite der „Lebenswelt“ den informalen Aspekt der Öffentlichkeit als kollektiv geteiltem Reservoir an kulturellen Deutungsmustern, sozialen Identitäten und Regeln der Selbstgriffes aus dem 18. Jahrhundert kann im historischen Kontext Durkheims freilich nicht als ungewöhnlich erscheinen. 65 „Ohne Zweifel kann man die öffentliche Meinung als Studienobjekt wählen und daraus eine Wissenschaft machen; daraus besteht hauptsächlich die Soziologie.“ Ebd, S. 586. 66 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug, in: dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1988, 128-176. Herbert Marcuse: Kunst und Revolution, in: ders.: Konterrevolution und Revolte, Frankfurt a.M. 1973, S. 95-148. 67 Foque Vinteul: Das Subversive, Jena 2007. 210

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präsentation betrifft. Ruhen die philosophischen Erwartungen bei Habermas seit „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ auf der kommunikativideellen Kraft einer diskursiven Vernunft, so sieht Michel Foucault Diskurse als historisch gewachsene soziale Ordnungen an, die sich gleichermaßen aus Wissen und Macht zusammensetzen – also Gefüge aus ideellen und materiellen Komponenten darstellen –, ohne dass damit automatisch eine geheime Präferenz für das Geistige verbunden wäre. Die Begriffe Institution und Kultur werden bei Foucault gleichsam wieder parallelgeschaltet. Die weitere Variante des Kultur/Institutionen-Schemas findet sich bei den US-amerikanischen Soziologen, deren Auffassungen stärker durch eine an der Unterscheidung von Zwecken und Mitteln orientierten, ökonomieaffinen Handlungstheorie geprägt sind. Mertons Überlegungen zum Problem der Anomie fußen bspw. auf Vorstellungen der Gesellschaft als „einer konkurrenzorientierten Ordnung“68, die in der Form eines je spezifischen Arrangements aus „kulturellen Zielen und institutionellen Normen“69 gedacht wird. In der parsonsschen Theorie spiegelt sich diese Sichtweise in der eigentümlichen Trennung von Kultur und Gesellschaft wider. In seiner Analyse der evolutionären Herausbildung des modernen Gesellschaftssystems unterscheidet Parsons explizit zwischen dem Christentum als kulturellem System und dem „institutionellen Erbe Roms“ als sozialem System70, wobei die Kultur das Handlungssystem vor allem mit Werten versorgt, die Gesellschaft dagegen Normen vermittelt. Es ist nicht schwer zu sehen, dass sich in diesem vorgeblich allgemeinen Gesellschaftsmodell vor allem die aus einer historisch einzigartigen Verbindung zwischen der Dogmatik religiös verankerter „Werte“ und dem als „Wettbewerb“ betriebenen Streben nach materiellem „Erfolg“ resultierende Eigenart der nordamerikanischen Kultur ausdrückt.71 Anhand dieser kursorischen Betrachtung einschlägiger soziologischer Theorieschulen wird bereits deutlich, wie die allgemeine gesellschaftstheoretische Unterscheidung zwischen materiell-institutionellen und geistig-kulturellen Aspekten mit zeitdiagnostischen Befunden korrespondiert, welche einerseits ihren kritischem Blick auf Funktion und Folgen bürokratischer Organisation richten und sich andererseits mit der möglichen ideo-

68 Robert Merton: Sozialstruktur und Anomie, In: ders.: Soziologische Theorie und soziale Struktur, Berlin 1995, S. 127-154, hier S. 130. 69 Ebd., S. 129. 70 Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften, München 1972, S. 43-67. 71 Tanja Kohlpoth: Gesellschaftsbild und Soziologische Theorie. Talcott Parsons’ Funktionalismus im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung der USA in den 1950er und 1960er Jahren, Kassel 2006. 211

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logischen bzw. korrektiven Rolle einer bürgerlichen, massenmedialen oder zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit auseinandersetzen. Beide Gegensätze durchziehen in mannigfachen Spielarten und terminologischen Varianten die unterschiedlichsten sozialtheoretischen Ansätze. Sie scheinen bereits im Hegelschen Konzept der Sittlichkeit72 in Form der Gegenüberstellung von Staat (=Organisation?) und bürgerlicher Gesellschaft (=Öffentlichkeit?) auf – die Familie sei dabei wiederum ausgenommen –, und prägen noch die politisch-philosophischen Debatten über das angemessene Verhältnis zwischen staatlicher Steuerung und marktbasierter Selbstregulierung. Um die Problematik einer gesellschaftstheoretischen Synthese von mechanistischem und organizistischem Paradigma auf dem Stand aktueller Theorieentwicklungen noch einmal aufzugreifen, widmen sich die abschließenden Überlegungen der Frage, inwieweit die vertretene Auffassung von Organisation und Öffentlichkeit als gesellschaftlichen Mechanismen mit dem Konzept der funktionalen Differenzierung und den Begriffen der luhmannschen Systemtheorie im Allgemeinen zu vereinbaren ist.

Begriffliche Präzisierungen In der luhmannschen Soziologie spielen weder „Kultur“ noch „Institutionen“ eine Rolle, zumindest nicht in begrifflicher Hinsicht. Die zentralen Konzepte der Systemtheorie heißen stattdessen „Sinn“, „Autopoiesis“, „Kommunikation“, „funktionale Differenzierung“, „Code“ und „Kommunikationsmedium“. Hält man sich dies vor Augen, so scheint es, als könne auch organisationstheoretischen und öffentlichkeitssoziologischen Aspekten keine große Bedeutung zukommen. Andererseits erweist sich die Systemtheorie in ihrer Fähigkeit zur Adaption von Fragen aller Art als außerordentlich flexibel. So wird auch das Thema „Organisation“, dem sich bereits Luhmanns erstes soziologisches Werk „Funktion und Folgen formaler Organisation“ widmet, insbesondere in den Funktionssystembüchern – die zum Teil explizite Organisationskapitel enthalten – mehrfach aufgegriffen und steht noch im Mittelpunkt des posthumen Werks „Organisation und Entscheidung“.73 Ebenso 72 Georg W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Stuttgart 1981, S. 289-501. 73 Vgl. Niklas Luhmann: Funktion und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964; ders.: Organisation, in: Willi Küpper/Günther Ortmann (Hrsg.), Mikropolitik: Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen, Opladen 1988, S. 165-185; ders.: Organisation und Entscheidung, Opladen 2000. 212

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befasst sich Luhmann wiederholt mit dem Thema „Öffentlichkeit“, wobei anfangs vor allem Fragen der politischen Meinungsbildung und zur Funktionsweise der modernen Massenmedien im Mittelpunkt stehen, während sich später auch weiterreichende Überlegungen zur Beobachtung zweiter Ordnung in Funktionssystemen wie Wirtschaft, Wissenschaft oder Kunst finden.74 Die werkgeschichtliche Relevanz beider Themen sagt noch nicht viel über deren gesellschaftstheoretische Bedeutung aus. Anhand einer kurzen Rekapitulation der systemtheoretischen Begriffsfassungen, die sich weitestgehend mit den oben entwickelten Formulierungen decken, lässt sich indessen der zentrale Stellenwert beider Mechanismen unmittelbar ableiten.75 Organisationen operieren über die Verknüpfung von Entscheidungen, so sieht es nicht nur die Systemtheorie.76 Selbst die Mitglieder der Organisation binden sich typischerweise kraft einer Beitrittsentscheidung an das organisationsinterne Reglement, das sich ganz abstrakt als Kombination aus Stellenstrukturen, Entscheidungshierarchien und Entscheidungsprogrammen beschreiben lässt. In der Form von institutionalisierten Entscheidungsprämissen kann das System sich von Umweltkomplexität entlasten und Unsicherheit absorbieren.77 Offenbar gestattet der Mechanismus organisatorischer Entscheidungsverknüpfung die Entstehung relativ stabiler Organisationspopulationen und vielfach verschachtelter organisatorischer Netzwerke, die gleichsam als Trägerstruktur gesellschaftlicher Funktionssysteme fungieren können.78 In dem Maße, in dem sie sich als eigenständige Akteure verstehen, als juristische Personen firmieren bzw. interaktive

74 Vgl. Niklas Luhmann: Öffentliche Meinung, in: ders.: Politische Planung, Opladen 1971, S. 9-34; ders.: Die Beobachtung der Beobachter im politischen System. Zur Theorie der öffentlichen Meinung, in: Jürgen Wilke (Hg.): Öffentliche Meinung. Theorie, Methoden, Befunde. Beiträge zu Ehren von Elisabeth Noelle-Neumann, Freiburg 1992, S. 77-86; N. Luhmann, Die Realität der Massenmedien, S. 183-189; ders.: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 274-318. 75 Zum Verhältnis des systemtheoretischen Organisationsbegriffs zu klassischen Konzepten der Organisationstheorie vgl. die ausführlichere Analyse in Michael Beetz: Organisation und Gesellschaft, Hamburg 2003. 76 Vgl. N. Luhmann, Organisation und Entscheidung. 77 Vgl. Veronika Tacke: Das Risiko der Unsicherheitsabsorption. Ein Vergleich konstruktivistischer Beobachtungsweisen des BSE-Risikos, in: Zeitschrift für Soziologie 29, 2000, S. 83-102. 78 Vgl. Veronika Tacke (Hg.): Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, Opladen 2001. Georg Kneer: Organisation und Gesellschaft. Zum ungeklärten Verhältnis von Organisation- und Funktionssystemen in Luhmanns Theorie sozialer Systeme, in: Zeitschrift für Soziologie 30, 2001, S. 407-428. 213

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Binnenräume konstituieren, lassen sich Organisationen überdies selbst als System beobachten.79 Der gesellschaftliche Ort solcher formaler „AbTeilungen“ bleibt dann allerdings unterbestimmt. Im Vergleich zu Organisationen, in deren Entscheidungsketten sich Sinnstrukturen gewissermaßen auskondensieren können (bspw. in der Form von Programmen und Projekten), erscheint Öffentlichkeit zunächst als eine empirisch schwer erfassbare Kategorie. Sie stellt ein Prinzip der generalisierten Umweltbeobachtung dar80, durch das ein System im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung operiert. Über Konstruktionen wie „Markt“ oder „öffentliche Meinung“ können Beobachtungsschemata systemweit abgeglichen werden, indem jeder Beobachter beobachtet, wie die Öffentlichkeit die gemeinsame Umwelt beobachtet und wie er selbst wahrgenommen wird. So weiß man (=jeder einzelne), was man (=die allgemeine Öffentlichkeit) weiß, d.h. welche Themen und Thesen, Produkte und Preise, Werte und Wähler gerade relevant sind. Ein gesellschaftliches Funktionssystem kann durch die Beobachtungen der Öffentlichkeit gewissermaßen sein „Gedächtnis“ aktualisieren, indem es seine Heterogenität auf ein gewisses, gerade erträgliches Maß begrenzt.81 Betrachtet man Organisation und Öffentlichkeit in dieser Weise als gesellschaftliche Mechanismen, so lassen sich unmittelbare Konsequenzen für jene Systeme ableiten, die auf Grundlage dieser Mechanismen operieren. Sowohl Organisation als auch Öffentlichkeit können auf der einen Seite grundsätzlich einen systemstabilisierenden Effekt nach sich ziehen, beide eröffnen aber auch Flexibilitätschancen, denn Entscheidungen wie Beobachtungen sind kontingent. Organisationsstrukturen lassen sich durch Entscheidungen („Reformen“) ändern, und auch „die Öffentlichkeit“ kann

79 Vgl. Dirk Baecker: Organisation als System, Frankfurt a.M. 1999. 80 Vgl. Dirk Baecker: Oszillierende Öffentlichkeit; in: Rudolf Maresch (Hg.): Medien und Öffentlichkeit. Positionierungen, Symptome, Simulationsbrüche, München 1996, S. 89-107; Kai-Uwe Hellmann: Integration durch Öffentlichkeit. Zur Selbstbeobachtung der modernen Gesellschaft, in: Berliner Journal für Soziologie 7, 1997, S. 37-59. 81 Die durch die Massenmedien repräsentierte „Öffentlichkeit“ wird von Systemtheoretikern häufig selbst als gesellschaftliches Funktionssystem aufgefasst, was die Gefahr mit sich bringt, dass wichtige soziologische Aspekte des Themas Öffentlichkeit ausgeblendet werden. Vgl. Frank Marcinkowski: Publizistik als autopoietisches System, Opladen 1993; N. Luhmann, Die Realität der Massenmedien; Jürgen Gerhards/Friedhelm Neidhardt: Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. Fragestellungen und Ansätze, in: Stefan Müller-Doohm/Klaus Neumann-Braun (Hg.): Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation. Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie, Oldenburg 1991, S. 31-89. Hierzu vgl. Michael Beetz: Die Rationalität der Öffentlichkeit, Konstanz 2005, S. 40ff. 214

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ihre Ansichten, ihre Meinungen, ihre Bedürfnisse anhand der Beobachtung neuer Sichtweisen („Moden“) wechseln. Organisation und Öffentlichkeit garantieren der Gesellschaft somit einen operativen Spielraum dynamischer Stabilität, mit einem Wort: Sie ermöglichen gesellschaftliche Koordination. Diese koordinativen Eigenschaften resultieren aus einem, beiden Mechanismen eigenen reflexiven Moment. Auf der einen Seite verknüpft der Mechanismus formaler Organisation Entscheidungen mit Entscheidungen, auf der anderen Seite sorgt der Mechanismus der Öffentlichkeit für eine Orientierung von Beobachtungen an Beobachtungen. Während Öffentlichkeiten also aus einer spezifischen Form der Beobachtung zweiter Ordnung emergieren, lassen Organisationen sich als Strukturen der Entscheidung zweiter Ordnung verstehen. Die Anschlussfähigkeit einer Beobachtung für weitere Beobachtungen bemisst sich dabei an der (kommunikativen wie psychischen) Evidenz der verwendeten kognitiven Schemata: Nur was kategorial plausibel erscheint, kann überhaupt verstanden werden, alles andere wird ausgeblendet.82 Die operative Anschlussfähigkeit bezüglich der rekursiven Verknüpfung von Entscheidungen wird dagegen in der Form von Sachzwängen hergestellt, die sich in der Regel bereits aus dem Status quo ergeben: Die Aufgabe der Systemerhaltung konstituiert einen permanenten Handlungsbedarf, durch den das System in der Regel vollständig ausgelastet ist.83 Beobachtungen wie Entscheidungen – so lässt sich im Anschluss an die im letzten Abschnitt vorgetragenen Überlegungen hinzufügen – verketten sich dabei jeweils derart miteinander, dass sich strukturelle Spielräume für die Genese evolutionärer Eigendynamiken kultureller bzw. institutioneller Art ergeben. Grundsätzlich sollte aus systemtheoretischer Sicht daher einiges dafür sprechen, erstens auf einen generalisierten Begriff von Organisation zurückzugreifen, um das Prinzip formaler Organisation in seiner Bedeutung für die moderne Gesellschaft erfassen zu können84; zweitens einen genera82 Ein Beispiel hierfür ist die selektive Wahrnehmung beim Lesen eines Textes. Die Aufmerksamkeit wird allein durch Wiedererkennungseffekte gefesselt und versucht deshalb permanent, in vertraute Gefilde abzuschweifen. 83 Die etablierten „Machtstrukturen“ schotten sich auf diese Weise wirkungsvoll gegen Innovationen, störende Kreativität und kritische Initiativen ab: Je mehr Stress die Mitarbeiter erfahren, desto bereitwilliger fügen sie sich der „Systemlogik“ des formalen Routinebetriebs. 84 Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft und ihre Organisationen, in: HansUlrich Derlien/Uta Gerhardt/Fritz Scharpf (Hg.): Systemrationalität und Partialinteresse. Festschrift für Renate Mayntz, Baden-Baden 1994, S. 189-201. 215

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lisierten Begriff der Öffentlichkeit zu bilden, um zu untersuchen, welche Koordinationseffekte für die moderne Gesellschaft und ihre Teilbereiche aus einem sich etablierenden Modus der Selbstbeobachtung im Spiegel der Öffentlichkeit resultieren85 und drittens beide Koordinationsmechanismen miteinander zu vergleichen und damit begrifflich noch einmal gegenseitig zu schärfen, indem man sie als komplementäre Prinzipien betrachtet.86 Das luhmannsche Erbe beinhaltet diesbezüglich einige vielversprechende Gedankenlinien, die allerdings bisher nur fragmentarisch miteinander verknüpft werden. Die folgenden Spezifikationen bedienen sich bereits des hier in Aussicht stehenden theoretischen Repertoires und dienen zugleich einer systematischen Skizzierung der betreffenden Potentiale. Die Frage, in welchem Verhältnis Organisation und Öffentlichkeit zu den gesellschaftlichen Funktionssystemen stehen, lässt sich vergleichsweise einfach beantworten. Ganz grob gesehen zeigt sich sofort, dass die gesellschaftsweite Koordination über Organisation und Öffentlichkeit eine interne Affinität zum Muster funktionaler Differenzierung aufweist.87 So bilden sich funktionssystemeigene Organisationstypen88, die vorzugsweise intern miteinander interagieren: Unternehmen haben es primär mit anderen Unternehmen, Parteien mit anderen Parteien usw. zu tun. Darüber hinaus bilden sich auch spezifische Öffentlichkeiten, so die rein ökonomische Einrichtung des „Marktes“ oder die spezielle politische Konstruktion der „öffentlichen Meinung“, die ausschließlich der funktionssystemischen Koordination dienen. Bis hierher werden die wesentlichen Unterschiede zwischen beiden Mechanismen allerdings noch nicht deutlich. Erste Hinweise auf ein komplementäres Verhältnis von Organisation und Öffentlichkeit lassen sich anhand einer differenzierungstheoretischen Verortung entlang des funktionssysteminternen Musters von Zentrum und Peripherie herausstellen. Wie bereits ohne größere theoretische Reflexionen offenbar wird, werden die operativen Zentren der einzelnen Funktionssysteme jeweils durch besondere Organisationen markiert. Die funktionalen Schaltzentralen konzentrieren sich um institutio85 Vgl. N. Luhmann, Die Realität der Massenmedien, S. 183-189; N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 284-298. 86 Vgl. O. Williamson, Markets and Hierarchies. 87 Für den Fall politischer Koordination vgl. Michael Beetz: Organisation und Öffentlichkeit als Mechanismen politischer Koordination, in: Harald Bluhm/Karsten Fischer/Kai-Uwe Hellmann (Hg.): Das System der Politik. Niklas Luhmanns politische Theorie, Wiesbaden 2003, S. 108-120. 88 Dazu differenzierter Veronika Tacke: Funktionale Differenzierung als Schema der Beobachtung von Organisationen. Zum theoretischen Problem und empirischen Wert von Organisationstypologien, in: dies. (Hg.): Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, Opladen 2001, S. 141-169. 216

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nelle Zentren wie Regierungen, Banken oder Kirchen herum, die gleichsam als fokussierende Knotenpunkte für die professionelle Bündelung funktionssystemischer Problembezüge fungieren. Die zugehörigen Öffentlichkeiten leisten dagegen einer Reintegration der Systemperipherie Vorschub, indem sie die resultierenden funktionssystemischen Sinnmuster mit den gesellschaftlichen Ansprüchen des Publikums vermitteln. Ob Kunstwerke, Warenangebote oder politische Leitideen – ohne Öffentlichkeit würden die kommunikativen Konstrukte der Funktionssysteme ihre gesellschaftliche Wirksamkeit weitgehend einbüßen.89 Um diesen funktionalen Aspekten weiter nachzugehen, seien zunächst die Wirkungsprinzipien beider Mechanismen noch einmal gegenübergestellt. Während das Prinzip der Organisation in der Verdichtung gesellschaftlichen Sinns zu Entscheidungen besteht und somit deren koordinativer Effekt in der Disziplinierung von Handlungszusammenhängen liegt, dient Öffentlichkeit dem kollektiven Abgleich kognitiver Schemata und ermöglicht somit eine Homogenisierung der individuellen Beobachtungsweisen. Organisation wurde daher oben als institutioneller, Öffentlichkeit als kultureller Mechanismus beschrieben. Bezogen auf gesellschaftliche Funktionssysteme bedeutet dies, dass Institutionen als Formen der routinemäßigen Zuweisung von funktionsspezifischen Sinnselektionen im Kontext praktischer Entscheidungssituationen zu verstehen wären. Kulturen könnten hingegen als hegemoniale Muster der kognitiven Aktualisierung funktionssystemischer Unterscheidungen begriffen werden. Die systemtheoretischen Spezialbegriffe für die „anwendungsorientierte“ Handhabung funktionssystemischer Codes bzw. die Reaktualisierung systemspezifischer Erwartungsstrukturen sind indessen die des „Programms“ bzw. des „Gedächtnisses“. Somit lässt sich die nun in der Theoriesprache der Systemtheorie formulierbare Hypothese ableiten, dass der im Medium von Entscheidungsstrukturen operierende Mechanismus der Organisation dem Funktionssystem zur Fixierung seiner Programme verhilft90, während der sich im Medium von Ideensemantiken manifestierende Mechanismus der Öffentlichkeit für das Funktionssystem die strukturelle Grundlage für ein systemspezifisches Gedächtnis abgibt.91

89 Dieser Unterschied lässt sich unter Bezug auf die einzelnen Funktionen der verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme genauer ausarbeiten. Vgl. M. Beetz, Die Rationalität der Öffentlichkeit, S. 105-118. 90 Niklas Luhmann: Institutionalisierung. Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft, in: Helmut Schelsky (Hg.): Zur Theorie der Institution, Düsseldorf 1970, S. 27-41. 91 Vgl. zur „öffentlichen Meinung“ als „Gedächtnis der Politik“ N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 300. 217

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Beide Mechanismen berühren dabei einen Modus, in welchem das System Bezug zu sich selbst herstellt, und eröffnen somit spezifische Formen der Selbstreferenz. Unter der Voraussetzung eines am Begriff des Sinns orientierten Gesellschaftsverständnisses lassen sich Handlungen als komplexitätsreduzierende Konstruktionen begreifen, die auf akteursbezogenen Entscheidungszuschreibungen basieren. Vermittels Organisation können Systeme ihren Zustand verbindlich anhand der aktuellen Entscheidungslage definieren, ohne jeweils die komplexen Hintergründe vergangener Entscheidungen rekonstruieren zu müssen. Hochreflexive Sinnzusammenhänge wissenschaftlicher, künstlerischer oder politischer Art lassen sich so in konkrete Tagesordnungen übersetzen, wobei die praktischen Prioritäten ganz pragmatisch direkt aus organisatorischen Relevanzen abgeleitet werden.92 Aus den resultierenden Programmen gewinnen Funktionssysteme die zur Aufrechterhaltung ihrer Tagesgeschäfte erforderliche Sicherheit. Damit das System sich als Gesamtheit reflektieren kann, bedarf es dagegen des Spiegels der Öffentlichkeit. In der wechselseitigen Beobachtung der als öffentlich etablierten Beobachtungsschemata manifestiert sich eine generalisierte Form der Beobachtung, in welcher die systeminterne Umwelt als Einheit beobachtet wird.93 Was als Konsens gilt, Usus ist, zum klassischen Kanon zählt, kann kommunikativ als gegeben behandelt werden, einfach weil es sich gleichsam innerhalb der Kommunikation „gehört“. Die Gesellschaft oder ein gesellschaftlicher Teilbereich beobachtet sich auf diese Weise selbst, konstruiert seine Identität und konstituiert sich als autonomer Sinnverweisungszusammenhang (sei dieser nun System, sei er Lebenspraxis oder Diskurs genannt). Organisation und Öffentlichkeit dienen nicht nur der internen Koordination sozialer Praxis, sie kanalisieren auch die Umweltverhältnisse sozialer Systeme. Über das Konstrukt „Öffentlichkeit“ beobachten Systeme auf selektive, komplexitätsreduzierte Weise, wie sie von ihrer gesellschaftlichen Umwelt ihrerseits pauschalisierend-selektiv beobachtet werden. Die Politik orientiert sich dabei bspw. an der „öffentlichen Meinung“, die Wirtschaft am „Markt“, und ohne dass dies die „wirklichen“ Meinungen und Bedürfnisse der Bürger und Konsumenten deshalb adäquat widerspie-

92 Problemfassungen können dann unhinterfragt übernommen werden. So kann die Politik bspw. komplexe kulturelle Sachverhalte anhand von Beschlusslagen und Resolutionen unter operativ anschlussfähige Kategorien wie Waffeninspektionen, Ökosteuer oder Kindergeld bringen. 93 Vgl. zur diesbezüglichen Unterscheidung zwischen öffentlicher Meinung als Spektrum und Arena öffentlicher Meinungsäußerungen und der öffentlichen Meinung als generalisierter Zuschreibung auf das Publikum als Ganzes F. Tönnies, Kritik der öffentlichen Meinung, S. 131-189. 218

ORGANISATION UND ÖFFENTLICHKEIT

geln muss: Es funktioniert. Um ein Beispiel für die andere Richtung zu nennen: Auch wenn intern kaum Einigkeit herrscht, wird Wissenschaft aus Sicht externer Gesellschaftsbereiche primär anhand des „Forschungsstandes“ beobachtet, namentlich wenn es um die Vermarktung von Technik und entsprechende Investitionen in die Entwicklung geht. Wissenschaftler sind dann gehalten, prestigeträchtige Durchbrüche zu suggerieren, etwa im Zusammenhang mit gentechnischen Klonversuchen oder im Bereich von Kernfusionsexperimenten. Aber auch über die auf organisatorischer Ebene eingerichteten strukturellen Kopplungen kann die Komplexität der Gesellschaft selektiv in ein praktikables Umweltverhältnis überführt werden, ohne dass es dazu einer Konstruktion von Öffentlichkeit bedarf.94 Organisationsinterne Entscheidungen sind von Haus aus bereits auf die polykontexturalen Anforderungen der Gesellschaft hin eingestellt. Sie müssen in der Regel finanziell gedeckt sein, sollten keine illegalen Konsequenzen haben, dürfen nicht in eklatantem Widerspruch zu vorhandenem Wissen stehen usw. Darüber hinaus können bspw. Finanz-, Rechts- oder Entwicklungsabteilungen zur Koordination der ökonomischen, juristischen bzw. wissenschaftlichen Belange einer Organisation dienen und so organisationsintern einen Freiraum für die Entfaltung funktionssystemischer Sinnlogiken – sei es politischer, wissenschaftlicher oder künstlerischer Natur – schaffen. Diese knappen Überlegungen machen bereits deutlich, in welcher Weise das vorgestellte Konzept gesellschaftlicher Mechanismen mit der Theorie funktionaler Differenzierung zu vereinbaren wäre: Beide Mechanismen lassen sich im Hinblick auf ihren funktionssysteminternen Koordinationseffekt sowie in Bezug auf die Ausgestaltung der intersystemischen Beziehungen untersuchen und dienen dabei der Präzisierung des gesellschaftstheoretischen Gesamtmodells. Aber nicht nur das. Das Paradigma des Mechanismus sollte ja insbesondere den Zusammenhang von individueller Autonomie einerseits und der Wirklichkeit gesellschaftlicher Strukturen andererseits erklären. Aus systemtheoretischer Sicht berührt dies die Themen der Inklusion und der Interpenetration. Über beide Mechanismen stellt die Gesellschaft einen Bezug zu ihrer menschlichen Umwelt her. Im Falle formaler Organisation wird dies über den Status der Mitgliedschaft geregelt, die insbesondere die gesellschaftliche Akquirierung professionellen Personals ermöglicht. Der Zugriff auf die zentralen Leistungen der Funktionssysteme erfolgt dagegen über spezifische Laienrollen (Kunde, Klient, Bürger, Patient usw.). Darüber hinaus beinhaltet die formale Durchorganisation weiter Teile der gesellschaftlichen Praxis Konsequenzen für die lebenspraktische Orientierung der Indi94 M. Beetz, Organisation und Gesellschaft, S. 74ff. 219

GESELLSCHAFTSTHEORIE ZWISCHEN AUTOLOGIE UND ONTOLOGIE

viduen. Vor diesem Hintergrund kann der sozialisatorische Effekt des Erziehungssystems vor allem als Vorbereitung zum Leben in Organisationen interpretiert werden.95 Weil das Individuum im Bannkreis des Mechanismus formaler Organisation vor die Entscheidung gestellt wird, sich entweder den Imperativen der bürokratischen Logik zu unterwerfen oder deren verlockende Verheißungen – inklusive des damit verbundenen sozialen Status, der biographischen Orientierungsperspektiven und nicht zuletzt der partiellen Partizipationschancen – entbehren zu müssen, ist nicht schwer einzusehen, warum wir uns in der Regel dem Schicksal eines Lebens in jenen institutionellen Gehäusen fügen. Im Falle der Öffentlichkeit vollzieht sich die Inklusion der Individuen über die Form des Publikums. Die Gesellschaft kann so beobachten, was an der „Basis“ vor sich geht, ohne sich im einzelnen mit den (kommunizierten) Gedanken individueller Beobachter auseinandersetzen zu müssen. Darüber hinaus regelt die Öffentlichkeit den selektiven Zugriff auf prominente Personen. Diese können als Träger von Sinnzuschreibungen benutzt werden und mithin bspw. als öffentliche Symbole für theoretische Argumente (Wissenschaft), Marken (Wirtschaft) oder Macht (Politik) fungieren. Die Vermittlung wissenschaftlichen Wissens (Sachbücher), politischer Bildung (Nachrichten), ökonomischer Produktimages (Werbung), Kunst und Kultur (Unterhaltung) erfolgt in der Moderne weitestgehend über eine massenmediale Öffentlichkeit96, welche die Aufmerksamkeit der milliar-

95 Niklas Luhmann: Gesellschaftliche Organisation, in: Thomas Ellwein/ Hans-Hermann Groothoff/Hans Rauschenberg/Heinrich Roth (Hg.): Erziehungswissenschaftliches Handbuch, Bd. 1, Berlin 1969, S. 387-407, insbesondere S. 404. Der Lehrer fungiert in diesem Zusammenhang gleichsam als Repräsentant der Gesellschaft. In seiner Person wird die Schülerschaft in einem umfassenderen Sinne mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt konfrontiert, als dies etwa die Familie vermag. Psychoanalytisch gesehen verkörpert er somit das Über-Ich, was im Übrigen erklären könnte, warum Schule und Universität ein bevorzugter Ort für „Amokläufe“ werden. Neben dem Effekt einer mit den formalen Routinen der „verwalteten Welt“ kompatiblem „geistigen Disziplinierung“ dient das Bildungssystem selbstverständlich als „Einstiegsinstitution“, indem es anhand der Vermittlung von Zertifikaten und rollenspezifischen Fertigkeiten institutionelle Karrierewege kanalisiert. 96 Dass die Träger dieser massenmedialen Öffentlichkeit vielfach selbst formale Organisationen (Druckereien, Verlage, Sender, Anbieter von Internetdiensten usw.) sind, ist in diesem Zusammenhang zunächst nur ein technisches Problem. Für die Leser von Büchern, die Hörer von Nachrichten oder die Nutzer einer Internetplattform ist es im Prinzip unerheblich, ob die entsprechenden Medien von einer Privatperson, einer Universität, der Kirche oder einem Unternehmen bereitgestellt werden. Erst in dem Maße, in dem sich hieraus eklatante Selektionseffekte erklären, wird dies 220

ORGANISATION UND ÖFFENTLICHKEIT

denfachen Monaden individueller Bewusstseinsprozesse auf sich ziehen muss, um den Transport funktionssystemischer „Informationen“ in Wohnzimmer, Gehirne und Lebenswelten zu gewährleisten. Da jedes Individuum bereits früh die Beobachtung macht, dass es angesichts der Konfrontation mit einer komplexen Welt oft hilfreich ist, sich von anderen etwas abzuschauen, wird es kaum wundern, wenn wir unsere Weltsicht permanent wie selbstverständlich mit jener generellen unseres kulturellen Milieus abgleichen. Dies ermöglicht es unter anderem, Anschluss an eine gemeinsame soziale Praxis zu finden und die eigene Selbstwahrnehmung souveräner zu justieren. Auf der anderen Seite steht dann nur die bittere Erfahrung, dass man mit individuellen Kontemplationen nicht weit kommt, notorisch unverstanden bleibt und unlösbare Identitätskrisen provoziert. Der Mechanismus der Öffentlichkeit koordiniert mithin die Interpenetration von sozialem und psychischem Sinn. Die Interpenetration von institutionellen Strukturen und menschlichem Verhalten wird dagegen durch den Mechanismus der Organisation geregelt. Tabelle 5 fasst die aufgewiesenen Möglichkeiten einer konzeptionellen Integration von Organisation und Öffentlichkeit als Mechanismen gesellschaftlicher Koordination in das systemtheoretische Begriffsdesign noch einmal abschließend zusammen. Bisher noch weitestgehend offen geblieben ist die Frage nach der Ausschließlichkeit beider Mechanismen und deren Stellenwert im Verhältnis von moderner Gesellschaft zu vormodernen Gesellschaftsformen. Folgt man der argumentativen Logik der vorgetragenen Überlegungen, so kann es aufgrund der kategorialen Ausschließlichkeit der Unterscheidung von Geist und Materie bzw. von Kultur und Institution nur zwei gesellschaftliche Mechanismen im hier verstandenen, reflexiven Sinne geben, nämlich Organisation und Öffentlichkeit. Sonstige vermeintliche Mechanismen gesellschaftlicher Koordination wie etwa Rechtsnormen, Moral, Erziehungsinstitutionen oder auch Kriege müssten sich also im Rahmen des gesellschaftstheoretischen Programms entweder „organisch“ als Moment funktionaler Differenzierung deuten lassen (und was hieße das dann?) oder aber als spezifische Form von Organisation oder Öffentlichkeit erklärt werden können.97 Dass funktionale Differenziefür die Bewertung der rezipierten Beobachtungen relevant, indem diese dann entsprechenden Teilöffentlichkeiten zugeschrieben werden können. 97 Daneben bleiben freilich auch Varianten gesellschaftlicher Koordination möglich, die nicht im hier vorgetragenen theoretischen Sinne als reflexive Mechanismen gelten können, denn im Einzelfall sind natürlich immer ganz spezifische Koordinationslösungen denkbar. 221

GESELLSCHAFTSTHEORIE ZWISCHEN AUTOLOGIE UND ONTOLOGIE

rung selbst kein Mechanismus sein kann, ergibt sich unmittelbar aus den begrifflichen Implikationen. Wie verhält es sich aber bspw. mit den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, die ja schließlich kommunikative Sinnselektionen kanalisieren und sich darüber hinaus auf reflexive Weise über die sich in ihnen manifestierenden Formen reproduzieren? Fragen dieser Art werden sich hier nicht kurzerhand ausräumen lassen, betreffen jedoch allein die theorieinterne terminologische Feinabstimmung. Denn wo immer Geld, Macht oder Recht gesellschaftlich koordinierende Effekte haben, gibt es unverkennbar auch Organisation und Öffentlichkeit. Ein schwerwiegenderes Problem resultiert aus der zeitdiagnostischen Selektivität, zu der die soziologische Gesellschaftstheorie in ihren verschiedensten Inkarnationsformen grundsätzlich tendiert. Das „organische“ Konzept funktionaler Differenzierung, wie auch die Mechanismen der formalen Organisation und der Öffentlichkeit sind ja spezifische Erscheinungsformen der modernen Gesellschaft, die sich – so die hier vertretene These – in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis konstituieren. Es stellt sich daher die Frage, auf welche Weise vormoderne – und gegebenenfalls: postmoderne – Gesellschaften Probleme der kulturellen bzw. institutionellen Koordination regeln können. Hierbei wäre bspw. an eine Analyse nach dem Muster von Parsons’ Konzept der „evolutionären Universalien“ zu denken.98 In institutioneller Hinsicht könnte vor allem die soziale Errungenschaft über (reale oder fiktive) Blutsbande konstituierter Sippschaften, aus denen sich gegebenenfalls Machtkartelle oder später die Adelsschichten stratifizierter Gesellschaften entwickelten, als evolutionärer Vorläufer formaler Organisation angesehen werden.99 Selbstverständlich wären in diesem Zusammenhang auch die weberschen Typen der traditionalen und der charismatischen Herrschaft zu berücksichtigen. Als elementare Form kultureller Koordination kann dagegen die Sprache gelten. Durch die evolutionäre Etablierung der Schrift werden deren Potentiale sowohl zeitlich und räumlich als auch in kognitiver Hinsicht in beträchtlicher Weise erweitert. Die Kultur tritt über die Schrift gleichsam in ein Verhältnis der reflexiven 98 Talcott Parsons: Evolutionäre Universalien der Gesellschaft, in: Wolfgang Zapf (Hg.): Theorien des sozialen Wandels. Köln/Berlin 1969, S. 55-74. In der Tat lassen sich die zehn von Parsons diskutierten Universalien ziemlich eindeutig in fünf institutionelle (Technologie, Verwandtschaftsordnung, soziale Schichtung, Bürokratie, demokratische Assoziation) und fünf kulturelle Mechanismen (Religion, Sprache, kulturelle Legitimierung, Geld/Markt, universalistische Normen) einteilen. 99 Vgl. Hannes Wimmer: Zur Bedeutung politischer Macht in der Evolution von Gesellschaften, in: Renate Martinsen (Hg.): Das Auge der Wissenschaft. Zur Emergenz von Realität, Baden-Baden 1995, S. 13-55. 222

ORGANISATION UND ÖFFENTLICHKEIT

Distanz zu sich selbst. Erst die technischen Erfindungen des Buchdrucks, der Telekommunikation und der elektronischen Medien bereiten schließlich der Entstehung einer massenmedialen Weltöffentlichkeit den Boden, welche heute vor allem von der Bedeutung des Bildes lebt. Die Wurzel beider Stränge – des kulturellen wie des institutionellen – ist gewissermaßen die Familie. In ihr vereinigen sich sozialisatorische Funktionen der geistigen Entwicklung mit Effekten der körperlichen Disziplinierung. Die Familie ist in diesem Sinne schlechthin die Keimzelle von Gesellschaft überhaupt. Dies zeigt aber bereits auch, dass in der Moderne neben Organisation und Öffentlichkeit auch andere, „archaische“ Strukturierungsprinzipien institutioneller und kultureller Art – zumindest rudimentär – erhalten bleiben, wie sich ja auch noch segmentäre und stratifikatorische Differenzierungsmuster auffinden lassen. Eine mögliche Lesart dieser Phänomene besteht darin, auf die Dominanz von funktionaler Differenzierung und gesellschaftlichen Mechanismen zu verweisen und einen Prozess der Zivilisierung solcher archaischer Elemente zu unterstellen. Dies betrifft insbesondere die sogenannten symbiotischen Mechanismen100 – etwa Sexualität, Wahrnehmung und physische Gewalt –, die der sozialen Handhabung der menschlichen Körperlichkeit dienen. Die moderne Gesellschaft bringt – so ein Argument Niklas Luhmanns – diese existenziellen Entäußerungsformen der Leiblichkeit zunehmend unter die Kontrolle formaler Organisation.101 Während Errungenschaften wie Sprache und Schrift, Sippe und Adel die strukturellen Möglichkeitsräume von Gesellschaft im Allgemeinen definieren, sind in der Moderne demzufolge die Mechanismen der Organisation und der Öffentlichkeit für die Koordination komplexer Sinn- und Handlungszusammenhänge unerlässlich. Als Prüfstein für diese These kann die Reaktion der Gesellschaft auf Katastrophen wie Erdbeben, Kriege oder Seuchen dienen. Die Dominanz der gesellschaftlichen Mechanismen lässt sich eindrücklich in der Logik der Katastrophenhilfe beobachten, und es ist dann eine zweitrangige Frage, ob zuerst der Mechanismus der öffentlichen Berichterstattung oder jener des organisatorischen „Katastrophenmanagements“ von der Katastrophe Besitz ergreift. Gerade an Krisenfällen lässt sich aber 100 Niklas Luhmann: Symbiotische Mechanismen, in: ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Opladen 1981, S. 228-244; N. Luhmann, Soziale Systeme, S. 337-341. 101 Vgl. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 382. Luhmann spricht hier inzwischen von symbiotischen Symbolen und integriert das Konzept der symbolischen Mechanismen damit in die Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. 223

GESELLSCHAFTSTHEORIE ZWISCHEN AUTOLOGIE UND ONTOLOGIE

auch beobachten, wie gesellschaftliche Strukturaggregate auf den Mesound Mikroebenen einer lokal situierten Lebenspraxis systematisch unterwandert und instrumentalisiert werden. Wo Krisen sind gibt es auch Erpressung, Veruntreuung, Schwarzmärkte und Vergewaltigungen. Diese Phänomene als moralisch verwerflichen Ausdruck des Chaos und der Dekadenz zu deuten, greift soziologisch zu kurz, da sich an ihnen auch elementare Mechanismen der Genese sozialer Ordnungsstrukturen beobachten lassen. In Schmugglerringen und Milizen, Slangs und fundamentalistischen Ideologien manifestieren sich exakt jene sozialen Muster, welche die größte Robustheit besitzen und die wenigsten sozialisatorischen Voraussetzungen stellen. Gleichzeitig zeigen sich hier die diffusen Grenzbereiche dessen, was im Kontext einer soziologischen Theorie als Gesellschaft bezeichnet werden kann. Etwas nüchterner betrachtet und aus dem Blickwinkel einer größeren theoretischen Distanz offenbart sich hierin nämlich auch, dass es neben Organisation und Öffentlichkeit viel basalere Mechanismen gibt, die auf einer niedrigeren sozialen Aggregationsebene Handlungszusammenhänge koordinieren oder dem Abgleich der Perspektiven dienen. Die im Kontext einer Interaktion eröffnete Situation der wechselseitigen Reziprozität zwischen den Interaktionspartnern erzwingt strukturell eine Übernahme der Perspektive des konkreten Anderen. Obwohl die Interaktion als Sozialsystem ihre Operationen unter den Bedingungen doppelter Kontingenz autopoietisch selbst erzeugt, sind kulturelle Effekte des wechselseitigen „Gedankenaustauschs“ kaum zu leugnen, wenn man diese Metapher nicht allzu wörtlich als theoretischen Begriff aufnimmt.102 Das institutionelle Äquivalent hierzu ist das Prinzip des sozialen Netzwerks, das es erlaubt, unter den involvierten Personen situationsübergreifende Verbindlichkeiten aufrechtzuerhalten, die der Kanalisierung von individuellen Verhaltensweisen in Richtung auf utilitaristische Nutzeneffekte dienen. Netzwerke stellen eine moderne Form der Sippschaft dar und können in der öffentlichen Wahrnehmung sowohl mit positiven als auch mit negativen Konnotationen versehen sein. Im positiven Sinne spricht man von Netzwerken als „Kreis“, als „Schule“ oder als „Bund“, pejorative Bezeichnungen sind dagegen „Klüngel“, „Kartell“ oder – die ostdeutsche Variante – „Seilschaft“. Da es sich hierbei um Fälle der direkten zwischenmenschlichen Interpenetration handelt, kann man die Prinzipien der Reziprozität und des Netzwerks als soziale – im Unterschied zu gesellschaftlichen – Mecha102 In diesem Zusammenhang wäre an die hochkomplexen Überlegungen der habermasschen Theorie des kommunikativen Handelns zu denken, wobei bereits der Begriff der Lebenswelt, stärker noch der Diskursbegriff auf die Generalisierungsleistungen einer Öffentlichkeit verweist. 224

ORGANISATION UND ÖFFENTLICHKEIT

nismen bezeichnen. Sichtbare gesellschaftliche Auswirkungen zeigen sich vor allem bei Netzwerken. Wenn es solchen Netzwerken gelingt, gesellschaftliche Teilbereiche zu monopolisieren oder in Felder eines wechselseitigen Konkurrenzkampfes umzudefinieren, prägen sie der gesellschaftlichen Praxis ihren Stempel auf, indem sie die eigendynamische Entfaltung gesellschaftlicher Sinnstrukturen blockieren, andererseits aber auch institutionell fixieren und damit stabilisieren.103 Das Pendant dazu wäre die ideologische Fragmentierung kultureller Sphären, insofern diese auf der reziproken Bestätigung einer eigenen Weltsicht im Unterschied zu den interaktiv nicht zugänglichen Anderen basiert.104 Die sich aus Situationen interaktiver Reziprozität ergebenden Verständigungschancen beinhalten auf der anderen Seite freilich auch emanzipatorische Potentiale des zwischenmenschlichen Austauschs über die komplexitätsreduzierten Verzerrungen des öffentlichen Weltbildes. Eine interessante Perspektive auf die sich in diesem Zusammenhang ergebenden theoretischen Anschlussfragen eröffnet sich hinsichtlich des Themas der Moderne als eines Rationalisierungsprozesses, wobei sich Indizien für eine partielle Konvergenz der unterschiedlichen soziologischen Rationalitätsbegriffe andeuten. Die empirische Wirkungsmacht institutioneller Mechanismen wäre dann vorzugsweise unter Gesichtspunkten einer (praktischen) Handlungsrationalität zu rekonstruieren, da sie die möglichen Verhaltensoptionen auf Entscheidungsalternativen zuspitzt und somit einer zweckrationalen Modellierung zugänglich macht. Die sinnlogische Kohärenz der solchen handlungspraktischen Aktionsfeldern zugrundeliegenden ideellen Regelsysteme gibt demgegenüber ein Kriterium ab, anhand dessen sich die (theoretische bzw. kommunikative) Rationalität kultureller Mechanismen ausdrückt.105 Bezieht man die Frage der Rationalität in systemtheoretischer Manier auf das Verhältnis von System und Umwelt106 (hier im Besonderen: auf das Verhältnis von Gesellschaftssystem und menschlicher Umwelt), so lässt sich der Grad des gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesses daran ablesen, inwieweit a) das erreichte insti103 Vgl. Petra Hiller: Korruption und Netzwerke. Konfusionen im Schema von Organisation und Gesellschaft, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, Bd. 26, H. 1, 2005, S. 57-77. 104 Vgl. Georg Simmel: Exkurs über den Fremden, in: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a.M., S. 764-771. Sofern sich diesem Zusammenhang milieuspezifische Teilöffentlichkeiten konstituieren, könnte man mit Bourdieu auch von „Distinktion“ sprechen. 105 Zur Frage der kulturellen Kohärenz des Wissens vgl. Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2002, S. 98. 106 Vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme, S. 638-646; N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 184-189. 225

GESELLSCHAFTSTHEORIE ZWISCHEN AUTOLOGIE UND ONTOLOGIE

tutionelle Arrangement als unter utilitaristischen Gesichtspunkten optimales Resultat individueller Handlungsentscheidungen von zweckrationalen Akteuren verstanden werden kann. Diese Gedankenlinie lässt sich durch den Ansatz des Rational Choice markieren. Andererseits kann b) das kulturelle Gesamtgefüge einer Gesellschaft unter dem Aspekt der lebensweltlichen Authentizität beurteilt werden, welche die partiellen, durch die einzelnen Teilsysteme der Gesellschaft vermittelten Ideologien der individuellen Identitätsformation noch auszuleben ermöglichen. Für diese Linie steht vor allem die Kritische Theorie. Der in beiden Richtungen dann weiter nachzugehenden Hypothese wäre, ob das durch die gesellschaftlichen Mechanismen der Organisation und der Öffentlichkeit erzeugte Potential an formaler Rationalität, das sich in der Möglichkeit einer reflexiven Handhabung von Entscheidungen bzw. der gesellschaftlichen Vereinheitlichung von Beobachtungen eröffnet, auch in praktischer Hinsicht den Rationalitätspotentialen alternativer Koordinationsmechanismen überlegen ist. Wer dem sich hier anbahnenden philosophischen Geschäft misstraut, wird sich mit der Feststellung begnügen müssen, dass eine allgemeine Gesellschaftstheorie im Angesicht all der kleinen Irrationalitäten der Praxis – den biologischen Trieben und psychischen Motivhaushalten, den fallspezifischen Strukturlogiken und generationenübergreifenden Problemgeschichten, den parasitären Nischen und bornierten Gesellschaftskritiken – aller speziellen Empirie einzelner soziologischer Forschungsobjekte nur in dem Maße gerecht werden kann, in dem ihre theoretischen Begriffe als grelle Kontrastfolie zur Erschließung der wirklichen sozialen Verhältnisse und real wirksamen Kategorien der Praxis taugen. Dies mag im Übrigen ein Zeichen dafür sein, dass es die Gesellschaft und damit die Soziologie in einem strengen, ontologischen Sinne nie gegeben hat und es sich bei beiden lediglich um eine dekonstruierbare kommunikative Suggestion handelt.

226

Publikum Kulturelle Kohärenz

Sachzwänge des Status quo

Entscheidungsstrukturen (Programm)

Selbstbezug anhand getroffener Entscheidungen Strukturelle Kopplungen auf organisatorischer Ebene Mitgliedschaft

Handlungsrationalität

Anschlussfähigkeit

Medium

Modus der Selbstreferenz

Bezug zu Individuen (Inklusion/Interpenetration) Rationalität

Umweltbezug

Reintegration der Peripherie

Markierung funktionaler Zentren

Affinität zu funktionaler Differenzierung Funktionsbezug

Interne Beobachtung der Einheit des Systems Generalisierte Beobachtung der Umwelt

Semantik (Gedächtnis)

Evidenz kognitiver Schemata

Homogenisierung über Abgleich kognitiver Schemata Funktionsspezifische Öffentlichkeiten

Verdichtung gesellschaftlichen Sinns hin zu Entscheidungen Funktionsspezifische Organisationstypen

Prinzip

Öffentlichkeit

Organisation

Mechanismus

Tabelle 5: Organisation und Öffentlichkeit als Mechanismen gesellschaftlicher Koordination

ORGANISATION UND ÖFFENTLICHKEIT

227

VII Z U R DER

G E S E L L S C H AF T L I C H E N

VERBINDLICHKEIT

SOZIOLOGIE

Nachdem das vorangegangene Kapitel mit seinen Überlegungen zu Organisation und Öffentlichkeit als Mechanismen gesellschaftlicher Koordination den Versuch eines substanziellen Beitrags zur „ontologischen“ Dimension des gesellschaftstheoretischen Programms darstellt, sollen die abschließenden Bemerkungen noch einmal die „autologische“ Frage nach dem Verhältnis von Soziologie und Gesellschaft aufgreifen, indem sie sich dem Thema der gesellschaftlichen Verbindlichkeit der Soziologie zuwenden. Nach Rücksprache mit Systemtheoretikern lässt sich feststellen: Sofern sich die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin bewährt, reproduziert sie sich innerhalb des Wissenschaftssystems als eigenständiger Sinnzusammenhang. Sie bildet mithin gleichzeitig eine operativ geschlossene Einheit, die sich selbst von ihrer Umwelt unterscheidet, und bleibt doch Teil des gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsgeschehens, denn Wissenschaft findet immer in der Gesellschaft statt.1 Etwas resignativ gelesen (aber man muss es nicht zwangsläufig so auslegen) heißt dies: Obgleich das Gerede der Soziologen nicht recht zu verstehen ist, bleibt jegliche soziologische „Wahrheit“ ohnehin bloß Ausdruck einer umfassenden gesellschaftlichen „Ideologie“. Das Verhältnis von Soziologie und Gesellschaft lässt sich vor dem Hintergrund der vorstehenden Analysen begrifflich jedoch noch etwas genauer bestimmen. Die beiden Optionen der Sozialtechnologie und der soziologischen Aufklärung waren oben (Kapitel III) als die im „autologi1

Vgl. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990. 229

GESELLSCHAFTSTHEORIE ZWISCHEN AUTOLOGIE UND ONTOLOGIE

schen“ Selbstverständnis der soziologischen Theorien auffindbaren Deutungen zur gesellschaftlichen Wirksamkeit der Soziologie rekonstruiert worden. Dieses Ergebnis kann nun mit den „ontologischen“ Erwägungen über gesellschaftliche Mechanismen (Kapitel VI) zusammengeführt werden. Wo Soziologie als Aufklärung wirken will, muss sie sich offenbar des Mechanismus der Öffentlichkeit bedienen; soll sie als Sozialtechnologie wirksam werden, so wird dies vor allem über Wege formaler Organisation erfolgen. Die autologische Dimension der Soziologie beschränkt sich jedoch nicht auf einen rein aktivisch-gestaltenden Bezug zur gesellschaftlichen Praxis. Organisatorisch (a) wie öffentlich (b) hat sich die Soziologie vielmehr zunächst einmal in einen vorgefundenen gesellschaftlichen Rahmen einzufügen. Zu a): Organisatorisch gesehen arrangiert sich die Disziplin als Teil eines umfassenden akademisch-universitären Wissenschaftsbetriebs, der wiederum in einem politisch-ökonomischen Spannungsfeld situiert ist, welches durch staatliche Fördermittel, externe Drittmittelgeber und berufliche Praxisfelder restringiert wird und im Rahmen der eingerichteten Stellenstrukturen mehr oder weniger prekäre Karriereoptionen eröffnet.2 Das Selbstverständnis der Soziologie im Verhältnis zu anderen „Sozialwissenschaften“ und zu verwandten bzw. konkurrierenden Forschungsparadigmen, wie denen der Ökonomen oder der Historiker, lässt dabei zwei Deutungen zu: Entweder werden diese als Hilfswissenschaften der Soziologie begriffen, oder aber die Soziologie sucht sich ihrerseits als Handlanger etablierter Disziplinen zu legitimieren, indem sie bspw. deren Folgefragen bearbeitet, Begriffsprobleme analysiert oder Sozialstatistiken beisteuert.3 Für die offensivere der beiden Optionen hat die Soziologie augenscheinlich schlechte Karten. Weder beinhalten die Erklärungspotentiale der Soziologie die Möglichkeit zur Prognose gesellschaftlicher Ereignisse,

2

3

Vgl. Rudolf Stichweh: Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozess ihrer Ausdifferenzierung, Frankfurt a.M. 1991. Die Figur des unabhängigen Privatgelehrten – genannt seien Auguste Comte, Herbert Spencer, F. Müller-Lyer, Rudolf Goldscheid, zeitweise auch Ferdinand Tönnies und Georg Simmel – war soziologiegeschichtlich dagegen vor allem eine Erscheinung des 19. Jahrhunderts. Zur historischen Streitfrage der Berechtigung soziologischer Erkenntnisansprüche vgl. Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie, Opladen 1981, Bd. 2, 160-182. Foucault begreift die Soziologie – ohne eine solche hierarchische Deutung – als „Humanwissenschaft“ mit Affinität zur Ökonomie, spricht ihr damit aber auch den wissenschaftlichen Charakter ab. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1974, S. 413ff.

230

ZUR GESELLSCHAFTLICHEN VERBINDLICHKEIT DER SOZIOLOGIE

noch bergen die ihr inhärenten Ordnungspotentiale die technische Fähigkeit zur direkten Steuerung der Gesellschaft. Realistischer und vor allem: entlastender mag es daher erscheinen, die soziologische Forschungsarbeit im Sinne einer Zuarbeit zum sozialwissenschaftlichen Projektbetrieb im Allgemeinen zu verstehen und als praktischen Fluchtpunkt den politischen Verwaltungsapparat und andere organisatorische Komplexe in Wirtschaft, Medizin oder Medien im Blick zu haben. In diesem Sinne etabliert sich die Soziologie insbesondere im Bereich der Markt- und Meinungsforschung, indem sie entscheidungsförmig operationalisierbare Beobachtungen der Öffentlichkeit an zahlungskräftige Akteure verkauft. Die organisatorisch-institutionelle Selbstverortung der Soziologie steht überdies auch mit der strukturellen Profilierung und inhaltlichen Ausrichtung des Fachs als universitärem Studiengang in Zusammenhang, hängt doch der vertretene (Aus-)Bildungsanspruch nicht zuletzt von lebenspolitisch-biographischen Motiven der Studierenden ab und wirkt auf diese prägend zurück.4 Das wissenschaftliche Gegenstandsmonopol der Soziologie erfährt dabei in dem Maße eine Abschwächung, als innerhalb des alltäglichen Forschungs- und Lehrbetriebs eine Angleichung der vertretenen Gesellschaftsauffassung an das in den Rollenstrukturen und institutionellen Mythen der Universität implizit zum Ausdruck kommende Weltbild geleistet werden muss, um die lebensweltlichen Normalitätsfiktionen der Praxis aufrechtzuerhalten. Von besonderem Einfluss dürften hierbei vor allem die innerhalb des staatlichen Bildungssektors kommunizierten Ergebniserwartungen an die wissenschaftliche Forschung, die im Kontext eines immer prekärer werdenden akademischen Arbeitsmarktes transportierten Deutungsmuster von Wissen als expertenspezifischer Dienstleistung und die in den studentischen Milieus etablierten Auffassungen vom zu vermittelnden Lehrstoff sein. Zu b): In der Öffentlichkeit haben sich soziologische Diagnosen in heimlicher und in diskursiver Auseinandersetzung mit den robusten und kulturell tief verankerten Selbstdeutungen der sozialen Praxis zu bewähren. Gesellschaftliche Selbstbeschreibungen soziologischer Provenienz stellen typisch auf geistig-kulturelle Strukturmomente ab und geraten damit sofort in Konkurrenz zu den vermeintlich realistischeren, faktenorientierten Gesellschaftsbildern wohlinformierter „Materialisten“, die als zentrale Parameter Aktienkurse, Wachstumsquoten, Machtverhältnisse, Wirtschaftsinteressen und die Verfügbarkeit von Bodenschätzen zur Geltung bringen. Die öffentliche Meinung formiert sich hier in Allianz mit den Er4

Vgl. Johann August Schülein: Selbstbetroffenheit. Über Aneignung und Vermittlung sozialwissenschaftlicher Kompetenz, Frankfurt a.M. 1977. 231

GESELLSCHAFTSTHEORIE ZWISCHEN AUTOLOGIE UND ONTOLOGIE

klärungsansprüchen ökonomischer, psychologischer oder auch soziobiologischer „Experten“ und verhärtet sich stellenweise zu einem unreflektierten Amalgam aus grobschlächtigen Stereotypen, massenmedialen Klischees und theoretischen Paradigmen. Gerade in den soziologisch interpretierungsbedürftigsten gesellschaftlichen Problemfeldern wie Konsum, Massenmedien oder Kultur fällt es jenen Akteuren, deren Situationsdefinitionen an die unhinterfragt gegebenen lebensweltlichen Gewissheiten des Publikums intuitiv anschließen, paradoxerweise leichter, sich im zwischen Wissenschaft, Politik und Wirtschaft aufgespannten Diskursfeld zu etablieren. Die unkontrollierte Kommunikation gesellschaftlicher Kategorien – „Werte“, „Menschenrechte“, „Demokratie“, „Umwelt“ – im Modus der Beobachtung erster Ordnung scheint sich weitläufig als anschlussfähiger zu erweisen als die im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung vorgetragenen Reflexionen des soziologischen Theoretikers. Im aufbrechenden Deutungskampf einer hyperreflexiven Moderne agiert der Gesellschaftstheoretiker angesichts einer Übermacht individualistischer „Ideologien“ deshalb oftmals recht hilflos, stehen ihm doch als rhetorische Waffen zumeist entweder unerprobt-kryptische oder hoffnungslos abgewetzte Stichund Schlagworte zur Verfügung. Die Rede von der gesellschaftlichen Totalität, vom Kollektivbewusstsein oder vom Zeitgeist verhallt daher – so mag es scheinen – als nette Metaphorik philosophischer Idealisten, denen es am realistischen Sinn für die Pragmatik des wirklichen Lebens fehlt. In Wahrheit ginge es stattdessen durchweg um (verifizierbare) Informationen, (politische) Interessen und (ökonomische) Bedürfnisse. In dem Maße, wie die Bewährungsfähigkeit soziologischer Gesellschaftsdiagnosen den Selektionsmechanismen einer von der Aufmerksamkeitsökonomie moderner Massenmedien geprägten Öffentlichkeit unterliegt, wird der hehre Schattenriss des gesellschaftstheoretischen Programms durch das profane Weltbild seiner gesellschaftlichen Umwelt verfärbt. Innerhalb der wissenschaftlichen Praxis kann die „Gesellschaftstheorie“ daher immer nur proklamiert werden, ohne gleichsam in Reinform tatsächlich verfügbar zu sein. Angesichts einer solchen Lage bleibt unklar, ob die vom gesellschaftstheoretischen Standpunkt aus vorzubringenden Argumente überhaupt an einen einheitlichen theoretischen Kern gebunden wären oder ob es sich bei der Reklamation gesellschaftstheoretischer Ansprüche nicht vielmehr um reflexartige Ad-hoc-Reaktionen unverbesserlicher Geister handelt, die in einer einheitslosen Welt der differenzerzeugenden Differenzen mit Identitätsproblemen zu kämpfen haben. Wie diese Überlegungen in jedem Falle zeigen, stellt sich die Frage nach der gesellschaftlichen Verbindlichkeit der Soziologie genau genommen in zwei Richtungen, zum einen als Frage nach den gesellschaftlichen Ver232

ZUR GESELLSCHAFTLICHEN VERBINDLICHKEIT DER SOZIOLOGIE

bindlichkeiten, welche der Soziologie in organisatorischer, kultureller oder moralischer Hinsicht von der Gesellschaft zugemutet werden (a), sowie zum anderen als Frage nach der Verbindlichkeit soziologischen „Wissens“ für die gesellschaftliche Praxis (b). Zu a): Wenn es zur Funktion der Wissenschaft gehört, gewisse „kognitive Erwartungssicherheiten“ zu gewährleisten, so kann dies nicht bedeuten, dass die Wissenschaft auf alles eine Antwort weiß. Wissenschaft als black box zu betrachten, die auf frageförmige Inputs „wahre Aussagen“ als Output liefert, würde der empirisch zu beobachtenden Praxis nicht gerecht. Gleichwohl mag es nicht zuviel verlangt sein, die Leistungsfähigkeit der Soziologie unter anderem an ihrer Resonanzfähigkeit für das gesellschaftliche Problembewusstsein der Praxis zu messen. Themen wie Migration, Kriminalität, Erwerbsbiographie oder Familie erwachsen direkt aus öffentliche Aufmerksamkeit bindenden gesellschaftlichen Reibungspunkten und Krisenherden. Gesellschaftspolitisch relevante Schlagworte wie Globalisierung, Kapitalismus oder soziale Gerechtigkeit werden in der Soziologie in der Tat bevorzugt zum Gegenstand erhoben und markieren die Relevanz, den Zeitbezug und das Verantwortungsbewusstsein soziologischer Debatten. Die Funktion einer wissenschaftlichen Behandlung entsprechender Probleme liegt augenscheinlich vor allem in der sozialen, weniger in der sachlichen Dimension. Die einzelnen Forschungsprojekte haben selten einen konkreten Anwendungswert – einen erreichbaren „Endzweck“ –, sie perpetuieren vielmehr das Problem und sichern sich so ihren eigenen Forschungsbedarf. Jede noch so empiriegesättigte These provoziert – wenn sie nicht gänzlich ignoriert wird – in der Regel eine Gegenthese. Studie und Gegenstudie ergänzen sich zu einer wissenschaftlichen Neutralität des bewussten Nichtwissens. Im Stile einer „symbolic science“5 werden argumentative Resonanzräume erzeugt, innerhalb derer der einzelne Wissenschaftler nach persönlichen Beweggründen eine eigene Position beziehen kann, die ohnehin nicht unwidersprochen bleibt. Die typische Tendenz vieler Soziologen zu einer gesellschaftskritischen Haltung gehört beinahe zum disziplinspezifischen Habitus.6 Das 5

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In Analogie zum in der Politikforschung gebräuchlichen Begriff der „symbolic politics“ wäre entsprechend auch bezüglich der wissenschaftlichen Praxis zwischen materiellen und symbolischen Momenten zu differenzieren. In der Wissenschaftssoziologie wurde in diesem Zusammenhang der (etwas weniger suggestive) Begriff der „expository science“ geprägt. Terry Shinn/Richard Whitley (Hg.): Expository Science. Forms and Functions of Popularization, Dordrecht/Boston/Lancaster 1985. Vgl. Johann August Schülein/Andreas Balog (Hg.): Soziologie und Gesellschaftskritik. Beiträge zum Verhältnis von Normativität und sozialwissenschaftlicher Analyse, Gießen 1995. 233

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implizite politische Statement eines provokanten Aufsatzes kann viel dazu beitragen, die oftmals drögen Routinen der alltäglichen Textproduktion neu zu beleben. Gerade weil in der kontroversen Anschlussdiskussion deutlich werden muss, dass im Grenzbereich der wissenschaftlichen Neutralität operiert wird, muss die gesellschaftliche Legitimität des Faches nicht notwendigerweise beschädigt werden, wenn einzelne ihrer (prominenteren) Vertreter in öffentlichen Debatten deutlich Farbe bekennen. Die Umstrittenheit solcher politischer Standpunkte zeigt dann zwar einerseits die Relativität der Gültigkeit scharfer soziologischer Diagnosen, andererseits aber auch das Potential des Rückgriffs auf ein soziologisches Instrumentarium, sodass die grundsätzliche Attraktivität der Soziologie durch instrumentalisierende Anwendungsversuche eher noch befördert werden kann. Insbesondere in der Ungleichheitsforschung zeigt sich die wundersame Fähigkeit des Fachs zur Verbindung von neutralen Analysen mit kritischen Impulsen, die sich im Übrigen nicht immer in Personalunion vollziehen muss und auch durchaus Stoff für interne Konflikte bietet. Das Forschungsgebiet beinhaltet ein ganzes Cluster von gleichermaßen methodisch zugänglichen wie moralisch aufgeladenen Teilthemen, sei es die „Sozialstruktur“ mit ihren ökonomisch konstituierten Klassen und Schichten oder ihren kulturell geprägten Lebensstilen und Milieus, sei es die Konstruktion unterschiedlicher Rassen, Ethnien oder genderspezifischer Unterschiede oder seien es schließlich gewaltbasierte Konflikte lokaler oder auch globaler Prägung mit den hinter ihnen stehenden Differenzen. Die klassische soziologische Theorie hatte diese Doppelzüngigkeit einer Kombination von wissenschaftlicher Neutralität und moralischer Verantwortung unter anderem geschickt im Thema der Moral/Ethik selbst aufgefangen (Spencer, Durkheim, Weber). Dies hatte es erlaubt, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Hinblick auf die historische Entwicklungsdynamik und die sozialen Ordnungsbedingungen institutionell wie kulturell zu rekonstruieren, ohne dass die resultierenden kritischen Zeitdiagnosen als unzulässige Parteinahme erscheinen mussten. Gesellschaftliche Verantwortung und politische Neutralität schienen auf diese Weise miteinander vereinbar. Der wissenschaftliche Anspruch wurde durch das bestehende praktische Problembewusstsein nicht beschädigt. Dies ging indes nur solange gut, wie die soziologischen Analysen sich thematisch auf höchsten Abstraktionsniveaus bewegten. Auch wenn ein soziologischer Theoretiker in solchen Zusammenhängen einmal „Werturteile“ zugunsten der „Vernunft“ abgibt, wird dies kaum als Skandal erscheinen können, denn derlei abstrakte „Interventionen“ erzeugen praktisch keinerlei Probleme.

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Prekärer steht es allerdings um den fachlichen Status soziologischer Diagnosen, die sich – ob wertend oder nicht – aus „Wissensbeständen“ über niedrigere soziale Aggregationsniveaus speisen. Diese basieren notwendig auf kontextspezifischen, materiellen Kenntnissen, die ihrer Natur nach einer engeren gesellschaftstheoretischen Anbindung entbehren. Demographische oder ökonomische Parameter, individuelle Kompetenzen, Meinungen und Motivationen betreffen genau genommen eher den psychischen Haushalt handlungstragender Akteure bzw. den materiellen (geographisch-organischen) Unterbau der Gesellschaft. Ohne damit problemspezifischen Forschungen schlechthin ihre Berechtigung abzustreiten, muss doch danach gefragt werden, was deren soziologischen Charakter ausmacht: Nicht alles, was irgendwie sozial ist, gerinnt im Prozess seiner Erforschung zu Soziologie. Ungeachtet seines volkskundlichen Wertes wird bspw. eine Untersuchung der Regelgeschichte des Doppelkopfspiels noch nicht per se als Soziologie firmieren können. Eine durchgeführte international vergleichende Studie zur Mitgliedschaft in Gewerkschaften würde dagegen üblicherweise als soziologische Forschungserfahrung akzeptiert. Wo aber liegt die Grenze, und in welchem Verhältnis stehen dabei soziologisches Wissen und das vortheoretische Wissen der sozialen Praxis zueinander? Was macht soziale Probleme jeglicher Art zu Fragen der Gesellschaftswissenschaft und welches spezielle Licht kann durch diese auf das behandelte Thema geworfen werden? Diese Fragen betreffen – hegelianisch gesprochen – die Einheit des Gegenstands an und für sich. Zum einen sollten soziologische Forschungen innere soziale Interdependenzen herausstellen können, die eine Einbettung der konkret zu untersuchenden Phänomene in einen breiteren gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang notwendig erscheinen lassen. Dies kann dann etwa die Verwurzlung von Kategorien wie „Arbeit“, „individuelle Motive“ oder „Menschenrechte“ in historisch weiterreichenden religiösen oder kulturellen Hintergründen betreffen.7 Zum anderen können soziale „Fragen“ (wie zum Bsp. Umweltschutz, Terrorismus, Bildung) in der öffentlichen Wahrnehmung selbst einen Verweis auf tiefer liegende „gesellschaftliche“ Probleme beinhalten, die dann der bestehenden „Gesellschafts-“ oder der geltenden „Wertordnung“ zugerechnet werden müssen. In jedem Falle müssten die den Praxiszusammenhängen der sozialen Wirklichkeit entlehnten Problemstellungen implizit oder explizit auf die Kategorie der Gesellschaft oder zumindest der Sozialität bezogen werden, damit im strengen Sinn von soziologischer Forschung die Rede 7

Vgl. bspw. Susanne Brunk: Eine gesellschaftsbezogene Erweiterung des betriebswirtschaftlichen Produktbegriffs, Gießen 2002. 235

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sein kann. Dies bleibt natürlich eine Idealvorstellung: In der realen Forschungspraxis mag die lose Zuordnung zu einer Subdisziplin oder Bindestrich-Soziologie hinreichen, wenn letztere über die Ausweisung theoretischer Gewährsmänner und Ahnengalerien die Anbindung an das Fach noch suggestiv mitführen. Soziologie ist letztlich das, was sich als Soziologie etabliert. Zu b) Es fällt schwer, sich die gesellschaftliche Wirksamkeit der Soziologie in der Form eines bereitgestellten Fundus gesellschaftlich verbindlichen Wissens vorzustellen. Angesichts der Heterogenität soziologischer Sinnangebote und des vergleichsweise niedrigen Status soziologischer „Gesellschaftsexperten“ wäre jede diesbezügliche These geradezu wahnwitzig. Die Denktradition des wissenschaftlichen Systems als Fundament einer vernünftigen Praxis (Bacon, Fichte, Comte, Spencer) kann heute als obsolet gelten. Schon für die Soziologie selbst wäre die Vorstellung, es müsse ein gemeinsames theoretisches Fundament geben, zu dem jeder, insbesondere jeder empirisch forschende Soziologe sich explizit bekennen könne, weitab jeder realistischen Möglichkeit. Es bleibt daher schwer zu beurteilen (nach welchen Kriterien?), ob oder in welchem Sinn es der Soziologie als Fach gelingt, die gesellschaftliche Wirklichkeit in angemessener Weise wissenschaftlich adäquat abzubilden. Wenn Soziologie wirkt, dann jedenfalls nicht als konkrete, theoretisch formulierbare Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse. Gleichwohl wird es naheliegen, die Wirksamkeit soziologischen Gedankenguts an Phänomenen der „Versozialwissenschaftlichung“8 gesellschaftlicher Praxis zu messen. Die Fähigkeit, eine reflexive Einstellung zum eigenen Lebensentwurf einzunehmen9, die distanzierte Betrachtung kultureller oder religiöser Unterschiede im Rahmen politischer Interventionen, die journalistische Beschreibung gesellschaftlicher Konfliktdynamiken in den Medien, die Karikierung sozialer Milieus in Kunst und Kabarett, dies alles sind Indikatoren für die Etablierung eines soziologischen Blicks, der es gestattet, soziale Verhältnisse und Strukturen auf eine objektivierende Weise zu betrachten. Über solche Figuren eines reflexiven Selbstverhältnisses, des Gewahrwerdens eines historischen Gewordenseins der eigenen – und der Faktizität alternativer (fremdartiger) – kultu-

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Kritisch dazu Ulrich Oevermann: Eine exemplarische Fallrekonstruktion zum Typus versozialwissenschaftlicher Identitätsformation, in: HannsGeorg Brose/Bruno Hildenbrand (Hg.): Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen 1988, S. 243-286. Hans-Joachim Giegel: Konventionelle und reflexive Steuerung der eigenen Lebensgeschichte, in: Georg Brose/Bruno Hildenbrand (Hg.): Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen 1988, S. 211-241.

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reller Lebenszusammenhänge hinaus gehört auch das Einfließen soziologischer Kategorien selbst in die soziologisch beobachtete Praxis zu den bemerkenswerten Effekten, die sich im Anschluss an Giddens und Beck als „reflexive Modernisierung“ bezeichnen lassen.10 Begriffe wie „Institution“ oder „Kultur“, „Bürokratie“ oder „Ideologie“, „Szene“ oder „Milieu“ werden zu zentralen Kategorien der lebensweltlichen Selbstdeutung und strukturieren die durch sie bezeichnete soziale Praxis mehr und mehr selbst. Wenn die wesentliche gesellschaftliche Leistung der Soziologie darin besteht, statt präzisen Informationen und konkreten Gesetzmäßigkeiten lediglich einen bestimmten Blick und eine gewisse Haltung zu vermitteln, dann bestünde ihre Funktion nicht in der Produktion soziologischen Wissens, entscheidend wäre vielmehr allein der Gestus des Hantierens mit soziologischen Fragestellungen. Vielleicht wirkt sich die Theorie der Gesellschaft daher – wenn sie schon nicht sachlich als Wissen Rationalität entfalten kann – vor allem indirekt aus, etwa über ihre kommunikative Ästhetik und den sich darin verkörpernden Habitus. So könnte sich die Zerrissenheit der Gesellschaft in der Zerrissenheit ihrer Soziologie spiegeln, Theoriekonflikte ließen sich dann als Abbild realer gesellschaftlicher Widersprüche verstehen, die Soziologie wäre im Ganzen – als soziale Praxis – ein Miniaturmodell der Gesellschaft. Ist die gesellschaftliche Rolle dieser Wissenschaft damit hinreichend bestimmt? Sicherlich lassen sich an der Soziologie in exemplarischer Weise grundlegende Charakteristika der modernen Gesellschaften aufzeigen. Die Soziologie steht in diesem Sinne für die moderne Gesellschaft, weil sie diese Gesellschaft unfreiwillig simuliert. Doch wie wahrheitsfähig sind solche symbolischen Theoriediskurse? Wird der Gesellschaft hier nicht ein Spiegel vorgehalten, der gleich einem Insektenauge ein zersplittertes Bild multipler Facetten liefert, das in sich keine begriffliche Einheit mehr findet? Wissenschaft würde damit in der Soziologie zu Kunst.11 Mehr noch. Die Grenzen zwischen Sozialwissenschaft und Vulgärphilosophie, zwischen Forschungsprojekten und journalistischen Recherchen, zwischen wissenschaftlichen Debatten und politischen Kontroversen verschwämmen in einem schillernden Meer von Reflexionen. Welche Kategorie kann als soziologisch gelten, wenn alle sozialen Beobachtungen, so widersprüchlich sie auch untereinander sind, als soziologische Blicke firmieren? 10 Ulrich Beck/Anthony Giddens/Scott Lash: Reflexive Modernisierung, Frankfurt a.M. 1996. 11 Vgl. dazu die eigentümliche Bemerkung Comtes: „Die Soziologie bewirkt einen Übergang von der Wissenschaft zur Kunst.“ Auguste Comte: Die Soziologie, Stuttgart 1974, S. 456. 237

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Nur insofern die in den objektivierenden Reflexionen des gesellschaftlichen Kommunikationsgeschehens zugrunde gelegten Kategorien auf ein umfassenderes Bedeutungssystem verweisen, können sie als Ausdruck eines soziologisch qualifizierten Weltbildes verstanden werden. Jenes wäre nichts anderes als das Bedeutungssystem des gesellschaftstheoretischen Programms. Doch da die Gesellschaftstheorie sich empirisch nicht zur konsistenten Einheit einer verbindlichen soziologischen Wissensgrundlage zusammenfügt, bleibt es unklar, inwieweit das kategoriale System der Soziologie für uns als adäquate Abbildung des gesellschaftlichen Gegenstands erscheinen kann. Die Entleihung einzelner soziologischer Kategorien vollzieht sich ohne eine legitimierende Oberaufsicht durch das Fach Soziologie, da dieses intern in eine unkoordinierte Pluralität konkurrierender Paradigmen zerfällt. Diese begreifen sich zum Teil als autonome Handlungsinstanzen, die auf eigene Faust auf Veränderungen im kritisierten sozialen Umfeld drängen. Die vermeintliche Funktion der Gesellschaftstheorie, deren gesellschaftlicher Ort und die Beurteilung ihrer sozialen Erfolgschancen können dann innerhalb solcher Schulen und Strömungen nicht mehr mit theorieeigenen Mitteln hinreichend reflektiert werden.12 Doch genügt der Nimbus des Moralisten, des Demagogen, des Aufklärers, reicht der Pathos der Kritik, des Revolutionären oder des Subversiven, um die Wirkungsmacht der eigenen gesellschaftlichen Reflexionen charismatisch zu verbürgen? Wenn dies heißt, dass Theorien die Bedingungen ihrer eigenen Wirksamkeit nurmehr über vage, aber feinsinnige Andeutungen reflektieren, diese aber nicht verbindlich explizieren können, dann lässt sich das allenfalls noch als Fall von Selbstbezüglichkeit, nicht aber als Autologie verstehen. Sowohl – in ontologischer Hinsicht – die Gegenstandsadäquatheit wie – in autologischer Hinsicht – die Funktionalität der Gesellschaftstheorie sind somit äußerst fragwürdig. „Die Soziologie“ jedenfalls kommt in beiden Fällen zu keinem verbindlichen Ergebnis: Das gesellschaftstheoretische Programm kann nicht eingelöst werden. Doch sei in beiderlei Hinsicht einmal die Identität von Gesellschaftstheorie und Gesellschaft unterstellt. Angenommen, das der disziplinspezifischen Kommunikation und den Zuschreibungen seiner Umwelt implizite Konstrukt einer Einheit der Soziologie könnte als tatsächlich gegeben gelten. Dann wäre ein Forschungsstand des Faches zu unterstellen, der im 12 Armin Nassehi hat entsprechend darauf aufmerksam gemacht, dass die Frage, ob die Kulturwissenschaften einen destruktiven oder einen konstruktiven Effekt auf die Kultur haben (können), heute innerhalb ihrer Theoriekulturen unentscheidbar ist. Armin Nassehi: Offenheit und Geschlossenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2003, S. 231ff. 238

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Rahmen der historischen Umstände in adäquater Weise den Gegenstand Gesellschaft widerspiegelt, denn die Soziologie hätte ein Monopol auf ihren Gegenstand und verfügte gewissermaßen zum jeweiligen Zeitpunkt über das bestmögliche aller Gesellschaftsbilder. Verkürzt gesprochen hieße das, die Gesellschaftstheorie sei die Wahrheit über die Gesellschaft. Da die Identität des Faches sich nicht zuletzt durch dessen gesellschaftliche Position bestimmt, wären nun also die Effekte dieser sozialen Einheit „Soziologie“ auf die Gesellschaft abzuschätzen. Soziologie wirkt sich, wenn es sie denn gibt, auf ihre gesellschaftliche Umwelt in deren ganzer Komplexität aus – anders wäre es kaum vorzustellen. Sollte die Soziologie also tatsächlich den heimlichen Mythos der reflexiven Moderne bilden, dann findet sie ihren feinsten Niederschlag in den Sprachspielen der Kunst, der Politik, der Ökonomie. Sie verteilt den theoretischen Verflechtungszusammenhang ihrer Argumente gut versteckt auf soziale Positionen, die so weit entfernt voneinander sind, wie das gesellschaftliche Spektrum eben reicht: Von adoleszenten Rebellen und sozialen Bewegungen über den Sozialkundeunterricht bis zum Papst. Das gesellschaftliche Echo, welches die soziologische Kommunikation in ihrer Umwelt hinterlässt, wäre demnach nahezu unmöglich zu dechiffrieren. Wenn das Programm Gesellschaftstheorie folglich seine Einheit erst in den differenzierten Strukturen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit findet, dann müssen wir auch das letzte Urteil über seine Praktikabilität dem Publikum überlassen. Dass es im übrigen den Gepflogenheiten des Faches entspricht, von Gesellschaftstheorien im Plural und nicht von der soziologischen Theorie im Singular zu sprechen, mag als Erinnerung daran verstanden werden, dass es die Soziologie und damit die Gesellschaft im strengen, autologischen Sinne nie gegeben hat und es sich bei beiden lediglich um eine unverbindliche kommunikative Konstruktion handelt.

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Markus Gamper, Linda Reschke (Hg.) Knoten und Kanten Soziale Netzwerkanalyse in Wirtschaftsund Migrationsforschung Juni 2010, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1311-7

Karin Kaudelka, Gerhard Kilger (Hg.) Die Arbeitswelt von morgen Wie wollen wir leben und arbeiten? Mai 2010, ca. 234 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1423-7

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Sozialtheorie Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze Juni 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5

Elisabeth Mixa Body & Soul Wellness: von heilsamer Lustbarkeit und Postsexualität August 2010, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca.24,80 €, ISBN 978-3-8376-1154-0

Mathias Stuhr Mythos New Economy Die Arbeit an der Geschichte der Informationsgesellschaft Juni 2010, ca. 342 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1430-5

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Sozialtheorie Roswitha Breckner Sozialtheorie des Bildes Zur interpretativen Analyse von Bildern und Fotografien

Bernadette Loacker kreativ prekär Künstlerische Arbeit und Subjektivität im Postfordismus

April 2010, ca. 386 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1282-0

Juli 2010, ca. 484 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1418-3

Hannelore Bublitz Im Beichtstuhl der Medien Die Produktion des Selbst im öffentlichen Bekenntnis

Dorothea Lüddeckens, Rafael Walthert (Hg.) Fluide Religion Neue religiöse Bewegungen im Wandel. Theoretische und empirische Systematisierungen

März 2010, 240 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1371-1

Michael Busch, Jan Jeskow, Rüdiger Stutz (Hg.) Zwischen Prekarisierung und Protest Die Lebenslagen und Generationsbilder von Jugendlichen in Ost und West Januar 2010, 496 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1203-5

Januar 2010, 274 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1250-9

Stephan S. W. Müller Theorien sozialer Evolution Zur Plausibilität darwinistischer Erklärungen sozialen Wandels Februar 2010, 292 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1342-1

Robert Feustel, Maximilian Schochow (Hg.) Zwischen Sprachspiel und Methode Perspektiven der Diskursanalyse

Herfried Münkler, Matthias Bohlender, Sabine Meurer (Hg.) Handeln unter Risiko Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge

April 2010, ca. 200 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1429-9

April 2010, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1228-8

Thomas Lenz Konsum und Modernisierung Die Debatte um das Warenhaus als Diskurs um die Moderne

Herfried Münkler, Matthias Bohlender, Sabine Meurer (Hg.) Sicherheit und Risiko Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert

Mai 2010, ca. 218 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1382-7

März 2010, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1229-5

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