Vermessung des Verbrechers: Die Kriminalbiologische Untersuchung in Bayern, 1923-1945 [1. Aufl.] 9783839416143

Die Praxis der »Kriminalbiologischen Untersuchung« unterwarf Strafgefangene in Bayern detaillierten Vermessungs- und Erf

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Vermessung des Verbrechers: Die Kriminalbiologische Untersuchung in Bayern, 1923-1945 [1. Aufl.]
 9783839416143

Table of contents :
Inhalt
EINLEITUNG
Der Gegenstand im Überblick
Gefährliche Individuen, gefährliche Klassen
Wissen vom Verbrecher
Topografie der Abweichung
Forschungsstand und Fragestellungen
Wissenschaft und Lebenswelt
Wissensgenerierung und Repräsentation
Theorie-Praxis-Problematik
Nachweissysteme und wissenschaftliche Tatsachen
Aufbau der Arbeit
METHODISCHE EINORDNUNG – WISSENSHISTORISCHE KONTEXTE
Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel
Wissen und Wissensgeschichte
Krise, Wissen und Wissensgenerierung
Wissenschaftliche Tatsachen
Das Denkkollektiv
Der Denkstil
Erkenntnisprozess und wissenschaftliche Tatsache
Wissensgenerierung in problemorientierten Wissenschaften
Soziale Wichtigkeit und Experten
Wissensgenerierung und sozialtechnologische Strategien
Quantifizierung und Qualifizierung
DAS WISSEN VOM VERBRECHER – ASPEKTE DES MODERNEN STRAFDISPOSITIVS
Kriminologie
Zugänge: Von gefallenen und verhinderten Menschen
Der Verbrecher als der „gefallene Mensch“
Der Verbrecher als der „verhinderte Mensch“
Kriminologische Theorien: Anlage oder Umwelt oder beides?
Kriminalanthropologie: Der „geborene Verbrecher“
Degenerationstheorie: Der „minderwertige Verbrecher“
Der „psychopathische Verbrecher“
Kriminalbiologie
Kriminalsoziologie
Ausnahmestandards: Verbrechertypologien
Strafrecht
„Marburger Programm“ und Schulenstreit
Strafrechtsreform in der Weimarer Republik
Das „Gewohnheitsverbrechergesetz“
Strafvollzug
Die Reform des deutschen Strafvollzugs im 19. und 20. Jahrhundert
Das Konzept des Stufenstrafvollzugs
Persönlichkeitsuntersuchungen im Strafvollzug
TOPOGRAFIE DER ABWEICHUNG – KRIMINALBIOLOGISCHE UNTERSUCHUNG UND SAMMELSTELLE
Viernstein und die Einrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung
Anfänge
Einrichtung und Etablierung
Ergänzungen und Nachsteuerungen
Kriminalbiologie und Kriminalpolitik
Popularisierung, Vernetzung und wissenschaftliche Kritik
„Im neuen Staate …“
Mapping the Criminal – Die Kriminalbiologische Untersuchung
Das theoretische Fundament
Erbbiologie und Rassenhygiene
Charakterologie, Psychologie und Psychiatrie
Anthropometrie und anthropologische Fotografie
Das Untersuchungsdesign
Genealogische Ausmessung
Biografische Ausmessung
Charakterologische Ausmessung
Anthropometrische Ausmessung
Die Durchführung
Kriminalbiologische Untersuchungen
Die Untersuchung von weiblichen Strafgefangenen
Mapping Criminality – Die Kriminalbiologische Sammelstelle
Sammlung, Erfassung und erbbiologische Bestandsaufnahme
Gutachtenabgabe
SCHLUSS – WISSENS- UND KÖRPERHISTORISCHE EINORDNUNG
Wissenshistorische Einordnung: Krise und Wissen
Krisen, Motive und Interessen
Wissensgenerierung und Kriminalbiologische Untersuchung
Körperhistorische Einordnung: Topografie der Abweichung
Fragmentierung und Kartografierung
Reintegration
Danksagung
Quellen- und Literaturverzeichnis

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Thomas Kailer Vermessung des Verbrechers

Thomas Kailer (Dr. phil.) ist Dekanatsreferent im Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Thomas Kailer

Vermessung des Verbrechers Die Kriminalbiologische Untersuchung in Bayern, 1923-1945

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Theodor Viernstein bei der Vermessung eines Strafgefangenen im Zuchthaus Straubing (1926; mit freundlicher Genehmigung durch Herrn Fridolin Resch, JVA Straubing) Lektorat & Satz: Thomas Kailer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1614-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

E INLEITUNG Der Gegenstand im Überblick | 11

Gefährliche Individuen, gefährliche Klassen | 14 Wissen vom Verbrecher | 18 Topografie der Abweichung | 20 Forschungsstand und Fragestellungen | 25

Wissenschaft und Lebenswelt | 31 Wissensgenerierung und Repräsentation | 32 Theorie-Praxis-Problematik | 34 Nachweissysteme und wissenschaftliche Tatsachen | 36 Aufbau der Arbeit | 39

METHODISCHE EINORDNUNG – WISSENSHISTORISCHE KONTEXTE Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel | 43

Wissen und Wissensgeschichte | 44 Krise, Wissen und Wissensgenerierung | 47 Wissenschaftliche Tatsachen | 53

Das Denkkollektiv | 54 Der Denkstil | 58 Erkenntnisprozess und wissenschaftliche Tatsache | 61 Wissensgenerierung in problemorientierten Wissenschaften | 65

Soziale Wichtigkeit und Experten | 68 Wissensgenerierung und sozialtechnologische Strategien | 75 Quantifizierung und Qualifizierung | 80

DAS W ISSEN VOM V ERBRECHER – ASPEKTE DES MODERNEN STRAFDISPOSITIVS Kriminologie | 85

Zugänge: Von gefallenen und verhinderten Menschen | 86 Der Verbrecher als der „gefallene Mensch“ | 89 Der Verbrecher als der „verhinderte Mensch“ | 96 Kriminologische Theorien: Anlage oder Umwelt oder beides? | 101 Kriminalanthropologie: Der „geborene Verbrecher“ | 101 Degenerationstheorie: Der „minderwertige Verbrecher“ | 103 Der „psychopathische Verbrecher“ | 110 Kriminalbiologie | 114 Kriminalsoziologie | 123 Ausnahmestandards: Verbrechertypologien | 128 Strafrecht | 135

„Marburger Programm“ und Schulenstreit | 136 Strafrechtsreform in der Weimarer Republik | 139 Das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ | 143 Strafvollzug | 147

Die Reform des deutschen Strafvollzugs im 19. und 20. Jahrhundert | 150 Das Konzept des Stufenstrafvollzugs | 157 Persönlichkeitsuntersuchungen im Strafvollzug | 160

TOPOGRAFIE DER ABWEICHUNG – KRIMINALBIOLOGISCHE UNTERSUCHUNG UND S AMMELSTELLE Viernstein und die Einrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung | 165

Anfänge | 167 Einrichtung und Etablierung | 173 Ergänzungen und Nachsteuerungen | 191 Kriminalbiologie und Kriminalpolitik | 201 Popularisierung, Vernetzung und wissenschaftliche Kritik | 207 „Im neuen Staate …“ | 227

Mapping the Criminal – Die Kriminalbiologische Untersuchung | 239

Das theoretische Fundament | 241 Erbbiologie und Rassenhygiene | 243 Charakterologie, Psychologie und Psychiatrie | 255 Anthropometrie und anthropologische Fotografie | 261 Das Untersuchungsdesign | 265 Genealogische Ausmessung | 266 Biografische Ausmessung | 275 Charakterologische Ausmessung | 283 Anthropometrische Ausmessung | 299 Die Durchführung | 304 Kriminalbiologische Untersuchungen | 307 Die Untersuchung von weiblichen Strafgefangenen | 350 Mapping Criminality – Die Kriminalbiologische Sammelstelle | 363

Sammlung, Erfassung und erbbiologische Bestandsaufnahme | 363 Gutachtenabgabe | 376

S CHLUSS – WISSENS - UND KÖRPERHISTORISCHE E INORDNUNG Wissenshistorische Einordnung: Krise und Wissen | 385

Krisen, Motive und Interessen | 386 Wissensgenerierung und Kriminalbiologische Untersuchung | 395 Körperhistorische Einordnung: Topografie der Abweichung | 399

Fragmentierung und Kartografierung | 400 Reintegration | 404

Danksagung | 417 Quellen- und Literaturverzeichnis | 419

Einleitung

Der Gegenstand im Überblick

Bei seiner Einweisung in das bayerische Zuchthaus Kaisheim 1930 wurde Ernst H. einer kriminalbiologischen Untersuchung unterzogen. H. war in Kioske eingebrochen und hatte Rauchwaren und Lebensmittel gestohlen, weil er, wie er als Motiv angab, mittellos war und ohne Arbeit. Insgesamt waren ihm 1930 sieben Verbrechen des schweren Diebstahls nachgewiesen worden, und das Gericht in Ravensburg verurteilte ihn, den Rückfalltäter, zu einer Strafe von drei Jahren und drei Monaten Zuchthaus. Diese Verurteilung war die zwölfte Strafe im Leben eines Mannes, der, 1897 geboren, seit 1910 immer wieder wegen Diebstahls verurteilt worden war. Im Gefängnis dann die Untersuchung: H.s Körper wurde vermessen, seine biometrischen Daten festgestellt, seine Körpermerkmale beschrieben. H.s Sozialität wurde ausgemessen, sein familiäres und persönliches Umfeld festgestellt, sein beruflicher Werdegang, seine Krankheiten, sein Sexualleben. H.s psychische Konstitution wurde durchmessen, sein Schlaf, seine Sprache, sein Temperament. Es werde deutlich, so befand der Untersucher, dass in H.s Charakter die Unbesonnenheit, seine leichtsinnige Lebenseinstellung überwiege. Der unehelich Geborene, der nach eigenen Angaben im Alter von neun Jahren von Mutter und Stiefvater aus dem Haus gejagt worden war, sei ein leichtsinnig-haltloser, willensschwacher Psychopath, ein schizoider Gewohnheitsverbrecher. Die soziale Prognose lautete: „Zweifelhaft bis schlecht“.1 Die so genannte „Kriminalbiologische Untersuchung an Strafgefangenen“ war 1923 auf Betreiben von Theodor Viernstein (1878-1949), dem Arzt im Zuchthaus Straubing, in bayerischen Gefängnissen mit dem expliziten Ziel eingerichtet worden, die sichere, auf der Basis einer umfassenden Untersuchung der Persönlichkeit eines Gefangenen beruhende Unterscheidung von besserungsfähigen und unverbesserlichen Verbrechern zu ermöglichen. Die Etablierung einer solchen Persönlichkeitsuntersuchung in Bayern hing eng mit der dortigen Reform des Strafvollzugs zusammen: Die Strafe sollte, den modernen Strafzwecken entsprechend, in erster Linie erzieherisch und bessernd wirken, um eine Resozialisierung des Straftäters zu

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BHStA, Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 7305 (1930).

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ermöglichen. 1921 führte daher Bayern den Stufenstrafvollzug ein. Diesem lag die Überlegung zugrunde, dass stufenweise Vergünstigungen – bessere Kleidung etwa, eine wöchentliche Tabakration, eine getünchte Zelle und Hofgang in einem gepflegten Garten – dem besserungsfähigen Strafgefangenen die Wiedereingliederung in die Gesellschaft erleichtern und einen Rückfall möglichst verhindern sollten. Dies war ein erzieherisches Ansinnen, das den unverbesserlichen Straftätern gegenüber nicht mehr zum Tragen kam; von den Strafvollzugsbehörden gleichsam pädagogisch aufgegeben, hatten sie ihre Strafe ungemildert abzusitzen. Diese Art des Strafvollzugs erforderte jedoch eine sichere Einteilung der Gefangenen: Wer war besserungsfähig, wer unverbesserlich? Eine Lösung für diese Herausforderung glaubte man in eben der Kriminalbiologischen Untersuchung gefunden zu haben. Persönlichkeitsuntersuchungen gab es in Ansätzen schon länger, auch in Bayern (Viernstein 1911: 2f.); doch Viernstein hatte einen neuen, überaus detailreichen umfangreichen Fragebogen entwickelt und sich dabei an medizinisch-psychiatrischen Konzepten, an kriminologischen Verbrechertypen, nicht zuletzt aber an sozialen und charakterologischen Kategorien orientiert, um den Strafgefangenen umfassend ausmessen und erfassen zu können (Viernstein 1929: 7-50). Für diesen ehrgeizigen Anspruch ließ Viernstein vorgängiges Wissen aus den verschiedensten Disziplinen in das Untersuchungsdesign der Kriminalbiologischen Untersuchung einfließen: Aus Kriminologie, Psychiatrie, Charakterologie, Pädagogik, Soziologie, Anthropometrie, Rassenhygiene – eine „eklektische Mischung verschiedener wissenschaftlicher und – auch nach damaligen Maßstäben – pseudo-wissenschaftlicher Theorien.“ (Burgmair et al. 1999: 256) Der Untersuchungsbogen selbst umfasste vier Abschnitte, in denen genealogische, soziale, psychologisch-psychiatrische und anthropometrische Daten erhoben wurden. Im genealogischen Abschnitt kamen, aufgrund von Angaben, die der Gefangene selbst bereit stellte, Informationen über die Eltern und die Verwandten zusammen; Ziel war es, daraus Schlüsse über die erblichen Verhältnisse und/oder über den Einfluss des Milieus abzuleiten. Die Fragen nach der sozialen Entwicklung umfassten Erziehungseinflüsse, Schule, Ausbildung, Beruf, Militär, die kriminelle Karriere. Auch diese Angaben kamen vom Gefangenen und wurden durch die so genannten „Heimatbögen“, die an Polizei, Schule und kirchliche Funktionsträger am Heimatort des Häftlings mit der Bitte um Auskunft versandt wurden, ergänzt. Kernstück der Untersuchung aber war der „körperlich-psychische Befund“, eine psychiatrisch-charakterologische Bestandsaufnahme des Verbrechers: Der Untersucher sollte neben vielem anderen z. B. das Temperament, seelische Störungen, die Intelligenz, die Reaktionsweisen, die Ausdrucksformen, die Haltung des Untersuchten zu seiner Umwelt und mögliche Geisteskrankheiten bestimmen. Abgeschlossen wurde die Untersuchung durch anthropometrische Messungen, eine detaillierte körperliche Beschreibung und eine (Nackt-) Fotografie. Es gab annähernd einhundert Untersuchungspunkte; Zutreffendes war auf dem Fragebogen aus einer Vielzahl von vorgegebe-

E INLEITUNG | 13

nen Eigenschaften, Begriffen und Merkmalen zu unterstreichen beziehungsweise auf dem Befundbogen einzutragen. In der Addition der Merkmale schälte sich so ein ‚Typus‘ heraus, und der Untersucher war, vermeintlich objektiv, in die Lage gesetzt, ein Urteil über die Besserungsfähigkeit des Gefangenen fällen zu können. Am Ende war die soziale Prognose zu stellen: „besserungsfähig“ oder „unverbesserlich“, „Gelegenheitsverbrecher“ oder „Gewohnheitsverbrecher“. Die Kriminalbiologische Untersuchung erlaubte es darüber hinaus zugleich, ausgehend vom einzelnen Strafgefangenen, diesen in einen größeren sozialen und biologischen Zusammenhang zu stellen: Der Metalldrücker Fritz B.2 hatte zum Zeitpunkt seiner ersten kriminalbiologischen Untersuchung 1924 bereits 24 Vorstrafen vor allem wegen Diebstahls und Zuhälterei. Die Straftat von 1924, Diebstahl, für die er wegen Rückfälligkeit mit zwei Jahren und acht Monaten Gefängnis bestraft worden war, begründete er mit seiner Mittellosigkeit, die ihn gezwungen habe, wieder einzubrechen. B. wurde mehrfach kriminalbiologisch untersucht. 1929 befand der Untersucher, dass B. ein endogener, degenerativer Zustandsverbrecher mit absolut schlechter sozialer Prognose sei. Ihm fehlten völlig die sozialethischen Gefühle und Beziehungsmöglichkeiten, die zur Einordnung in die gesellschaftlichen Belange nötig seien. Doch der Blick des Untersuchers richtete sich nicht nur auf B.s Persönlichkeit und Charakter, sondern auch auf dessen „Stamm“, auf seine Familie und Verwandtschaft. Vom Vater wusste der unehelich Geborene nur den Namen, die Mutter sei wegen gewerblicher Unzucht und Diebstahls verurteilt. Er habe drei Geschwister, von denen zwei ebenfalls vorbestraft seien, der jüngste Bruder dagegen sei unbestraft. Die Ursachen der Kriminalität des B. vermutete der Untersucher, da Mutter und Geschwister ebenfalls straffällig waren, in dessen erblich bedingter Anlage: Im mütterlichen Stamm liege eine „degenerative Verfassung und soziale Abartung“ vor. B.s Familie gehöre zu einem „wohlabgegrenzten und umschriebenen Typ[s] eigenliebiger Menschen“, die keine „warmen Gefühlsbeziehungen zur Außenwelt aufbringen“ könnten. Die Namen und Adressen seiner Familienangehörigen waren in der Untersuchungsakte notiert worden. Die Akte des B. wurde, wie alle anderen Akten von kriminalbiologischen Untersuchung in Bayern auch, in der Kriminalbiologischen Sammelstelle archiviert. Diese war 1924 eingerichtet und zunächst dem Zuchthaus Straubing, dann der „Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie“ in München angegliedert worden. Seit 1927 gab es dort eine Zettelkartei mit sämtlichen in den kriminalbiologischen Akten namentlich aufgeführten Personen aus dem Verwandtschafts- und Schwägerschaftskreis der Untersuchten. Jede in einem Untersuchungsakt genannte Person wurde mit der Nummer des Berichts, in dem sie erwähnt worden war, auf einem besonderen Kartenblatt eingetragen und alphabetisch geordnet; leicht ließen sich so Querverweise und Beziehungen zwischen verschiedenen Personen

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BHStA, Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 3862 (1936).



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DES

V ERBRECHERS

herstellen. Nach dem Willen des Bayerischen Justizministeriums sollte so ein Gesamtüberblick über die „kriminellen Familien und Bevölkerungsschichten“ gewonnen werden und die Kartei auch dazu dienen, Anfragen der Strafverfolgungsbehörden über die Familienzusammenhänge irgendeiner kriminell auffällig gewordenen Persönlichkeit zu beantworten.3 Vor allem aber sollte die Registrierung von Namen, Berufen, Krankheiten, Charakterzügen und Strafen der Verwandten von Anfang an das rassenhygienische (Fern-)Ziel ermöglichen, die Gesamtbevölkerung „erbbiologisch zu inventarisieren“, zumindest aber die „verbrecherischen Schichten“ innerhalb der Gesamtbevölkerung zu erfassen. Mit Hilfe der Kriminalbiologischen Sammelstelle werde im Laufe der Zeit ein „biologisch orientiertes Verbrecherkataster“ entstehen (Viernstein 1924: 33f.). Stolz berichtete Viernstein im Juni 1933, dass seine Kriminalbiologische Sammelstelle 17.500 Einzelfälle mit insgesamt 100.000 Erfassten in die „nun kommende rassebiologische“ Erfassung der Bevölkerung werde einbringen können (Viernstein 1936: 6).

G EFÄHRLICHE I NDIVIDUEN ,

GEFÄHRLICHE

K LASSEN

Der „Gewohnheitsverbrecher“ und die „verbrecherischen Schichten“, die in Kriminalbiologischer Untersuchung und Sammelstelle im Zentrum der Aufmerksamkeit standen, waren seit Mitte des 19. Jahrhunderts die beherrschenden Bilder im Sprechen über Kriminalität.4 Diese belegte zu dieser Zeit nicht zuletzt deshalb einen vorderen Platz auf den sozialen Agenda, weil die Integrität des Bürgertums infolge des sozioökonomischen Wandels und der Auflösung traditioneller Orientierungsmuster prekär geworden war. Industrialisierung und Urbanisierung hatten gerade im großstädtischen Erfahrungsraum den Eindruck genährt, dass Ober- und Mittelschicht einer beständig wachsenden Unterschicht mit einem eigenen, von den bürgerlichen Werten abweichenden Verhaltenscode gegenüberstanden, deren Lebensumstände aus der Sicht des Bürgertums zu Missständen führen mussten, zu Prostitution, Alkoholismus und Verbrechen. Hinzu kamen die wiederholt epidemisch ausbrechenden Krankheiten wie Typhus, Cholera oder Tuberkulose, die oft in den Unterschichtenquartieren ihren Ausgang nahmen. Ein diffuses Gefühl der Bedrohung, das aus eigener und aus Beobachtung zwei-

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BHStA, MJu 24262: Bayer. Staatsministerium der Justiz, Entschließung Nr. 54661/II v. 14.12.1927. „Gewohnheitsverbrecher“, „gefährliches Individuum“ und „gefährliche Klassen“ sind zeitgenössische Begriffe, denen ein stark konstruktiver Charakter und (negative) Wertungen über das damit bezeichnete Individuum oder Phänomen eigen sind. Im Nationalsozialismus wurden zudem etwa Begriff und Kategorie des „Gewohnheitsverbrechers“ Teil des rassistischen Ausgrenzungs- und Vernichtungsprogramms. Deshalb müssten die Begriffe immer in Anführungszeichen stehen, worauf jedoch aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet wurde.

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ter Hand, vermittelt über die Massenpresse, gespeist wurde, transportierte die Angst vor einer Radikalisierung der Unterschichten, vor allem aber die Angst vor drohenden Seuchen und davor, Opfer eines Verbrechens zu werden. Einerseits diente also „die wertende Darstellung der Normabweichungen, die Vertreter des Bürgertums im Leben der Unterschichten ausmachten oder auszumachen meinten“, der Stabilisierung bürgerlicher Normen, andererseits aber schrieb das Bürgertum diesen Normabweichungen gesellschaftsgefährdende Dimensionen zu und fühlte sich auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern – Angst vor einer politischen Radikalisierung der Unterschicht, Angst vor Seuchen und Kriminalität – in einem zunehmenden Maße bedroht (Galassi 2004: 116). Mit dem Verbrecher und der „Unterwelt“ stand demnach eine für die bürgerliche Selbstvergewisserung bedeutsame Projektionsfläche bereit, zu der aber eben auch die Vorstellung gehörte, dass die bürgerliche Gesellschafts- und Eigentumsordnung bedroht sei (Becker 2002: 28); bedroht vom „gefährlichen Individuum“, dem rückfälligen Verbrecher, und von einer „gefährlichen Klasse“, der Unterwelt. Diese Bedrohung war den Zeitgenossen in ihrem Ausmaß auffällig geworden, sie wurde als soziales Problem wahrgenommen und entsprechend dramatisierend thematisiert.5 In kaum einem anderen Text wurde dies so systematisch und im Effekt so einflussreich getan wie in der programmatischen Schrift „Der Zweckgedanke im Strafrecht“ von Franz von Liszt (1851-1919) aus dem Jahr 1882. Hierin legte der Strafrechtler die Grundsätze einer modernen Strafpolitik dar – in Abkehr vom damals herrschenden Prinzip der Vergeltung einer Strafe, die allgemeinpräventiv von zukünftigen Straftaten abschrecken, den Straftäter also bessern sollte. Genau darin bestünde, so Liszt, das aktuelle Problem des Strafsystems: „Unsere gegenwärtige Behandlung der Rückfälligen ist durchaus verkehrt und unhaltbar“; die dramatisch steigenden Ziffern der Rückfallstatistik belegten, „daß mindestens die Hälfte aller Personen, welche Jahr aus, Jahr ein unsere Strafanstalten bevölkern, unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher sind. Solche Leute in Zellengefängnissen um teures Geld bessern zu wollen, ist einfach widersinnig; sie nach Ablauf von einigen Jahren gleich einem Raubtier auf das Publikum loszulassen, bis sie, nachdem sie wieder drei bis vier neue Verbrechen begangen haben, in ein oder zwei Jahren neuerdings eingezogen und wiederum ‚gebessert‚ werden: das ist mehr und ist etwas anderes als widersinnig. Aber unser Strafrahmensystem gestattet und fordert es; der ‚Vergeltung‚ ist Genüge getan.“ (Liszt 1882: 168)

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Die Frage nach dem Realitätsgehalt dieser Wahrnehmung also danach, „ob das Phänomen auffällig wird, weil es sich selbst verändert, oder ob es die Formen der Selbstbeobachtung und Selbstdeutung einer Gesellschaft sind, die sich verändern“ (Galassi 2004: 81), zu entscheiden, ist nicht zentral; wichtig ist, dass dieses Bedrohungsgefühl zunehmend artikuliert wurde. Siehe auch: (Müller: 2005).



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V ERBRECHERS

Liszt postulierte eine Krise, eine Effektivitätskrise des herrschenden Strafsystems, das, weil es allein auf die Vergeltung einer Straftat ausgerichtet sei, ganz offensichtlich versage im Bestreben, den Straftäter zu bessern. Aus diesem Versagen erwachse das eigentliche Problem: „Gleich einem Raubtier“ – der Blick auf die tieferen Motivschichten dieses richtungsweisenden Textes legt den Rückfalltäter und sein vorgeblich massenhaftes Auftreten als denk- und handlungsinitiierende Figur der modernen Strafpolitik frei. Aus der Effektivitätskrise des Strafsystems entstand aus Sicht Liszts aber auch ein soziales Problem: Der Kampf gegen das „Gewohnheitsverbrechertum“ sei eine der dringendsten Aufgaben der Zeit, da es wie ein krankes Glied den ganzen „Organismus“ vergifte. Unter Rückgriff auf die Krankheitsmetapher, Ende des 19. Jahrhunderts oft verwendet im Reden über Kriminalität, zeichnet Liszt ein Bild existentieller Bedrohung der als „Organismus“ verstandenen Gesellschaft – bedroht „durch das Unsichtbare: durch Krankheitskeime und im Innern der Gesellschaft wuchernde Geschwüre“ (Galassi 2004: 87): Das „kranke Glied“ des Gewohnheitsverbrechertums sei das bedeutendste und gefährlichste „in jener Kette von sozialen Krankheitserscheinungen, welche wir unter dem Gesamtnamen des Proletariats zusammenzufassen pflegen. Bettler und Vagabonden, Prostituierte beiderlei Geschlechts und Alkoholisten, Gauner und Halbweltsmenschen im weitesten Sinne, geistig und körperlich Degenerierte – sie alle bilden das Heer der grundsätzlichen Gegner der Gesellschaftsordnung, als dessen Generalstab die Gewohnheitsverbrecher erscheinen.“ (Liszt 1882: 169)

In unverstellter Attitüde wird hier Bezug genommen auf die Klassenlage, wird eine ganze soziale Schicht nicht nur kriminalisiert, sondern auch pathologisiert: die „Sozialkrankheit Proletariat“. Diese klassenspezifische, doppelte Stigmatisierung – Kriminalisierung und Pathologisierung – der Unterschichten, zeugt vom Spannungsfeld zwischen Bürger und Proletarier, zwischen ‚Oberwelt‘ und ‚Unterwelt‘, zwischen ‚gesund‘ und ‚krank‘, zwischen ‚normal‘ und ‚abweichend‘. Zusammengefasst unter dem „Gesamtnamen des Proletariats“ scheint hier eine bürgerliche Gegenwelt auf aus gefallenen Menschen, aus abgesunkenen Existenzen, aus sittlich, geistig, körperlich ‚defekten‘ Individuen, aus Gegnern der bürgerlichen Rechts- und Eigentumsordnung: die ‚Unterwelt‘ als Klasse, als gefährliche Klasse sogar, mit den Gewohnheitsverbrechern, den gefährlichen Individuen, an der Spitze. Liszt verband die Krankheitsmetapher zudem mit einer anderen zeitgenössischen Beschreibung von Kriminalität: der Kriegsmetapher. Er sprach von einem „Heer der grundsätzlichen Gegner der Gesellschaftsordnung“ und evozierte damit die Vorstellung, dass es die Gesellschaft nicht mit einer gewissen Zahl von Einzeltätern zu tun habe, sondern mit einer organisierten, geschlossenen und geordneten Formation, die dem Ziel folge, die Gesellschaftsordnung zu attackieren, und mit der die Normalgesellschaft gleichsam im Krieg liege. Mit diesem gängigen Deutungsmuster knüpften Strafju-

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risten und Mediziner um 1900 an die Bedrohungsgefühle des Bürgertums an und verstärkten diese, indem sie die Verbrecher zusammen mit den verelendeten Gruppen der Bevölkerung – den Bettlern, Landstreichern, Arbeitslosen und Prostituierten – als eine kompakte Masse zeichneten und diesen Feindschaft gegenüber der Gesellschaft als Handlungsmotivation zuschrieben (Galassi 2004: 85). Nachschub erhalte diese Armee durch Ausbildung von Nachwuchs und aus dem vorgeblich unerschöpflichen Reservoir der gefährlichen Klassen – man fürchtete, die bürgerliche Welt könne vom Proletariat, von Armut, Unmoral und Kriminalität, überrannt werden (Becker 1992a: 92). Die größte Gefahr ging dabei, so wollte es den Zeitgenossen scheinen, vom Gewohnheitsverbrecher aus. Der Gewohnheitsverbrecher, der an Zahl erheblich zunehme, wie Liszt mit Hilfe der Kriminalstatistiken zu belegen suchte, war für ihn der habitualisierte Rückfalltäter, der aufgrund seiner Gefährlichkeit die Gesellschaft bedrohe. Gefährlich aber war jemand dann, wenn er mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zukünftig Verbrechen begehen würde und wenn dies zurückzuführen sei auf seine soziale Gesinnung, darauf, wie er sich gegenüber der Rechtsordnung stellte, aus welcher Motivation heraus er seine Taten beging (Galassi 2004: 348f.). Solange aber die Strafe nicht an diese Motivation gekoppelt sei, solange werde sie keine zukünftigen Verbrechen verhindern: „Gleich einem Raubtier …“. Liszt deckte diese doppelte Krise aber nicht nur auf, beschrieb sie nicht nur in dramatischen Bildern, sondern er bot auch gleich eine Lösung an, die beim gefährlichen Individuum selbst ansetzen sollte. Oberstes Ziel der Strafe sollte der Schutz der Gesellschaft vor der kriminellen Bedrohung sein, und der Zweck der Strafe eben nicht nur Vergeltung und damit – ganz ineffektiv, wie Liszt meinte – die generalpräventive Abschreckung. Eine Strafe würde ungleich effektiver wirken, würde sie spezialpräventiv auf den Verbrecher und seine Motivationen ausgerichtet. Der Zweck der Strafe müsse also die Stärkung sozialer Motive und damit die Wiedereinbindung des Verbrechers in den sozialen Zusammenhang sein; dort aber, wo diese Stärkung nicht erreicht werden könne, die Verwahrung des Verbrechers und damit die Beseitigung des „gefährlichen Individuums“ aus dem sozialen Gefüge. An diesen Strafzwecken ausgerichtet sollte die Strafe folgende Wirkung haben: Abschreckung durch „Einpflanzung und Kräftigung egoistischer, aber in der Wirkung mit den altruistischen zusammenfallender Motive“, Besserung durch „Einpflanzung und Kräftigung altruistischer, sozialer Motive“ und Unschädlichmachung durch „Sequestrierung des Verbrechers, [...] als künstliche Selektion des sozial untauglichen Individuums.“ (Liszt 1882: 163f.) Diesen drei Strafzwecken wiederum ordnete Liszt entsprechende Verbrecherkategorien zu (Liszt 1882: 165-173): Abschreckung für nicht besserungsbedürftige Gelegenheitsverbrecher, Besserung der besserungsfähigen und -bedürftigen sowie Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher. Gelegenheitsverbrecher waren für Liszt jene, für die die begangene Tat eine durch äußere Einflüsse bedingte „Verirrung“ war. Ihre Kriminalität beruhe auf einer verführerischen Situation, einer Notlage; bei ihnen



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sollte die Strafe abschreckend wirken. Die „besserungsbedürftigen Verbrecher“, die Liszt bereits auf dem Weg in das Gewohnheitsverbrechertum sah, seien aus dem Milieu, in dem sie das Verbrechen „lernten“, zu entfernen und könnten durch „ernste und anhaltende Zucht“ gerettet werden. Eindeutig im Mittelpunkt seines Strafsystems aber stand der Gewohnheitsverbrecher: Die Rückfälligen machten, das las Liszt aus den Kriminalstatistiken heraus, die Mehrheit der Verbrecher, die unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher wiederum die Mehrheit der Rückfälligen aus. Der Rückfalltäter war im 19. Jahrhundert in Strafrecht und Strafjustiz eine feste Größe, jedoch in erster Linie quantitativ bestimmt, als Individuum über die Zahl seiner Taten und als Gruppe über die Rückfallstatistiken. Man war der Meinung, dass die gewohnheitsmäßige Begehung von Straftaten auf einem „verbrecherischen Hang“ beruhe; darin wurde strafschärfende Schuld gesehen, weil der Verbrecher die Entstehung der Gewohnheit nicht unterdrücke. In der durch Liszt angestoßenen Diskussion erfuhr der Begriff des „Hangs“ einen Bedeutungswandel, eine „theoretische Umorientierung weg von Gesichtspunkten individueller Zurechnung von Schuld hin zu einer Theorie der Strafe als sozialer Gegenreaktion gegen sozial schädigende und mit entsprechendem Bewusstsein begangene Handlungen.“ (Frommel 1991: 468) Liszt plädierte also für eine qualitative Bestimmung des Verbrechers, dafür, den Täter auf seine (anti-)soziale „Gesinnung“ und damit auf seine potentielle „Gefährlichkeit“ hin zu prüfen, um ihm die entsprechende Strafe zukommen zu lassen: Das jeweilige Strafmaß sollte an den Grad dieser „Gefährlichkeit“ gebunden werden. Während Menschen, die nur eine Straftat begingen und von denen man glaubte, dass sie aufgrund ihrer Persönlichkeit besserungsfähig seien, letztlich nicht „gefährlich“ waren und vergleichsweise ‚milde‘ zu bestrafen seien, bedrohte der Gewohnheitsverbrecher permanent die öffentliche Sicherheit. Vor ihm könne sich die Gesellschaft letztlich nur durch seinen dauerhaften gesellschaftlichen Ausschluss schützen; „und da wir köpfen und hängen nicht wollen und deportieren nicht können, so bleibt nur die Einsperrung auf Lebenszeit (bezw. auf unbestimmte Zeit).“ (Liszt 1882: 169) Es war also in der Strafpraxis eine Entscheidung zu treffen: Erweist sich ein Täter der Besserung, der „Einpflanzung“ sozialer Motive, zugänglich oder ist er aufgrund seiner Persönlichkeit unverbesserlich und damit entsprechend zu „sequestrieren“?

W ISSEN

VOM

V ERBRECHER

Eine solche qualitative, täterorientierte Bestimmung setzte jedoch genaues Wissen voraus: spezielles Wissen über den jeweiligen konkreten Verbrecher vor Gericht und im Strafvollzug, aber auch Wissen über die Faktoren, die zu Verbrechen führten und damit letztlich allgemeines Wissen über die verschiedenen, von Liszt zunächst nur mit einfachen Strichen skizzierten Verbrecherkategorien, denn: „der Kriminalpolitiker bleibt Dilettant, wenn ihm

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die feste wissenschaftliche Grundlage fehlt, die er nur in der genauesten und umfassensten Kenntnis der Tatsachen gewinnen kann.“ (Liszt 1905: 290f.) Dies aber stellte durchaus ein Problem dar, wisse man doch zu wenig vom Gewohnheitsverbrecher und vom Gewohnheitsverbrechertum, wie Liszt selbst konstatierte, auch wenn er sich sicher war: „Der Gewohnheitsverbrecher existiert, auch wenn wir keine gute Definition von ihm haben.“ (Liszt 1882: 166, Anm. I.) Das Gewohnheitsverbrechertum finde zwar, wie er meinte, seinen juristischen Ausdruck in den steigenden Ziffern der Rückfallstatistik. Aber: Wer genau waren diese Gewohnheitsverbrecher? Der Kampf gegen das Gewohnheitsverbrechertum setze genaue Kenntnis desselben voraus, jedoch: „Diese fehlt uns noch heute.“ Das gefährliche Individuum entzog sich zu Liszts Zeiten noch einer genauen Bestimmung. Entsprechend blieb auch seine Vorstellung von einem „Gewohnheitsverbrechertum“ im Vagen. Liszt konstatierte: „Ehe wir das vagabondierende Gaunertum nicht sozialethisch festgestellt haben, ist es vergebliches Bemühen, das Gewohnheitsverbrechertum als solches fassen zu wollen.“ (Liszt 1882: 167) Zentrales Mittel der Verbrechensbekämpfung musste demnach die extensive Generierung von Wissen sein: Mehr und umfassenderes Wissen vom Verbrecher, ‚besseres‘, ‚objektives‘, wissenschaftliches Wissen, um „den Verbrecher endlich einmal in seinem wirklichen Wesen kennenzulernen, um aus den nebligen Vorstellungen einer rationalistischen Verbrecherkonstruktion herauszukommen.“ (Schmidt 1995: 370) Dafür kamen für Liszt verschiedene Felder und Wissenschaften in Betracht, so etwa die 1881 reichsweit eingeführte Kriminalstatistik, die, als Rückfallstatistik konzipiert, methodisch noch nicht ausgefeilt war, wie der Strafrechtler eingestand, aber für erste Schlussfolgerungen durchaus brauchbar sein könne (Liszt 1882: 162). Methodisch ähnlich unreif, aber mit großem Potenzial schätzte Liszt die neu entstandene Kriminalanthropologie ein. Auch seine eigene, die Strafrechtswissenschaft, hatte er im Blick, diese aber auch für ihre „vornehme Teilnahmlosigkeit“ hart kritisiert: „Der Erforschung des Verbrechens als sozialethischer Erscheinung, der Strafe als gesellschaftlicher Funktion, muß innerhalb unserer Wissenschaft die ihr gebührende Beachtung werden. Daß es eine Kriminalanthropologie, eine Kriminalpsychologie, eine Kriminalstatistik als besondere, der Wissenschaft des Strafrechtes mehr oder weniger fernstehende Disziplinen gibt, ist der Beweis des schweren Verschuldens, welches die wissenschaftlichen Vertreter des Strafrechtes trifft.“ (Liszt 1882: 178)

Nur im Zusammenwirken dieser Disziplinen mit der Strafrechtswissenschaft könne der Kampf gegen das Verbrechertum erfolgreich sein. Und trotz aller Kritik: „Unserer Wissenschaft gebührt die Führung in diesem Kampfe. Auf diese kann und darf sie nicht verzichten, ohne sich selber preiszugeben.“ Liszts einflussreiche Schrift trug auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Bereichen dazu bei, mehr Wissen vom Verbrecher zu generieren. Die Schrift wirkte vor allem auf die entstehende Kriminologie, auf die



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Strafrechtswissenschaft und die Strafrechtsreform sowie auf den Strafvollzug. In der Kriminologie setzten sich Liszts Verbrecherkategorien als „Orientierungsrahmen“ durch: „Es waren somit vor allem Liszts Beiträge, die den strafrechtsreformerischen Diskurs im deutschen Kaiserreich zur Seite der Kriminologie hin öffneten. An seinen, von der Ebene erfolgter Handlungen losgelösten, Begriff der Gefährlichkeit ließen sich die verschiedenen kriminologischen Theorien unmittelbar anschließen.“ (Galassi 2004: 349) Die Kriminologie, vereinfacht gesagt: die Wissenschaft vom Verbrechen und vom Verbrecher, entstand demnach auch – indem sie dem Szenario einer massiven Bedrohung durch Kriminalität und seiner Postulierung einer Effektivitätskrise in der Strafjustiz folgte – aus der Krisenwahrnehmung des Bürgertums und aus der Thematisierung dieser Krise gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Orientierung auf den Täter hatte zur Folge, dass dieser Täter gleichzeitig zum Gegenstand des wissenschaftlichen Wissens und der staatlichen Sanktionierung wurde (Galassi 2004: 348-351). Die Strafrechtswissenschaft, vor allem aber die Strafrechtsreform profitierten ebenfalls von den neuen Impulsen. In der Strafrechtswissenschaft formierte sich unter Berufung auf Liszt die so genannte „moderne Schule“, die der zweckgemäßen Individualisierung des Strafens, der spezialpräventiven Orientierung auf den Täter und seine zukünftige Gefährlichkeit, den Vorzug gab gegenüber der Auffassung der „klassischen Schule“, die mit der Strafe vor allem die Tat vergolten haben wollte. Im Strafvollzug schließlich trafen sich die neuen Vorstellungen eines individualisierten Strafens mit einer älteren Strömung, die im Resozialisierungsstrafvollzug das Mittel sah, Gefangene gemäß ihrer Zugänglichkeit zu Erziehungsmaßnahmen einzuteilen und sie durch pädagogische Begleitung auf ein Leben ohne Verbrechen vorzubereiten. Liszts Verbrechertypen spielten natürlich im pädagogischen Strafvollzug, der sich nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland durchzusetzen begann, die zentrale Rolle, musste doch entschieden werden, welcher Gefangene besserungsfähig war und wer nicht. Während diese Entscheidung bislang vom erfahrenen Anstaltspersonal mit seinem professionalisierten Blick und unter Berücksichtigung von Vorstrafenliste und strafvollzuglicher Führung getroffen worden war, ging man in Bayern zu Anfang der 1920er Jahre einen anderen Weg, nämlich hinsichtlich dieser Entscheidung nicht mehr dem eher subjektiven Eindruck nur durch Erfahrung geschulten Personals zu vertrauen, sondern diesen durch einen umfassenden, nach damaligem Stand der Wissenschaft durchaus fortschrittlich erachteten, wissenschaftlichen Persönlichkeitstest zu ersetzen: durch die Kriminalbiologische Untersuchung.

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DER

ABWEICHUNG

„B. ist ein ausgesprochener Gewohnheitsverbrecher“, wie es in der bereits zitierten Akte hieß. Die routinierte, terminologisch sichere und semantisch konsistente Klassifizierung eines Strafgefangenen im Rahmen einer Krimi-

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nalbiologischen Untersuchung zeigt, dass es sie nun offenbar gab, die Liszt geforderte „genaue Kenntnis“ vom Gewohnheitsverbrecher; scheinbar waren diese und andere Verbrecherkategorien hinreichend profiliert, um sie einem Individuum zurechnen zu können. Dass ein Mensch ein Gewohnheitsverbrecher sei, war nachweisbar geworden, Kategorie und Mensch konnten mittels eines differenzierten Kriterienkataloges und einer Anamnese aufeinander bezogen und als eine Einheit diagnostiziert werden. Die Untersucher rückten dabei mit einer zuvor nicht gekannten Detailtiefe an das Leben und den Körper eines Gefangenen heran: Seine Familie, seine Entwicklung, seine Persönlichkeit in psychologischer und charakterlicher Hinsicht wurden ausgeleuchtet, einzelne Begebenheiten und Merkmale isoliert, fragmentiert, um an diesen Fragmenten noch kleinste Auffälligkeiten zu finden, Abweichungen von einer vorausgesetzten rechtschaffenen Norm: „sozial nie selbständig gewesen“, „Wille schwach“, „in schlechte Gesellschaft gekommen“, „Intelligenz: mittel“, wie etwa bei H. notiert wurde. Die Kriminalbiologische Untersuchung erscheint aus dieser Perspektive wie der Versuch, in der Biografie und am Körper eines Verbrechers jene Wegpunkte zu finden, die die Richtung zu den Ursachen seiner Kriminalität weisen könnten; sie erscheint wie der Versuch, die kriminogenen Faktoren zu kartografieren, an Leben und Körper des Verbrechers gleichsam eine Landkarte der Abweichung zu zeichnen. Zieht man nun noch das Beispiel des Falls B. heran, so zeigt sich aber auch, dass nicht nur der einzelne Verbrecher in den kriminalbiologischen Fokus geriet, sondern auch dessen Familie und Verwandtschaft. Waren auch sie wegen „degenerativer“ Züge oder Kriminalität „auffällig“, dann wurden sie notiert und im erbbiologischen Erfassungsnetzwerk registriert. Die riesige Zahl solcher Art erfasster Menschen aus den „Verbrechen erzeugenden Schichten“ machte schon die Zeitgenossen glauben, dass die undeutliche Vorstellung von einem „Heer der grundsätzlichen Gegner der Gesellschaftsordnung“, das Liszt 1882 als charakteristisch für die Kriminalität seiner Zeit hielt, nun Gesicht, Namen und Umfang bekommen hatte: Konkrete Personen waren namentlich, mit ihren Familien und Lebensumständen in der Kartei der Kriminalbiologischen Sammelstelle aufgeführt; sie ergaben eine benennbare Summe verbrecherischer Menschen. Mit dieser Sammlung aber war anderes intendiert als etwa mit den erkennungsdienstlichen Verbrecherkarteien, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa bei der Fahndung nach Verbrechern halfen: Die massenhafte Erfassung von Personen aus dem Umkreis von Strafgefangenen in der Kriminalbiologischen Untersuchung sollte eine Landkarte der „sozialen Krankheitserscheinungen“ zeichnen, sollte jene Bevölkerungsgruppe „erbbiologisch, psychiatrisch und anthropologisch“ erfassen, die „durch die Tatsache der verbrecherischen Betätigung“ erkennbar und abgrenzbar und, so könnte man hinzufügen, bevölkerungs- und strafpolitisch beherrschbar und ‚eliminierbar‘ zu sein schien (Viernstein 1936: 6). Die Kriminalbiologische Untersuchung mit anschließender Dokumentation in einer Sammelstelle versprach also, das „Gauner-



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tum“, wie Liszt gefordert, „sozialethisch festzustellen“ und so das Wissen, das ihm zu dessen Bekämpfung noch fehlte, bereitzustellen. Schon diese erste Übersicht lässt erkennen, dass mit Kriminalbiologischer Untersuchung und Sammelstelle zwei Ausmessungs- bzw. Erfassungsrichtungen intendiert waren, nämlich einmal die Ausmessung und Erfassung der körperlichen, sozialen und psychologischen Wesenheit des einzelnen Gefangenen, wodurch dessen Besserungsfähigkeit bestimmt werden sollte, und sodann die (namentliche) Erfassung der Verwandtschaft des einzelnen Gefangenen, wodurch eine „verbrecherische Schicht“ innerhalb der Bevölkerung abgegrenzt und vermessen werden sollte. Nicht nur metaphorisch lassen sich Parallelen ziehen zwischen dieser Art der Vermessung und der topografischen Erfassung von Gelände und der Bestimmung der Merkmale von Landschaften: Die Kriminalbiologische Untersuchung war der Versuch, in der Biografie und am Körper eines Verbrechers jene distinkten ‚Landmarken‘ zu finden, die seine Wesenheit und die Merkmale seiner Kriminalität bestimmen können. Und die massenhafte Erfassung von Personen aus dem Umkreis von Strafgefangenen in der Untersuchung und in der Sammelstelle erscheint als Versuch, jene Bevölkerungsgruppe zu kartografieren, die durch ihre kriminelle Betätigung erkennbar und abgrenzbar zu sein schien. Sie war der Versuch, die vermeintlichen Angehörigen dieser Gruppe in ihren signifikanten Beziehungen zueinander gleichfalls topografisch zu erfassen. Unter Beibehaltung der Metapher von der topografischen Erfassung von (kriminellen) Merkmalen als ‚Landmarken‘ möchte ich die erste Ausmessungs- bzw. Kartografierungsrichtung als Mapping the criminal bezeichnen, die zweite als Mapping criminality.6 Auf eine knappe Formulierung gebracht, war Ziel und Effekt von Kriminalbiologischer Untersuchung und Sammelstelle die umfassende Topografie der Abweichung, die sich einerseits am verbrecherischen Körper des einzelnen Strafgefangenen, andererseits an den Erscheinungsformen der kriminellen Gegenwelt entfaltete. Dass die Kriminalbiologische Untersuchung auch die Operationalisierung von Verbrecherkategorien wie etwa „Gewohnheitsverbrecher“ ermöglichen sollte, war der eigentliche Hintergrund der Untersuchung: Die Frage nach der Besserungsfähigkeit eines Menschen und danach, wie diese denn zu ermitteln sei, war eben jene Frage, die mit der Kriminalbiologischen Untersuchung von Strafgefangenen beantwortet werden sollte, konnte mit ihr doch am konkreten Strafgefangenen scheinbar ein Verbrechertypus nachgewiesen und seine zukünftige Gefährlichkeit bestimmt werden. Der auf diese Weise nachgewiesene und verwahrheitete Verbrecher konnte dann mit wissenschaftlicher Legitimation seiner adäquaten Behandlung im Rahmen des Stufenstrafvollzugs zugeführt werden: der besserungsfähige Gele-

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Die Anglizismen seien mangels überzeugender Alternativen verziehen; man könnte etwas holprig von ‚Kartografierung des Verbrechers‘ und von ‚Kartografierung der Kriminalität‘ sprechen, ohne jedoch die semantische Zuspitzung, die dem englischen Wort mapping eigen ist, zu erreichen.

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genheitsverbrecher der Erleichterung seiner Haftbedingungen auf dem Weg zur Resozialisierung, der unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher hingegen dem Absitzen der Haftstrafe zum Schutz der Gesellschaft vor dem ihm unterstellten, habitualisierten kriminellen Hang. Und auch für das Problem, wie denn das „Gaunertum sozialethisch“ festzustellen sei, war mit der namentlichen Erfassung des Verwandtenkreises eines Strafgefangenen in der Kriminalbiologischen Sammelstelle vermeintlich eine Lösung gefunden, die nahelegte, die „Verbrechen erzeugenden Schichten“ nachweisen zu können. Mit der Einrichtung dieser beiden Nachweispraktiken, der Untersuchung und der Sammelstelle, schien also jenes Wissen vom einzelnen, konkreten Verbrecher und vom Verbrechertum insgesamt bereitzustehen, das Liszt noch gefehlt hatte. In diesem Sinne besteht zwischen dessen Auffassungen über Verbrechen und Strafen auf der einen und der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle auf der anderen Seite durchaus ein Zusammenhang, stellen sie doch gleichsam Endpunkte eines Spannungsbogens dar: Das gefährliche Individuum und die Bedrohung, die von ihm für die Integrität der Gesellschaft ausgehe, wurde nicht zuletzt wegen Liszts einflussreichem Text zur Leitfigur im Denken und Sprechen über den Verbrecher und auch im Umgang mit ihm. Mit der Kriminalbiologischen Untersuchung glaubte man ein Instrument an der Hand zu haben, den Grad der Besserungsfähigkeit eines Strafgefangenen auf vermeintlich objektive Weise bestimmen zu können, um ihn entsprechend im Stufenstrafvollzug einordnen zu können. Und die Karteikarten in der Sammelstelle repräsentierten Verknüpfungen zwischen kriminellen Individuen, die gedanklich und argumentativ eine vermeintlich verbrecherische Schicht ergaben. Genau genommen stellen Liszts Überlegungen und die Kriminalbiologische Untersuchung und Sammelstelle aber nicht die exakten Endpunkte des Spannungsbogens dar. Liszt kann man durchaus zumindest nahe des Endpunktes auf der einen Seite platzieren, waren seine Überlegungen nicht nur die damalige Diskussion zusammenfassender, sondern auch weiterführender, Neues anstoßender Art. Und der Endpunkt auf der anderen Seite wird nicht ganz von der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle markiert, sondern vielmehr vom „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und Maßregeln zur Sicherung und Besserung“ vom 24. November 1933. Dieses Gesetz verwirklichte eine über fünfzig Jahre nicht zur Umsetzung gekommene Debatte über eine Strafrechtsreform zumindest in diesem Bereich und machte die von Liszt geforderte „Sequestrierung“ der als unverbesserlich eingeschätzten Verbrecher in Form der unbestimmten Sicherungsverwahrung nach der Haftstrafe möglich – und zwar auf nationalsozialistische Weise: mit Willkür und Terror. Man darf sich diesen Spannungsbogen nun jedoch nicht als einfache Kausalität vorstellen; vielmehr handelt es sich beim Denken und Sprechen über den Verbrecher und beim Umgang mit ihm um ein Dispositiv ganz im Sinne Michel Foucaults, um ein entschieden heterogenes Ensemble, „das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende



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Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst. […]. Das Dispositiv ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft ist.“ (Foucault 1978b: 119f.) Bei Liszt finden sich, zusammengefasst, systematisiert und in nuce formuliert, Elemente einer neuen Strafpolitik, die seit Ende des 19. Jahrhunderts breit in Strafrecht und Strafvollzug, aber auch in verschiedenen Wissenschaften, namentlich der Psychiatrie und der entstehenden Kriminologie, sowie in der Öffentlichkeit diskutiert wurden und die den Anstoß gaben zu Reformdebatten und zu Veränderungen in eben diesem auf den Verbrecher bezogenen Denken, Sprechen und Handeln. Die Kriminalbiologische Untersuchung und die Sammelstelle stellen eine dieser Veränderungen dar und gehören demnach ebenso wie das Programm Liszts, wie Reformen im Strafrecht und im Strafvollzug oder Ausprägungen des wissenschaftlichen Denkens über Kriminalität zum modernen Strafdispositiv, das im einzelnen Verbrecher, im Täter also und nicht in der Tat, seinen Gegenstand hatte. Hier fanden jene diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken, die ein Dispositiv nach Foucault ausmachen, zusammen – als Wechselspiel von Sprechen, Denken und Handeln auf der Basis von Wissen über den Verbrecher. Wissen ist daher das Fundament und gleichzeitig Kernelement eines Dispositivs, und hier zeigt sich die Bedeutung von Kriminalbiologischer Untersuchung und Sammelstelle als Wissen generierende Praktiken: Sie machten dieses Wissen über den Verbrecher und die vermeintlich verbrecherischen Schichten durch Handlungen und Tätigkeiten sichtbar, gegenständlich und operationalisierbar (Jäger 2001: 73). Und noch ein weiterer Aspekt zeigt, dass man es hier mit einem Dispositiv zu tun hat: Die Hauptfunktion eines Dispositivs besteht nach Foucault darin, „zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt […] auf einen Notstand zu antworten.“ (Foucault 1978b: 120) Auf eine einfache Formel gebracht, könnte man sagen, dass eine Krise, dass ein gesellschaftlicher Notstand, zur Generierung von Wissen anreizt. Zweifellos skizzierte Liszt mit seiner Wahrnehmung eines massenhaften Anstiegs der Kriminalitätsraten auf der einen, mit der Postulierung einer Effektivitätskrise des nicht-bessernden Strafvollzugs auf der anderen Seite und schließlich mit der Schlussfolgerung einer massiven Bedrohung vor allem durch rückfällige Verbrecher, durch das Gewohnheitsverbrechertum also, das dramatische Szenario eines gesellschaftlichen Notstands. Die Reaktionen auf diesen Notstand in Wissenschaft, Strafrecht und Strafvollzug basierten vor allem darauf, ihren Gegenstand, den Verbrecher, in den Mittelpunkt zu rücken, wofür man ihn zunächst besser kennenlernen musste: durch mehr und besseres Wissen auf der abstrakten Ebene der Wissenschaft einerseits, auf der konkreten, gleichsam praktischen Ebene von Strafverfolgung und Strafvollzug andererseits. Die Krise (durch die vermeintliche Bedrohung durch Verbrechen) reizte zu Wissen (über den Verbrecher) an, um damit auf eben diese Krise zu antworten.

Forschungsstand und Fragestellungen

Kriminalbiologie und Kriminalbiologische Untersuchung waren bereits mehrfach Gegenstand der historischen Forschung. Nach einer bereits älteren Darstellung von Gerd-Rainer Oberthür, der Mitte der 1970er Jahre für die Einrichtung eines Kriminologischen Dienstes in der Bundesrepublik warb und dabei frühere ähnliche Einrichtungen wie den Kriminalbiologischen Dienst in Bayern und im Reich nach 1933 darstellt (Oberthür 1976: 3-22), hat die neuere Forschung erst kürzlich die Kriminologiegeschichte und damit auch die Kriminalbiologische Untersuchung wiederentdeckt. Der Fokus der Forschung liegt seit den 1990er Jahren bis auf Ausnahmen (Lees 2002) vor allem auf der hegemonialen Tendenz der Kriminologie in den 1920er und 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts, der Kriminalbiologie (Sack 1999; Simon 1999; Hahn Rafter 1997; Gadebusch-Bondio 1995). Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat ihr 1997 einen ganzen Sammelband gewidmet (Kriminalbiologie 1997). Dabei ist bislang ein deutliches Bild über Entwicklung und Konzeptionalisierung, über Etablierung und Institutionalisierung, über personale Verflechtungen und Konkurrenzen und über die Wirkmächtigkeit der Kriminalbiologie entstanden. Zumeist hergeleitet aus deren rassenhygienischen Vorstellungen wird die Kriminalbiologie in den Prozess der Modernisierung eingeordnet, der nicht zuletzt auf Rationalisierung und Disziplinierung, auf einem an soziale Wertigkeit gebundenen Zugang zu Wohlfahrt und Sozialleistungen beruhte. Im Kern der kriminalbiologischen Theoriebildung stand die Vorstellung der „Minderwertigkeit“, die in der Kriminalbiologie in Bezug auf den Verbrecher wissenschaftlich fundiert und in der Kriminalbiologischen Untersuchung administrativ exekutiert wurde. 1999 erschien Oliver Liangs Studie „Criminal-Biological Theory, Discourse, and Practice in Germany, 1918-1945“. Neben der Darstellung der theoretischen Komponenten der Kriminalbiologie, der Unterstützer des kriminalbiologischen Projekts sowie der Einrichtungen und Gesetze, die ihre Implementierung in der Strafpraxis ermöglichten, steht die Kriminalbiologische Untersuchung in Bayern im Fokus der Arbeit. Liangs zentrale Aussage liegt darin, dass mit der Kriminalbiologie und damit auch der Kriminalbiologischen Untersuchung in Bayern vor allem die moralische Umgestaltung

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der Gesellschaft auf biologischer Basis intendiert war. Liang arbeitet sehr treffend Viernsteins Überzeugung heraus, dass die Biologie die Basis von Moral sei, weshalb jede Besserung eines Gefangenen von seiner biologisch gedachten charakterologischen Konstitution ausgehen müsse, die wiederum die Besserungsfähigkeit bestimme. Diese Vorstellung einer biologischen Moral entstand vor dem Hintergrund der massiven sozialen und moralischen Umwälzungen um die Jahrhundertwende und nach dem Ersten Weltkrieg: „The moral crisis for criminologists was their perception of a fundamental absence of moral values as a result of religious decline and the quickened pace of urbanization, industrialization, and the overall disintegration of the bourgeois establishment.“ (Liang 1999: 206) Wenn die Biologie aber die Basis von Moral war, dann konnten nur biologisch „gesunde“ Menschen moralische Werte entwickeln; in einem Zirkelschluss folgerten viele Kriminalbiologen, dass unsittliche, und das hieß letztlich unbürgerliche Menschen biologisch nicht vollwertig seien und dass diese Verbindung zwischen Moral und Biologie mit wissenschaftlichen Methoden wie etwa der Kriminalbiologischen Untersuchung nachgewiesen werden könne. Wolfgang Burgmaier, Nikolaus Wachsmann und Matthias Weber publizierten ebenfalls 1999 einen aufschlussreichen Aufsatz über Theodor Viernstein und die Kriminalbiologische Untersuchung (Burgmair et al. 1999). Sie rücken vor allem Viernsteins ehrgeiziges Ziel, seine Untersuchung im bayerischen Strafsystem zu etablieren, in den Mittelpunkt und stellen anhand von bis dahin nicht ausgewerteten Quellen Viernsteins Vernetzung und Karriere innerhalb der bayerischen Justizverwaltung und auch innerhalb des wissenschaftlichen Netzwerks der Kriminologie und der Rassenhygiene dar. Eine umfangreiche Arbeit zur Kriminalbiologie hat auch Jürgen Simon vorgelegt (Simon 2000). Sie gibt einen in Vielem konzisen Überblick über die Kriminalbiologie bis 1945 auf breiter Basis literarischer und archivalischer Quellen: Entwicklungszusammenhänge der Kriminalbiologie im humanwissenschaftlichen und eugenischen Kontext werden angesprochen, Kernfragen der kriminalbiologischen Forschung diskutiert und die Etablierung und Durchführung der Kriminalbiologischen Untersuchung in vier Varianten (Bayern, Sachsen, Preußen und Graz) deskriptiv-vergleichend dargelegt. Simon versucht gemäß seiner Grundthese, dass Kriminalbiologie und Zwangssterilisationen Ausdruck wie Ergebnis des rassenhygienischen Diskurses seien, beide als Handlungsfelder von eugenischem Rassismus in Rechtstheorie und Rechtspraxis in ihrer Entwicklung, Formierung und praktischen Durchführung zu untersuchen. Auch wenn bereits die Vergleichbarkeit beider Handlungsfelder auf einer grundlegenden Ebene vorsichtig hinterfragt werden kann, so ist Simon zuzustimmen, wenn auch er Kriminalbiologie und Zwangssterilisation historisierend in den „janusköpfigen“ Prozess der Modernisierung (Detlev Peukert) stellt. Das Urteil, das von „einer im Dritten Reich kulminierenden Kontinuität ausgegangen“ werden könne (Simon 2000: 21), scheint jedoch sehr weit – zu weit – zu reichen. Überaus hilfreich aber ist Simons genaue Aufbereitung der Akten zur Einrichtung der

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Kriminalbiologischen Untersuchung in Bayern; auch die Aufarbeitung der in den Akten des Bayerischen Justizministeriums archivierten statistischen Angaben über Umfang und Wirkung der Untersuchung, zu Art und Typus der untersuchten Verbrecher, erweist sich als eine verlässliche Stütze. Bei der Untersuchung der Einzelakten der Kriminalbiologischen Untersuchung bleibt er dagegen stichprobenartig. In der Frage der Modernität der Kriminologie argumentiert auch Richard Wetzell in seiner Kriminologiegeschichte in eine ähnliche Richtung (Wetzell 2000). Während er auf der einen Seite die fortschrittlichen Elemente in der Kriminologie (und das waren zwischen 1880 und 1945 eben anthropologisch fundierte, medizinisch untermauerte Vorstellungen) in den Kontext breiter Strömungen der Moderne einordnet, macht er auf der anderen Seite zugleich auch deutlich: „modern sciences were not exclusively progressive in their social implications but also had a dark side.“ (Wetzell 2000: 8) Diese Ambivalenzen sind gleichsam paradigmatisch in der Kriminologie mit ihrem „both emancipatory and repressive potential“ präsent. Nicht nur im wissenschaftlichen Feld, sondern auch und nicht zuletzt in ihrem sozialpolitischen Anspruch, was sich auch an der Kriminalbiologischen Untersuchung ablesen lässt (Wetzell 2000: 128-142), die im Rahmen eines progressiven, pädagogischen Stufenstrafvollzugs Tendenzen zur Repression unerwünschter Personen aufwies. Die Kriminologie erweist sich also – wie andere Wissenschaften vom Menschen auch: Medizin, (Rassen)Hygiene, Psychiatrie – als Wissenschaft der Moderne. Das allerdings schließt die Rolle dieser Wissenschaften im „Dritten Reich“ mit ein. Aber: Die Verbindung zwischen Kriminologie und nationalsozialistischer Biopolitik war komplizierter, als oft angenommen wird. Wesentliches Merkmal der Kriminologie war auch nach 1933 nicht allein jener krude, von den Nationalsozialisten präferierte rassistische Determinismus, sondern – infolge einer allmählichen Offenlegung der komplexen Interaktion zwischen Anlage und Umwelt – eine spannungsreiche theoretische Synthese genetischer und sozialer Einflussfaktoren bei der Verbrechensentstehung. Mit dieser differenzierten Argumentation ist zudem gezeigt, dass die Strukturierung der Kriminologiegeschichte nach politischen Systemen (abgesehen vom chronologischen Sinn) wissenschaftshistorisch kaum erhellend ist: Bei aller Bedeutung, die man staatlich geförderter Forschung, staatsdoktrinären Programmen und hegemonialen Weltanschauungen zubilligen muss: Soziale Einflussfaktoren und ihr Wandel fallen nicht einfach mit dem Wechsel politischer Systeme zusammen. Das historische Gewicht des Nationalsozialismus wirkt hier aber häufig strukturgebend: Man ist versucht, den politischen und disziplingeschichtlichen Verlauf zu einer denkhistorischen Einheit zu synthetisieren; nur so ist die Verwunderung zu erklären, die aufkommt, wenn man sich bewusst macht, wie und warum rassenhygienische Gedanken in der Kriminologie zur Zeit der Weimarer Republik an Boden gewannen oder wenn, wie bei Wetzell, gezeigt wird, dass fundamentale Kritik an der kriminalbiologischen Variante der Kriminologie nach 1933 nicht nur möglich war, sondern auch



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praktiziert wurde (Wetzell 2000: 202-231). Eine Trennung nach Strömungen oder eben politischen Systemen zwängt das Kontinuum der Kriminologiegeschichte nicht nur in ein zu enges Korsett, sie bringt auch ideologiegleiche Postulate in Anschlag, die den Blick auf die eigentlichen Verhältnisse aufgrund ihrer vorgängigen Erwartungshaltungen verstellen. Veronika Lipphardt kritisiert in einem Aufsatz über die deutsche Rassenforschung vor 1933 dieses backshadowing, bei dem die Perspektive auf die Zeit vor 1933 verengt wird und plädiert für ein sideshadowing, das die kontingente, „einer historischen Situation innewohnende Vielzahl an möglichen Zukunftsentwicklungen berücksichtigt, ohne dabei die tatsächlich stattgefundene in ihrer gravierenden Singularität zu relativieren.“ (Lipphardt 2005: 63) Gerade die Forschung zur Kriminalbiologischen Untersuchung in der bayerischen Variante ist vor diesem backshadowing nicht gefeit, gehen die meisten Publikationen doch von dem mit ihr verbundenen rassenhygienischen Impetus aus und sehen in ihr den institutionalisierten Schritt zur Praxis der Ausmerzung gesellschaftlicher Randgruppen wie Verbrechern, „Erbkranken“ und „Asozialen“ im Nationalsozialimus (Simon 2000: 128). Praktiken wie die Kriminalbiologische Untersuchung seien lediglich Vorbereitungen zur staatsideologischen Ausgrenzung, die nach 1933 nur noch, wie Simon sagt, verwirklicht werden mussten. Dieser Ansatz greift jedoch zu kurz. Differenzierter argumentiert Christian Müller in seiner Studie „Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat“. Dem Stufenstrafvollzug in Bayern, der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle widmet er einen umfangreichen Abschnitt (Müller 2004: 228-271). Müller legt den repressiven Charakter von Stufenstrafvollzug, Untersuchung und Sammelstelle offen, indem er den Stufenstrafvollzug als Selektionsinstrument interpretiert, das eine Verschlechterung der Situation der Gefangenen mit sich gebracht habe. Und in der auf der Kriminalbiologischen Untersuchung basierenden sozialen Prognose erkennt er aufgrund ihres stigmatisierenden Charakters das Potential für eine gestörte Resozialisierung. Hier weist Müller ganz zutreffend nach, dass sich Stufenstrafvollzug und Kriminalbiologische Untersuchung wechselseitig beeinträchtigten und die propagierten Ziele – Bestimmung der Besserungsfähigkeit einerseits, Resozialisierung andererseits – nicht im gewünschten Maße erfüllt worden sind. Auch Imanuel Baumann nimmt sich in seiner Geschichte der Kriminologie in Deutschland zwischen 1880 und 1980 der Kriminalbiologie an (Baumann 2006: 55-79). Hier liegt der Schwerpunkt aber auf der kriminologischen Theoriebildung in diesem langen Zeitraum. Mit der Kriminalbiologischen Untersuchung, der Debatte um Sterilisation und Sicherungsverwahrung und der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik werden Kriminalpolitik und Strafrechtspraxis in der Weimarer Republik und im Nationalsozialimus thematisiert. Dieser Teil dient jedoch lediglich als Ausgangspunkt für den eigentlichen Fokus, die Darstellung der Entwicklung der Kriminologie nach 1945. Baumann bietet einen soliden Überblick auf etwas dünner Quellenbasis, geht aber kaum über den Stand der Forschung hinaus.

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Zwei Arbeiten zur Kriminologiegeschichte müssen noch erwähnt werden, da sie zu deren Entwicklungsgeschichte wesentliche neue Impulse für die Forschung geliefert haben. Peter Beckers Studie „Verderbnis und Entartung“ führt mit dem Begriff des Erzählmusters eine neue analytische Kategorie in die Kriminologiegeschichte ein. Erzählmuster sind, wie noch ausführlich zu zeigen sein wird, für ihn Strukturelemente des kriminologischen Diskurses. Sie setzten Bilder vom Verbrecher in Bezug zum zeitgenössischen Wissen über die Entstehung von Kriminalität und zu Vorstellungen von Anständigkeit und Konformität. Sie seien ein unreflektierter, kollektiver Bestandteil des (Be)Schreibens und Denkens über Kriminelle, weil sie theoretische wie empirische Wissensbestände zu einer allgemein akzeptablen Erzählung organisierten, den empirischen Beobachtungen Sinn verliehen und die Auswahl sowohl der erklärenden Theorie von abweichendem Verhalten als auch der sprachlichen Mittel, mit denen kriminelles Handeln zum moralisch-sittlichen, sozialen oder psychischen Defizit im Kontrast zu Konformität und letztlich zur bürgerlichen Gesellschaft erklärt wurde, bestimmten (Becker 2002: 30-32). Becker erkennt im Diskurs über den Verbrecher im 19. und frühen 20. Jahrhundert zwei Erzählmuster, das vom „gefallenen Menschen“ zum einen, das Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ zum anderen. Im Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“ hätten moralische Deutungen von Kriminalität dominiert, die davon ausgingen, dass der Verbrecher aufgrund einer dem Sündenfall ähnlichen falschen Entscheidung auf die schiefe Bahn gekommen sei und aus freier Entscheidung dort verharre. Im Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ hingegen wurde der Verbrecher als eine Person mit körperlichen und geistigen Defiziten gesehen, die sich deshalb nicht zu einem sittlich und sozial vollwertigen Menschen habe entwickeln können. Seine Kriminalität entstünde aus diesen, häufig in der Anlage des Verbrechers vermuteten Defiziten, aus seiner „Minderwertigkeit“. Vor dem Hintergrund des eben über die Frage von Kontinuitäten und Brüchen im Diskurs über den Verbrecher Gesagten erscheinen seine Thesen als ein Schritt in eine richtige Richtung, wird das Konzept der Erzählmuster dem historischen Verlauf doch eher gerecht, da es die Aussagen über den Verbrecher analytisch bündelt und zeigen kann, dass der „gefallene Mensch“ und der „verhinderte Mensch“, über die zeitlichen Grenzen politischer Systeme hinweg, Erzählmuster von langer Dauer waren. Becker interpretiert das Verhältnis der beiden Erzählmuster aber auch, wie gesagt, als Ablösung des einen durch das andere; dies aber will die vorliegende Studie differenzieren und die Fortwirkung früherer Vorstellungen über den Verbrecher aufzeigen: In der Kriminalbiologischen Untersuchung standen beide Erzählmuster nebeneinander. Silviana Galassi stellt die Geschichte der Kriminologie im Deutschen Kaiserreich als eine „gebrochene Verwissenschaftlichung“ dar und widmet den kriminologischen Theorien sowie der Institutionalisierung der Kriminologie breiten Raum (Galassi 2004). Der Begriff der „gebrochen Verwissenschaftlichung“ wird aus verschiedenen Gründen verwendet: Einerseits zeigt



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Galassi, dass es die kriminologischen Autoren nicht vermochten, den Diskurs über den Verbrecher von moralischen Konnotationen zu befreien und den Rechtsbrecher nach wissenschaftlich-objektiven Maßstäben zu beurteilen. Andererseits war die Geschichte der Kriminologie eng an die Entwicklung in der Strafrechtswissenschaft geknüpft, wobei die Kriminologie im Rahmen der Juristenausbildung nur zögerlich in das Fach aufgenommen wurde. Außerdem stellt sie fest, dass kein richtungsweisender Einfluss der Kriminologie auf die zentralen Themen der kriminalpolitischen Diskussion und auf die Entwürfe für eine Strafrechtsreform zu erkennen seien. Insgesamt sei die Entwicklung der Kriminologie zwar ein Prozess der Verwissenschaftlichung gewesen, der jedoch von Blockaden und Brüchen gekennzeichnet gewesen sei. Galassis Auffassung eines linearen Verwissenschaftlichungsprozesses ist sicherlich kritisch zu hinterfragen: Es kann bezweifelt werden, ob sich für die Kriminologie die These halten lässt, dass zunächst eine „primäre Verwissenschaftlichung“, in der soziale Fragen wissenschaftlich thematisiert und problematisiert wurden, in die Ausdifferenzierung neuer Fachrichtungen führte, und dann, in einem zweiten Prozess der „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft“, Wissen aus dem abgebenden System Wissenschaft in das aufnehmende System sozialer Bereiche diffundierte. Die vorliegende Studie geht demgegenüber von einer Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichem Problemlösungsbedarf und wissenschaftlichen Angeboten zum Lösen dieser Probleme aus, wie in der methodischen Orientierung noch präziser und am Beispiel der Kriminalbiologischen Untersuchung dann auch auf der konkreten Handlungsebene gezeigt werden soll. Die bisherigen Ergebnisse der Forschung zur Geschichte der Kriminologie und der Kriminalbiologischen Untersuchung lassen also verschiedene Beschreibungs- bzw. Deutungslinien erkennen, die einerseits wichtige Erkenntnisse über Untersuchung und Sammelstelle geliefert haben, die andererseits aber noch Raum für Perspektiverweiterungen lassen. In der Darstellung der Kriminalbiologischen Untersuchung überwiegt, wie gezeigt, in der Regel der Blick auf ihre Einrichtung und ihre Durchführung. Dazu lässt sich kaum etwas Neues hinzufügen, so dass in der vorliegenden Studie nur der Versuch unternommen wird, die Hintergründe etwas ausführlicher darzustellen und die in der Forschung genannten Aspekte und Schlussfolgerungen zu bündeln und zu systematisieren. Darüber hinaus aber sollen in Bezug auf Kriminalbiologische Untersuchung und Sammelstelle verschiedene wissenshistorische Aspekte diskutiert werden: Wissenschaftliche und lebensweltliche Einflüsse, Wissensgenerierung und Repräsentation, Theorie-Praxis-Problematik, Nachweissystem und wissenschaftliche Tatsachen.

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W ISSENSCHAFT

UND

L EBENSWELT

Wie einleitend angemerkt, ließ Viernstein Wissen aus verschiedenen wissenschaftlichen Feldern in die theoretische Konzeption und in das Untersuchungsdesign der Kriminalbiologischen Untersuchung einfließen: aus der entstehenden Kriminologie, aus der Psychiatrie, aus der Psychologie und der Charakterologie, aus der Pädagogik und der Soziologie, aus der Anthropologie schließlich und der Rassenhygiene. Sehr zutreffend beschreiben Burgmair, Wachsmann und Weber, es sei hier wiederholt, den Zuschnitt der Kriminalbiologischen Untersuchung als eine „eklektische Mischung verschiedener wissenschaftlicher und – auch nach damaligen Maßstäben – pseudo-wissenschaftlicher Theorien.“ (Burgmair et al. 1999: 256) Der analytische Blick hat sich daher nicht nur auf die Einrichtung und die Praxis der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle zu richten, sondern eben auch auf das vielfältige vorgängige Wissen, das ihre Konzeption und das Untersuchungsdesign – also die Form des in der Untersuchung verwendeten Fragebogens – bestimmte. Dies hat die bisherige Forschung lediglich teilweise getan: Wohl verleitet durch das Adjektiv „kriminalbiologisch“, hat sie sich in erster Linie der Biologie in ihrer biologistischen Form als Sozialdarwinismus und Rassenhygiene und damit der Kriminalbiologie als dominantem Einfluss auf die Untersuchung zugewandt. So bilanziert Baumann, dass „der von Viernstein entworfene und im Laufe der zwanziger Jahre revidierte Fragebogen von erbbiologischen Ansätzen dominiert“ worden sei und „täterspezifische Umweltaspekte nur am Rande“ einbezogen habe. (Baumann 2006: 57) Auch Oberthür versteht die Kriminalbiologische Untersuchung als eine biologisch fundierte Untersuchungspraxis: „Der endgültige bayerische Untersuchungsbogen war hauptsächlich auf die Erforschung der Erbanlagen ausgerichtet, da man der Ansicht war, daß die Unverbesserlichkeit des Gefangenen in erheblichem Maße auf der Fehlerhaftigkeit seiner ererbten Anlagen beruhe.“ (Oberthür 1976: 7f.) Und Simons Perspektive schließlich folgt ganz seiner Prämisse, dass Untersuchung und Sammelstelle einzuordnen seien in das rassenhygienische Projekt, das, in der Weimarer Zeit vorbereitet, nach 1933 in die Ausmerze-Ideologie und -Praxis gemündet habe. Der Einfluss der Biologie, besser: der biologisierten Wissenschaften, auf Konzept, Design und Praxis von Untersuchung und Sammelstelle war zweifellos ein Kernelement dieses Persönlichkeitstests. Doch darin, vor allem in der Erbbiologie, erschöpften sich nicht die Perspektiven der Kriminalbiologischen Untersuchung; sie war breiter angelegt. Was, oberflächlich betrachtet, zunächst nur eine Frage der Terminologie zu sein scheint, schränkt den Erkenntnisgehalt der bisherigen Forschung auf gewisse Weise ein: Denn deren Konzentration auf die Rolle der (Erb)Biologie für den Zuschnitt von Untersuchung und Sammelstelle hat nämlich zur Folge, dass andere, zum Teil deutlich wichtigere Einflussfaktoren in ihrer Bedeutung für die Konzeptionierung und die Durchführung der Untersuchung bislang nicht explizit analysiert worden sind. Dies betrifft etwa die



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Charakterologie aus der wissenschaftlichen Sphäre, aber auch die vorgängigen Moralvorstellungen aus der lebensweltlichen Sphäre, die in der theoretischen Konzeption Viernsteins ebenso eine Rolle spielten wie in der konkreten Auslegungsarbeit der Untersucher während einer Exploration. Die zentrale Rolle und der im Verhältnis sehr große Anteil der Charakterologie an der Untersuchung (annähernd zwei Drittel der Untersuchungspunkte hatten einen charakterologischen Hintergrund, und die für die soziale Prognose ausschlaggebenden Kriterien waren charakterologische) legen es im historischen Rückblick nahe, nicht von einer kriminalbiologischen, sondern von einer kriminalcharakterologischen Untersuchung zu sprechen. Da der Charakter für Viernstein Rückschlüsse auf die sittliche Verfasstheit des Verbrechers zuließ, fanden sozial-moralische Werturteile gleichsam durch die Hintertür wieder Eingang in die vorgeblich objektive, wissenschaftliche Untersuchung. Dies geschah vor allem über lebensweltliche Perspektiven auf den Verbrecher: „Criminal-biological evaluations were effective in defining a range of undesirable behaviors, yet their implicit purpose was to present these as a backdrop to a canon of desirable moral, bourgeois behavior.“ (Liang 2006: 441) Aus dieser Sicht erscheint die Kriminalbiologische Untersuchung wiederum als eine kriminalmoralische Untersuchung. Ein Erkenntnisinteresse dieser Arbeit bezieht sich daher auf die wissenschaftlichen und lebensweltlichen Faktoren, die von Einfluss auf die Konzeption und die Durchführung der Kriminalbiologischen Untersuchung waren. Im Vordergrund steht dabei die Frage, wie sich die charakterologischen Vorstellungen und die lebensweltlichen, sozial-moralischen Hintergründe in der Konzeption und im Fragebogen der Untersuchung einerseits, in den Schlussfolgerungen der Untersucher andererseits und damit auf die sozialen Prognosen, die den Strafgefangenen gestellt wurden, ausgewirkt haben.

W ISSENSGENERIERUNG UND R EPRÄSENTATION Die bisherige Forschung weist in diesem Zusammenhang noch eine andere Perspektivverengung auf: Wegen ihrer Konzentration auf Einrichtung und Praxis von Kriminalbiologischer Untersuchung und Sammelstelle ist das in deren Erfassungs- und Vermessungspraktiken generierte Wissen bislang nur am Rande thematisiert worden – wenn überhaupt. Dieses Wissen und sein Zustandekommen stellt ein weiteres zentrales Erkenntnisinteresse dieser Studie dar. Dafür werden vor allem das Design der Untersuchung, also der verwendete Fragebogen, sowie die konkrete Durchführung von kriminalbiologischen Untersuchungen einer intensiven Analyse unterzogen. Der Fragebogen erlaubte es dem Untersucher, Wissen aus vier Ausmessungsbereichen zu erhalten: Wissen über die Familie und die Verwandtschaft des Probanden, Wissen über dessen Biografie und Lebensführung, Wissen über den Charakter und das Temperament des Gefangenen sowie über seine Haltungen und seine Gesinnung und schließlich Wissen über die Maße und Merk-

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male seines Körpers. Hinzu trat das professionelle Wissen des Untersuchers, entstanden aufgrund der Erfahrung, die das Strafanstaltspersonal mit seinen Klienten, den Strafgefangenen, erwerben konnte. Anhand dieser Wissen, einerseits eruiert in annähernd einhundert Untersuchungspunkten, andererseits abrufbar als Erfahrungswissen, wurden die sozialen Prognosen gestellt. Wissen stellte also die entscheidende Basis für die Praxis der Kriminalbiologischen Untersuchung dar. Die Ausmessung von Familie, Lebensführung und Persönlichkeit des Gefangenen generierte eine Unmenge an Daten, die mit vorgängigen Theorien und lebensweltlichen Perspektiven zu einer Objektivierung dieser Daten, zu Wissen über den konkreten Verbrecher führten. Umso erstaunlicher ist es, dass die Kriminologiegeschichte bislang diesem Wissen nur marginale Aufmerksamkeit geschenkt hat. Das mag zum Teil der Quellenlage geschuldet gewesen sein: Die bisher zur Kriminalbiologischen Untersuchung erschienenen Studien konnten nur jene Gutachten heranziehen, die in zeitgenössischen Publikationen, als Fallbeispiele, veröffentlicht worden waren. Aufgrund dieser Quellenlage waren, wie Christian Müller konstatiert, auch keine quantitativen Aussagen darüber möglich, inwiefern die offiziellen Kriterien bei der Einstufung von Strafgefangenen auch tatsächlich zum Tragen gekommen sind (Müller 2004: 254). Während also der Forschung bisher nur wenige Akten zur Verfügung standen, konnte für die vorliegende Studie auf den mittlerweile archivalisch erfassten und größtenteils freigegebenen Bestand der Akten aus der Kriminalbiologischen Sammelstelle zugegriffen werden. Von den ca. 27.000 Akten, die im Bayerischen Hauptstaatsarchiv lagern, wurden für diese Studie insgesamt 500 nach dem Zufallsprinzip aus verschiedenen Jahren ausgehobene Akten ausgewertet. Dabei wurde der Blick vor allem auf das in ihnen präsente Wissen gerichtet, wurde versucht, dem von Müller konstatierten Forschungsdesiderat zu begegnen und geprüft, welche Kriterien mit welchen Folgen bei der Stellung der sozialen Prognosen zum Tragen gekommen sind. Die extensive Datenerhebung und Datensammlung, also die Generierung und die Dokumentation von Wissen im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle, waren Teil eines Messbarkeits- und Objektivitätsparadigmas, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf breiter Front die Humanwissenschaften erfasste und das in der positivistischen Datenproduktion die Grundlage für die wahrheitsgetreue Wiedergabe sozialer Phänomene sah. Die Auswertung dieser Daten sollte in den Humanwissenschaften nicht zuletzt dazu dienen, Handlungsmöglichkeiten für eine effektive Sozialpolitik aufzuzeigen – auch mit der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle war dies intendiert, die hier ihren Ort innerhalb der Strafpolitik der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches“ hatte. Analytisch gesehen hängen also die Generierung von Wissen und dessen Repräsentation zu Auswertungszwecken eng zusammen. Aber auch die Einordnung der Untersuchung in das zeitgenössische Erfassungsund Visualisierungsparadigma wurde bislang von der Forschung nicht geleistet: Die Darbietungsform, die Repräsentation des in Untersuchung und



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Sammelstelle vorgängigen wie generierten Wissens (also Untersuchungsbogen und Gutachten sowie die Karteikarten und das Erfassungssystem der Kriminalbiologischen Sammelstelle) sind bisher nicht gesondert betrachtet worden und sollen daher hier einer wissenshistorischen Analyse unterzogen werden. Dies ist insofern von Bedeutung, da die kriminalbiologische Begutachtungspraktik vornehmlich auf Zuschreibungen des Untersuchers an den untersuchten Gefangenen basierte, auf symptomatologischen Beschreibungen seines Verhaltens und Charakters, auf Verfahren zur Ermittlung seiner spezifischen Dispositionen und auf Prozeduren der biografischen und genealogischen Anamnese. Die Kriminalbiologische Untersuchung war so gesehen ein „Aufzeichnungsapparat, dessen Aufgabe die genaue Dokumentation des Verhaltens, der Charaktereigenschaften, der familiären Herkunft etc. des Individuums ist.“ (Hark 1999: 73f.) Man kann dies noch präzisieren und die Kriminalbiologische Untersuchung unter Bezug auf Friedrich Kittler als „Aufschreibesystem“ bezeichnen: Darunter versteht Kittler ein Netzwerk von Techniken und Institutionen, die die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben (Kittler 1995: 519). Nach Kittler bestimmen technische Medien die geschichtlichen Weisen des Daseins; Aufschreibesysteme seien Motor und Medien des gesellschaftlichen Wandels einerseits, Medien der Wissensspeicherung und -produktion andererseits. Aus diesem Grund reicht es nicht aus, nur darauf zu schauen, was im Aufschreibesystem dargestellt oder abgebildet ist: Der Blick muss sich vielmehr auch auf das Aufnahme- und Speichermedium selbst richten – also auf den Fragebogen und die kriminalbiologischen Gutachten sowie auf die Karteikarten zur Erfassung des Strafgefangenen und seiner Verwandtschaft in der Kriminalbiologischen Sammelstelle.

T HEORIE -P RAXIS -P ROBLEMATIK Noch ein weiterer Aspekt der bisherigen Forschung soll in der vorliegenden Studie kritisch hinterfragt werden. Die Kriminalbiologische Untersuchung wird zumeist als Ausdruck eines Prozesses der Verwissenschaftlichung des Strafvollzugs bzw. als Institutionalisierung der Kriminalbiologie interpretiert, ohne dass eine explizit wissenshistorische Analyse dieser Prozesse unternommen würde. Aus dieser Interpretation abgeleitet, versteht etwa Christian Müller die Untersuchung als „Schnittstelle zwischen Diskurs und Praxis“, wobei er jedoch eine wichtige Differenzierung vornimmt und „unter dem Gesichtspunkt der historischen Wirkmächtigkeit“ auf die „Praxis der Verflechtung von Strafvollzug, kriminalbiologischer Einzeluntersuchung und psychiatrischer Grundlagenforschung“ schaut (Müller 2004: 233). Zumeist wird die Kriminalbiologische Untersuchung aber als Anwendung der kriminalbiologischen Theorie in der Praxis verstanden, wie etwa von Oliver Liang, der Bayern als den ersten Ort der „practical application“ der Kriminalbiologie, von Kriminologie überhaupt, bezeichnet (Liang 1999: 63, 95).

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In der Regel gehen diese Autoren, ähnlich wie Silviana Galassi, von einem Konzept des Wissenstransfers aus, nach dem Wissen aus dem abgebenden wissenschaftlichen Feld gleichsam automatisch in aufnahmebereite, außerwissenschaftliche Felder wie etwa den Strafvollzug diffundiere. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass es genau umgekehrt ist, dass nämlich eine Krise im Bereich des Sozialen nach einer Lösung verlangt und (verschiedene) Wissenschaften von den Verantwortlichen herangezogen werden, da sie (vielleicht neben anderen) eine Lösung des Problems versprechen. Darum sind die Produktionsbedingungen von Wissen zu betrachten: Wissen kann wissenssoziologisch als Reaktion, als Antwort auf eine Krise gedeutet werden, weshalb eine Beziehung nach dem Muster ‚Praxis-Theorie-Praxis‘ den tatsächlichen Hintergründen in den Humanwissenschaften gerechter werden dürfte. Dies wiederum bedeutet, dass für den Prozess der Wissensgenerierung und für das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis jene, diese Prozesse initialisierenden Bedingungen in den Blick genommen werden müssen. Das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis kann daher nicht einfach von der Theorie her bestimmt werden, nicht einfach nur von der Wissenschaft: Die Vorstellung, dass dort methodisch abgesichert nach der nur verschleierten Wahrheit gesucht und dieses wahre Wissen dann aufgrund seiner Wirkmächtigkeit auch außerwissenschaftliche Bedeutung gewinne und in sozialen Handlungsfeldern umgesetzt werden würde, räumt der Wissenschaft eine führende Stellung ein, die sie gerade im humanwissenschaftlichen Bereich vielleicht mit dem Ziel der Durchsetzung und Etablierung ihrer Deutungsmacht postulierte, die ihr aber mit Blick auf ihre Beziehung zu den sozialen Phänomenen innerhalb des Rahmens ihres Geltungsanspruchs nicht zukam. Zumal in den Humanwissenschaften – und die Kriminologie dürfte hier an vorderster Stelle stehen – zumindest in der Anfangszeit ihrer Ausdifferenzierung beinahe mehr noch als wissenschaftliches Wissen gerade lebensweltliches Wissen eine ausschlaggebende Rolle spielte und sogar sozialmoralische Werturteile über den Gegenstand dieser Wissenschaften, wie hier über den Verbrecher, nie gänzlich ausgeschlossen worden sind. Diese Spuren lebensweltlichen Wissens und sozialmoralischer Urteile über den Verbrecher in der Kriminologie können, um einen Begriff des polnischen Wissenschaftssoziologen Ludwik Fleck (1896-1961) aufzugreifen, als „Präideen“ bezeichnet werden, stammten sie doch aus früheren Vorstellungen über Verbrecher und wirkten, trotz einer veränderten, vorgeblich objektiven Zugangsweise auf den Gegenstand, auch in der Kriminologie, weiter. Ein drittes Erkenntnisinteresse bezieht sich damit auf dieses Verhältnis von Theorie und Praxis, das im Fall der Kriminalbiologischen Untersuchung um den lebensweltlichen Bereich und um sozialmoralische Werturteile ergänzt werden muss. Zu fragen ist danach, welche krisenhaften Situationen im Strafvollzug und in der Behandlung von Rechtsbrechern und Strafgefangenen eingetreten sind, die zur Generierung von Wissen angereizt haben, die die mit dem Verbrecher und die im Strafvollzug beschäftigten Personen dazu veranlasst haben, sich auf der Suche nach Lösungen für diese krisenhaf-



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ten Situationen an die Wissenschaft vom Verbrechen zu wenden. Die Kriminalbiologische Untersuchung und die Sammelstelle werden dabei als Ergebnis dieser Suche verstanden, für das eine Problem einer ineffizienten, weil nicht bessernden, Strafvollzugspraxis sowie für das andere Problem einer Persönlichkeitsuntersuchung zum Zwecke der Feststellung der zukünftigen Gefährlichkeit eines Strafgefangenen eine Lösung zu finden.

N ACHWEISSYSTEME

UND WISSENSCHAFTLICHE T ATSACHEN Dieser Aspekt führt zu einem letzten Erkenntnisinteresse. Die Kriminalbiologische Untersuchung war als Nachweissystem für das „gefährliche Individuum“ entwickelt und eingerichtet worden, die Kriminalbiologische Sammelstelle als Nachweissystem für die „verbrecherischen Schichten“, die „gefährlichen Klassen“. Berücksichtigt man das eben über das Verhältnis von Theorie und Praxis Gesagte, dann wird deutlich, dass die Notwendigkeit für ein solches Nachweissystem zunächst in der Strafvollzugspraxis bestand: Die Verfehlung des mit dem Strafen verbundenen Ziels, durch Abschreckung zukünftige Straftaten zu verhindern, ließ die Strafrechtswissenschaft zum einen am Konzept der unspezifischen Abschreckung zweifeln, sodann aber auch an der Besserungsfähigkeit bestimmter Menschen, in denen sie unverbesserliche Verbrecher sah. Für die Neuausrichtung des Strafvollzugs als ein zweckorientierter Stufenstrafvollzug war daher einerseits eine ab strakte Profilierung von Verbrecherkategorien wie „der Gelegenheitsverbrecher“ oder „der Gewohnheitsverbrecher“ nötig. Diese Profilierung wurde in Strafrechtswissenschaft und Kriminologie geleistet, wobei die Kategorien eben abstrakte, nicht aber einfach ‚theoretische‘ waren – auch wenn sie auf diskursivem Weg entstanden. Die Kriminalbiologische Untersuchung verdankt ihre Existenz der Notwendigkeit, Kategorie und individuelle Strafbehandlung im Strafvollzug in ein Verhältnis zueinander setzen zu sollen: Es war der jeweilige Gefangene so einzuschätzen, dass in ihm ein bestimmter Typus identifiziert werden konnte. Die Untersuchung diente dazu, mit Hilfe einer Anamnese Wissen über einen konkreten Menschen – einen bereits verurteilten Strafgefangenen – zu ermitteln und einen diagnostischen Abgleich dieses Wissens mit den Merkmalen der abstrakten Verbrecherkategorie zu ermöglichen. Während der Verbrechertypus idealtypisches kategoriales Wissen über den Verbrecher als eine Art Symptomatik bereitstellte, wurde mit der diagnostischen Kriminalbiologischen Untersuchung diese Symptomatik am konkreten Einzelfall identifiziert und mit dem Typus in Deckung gebracht, um aus dem ‚Typischen‘ Hinweise auf Deutung und Behandlung des Konkreten zu gewinnen. Der Abgleich zwischen Kategorie und Individuum verifizierte die Kategorie und stellte die Tatsächlichkeit zwischen Kategorie und Diagnose, zwischen Typus und Individuum, her: Denn – erneut sei Flecks Terminolo-

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gie herangezogen – dieses Verhältnis zwischen Kategorie und Nachweis erscheint immer dann als eine Tatsache, wenn der diagnostische Nachweis der Kategorie häufig gelingt, wenn also das Nachweissystem in einem signifikanten Maß brauchbar ist. Es finden sich also im Rahmen einer kriminalbiologischen Untersuchung gleichsam zwei Arten von Tatsachen: die Kategorie als Tatsache, als kategoriale Tatsache, und das Verhältnis zwischen Kategorie und Nachweistechnik, als diagnostische Tatsache respektive. Für die vorliegende Studie stellt sich nun die Frage, welcher Art dieses Verhältnis, wie stark die Bindung zwischen der abstrakten, in der Wissenschaft entwickelten Verbrecherkategorie auf der einen Seite und der konkreten, in der Kriminalbiologischen Untersuchung einem untersuchten Strafgefangenen zugeschriebenen ‚Diagnose‘ auf der anderen Seite gewesen ist. Es wird davon ausgegangen, dass genau in diesem Verhältnis und in dieser Bindung zwischen Kategorie und Diagnose der Erfolg der Kriminalbiologischen Untersuchung gelegen hat: Mit der Untersuchung schien es möglich geworden zu sein, die abstrakte Kategorie am konkreten Menschen diagnostizieren zu können, zu beweisen, und der Kategorie somit eine Tatsächlichkeit zu verleihen, ihr – weil sie im wissenschaftlichen Feld entwickelt und nun mit vorgeblich wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen werden konnte – den Status einer wissenschaftlichen Tatsache zuzuschreiben. Das hieß: Es gab den Gewohnheitsverbrecher, dessen typische Kennzeichen und Merkmale wissenschaftlich beschrieben und in die Form einer Kategorie gebracht und im Rahmen einer Kriminalbiologischen Untersuchung wissenschaftlich nachweisbar geworden waren. Der Gewohnheitsverbrecher war zu einer wissenschaftlichen Tatsache geworden.



Aufbau der Arbeit

Wie in der Einleitung deutlich geworden sein dürfte, steht Wissen im analytischen Zentrum dieser Arbeit. Wissen vom Verbrecher, das in den theoretischen Diskursen der Kriminologie und im angrenzenden Feld des Strafrechts einerseits, in den praktischen Vollzügen des Strafvollzugs und der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle andererseits generiert wurde. Entsprechend baut sich auch die Arbeit auf. In einem ersten Teil sollen die wissenshistorischen Kontexte mit Bezug zum Gegenstand dieser Studie dargelegt werden. Dabei ist zunächst von den forschungsstrategischen Konzepten des Forschungskollegs der DFG „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ an der Johann-Wolfgang-GoetheUniversität Frankfurt am Main auszugehen, in dem die Arbeit entstand. Im ersten Kapitel des Teils sollen Anmerkungen zu Wissen und zu Wissenskultur diese Konzepte anreißen. Wissen wird als ein Fenster in die Vergangenheit verstanden, eines jedoch, das – um im Bild zu bleiben – gewissermaßen ‚blind‘ geworden ist. Denn: Wissen repräsentiert Antworten, nicht aber offene Fragen, Ergebnisse, nicht ungelöste Probleme, es half, Krisen zu überwinden und verdeckt damit den Blick auf sie (Fried/Süßmann 2001: 9). Diese Krisen, gleichsam die Situation vor dem Wissen, freizulegen, die Mechanismen der Wissensgenerierung aufzudecken, ist Aufgabe der wissenshistorischen Arbeit auch in der vorliegenden Studie, weshalb das dritte Kapitel dieses ersten Teils gesellschaftlichen Krisen als Hintergrund von Wissensgenerierung in problemorientierten Wissenschaften wie der Kriminologie gewidmet ist. Davor sollen die Thesen Ludwik Flecks über die Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Tatsachen ausführlich dargestellt werden, um die methodische Fundierung dieser Studie zu skizzieren. Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem modernen Strafdispositiv und versammelt Aspekte zum Wissen vom Verbrecher, wie es in Kriminologie, Strafrecht und Strafvollzug generiert worden und präsent war. Das Kapitel über die Kriminologie hat neben den verschiedenen Theorien auch zwei eher methodische Abschnitte, wenn zum einen Peter Beckers Analyseinstrument des „Erzählmusters“ vorgestellt wird, zum andern die Rolle und die Bedeutung von „Ausnahmestandards“, also von Verbrechertypologien, diskutiert wird. Im Kapitel über das Strafrecht sollen die Versuche einer Re-

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form des Strafgesetzbuches angerissen werden, da hierin Debatten und argumentative Trennlinien innerhalb des modernen Strafdispositivs deutlich werden: Eine Strafrechtsreform war gleichsam der Lackmustest für den Einfluss moderner Straftheorien und Verbrecherbilder auf die zeitgenössische Kriminalpolitik. Und auch das Kapitel über den Strafvollzug hat Reformen zum Gegenstand, die aber – anders als beim Strafgesetzbuch – in Form eines neuen, pädagogisch orientierten (Stufen)Strafvollzugs zu Beginn der 1920er Jahre tatsächlich umgesetzt worden sind. Ziel dieses Teils ist es, die Kriminalbiologische Untersuchung innerhalb dieses Strafdispositivs zu verorten. Denn hierin – in Strafrecht und Strafvollzug – entstanden die spezifischen Probleme, für die eine Persönlichkeitsuntersuchung wie die Kriminalbiologische Untersuchung nötig wurde, hierher wendete sich Viernstein bei der Konzeption der Untersuchung, um auch in der Kriminologie Lösungen und Erklärungsmodelle zu finden. Die Kriminologie selbst war eklektisch – in ihr waren psychiatrische, medizinische, charakterologische, pädagogische und moralische Faktoren zusammengeflossen. Kriminologie ist daher in einem breiten Sinne zu verstehen als eine Wissenschaft, an deren Theoriebildung Autoren unterschiedlichster wissenschaftlicher Provenienz beteiligt waren. Ein Umstand, den man Konzept und Design der Kriminalbiologischen Untersuchung nur allzu deutlich ansieht, hatte diese doch vor allem erbbiologische, psychiatrische und charakterologische Hintergründe. Kriminalbiologische Untersuchung und Sammelstelle stehen dann im dritten Teil ausführlich im Mittelpunkt der Darstellung. Da nicht nur die Konzeption, sondern auch die Einrichtung und die Etablierung von Untersuchung und Sammelstelle eng mit der Person Theodor Viernsteins verbunden waren, wird ein erstes Kapitel dessen Karriere in Abhängigkeit zum Erfolg seines Projekts darstellen. Dem folgen die beiden zentralen Kapitel über die Kriminalbiologische Untersuchung und die Kriminalbiologische Sammelstelle. Das Kapitel über die Kriminalbiologische Untersuchung, gemäß der bereits angesprochenen Ausmessungs- und Erfassungsrichtung mit „Mapping the Criminal“ überschrieben, gibt in drei Abschnitten einen ausführlichen Überblick über die theoretische Fundierung, das Design und die praktische Durchführung der Untersuchung. Im Abschnitt über die Kriminalbiologische Sammelstelle, analog überschrieben mit „Mapping Criminality“, sollen zwei ihrer Aufgaben im Einzelnen dargelegt werden: Sammlung, Erfassung und erbbiologische Bestandsaufnahme sowie Erstellung von kriminalbiologischen Gutachten für die Strafverfolgungsbehörden. Im vierten Teil schließlich soll der Versuch unternommen werden, das moderne Strafdispositiv, vor allem aber die Kriminalbiologische Untersuchung und die Sammelstelle gemäß der Ausgangsfragen und der in der methodischen Orientierung formulierten Prämissen wissens- und körperhistorisch einzuordnen.

Methodische Einordnung – Wissenshistorische Kontexte

Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel

Das Erkenntnisinteresse und die Fragestellungen der vorliegenden Arbeit sind auf Wissen – seine Entstehungsbedingungen, seine Generierung, seinen Status, seine Verbreitung, seine Wirksamkeit – ausgerichtet. Dies hat mit ihren Entstehungsbedingungen zu tun: Die vorliegende Studie entstand im Rahmen des Sonderforschungsbereichs/Forschungskollegs der DFG „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ (Fried/Kailer 2003: 7-19) an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie bezog aus diesem Forschungskontext ihre Fragestellungen und ihre theoretische Orientierung auf die dort formulierten Fragen bezüglich der Generierung und der (sozialen) Bedeutung von Wissen vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels zu finden. Die Frage nach der Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichem Erklärungs- und Problemlösungsbedürfnis und der Generierung von Wissen vor dem Hintergrund konkurrierender Weltbilder stand im Mittelpunkt des Teilprojektes „Biologismus versus Soziologismus. Gesellschaftspolitik unter dem Einfluss der Naturwissenschaften“ im Rahmen des Forschungskollegs „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass wissenschaftliche Theorien über ihren eigentlichen Erklärungszusammenhang hinaus wirksam werden und als wissensbasierte Deutungsangebote Modellcharakter für die Erklärung und Legitimierung sozialer Phänomene erlangen. Werden sie von ihrem ursprünglichen Erkenntnisinteresse abgekoppelt oder aus ihrer angestammten Interpretationshoheit herausgelöst, entstehen neue gesellschaftliche Deutungs- und Orientierungsmuster. Dieses reziproke Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt, von epistemischem und Orientierungs-, Handlungs- oder Alltagswissen, von wissenschaftlicher Theorie und Gesellschaftspolitik, thematisierte das Teilprojekt. Da mit Blick auf die Handlungsebene auch zu beobachten war, dass gesellschaftliche Reformen nicht einfach am Ende eines von neuen, wissensbasierten Deutungsangeboten angestoßenen Wandlungsprozesses stehen, sondern dass vielmehr der Verlauf von Wissensgenerierung und -anwendung einem Kontinuum gleicht, ging das Projekt in Umkehr der üblichen forschungspraktischen Perspektive von den konkreten gesellschaftlichen Reformwünschen aus und fragte nach den

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Selektionskriterien und den Transformationsprozessen in der Anwendung epistemischer Wissensbestände. Bezogen auf das Thema standen damit die Verknüpfung biologistischer und soziologistischer Deutungs- und Argumentationsmuster mit gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen und deren Ausformungen in Staat und Gesellschaft im Zentrum des Interesses.

W ISSEN

UND

W ISSENSGESCHICHTE

Wissen meint, allgemein verstanden, seine Formen und seine mediale Vermittlung, seine gesellschaftlichen Träger, Vermittler, Empfänger, die Institutionen, in denen es sich manifestiert, seine vielfältigen Vernetzungen und seine Wechselbeziehung zur Gesellschaft in ihrem ständigen Wandel. Dabei ist Wissenskultur der Begriff, mit dem das Forschungskolleg die Komplexität von Wissen in seinem Verhältnis zu den jeweiligen Gesellschaften terminologisch fasst. Zum einen wird damit Wissen als ein Aspekt von Kultur verstanden: Ist Kultur die Gesamtheit menschlicher Hervorbringungen auf allen Gebieten des Lebens, dann ist Wissen darin ein zentraler Faktor; es ist ein „totales“ gesellschaftliches Phänomen im Sinne von Marcel Mauss (1872-1950), in dem „alle Arten von Institutionen gleichzeitig und mit einem Schlag zum Ausdruck“ kommen (Mauss 1968: 17f.). Zum anderen bezieht sich Kultur in historisch-deskriptiver Weise auf je spezifische Kulturen: Indem diese Kulturen als dynamische Wissenssysteme verstanden werden, zielt Wissenskultur auf das Wissen, das diese Kulturen konstituiert, das diese hervorbringen und tradieren. Dieses Wissen äußert sich in der vergesellschafteten Lebenspraxis, in den Institutionen, die es dem gezielten gesellschaftlichen Gebrauch zuführen, in der Sachkultur, in der es sich niederschlägt. So umfassend verstanden, beschränkt sich dieser Wissensbegriff nicht allein auf die epistemische Kenntnis in Philosophie und Wissenschaft. Vielmehr kommt auch Alltagswissen in den Blick, Urteils-, Handlungs- und Gebrauchswissen, Hintergrund- und Wertungswissen. Wissen weist über sich selbst hinaus: auf die Individuen, auf die Gesellschaft, auf den gesellschaftlichen Wandel und damit auf Geschichte. Wissen ist ein gesellschaftliches und historisches Phänomen, es „versteht sich nicht von selbst, Wissen ist nicht einfach ‚da‘, unabhängig von der Welt des Sozialen und Politischen, existiert nicht einfach in der Welt der Natur oder einem Reich der Vernunft.“ (Landwehr 2002b: 64f.) Wissen historisch zu analysieren heißt dann, sein Verhältnis zur Gesellschaft zu analysieren, die „Seinsverbundenheit des Denkens“ (Karl Mannheim), aufzudecken. Seinsverbundenheit bedeutet zum einen, dass sich der Erkenntnisprozess nicht nach immanenten Entfaltungsgesetzen entwickelt, sondern dass außertheoretische Faktoren – „Seinsfaktoren“ – das Entstehen und die Gestaltung des jeweiligen Denkens bestimmen, zum anderen, dass diese Seinsfaktoren bei der Entstehung von Wissensgehalten nicht peripher, sondern „in Inhalt und Form, in Gehalt und Formulierungsweise hineinragen […] mit einem Wort

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alles, was wir als Aspektstruktur einer Erkenntnis bezeichnen werden, entscheidend bestimmen.“ (Mannheim 1995: 230) Wissen erscheint dann nicht mehr als etwas objektiv Gegebenes, sondern als ‚Problem‘, und der Wissenssoziologie kommen nun entsprechend zwei Aufgaben zu: Sie hat zunächst die Dichotomie von ‚wahrem‘ und ‚falschem‘ Denken, den Ideologievorwurf also, zu überwinden. Wissenssoziologie ist nur dann eine solche, wenn ihre Selbstanwendung gelingt, wenn also nicht nur der Gegner einer speziellen Ideologie bezichtigt, sondern auch die eigene Standortgebundenheit zugegeben wird. Wissenssoziologie hat weiterhin diejenigen historischen und kulturellen Faktoren, die das Denken beeinflussen, aufzudecken und zu analysieren: Sie darf eben nicht beim Nachweis eines ‚falschen Bewusstseins‘ des Subjekts, dessen Aussagen durch die Bindung an eine Ideologie und damit an latente Interessen ‚falsch‘ würden, verbleiben; vielmehr muss sie zeigen, „wann und wo historisch-soziale Strukturen in die Art des Denkens hineinragen und in welchem Sinne die letzteren die ersteren in concreto bestimmen können.“ (Mannheim 1995: 229) Der Gegenstand der wissenssoziologischen Untersuchung ist demnach im gesellschafts- und kulturhistorischen Zusammenhang hinsichtlich seines Aufbaus, seiner Struktur und seines Verwendungszusammenhangs in einer bestimmten Gesellschaft ‚sozialfunktional‘ zu bestimmen: Es handelt sich bei Wissen um ein soziales Produkt und Konstrukt, dem man sich nicht über eine Bestimmung des Inhalts, sondern nur über die Beschreibung und Analyse seiner Rahmenbedingungen – den Bedingungen der Generierung, der Rezeption, der Etablierung und der Tradierung von Wissen – nähern kann: Wird Wissen als Produkt gesehen, „so bleibt es vom Prozeß seiner Entstehung abgeschnitten und wird in der Regel in Relation zur Natur bzw. zu denjenigen Referenzobjekten gesetzt, auf die sich dieses Wissen bezieht. […] Wird Wissen dagegen als Prozeß verstanden […], so richtet sich der analytische Blick auf die Erzeugungscharakteristika dieses Wissens und auf den Ort, an dem Wissenserzeugung stattfindet.“ (Knorr-Cetina 2002: XII) Hier kann die so wichtige Unterscheidung zwischen wissenssoziologischer und wissenshistorischer Analysearbeit verdeutlicht werden: Die wissenssoziologische Perspektive ist zuallererst eine synchrone Perspektive auf die Situation eines zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen Wissens, in das historisch-soziale Strukturen „hineinragen“. Die wissenshistorische Perspektive nimmt diese Standortgebundenheit von Wissen auf und geht doch darüber hinaus – eigentlich zurück: Die wissenshistorische Perspektive ist auch eine diachrone, die die Situation vor dem Wissen, das Gewordensein von Wissen und die Situation des Wissens zu einem gegebenen Zeitpunkt und in einen analytischen Zusammenhang stellt. Der Blick auf die „Erzeugungscharakteristika“, also auf die Rahmenbedingungen von Wissen, zeigt nun zum einen, dass „Wissensformen immer innerhalb bestimmter kultureller Kontexte operieren, dass sie kulturelle und soziale Werte, Normen, Kategorien und Bedeutung transportieren. Ebenso sind sie in der Lage, Bedeutung und Sinn zu generieren, Kategorien und 

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Konzepte hervorzubringen“ – Wissen lässt sich demnach als ein Ensemble von Ideen verstehen, das Objekte mit bestimmten Eigenschaften versieht (Landwehr 2002b: 71f.). Wissen ist mit einem Deutungsaspekt behaftet, auf dessen Grundlage, der Vorinformation, Menschen die Welt deuten und gestalten; „Wissen repräsentiert so weder abbildend noch umbildend das Sein, sondern hebt dieses zunächst einmal in das Bewusstsein; so gefasst ist Wissen Wesensbestimmung des Individuums, das sich die Welt wissend aneignet und sie dementsprechend gestaltet. Wissen ist also handlungsanleitend.“ (Dewe 1991: 496f.) Dies gilt für alle Wissensformen: für das nach wissenschaftlichen Kriterien gewonnene Wissen ebenso wie für Alltags- und Orientierungswissen. Daher ist es für die wissenshistorische Analyse so entscheidend zu prüfen, „wie Gesellschaften ihre Wirklichkeit mit Bedeutung belegen und symbolisch aufladen, diese Wirklichkeit in Form von Wissensbeständen hervorbringen und akzeptieren.“ (Landwehr 2002b: 72) Letztlich ist der Ausgangspunkt wissenshistorischer Untersuchungen eben diese Selbstverständlichkeit der wissensbasierten Ordnung von Wirklichkeit, die eine kaum in Frage zu stellende Faktizität darstellt. Deshalb muss Wissen aus der wissenshistorischen Perspektive in einem weiten Sinn verstanden werden als alles, „was in einer Gesellschaft als ‚Wissen‘ gilt, ohne Ansehen seiner absoluten Gültigkeit oder Ungültigkeit.“ (Berger/Luckmann 1980: 3) Zum anderen kommt damit das Wissensmanagement von Gesellschaften in den Blick. Auf welche Weise wird Wissen generiert, wie wird es zugänglich gemacht, bereitgestellt und gestaltet? Wie wird es sozial reguliert, kontrolliert, autorisiert? Wissensbestände erscheinen, sie werden produziert, verändert, sie gehen verloren oder werden vergessen, sie werden verzeitlicht oder entzeitlicht, autorisiert oder diskriminiert, sie werden gefördert und kanonisiert oder verboten und indiziert (Fried/Kailer 2003: 11). Christian Feest spricht hier, in Analogie zur Arbeitsteiligkeit von der „Wissensteiligkeit“ einer Gesellschaft, die uns „etwas über die Struktur des Wissens in einer Gesellschaft, wie über die Struktur der Gesellschaft selbst [verrät], weil die soziale Differenzierung des Wissens auch eine Differenzierung sozialer Rollen impliziert.“ (Feest 2003: 87) Die Produktion von Wissen, die Entscheidung darüber, welches Wissen in welcher Form an wen weitergegeben wird und darüber, wie welches Wissen zu einem gültigen, verteilenswerten Wissen entwickelt werden darf, berührt die Frage nach dem Zusammenhang von Wissen und Macht (Landwehr 2002b: 76-86). ‚Macht‘ darf nicht als ein repressiver, sondern muss vielmehr als ein produktiver sozialer Faktor gewertet werden: „Macht, weit davon entfernt, Wissen zu verhindern, bringt es hervor.“ (Foucault 1976: 109) Die Produktivität von Macht vermittelt sich über die Entscheidung darüber, was als wahr akzeptiert wird, und Wissen meint für Foucault die „Erkenntnisverfahren und -wirkungen [...], die in einem bestimmten Moment und in einem bestimmten Gebiet akzeptabel sind.“ (Foucault 1992: 32) Akzeptabel aber ist nur Wahrheit – und was als solche gelten kann, bestimme die Politik der Wahrheit, über die eine Gesellschaft verfügt: Sie akzeptiere bestimmte

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Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren lasse; es gebe „Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht.“ (Foucault 1978b: 51) Wahrheit und Wissen beruhen auf Mechanismen der Aus- und Einschließung, weshalb „das Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden wird“, analysiert werden muss, und nicht die Wahrheit einer Aussage selbst: Die Politik der Wahrheit kämpfe nicht für die Wahrheit, sondern „um den Status der Wahrheit.“ (Foucault 1978b: 53) Jedes gültige Wissen habe diesen „Status der Wahrheit“ – mit einem verschieden hohen Grad an Autorität. Zugleich ist Wissen beweglich, dynamisch: Es trifft das Kernproblem im Verhältnis von Wissenskultur und gesellschaftlichem Wandel, wenn Foucault konstatiert, dass Wissen von Institutionen produziert und verteilt werden, aber äußerlichen ‚Seinsfaktoren‘ wie etwa politischen und wirtschaftlichen Anforderungen ausgesetzt sind (Foucault 1978b: 50). Wissen ist somit ein zentrales Medium des gesellschaftlichen Wandels – und es initiiert ihn zugleich. Zwischen Wissensorganisation und gesellschaftlicher Dynamik besteht demnach ein enger Zusammenhang, da der Prozess der Wissensgenerierung ebenso dynamisch ist wie die Wissensinhalte, die eine Gesellschaft als Kulturwissen organisiert; dynamisch ist das Wissen, die Vergegenwärtigung von Wissen und seine Aktualisierung, seine Kontextualisierung, seine Be- und Umwertung und nicht zuletzt seine (De-)Archivierung.

K RISE , W ISSEN

UND

W ISSENSGENERIERUNG

Geht die historische Analyse jedoch nicht über ‚fertiges‘ Wissen hinaus, dann werden die tendenziell krisenhafte Dynamik des sozialen Wandels und die entsprechende Dynamik des Wissens nicht berücksichtigt. Fertiges Wissen, so Johannes Fried und Johannes Süßmann, sei opak, das Fenster in die Vergangenheit sei beschlagen. Denn Wissen repräsentiere „Antworten, nicht offene Fragen, Ergebnisse, nicht ungelöste Probleme, es half Krisen überwinden – und verdeckt eben damit den Blick auf sie.“ (Fried/Süßmann 2001: 9) Die Situation vor dem Wissen – die Krise, die zu seiner Erzeugung zwang, wie auch der gesamte Prozess seiner Generierung, Reinigung und Weitergabe – wird vom fertigen Wissen zumeist verdeckt. Es gilt also, die Situation vor dem Wissen, die zu seiner Generierung anreizte, freizulegen. Im Wettbewerb um Anwendung können verschiedene Lösungsangebote durchaus unter Konkurrenzdruck stehen; welche Lösung Anwendung findet, dürfte von der Dringlichkeit des zu lösenden Problems einerseits, von der unterstellten Problemlösekompetenz andererseits und schließlich von der Einstellung der Lösungsentwickler auf das zu lösende Problem und der entsprechenden ‚Bewerbung‘ der Lösung abhängen. Dieser Zusammenhang 

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von Erklärungs- und Lösungsbedürfnis und der Generierung von Wissen unter dynamischen konkurrenten Bedingungen ist entscheidend für das hier interessierende Thema „Wissen vom Verbrecher“, das sich zum einen in einer veränderten Gesellschaft mit veränderten Bedrohungslagen in Folge des von der Industrialisierung ausgelösten Strukturwandels, zum anderen in der Auseinandersetzung konkurrierender Welt- und Gesellschaftserklärungen manifestierte. Dem wird im Abschnitt über die Wissensgenerierung in problemorientierten Wissenschaften noch ausführlicher nachzugehen sein. Das Wissen vom Verbrecher kann also nicht als ein gleichsam übersoziales Phänomen, nicht isoliert, aus seinem Entstehungskontext herausgelöst, betrachtet werden, auch nicht in einem irgendwie gearteten allgemeingültigen Status oder allein in seinem auf ‚die Wahrheit‘ hin gehenden Charakter. Vielmehr erscheint das Wissen vom Verbrecher als eine dynamische, eine verändernde und zugleich veränderliche Antwort auf eine gesellschaftliche Problemlage, und der gesellschaftliche Wandel als ein offener Prozess, in dem neues bzw. neu kombiniertes Wissen sowohl der Aufweis einer veränderten wissenschaftlichen, technisch-praktischen, religiösen, institutionellen Erklärungsautorität wie auch der Ausdruck eines gewandelten gesellschaftlichen Erklärungs- und Problemlösungsbedürfnisses ist. Das Erkenntnisinteresse im Teilprojekt war gemäß der allgemeinen Fragestellung nach dem Verhältnis von Wissenskultur und gesellschaftlichem Wandel auf die Entstehungsbedingungen von Weltbildern und der entsprechenden Wissensbestände gerichtet. Gerade das biologistische Denkmuster erscheint zunächst als zivilisationskritische Zeitdiagnose, als die kritische Auseinandersetzung mit den beobachteten Verwerfungen des sozialen Strukturwandels und damit als eine zunächst intellektuelle, zunehmend jedoch auch als gesellschaftspolitische Reaktion auf die Wahrnehmung vielfältiger sozialer Krisen, Problemlagen und Ambivalenzen der Moderne. Denkmodelle, Deutungsmuster und Weltanschauungswissen können demnach in einem ersten Schritt als eine Form der Selbstvergewisserung und Selbstinterpretation einer Gesellschaft verstanden werden, deren Anwendung jedoch in erster Linie außerwissenschaftlichen, zumeist gesellschaftspolitischen Mechanismen folgte. Kennzeichnend für die Wahrnehmung einer Krise um 1900 war die Gleichzeitigkeit von kultureller Dekadenz und kulturellem Fortschritt, die beide sowohl positiv als auch negativ bewertet werden konnten, „die Dekadenz nicht nur als Lähmung und Verfall alter Kräfte und Werte, sondern auch als lustvoll zu erlebende Verfeinerung der Lebensformen, als möglich gewordener Luxus […], der Fortschritt als Abfolge von glänzenden, die menschlichen Verhältnisse stetig verbessernden Siegen von Wissenschaft, Technik und Industrie, aber auch als Ursache schwerer sozialer Verwerfungen, von krass zunehmender physischer Verelendung und psychischer Verarmung.“ (Drehsen/Sparn 1997b: 12)

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Pessimismus und Optimismus fungierten demnach als zwei Aspekte derselben Kulturkrise; diese Ambivalenz der Moderne wurde von den von ihr erfassten Gesellschaften als eine „Krise ihrer Orientierungskultur“ empfunden, die auf zwei Ebenen in Frage gestellt schien: „Der Abdankung im geistigen ‚Überbau‘, wo fortschrittsgläubiger Positivismus, Naturalismus und Historismus die alten metaphysisch-spekulativen Systeme bereits ersetzt hatten, korrespondierten auf der Ebene des ‚Unterbaus‘ die Erfahrungen der radikalen Erschütterung fundamentaler Ordnungs- und Orientierungsmuster in allen Bereichen der Gesellschaft und der individuellen Lebensführung.“ (Drehsen/Sparn 1997b: 19f) Eine einheitliche und weithin gültige Weltanschauung schien unter den Bedingungen sozialer Differenzierung, Individualisierung, Rationalisierung und Relativierung unmöglich; „Orientierungsirritationen“ waren die Folge, „die Homogenität lebenspraktischer Weltanschauungen fand sich ebenso außer Kraft gesetzt wie das Monopol ihrer Geltung. In der Regel ging dies mit einer Erosion der Milieus einher, die bis dahin auch als Plausibilitätsfelder von Orientierungssystemen fungiert hatten.“ (Drehsen/Sparn 1997b: 20) Diskontinuität, Fraktionierung, Fragmentierung und Pluralisierung verhinderten die uneingeschränkte Geltung alter und neuer Sinnmuster. Die Wissenschaften sprangen in Reaktion auf das Krisenbewusstsein ein mit der – wieder ambivalenten – Folge der Verweltanschaulichung von Ergebnissen der Wissenschaft und der Verwissenschaftlichung von Weltanschauungen. Zugleich eignete sich der Gebrauch wissenschaftlichen Wissens kaum noch zur Besetzung oppositioneller gesellschaftspolitischer Positionen: Durchsetzungsfähig im Sinne einer konstruktiven Krisenüberwindung schienen nur jene Ansätze zu sein, die in der Lage waren, „die Ambivalenz ihrer Erfahrungswelt zu inkorporieren […]. Das Programm einer ‚Integration der Ambivalenz‘ trat anstelle monokultureller Ordnungsvorstellungen und unilinearer Fortschrittsentwürfe.“ (Drehsen/Sparn 1997b: 17 und 26) Anpassungsleistungen an pragmatische Handlungs- und Reformbedürfnisse vor dem Hintergrund der Ambivalenz der Moderne waren das Signum hegemonialer und realisierter Erklärungs- und Lösungsangebote der hier interessierenden Zeit. Unter Vorgriff auf die Übertragung dieser These auf die Wissenschaft vom Verbrecher und der Praxis der Kriminalbiologischen Untersuchung soll bereits an dieser Stelle angemerkt sein, dass die Unverbesserlichkeit des „verhinderten Menschen“ weder nur mit biologischen Faktoren und der „besserungsfähige Verbrecher“ nicht nur aus dem ihn prägenden Milieu gedeutet wurde; dass vielmehr im Einzelfall diejenige Erklärungsstrategie zur Anwendung kam, die die unmittelbarste und nachhaltigste Erfüllung des Strafzwecks – Besserung für Besserungsfähige, Unschädlichmachung für Unverbesserliche – garantieren konnte. Das Verhältnis von Wissensgenerierung, Deutungsmuster und gesellschaftlichem Erklärungsund Lösungsbedürfnis ist daher als ein sich gegenseitig initiierendes und steuerndes Wechselspiel zu deuten; als ein Wechselspiel, in dem die Gründe für die Hegemonialität von Deutungsmustern und entsprechendem gesell

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schaftspolitischem Handlungswissen eben stärker in der erwarteten Problemlösungskompetenz lagen ist als in der konsequenten Anwendung konsistenter Weltbilder. Mit dieser Erkenntnis aber muss die ideologieähnliche Konsistenz, die Weltbildern, Deutungsmustern und Denkmodellen häufig zugeschrieben wird, ebenso hinterfragt werden wie deren dichotomische Positionierung im historischen Rückblick. Da Auswahl, Struktur und Form des verteilten Wissens offenbar nicht allein durch die Wissenschaft bestimmt werden, steht damit zudem die traditionelle Vorstellung von einem linearen, einseitigen Gefälle im Verhältnis von wissenschaftlicher Theorieproduktion und gesellschaftlichen Erklärungsbedürfnissen auf dem Prüfstand (vgl. auch Kretschmann 2003: 7-21; Shinn/Whitley 1985). Wenn aber nicht die Autorität des ‚wahren‘ Wissens oder – damit zusammenhängend – die Autorität der Wissenschaft, wenn also mit anderen Worten nicht die Objektivität außersozialer Tatsachen über die soziale Anwendung konsistenter Deutungsmuster entscheidet, so müssen andere, vermutlich subjektive Entscheidungskriterien für die Hegemonialität und Realisierung von Orientierungs- und Handlungswissen in Rechnung gestellt werden. Als ein solches subjektives Entscheidungskriterium erscheint die historische Kategorie der Plausibilität. Plausibilität spielt im Verhältnis von Wissen und Wirklichkeit eine bedeutende, in der wissenssoziologischen Forschung jedoch weitgehend vernachlässigte Rolle (vgl. dazu Kailer 2002). Der in der vorliegenden Studie verwendete wissenssoziologische Wissensbegriff umfasst auch jenes Wissen, das subjektiv für wahr erachtet wird – ein Wissen, das zwar nach epistemischen Kriterien kein Tatsachenwissen ist, aber dennoch aufgrund einer ihm zuerkannten Plausibilität „einen subjektiv und für die jeweilige Gesellschaft geltenden Grad an Gewissheit, Selbstverständlichkeit und Unbezweifeltheit [in sich birgt], als sei es gesichertes empirisches Tatsachenwissen.“ (Bock 1980: 18) Die Bedeutung plausiblen und damit für wahr und gültig erachteten Wissens liegt nun vor allem darin, dass es sowohl auf individueller wie auf kollektiver Ebene eine verlässliche Konstante für die Struktur von Wirklichkeit bildet. Wirklichkeitsstrukturierung auf der Basis von Wissen erscheint als ein Vorgang, der das Deutungsmuster mit der größten Plausibilität, also dasjenige mit dem größtmöglichen Gehalt an subjektiver Wahrheit, zur Grundlage der eigenen Interpretation des erfahrenen Faktischen macht – mit dem Ergebnis einer veränderten Wahrnehmung von Realität. Entscheidend für ihre Durchsetzung sind also die plausiblen Angebote, die eine Theorie oder ein Deutungsmuster in Bezug auf einen zu deutenden oder zu lösenden Sachverhalte zu liefern in der Lage ist. Plausibel scheint Wissen also immer dann zu sein, wenn es anschlussfähig ist, wenn es sich auf die zu erklärende Wahrnehmung übertragen lässt; ferner wenn es integrativ ist, wenn es die Bestätigung der individuellen oder kollektiven vorgängigen Auffassungen anbieten kann; auch wenn es prognostisch ist, wenn es also für verlässliche Prognosen in Übereinstimmung mit den vorgängigen Auffassungen verwendet werden kann, und schließlich, wenn es zweckmä-

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ßig ist. Auf der Ebene der Weltanschauungen und ideologischen Positionen, aber auch auf jener der individuellen Sozialisation, bezieht sich Zweckmäßigkeit als Merkmal von Plausibilität vor allem auf die gelungene Internalisierung und notwendige Sicherung einer für unausweichlich gehaltenen subjektiven Wirklichkeit (dazu auch: Berger/Luckmann 1980:139-157). Auf der Ebene des anwendungsbezogenen Wissens jedoch – und um dieses Wissen ging es im Teilprojekt und geht es in der vorliegenden Studie – steht Plausibilität vor allem für die Kompatibilität der Beobachtung mit den vorgängigen Überlegungen, für das Verhältnis zwischen Erwartung und eingetretenem Ergebnis: Die Brauchbarkeit einer Erkenntnis, einer Theorie oder eines Deutungsmusters ergibt sich somit erst im Hinblick auf die jeweilige Zweckmäßigkeit bei der jeweils erwarteten Lösung eines Problems. Daraus folgt für das Verhältnis von Wissen und Plausibilität: Die Plausibilität einer Theorie scheint letztlich an die individuelle Wahrnehmung dessen gekoppelt zu sein, was sie erklären soll. Die Theorie muss folglich nicht ‚wahr‘ sein; ihre primäre Funktion – mit Blick auf ihre Plausibilität – ist es, die individuellen Wahrnehmungsmuster zu bestätigen. Sie muss das wahrnehmende Individuum, den wahrgenommenen Sachverhalt und sich selbst in einen strukturellen Deutungszusammenhang integrieren können, der am Ende der Herstellung von Normalität dient. Es zeigt sich somit der grundlegende Charakter einer plausiblen Erklärung: Sie muss die Sicherheit einer Wahrheit bieten, nicht aber mit dieser übereinstimmen.



Wissenschaftliche Tatsachen

Plausibilität, der starke Einfluss von (krisenhaften sozialen) Faktoren außerhalb des Wissens und die Standortgebundenheit von Wissen spielen eine zentrale Rolle auch in Ludwik Flecks wissenssoziologischer Lehre vom Denkkollektiv und Denkstil. Der zentrale Aspekt der Lehre Flecks lässt sich in der Feststellung finden, dass Erkenntnis, dass Wissenschaft und Wissensproduktion kooperative Prozesse sind, das Ergebnis sozialer Tätigkeit innerhalb eines Denkkollektivs, einer „Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen.“ (Fleck 1983a: 154) Das Denkkollektiv ist der Träger der historischen Entwicklung eines Denkgebiets, eines bestimmten Wissensbestandes, in Flecks Worten: eines Denkstils. Damit sind jene denkmäßigen Voraussetzungen gemeint, auf denen das Kollektiv sein Wissensgebäude aufbaut: die Lehren, die es als gültig erachtet, die Probleme, die es interessieren, die Urteile, die es als evident betrachtet, die Methoden, die es als Erkenntnismittel anwendet. Wissen kann demnach nicht losgelöst von seiner historischen Entwicklung, von seinen sozialen Kontexten betrachtet werden, nicht unabhängig von den Menschen, die Wissen generieren und legitimieren, die es verteilen und modifizieren, die es speichern und tradieren. Damit ist nicht gesagt, dass Wissen und Tatsachen relativ oder schlicht subjektiv seien. Und doch sind sie nicht etwas unabhängig von menschlicher Denktätigkeit Gegebenes: Tatsachen und Wissen sind vielmehr unausweichlich in ihrem denkhistorischen Kontext, innerhalb eines spezifischen Denkkollektivs. Wahrheit, und damit der Status einer Tatsache als solche Wahrheit, bleibt erhalten, auch wenn sich ihr Gültigkeitsrahmen auf ein mehr oder weniger großes Kollektiv reduziert; sie bleibt legitimierende Erklärungs- und funktionierende Handlungsbasis, sie bleibt der feste Bezugspunkt im System gesicherten Wissens, gesicherter Realität des Kollektivs. Es geht also nicht um die Abwertung von Wahrheit, nicht um die Relativierung von Wissensansprüchen hinsichtlich ihrer Geltung, sondern um die historische Spezifizierung wissenschaftlicher Prozesse und ihrer sozialhistorischen Bedingtheit: Die Annahme von Denkstilen impliziert also keinen erkenntnistheoretischen Relativismus, sondern allenfalls die Relativierung einer dogmatisch-absoluten Vorstellung wissenschaftlicher Erkenntnis (Werle 2005: 26-29).

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Die bisher nur zögerliche Rezeption der Theorien Flecks in der Geschichtswissenschaft lässt eine etwas ausführlichere Darstellung der nur selten tatsächlich erörterten Vorstellungen Flecks an dieser Stelle gerechtfertigt und zweckdienlich erscheinen; umso mehr, will man über die nur wenig erhellende, vage Andeutung, dass Wissen innerhalb eines Denkstils eines Denkkollektivs entsteht und in seiner Ausprägung von diesen abhängig ist, hinauskommen. Dabei wird sich zeigen, dass sich Flecks Vorstellungen, wie wissenschaftliche Tatsachen entstehen und entwickelt werden, und seine Begriffe und Konzepte auch auf den Gegenstand dieser Studie, das Wissen vom Verbrecher, übertragen und für die wissenshistorische Analyse der Kriminalbiologischen Untersuchung fruchtbar machen lassen. Die Bedeutung der Lehre Flecks haben Lothar Schäfer und Thomas Schnelle durch drei Charakteristika gekennzeichnet, die auch folgende Darstellung gliedern werden (Schäfer/Schnelle 1983): Zum einen soziologisiere Fleck durch seinen anti-individualistischen Standpunkt die Erkenntnistheorie. Der kollektive Charakter wissenschaftlicher Tätigkeit bestimme nicht nur den Umgang mit Wissen, sondern bereits dessen Generierung. Eine neue Idee lasse sich nicht einfach auf ein Individuum zurückführen, sondern entspringe der Zusammenarbeit im Kollektiv, dessen Medium der Denkverkehr ist. Zum anderen historisiere Fleck die Erkenntnistheorie, indem er die Konzeption einer kumulativen wissenschaftlichen Entwicklung durch die einer kontinuierlichen, nicht zielgerichteten Veränderung der Denkstile ersetze. Denkstile sind für Fleck historisch entwickelte, sozial bedingte und interaktionale Phänomene, deren immanente Dynamik zur Entwicklungskraft von Wissenschaften werde: Wissenschaftliche Entwicklung sei die, dem Forscher häufig nicht bewusste, stetige Modifizierung der Vorannahmen von Wissen. Zum dritten schließlich reformuliere Fleck das Konzept der wissenschaftlichen Tatsache, indem er diese nicht als etwas unabhängig vom wissenschaftlichen Handeln Gegebenes ansehe, sondern als der Erkenntnis vom sozial und historisch bedingten Denkstil und dessen spezifischen Vorannahmen aufgezwungen. Sind einmal bestimmte Vorannahmen, aktive Setzungen, gewählt, kann das Kollektiv über die durch sie implizierten passiven Erkenntnisfolgen nicht mehr entscheiden; es nimmt sie als etwas Gegebenes, als Tatsache eben, war. Ein Denkkollektiv integriert solcherart wahrgenommene ‚Realität‘ in sein Meinungssystem, indem es die passiven Erkenntnisfolgen zum Denkzwang und schließlich zu einer unmittelbar wahrnehmbaren Gestalt – zur fertigen Tatsache – entwickele.

D AS D ENKKOLLEKTIV Der Charakter von Wissen als Ergebnis sozial bedingter, kooperativer (Denk-)Tätigkeit beruht Fleck zufolge auf dem Denkkollektiv als der zentralen sozialen Einheit des Erkennens. Fleck verwendet den Begriff als „Untersuchungsmittel sozialer Bedingtheit des Denkens“ – ohne, dass ihm der

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Wert einer fixen Gruppe oder gar „Gesellschaftsklasse“ zukomme: „Er ist sozusagen mehr funktioneller als substanzieller Begriff.“ (Fleck 1983a: 135) Neben den eher zufälligen, instabilen Denkkollektiven zwischen wenigen Personen gibt es stabile, solche, die sich um eine mehr oder weniger organisierte soziale Gruppe bilden und auch institutionalisieren, oder solche, die durch besondere Formen kollektiven Denkens geschaffen werden. Die Reichweite von Kollektiven lässt sich nicht immer ganz exakt beschreiben, da Personen mehreren Denkkollektiven angehören können. Der Begriff „Denkkollektiv“ bezeichnet also eine (die) Gemeinschaft jener Menschen, die bezogen auf einen gemeinsamen Gegenstand in einer spezifischen Kommunikation, dem „Denkverkehr“, miteinander stehen und einen gemeinsamen Denkstil ausbilden. Manche Denkkollektive und damit Denkstile sind sich ähnlich, was die Verständigung zwischen beiden Gruppen erleichtert; andere sind sich unähnlicher, was die Verständigung erschwert und sogar unmöglich machen kann. Die stilgemäße Kommunikation erscheint den Mitgliedern eines Denkkollektivs als die einzig richtige, während ihnen andere Kommunikationen eher unverständlich bleiben. Der Blick auf die Charakteristika von Denkkollektiven nun zeigt, dass ein konstitutives Merkmal von organisierten Denkkollektiven wie etwa wissenschaftlichen ihre formelle und inhaltliche Abgeschlossenheit ist, ihre Tendenz zur Abgrenzung. Auf der formellen Seite schließen besondere Begriffe, eine besondere Sprache, Gewohnheiten, Statuten oder Institutionen das Denkkollektiv, wenngleich nicht absolut bindend, so doch wirkmächtig, ab. Und inhaltlich sorgt der spezifische Denkstil dafür, dass das Kollektiv als besondere Denkwelt erscheint. Damit einher geht eine stilgemäße Beschränkung der zugelassenen Probleme, während andere unbeachtet bleiben oder als sinnlos abgewiesen werden. Eine charakteristische Wertung und Intoleranz der Disziplinen ist die Folge dieses Phänomens, das zur Abgeschlossenheit und damit zur Stabilität eines Denkkollektivs beiträgt. Einen ebenfalls stabilisierenden Effekt hat die Ausbildung der Protagonisten: der Eintritt in das Kollektiv mit seinem besonderen Denkstil. Die Einweihung in den Denkstil geschieht in einer „Lehrlingszeit, während welcher rein autoritäre Gedankensuggestion stattfindet, die nicht etwa durch einen ‚allgemein rationellen‘ Gedankenaufbau ersetzt werden kann.“ (Fleck 1983a: 136) Nur wer die Voraussetzungen versteht, kann am Wissen des Kollektivs teilhaben. Verstehen lernen meint aber nicht, den kritischen Blick auf den Wissensbestand eines Kollektivs zu richten: Vielmehr müssen die Voraussetzungen akzeptiert, als selbstverständlich, als Glaubenssätze verinnerlicht werden. Die Ausrichtung auf im Denkkollektiv als gültig erachtete Wissensbestände und Methoden ist ein wichtiger Faktor für die spätere Erkenntnistätigkeit, denn hierbei werden stilgemäß praktische Erfahrungen gemacht, Arbeitsweise und Problemstellung, theoretisches Rüstzeug des Kollektivs übernommen, hier bilden sich Zugehörigkeit und Identität aus. Und der Zwang dieser Hineinführung in das zuvor unverständliche Denksystem 

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eines Denkkollektivs bewirkt, das bis jetzt Unsichtbares sichtbar wird: innerhalb des Erkenntnishorizonts des Denkkollektivs. Trotz gewisser Ähnlichkeiten ist ein Denkkollektiv mit einem spezifischen Denkstil jedoch nicht einfach mit einer Schule, der eine konstitutive „Inhomogenität der Altersstruktur“ eigen ist (Klausnitzer 2005: 35), gleichzusetzen. Flecks Konzept des Denkkollektivs ist differenzierter: Ihm zufolge besteht ein Denkkollektiv aus einem kleinen esoterischen und einem größeren exoterischen Kreis. Der esoterische Kreis ist der Kern des Denkkollektivs; er besteht aus einer kleineren Gruppe von Spezialisten, von Experten. Der exoterische Kreis umgibt den inneren Zirkel der Eingeweihten; hier haben „gebildete Laien“ und die Öffentlichkeit Anteil am kollektiven Wissen – jedoch nur durch Vermittlung der Experten. Das Verhältnis zwischen beiden ist das einer wechselwirkenden Abhängigkeit (Fleck 1983a: 139). Fleck entwirft ein Modell von Wissensverteilung, das explizit nicht-linear ist: Der exoterische Kreis ist auf das Vertrauen in die Kompetenz der Experten, schlüssige Welterklärung zu liefern, angewiesen. Umgekehrt tritt dem Expertenkreis der exoterische Kreis als öffentliche Meinung entgegen, die Ansprüche hinsichtlich der Lösung sozialer Probleme an die Wissenschaft richtet und der gegenüber sich diese zu legitimieren sucht. Der Problemlösungsanspruch und die daraus resultierende Handlungsbereitschaft ist besonders für die Humanwissenschaften in Rechnung zu stellen, denn die öffentliche Wahrnehmung eines sozialen Problems, seine gesellschaftliche Wichtigkeit, hat forschungsinitiativen Charakter (Raphael 1996: 165). Die Kommunikationsform im Kollektiv ist der „Gedankenkreislauf“, der intrakollektive Denkverkehr. Der Denkverkehr zeichnet sich durch eine spezifische „Denksolidarität im Dienste einer überpersönlichen Idee“ (Fleck 1983a: 140) aus, der die kreisenden Gedanken entindividualisiere und zu Kollektivgedanken mache, die keinem Individuum mehr angehörten. Mit seiner anti-individualistischen Konzeption des Denkkollektivs als sozialer Einheit des Erkennens modifiziert Fleck das traditionelle Bild von Wissenschaft: Nicht getragen von individuellen Leistungen einzelner großer Denker, sei Wissenschaft vielmehr ohne die Kooperation verschiedener Menschen nicht denkbar. Der kollektive und weitgehend entindividualisierte Charakter mache es unmöglich, den einen, einzigen Entdecker aus der Gemeinschaft zu separieren: „Fertigkeiten, Erfahrungstatsachen, Ideen – ‚falsche‘ und ‚richtige‘ – gingen von Hand zu Hand, von Kopf zu Kopf und änderten sicherlich ihren Inhalt“, so dass an einem bestimmten Punkt des Denkverkehrs ein Wissensgebäude entstand, „das eigentlich von Niemandem geahnt und beabsichtigt wurde, ja eigentlich gegen das Ahnen und die Absicht der Einzelnen.“ (Fleck 1983a: 91) Dies verdeutlicht Fleck am Beispiel der Entstehung der Wassermann-Reaktion, einem Bluttest für Syphilis: August von Wassermann (1866-1925) und seinen Mitarbeitern sei es bei der Suche nach einem Test wie Kolumbus ergangen, da sie ‚Indien‘ suchten, sich auf dem Weg dorthin wähnten und – ‚Amerika‘ fanden. Ihre Fahrt sei zudem kein konsequentes Segeln in beabsichtigter Richtung, sondern eine

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Irrfahrt mit ständigen Richtungswechseln gewesen, und das Endresultat der Forschung wesentlich von der Absicht verschieden. Denn der ursprüngliche Versuch, syphilitische Substanzen, ein Antigen also, nachzuweisen, brachte zwar zunächst gute Ergebnisse, wurde jedoch bald verworfen, da auch die Extrakte gesunder Menschen diese Ergebnisse zeigten. Man konzentrierte sich dann auf den Nachweis von Antikörpern; doch dieses Mal gab es anfangs nur wenige positive Ergebnisse bei sicherer Syphilis. Die Manipulation der regulierbaren Faktoren – das Aufeinandereinstellen der Reagentien, die Menge des Patientenserums, das Verhalten beim Ablesen der Resultate – brachte dann den gewünschten Erfolg, fand man durch Versuch und Irrtum dann doch die richtige Einstellung: „Zwischen kleinster Unspezifität und größter Empfindlichkeit musste die beste Mittelstellung ausgetastet werden“ (Fleck 1983a: 96), und die Trefferquote der Messungen erhöhte sich. Dieser experimentellen Wendung schreibt Fleck höchste Bedeutung zu, sie bedeute die eigentliche Erfindung der Wassermann-Reaktion: „So arbeitete die kollektive Erfahrung auf allen Gebieten der Wassermann-Reaktion, bis die Reaktion brauchbar wurde – unbekümmert um theoretische Fragen und Ideen der einzelnen.“ (Fleck 1983a: 97) Die organisierte Kollektivarbeit zeichne sich also durch Arbeitsteilung, Mitarbeit, Vorbereitungsarbeit, technische Hilfe, gegenseitigen Ideenaustausch, Polemik usw. aus; es gäbe wissenschaftliche Hierarchie, Gruppen, Anhänger und Widersacher, Gesellschaften und Kongresse, periodische Journale, Austauscheinrichtungen – „[e]in wohlorganisiertes Kollektiv ist Träger des Wissens, das die Kapazität eines Individuums weit übersteigt.“ (Fleck 1983a: 58) Forschungsleistungen stehen auf dem Boden eines Kollektivs, an dem das Individuum gemäß seiner Fähigkeiten beteiligt ist. Um die Stellung des Individuums im Kollektivprozess zu bestimmen, nutzt Fleck einen sportlichen, „etwas trivialen Vergleich: Das Individuum ist dem einzelnen Fußballspieler vergleichbar, das Denkkollektiv der auf Zusammenarbeit gedrillten Fußballmannschaft, das Erkennen dem Spielverlaufe. Vermag und darf man diesen Verlauf nur vom Standpunkte einzelner Fußstöße aus untersuchen? Man verlöre allen Sinn des Spieles!“ (Fleck 1983a: 62) Das Individuum spielt in Flecks Theorien also durchaus eine Rolle, aber es ist nur die Hauptrolle neben anderen, ohne die das Spiel keinen Sinn hätte. Dennoch kommt dem Individuum in Flecks Lehre eine bedeutende Rolle zu: die des erkennenden Subjekts: Erkennen heißt nach Fleck, bei gewissen gegebenen Voraussetzungen die zwangsläufigen Ergebnisse feststellen. Die Voraussetzungen sind der kollektive Anteil des Erkennens. Das Feststellen der zwangsläufigen Ergebnisse, die sich aus den Voraussetzungen ergeben und die als objektive Wirklichkeit empfunden werden, ist Anteil des Individuums (Fleck 1983a: 56.) Fleck verkannte also nicht die Rolle des Individuums. Wogegen er anschrieb, war der disziplinimmanente Mythos von den ‚Vätern‘ wichtiger Entdeckungen. Die Haltung, den Begründer, den Innovator einer Disziplin separieren oder die maßgebliche Entwicklung beschreiben zu wollen, muss demnach als illusorisch aufgegeben werden; es muss 

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die lieb gewonnene Tradition der Disziplingeschichte, sich auf die Lichtgestalten zu konzentrieren, relativiert werden. Gegenüber einer solchen „venividi-vici-Erkenntnistheorie, die eventuell von mystischer Intuitionserkenntnistheorie ergänzt wird“ (Fleck 1983a: 114), müssen Kontinuitäten und Brüche, Einflussfaktoren und sozialpolitisches Lösungsbedürfnis, kurz: muss der soziale Charakter von Denkkollektiven deutlicher betont werden.

D ER D ENKSTIL Das Denkkollektiv ist der Träger eines Denkgebietes, eines „Denkstils“. Ersteres stellt die soziale Einheit der Erkenntnistätigkeit dar, letzteres die zentrale historische Einheit. Dass Fleck die Erkenntnistheorie historisiere, bedeutet, dass er mit dem Konzept des Denkstils auf die doppelte historische Bedingtheit von Wissen aufmerksam macht, die sowohl in diachroner wie in synchroner Hinsicht gilt: Ein „Denkstil entwickelt sich und ist in jeder Etappe mit seiner Geschichte verbunden.“ (Fleck 1983e: 75) In diachroner Hinsicht argumentiert Fleck, dass sich wissenschaftliche Entwicklung nicht als kumulativer und fortschreitender Prozess vollzieht, sondern als eine kontinuierliche, kleinteilige und oft unbewusste Veränderung des Denkstils. Und in synchroner Hinsicht macht er deutlich, dass Denkstile sozial bedingte Phänomene sind, die an ein Kollektiv, eine geschichtliche Situation oder an eine Kultur gebunden sind und in dieser Bindung eine Tendenz zur „Beharrung“ aufweisen (Schäfer/Schnelle 1983: XXVII). Die Trennung in diachron und synchron ist nur eine analytische; der Denkstil ist in jedem Entwicklungsschritt durch seinen jeweiligen historischen Kontext bestimmt. Mit dem Begriff des Denkstils versuchte Fleck, die denkmässigen Voraussetzungen, die intellektuelle Einheit des Wissensbestandes eines Denkkollektivs, kurz: die Vorbedingungen der Kollektivarbeit zu fassen. Der Stil entsteht mit der Kommunikation und der Arbeit im Kollektiv, und da die Kollektivarbeit nicht einfach additiv ist, nicht die Summe der individuellen Arbeiten, entsteht mit dem jeweiligen Denkstil ein spezielles Gebilde, das Fleck mit einem Gespräch oder mit einem Orchesterspiel vergleicht: „Darf und kann man ein Orchesterspiel nur aus der Arbeit einzelner Instrumente betrachten, ohne Rücksicht auf Sinn und Regel der Zusammenarbeit? Solche Regeln enthält der Denkstil für das Denken.“ (Fleck 1983a: 129) Der Denkstil schaffe die ihm adäquaten Ausdrücke, ihn charakterisierten „gemeinsame Merkmale der Probleme, die ein Denkkollektiv interessieren; der Urteile, die es als evident erachtet; der Methoden, die es als Erkenntnismittel anwendet. Ihn begleitet eventuell ein technischer und literarischer Stil des Wissenssystems. […] Er wird zum Zwange für Individuen, er bestimmt ‚was nicht anders gedacht werden kann‚. […] Wir können also Denkstil als gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen, definieren.“ (Fleck 1983a: 130; kursiv im Original)

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Denkstil umfasst also die Art des Denkens, des Wahrnehmens, des gedanklichen und „handwerklichen“ Verarbeitens, des Beurteilens, des Ausdrückens. Im Denkstil sind die von allen Kollektivteilnehmern anerkannten Regeln über das Wissen, das bereits untersucht ist und als sicher gilt, über die akzeptierten Methoden, über die offenen Probleme und wie mit ihnen zu verfahren sei, enthalten. Aus dieser Sicht ist der Denkstil ein Konglomerat gemeinsam geteilter Voraussetzungen, Meinungen und Praktiken, auf deren Basis „stilgemäße“ Theorien, Aussagen und Wissen entwickelt und neue Begriffe formuliert, bestehende wie etwa „Syphilis“ (oder auch: „Verbrecher“) modifiziert und reformuliert werden. Damit wird deutlich, dass „Stil“ nicht einfach eine Frage der Form ist oder sich auf die Repräsentation von Inhalt bezieht, sondern auch auf die „prozessuale und praktische Produktion von Wissensansprüchen.“ (Werle 2005: 13; kursiv im Original) Der Denkstil ist also keine individuelle Eigenschaft, sondern eine der Gruppe. Der einzelne Forscher findet jedoch keinen rationalen Zugang zum Denkstil; im Gegenteil wirken bei der Einführung in den Stil Autorität und Suggestion mit der Folge, dass dem Individuum enge Wahrnehmungs- und Erkenntnisgrenzen auferlegt sind, eben die „Gesamtheit geistiger Bereitschaften, das Bereitsein für solches und nicht anderes Sehen und Handeln“, die Fleck als „Denkzwang“ bezeichnet (Fleck 1983a: 85). Diese Bereitschaft müsse erlernt werden, weshalb der Einführung in ein Denkgebiet zentrale Bedeutung zukomme; sie sei eine Übung darin, sich der spezifischen Kollektivstimmung zu fügen: Man müsse erst lernen, zu schauen, um das sehen zu können, was die Grundlage der gegebenen Disziplin bildet. Zudem spiele Erfahrenheit eine besondere Rolle: Man müsse eine gewisse Erfahrung erwerben, die sich nicht durch Wortformeln ersetzen lassen – „Sehen“ heiße dann, das Bild nachzubilden, das die Denkgemeinschaft geschaffen hat, der man angehört. „Wir schauen mit den eigenen Augen, wir sehen mit den Augen des Kollektivs.“ (Fleck 1983d: 154) Dies ermögliche der Denkstil. Im Kollektiv herrsche damit ein „gewisses Gefühl der Denksolidarität im Dienste einer überpersönlichen Idee“; ab einem gewissen Entwicklungsstadium würden die Denkgewohnheiten und Normen als selbstverständlich und einzig möglich empfunden, als das, worüber eben nicht weiter nachgedacht werden kann (Fleck 1983a: 140). In diesem Stadium ist der Denkstil als „Meinungssystem“ ausgebaut; er beansprucht umfassende Erklärungskompetenz auf seinem Gebiet, er „beharrt“ beständig gegenüber allem Widersprechenden. Die „Beharrungstendenz des Denkstils“ ist jedoch nicht einfach Trägheit oder Vorsicht vor Neuerungen, sondern vielmehr eine aktive, häufig unbewusste Vorgehensweise, mit der gegen das Widersprechende vorgegangen werde. Auf diese Weise täuscht der Denkstil das Kollektiv über die eigenen Voraussetzungen; es herrsche eine „Harmonie der Täuschung“: Das System hat fertige Begriffe, mit denen unfertige Gedanken nicht mehr ausgedrückt werden können, es hat Aussagen, die, systematisiert und kanonisiert, bestimmen, was man nur so und nicht anders denken kann; es hat Techniken und Methoden, die sich auf die Begriffe des Denkstils be

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ziehen (Fleck 1983a: 41). Als Verwirklichung gewisser Ergebnisse des bestimmten Denkstils richte z. B. wissenschaftliches Gerät das Denken automatisch in dessen Bahnen: „Meßgeräte zwingen, einen solchen Einheitsbegriff zu verwenden, für den sie gebaut worden sind, mehr noch, sie zwingen, solche Begriffe anzuwenden, aus denen sie hervorgegangen sind.“ (Fleck 1983c: 122) Ähnliches kann man wohl von Test wie der Kriminalbiologischen Untersuchung sagen, die ebenfalls mit Begriffen und Konzepten zu operieren zwang, die mit ihr erst nachgewiesen werden sollten. Der Denkstil beharrt also gegenüber Widersprechenden. Wie aber kann es so zu wissenschaftlichem Wandel kommen? Denkstile zeichnen sich durch ein kompliziertes Wechselspiel von Stabilität und Veränderung aus. Flecks Auffassung davon, wie wissenschaftlicher Wandel sich vollzieht, unterscheidet sich deutlich von wissenschaftshistorischen Vorstellungen, die von Zäsuren, Brüchen oder gar „Revolutionen“ oder von fortschreitender Wissensakkumulation unter Ausscheidung ‚falschen‘ Wissens ausgehen. Flecks Konzept ist das einer kollektiven Erweiterung und schrittweisen Veränderung des Denkstils: Die an den Wissenschaftsgegenstand herangetragenen Vorannahmen werden verschoben, es kommt zur Ergänzung, zur Entwicklung oder gar zur Umwandlung des Denkstils. Und mit jeder Verschiebung verändert sich konsequenterweise das Wissen. Dies vollzieht sich im „Denkverkehr“: Dieser wirkt zwar stabilisierend, gleichwohl ist Veränderung angelegt: Gedanken, ganz gleich, ob sie als Wahrheit oder Irrtum erkannt, ob sie richtig oder falsch verstanden worden sind, „wandern innerhalb der Gemeinschaft, werden geschliffen, umgeformt, verstärkt oder abgeschwächt, beeinflussen andere Erkenntnisse, Begriffsbildungen, Auffassungen und Denkgewohnheiten.“ (Fleck 1983a: 58) Die Umformung der Gedanken ist dem Denkverkehr immanent. Neues tritt hinzu, anderes kann jetzt nicht mehr gedacht werden, weil sich durch die Fortentwicklung die Denkvoraussetzungen geändert haben – der Denkstil differenziert sich. Denkstilveränderung erwächst jedoch auch aus spezifischen historischen Elementen des Denkstils, den von Fleck so genannten „Präideen“. Auch sie verleihen dem Stil Stabilität, zugleich aber sind sie wesentliche Vorbedingung seiner Veränderung. Viele „wissenschaftliche, bestbewährte Tatsachen“, so Fleck, „verbinden sich durch unleugbare Entwicklungszusammenhänge mit vorwissenschaftlichen, mehr oder weniger unklaren verwandten Urideen (Präideen), ohne daß inhaltlich dieser Zusammenhang legitimiert werden könnte.“ (Fleck 1983a: 35) Präideen sind in zeitlicher Distanz entstandene Vorstellungen, die von neuen Denkkollektiven aufgenommen, wieder verwendet und neu interpretiert werden – und weiter bestehen: Präideen dienen den nachfolgenden Generationen von Wissenschaftlern als heuristische Richtlinie und denkleitende Kraft. Altes und Neues vermischen sich. „Präideen“ werden in der Wissenschaftshistoriografie meist als veraltete Entwicklungsschritte oder bloße, vor- bzw. unwissenschaftliche Einflussfaktoren verstanden. Die wissenshistorische Perspektive erlaubt es hingegen, sie in ihrer Rolle als produktive und stabilisierende Elemente zu sehen.

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Präideen seien eben nicht einfach als ‚falsch‘ abzutun; man tue, so Fleck, überhaupt schlecht, wollte man stilgemäße, von einem Denkkollektiv anerkannte und mit Nutzen angewandte Vorstellungen als Wahrheit oder Irrtum ansprechen: „Sie sind fördernd gewesen, sie haben befriedigt. Sie sind überholt worden, nicht weil sie falsch waren, sondern weil sich das Denken entwickelt.“ (Fleck 1983a: 38) Nicht Wahrheit oder Irrtum, sondern das Denken verändere sich und bringe so – bei aller Tendenz zur Stabilität und Beharrung – Fortschritt mit sich. Anhand der Präideen zeigt Fleck, dass sich Wissen nicht vollständig verändert. Es „mutiert“ (Fleck 1983a: 38): Jede Forschergeneration knüpft an den Wissensbestand der vorigen an, wobei einige Ideen zwar Wissen bleiben, aber durch Neuinterpretation ihren ursprünglichen Entstehungszusammenhang verlieren. Gleichzeitig passt sich ein Denkkollektiv den immer neuen Umweltbedingungen an, verschiebt es permanent seinen Aufmerksamkeitsfokus um Nuancen mit der Folge, dass manche Probleme ihren stilkonformen Charakter verlieren, irrelevant und nicht länger wahrnehmbar werden. Und schließlich gebe es im Denkkollektiv ständig eine Vielfalt leicht differierender Interpretationen, und selbst kleinere Widersprüche und Missverständnisse sind konstitutiv im Rahmen des Denkkollektivs. Wissen, so zeigt sich erneut, ist kontextabhängig, nicht relativ. Wissenschaftliche Entwicklung vollzieht sich nach Fleck ebenso wenig wie die Natur in Sprüngen, sondern in einer kontinuierlichen Veränderung des Denkstils. Dies ist wohl der bedeutendste Unterschied zum Konzept der wissenschaftlichen Revolution von Thomas Kuhn (1922-1996), der, gestützt auf Fleck, die umwälzende Veränderung von Wissen als ein wiederkehrendes Merkmal wissenschaftlichen Wandels beschrieben hatte (Kuhn 1997). Flecks Konzept kommt dagegen ohne den Begriff der Revolution aus und erklärt die permanente kleine Veränderung zum Konstituens der normalen Wissenschaft.

E RKENNTNISPROZESS UND WISSENSCHAFTLICHE T ATSACHE Wissenschaftlicher Fortschritt bedeutete für Fleck also nicht die Ablösung falscher durch wahre Aussagen; es komme zu keiner Statusveränderung, schon gar nicht im Sinne von ‚besser werden‘. Es änderten sich allein die Vorbedingungen im Denkstil, die Regeln und Bedingungen, nach denen Erkenntnis im Kollektiv abläuft. Damit wird deutlich, wie Fleck das Konzept der wissenschaftlichen Tatsache reformulierte: Das Erkennen eines Gegenstandes ist für ihn nicht durch die Eigenschaften dieses Gegenstandes bestimmt, sondern durch die kollektiv akzeptierte, stilgemäße Art und Weise, diesen Gegenstand zu beobachten und wahrzunehmen: Der Satz: „jemand erkennt etwas (eine Beziehung, eine Tatsache, ein Ding)“, sei nicht vollständig, er verlange vielmehr „einen Zusatz […] am besten ‚in einem be

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stimmten Denkstil, in einem bestimmten Denkkollektiv‘.“ (Fleck 1983a: 54). Erkennen ist kein individueller Prozess, sondern eine soziale Tätigkeit, sogar die „soziale Tätigkeit katexochen“, schlechthin also (Fleck 1983a: 58). Bedingt durch den strukturellen Zwang des Denkkollektivs und des Stils heiße Erkennen: bei gewissen gegebenen und durch den Wissenschaftler gesetzten Voraussetzungen (den so genannten „aktiven Koppelungen“) die zwangsläufigen Ergebnisse (die so genannten „passiven Koppelungen“) festzustellen, die als Objektivität, als Wahrheit erscheinen. Je tiefer man in ein Denkgebiet eindringt, desto größer wird die Denkstilgebundenheit, desto größer wird die Zahl der aktiven Elemente des Wissens. Gleichzeitig wächst die Zahl der zwangsläufigen Beziehungen, denn jedem aktiven Elemente des Wissens entspricht ein passiv sich ergebender Zusammenhang (Fleck 1983a: 109). Je ausgebauter also ein Wissensgebiet, desto kleiner werden die Meinungsdifferenzen; es ist, „als ob […] mehr Widerstände entstünden, als ob die freie Entfaltung des Denkens beschränkt würde“ (Fleck 1983a: 110f.). Im Erleben eines solchen Denkwiderstandes, der die willkürliche Entfaltung des Denkens beschränkt, liegt der Kern des Fleckschen Tatsachenkonzepts: Wirklichkeit zu erkennen ist kein Ergebnis der Phantasie oder des freien Denkens; die Tatsache zeichnet sich nur dadurch als solche aus, gerade keine frei wählbare Wahrnehmung zu sein. Jede Beobachtung, die solcherart stilgemäß gebunden ist, erhält den Status einer Tatsache. Umgekehrt werden Beobachtungen, die für das Kollektiv nicht stilgemäß gebunden sind, aber als solche postuliert werden, als unmöglich, als irrational, als gefährlich sogar, abgelehnt. Wie etwas erkannt wird, ist in den stilgemäßen Voraussetzungen des Erkenntnisprozesses geregelt. Was dagegen stilgemäß erkannt wird, ist sekundär, es kann sogar das Gegenteil der Erkenntnis in einem anderen Denkkollektiv sein; allein: Es ist für die Teilnehmer des jeweiligen Denkkollektivs eine Tatsache. Was aber genau geschieht im stilgemäßen Erkenntnisprozess? Er beruht auf dem Beobachten: Fleck unterscheidet zwei Arten des Beobachtens: das unklare anfängliche „Schauen“ und das entwickelte unmittelbare „Gestaltsehen“ (Fleck 1983a: 121f.). Im Verlauf des Erkenntnisprozesses vollzieht sich eine Veränderung vom Schauen hin zum gerichteten Sehen: Das Schauen ist unorientiert und chaotisch, es ist ‚stillos‘: Es fehlt die feste Form, der Zwang, der Widerstand; man kann so oder so sehen, fast willkürlich. Gestaltsehen dagegen meint die Fähigkeit, „Sinn, Gestalt, geschlossene Einheit unmittelbar wahrzunehmen“. Dieser Beobachtungstypus verlangt das Erfahrensein in einem Denkgebiet, da man erst mit Vorbildung und nach vielen Erlebnissen die Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen erwirbt – man muss Sehen lernen. Freilich verliere man zugleich die Fähigkeit, der Gestalt Widersprechendes zu sehen (Harmonie der Täuschung!). Zuerst nimmt der Forscher also im chaotischen Denken eine halbwegs feste Gestalt wahr, begegnet ihm ein Widerstand, der seine Freiheit, willkürliche Aussagen zu machen, einschränkt. Im Verlauf des intrakollektiven Denkverkehrs wird dieses anfänglich persönliche „Aviso“, das, was dem

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freien Denken als fester Widerstand entgegensteht, zu einem Zwang, einem spezifischen „Denkzwang“: Hat sich das Denkkollektiv auf ein Aviso geeinigt, wird es unausweichlich und schließlich zu einer unmittelbar wahrnehmbaren Gestalt, zur Tatsache. Zu Tatsachen werden also solche Beobachtungen, die bei kleinster Denkwillkürlichkeit den stärksten Denkzwang bieten (Fleck 1983a: 129). Das ist die Tatsache: „Im Gebiete des Erkennens heißt das Aviso eines Widerstandes, der sich der freien Willkürlichkeit des Denkens entgegensetzt: ‚Tatsache‘.“ (Fleck 1983a: 132) Tatsachen werden also, und hier liegt der neue, bedeutsame Schnitt, den Fleck gegenüber einer rationalistischen Erkenntnistheorie vollzieht, nicht ‚entdeckt‘, sondern gleichsam ‚ermittelt‘ – in struktureller und kontextueller Abhängigkeit zu den beobachtungsleitenden Faktoren Denkkollektiv, Denkstil und Denkzwang. Entscheidend dabei ist das Verhältnis von aktiven und passiven Koppelungen. Wissenschaft zeichne sich nun dadurch aus, bei einem Minimum an aktiven Koppelungen ein Maximum an passiven Koppelungen zu erstreben oder anders gesagt: „Größter Denkzwang bei kleinster Denkwillkürlichkeit.“ (Fleck 1983a: 124) Das konkretisiert Fleck am Beispiel des Verhältnisses von Syphilis und Wassermann-Reaktion, einer „unzweifelhaften Tatsache“. Gelöst werden sollte das Problem: „Wie definiert man die Syphilis und stellt eine Blutprobe zusammen, damit nach einiger Erfahrung von fast jedem Forscher eine Beziehung zwischen Krankheit und Nachweis in praktisch genügendem Ausmaß feststellbar wird?“ (Fleck 1983a: 128). Die Manipulation der regulierbaren Faktoren – das Aufeinandereinstellen der Reagentien, die Menge des Patientenserums, das Verhalten beim Ablesen der Resultate – brachte den gewünschten Erfolg. Die Tatsächlichkeit der Beziehung zwischen Syphilis und Wassermann-Reaktion liege in der Lösung eben dieses Problems, da die Wassermann-Reaktion in Bezug auf die stilgemäße Definition der Syphilis (als Kategorie, als Krankheitseinheit) bei kleinster Denkwillkürlichkeit den stärksten Denkzwang biete. Oder anders: „Heißt die Beziehung der Wassermann-Reaktion zur Syphilis Tatsache, so wurde sie eben zur Tatsache erst durch die hohe Brauchbarkeit, durch die große Wahrscheinlichkeit ihres Zutreffens in konkreten Fällen.“ (Fleck 1983a: 95) Die Problemlösung vollzog sich einem einmaligen historischen Prozess, der experimentell nicht zu reproduzieren und logisch nicht zu legitimieren sei; ein Ereignis der Denkgeschichte, zustande gekommen durch Erfahrung, einen besonderen Denkstil, durch früheres Wissen, durch stilgemäße Kategorisierung und Begriffsanpassungen, gelungene und misslungene Experimente, durch Übung, Erziehung. Reiße man eine Tatsache aus ihrem Entwicklungszusammenhang heraus, so erscheine nur eine zwangsläufig sich ergebende passive Koppelung als entscheidend für die Tatsache, die aktiven Anteile hingegen als „Störungen, die zu bekämpfen sind.“ (Fleck 1983a: 133f., Anm. 5) Betrachte man eine Tatsache aber in ihren Zusammenhängen und Entwicklungen, so erkenne man, wie die aktiven und passiven Anteile eines Wissens ihre Rolle vielfach untereinander 

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wechselten und dass es von den Eigenschaften eines Denkstils abhänge, was sich aktiv und was sich passiv zur Erkenntnistätigkeit einstelle. Hier zeigt sich, was stilgemäße Tatsache heißt: Eingebettet in das Denkkollektiv und den Denkstil erhält die Tatsache die ihr entsprechende Historizität: „Die Tatsache muß im Stil des Denkkollektivs ausgedrückt werden.“ (Fleck 1983a: 133) Gleichwohl sei, wie Fleck deutlich macht, keine Tatsache von anderen völlig unabhängig: Sie treten entweder als „mehr oder weniger zusammenhängendes Gemenge der Einzelavisos auf, oder auch als Wissenssystem, das eigenen Gesetzen gehorcht. Deshalb wirkt jede Tatsache auf viele andere zurück, und jede Veränderung, jede Entdeckung übt eine Wirkung auf ein eigentlich grenzenloses Gebiet: ein entwickeltes, zu einem harmonischem System aufgebautes Wissen besitzt die Eigenschaft, daß jede neue Tatsache harmonisch alle früheren Tatsachen – wenn auch noch so geringfügig – ändert.“ (Fleck 1983a: 135)

So bilde sich ein zusammen hängendes „Getriebe der Tatsachen“, das sich durch ständige Wechselwirkung im Gleichgewicht halte, der Tatsachenwelt „massive Beharrlichkeit“ verleihe und das Gefühl „fixer Wirklichkeit, selbständiger Existenz einer Welt“ erwecke.

Wissensgenerierung in problemorientierten Wissenschaften

Folgt man den Ergebnissen Flecks, so erweist sich eine Tatsache, erweist sich Wissen immer auch als Problemlösung. Die Historizität von Wissen, sein Status als „denkhistorisches Ereignis“, ist an einen konkreten historischen Vollzug gebunden, an eine zeitgenössische, stilgemäß-kollektive Lösung eines Problems. Wenn also Fleck das Erkennen als die soziale Tätigkeit schlechthin einstuft, so könnte man das Ergebnis dieser Tätigkeit, die Tatsache, könnte man Wissen als den historischen Gegenstand schlechthin bezeichnen. Hier berühren sich die Überlegungen Flecks mit den Prämissen des Kollegs „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“: Wissen wird dort, es wurde erwähnt, als ein Fenster in die Vergangenheit verstanden, das zwar das Antworten repräsentiert, nicht aber offene Fragen und Krisen. Diese Krisen, die Situation vor dem Wissen, freizulegen, die Mechanismen der Wissensgenerierung aufzudecken, ist Aufgabe der wissenshistorischen Arbeit. Anders als in disziplinhistorischen Untersuchungen, die sich, so auch die Kriminologiegeschichte, meist auf das fertige Wissen konzentrieren, fallen mit dem wissenshistorischen Ansatz die vorgängigen Problemstellungen, die Situation vor dem Wissen, nicht aus der Analyse heraus. Dies gelingt nur, wenn die Verabsolutierung fertigen Wissens hintergangen und der Blick nicht nur wissenssoziologisch-synchron, sondern wissenshistorisch-diachron auf die Bedingungen seiner Entstehung gerichtet wird. Die These vom Wissen als historischem Gegenstand deckt sich auch mit dem erkenntnisleitenden Motiv dieser Arbeit, dem Verhältnis von Wissenskultur und gesellschaftlichem Wandel, was am Beispiel der Kriminologie und der Kriminalbiologischen Untersuchung verdeutlicht werden kann: Als problemorientierte Wissenschaft wurde die Wissensgenerierung in der Kriminologie auf die Probleme des sozialen Wandels ausgerichtet, vor allem auf jene, die aus der Wahrnehmung eines nicht bessernden Strafvollzugs und der Rückfallkriminalität entstanden waren. Zugleich erhob sie den Anspruch, im Namen der Wissenschaft Wandel durch eben diese Wissensgenerierung selbst einzuleiten, indem sie auf die Handlungspotentiale des neuen Wissens über den Verbrecher für die Kriminalpolitik hinwies. Die Kriminalbiologische Untersuchung wiederum entstand aus dem Problemlösungs-

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druck, der sich aufgrund der veränderten Ziele und Notwendigkeiten des Stufenstrafvollzugs ergab. Viernstein griff auf die Lösungsangebote kriminologisch-psychiatrischer Theorien zurück, um seinerseits mittels der Kriminalbiologischen Untersuchung Wissen über einen konkreten Verbrecher zu generieren mit dem Ziel, diesen strafpolitisch effektiver ‚behandeln‘ zu können als zuvor. Aus einer wissenshistorischen Perspektive kommt also für beide Wissensfelder die krisenhafte Situation vor dem Wissen ebenso in den Blick wie der Prozess seiner Generierung und seine Anwendung. Ludwik Flecks Publikationen haben für diese wissenshistorische Arbeit der Aufdeckung von Problemlagen, die zur Generierung und Anwendung von Wissen anreizten, einen Teil des Weges gewiesen – auch wenn man ganz grundlegend einwenden könnte, dass die Suche nach einer Nachweistechnik für eine Krankheit, die Fleck sich zum Gegenstand nahm, bereits als Problemlösung angelegt gewesen sei, dass die Entwicklung und Entstehung wissenschaftlicher Tatsachen, wie Fleck sie beschrieb, ein Sonderfall wissenschaftlichen Arbeitens und nicht repräsentativ für epistemisches Wissen sei. Ludwik Fleck hat seine Theorie von der Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Tatsachen eben anhand eines wissenschaftlichen Kollektivs aus der Medizin bzw. der Serologie entwickelt; eine Wissenschaft, die sich neben der theoretisch-nosologischen Arbeit durch eine starke Problemund Lösungsorientierung auszeichnet, wo also eine Entsprechung von Kategorie und Nachweis – jene Beziehung, die zur Tatsache wird – eine besondere Rolle spielt. Es mag sein, dass seine Theorie für Wissenschaften, deren Tatsachen stärker im theoretischen Bereich entwickelt, wo also Nachweise mit theoretischen Konstrukten erbracht werden, weniger gut funktioniert. Es mag sein, dass seine Überlegungen eher für anwendungsorientierte, besser: für problemorientierte Wissenschaften brauchbar sind. Aus der wissenshistorischen Perspektive jedoch ist es unerheblich, ob ein wissenschaftlichepistemisches Problem oder ob ein ‚praktisches‘, ein Problem der Anwendung, in einer Wissenschaft gelöst werden soll: Das Erkennen von Zusammenhängen, die Entscheidung für die eine relevante Beobachtung, die Formulierung von Gesetzmäßigkeiten, das Ausdrücken von Tatsachen, die denkstilgemäße Etablierung von Wissen – alles das stellt immer eine Antwort auf eine Problemstellung und damit die Grundlage der Wissensgenerierung, die Basis wissenschaftlichen Fortschritts, dar: „An den Problemen muß sich die Leistungsfähigkeit des Denkstils erweisen. Oft bleiben sie aber dennoch lange ungelöst. In der Auseinandersetzung mit ihnen ‚arbeitet‘ sich der Denkstil dann ‚ab‘: Er wird verändert, um Erklärungskraft gewinnen zu können.“ (Schäfer/Schnelle 1983: 25) Die übliche Trennung von Theorie und Praxis trägt hier also nicht weit. Brauchbarer ist, schon wegen der griffigen Terminologie, die Unterscheidung von erkenntnisorientierter Wissenschaft, die letzte Wahrheiten erkundet, und anwendungsorientierter Wissenschaft, die praktisch verwertbare Ergebnisse liefert. Doch auch das ist idealtypisch und vom Standpunkt der Wissenschaften aus gedacht, wenn deren Ergebnisse nicht nur theoretisch

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befriedigen, sondern auch noch praktische Anwendung finden sollen. Geht man dagegen mit Blick auf die Prozesse der Wissensgenerierung nicht von der Erkenntnisrichtung der Wissenschaften aus, sondern von den vorgängigen Problemlagen, den Erklärungs- und Lösungsbedürfnissen, die außerund innerwissenschaftlich an Wissenschaft gerichtet werden, wird zweierlei deutlich: Zum einen erweisen sich die gesellschaftliche Verankerung von Wissenschaft, der tendenziell krisenhafte soziale Wandel und die dynamische öffentliche Nachfrage nach (wissenschaftlicher) Problemlösung als wesentliche Triebkraft von Wissensgenerierung und Erkenntnis. Und zum anderen lassen sich die Bedingungen von Wissensgenerierung auf diese Weise trennen in außerwissenschaftliche Problemstellungen, für deren Lösung man die Wissenschaft zu Rate zieht und die auf die Beherrschung sozialer Probleme zielen, und innerwissenschaftliche Problemstellungen, die denkstilgemäß gelöst werden müssen und die auf die Konsistenz wissenschaftlicher Modelle und Denksysteme zielen. In der konkreten wissenschaftlichen Arbeit wird sich diese Trennung selten in Reinform finden lassen; zumeist dürfte – wie Fleck es zeigt – die denkstilgemäße wissenschaftliche Lösung außerwissenschaftlich relevanter Problemstellungen überwiegen. Es bietet sich an, diesen Sachverhalt als problemorientierte Wissenschaft zu bezeichnen, womit eher eine besondere Form der wissenschaftlichen Tätigkeit bezeichnet ist als eine spezifische Wissenschaft oder Disziplin, die sich auf Anwendung orientiert: „Das Verhältnis der problemorientierten Forschung zur Praxis ist nicht das einer Anwendung von vorher gewonnenem und gesichertem Wissen auf praktische Zwecke, und sie stellt sich Praxis auch nicht als Imitation theoretischen Wissens vor. [...] Für die problemorientierte Forschung tritt die Frage der Anwendung als Applikation von Wissen in den Hintergrund. Sie ist selbst unmittelbar praktisch, da sie sich als problemstellend und problemlösend im Wissenschaftssystem konstituiert.“ (Bechmann 2002: 33f.)

In aller Deutlichkeit zeigt sich dieser Zusammenhang bei der Syphilisforschung und bei der Suche nach einer Antwort auf das selbst gestellte Problem der Serologen, wie eine zweckmäßige Blutprobe zum Nachweis der Krankheit zu erarbeiten sei. In der Syphilisforschung setzte sich um 1840 in Frankreich ein neuer Denkstil durch, der aus der Frage entstand, wann die therapeutische Verwendung von Quecksilber zur Behandlung von Syphilis angezeigt war und wann nicht – immerhin hatte Quecksilber erhebliche Nebenwirkungen, die bis zu einer Quecksilbervergiftung reichen konnten. Dieser neue Denkstil wurde angestoßen von Philippe Ricord (1800-1889). Alex Dracobly betont in seiner Analyse, warum sich Ricords Theorie durchsetzte: Die Ärzte hätten Ricords neue Doktrin nicht einfach angenommen, weil sie eine genauere Beschreibung der Geschlechtskrankheiten bereit gestellt hätte, und sie dann in ihre therapeutische Praktik übernommen. Die Akzeptanz habe vielmehr auf einem komplizierten Wechselspiel zwischen 

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Theorie und Praxis, zwischen Entwicklungen in der Pathologie der Geschlechtskrankheiten und ihrer Behandlung, beruht: Ricords Theorie wurde nicht nur akzeptiert, weil sie als theoretisch korrekt galt, sondern auch, weil sie den Ärzten eine bessere Behandlungsmethode versprach (Dracobly 2004: 524). Diese bestand darin, Gonorrhoe gar nicht mit Quecksilber zu behandeln, sondern allein als eine von der Syphilis verschiedene lokale Infektion mit Salben oder Kräutertees, und die Syphilis nur in ihrem zweiten Stadium, wenn die Krankheit bereits auf den ganzen Körper übergegriffen hatte – und dann auch nur bei sicheren Fällen. Zur Behandlung des dritten Stadiums der Syphilis wiederum empfahl Ricord Kaliumiodid, da Quecksilber in diesem Stadium unwirksam sei. Das Problem, dass Quecksilber manchmal therapeutisch wirkte, manchmal nicht, wurde somit differenziert; Ricords Theorie „offered doctors a powerful tool for the differential diagnosis of syphilis and gonorrhea, and gave them a sure guide to treatment.“ (Dracobly 2004: 543) Diese Art von problemlösender Forschung war, ganz im Sinne Gotthard Bechmanns, selbst praktisch, da sie gleichsam von Beginn an als problemstellend und problemlösend konstituiert war. Ricord war nicht in der Lage, die Wirksamkeit von Quecksilber gegen Syphilis im zweiten und seine Unwirksamkeit gegen die im dritten Stadium zu erklären, ebenso wenig die umgekehrte Wirksamkeit von Kaliumiodid – „except to suggest that syphilis became less specific the more it advanced. For many doctors, however, such an explanation was sufficient, testimony to the fact that evaluations of the truth of [the] theory remained inseparably linked to its utility in a clinical setting.“ (Dracobly 2004: 551) Ähnliches bezüglich des Faktors Brauchbarkeit ließ sich ja bereits von der Entwicklung einer Blutprobe zum Syphilisnachweis sagen; ebenso deutlich aber zeigt sich dieser Sachverhalt auch bei der Kriminologie und der Kriminalbiologischen Untersuchung: Als problemorientierte Wissenschaft hat die Kriminologie die wissenschaftliche Identifizierung und Diskursivierung sozialer Problemlagen und die Formulierung von Lösungsansätzen zu deren Überwindung zugleich im Zentrum ihrer Forschung. Die Kriminalbiologische Untersuchung erscheint aus dieser Sicht als eine auf ausgewählten, für die spezifische Problemlösung einer Persönlichkeitsuntersuchung verwertbaren Teilen des kriminologischen Theoriegebäudes aufbauendes Nachweissystem, das seine Brauchbarkeit dadurch erwies, in signifikant häufigen Fällen eine Beziehung zwischen Kategorie und Diagnose, zwischen Verbrechertypus und dessen Zuschreibung im Einzelfall, herzustellen.

S OZIALE W ICHTIGKEIT

UND

E XPERTEN

Brauchbarkeit ist sicherlich ein wesentlicher Faktor, wenn es darum geht, Kategorien oder Theorien aus der Wissenschaft für eine bestimmte Problemlösung heranzuziehen oder – problemlösend und problemstellend – eigens zu entwickeln. Dass diese Entwicklung aber überhaupt stattfindet, hat

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darüber hinaus auch viel mit dem Wert und dem Problemdruck, die einer sozialen Problemlage zugeschrieben werden, zu tun: Problemorientierte Forschung ist ‚issue-abhängig‘, abhängig also von der sozialen Relevanz, die einem Problem zugeschrieben wird. Diese Relevanz bedingt die Forschungskapazitäten, die Höhe der Finanzierung, die Zahl der installierten Stellen. Damit ist problemorientierte Forschung abhängig auch von gesellschaftlichen Werten und ihrem Wandel, ein Sachverhalt, den alle Humanwissenschaften und mithin auch die Kriminologie aufweisen. Bleibt man zunächst noch beim Beispiel der Wassermann-Reaktion, so hat Ludwik Fleck gezeigt, dass sie von Beginn an nicht nur von wissenschaftlichen Motivationen bedingt war: So führte etwa der soziale Problemdruck der Syphilisfrage zu einer nachhaltigen Förderung der Forschung und Fürsorge auf diesen Gebieten, maßgeblich organisiert durch Friedrich Althoff (1839-1908), zwischen 1882 bis 1907 umtriebiger Ministerialdirektor im preußischen Kulturministerium. Gerade auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten kam bei Althoff die ‚patriotische Seite‘ der internationalen Wissenschaftskonkurrenz hinzu, der „Ehrenpunkt für die deutsche Wissenschaft“: Andere Staaten betrieben ähnliche Forschung, und „wir möchten nicht zu weit hinter ihnen zurückbleiben, wir möchten ihrem Vorgange folgen, wir möchten, daß Sie die deutsche medizinische Wissenschaft in den Stand setzen, das zu vollenden, was sie angefangen hat, da zu ernten, wo sie gesäet hat“.1 Althoffs „virtuoses Spiel auf der Klaviatur der ‚patriotischen Seite‘ und mit dem Menetekel der auch auf wissenschaftlichem Terrain ‚verspäteten Nation‘“ (Eckart 1991: 390-392) blieb nicht ohne Wirkung: In diesem Zusammenhang zitiert Fleck August von Wassermann, Althoff habe ihn – Wassermann – gebeten, über Syphilis zu arbeiten, um „der deutschen experimentellen Forschung ihren Anteil auf diesem Gebiete zu sichern.“ (Wassermann 1921b) Die Entstehung der Wassermann-Reaktion war „vom Anfange nicht etwa durch rein wissenschaftliche Momente bedingt“; dem politischen Willen in Form Althoffs, den Rückstand der deutschen Syphilisforschung gegenüber Frankreich aufzuholen, kam erhebliche Bedeutung zu: „Soziales Motiv: Völkerwettkampf auf einem Gebiete, das auch Laien als sehr wichtig ansehen, eine Art vox populi durch den Mund eines Ministerialbeamten ausgesprochen – stand an ihrer Wiege.“ (Fleck 1983a: 90) Die gesellschaftliche Bedeutung der Syphilis, ihre „besondere soziale Wichtigkeit“ (Fleck 1983a: 97), war immens; es habe „eine mächtige soziale Stimmung für Syphilisprobleme“ gegeben, hervorgerufen durch alte, vorwissenschaftliche Ideen: erstens durch die Idee der Syphilis als ethisch betonter Lustseuche, zweitens durch eine hartnäckig nach Realisierung verlangende Idee der syphilitischen Blutveränderung.“ (Fleck 1983a: 102) Jene „soziale Stimmung“ – zusätzlich gespeist durch Infektionsangst, durch die

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Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses, 9.5.1891, S. 2264.



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statistische Instrumentalisierung hoher Betroffenenzahlen als „venerische Durchseuchung“ (Sauerteig 1999: 68-88), durch Gerüchte und Halbaufklärung, durch Debatten über Prostitution, durch Diskurse über den „sittlichmoralischen Niedergang“ oder die „Degeneration der Rasse“ – sorgte für die Sichtbarkeit, für die soziale Wichtigkeit der Syphilisfrage, für den Nachdruck, mit dem die Forschung vorangetrieben wurde. Anders dagegen die Lage bei der Tuberkulose, die, so Fleck, seit Jahrhunderten viel mehr Schaden anrichte, jedoch weniger Nachdruck erhalte, „weil sie leider nicht die ‚verfluchte entehrende Krankheit‘ ist, sondern vielmehr oft als die ‚romantische‘ angesehen“ werde. Da helfen „keine lauen Vernunftgründe, keine Statistik: die Tuberkuloseforschung bekommt von der Gesellschaft keinen so starken Anstoß, keine soziale Spannung sucht hier in der Forschung Luft“. Wäre also nicht der „laute Schrei der öffentlichen Meinung“ nach einer Blutprobe gewesen, „nie hätten die Versuche Wassermanns den sozialen Widerhall gefunden, der zur Entwicklung der Reaktion, zu ihrer ‚technischen Durchbildung‘, zur Sammlung der kollektiven Erfahrung unumgänglich nötig gewesen war.“ (Fleck 1983a: 102f.) Innovation entstand hier also nicht aus einem Angebot der Wissenschaft (science push), als vielmehr aus der Nachfragemacht der Marktes (market pull); eine Nachfrage, die weniger ökonomisch als gesellschaftlich motiviert war und im Rahmen eines von Althoff geförderten nationalen Innovationssystems vonstatten ging. Die Untersuchung nationaler Innovationssysteme biete, so Helmuth Trischler, die Möglichkeit, „die immanente Handlungsrationalität wissenschaftlichen Tuns an die Rationalitäten des wirtschaftlichen und des politischen Handelns rückzubinden.“ (Trischler 1999: 247) Eine Instrumentalisierung zur Mobilisierung der Öffentlichkeit hat Silviana Galassi ähnlich auch für die Kriminalität um 1900 und für die Rolle, die die Kriminologie bei der Konstruktion ihrer Sichtbarkeit spielte (Interpretation von Kriminalität als bedrohliches Massenphänomen!), nachgewiesen. Der dieser Instrumentalisierung immanente Alarmismus der Kriminologen, des esoterischen Kreises also, habe die „diffusen Unsicherheits- und Bedrohungsgefühle“ des Bürgertums auf das soziale Problem der Kriminalität gelenkt, das die Kriminologen „wissenschaftlich bearbeiten und für dessen Lösung sie wissenschaftlich fundierte Konzepte vorstellen wollten.“ (Galassi 2004: 121) Der „laute Schrei der öffentlichen Meinung“ lässt sich oft vernehmen um 1900; der Widerhall, den Themen des sozialen und kulturellen Wandels und immer wieder Kriminalität in den Diskursen jener Zeit fanden, war immens und beständig. Dass dabei abweichende Phänomene als ‚krankhaft‘ interpretiert und in medizinischen Metaphern fixiert wurden, dass man Eingriffe in die sozialen Prozesse als ‚Diagnostik‘ und ‚Therapie‘ konzipierte, belegt den Einfluss der Medizin als Leitwissenschaft, vor allem aber die Bedeutung der sozialen Wichtigkeit, die einem als ‚pathologisch‘ bewerteten Phänomen zugeschrieben wurde: Weniges bedarf mehr einer Lösung als eine ‚Krankheit‘. Bezieht man dies auf die Wahrnehmung von Kriminalität, so zeigt sich, dass diese in der Rangfolge sozia-

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ler ‚Pathologien‘ einen vorderen, häufig sogar den vorderen Platz einnahm (Galassi 2004: 85-88). Die Kriminologie wiederum definierte diese Kriminalität, problematisierte und diskursivierte sie, bot Lösungen an: Sie erwies sich als problemorientierte Forschung, die problemstellend und problemlösend die soziale Wichtigkeit von Kriminalität wesentlich mitbestimmte und kriminologisches Wissen zur Lösung kriminalitätsbedingter Probleme generierte. Die wissenshistorische Analyse muss also danach fragen, mit welchem Dringlichkeitsgehalt ein sozialer Sachverhalt versehen wurde und wie diese soziale Wichtigkeit Einfluss nahm auf die Generierung von Wissen. Dieses Wissen wiederum wurde wieder selbst zum Gegenstand von Kritik, es wurde differenziert, verworfen, durchgesetzt oder angepasst – entsprechend der sozialen Problemlagen. Die wissenshistorische Analyse kann demnach verdeutlichen, dass die soziale Wichtigkeit einer Problemlage ein Kontinuum ist; dass Krise kein revolutionäres Ereignis, sondern durchaus und vielleicht vor allem ein Prozess ist; dass Wissen dementsprechend kein einmaliges, plötzliches ‚Passen‘ einer Antwort darstellt, sondern eine prozesshafte Anpassung der Antwortsuche an die jeweilige Problemlage in Abhängigkeit zu der ihr unterstellten sozialen Wichtigkeit. Ein entscheidender Faktor für den Grad der sozialen Wichtigkeit ist die Diskursivierung lösungsbedürftiger Problemlagen, also ihre Bewusstmachung und Verdauerung im Sinne einer konstanten Erzeugung von Aufmerksamkeit. Verbreitungsgrad, ‚Lautstärke‘, Intensität und Frequenz bestimmen die Sichtbarkeit eines Problems, das von Experten, pressuregroups, Politikern, Intellektuellen in Fachzeitschriften, Denkschriften, Reden oder der Presse kommuniziert wird. Problemorientierte Forschung muss demnach ihre Problemdefinitionen auf vordere Plätze der sozialen Agenda bringen; der Wissenschaftler fungiert nicht mehr nur als Wissensgenerator, sondern auch als Wissensmanager und Experte, der öffentliche Aufmerksamkeit für sein Problemfeld erzeugt und auf seine Lösungsangebote lenkt. Als Agenten der Diskursivierung wirken Experten an der Schnittstelle von Wissenskultur und gesellschaftlichem Wandel: „Since knowledge is never simple, ‚objective‘ reflection of reality but always represents selection and interpretation, and since it shapes our ideas of what ought to be, groups in control of a certain body of knowledge have far-reaching influence: they define the situation for the untutored, they suggest priorities, they shape people‘s outlook on their life and world, and establish standards for judgement in the different areas of expertise – in matters of health and illness, order and justice, administration of the commonwealth, the organized use of force, the design and employment of technology, the organization of production.“ (Rueschemeyer 1986: 104)

Problemorientierte Wissenschaft, die auf diese Weise Wissen generiert, und Experten, die auf diese Weise Einfluss ausüben auf das, was gewusst wird, sind konstitutive Elemente in Wissensgesellschaften, in denen Wissen die institutionalisierte Grundlage des Handelns darstellt und in denen Hand

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lungsfelder und Akteure, deren sozialer Einfluss auf Wissen beruht, an Bedeutung gewinnen. Natürlich kann hier weder der Diskussion um das Konzept der Wissensgesellschaft (Stehr 1994) noch jener um die Vermittlung von Wissen und Wissenschaft (etwa Kretschmann 2003; Schwarz 1998; Daum 1998; Irwin/Wynne 1996; Shinn/Whitley 1985) in aller Gründlichkeit nachgegangen werden; die Fülle der Literatur ist immens und die analytische Differenzierung vielfältig. Gerade hinsichtlich von Funktion und Rolle des Experten; hier lassen sich Arbeiten mit allgemeinem (Schulz 1999; Hitzler 1994; Metzger 1993) von solchen mit biografischem Charakter (Goschler 2002; Szöllösi-Janze 1998) unterscheiden: Während jene den Experten in allen denkbaren Funktionen konturieren, zeigen diese die individuellen, soziokulturellen und politischen Hintergründe von Wissenschaftlern, ihrer Forschung und ihres Selbstverständnisses auf. Je nach Blickrichtung unterscheiden sich daher die Deutungen; so etwa berücksichtigen die allgemeinen Betrachtungen anders als die biografischen nur selten die Rolle des Experten als Innovatoren, der Wissen nicht nur reproduziert, aufbereitet und vermittelt. Die biografischen Arbeiten aber laufen häufig immer noch Gefahr, eben jene Wissenschaftsgeschichte großer Männer (sic!) zu schreiben, die nach Fleck und den wissenssoziologischen Theorien eigentlich überwunden sein sollte (in diesem Sinne auch Bödeker 2003). Der wissenshistorische Ansatz kann einen Ausweg aus diesem Dilemma einseitiger Fokussierung weisen, indem er explizit die Bedingungen von Wissensgenerierung und -kommunikation am konkreten Beispiel untersucht. Dem kommen verschiedene Arbeiten nahe: In ihrer Studie über den Physikochemiker Fritz Haber (1868-1934) hat Margit Szöllösi-Janze drei Funktionen des Experten benannt (Szöllösi-Janze 2001): Als Mediator vermittele der Experte zwischen Wissensproduzent und -konsument, stelle Beratungsbedarf her, überwinde die Kommunikationsunfähigkeit beider Parteien und finde kooperative, systemübergreifende Lösungen. Wissenschaftlern gelinge es, soziale Nachfrage nach Expertise durch Selbstinduktion zu schaffen: Die „Fachleute [schaffen] die Nachfrage nach ihrer Expertise quasi selbst, indem sie gesellschaftliche Probleme überhaupt erst als solche identifizieren, um dann zu versprechen, sie mit wissenschaftlichen Methoden zu lösen.“ (Szöllösi-Janze 1998: 28) Als Organisator trachte der Experte danach, das Kooperationsverhältnis aufrechtzuerhalten, zu institutionalisieren und dauerhaft für die Forschung bzw. Forschungsförderung zu nutzen. In der Funktion des Innovators schließlich werde der Experte selbst initiativ, indem er potentielle Interessenten auf seine Problemlösungskompetenz aufmerksam mache und seine eigene Person einbringe. Einen etwas anderen Zugang findet Achim Landwehr: Er sieht als Aufgabe des Experten, Untersuchungen durchzuführen, um Lösungen für ein bestimmtes Problem zu formulieren (Landwehr 2001: 41-54). Dies geschehe in vier Phasen: Probleme benennen, Probleme untersuchen, Berichte schreiben, Erinnerung prägen. Die Macht und die Möglichkeit zu haben, einen bestimmten Aspekt der Wirklichkeit zu bezeichnen und damit als bedeutsam

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herauszustellen, sei der erste Schritt zur Etablierung von Wahrheit und Wissen. Durch diese Benennung werde ein Teil des politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder religiösen Lebens so separiert, als existiere er unabhängig von der Gesamtheit sozialer Wirklichkeit – mit der Folge, dass durch den Vorgang der Benennung Phänomene erst als existent erkannt werden, die zuvor unbekannt waren. Kriminalstatistiken etwa liegt eben dieses Phänomen zugrunde: Kriminalität als soziale Tatsache wird erst durch die statistische Erfassung von Straftaten produziert. Ähnliches gilt auch für die kriminologische Typenbildung. Problemorientierte Wissenschaft ist also in hohem Maße selbstreferentiell: Sie benennt Probleme, um sie dann untersuchen und lösen zu können. In den Berichten der Experten sieht Landwehr den Versuch, eine bestimmte Lösung – basierend auf gesammelten Daten und Erkenntnissen – als die einzig richtige für ein bestimmtes Problem zu präsentieren. Die Berichte seien jedoch mehr als nur die Darstellung von Wissen zu einem Wirklichkeitsausschnitt; sie kommentierten soziale, wirtschaftliche oder politische Zustände und führten so das zuvor sezierte Problem wieder in größere Zusammenhänge sozialer Wirklichkeit zurück. Sie konstruierten also insofern Realität, als sie Namen, Daten, Zahlen und Fakten mit der Autorität einer – in Landwehrs Fallbeispiel – herrschaftlichen Kommission im frühneuzeitlichen Venedig präsentierten: Mit Aussagen gespickt, die kaum Widerspruch zulassen, geben sie vor, die Dinge so darzulegen, wie sie vorgefunden worden seien, und nehmen auf diese Weise unbezweifelbare Objektivität und Expertise in Anspruch. Was dabei als wichtig oder unwichtig eingestuft wird, bliebe den Berichterstattern überlassen. Dies weist strukturelle Parallelen zu Denkschriften auf, zu Schriften also, die an offizielle Stellen gerichtet sind und sich mit einer wichtigen öffentlichen Angelegenheit befassen – ähnlich gelagert sind auch Gutachten. Auch in Denkschriften und Gutachten kann man jene beiden Elemente der Wissensproduktion identifizieren, die Landwehr für die Berichte der Kommissare ausmacht: die der „Tatsachenwirklichkeit“ (z. B. Bevölkerungszahlen, Berichte über Kriminalität, wirtschaftliche Angaben), zum einen, die Elemente umfassender „Konzepte und Mythen“ (Signalwörter, Argumentationen, Legitimitätsansprüche) zum anderen. Denkschriften und Gutachten waren im Übrigen neben Publikationen in fachwissenschaftlichen Zeitschriften das von Theodor Viernstein bevorzugte Mittel, seine Ideen einer Kriminalbiologischen Untersuchung zu verbreiten. Denkschriften und Gutachten gehören also zu jenen Instrumenten, mit denen der esoterische Kreis eines Denkstils mit dem exoterischen Kreis der Öffentlichkeit und potentiellen politischen Entscheidungsträgern kommuniziert. Und schließlich noch zu Landwehrs letztem Kriterium, dem Prägen von Erinnerungen: „Sobald Berichten, Briefen, Bittschriften und weiteren schriftlichen Dokumenten kein Anteil mehr an der aktiven Politik zukommt, werden sie in Archiven untergebracht und übernehmen die Rolle im historischen Diskurs der Wahrheit und des Wissens. [...] Die Archive stellen das Material für die kontinuierliche Konstruktion der Welt und Produktion der Wahrheit zur Verfügung.“ (Landwehr 

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2001: 50) Gewusst werden kann nur, was sich durchsetzt, was überliefert ist; und das wiederum liegt in der Legitimität und Autorität begründet, die dem Experten und seinem Wissen zugeschrieben werden. Zweifellos kann die Kriminalbiologische Sammelstelle, in der die Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung gesammelt wurden, als ein solches „Archiv“ des Wissens vom Verbrecher, das den Strafverfolgungsbehörden und der damaligen kriminologischen Forschung „Material für die kontinuierliche Kon struktion der Welt und Produktion von Wahrheit zur Verfügung“ stellte, verstanden werden. Zuschreibung und Übernahme von Expertise sind außerdem gesellschaftliche Identifikations- und Aushandlungsprozesse, die auf sozialen Rahmenbedingungen beruhen, z. B. darauf, „how people reflect on the status of their own knowledge and situate themselves vis á vis science, also relations of dependence, co-operation, or challenge, relations of power [...], the style in which claims to authoritative knowledge were made […,] the persuasive explicative power of scientific idioms“ (McKechnie 1996: 129, 133, 136) usw. Eine gewisse Legitimation des Experten liegt bereits in der Legitimität seines Wissens selbst: „The knowledge offered by the professions […] consists of many different components – of common sense, knowledge of precedents and established practices, skill in dealing with people, command of inherited wisdom (as well as inherited prejudices); and only parts of it are subject to a discipline akin to that of scientific research. […] Being learned in major cultural traditions, which are consensually accepted as valid and pragmatically relevant, it confers a quasi-charismatic prestige and constitutes a powerful source of expert authority and legitimation of privilege.“ (Rueschemeyer 1996: 111)

Dennoch muss der Experte seine potentielle Klientel, die Öffentlichkeit und „strategically located elites“ davon überzeugen, dass seine Expertise auf validem Wissen basiert und Relevanz besitzt für das fragliche Problem. Dies sei, so Rueschemeyer, jedoch „by no means simply a matter of making a true treasure known to those for whom it may be of value. Rather, the very criteria for validity and relevance are a social construct which is developed not merely by argument but also by the use of authority claims, by exploiting respect for status and reputations as well as by manoeuvring for the best position in the market of competing promises. […] Even in the case of established scientific knowledge it is a political achievement to have its validity and relevance widely accepted and acted on by customers and (potential) regulators alike.“ (Rueschemeyer 1996: 111f.)

In dieser sozialpolitischen Situation entscheidet sich die Wahl zwischen diesem oder jenem Wissen nicht unbedingt durch Beweise oder Wahrheit, eher schon durch das Versprechen von Leistungsfähigkeit, durch eine günstige

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Prognose für die Zukunft, nicht selten jedoch danach, welche der konkurrierenden Theorien besser zu den Fakten passt oder von welchem Wissen eine schnellere Lösung des Problems zu erwarten ist.

W ISSENSGENERIERUNG UND SOZIALTECHNOLOGISCHE S TRATEGIEN Es ist also nun, im Unterschied zur Grundlagenforschung, eines der Merkmale problemorientierter Wissenschaft, dass strukturelle Besonderheiten, die auf einen pragmatischen Handlungsbezug im Sozialen ausgerichtet sind, auf die Generierung von Wissen Einfluss nehmen, indem die epistemische Differenzierung, der Ausbau des Theoriegebäudes und die Berücksichtigung widerständiger Faktoren zugunsten der unmittelbaren Lösung und Beherrschung sozialer Probleme zurückgestellt ist: Problemorientierte Forschung könne nicht warten, bis die Grundlagen eines Gebietes geklärt sind, um dann auf dem Boden gut bewährter Theorien Daten zu sammeln und Ratschläge zu erteilen; „ganz im Gegenteil, sie muss auch bei ungeklärter theoretischer Basis versuchen, aufgrund von wissenschaftlichen Methoden zu hinreichend plausiblen und argumentativ vertretbaren Lösungen zu kommen.“ (Bechmann 2002: 27) Theoretische Wissenschaft strebt danach, ihre jeweiligen Denkgebäude als umfassend auszuweisen; problemorientierte Wissenschaft hingegen findet sich sehr viel eher mit theoretischen Widersprüchen ab, wenn nur der praktische Erfolg gesichert ist. Erklärungs- und Lösungsangebote aus problemorientierter Forschung sind einer großen Erwartungshaltung und einem sehr direkten Erfolgsdruck ausgesetzt, was wiederum auf die Produktion von Wissen zurückwirkt: Wissen aus problemorientierter Forschung wirkt nur dann als useful knowledge, wenn soziale und institutionelle Faktoren reflektiert und bei der Generierung des Wissens miteinbezogen werden. Erneut wird deutlich, dass Selbstreferentialität – verstanden als das Bestreben, jene Probleme zu lösen, die man selbst als zu lösende Probleme deklariert hat – für problemorientierte Forschung charakteristisch ist. Damit unterscheidet sie sich von angewandter Wissenschaft: Diese ist auf das Kriterium der Nutzanwendung bezogen, wobei erworbenes Wissen zur Lösung von Fragestellungen benutzt wird, die in der Praxis vorgegeben sind, dass also vorgängige Modelle, Schemata oder Techniken, die nicht in Reaktion auf ein Problem generiert wurden, auf eben diese Fragestellungen appliziert werden. In einem breiten Sinne lässt sich diese Beobachtung einordnen in jenen Prozess der Verwissenschaftlichung des Sozialen, der seit der Wende zum 20. Jahrhundert die sozialpolitischen Handlungsfelder prägte und von den Humanwissenschaften (der Medizin, der Psychologie, der Kriminologie, der Ökonomie und den Sozialwissenschaften) dominiert wurde. Lutz Raphael hat diese Verwissenschaftlichung bestimmt als „die dauerhafte Präsenz hu

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manwissenschaftlicher Experten, ihrer Argumente und Forschungsergebnisse in Verwaltungen und Betrieben, in Parteien und Parlamenten, bis hin zu den alltäglichen Sinnwelten sozialer Gruppen, Klassen oder Milieus“. Besonders in der Beurteilung abweichenden Verhaltens haben die Humanwissenschaften andere Wissensformen und Bewertungskriterien verdrängt, hat die gutachterliche Urteilskompetenz von Experten neue Berufsfelder eröffnet, hat die Autorität wissenschaftsförmigen Wissens humanwissenschaftliche Kategorien und Modelle als Denk- und Handlungsmaßstab etabliert. Ein am „Leitbild zweckrationaler Verfügbarkeit von ‚Sozialem‘ orientierter Wissenschaftstypus, der sich an dem erfolgreichen Modell der experimentellen Naturwissenschaften ausrichtete“ und die damit verbundenen praktischen Erfolge der Humanwissenschaften, ihre effiziente Problemlösung, waren dabei von besonderer Bedeutung (Raphael 1996: 166). Auch die Positionen in der Debatte um die Strafzwecke spiegeln dies wider: Liszt gab als Maßstab einer modernen Strafpolitik ihre Zweckmäßigkeit aus, den Verbrecher entweder zu bessern oder unschädlich zu machen; das aber setzte Wissen sowohl von der Strafwirkung wie auch von der Persönlichkeit des Verbrechers, auf den diese Strafwirkung abgestimmt werden musste, voraus. Sollte also zukünftige Kriminalität verhindert werden, musste der Adressat aller Konzepte, die den Strafzweck „Schutz der Gesellschaft“ in den Mittelpunkt stellten, der Täter sein und nicht die Tat wie im bisherigen generalpräventiven Vergeltungsstrafrecht. Monika Frommel mahnt zwar, darin nicht unbedingt einen „Paradigmenwechsel“ vom tat- hin zum täterorientierten Strafrecht zu sehen; „vielmehr fanden parallel zwei verfachlichte Diskurse statt: die strafrechtsdogmatische Präzisierung des Straftatbegriffs und die kriminalpolitische Auseinandersetzung über Fragen der Effektivität der Sanktionen.“ (Frommel 1991: 470f.) Doch zeigt sich, dass Effektivität und Rationalisierung auf diese Weise Eingang in die Strafrechtswissenschaft und darüber auch in den Strafvollzug hielten. Die Verwissenschaftlichung des Sozialen stand in engem Zusammenhang zum Aufstieg der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert. Vor allem Biologie, Medizin und Psychologie etablierten sich als neue Leitwissenschaften (Engels 2000: 92). Damit standen Gesellschaftsmodelle und Menschenbilder bereit, die „wichtige Impulse für die Entwicklung und Erprobung neuer Verfahren zur Diagnose und Therapie sozialer Probleme [gaben]. ‚Prävention‘ bzw. ‚Prophylaxe sozialer Pathologien‘ wurden Leitideen medizinisch-biologischer Denkmuster im Umgang mit sozialen Phänomenen.“ (Raphael 1996: 172) Hinzu trat die szientistische (Wunsch-)Vorstellung, mit naturwissenschaftlichen Konzepten und Methoden einerseits die Vorgänge der menschlichen Gesellschaft, den Menschen selbst, erfassen, beschreiben und erklären, andererseits das Verhalten des einzelnen Menschen in einer gewünschten Richtung modifizieren zu können: Besteht der Anspruch, „im Namen der Wissenschaft in die gesellschaftlichen Zustände einzugreifen“, besteht eine Zielrichtung auf das Soziale, darauf, dass die Forschungen „in eindeutiger Weise praktisch werden und sich die Umset-

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zung von ‚Wissen‘ in ‚Handeln‘ in den Binnenraum der Fächer zurückverfolgen läßt“ (Raphael 1997: 297), und sind schließlich „Verhaltensänderungen im Bereich [menschlichen Zusammenlebens] nach Maßgabe des wissenschaftlich postulierten Zieles und mit den Mitteln der direkten oder indirekten gesellschaftspolitischen Einflussnahme“ (Weingart et al. 1996: 140; Einschub Th. K.) intendiert, dann ist der Schritt von der problemorientierten Forschung hin zur sozialtechnologischen Strategie vollzogen. Sozialgeschichtlich entspricht dies der Situation um 1900, als soziale Problematiken und Reformen von einer breiten Öffentlichkeit diskutiert und Lösungen von wissenschaftlicher Seite erwartet wurden. Die Kriminologie kann als eine solche Sozialtechnologie angesprochen werden; als eine Wissenschaft, „die ihren Gegenstand, die Kriminalität, auslöschen wollte. Dieses Ziel sollte durch drei Maßnahmen erreicht werden: Heilung, ‚Unschädlichmachung‘ und Vorsorge. Im Selbstverständnis der Kriminologen ging es darum, die Ineffizienz des Strafrechts durch praktische Technologien zu ersetzen. Dabei sollte auf diagnostische, präventive und therapeutische Instrumente und Institutionen zurückgegriffen werden.“ (Uhl 2003: 30) Sozialtechnologien zielen auf die Steuerung und damit auf die Beherrschung des Sozialverhaltens des einzelnen und des Kollektivs mittels diagnostischem Wissen und sozialpräventiver und -therapeutischer Techniken; erneut trifft man auf die Beziehung zwischen Sozialer Frage und Medizin. Doch nicht nur plausible Analogien bestimmen diese Beziehung, der konzeptuelle Schulterschluss reichte weiter: Die Medizin mit ihrem konstitutiven Arbeitsverhältnis von Forschung und Praxis war Bezugswissenschaft der neuen Humanwissenschaften. Ihr handlungsbezogener Pragmatismus wirkte in den theoretischen Ansätzen der Sozialwissenschaften nach, die Erfolge der Medizin erhöhten den Druck, sich auf sie und auf die Naturwissenschaften zu beziehen. Die Humanwissenschaften reagierten auf diese Herausforderungen mit einer „Vorwärtsverteidigung mit dem Ziel, Sozialwissenschaft als interdisziplinäre Leitperspektive gemäß naturwissenschaftlichexakten Kriterien zu verankern, sozialwissenschaftliche Theoriebildung mit biologistischem Denken auf einer gesetzespositivistischen Basis zu kombinieren.“ (vom Bruch 1997: S. 266) Differenziert man diese Synthese aus, kommt eine naturwissenschaftlich fundierte, anthropologisierte Sozialreformbewegung zum Vorschein, die das Soziale mit den naturwissenschaftlichen Methoden der Messung und Klassifizierung und den positivistischen Schlussfolgerungen aus Materialismus und Determinismus zuschneiden und es im Sinne einer auf Steuerung und Kontrolle hin ausgelegten Sozialpolitik ihrem veränderndem Eingriff zu unterziehen suchte. Die Vorteile lagen dabei auf beiden Seiten, bei den Produzenten sozialtechnologischen Wissens wie bei den Rezipienten in Sozialpolitik und Öffentlichkeit: „Einer diffusen Wissenschaftsgläubigkeit der politischen und kulturellen Eliten entsprachen auf der Gegenseite sozialreformerische Verheißungen und Selbstanpreisungen der neuen Humanwissenschaften.“ (Raphael 1997: 297) 

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Diese „Verheißungen“ setzten den Glauben an soziale ‚Gesetzmäßigkeiten‘ voraus, mehr noch aber an die Machbarkeit von Gesellschaft und an die Steuerung des Normhaushalts einer auf Disziplinierung – im Sinne verhinderter Abweichung – ausgerichteten Normalisierungsgesellschaft. Im Mittelpunkt dieses Beherrschbarkeitsparadigmas standen Techniken der Erfassung und (Ver-)Messung, Mechanismen der Quantifizierung und Qualifizierung des Sozialen. Der Positivismus und die naturwissenschaftliche Weltbetrachtung haben die Sozialwissenschaften über das zur Verfügung gestellte Repertoire an (Erhebungs-)Methoden in den „Kult präziser Messungen“ (Raphael) eingeführt. Die „Verlockung der Zahl“ und die methodische Weiterentwicklung der Statistik führten dazu, dass „sich ‚Tatsachenblick‘ und ‚Faktenorientierung‘ als leitende Kriterien für die Behandlung der ‚sozialen Frage‘ durchsetzten und die Situation eintrat, daß von den Wissenschaften die entscheidende Hilfe bei der Erfassung und Lösung dieser Frage erwartet wurde.“ (Raphael 1996: 171) Auch in der Kriminologie beruhte die Generierung von Wissen als Reaktion auf eine soziale Problematik auf dieser für die Humanwissenschaften konstitutiven Verbindung von „Tatsachenblick“ und „Faktenorientierung“. Als Tatsachenblick bezeichnet Wolfgang Bonß „Aneignungsformen, in denen die Wirklichkeit nach dem Muster der ‚Sciences‘ als ein subjekt- und situationsfreier Zusammenhang rekonstruiert“ werde. Das bedeute, dass die zu analysierenden Phänomene „nicht als subjektbezogene Erlebniszusammenhänge mit exemplarischen Repräsentativitätsanspruch in den Blick treten, sondern auf isolierbare ‚Merkmale‘ reduziert werden, deren Verallgemeinerung in Abhängigkeit von statistischen Validitätsüberlegungen verläuft. Entscheidend für den Tatsachenblick ist also eine Entsubjektivierung, Dekontextualisierung und Quantifizierung von Sozialerfahrung.“ (Bonß 1982: 59) Mit dieser Auflösung der Wirklichkeit in Zahl und Maß, Formeln und Verhältnisse entsteht analytisch gesehen eine „Tatsachenwirklichkeit“, die als wissenschaftlich-bürokratische Reproduktion von Wirklichkeit erscheint und allein in wissenschaftlichen Kategorien und Typen, in Statistiken oder in administrativen Erfassungspraktiken präsent, als Basis und Maßstab von Verwaltungstätigkeit und Sozialpolitik gleichwohl handlungswirksam ist. Und dieser „unwiderstehliche Trend“ ließ die Untersuchung von Lebensäußerungen nicht mehr los: „Quantifizierung und naturalistischer Determinismus gingen vor allem in den anwendungsorientierten Feldern der Humanwissenschaften ein dauerhaftes Bündnis ein.“ (Raphael 1997: 301) Kategorisierung und Messung – die Quantifizierung des Sozialen – verbürgte Genauigkeit und Objektivität, Gesetzmäßigkeit und vordergründig wertfreies Urteilen auch im Bereich sozialer Phänomene. Die Wertung ‚richtiger‘ Gesellschaft, die ‚neue Wahrheit‘ über die Gesellschaft und ihre Individuen – die Qualifizierung des Sozialen –, beruhte auf den Heilsversprechen positivistischer Postulate über die sozialpolitische Reichweite sozialtechnologischen Wissens und seiner Techniken sowie über die Formbarkeit von Gesellschaft und Menschen.

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Dies scheint auch für den Blick auf Kriminalität zu gelten: Der Gewohnheitsverbrecher und andere Verbrecherbilder wurden, so die Hypothese, durch die Generierung wissenschaftlichen Wissens zu einem Ausschnitt der kriminologischen „Tatsachenwirklichkeit“ entwickelt, präsent in wissenschaftlichen Kategorien und Tätertypen, in den Kriminalstatistiken sowie in einer administrativen Erfassungspraktik, hier der Kriminalbiologischen Untersuchung, die ihrerseits durch die extensive Generierung von Wissen über den einzelnen Straftäter diese Kategorien diagnostizierte und damit zu Tatsachen objektivierte. Analytisch gesehen wurden diese zeitgenössischen Verbrechertypen wie etwa „der Gewohnheitsverbrecher“ erst durch dieses Zusammenspiel von Kategorie und Diagnose im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung zur wissenschaftlichen Tatsache. Ihr Erfolg beruhte auch auf der positivistischen Vorstellung, Menschen erfassen und vermessen zu können, um so auf der Grundlage empirischer Daten zu scheinbar objektiven Urteilen über einzelne Straftäter kommen zu können. Während im kriminologischen Diskurs in erster Linie die Entsubjektivierung von Verbrecherbildern und Tätertypen eine Rolle für die Wissensgenerierung spielte, standen im praktischen Vollzug, beim diagnostischen Nachweis der Typen, vor allem Prozesse der Quantifizierung und Qualifizierung des Sozialen im Vordergrund – nach Maßgabe jener Praktiken der Erfassung und Vermessung von Menschen und sozialen Gruppen, die in den Humanwissenschaften in verschiedenen Ausprägungen eine vermeintliche Objektivität garantierten. Die anthropometrische Vermessung ist zu nennen, auch die rassenhygienisch motivierte Erfassung von Bevölkerungsteilen oder die statistische Erfassung sozialer Phänomene, die Ausmessung charakterlichpsychischer Dispositionen durch Differentialdiagnose oder Intelligenztests sowie die narrative Ausmessung des sozialen Umfelds und der Eckdaten des individuellen Lebenswegs als Fallgeschichte. Die vermeintliche Objektivität aber ließ moralische Werturteile, die zuvor den Diskurs über deviante Menschen dominierten, nicht hinter sich, im Gegenteil: Quantifizierungs- und Qualifizierungsprozesse waren eng aufeinander bezogen, war doch die Quantifizierung des Sozialen die Vorbedingung für dessen Qualifizierung, für das Aufstellen von Rangordnungen und für das Abgeben sozialmoralischer Werturteile. Voraussetzung dafür wiederum ist der Maßstab der ‚Normalität‘, eine Norm, und die quantifizierte Variante der ‚Norm‘ ist der ‚Durchschnitt‘. Die Vermessung des Menschen basiert auf solchen Normen, auf einem solchen Durchschnitt, der die Bildung und Etablierung verbindlicher Typen und Kategorien erlaubt, die wiederum mit Hilfe einer standardisierten Untersuchung scheinbar diagnostiziert werden können.



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Q UANTIFIZIERUNG UND Q UALIFIZIERUNG Die Vermessung und Kategorienbildung abweichenden Verhaltens, die mit den sozialtechnologischen Machbarkeitsstrategien einherging, und die sozial-moralische Wertung der Rangordnung, die durch die Orientierung des Vermessenen und Kategorisierten am Durchschnitt wirksam wurde, erscheint als „a feverish desire to classify forms of deviance, to locate them in biology, and thus to police them in the larger social body.“ (Urla/Terry 1995: 1) Die Lokalisierung der Abweichung in der Biologie eines Menschen rückte den menschlichen Körper, der in einer naturwissenschaftlich fundierten Psychologie als ganzheitliches System aus Körper und Geist verstanden wurde, in den Mittelpunkt des Vermessungsinteresses und der sozialmoralischen Beurteilung: „The somatic territorializing of deviance, since the nineteenth century, has been part and parcel of a larger effort to organize social relations according to categories denoting normality versus aberration, health versus pathology, and national security versus social danger.“ (Urla/Terry 1995: 1) Der menschliche Körper war in der Neuzeit immer wieder in besonderem Maße anfällig, an ihm die Verbindung von Vermessung und Werturteil, ein spezifisches enges Verhältnis zwischen Quantifizierung und Qualifizierung herzustellen. Die Vorstellung, dass soziale und kulturelle Abweichung ‚verkörpert‘ und dass diese Verkörperung für den geschulten Blick erkennbar sein könne, kennzeichnete nicht nur, aber auch die biologisierte Kriminologie um 1900 einerseits, die Praxis der Kriminalbiologischen Untersuchung andererseits. So ging der italienische Psychiater Cesare Lombroso (1849-1909) von der Existenz des „geborenen Verbrechers“ aus: Dieser galt ihm als Atavismus, als Rückschlag in ein überwundenes Stadium der Urund Frühgeschichte der Menschheitsentwicklung, erkennbar an körperlichen Stigmata wie Henkelohren, den „langen Fingern der Diebe“ oder dem „blutunterlaufenen Auge der Mörder“. Mit seiner „äffischen“ Konstitution, die mit einer „minderwertigen“ geistigen korreliere und entsprechende primitive Handlungsweisen nach sich zöge, würde der „geborene Verbrecher“ als ein anachronistischer ‚Fehler‘ der Evolution gar nicht anders können, als mit der modernen Zivilisation in Konflikt zu geraten. Die körperlichen „Anomalien“ zeigten nicht direkt abweichendes Verhalten an, sondern verwiesen auf eine gleichsam sozialpathologische Konstitution, von der auf kriminelles Handeln geschlossen werden könne (Lombroso 1894: 293). Dieser schlichte Biologismus wurde von der Mehrzahl der kriminologischen Autoren zwar abgelehnt, doch blieb die Vorstellung, dass bestimmte körperliche und geistige Merkmale Hinweise seien auf eine potentielle Devianz eines Menschen, auf seine „Minderwertigkeit“, bis Mitte des 20. Jahrhunderts bei immer neuen Generationen von Kriminologen als ‚Präidee‘ im Sinne Flecks virulent: Die Vorstellung wurde aufgenommen, neu interpretiert und blieb bestehen, sie diente als heuristische Richtlinie und denkleitende Kraft. Altes und Neues vermischten sich; der Körper des devianten Menschen blieb – nunmehr

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über das Konzept „anlagebedingte Minderwertigkeit“ – Bezugspunkt der Erklärung kriminellen Verhaltens. Der Körper des Verbrechers war hier ein Ort der Typisierung, ein Ort der Disziplinierung und der Inventarisierung – ein Ort, an dem humanwissenschaftliche und sozialtechnologische Erfassungs- und Regulierungsphantasien exerziert wurden. Danach waren diese Körper in erster Linie Disziplinierungsobjekte, Medien der Visualisierung von Abweichung, an denen Kriterien der Normalität vollzogen wurden. Doch diese Körper waren mehr: Der Verbrecher ist der Rechtsbrecher, die Verkörperung des Außenseins, der die Grenzen der Rechtmäßigkeit durch ihren Bruch sichtbar macht, sie markiert. Die Körper des Verbrechers und des rechtschaffenen Menschen sind gleichsam ‚Treffpunkte‘ gegensätzlicher Lebensentwürfe, gegensätzlicher Ästhetik-, Gesundheits- oder Normalitätsstatus. Körper oder auch Repräsentationen des Körpers sind demnach auch ein Mittel zur Herstellung dynamischer kultureller Bedeutung, zur Strukturierung und Manifestation komplexer sozialer Beziehungen: Die Bewertung des mit sozialer Signifikanz aufgeladenen ‚devianten Körpers‘ – jenes des Verbrechers zumal –, bestimmt, was als ‚normal‘ zu gelten habe und was nicht. Vollzogen am tatsächlichen Körper ersetzen in diesem Normalisierungsdiskurs binäre Unterscheidungen zwischen gesund und pathologisch etwa oder zwischen Konformität und Abweichung, zwischen Reinheit und Verunreinigung, komplexe und meist konflikthafte soziale Beziehungen (Urla/Terry 1995: 3). Die Diagnostik der Kriminalbiologischen Untersuchung führte, wie gezeigt werden soll, mit der Intention der vollkommenen Erfassung und Inventarisierung eines Individuums in seinem sozialen, körperlichen und geistigen Ausdruck diese binäre Markierung der Abweichung, die dichotomische Unterscheidung krimineller und rechtschaffener Merkmale, in zuvor nicht gekannte Detailbereiche. Es gilt auch für sie, was Jaqueline Urla und Jennifer Terry für die Strategien im Umgang mit abweichenden Körpern formulieren: „Timing, form, expression, gait, and gesture are means for breaking the body down into elements that can be disciplined as well as interpreted for their classificatory significance. Thus the body is fragmented and territorialized into zones from which degeneracy, perversion, savagery, and deviance are presumed to emanate.“ (Urla/Terry 1995: 10) Aus dieser Perspektive erscheint die in der Kriminalbiologischen Untersuchung unternommene Fragmentierung des Verbrecherkörpers und die mit ihr einhergehende sozial-moralische Konnotation der Fragmente – verstanden als ‚mapping the body‘ – als Teil des sozialen Quantifizierungs- und Qualifizierungsdiskurses, als ein Mittel zur Abbildung sozial-normativer Wertschätzung. Damit kann die Kriminalbiologische Untersuchung in der historischen Analyse nicht auf ihre kriminalpolitische Rolle beschränkt werden; sie war auch Teil eines gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Normalisierungsdiskurses, indem sie in sozial-moralisch werturteilender Weise die explizite körperliche ‚Normalität‘ mit einer impliziten sozialen Normativität verband. 

Das Wissen vom Verbrecher – Aspekte des modernen Strafdispositivs

Kriminologie

Wie bereits in der Einleitung konstatiert, hat die Kriminologiegeschichte in den letzten Jahren einen Boom erlebt; bislang ist eine ganze Reihe einschlägiger Monografien, Sammelbände und Aufsätze erschienen. Dabei wurden die Veränderungen im Blick auf den Verbrecher seit Mitte des 19. Jahrhunderts sowie die Entstehung der Kriminologie als Disziplin ebenso Gegenstand der Forschung wie die verschiedenen kriminologischen Ansätze des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben und differenziert eingeordnet worden sind. Die vorliegende Studie kann von diesen Arbeiten profitieren: In diesem Abschnitt sollen die Ergebnisse der Forschung zusammengefasst werden, um einen Überblick über das wissenschaftliche Wissen vom Verbrecher zu geben, über jenen wissenschaftlichen Teil des modernen Strafdispositivs also, dem Liszt für eine effiziente Kriminal- und Strafpolitik so viel Bedeutung beimaß. Die Kriminologie erscheint als Wissenschaft und Disziplin von Beginn an sowohl inhaltlich als auch institutionell als eine sehr „gebrochene“ (Galassi) Angelegenheit, fand sich doch unter diesem später so benannten Dach eine heterogene Gruppe von Autoren zusammen, die innerhalb der offenen Struktur des kriminologischen Diskurses zum Wissen vom Verbrecher beitrugen: Praktiker aus den Strafverfolgungsbehörden, Sozial- und Moralreformer, Theologen, Moralstatistiker, Strafrechtler, Mediziner und Psychiater, Anthropologen – und mit ihnen die ihrer Profession oder Fachrichtung eigene Auffassung von abweichendem Verhalten (Becker 2002: 15). Der kriminologische Diskurs selbst war also bereits eine eklektische Mischung aus verschiedenen Praxis- und Wissenschaftszweigen, die die Konzentration auf den Täter gemein hatten. Zudem entwickelte sich die Kriminologie als Disziplin und Wissenschaft nur mit Hindernissen, da „die Debatte über eine institutionelle Verankerung der Wissenschaft vom Verbrechen […] von Beginn an als eine Debatte über die Reform der juristischen bzw. strafjuristischen Ausbildung geführt [wurde]“ – an der juristischen Ausbildung wollte jedoch niemand rütteln, so dass die Kriminologie im Rahmen der Strafrechtswissenschaft eine Hilfswissenschaft blieb, die ihre Berechtigung aus ihrem Dienst für die Kriminalpolitik ableitete (Galassi 2004: 336f.).

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Eine Disziplin- und Institutionengeschichte der Kriminologie kann an dieser Stelle nicht geleistet werden; es sei auf die Studien von Silviana Galassi, Imanuel Baumann, Christian Müller, Richard Wetzell oder Jürgen Simon verwiesen. Hier soll vielmehr der Diskurs selbst im Mittelpunkt stehen, um einerseits den eklektischen Charakter der Kriminologie, andererseits die Bezüge der Kriminalbiologischen Untersuchung zu diesem Diskurs zu verdeutlichen. Dabei kann auf verschiedene Zugänge zum kriminologischen Diskurs zurückgegriffen werden: Peter Becker untersucht den Wandel im Blick auf den Verbrecher, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzogen hat und den er als Wandel von „Erzählmustern“ über den Verbrecher versteht – vom „gefallenen Menschen“ zum „verhinderten Menschen“. Im Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ lassen sich die dominierenden kriminologischen Theorien von Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts bündeln, denn sie rekurrierten im Wesentlichen auf die Vorstellung von der biologisch-psychischen Andersartigkeit des Verbrechers. Dabei lassen sich verschiedene Ansätze unterscheiden: Zunächst kam der von Cesare Lombroso vertretene kriminalanthropologische Ansatz auf, der den „geborenen Verbrecher“ gleichsam als eigene Menschengattung, den homo deliquens, verstand. Auf die Erklärung des Verbrechens als Folge schlechter erworbener oder ererbter Eigenschaften setzte der degenerationstheoretische Ansatz, der im Verbrecher einen „minderwertigen“ Menschen sah. Dieser Ansatz wurde, vor allem zur Zeit der Weimarer Republik, in einen Diskurs über „psychopathische Verbrecher“ weiterentwickelt. Neben diesen Ansätzen, die in erster Linie den endogenen, also den anlagebedingten Faktoren bei der Entstehung von Kriminalität Priorität einräumten, gab es auch Deutungen, die im Verbrecher das Produkt aus unterschiedlich gewichteten Anlageund Umweltfaktoren sah. Schließlich wird dann die zur Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus dominierende kriminologische Strömung, die Kriminalbiologie, darzustellen sein. Rein soziale Theorien zur Erklärung von Kriminalität waren bis in die 1960er Jahre hinein eine randständige Erscheinung. Gleichwohl wurde die Wirksamkeit sozialer Faktoren auf die Kriminalitätsentwicklung mit Weltkrieg und Inflationszeit deutlich, als nicht nur angeblich moralisch oder biologisch abweichende Menschen Straftaten begingen, sondern, in Form von ‚Notkriminalität‘, auch unbescholtene Bürger. Für kurze Zeit konnten sich kriminalsoziologisch argumentierende Autoren Gehör verschaffen. Eine Diskussion zeitgenössischer Verbrechertypologien als Ausnahmestandards schließt das Kapitel ab.

Z UGÄNGE : V ON GEFALLENEN

UND VERHINDERTEN

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Die Kriminologie war (und ist es bis heute) eine beschreibende Wissenschaft. In den Anfängen wurden häufig Beispiele aus der Literatur oder

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Fallgeschichten herangezogen, um Verbrechertypen zu skizzieren. Und auch bei der Darstellung der Eigenschaften von Verbrechern griffen kriminologische Autoren immer wieder auf das Mittel der Beschreibung zurück. Peter Becker hat diesem beschreibenden, erzählenden Charakter der Kriminologie dadurch Rechnung getragen, indem er das narratologische Instrument des „Erzählmusters“ in die Kriminologiegeschichte eingeführt hat. Wie bereits in der Einleitung beschrieben und hier wiederholt, seien Erzählmuster Strukturelemente des kriminologischen Diskurses, die ‚Bilder‘ vom Verbrecher in Bezug zum zeitgenössischen Wissen über die Entstehung von Kriminalität und zu Vorstellungen von Anständigkeit und Konformität setzten. Sie seien ein unreflektierter, kollektiver Bestandteil des (Be)Schreibens und Denkens über Kriminelle, weil sie theoretische und empirische Wissensbestände zu einer akzeptablen Erzählung organisierten, den empirischen Beobachtungen Sinn verliehen und die Auswahl sowohl der erklärenden Theorie von abweichendem Verhalten als auch der sprachlichen Mittel, mit denen kriminelles Handeln zum moralisch-sittlichen, sozialen oder psychischen Defizit im Kontrast zu Konformität und letztlich zur bürgerlichen Gesellschaft erklärt wurde, bestimmten (Becker 2002: 30-32). Becker identifiziert für das 19. Jahrhundert zwei Erzählmuster: Zunächst habe das Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“, der aufgrund seiner Gesinnung und einer fatalen Entscheidung – als ‚Sündenfall‘ verstanden – auf die schiefe Bahn geraten sei, im Denken über den Verbrecher dominiert, während sich gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend das Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ etabliert habe als einer Vorstellung vom Verbrecher, der aufgrund seiner „minderwertigen“ biologischen und psychischen Anlage und Konstitution kein vollständiger Mensch sei. Das Anderssein der Verbrecher wurde während des 19. Jahrhunderts demnach entweder auf seine Verderbnis, d.h. auf eine Veränderung der sittlichen-moralischen Handlungsleitlinie, oder auf seine Entartung, die Bestimmung zum Anderssein durch Vererbung und Umwelteinflüsse, bezogen (Becker 2002: 30f.). Der zentrale Bestandteil der Erzählmuster über Kriminalität sind Verbrecherbilder, denn Erzählmuster stellen die verbindende Basis einer Vielzahl unterschiedlicher ‚Bilder‘ und Stereotypen, also vorgängiger Vorstellungen von abweichenden Personen, dar (Becker 1997: 330f.). Verbrecherbilder fungieren in der Praxis von Strafverfolgung und Strafvollzug sowie im wissenschaftlichen Diskurs als Wahrnehmungs-, Argumentations- und Deutungsraster, in denen das Äußere, die Persönlichkeit und der soziale Werdegang des Kriminellen nicht nur wahrgenommen, sondern auch in eine kausale Anordnung gebracht, gedeutet und bewertet werden (Becker 1997: 332). Der „Verbrecher als Sünder“ etwa, der „besserungsfähige“ und der „unverbesserliche Verbrecher“, der „geborene Verbrecher“, der „Minderwertige“ oder der „Psychopath“, der „Gewohnheitsverbrecher“, der „Asoziale“ oder der „Schädling“ sind solche Verbrecherbilder. Das Äußere – und das meinte neben dem Habitus eines Menschen und seinem Körper auch den Persönlichkeitsausdruck sowie seinen Lebensweg – verweist aus dieser Per

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spektive auf die Gesinnung und auf die mutmaßliche pädagogische Zugänglichkeit des „gefallenen“ oder auf die Disposition des „verhinderten Menschen“, als deren Ausdruck das Äußere verstanden wurde. Umgekehrt erhält das Äußere durch den Nachweis der entsprechenden Gesinnung oder Disposition für den Betrachter eine plausible Ursache. Auf diese Weise im jeweiligen Erzählmuster etabliert, werden Verbrecherbilder zu wirklichkeitsstrukturierenden Kategorien, die eine vorgeblich objektive Rekonstruktion der kriminellen Welt möglich zu machen scheinen; sie übernehmen innerhalb von Erzählmustern die Funktion einer denk- und handlungsleitenden Tatsächlichkeit. Erzählmuster organisieren Verbrecherbilder zu einer plausiblen, akzeptablen, für wahr gehaltenen Erzählung vom Verbrecher und liefern so eine konsistente Erklärung für die Ursache seiner Kriminalität. Ohne Zweifel erweitert die Einführung der beiden Erzählmuster den analytischen Horizont der Kriminologiegeschichte, zumal mit ihnen in der Tat die beiden großen Perspektiven, die das Denken über den Verbrecher im 19. und frühen 20. Jahrhundert bestimmten – die moralisch-sittliche und die medizinisch-biologische –, treffend beschrieben sind. Der forschungspraktisch sinnvollen Reduktion auf griffige Schlagwörter und Beckers Vorstellung vom Wandel der Erzählmuster als Ablösung eines Erzählmusters (das vom „gefallenen Menschen“) durch ein anderes (das vom „verhinderten Menschen“) steht die Forschung jedoch auch kritisch gegenüber: Urs Germann etwa sieht in den Erzählmustern zu pauschale „Meistererzählungen“, die der Komplexität der historischen Realität kaum in allen Nuancen gerecht werden, und plädiert hinsichtlich der etwas eindimensionalen Vorstellung von diskursivem Wandel, die an Thomas Kuhns wissensschaftssoziologische Theorie vom Paradigmenwechsel erinnert, dafür, statt von sich ausschließenden Erzählmustern vielmehr von einer „Pluralisierung der kriminalpolitisch relevanten Delinquentenbilder auszugehen.“ (Germann 2003) Mit Blick auf die Kriminalbiologische Untersuchung möchte ich mich dieser Kritik anschließen: Wie noch zu zeigen sein wird, prägten eben genau beide Erzählmuster die institutionelle und theoretische Grundlegung der Kriminalbiologischen Untersuchung sowie ihre praktische Durchführung, erscheint die Ergänzung der moralischen Kategorien bei einer Persönlichkeitsuntersuchung im Strafvollzug durch psychiatrische und biologische Aspekte als Pluralisierung der Möglichkeiten, neben dem Blick auf das Strafregister und die aus der kriminellen Biografie eines Menschen vorgeblich ableitbare Gesinnung zu einer nach damaligen Maßstäben ‚objektiveren‘ Einschätzung eines Strafgefangenen zu kommen. Viernstein verarbeitete eben nicht nur Vorstellungen vom „verhinderten Menschen“, sondern eben auch – wenn er auf die Gesinnung eines Verbrechers und damit auf seine Zugänglichkeit für erzieherische Maßnahmen abhob – solche, die gemäß den pauschalisierten Mustern dem vom „gefallenen Menschen“ zuzurechnen wären. Die Kriminalbiologische Untersuchung lässt sich daher nicht auf ihren biologischen Anteil reduzieren und damit nicht, wie Becker impliziert, allein dem Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ zuschla-

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gen (Becker 1999: 375). Das Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“ stellt vielmehr eine Erzählung langer Dauer dar; es steht sowohl im kriminologischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts, gerade aber auch in der Kriminalbiologischen Untersuchung durchaus gleichberechtigt neben dem Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“. Die These von der Ablösung des einen Erzählmusters durch das andere muss also aufgegeben werden – gleichwohl bleibt die analytische Trennung der idealtypischen Muster ein weiterführendes und plausibles Modell, Vorstellungen vom Verbrecher in dieser Zeit zu systematisieren. Der Verbrecher als der „gefallene Mensch“ Becker verortet das Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“ im 19. Jahrhundert; dennoch bedarf es eines kurzen Blicks auf frühere Vorstellungen, um Herkunft und Persistenz dieses Erzählmusters deutlich zu machen: Der Verbrecher der Frühen Neuzeit war eine Doppelgestalt (Galassi 2004: 3849; dort auch alle Zitate): Er war der Sünder, der vom Bösen, vom Teufel, verführt gegen die göttliche Ordnung verstoßen hatte, und er war der Feind der Obrigkeit, der sich gegen die weltliche Ordnung aufgelehnt hatte. Kennzeichnend für die kirchliche Perspektive der Zeit war, dass der Verbrecher zunächst einmal ein Sünder wie alle anderen Menschen war, behaftet mit der Erbsünde; er war der Kirche kein Anderer. Aus der Lehre von der Erbsünde ergab sich zudem, dass der Mensch schwach sei und daher das Opfer von Verführungen durch das Böse werden könne. Das Böse, so glaubte man, komme jedoch – in Gestalt des Teufels – von außen und gehöre demnach nicht zum Menschen. Diese Verführungsmacht des Bösen, die den Menschen zum Abfall von der göttlichen Ordnung bringe, galt als die theologische Erklärung für Verbrechen. Der Schwäche des Menschen wurde durch Abschreckung begegnet, durch die Drohung mit dem Zorn Gottes. Die so herbeigeführte Angst sollte beim Einzelnen einerseits den Widerstand gegen die teuflischen Verführungskünste stärken, andererseits den Sünder zur Reue führen, die als Voraussetzung für die göttliche Vergebung verstanden wurde. Vor der Reue musste der Delinquent jedoch zur Einsicht in die Verwerflichkeit seines Handelns kommen, zu einem schlechten Gewissen: „Die Verstockung des Sünders muß aufgebrochen werden und der Sünder soll von einem tiefempfundenen Bedauern über die Tat, von innerer Zerknirschung über die eigene Schwäche, den Verlockungen des Bösen nachgegeben zu haben, durchdrungen werden.“ Bevor aber dem Sünder vergeben werden kann, muss er bereitwillig die Buße vollziehen. Waren diese Schritte, Reue und Buße, vollzogen, konnte der Neuanfang erfolgen: Die Vergebung durch Gott, der die Taten des Sünders gleichsam ‚streicht‘, bewirkte die „Konversion vom sündenbeladenen zum reinen, guten Menschen“, von der auch „der Verbrecher als Sünder nicht ausgeschlossen“ war. Der bekehrte Verbrecher wurde der Gemeinde als Vorbild präsentiert als Beispiel dafür, dass die Umkehr vom Sünder zum guten Menschen möglich war. 

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Das Bild vom „Verbrecher als Sünder“ veränderte sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts, als der Verbrecher im Zuge der Aufklärung eben nicht mehr als Sünder, sondern entweder als triebgesteuerter, unvernünftiger oder als unerzogener, erziehungsbedürftiger Mensch gesehen wurde (Galassi 2004: 49). Anders als im christlichen Menschenbild beruhten die Vorstellungen nicht mehr auf der Erbsünde als der dem Menschen immanenten Mangel. Vielmehr bezogen aufklärerische Positionen ihre Erklärungsmacht aus der Idee der Perfektibilität, der Vorstellung einer grundsätzlichen Verbesserungsfähigkeit der menschlichen Gattung sowie des einzelnen Menschen. Entsprechend manifestierte sich im Menschenbild der Aufklärung ein anderes Verständnis vom Bösen und vom Guten: Man dachte sich das Böse nicht mehr als durch den Teufel repräsentiert: Es stecke vielmehr im Menschen selbst, in seinen Trieben, Leidenschaften und Affekten. Genauso wie das Gute, die Vernunft. Diese erlaube es dem Menschen, durch eigene Rationalisierung und ohne Gesetze, ohne Strafandrohung – ohne Außensteuerung also – ein sittliches Leben zu führen. Der Mensch, der das Gute und das Böse zugleich in sich trage, müsse sich nicht nur um Ausgleich bemühen, sondern das Gute auf Kosten des Bösen in sich wachsen lassen, indem er vernünftig handelt und durch Selbstreflexion jede triebgesteuerte Handlung vermeidet. Auf diese Weise vollziehe jedes Individuum, was nach dem aufklärerischen Menschenbild die menschliche Gattung insgesamt kennzeichne: Die kontinuierliche Entwicklung zu einer höheren Stufe der Sittlichkeit. Als Gegenteil dieser Entwicklung galt die ebenfalls kontinuierliche, aber für die Sittlichkeit des Individuums gefährliche Rückbildung auf eine „primitivere“ menschliche Daseinsstufe, die gekennzeichnet war durch Unmäßigkeit, Triebhaftigkeit und Unvernunft: die Daseinsstufe der „Verwilderung“ (Galassi 2004: 65-72; zum Konzept der Verwilderung vgl. Lukas 2000). Eine Biografie, die sich kontinuierlich an dem durch Affektkontrolle und Selbstbeherrschung zu erreichenden Entwicklungsziel der höchsten Sittlichkeit orientiert, war daher die Vorstellung vom idealen Menschen. Diese aber hat nun der Verbrecher nicht; er erscheint als Inbegriff des Unsittlichen, des zur Affektkontrolle unfähigen triebgesteuerten Menschen. Der Verbrecher war in diesem Menschenbild das Gegenteil des vernunftgesteuerten Idealmenschen. Und ebenso, wie sich der auf Vernunft gegründete Charakter und die Lebensführung auf dem Weg zur Sittlichkeit in der Biografie des Idealmenschen zeige, so offenbare sich der Charakter des Verbrechers in einem triebgesteuerten, lasterhaften Leben, dass zu Unsittlichkeit und zu verbrecherischen Taten führen müsse. Die Rekonstruktion seiner Biografie konnte Aufschluss über den Charakter des Verbrechers geben; bei der Suche nach den Ursachen seines Verbrechens stand daher „nicht mehr die Tat selbst im Vordergrund, sondern der Charakter des Delinquenten. Das Verbrechen wird als Manifestation einer verbrecherischen Gesinnung gelesen, die sich lange vor der Tat entwickelt haben muß.“ (Galassi 2004: 70) Und so galt als Angelpunkt im Leben des „gefallenen Menschen“ eine Handlungsentscheidung, die ihn, dem ‚Sündenfall‘ gleich, auf die schiefe Bahn geführt habe,

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wie Becker die grundlegende Erklärung der Ursachen von Kriminalität in diesem Erzählmuster auf einen Begriff bringt. Mit dem ‚Sündenfall‘ war jene Grenzlinie überschritten, die den Anti-Bürger vom Bürger, den Verbrecher vom Rechtschaffenen trenne. Bezeichnet ist mit diesem, letztlich noch religiösen Sinnbild der Moment der Abkehr von einem moralisch-sittlichen Lebensentwurf, jene hochmütige Entscheidung, die eben vor dem Fall kommt. Becker betont damit die Kontinuität christlicher Denkmuster – Hochmut, Selbstüberschätzung und Verletzung einer Autorität – auch für die bürgerlichen Vorstellungen von Abweichung. Zugleich aber macht er die Veränderung des Verbrecherbilds deutlich, die sich innerhalb dieses Erzählmusters vollzogen hatte: Während im christlichen Denken Hochmut und Selbstüberschätzung eine außerweltliche Autorität in Frage stellten, so war damit im aufklärerisch-bürgerlichen Denken die Autorität der Vernunft untergraben, die als Voraussetzung für ein sozial integratives Leben galt (Becker 2002: 36f. und Anmerkung 2). Die kriminelle Karriere war demnach die unvermeidliche Folge dieser Abkehr: Ausgehend von den aufklärerisch-bürgerlichen Leitkonzepten der Autonomie und der Selbstverantwortlichkeit, vor allem aber der Vernunft, stand in dieser Perspektive am Beginn der Verbrecherkarriere „die Abkehr eines modellhaften Bürgers von seiner rechten Gesinnung durch die bewusste Auflehnung gegen die Stimme der Vernunft“ (Becker 2002: 42) – durch die Entscheidung etwa, jenen Schluck Alkohol zu viel zu trinken, der Alkoholismus zur Folge hatte, durch den Kauf jenes Lotterieloses, der den Betreffenden in seiner Spielleidenschaft verarmen ließ, durch die Pferdewette, den Besuch bei einer Prostituierten und so fort. Das Schicksal des „gefallenen Menschen“ schien selbst gewählt; in der Rekonstruktion des Biografie eines Verbrechers erscheint sein Scheitern als eine Reihe freiwilliger Entscheidungen, als unabhängige Äußerungen seines Willens, der den verhängnisvollen Lockungen der sinnlichen Triebe (Alkohol, Spiel, Prostitution) folgt (Becker 2002: 37). Ausgehend von der Selbstverantwortlichkeit des Individuums wurde daher die Gesinnung eines Menschen, jenes Prinzip also, „das die Maximen des Handelns bestimmte und äußerlicher Kontrolle unzugänglich war“ (Becker 2002: 45), zur zentralen Kategorie von Rechtschaffenheit. Die verkehrte Gesinnung äußere sich in der Verkehrung der Triebfedern vernünftigen Handelns; nur die Vernunft, so hieß das im Umkehrschluss, verhindere Unsittlichkeit und Abweichung. Der Verbrecher erschien nicht einfach als straffällig gewordener Bürger, sondern als jemand, der die bürgerlichen Maximen des Handelns systematisch in ihr Gegenteil verkehrte. Ein Individuum konnte demnach selbst dann zur Verantwortung gezogen werden, wenn es keine Alternative zur kriminellen Handlung gehabt hatte: Noch die größte Not schien aus der unvernünftigen, verkehrten Gesinnung hervorzugehen, und für das Herbeiführen dieses Zustandes, in dem er straffällig geworden war, machte man den Straftäter verantwortlich. Waren die Umstände aber selbstverschuldet und damit vermeidbar, so zeugte dies von einer falschen Gesinnung; der „gefallene Mensch“ wurde für die Wahl dieser Gesinnung 

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verantwortlich gemacht (Becker 2002: 53). Gerade der rückfällige Straftäter handelte immer wieder gegen die Vernunft, war Strafe und Erziehung nicht zugänglich, was im bürgerlichen Bild vom selbstbestimmten, bildungsfähigen Menschen auf kriminelle Energie, auf einen „Hang zum Bösen“ hindeutete. Je stärker diese Energie, je mehr davon für die Begehung einer Tat aufzubringen war, desto größer war die Gefährlichkeit eines Täters, und desto härter musste die Strafe bemessen werden. Wer in der Gefahr war, zu fallen, dem konnte durch Beistand und Erziehung geholfen werden; wer gefallen war, wurde ausgegrenzt: „Der Gefährdete war zum Gefährlichen geworden“ (Becker 1999: 347) – mit zweifelhafter Prognose auf Umkehr. Die falsche Gesinnung ließ sich also an spezifischen Lebensentscheidungen nachvollziehen, die in der Biografie eines Straftäters die Wegpunkte auf der Bahn des Kriminellen markierten. Der biografische Blick selektierte und wertete lebensgeschichtliche Details, orientiert am gerichtlichen Urteil; alle Lebensentscheidungen und -äußerungen des Straftäters standen unter einem auf dieses Urteil gerichteten Licht. Der Rückfalltäter als Verbrecherbild wurde durch diesen Blick gar erst geschaffen. Seine Taten erschienen wie eine kettenartige Devianz, wie eine Aneinanderreihung der Abweichung mit der Kulmination in der letzten Tat – und der gegenwärtigen Strafe. So wie der rechtschaffene Lebenslauf galt auch der kriminelle als konsistent. Mit seinen umgekehrten moralischen und sittlichen Kennzeichen allerdings war er das negative Spiegelbild eines idealisierten bürgerlichen Lebensentwurfes, der sich trotz aller Verlockungen innerhalb der Grenzen von Moralität und Legalität bewegte (Becker 2002: 62). Es war daher folgerichtig, dass sich die Strafverfolgung auf die Biografie eines verbrecherischen Individuums konzentrierte und ihm gegenüber zunehmend eine professionalisierte Perspektive einnahm, die Becker den „praktischen Blick“ nennt. Der Wirklichkeitsbezug der unmittelbar mit dem Verbrechen beschäftigten Personen in Polizei, Rechtsprechung und Strafvollzug war durch eigene Erfahrungen sowie durch theoretisch-allgemeines Wissen bestimmt. Diese beiden Elemente prägten auch die Wahrnehmung und Beschreibungen der Kriminellen und ihrer Lebenswelt (Becker 2002: 22). Der praktische Blick erlaubte dem Beobachter, mit Erfahrung, Wissen und entsprechender Intuition die sichtbaren Zeichen der äußeren Erscheinung als Zugriff auf die verborgene Realität der kriminellen Identität zu nutzen. Das meint nicht die Aufklärung von Straftaten und die Zurechnung der Tat (auch wenn der Anspruch letztlich der gleiche war), sondern die moralische und körperliche Kontrastierung des Kriminellen und des Bürgers: „Die beobachtbaren Zeichen an einer verdächtigen Person, ihre Haltung, Physiognomie, Kleidung sowie die körperlichen Anomalien erhielten ihre Signifikanz, indem sie den ‚körperlichen‘ Ausdruck der Identität des Kriminellen zu dieser Gegenordnung in Beziehung setzten. Die Entstehung der signifikanten Merkmale am Äußeren von Kriminellen sah man im Zusammenhang mit Lebens- und Erfahrungszusam-

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menhängen, die dem Kriminellen exklusiv zugänglich gewesen wären und sich daher nur in deren Körper eingeschrieben hätten.“ (Becker 1997: 331)

Diese Zeichen überhaupt entziffern zu können setzte die Vorstellung voraus, der Verbrecher sei ‚anders‘ als der anständige Bürger. Es galt also, den praktischen Blick, der die wahrnehmbaren Merkmale am Körper, im Gesicht und im Verhalten der Verdächtigen als Zeichen ihrer Gesinnung las – in Analogie übrigens zum ärztlichen, zum medizinischen Blick auf die Symptome als Zeichen einer verborgenen Krankheit (Becker 2002: 239), in Analogie natürlich auch zur Physiognomik –, ständig zu verfeinern. Hier näherten sich die Strategien, den Täter zu identifizieren und den Verbrecher als solchen zu erkennen, einander an; der kriminalistische Blick richtete sich auf den Ausdruck der Augen, auf Verhaltensweisen wie das „düstere Brüten“, den „sinnenden Blick“ oder die gekrümmte Stellung des sitzenden Körpers als Ausdruck des „verhärteten Bösewichts“. Auch Sprache, Manieren oder die Unterschiede zwischen dem Habitus und den normativen Erwartungen an eine adäquate Inszenierung waren Blick-Punkte. „Man entzifferte die alternative Sprache der unwillkürlichen Körperäußerungen und las sie als Spuren der ‚wahren‘ Identität.“ (Becker 2002: 241f.) Wie auch den Körper selbst; in ihn, so dachte man sich, waren die Zeichen der jeweiligen Profession, die Spuren der langjährigen Ausübung eines ‚Handwerks‘, gleichsam eingeprägt. Mit anderen Worten: Der praktische kriminalistische Blick war auf das Ensemble gerichtet, auf den Ausdruck eines Menschen, auf seinen Körper und auf seine sozialen Verhaltensweisen (Becker 2002: 247). Der Kriminalist wurde somit beim Versuch, die wahre Identität eines Menschen – anständig oder verbrecherisch – festzustellen, den verschiedenen Formen der Täuschung und des Betrugs mit Hilfe von Strategien zur Entzifferung einschlägiger Zeichen im Äußeren und in der Biografie des Verdächtigen zu begegnen, zum Zeichenleser, zum „Semiotiker.“ (Becker 2002: 238) Methoden wie die Semiotik auch auf den Körper und die Biografie anzuwenden auf der einen, die Verfeinerung der Methoden zur Herstellung von Objektivität auf der anderen Seite, stellten überdauernde Argumentationsfiguren dar, beriefen sich doch etwa ausgewiesene Vertreter der Vorstellung vom „verhinderten Menschen“ wie Lombroso mit seinem „homo delinquens“ oder Ernst Kretschmer (1888-1964) mit seiner Konstitutionslehre letztlich auf eben diese Korrespondenz zwischen dem Äußeren und der Gesinnung. Und nicht zuletzt steht genau diese Verweisfunktion semiotischer Praktik im Mittelpunkt auch der Kriminalbiologischen Untersuchung. Die Beschreibung, die Becker für den kriminalistischen, den praktischen Blick findet, liest sich – obwohl dem Erzählmuster des „gefallenen Menschen“ zugerechnet – wie die Beschreibung der Möglichkeiten und Grenzen der Kriminalbiologischen Untersuchung: Der praktische Blick richte sich auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Probanden, „der Anamnese entsprach die amtlich dokumentierte bzw. freiwillig deponierte Biografie, der 

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Diagnose die Analyse des Habitus, und der Prognose die erwartete Unverbesserlichkeit und Liederlichkeit der Gauner.“ (Becker 2002: 240) In seiner Annäherung an die Gesinnung eines Verdächtigen aber sei der kriminalistische Blick mit ähnlichen Problemen konfrontiert gewesen wie der medizinische, da beide erst nach langer Erfahrung und einer entsprechenden Schulung beobachtbare Symptome als Zeichen erkennen und zuordnen konnten. „Dabei wurden der Körper und Habitus von Patienten wie Verdächtigen dekonstruiert, analysiert und entsprechend einem spezialisierten Wissen über Krankheiten und Lebensentwürfe evaluiert.“ (Becker 2002: 240) Und auch die Archivierung dieser Informationen ähnelt dem bayerischen Erfassungsmodell in der Kriminalbiologischen Sammelstelle: Immer mehr Verdächtige gerieten aufgrund des praktischen Blicks in das Blickfeld der Polizei, so dass sich die zentralisierte Informationsverarbeitung in einem behördlichen Kommunikationsnetz förmlich aufdrängte. Personalakten und spezielle Register über Passdistribution und -kontrolle, Polizeiblatt und Personalbüro, Karteikarten schufen ein mehrdimensionales Verweis- und Informationssystem, das auch von anderen Behörden genutzt werden konnte. Diese Aufzeichnungspraxis der Polizeibehörden, ihre Ausweitung, Systematisierung und Archivierung in Rapporten und Karteien, machte die Verbrecher letztlich überhaupt erst zu einem empirisch belegbaren Phänomen (Becker 2002: 70). Mit einem weiteren Effekt, und auch dieser ähnelt den Effekten der Kriminalbiologischen Sammelstelle: Der biografische, praktische Blick habe, so Becker, das Denken über Kriminalität revolutioniert, indem er eine neue Wahrnehmung des Verbrechers und die Existenz einer antibürgerlichen Gegenwelt nahe gelegt habe: „Anstelle von Vagabunden, Einbrechern und Wegelagerern sah man nun eine Gegengesellschaft, in der all jene Individuen organisiert schienen, die […] ihr Leben dem Verbrechen widmeten. Die Angehörigen dieser Gegengesellschaft hatten aus der Sicht der Kriminalisten eine gemeinsame Lebensgeschichte, die mit der Annahme einer verkehrten Gesinnung begann und zur gemeinschaftlichen Ausbeutung der bürgerlichen Gesellschaft führte.“ (Becker 2002: 60)

Das Auftreten ähnlicher, krimineller Lebensentwürfe schien die Existenz dieser Gegenwelt, der gefährliche Klassen, zu bestätigen. Wie Becker zeigt, sahen nahmen die Kriminalisten, die dem Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“ folgten, in der (kriminellen) Familie ein zentrales, wenngleich überaus ambivalentes Element der gefährlichen Klassen. Einerseits ins Negative verkehrt, trugen die familiären Strukturen der kriminellen Gegenwelt durch die Organisation von Kriminalität zur Bedrohung bei, andererseits jedoch selbst krisenhaft hatten diese Strukturen Anteil an der Verschärfung der sozialen Problematik. Soziale Probleme galten jedoch nicht als Auslöser, sondern als Folge des Zusammenbruchs bzw. der Nichtexistenz eines bürgerlichen Familienlebens: Die bürgerliche Familie konstituiere sich erst mit dem Vorhandensein eines männlichen Familienvorstandes und existiere

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losgelöst von den Problemen des täglichen Lebens. Dysfunktionale Familien, die Abwesenheit eines Elternteils, in der Regel des Vaters, entstanden für die Kriminalisten demnach aus moralisch-sittlichem Versagen; aufgrund von Mobilität mit kriminellem Hintergrund, aufgrund von Haft oder der niedrigen Hemmschwelle, familiäre Beziehungen aufzulösen bzw. sie erst gar nicht einzugehen (Becker 2002: 187). Gleichzeitig aber stellte man sich eine weitläufige Organisiertheit und eine feste Binnenstruktur der kriminellen Gegenwelt vor. Die familiäre Vergesellschaftung der kriminellen Gegenwelt erscheint in den Schriften der Kriminalisten als Projektion der bürgerlichen Ordnungskategorien, als negatives Abbild der eigenen Gesellschaft (Becker 2002: 201-205). Problematisch, weil ins Negative verkehrt, galt dabei die vermeintlich weitreichende Vernetzung der Kriminellen, die – ähnlich der verwandtschaftlichen Verbindungen in der bürgerlichen Welt – die Effizienz des verbrecherischen Gewerbes fördere. Dazu trage auch die Rekrutierung der Verbrecher bei: Sie ginge wie in der bürgerlichen Gesellschaft durch Selbstrekrutierung, durch die Erziehung zu einer (verkehrten) Gesinnung, vonstatten: Nachkommen von Verbrechern würden in die kriminelle Welt hineinwachsen, indem sie dem Beispiel der Eltern folgten, oder sie würden im Sinne einer gezielten ‚Ausbildung‘ für eine kriminelle Karriere vorbereitet (Becker 2002: 209-211). Das Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“ war gekennzeichnet durch Topoi, die am „bürgerlichen Wertehimmel“ prangten. Es ist in den kriminologischen Schriften der Zeit von Mäßigkeit und Moral die Rede, von Sittlichkeit und Familie, von den Pflichten des Familienvaters, von sozialen Bindungen, von Formen der Vergesellschaftung und der Individuation, von Anerkennung, von Fleiß, von Arbeitsethos, von Bildung. Und von Trunksucht, von Verführung und Prostitution, von Egoismus, Eigennutz und vom verdorbenen Charakter, von Arbeitsscheu und Nutzlosigkeit, von Faulheit und Unbeherrschtheit, von Asozialität und organisierter Kriminalität, von Mobilität, Täuschung und Betrug. Das Bild vom bürgerlichen Wertehimmel ist insofern auch für unseren Zusammenhang interessant, da in ihm einerseits die Möglichkeit zur Orientierung, andererseits aber immer auch der drohende Schiffbruch, die Möglichkeit des Scheiterns, angelegt ist: „Wie sich ein Seemann an den Sternen orientiert, [...] so bilden Normen und Vorstellungen einen gemeinsamen Wertehimmel, an dem sich jeder individuell ausrichten konnte und musste“ – entscheidend war also der Kurs, der auf dem Meer des Lebens eingeschlagen wurde, ein Meer mit Untiefen und Gefahren, Anfechtungen, Verlockungen und Prüfungen (Hettling/Hoffmann 1997: 337). Diesen Prüfungen zu widerstehen, erlaubte der selbstverantwortliche Blick zu den Fixsternen des Wertehimmels: den Grundsätzen, den verinnerlichten Werten und Überzeugungen. Ordnung, Fleiß, Sparsamkeit, Pflicht, Mäßigung und Selbständigkeit, aber auch Liebe, Glaube, Anmut, Hingabe, Freundschaft – tugendmäßige und emotionale Fixsterne erleuchteten dieses Firmament. Gleichwohl aber wölbt sich auch über der Gegenwelt des Bürgerlichen ein Himmel, der dem Kriminellen Orientierung bietet, je

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doch keines der dem Betrachter der anderen Halbkugel bekannten Sternzeichen aufweist – der Rechtschaffene kann hier nur fehlgehen. Und betrachtet man den bürgerlichen Wertehimmel nicht als die ins Innere verlagerte bürgerliche Ordnung, so stehen die Sterne der Werte zwar bei der jeweils individuell zu leistenden Lebensführung und bei der Aneignung der Grundsätze hilfreich zur Seite. Zwang übte eine Bürgerlichkeit, die in der alltäglichen Konfrontation mit der Welt sich stets zu behaupten hatte, in diesem Bild jedoch nicht aus – die Furcht vor dem ‚Sündenfall‘ und die drastische Warnung vor den Konsequenzen sind dafür ein deutliches Beispiel. Der Verbrecher als der „verhinderte Mensch“ Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlagerte sich die Produktion von Wissen über den Verbrecher: Er wurde nun weniger moralisch-sittlich, sondern medizinisch-anthropologisch definiert; das Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“ habe, so Becker, das Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ verdrängt. Das Aufkommen dieser neuen Perspektive auf den Verbrecher hing mit den Erfolgen der Medizin und der Naturwissenschaften, namentlich der Biologie, zusammen und mit den Verheißungen der naturwissenschaftlichen Methoden und der Empirie, die Objektivität versprachen – auch in der Anwendung auf soziale Phänomene. Das neue Erzählmuster beruhte zudem auf einem veränderten Selbstbild bürgerlicher Existenz, das die Gefahr des ‚Sündenfalls‘ vernachlässigte und stattdessen dem Unterschied zwischen dem Bürger und dem „verderbten“ kriminellen Anderen jenen zwischen dem Bürger und dem „entarteten“ Anderen entgegensetzte. Der Verbrecher unterliege seiner „Bestimmung zum Anderssein durch Vererbung und Umwelteinflüsse“, das sich in körperlichen Fehlentwicklungen, in einer geringen Hemmschwelle und einem ausgeprägten Triebleben sowie in einer schwachen Willens- und Gewissenskraft äußere (Becker 2002: 31). Die Dichotomie zwischen Konformität und Kriminalität, zwischen dem bürgerlichen Selbst und dem kriminellen Anderen, blieb unverändert, und auch die Delinquenten waren die gleichen geblieben. Nun jedoch galt die Kriminalität von Vagabunden, Dieben, Prostituierten als Folge ihrer körperlichen und sozialen „Defekte“; die Werturteile, die über den Verbrecher gefällt wurden, verlagerten sich von der Moral hin zur Biologie, vom ‚Sündenfall‘ hin zur „minderwertigen“ Konstitution, von der Entrüstung über die mangelnde soziale Integration des Verbrechers hin zu den „kausalen Faktoren, die durch Umwelteinflüsse und Vererbung die vollständige Entwicklung eines Menschen in körperlicher, psychischer und intellektueller Hinsicht verhinderten“ (Becker 2002: 259). Der Verbrecher schien gemessen an der grundsätzlichen Entwicklungsfähigkeit des Menschen zum vollwertigen, vernunftgeleiteten Wesen als „verhindert“, weil ihm aufgrund einer ererbten Anlage oder einer aufgrund schlechter Umweltbedingungen erworbenen defizitären körperlich-psychischen Konstitution die Möglichkeit zur Menschwerdung im Sinne einer bürgerlich-sittlichen Entwicklung verwehrt sei. Das

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So-Sein des Verbrechers als pathologische Persönlichkeit, seine abweichende Natur, galt als Ausdruck von deterministischen Kräften, die man aus seiner Anlage und/oder seiner Umwelt hervorgehen sah. Der „verhinderte Mensch“ hatte also eben gerade nicht die Wahl einer Gesinnung. Die Verkehrung der bürgerlichen Ordnung in der Biografie des Verbrechers lag dieser Auffassung zufolge eben nicht in einem ‚Sündenfall‘, in einer Entscheidung zu einem unsittlichen Leben begründet, sondern in den Voraussetzungen, mit denen dieser Mensch ausgestattet war. Kriminologische Autoren, die sich dem Verbrecher mit medizinischen, psychiatrischen und biologischen Perspektiven näherten, sprachen dann auch der Willensentscheidung des Verbrechers keine entscheidende Bedeutung mehr zu für die Genese seiner kriminellen Karriere: Gegenüber dem kriminalistischen Diskurs, in dem der Verbrecher als sich frei entscheidender „gefallener Mensch“ erschien, hatte der wissenschaftliche, der kriminologische Diskurs die Verantwortlichkeit für sein biografisches Schicksal vom Einzelnen auf dessen Vorfahren bzw. auf das Milieu verlagert. Vererbung bzw. Anlage und/oder ein die körperlich-geistige Verfassung von Menschen auch biologisch verschlechterndes Milieu galten nun als die prägenden, ja determinierenden Faktoren, deren Einfluss sich der dorthin geborene Mensch nicht entziehen konnte. In einer radikalen Position, vertreten etwa von Lombroso und seinen Anhängern, war ein solcher Mensch als Verbrecher geboren; eine weniger radikale Auffassung, der die meisten anderen Kriminologen folgten, sah ihn zum Verbrechen prädisponiert – ein Leben im Sinne bürgerlicher Sittlichkeit konnte gar nicht die Folge dieser Umstände sein. Entsprechend blickten die Kriminologen des späten 19. Jahrhunderts beim Versuch, die Ursachen der verhinderten Menschwerdung von Kriminellen zu verstehen, auf körperliche, soziale und psychische Einflussfaktoren und blendeten die lebensweltlichen Entscheidungsmomente einer kriminellen Karriere weitgehend aus (Becker 1999: 362). Aus zeitgenössischer Sicht war dies durchaus folgerichtig, bedrohten doch gerade die rückfälligen Verbrecher, die mit ihrer Persistenz im Bösen immer wieder gegen Vernunft und Norm handelten und unfähig schienen, ein bürgerlich-sittliches Leben zu führen, den Anspruch der bürgerlichen Gesellschaft auf erfolgreiche Integration entscheidungsfähiger Bürger. Dem korrespondierte eine skeptische Einstellung zur Besserung dieser Kriminellen, die sich – so wollte es scheinen – offenbar nicht allein durch die Wahl einer falschen Gesinnung, die man hätte ändern können, auf einer Linie vom konformen Bürger hin zum „verhärteten Bösewicht“, zum „Gewohnheitsverbrecher“ mithin, von der Zugänglichkeit zu Besserungsangeboten immer weiter entfernten. In diesem Sinne äußerte sich 1890 auch die Internationale Kriminalistische Vereinigung (IKV): „I. Es gibt Übeltäter, bei denen wegen ihres psychischen und moralischen Zustandes die gewöhnliche Reaktion der ordentlichen Strafe nicht ausreicht. II. Es gehören hierzu namentlich die wiederholt Rückfälligen, welche als entartete oder gewerbsmässige



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Verbrecher anzusehen sind. III. Diese Übeltäter sind je nach dem Grad der Entartung und der Gefährlichkeit zum Zwecke der Unschädlichmachung und womöglichen Besserung besonderen Massnahmen zu unterwerfen.“ (IKV 1906: 36f.)

Der Zusammenhang zwischen kriminalpolitischer und kriminologischer Neuorientierung und der Effizienzkrise des Strafsystems, die Liszt so deutlich postuliert hatte, scheint evident: Die Verlagerung der Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“ hin zum „verhinderten Menschen“, die ganz wesentlich auf der Ausweitung und Verwissenschaftlichung dieses Wissens beruhte, kann als Folge des Scheiterns der Verbrechenserklärung und -verhinderung verstanden werden. Diese Schwerpunktverlagerung stellt somit vor allem eine Entlastungsstrategie dar: Denn im Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ wurde der Verbrecher nicht mehr als potentieller, aber ‚verkehrter‘, nicht in die ‚gute Gesellschaft‘ integrierter Bürger verstanden, sondern vielmehr als unintegrierbarer ‚Nicht-Bürger‘, dem die Pathologie seines Körpers, seiner Psyche oder seines sozialen Umfeldes die Teilhabe an den Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich mache. Die ‚Verantwortung‘ für das integrative Versagen trug damit nicht die Gesellschaft, sondern der einzelne Verbrecher; gestützt auf medizinisch-anthropologische Modelle verlegte man die Ursachen für das Verbrechen in den Körper, in die Person und damit in die Natur des Täters – zur Veränderung unerreichbar für die strafenden oder bessernden Institutionen, unerreichbar aber auch für den Täter selbst: Die verdeckten Ursprünge von Gefühlen und Impulsen könnten allein von der äußerlichen Beobachtung nicht entdeckt werden, wie der englische Psychiater Henry Maudsley (1835-1918) meinte, „they lie deeper than it can reach, for they lie in the physical constitutions of the individual, and, going still further, perhaps in his organic antecedents“ (Maudsley 1872: 165). Es spricht also viel für die Annahme, dass, so auch Becker, die Kriminologen der Jahrhundertwende mit dem Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ versucht haben, die Probleme im erzieherischbessernden Zugang zum Verbrecher, die fehlende Beeinflussbarkeit der Gesinnung gerade der Rückfalltäter, letztlich also „die Aporien des moralisch-sittlichen Zugangs zum Verbrecher als gefallenen Menschen auf[zu]lösen, indem sie nach den Bedingungen der Möglichkeiten des Sündenfalls fragten. Sie suchten nach den kausalen Faktoren, die durch Umwelteinflüsse und Vererbung die vollständige Entwicklung eines Menschen in körperlicher, psychischer und intellektueller Hinsicht verhinderten.“ (Becker 2002: 259; kursiv im Original)

Die Ursachen für die Entwicklungshemmung waren jedoch durchaus umstritten, auch wenn sich der Diskurs auf die konkurrierenden Konzepte Atavismus und Degeneration reduzieren lässt. Becker unterscheidet im Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ entsprechend eine kriminalanthropologische und eine degenerationstheoretische Perspektive auf den Verbrecher. Beide Perspektiven werden im nächsten Abschnitt über die kriminolo-

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gischen Theorien noch ausführlicher besprochen, doch sei hier angemerkt, dass die kriminalanthropologische Perspektive im Kern darin bestand, im Verbrecher körperlich und geistig einen Atavismus, einen Rückschlag in ein überwunden geglaubtes Stadium der Menschheitsentwicklung zu sehen, was sich durch eine morphologische Ähnlichkeit des Verbrechers mit „Wilden“ und „Urvölkern“ bemerkbar mache. Wie diesen sei auch dem Verbrecher ein Mangel an Einsichtsfähigkeit und Handlungsmöglichkeiten eigen, unfähig zur Anpassung an die Bedingungen der zivilisierten Welt (Becker 1999: 363f.). Die degenerationstheoretische Perspektive wiederum stellte den degenerativen Prozess innerhalb der Familien der Verbrecher als Ursache für dessen Kriminalität in den Mittelpunkt: „Anstelle der moralischen fürchtete man die erbliche und teilweise auch die umweltbedingte konstitutionelle Belastung, die als Bedingung für die Möglichkeit der moralischen Depravation galt“ (Becker 1999: 368). Eine breite Palette sozialer, körperlicher und psychischer Abweichung von einem im Diskurs nicht näher bezeichneten Normaltyp sollten Hinweis sein auf eine degenerative Belastung. Einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Krankheit bzw. Abnormität nahm bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine frühe kriminalpsychologische Betrachtungsweise an, die sich vor allem auf die psychopathologischen Faktoren konzentrierte: Delinquenz sei die Folge einer Desorganisation oder Monstrosität des Geistes. In der Folge dieser Überlegungen wurde neben den biologischen und medizinischen Erklärungsmustern, die zunehmend Platz griffen, die Nähe von Kriminalität und Geisteskrankheit betont. Vor allem das Konzept der „moral insanity“ von James C. Pritchard (1786-1840) wurde wirksam: Moral insanity wurde als krankhafte Abwandlung der natürlichen Empfindungen und moralischen Veranlagungen bei gleichzeitig ungestörten Fähigkeiten bestimmt (Pritchard 1835), Delinquenz also als „moralisches Kranksein“ verstanden und in das Gebiet des Sittlichen und des Psychischen zugleich verlegt. „Sittliche Entartung“, die sich in Faulheit, Genussgier, Mangel an Pflicht- und Ehrgefühl, Heimtücke oder Lügenhaftigkeit äußerte, kennzeichneten dieser Auffassung nach den Verbrecher. Doch erst als frühe Kriminologen wie Lombroso oder Psychiater wie Benedict A. Morel (1809-1873) für ihre Theorien von Abweichung – für die kriminalanthropologische respektive die Degenerationstheorie – mit wissenschaftlichem Impetus das Konzept der moral insanity aufgriffen, erreichte es den kriminologischen Diskurs. In der Konsequenz führte die Pathologisierung des Verbrechers also dazu, dessen körperliche, psychische und soziale ‚Defekte‘ als extreme Formen einer pathologischen Konstitution zu deuten. Vor allem der Körper des Verbrechers spielte im Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ eine zentrale Rolle; an ihm suchten die Kriminologen nach Evidenzen, um die Verbindung zwischen körperlichen Merkmalen, die vermeintlich vom normierten Menschen abwichen, und der Disposition zum Verbrechen zu belegen. „Der Körper und die Physiognomie sprachen zu dem Beobachter nicht mehr länger von Einprägungen, die ein lasterhaftes Leben zurückgelassen 

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hatte, sondern von krankhaften Anlagen und den Folgen psychischer Krankheitszustände“ (Becker 2002: 269). Die Kriminologen der Zeit sahen hierin „Stigmata“, körperliche Degenerationszeichen. Am Körper versuchte man das Böse zu lokalisieren – auch hier war Semiotik, mehr aber noch der ärztliche Blick und der des Anthropologen gefragt, die körperlichen und die psychischen Anomalien des „verhinderten Menschen“ zu entdecken und zu entschlüsseln. Auch der degenerationstheoretische Ansatz blickte auf den Körper und verstand die Degenerationszeichen als durch Vererbung und schlechtes Milieu bedingte krankhafte Entwicklungshemmungen (Becker 2002: 315). Diese galten überdies auch als ein Kennzeichen von Angehörigen niederer Schichten, wo krankhafte Anlagen und eben schlechtes Milieu im Übermaß vorhanden vermutet wurden. Das äußerte sich etwa in Schriften Emil Kraepelins (1856-1926) über das „Verbrechen als soziale Krankheit“ oder Liszts über das „Verbrechen als sozial-pathologische Erscheinung“ sowie in dessen Formulierung von der „Sozialkrankheit Proletariat“. Neben die Erforschung der Ursachen von Kriminalität trat somit für die Kriminologie auch die Aufgabe, „jene sozialen Problemlagen aufzuspüren, aus denen eine zunehmende Zahl von Asozialen hervorging“ (Becker 2002: 313). Abweichung, auch allein soziale Abweichung im Sinne der Proletarisierung weiter Bevölkerungskreise infolge der industriellen Revolution und des damit einhergehenden sozialen Strukturwandels, wurde um 1900 zunehmend als pathologisch, als Symptom einer Krankheit, verstanden – und war verdächtig (Becker 2002: 342). Die Umstände, hier setzte die bürgerliche Kritik an Moderne und der Großstadt ein, galten als von den Menschen selbst verursacht, und die pathologischen Veränderungen als eine Anpassungsleistung des Körpers an ein krankmachendes Milieu. Soziale Probleme erschienen als Ursache und als Wirkung von Degeneration. Die Vertreter der Degenerationstheorie thematisierten den expansiven Aspekt von Abweichung, indem sie den Zeitgenossen die ihrer Meinung nach mit unerbittlicher Kausalität eintretenden Konsequenzen pathologischer Milieus und Verhaltensweisen drastisch vor Augen führten. Sie lieferten mit der verwendeten Krankheitsmetapher eine theoretische Begründung der Angst vor einer raschen Verbreitung devianten Verhaltens und abweichender Lebensentwürfe und legitimierten die Forderung nach staatlichen Eingriffen, indem sie an ein modernisiertes Staatsverständnis appellierten: Der „verhinderte Mensch“ bedroht aufgrund seiner mangelhaften körperlichen, sozialen und psychischen Konstitution die als Körper verstandene Gesellschaft; man befürchtete, dass sich seine degenerierte Konstitution vererben könne (Becker 2002: 272) – der Schutz der Gesellschaft vor dem gefährlichen, nunmehr als pathologisch betrachteten Individuum und vor den ebenfalls pathologisierten gefährlichen Klassen wurde kriminalpolitisches Ziel. Der Staat, der mit Hilfe der Krankheitsmetaphorik angesprochen wurde, war der interventionistische Wohlfahrtsstaat (Galassi 2004: 85f.; Becker 2002: 318).

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K RIMINOLOGISCHE T HEORIEN : ANLAGE ODER U MWELT ODER BEIDES ? Beckers plausible Trennung der Diskurse über Verbrecher in einen kriminalistischen Diskurs, der auf der Erfahrungsebene praktisch tätiger Kriminalisten in der Strafverfolgung beruhte und im Verbrecher den aufgrund seiner unvernünftigen Gesinnung „gefallenen Menschen“ sah, und in einen kriminologischen Diskurs, der sich dem Verbrecher auf wissenschaftlich-medizinischen Wegen näherte und den Verbrecher aufgrund seiner ererbten und/oder nachträglich geschädigten körperlich-psychischen Konstitution als „verhinderten Menschen“, als Mangelwesen, verstand, macht – obwohl diese Unterscheidung nicht alle Nuancen berücksichtigt – deutlich, dass sich mit dem Aufkommen der Kriminologie die Wahrnehmung von Kriminalität und Verbrechern und das Wissen darüber gewandelt hat. Die neu formulierten kriminologischen Theorien, das neue wissenschaftliche Wissen vom Verbrecher sollen im folgenden Überblick vorgestellt werden. Kriminalanthropologie: Der „geborene Verbrecher“ 1 Den Anstoß für die Vorstellung, in den ererbten Anlagen eines Verbrechers den prägenden Grund für dessen Kriminalität zu sehen, gab den meisten Kriminologiegeschichten zufolge die kriminalanthropologische Theorie der Verbrechensdeutung Lombrosos, die er 1876 in „L’uomo delinquente“ formuliert hatte. Lombroso und seine Anhänger sahen im atavistischen Verbrecher den mit großem Konfliktpotential geborenen Verbrecher. Das war die deutlichste Abkehr von der kriminalistischen Vorstellung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die vom gewordenen Verbrecher ausging. Methodischer Ausgangspunkt der Hypothesen Lombrosos war seine Vermutung, dass zwischen Verbrechern und Nichtverbrechern ein fundamentaler, biologischer Unterschied bestehe, der sich aufgrund bestimmter Körpermerkmale klar zeigen ließe. Der Verbrecher galt, wie schon angedeutet, in der Atavismus-Theorie Lombrosos als Rückschlag in ein überwundenes Stadium der Ur- und Frühgeschichte der Menschheitsentwicklung. Gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse etwa der Anthropologie, aber auch auf pseudowissenschaftliche Vorstellungen wie der Physiognomik und der Phrenologie richtete Lombroso seinen Blick ganz auf die körperlichen Anomalien, von denen er annahm, dass sie zwar nicht direkt auf abweichendes Verhalten hinwiesen, aber auf eine gleichsam sozialpathologische Konstitution, von der auf ein Potential zum kriminellen Handeln geschlossen werden könne. Folgende körperliche Kennzeichen entdeckte Lombroso:

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Für das Folgende Galassi 2004: 140-169; Becker 2002: 289-311.



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„Diebe haben im allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefältet und stoßen zusammen; die Nase ist krumm oder stumpf, der Bart spärlich, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend. [...] Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich, die Lippen dünn, die Zähne groß. [...] Im allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder hervorragend, die Backenknochen breit, – kurz ein mongolischer und bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden.“ (Lombroso 1894: 229-231)

In das Auffinden dieser Merkmale und ihre Interpretation als äußerliche, sichtbare Zeichen der Natur des Verbrechers flossen zudem zahlreiche biologistische und anthropologische Vorurteile hinein: Im obigen Zitat etwa fallen einige Merkmale mit den für die Ausübung des jeweiligen Verbrecherhandwerks als notwendig gedachten Fähigkeiten zusammen (die Beweglichkeit der Diebe, die Kaltblütigkeit der Mörder). Und das Verbrechen wird anthropologisch diskriminiert durch den Verweis auf die Ähnlichkeit des Verbrechers mit dem „mongolischen“ und „negerähnlichen Typus“. Die Atavismus-Theorie stellte eine zweifache Beziehung her zwischen anatomisch-physiologischen Anomalien von Verbrechern und vermeintlich entsprechenden Merkmalen bei Urmenschen, Naturvölkern, Affen. Für den empirischen Beleg der atavistischen Natur des Kriminellen blickte Lombroso einerseits auf jene körperlichen Merkmale, die Anthropologen der Zeit als die gemeinsame Basis von Anthropoiden und Menschen erachteten: Bau und Größe des Gehirns, Kopf- und Gesichtsform, Augenbrauen, Zähne, Gang. Andererseits leitete er aus der vorgeblichen Übereinstimmung körperlicher Merkmale zwischen Verbrechern, Urmenschen und Affen gemeinsame instinktgeleitete Handlungsorientierungen ab und erklärte so Verhaltensweisen, die in der modernen Gesellschaft als asozial galten: Falschheit, Leidenschaftlichkeit, Rachgier, Spielwut, Wollust, die Verweigerung gegenüber produktiver Arbeit, Grausamkeit, Gefühllosigkeit galten ihm als Wiederauftauchen frühgeschichtlicher Verhaltensweisen – Belege der mangelnden Anpassung des atavistischen Verbrechers. Auch hätten Kriminelle, Wilde und Irre eine deutlich abgeschwächte Sensibilität und stünden Schmerzen und Strafen, aber auch dem Leid anderer Menschen gleichgültig gegenüber, was Lombroso durch Tätowierungen, die er als ein vordergründiges Merkmal des Atavismus verstand, bestätigt sah. Zusammengenommen legten es diese Eigenschaften des „geborenen Verbrechers“ für Lombroso nahe, in ihm einen eigenen Menschentypus, den homo deliquens, zu sehen. Doch Lombrosos Pathologisierung des Verbrechers blieb nicht unwidersprochen. Dieser Kritik begegnete Lombroso mit für ihn typischen, elastischen Ausweichbewegungen. Die monokausale Sicht, der geborene Verbre-

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cher sei ein Atavismus, weichte Lombroso bald auf und nahm auch soziale Faktoren in seine Theorie auf. Eine andere Kritik betraf die körperlichen und geistigen Anomalien, die Lombroso als konstitutiv für den Verbrecher annahm: Sie kämen, so die Kritiker, auch bei normkonformen Menschen vor. Lombrosos Antwort: Signifikant seien Stigmata als Kennzeichen von Verbrechern erst bei einem gehäuften Auftreten. Außerdem war Lombroso schon recht früh von seiner Auffassung abgerückt, dass jeder „geborene Verbrecher“ notwendig auch Straftäter im rechtlichen Sinne werde – auch wenn es sehr wahrscheinlich sei, da ihn weniger sein kriminelles Handeln, als vielmehr sein von Geburt an unterentwickeltes Moralgefühl kennzeichne (Galassi 2004: 145f.). Trotz solcher Anpassungen blieb eine Fülle von unaufgelösten Widersprüchlichkeiten im Atavismus-Konzept bestehen, und allmählich näherte Lombroso sich seinen Kritikern an, die Stigmata als Hinweis auf die Degeneration ihres Trägers und damit auf eine Unfähigkeit zur Anpassung verstanden (Becker 2002: 308). Degenerationstheorie: Der „minderwertige Verbrecher“ 2 Degeneration oder Entartung konnte gemäß der von Morel begründeten Theorie unterschiedliche Ursachen haben: Erbanlagen, Umwelteinflüsse, Ernährungsweise, Lebensführung. Das Potential zur Entartung habe sich der Mensch selbst durch die Abweichung vom type primitif, den Morel – religiös motiviert – mit Adam vor dem Sündenfall gleichsetzte, in die Wiege gelegt. Nach dem Sündenfall sei der Mensch außerparadiesischen Einflüssen ausgesetzt gewesen, was als gesunde und normale Entwicklung zur Ausbildung der verschiedenen menschlichen Arten, und als abweichende und anormale Entwicklung zu krankhaften körperlichen und geistigen Varietäten, zur Ausbildung von Entartungen eben, führen könne. Krankheit war für Morel das Symptom einer anormalen Beziehung zwischen dem Geist und seinem krankheitsanfälligen Instrument, dem Körper, und an einer Vielzahl körperlicher und sittlicher Funktionsstörungen, den Degenerationszeichen, erkennbar. Degeneration wurde jedoch nicht nur als eine materialistische Erklärung für moralisch-sittliches Fehlverhalten wahrgenommen, sondern zugleich als Mittel zur Dramatisierung der nachteiligen Auswirkungen von Erziehung und Umwelteinflüssen für die Zukunft der Gesellschaft eingesetzt (Becker 2002: 273f.). Ein erstes Auftreten von Degeneration könne durch Alkohol, das soziale Unterschichtenmilieu oder körperliche Behinderungen bedingt sein. Danach könne es zur doppelten Vererbung körperlicher und moralischer Übel kommen und sogar, nach dem „Gesetz der Progressivität“, zur generativen Verschlimmerung der Degeneration bis hin zur Unfruchtbarkeit der Nachkommen nach einigen Generationen. Dem Untergang einer „degenerierten“ Fa-

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Für das Folgende Galassi 2004: 169-184; Becker 2002: 312-329.



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milie setzte diese Auffassung den Untergang eines ganzen Volkes gleich. In der leicht modifizierten, an der Evolutionstheorie orientierten Form wurde Entartung zu einem Zustand psycho-physischer Minderwertigkeit, zum Ergebnis einer umgekehrten, absteigenden Evolution. Dieses Degenerationskonzept setzte sich durch, verlor aber infolge der Verallgemeinerung von Ursachen und Symptomen seinen eigentlichen Charakter: Der entartete Personenkreis wurde breiter, seine Wahrnehmung und Wertung unter der Perspektive der Degeneration immer üblicher (Mann 1985: 14). Morel selbst hatte noch gemäß seiner religiös fundierten Voraussetzungen an den Grundelementen der moralisch-sittlichen Interpretation von Kriminalität festgehalten. Im Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ aber, in das seine Theorie integriert war, wurden die Elemente, die sich auf den Verbrecher als „gefallenen Menschen“ bezogen, durch entwicklungstheoretische Überlegungen und durch den Versuch, die Beziehungen zwischen Umwelteinflüssen, Vererbung und der Entstehung von körperlichen und psychischen Anomalien kausal zu erklären, ersetzt (Becker 2002: 314). Dass die Degenerationstheorie die Verbindung zwischen psychischen, sozialen und anatomischen Beobachtungen letztlich nur mittels metaphorischer Bezüge und um den Preis konzeptueller Klarheit erreichte, war dem Fehlen eindeutiger Definitionen von „pathologisch“ und „normal“ geschuldet. Zugleich war eben diese Unschärfe von Vorteil: „Damit wurde der Begriff zur Metapher, die einen kausalen Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Ebenen der Analyse anklingen ließ, ohne diesen tatsächlich herstellen zu müssen“ (Becker 2002: 275f.). Die Metapher beschrieb als deren einziges gemeinsames Merkmal ein Anderssein der Degenerierten, ein – selbst aus der Sicht derjenigen, die den vorgeblichen Degenerationszeichen Signifikanz zuschrieben – häufig nicht sicher diagnostiziertes Abweichen von einem Idealtypus von Gesundheit und Tauglichkeit. In dieser Abweichung liege dann das besondere Potential für kriminelles Verhalten, auch wenn die Kriminologen, gegen Lombroso gerichtet, mehr eine allgemeine Minderwertigkeit denn eine konkrete verbrecherische Anlage als Ursache für Kriminalität verantwortlich machten. Damit war die kausale Beziehung zwischen Minderwertigkeit und Devianz auf einer ganz reduktionistischen, physiologischen Basis hergestellt – inklusive aber der Einflüsse des Milieus und der Lebensbedingungen und -führung der Verbrecher, da das Konzept der Degeneration explizit diese Bereiche als degenerative Faktoren mit einschloss. Anders als Lombroso sahen damit die Vertreter der Degenerationstheorie im Verbrecher nicht den Wilden, sondern den kranken, schwachen oder den haltlosen Menschen. Anders als Lombroso und ganz ausdrücklich als Kritik an dessen Konzept vom Verbrecher aus Anlage richteten sie ihren Blick zwar auch auf den Körper, daneben aber auch auf das soziale Umfeld und auf die Lebensweise des Verbrechers. Dabei bezogen sie ihre Informationen nicht nur aus anthropologischen Beobachtungen und literarischen Vorlagen, sondern auch aus dem kriminalistischen Wissen, aus der Biografie des Täters mithin: „[U]nmoralische Lebens- und Handlungsweisen gal-

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ten als einer der Faktoren, von denen die Entwicklung eines Menschen und seiner Nachkommen bestimmt wurde“ (Becker 2002: 314). Neben die Schwäche infolge „erblicher Belastung“ traten in diesem Konzept damit auch die Auswirkungen eines liederlichen Lebens. Morels Theorie bot die Grundlage, auf der soziale Pathologie und individuelle Liederlichkeit verknüpft werden konnten (Becker 2002: 335). Liederlichkeit als Ursache und Wirkung von Degeneration hatte im kriminologischen Diskurs eine ambivalente Bedeutung: „Man konnte sie nicht pathologisieren, da dies erhebliche Konsequenzen für die Zurechnungsfähigkeit der Straftäter gehabt hätte. Man konnte sie aber auch nicht als rein schuldhaftes Verhalten verurteilen, weil sie durch die pathologische Beeinträchtigung des Nervensystems verursacht war“ (Becker 2002: 314). Indem eine physische und psychische Unvollkommenheit, eine Minderwertigkeit des Trägers von Degenerationszeichen konstatiert wurde, deutete man den unsittlichen, den „gefallenen Menschen“ in den minderwertigen, den „verhinderten Menschen“, um. Der Begriff der Minderwertigkeit geht auf den Psychiater Julius Koch (1841-1900) zurück. In seinem 1891 erschienenen Werk „Die psychopathischen Minderwertigkeiten“ benutzte Koch die Bezeichnung, um grenzwertige geistige Abweichungen zu beschreiben. Diese Abweichungen repräsentierten nicht eindeutig eine Geisteskrankheit; sie führten jedoch dazu, dass ihr Träger nicht im Vollbesitz seiner geistigen Normalität und Fähigkeiten sei (Koch 1891: 1). Abgekürzt zu „Minderwertigkeit“ etablierte sich der Begriff als die Bezeichnung für jene geistigen und körperlichen Abweichungen, die zuvor als Fälle von Degeneration eingeschätzt wurden (Wetzell 2000: 48f.). Der Mensch wurde nun als eine komplexe Konstruktion verstanden, deren Bauplan durch Vererbung festgelegt und deren Handeln durch eine rational abwägende „Anpassung“ an die Umwelt strukturiert war (Becker 2002: 315f.). Aus diesem Grund interessierten sich die Kriminologen durchaus für die Biografie eines Verbrechers, denn auch die Identität des „verhinderten Menschen“ drückte sich in seiner Lebensgestaltung aus. Anders als beim „gefallenen Menschen“, in dessen Biografie bestimmte Wegmarken die willentlichen, verderblichen Entscheidungen anzeigten, gab die Biografie beim „verhinderten Menschen“ Aufschluss über Entstehung und Verlauf einer Krankheit; eindeutige Wendungen in dieser Biografie wurden entsprechend nicht als Entscheidung für eine falsche Gesinnung gedeutet, sondern als Ausbruch der Krankheit (Becker 2002: 337). Und so war das Strafregister eine wichtige Quelle für den Kriminologen, der die pathologische Konstitution der Persönlichkeit an der Unfähigkeit zur sozialen Eingliederung ablesen konnte. Gleichwohl verstanden die Kriminologen die biografische Entwicklung als Teil der Genealogie eines Verbrechers, die dem „wissenden Blick des Kriminologen die Schuld der Vorfahren [zeigte], die durch unsittliches Verhalten – vor allem durch unmäßigen Genuß von Alkohol und durch die Ansteckung mit Syphilis – ihren Kindern eine ‚minderwertige‘ Anlage mit auf den Weg gegeben hatten“ (Becker 1999: 338). 

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Zur Aufdeckung dieser Anlage näherten sich die Kriminologen dem Verbrecher mit einem anderen theoretischen Hintergrund und mit neuen Methoden, die aus den beteiligten Disziplinen Anthropologie, Medizin oder Psychiatrie stammten und letztlich auf die Objektivierung der Minderwertigkeit zielten. Mittels der Genealogie hoffte man, die verborgenen Spuren der Degeneration in einer Familie erkennen und als Ursache für Asozialität und Minderwertigkeit benennen zu können. Im Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“ hatten Genealogien noch dazu gedient, die Vernetzung der kriminellen Gegenwelt aufzudecken; sie stellten jedoch die Überzeugung der Kriminalisten infrage, dass die Abweichung auf einer willentlichen Entscheidung beruhte: Genealogien legen eigentlich die soziale Unausweichlichkeit der kriminellen Karriere nahe. Im Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ zeugte die Struktur einer Genealogie von der Abweichung einer minderwertigen Familie vom normativen Postulat der Gesundheit (Becker 1999: 367f.): Dadurch wurden erbliche Belastung und Degeneration zu einem Teil der Anamnese, die Biografie eines Menschen zur Kranken- und die strafrechtlich-kriminologische Erzählung seiner kriminellen Karriere zu einer Fallgeschichte. Die Fallgeschichte zog eine klare Trennlinie zwischen „der gesunden, unbelasteten Wir-Gruppe und den kranken, minderwertigen Anderen“; gleichzeitig waren diese Konzepte so vage, dass eine Vielzahl von Abweichungen als Zeichen degenerativer Belastung galt: „Daher vermitteln die Fallgeschichten eher den Eindruck von ubiquitärer Belastung als von einer Polarität zwischen gesund und krank“ (Becker 1999: 369). Diese Ubiquität der „Minderwertigkeit“ verweist auf die Abkehr von Fragen nach Schuldhaftigkeit und Zurechnungsfähigkeit des „verhinderten Menschen“; im Vordergrund stand weniger seine Verantwortung als seine potentielle Gefährlichkeit. Sowohl die anthropologische Theorie vom Atavismus als auch die medizinisch fundierte Degenerationstheorie und ihre Differenzierung zum Konzept der „Minderwertigkeit“ liefen auf die Naturalisierung dieser Gefährlichkeit hinaus: Die körperlichen, psychischen und sozialen Defekte des „verhinderten Menschen“ begründeten die Schwäche des Verbrechers, die in einer geringeren Hemmschwelle und in unzureichenden sozialen Orientierungen bestand und den Verbrecher zum ‚Konfliktmenschen‘ werden ließen. Jedoch: Das Anderssein des Verbrechers beruhte dieser Auffassung nach nicht auf einem blinden Automatismus, der ihn zum Verbrechen trieb; Verbrecher galten als anfälliger für die Verübung von Straftaten als normkonforme Menschen – letztlich eine tautologische Argumentation. „Verhinderte Menschen“ erschienen aber gerade deshalb als gefährlich: Ihnen fehle Vernunft und Moral, ihre nur schwach entwickelten Hemmungsvorstellung und Persönlichkeit liefere sie fremden Einflüssen und Trieben wehrlos aus (Becker 2002: 279) – „simultaneously less responsible and more dangerous“ (Wetzell 2000: 79). Vor allem bedrohte der „verhinderte Mensch“ aus der Sicht der Kriminologen und der diesem Erzählmuster folgenden Sozialpolitiker den „Gesellschaftskörper“, da man befürchtete, dass die degenerierte Konstitution

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des Verbrechers an die nächste Generation vererbt werde und damit die Gefahr der Entartung der ganzen Gesellschaft bestand. Der „verhinderte Mensch“ erfordere dementsprechend radikalere Formen staatlicher Prävention und Vorsorge als der „gefallene Mensch“, und die Strafe sollte eher den Schutz der Gesellschaft sicherstellen als die ohnehin vergebliche Besserung des „minderwertigen“ Täters leisten (Becker 2002: 272). Besonders die Rückfalltäter, die gleichzeitig als entartet und gefährlich galten, erschienen aus dieser Perspektive als Bedrohung. Allerdings „blieb das einzige operationalisierbare Kriterium zur Identifikation der ‚minderwertigen‘ Straftäter das Merkmal des Rückfalls, obwohl es eher den Erfolg des polizeilichen Ermittlungsverfahrens als die degenerierte Konstitution der Verbrecher anzeigte“ (Becker 2002: 278). Dennoch zogen die Kriminologen aus den Rückfallstatistiken ihre Schlüsse über die Persistenz eines Menschen ‚im Bösen‘, über die Defekte seines Intellekts, seiner Moral und seines Willens. Indem sie die Ursache dieser Defekte in den Anlagen und der Erziehung suchten, integrierten sie die Triebfedern für den Beginn einer kriminellen Karriere in eine schlüssige Erzählung über den verbrecherischen Menschen: Sowohl die erbliche Belastung als auch die frühzeitige Verstrickung der Verbrecherkinder in die kriminelle Lebensweise erhielten Erklärungswert in diesem Bedrohungsszenario (Becker 2002: 285). Obgleich kein Konsens bestand über das Ausmaß dieser Bedrohung durch minderwertige rückfällige Straftäter, so war man sich doch einig über die Notwendigkeit ihrer Verwahrung: „Die [...] vorgeschlagenen Maßnahmen zur ‚Unschädlichmachung‘ gemeingefährlicher Individuen waren Ausdruck eines weit reichenden Anspruchs, das gesellschaftliche Leben von möglichst allen Unwägbarkeiten und Zufällen zu befreien“ (Becker 2002: 277). Das erlaubte – auf diskursiver Ebene zunächst – Eingriffe in die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht des vorgeblich minderwertigen Verbrechers; zwangsweise Kastration wurde ebenso diskutiert wie Freiheitsberaubung auf unbestimmte Zeit sowie Fürsorge und Polizeiaufsicht für entlassene Strafgefangene. Als ein die Strafe ergänzendes Sicherungsmittel verstand man auch die Einweisung in ein Arbeitshaus. Da eine solche Einweisung in das Strafregister aufgenommen wurde, hatte sie aber eine stigmatisierende Wirkung und erschwerte die Resozialisierung des Entlassenen; die dann häufig folgende (Wieder-)Aufnahme einer vagabundierenden oder bettelnden Lebensweise wurde als Zeichen von Gefährlichkeit und Minderwertigkeit gedeutet (Becker 2002: 284). Die Radikalisierung des Diskurses über Prävention, Strafe und Fürsorge war auf der Handlungsebene der Ausdruck der Furcht vor Rückfallverbrechern, jener schon angeführten krisenhafte Ursache für die Ausweitung der kriminologischen Wissensgenerierung. Diese Furcht beruhte im Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ nun aber nicht mehr auf der selbst gewählten Persistenz des Verbrechers im Bösen, sondern auf der Angst vor den kriminellen und erbbiologischen Auswirkungen seiner krankhaften Veranlagung. Diese Angst stand in einem größeren Zusammenhang, sie war 

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verbunden mit den Ängsten vor den Folgen einer modernisierten Welt; der ‚Überlebenskampf‘ in der modernen Gesellschaft schien die psychische Konstitution vor allem von Minderwertigen zu überfordern (Becker 2002: 283). Hier griff das Konzept der Degeneration, das in geradezu paradigmatischer Weise die sozialen Probleme, die Existenz einer proletarischen Unterschicht, Kriminalität, Geisteskrankheiten und andere Formen sozialer und individueller Abweichung kausal zu erklären schien. Zugleich deutet sich hier an, dass die Debatte um Maßnahmen zur Prävention von Kriminalität einen gewissen pessimistischen Zug hatte, der bedingt war durch die Konzeption der Verbrecher als Minderwertige und Degenerierte: „Die Strafanstalten konnten sie nicht verändern, weil den Minderwertigen dazu die Einsicht, Willenskraft und moralische Grundlagen fehlten; sie konnten diese Verbrecher auch nicht verwahren, weil viele Minderwertige für ihre Verbrechen strafrechtlich nicht verantwortlich waren“ (Becker 2002: 287). Der „Minderwertige“ erscheint damit als der „verhinderte Mensch“ in nuce, abzulesen beispielsweise an den Auffassungen Gustav Aschaffenburgs (1866-1944). Für ihn bestand Minderwertigkeit in geistigen Defekten, die sich vor allem im intellektuellen und im emotional-willentlichen Bereich zeigten und sich als „Schwachsinn“ oder „Haltlosigkeit“ äußerten. Vor allem als Folge schlechter Umwelteinflüsse verstanden, führe Minderwertigkeit nicht aufgrund eines moralischen Defekts ins Verbrechen, sondern weil der solcher Art „verhinderte Mensch“ den Anforderungen des modernen Lebens nicht gewachsen war: „Jede Schwankung des wirtschaftlichen Gleichgewichts, jede Änderung des Gesellschaftslebens lässt eine Anzahl von Menschen über Bord gleiten und in den Tiefen des Verbrechertums versinken. Eines ist allen gemeinsam, eine Unzulänglichkeit der Widerstandskraft gegen die Versuchung, sei es im Sinne einer Selbstsucht, die an den Grenzen der Rechte anderer nicht halt macht, sei es – und das ist bei weitem häufiger der Fall –, dass die Kraft der Gegengründe versagt.“ (Aschaffenburg 1923: 145f.)

Jedoch gelang auch Aschaffenburg keine brauchbare Definition von Minderwertigkeit, die über Autorität heischende Postulate hinausgegangen wäre: „Die Tatsache, dass die meisten erheblichen körperlichen Abweichungen der Ausdruck einer Minderwertigkeit sind, darf als gesichert betrachtet werden“ (Aschaffenburg 1923: 201). Im selben Atemzug aber relativierte er einen kriminogenen Zusammenhang zwischen den körperlichen Anzeichen dieser Minderwertigkeit und Verbrechen, wenn er darauf hinweist, dass das Vorkommen dieser Anzeichen „gerade unter Verbrechern“ nicht erstaunen dürfe, stamme doch „der weitaus größte Teil der Verbrecher aus den Kreisen, in denen Not und Elend, Trunksucht und Verbrechen heimisch“ seien; dadurch verliere „die Häufigkeit der Entartungszeichen das Auffällige, nimmt ihnen allerdings auch den spezifischen Charakter einer dem Verbrecher als solchem eigentümlichen Erscheinung“. Ähnliches konstatiert Aschaffenburg für die „Psychologie des Verbrechers“, die – „bis auf die

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häufigen Merkmale einer minderwertigen Veranlagung“ – keine besonderen Züge erkennen lasse, die für ihn charakteristisch wären. Einzig bei den Geistesstörungen sah Aschaffenburg einen Zusammenhang zum Verbrechen: „Beides, Verbrechertum und geistige Störung, sind zwei Pflanzen, die aus demselben Boden ihre Nahrung saugen, aus dem Boden der körperlichen und geistigen Entartung. Daß dieser Boden keine besseren Früchte zu zeitigen vermag, muß aber auf Anlage und Erziehung, auf Trunksucht und wirtschaftliches Elend, auf Heiraten geistig Angekränkelter und Kranker zurückzuführen sein“ (Aschaffenburg 1923: 219). Der „Boden der Entartung“ war für Aschaffenburg demnach der zentrale kriminogene Faktor, auch wenn er den sozialen Missständen durchaus einen gewissen Anteil etwa an der Verhinderung einer moralischen Entwicklung zugestand: „Die sozialen Mißstände, Elend und Armut, Trunksucht und Krankheit, erzeugen ein Geschlecht von Menschen, die – meist nur unvollkommen oder geradezu schlecht erzogen – den Stürmen des Lebens nur einen geringen Widerstand entgegensetzen können. Ich bezeichne solche Menschen als ‚s o z i a l u n b ra u c h b a r‘ “ (Aschaffenburg 1923: 223; Sperrung im Original). Da aber nicht jedes Individuum, dass diesen Missständen ausgesetzt war, Verbrechen begeht, könne, so Aschaffenburg, die Umwelt zwar mitverantwortlich, aber nicht allein verantwortlich sein für die Entstehung von Kriminalität. Aschaffenburg machte also – auf der Linie der zur „Minderwertigkeit“ modifizierten Degenerationstheorie – letztlich klar: Die Minderwertigkeit sei das Ergebnis eines nur schwer genau zu bestimmenden Verhältnisses von Abstammung und Umwelt. Zwar beteuerte Aschaffenburg, sich allein auf die „objektive Beobachtung“ stützen zu wollen, doch brachte ihn die dehnbare Zuschreibung von Minderwertigkeit und der Blick darauf, woher die Minderwertigkeit stamme, in den unscharfen Grenzbereich von empirischer Wissenschaft und sozialem Werturteil. Denn Maßstab der Beurteilung von Verbrechern und „Minderwertigen“ bleibt hier die soziale Tauglichkeit, ein Maßstab, der letztlich auf die normalisierte Leistungsfähigkeit eines Menschen und damit auf die Zweckmäßigkeit eines produktiven gesellschaftskonformen Lebens abhebt. Die Anzeichen der Minderwertigkeit werden so auf den Status einer präventiven, paternalistischen Früherkennung umgedeutet, da sie davor warnen würden, „allzu große Anforderungen an solche sozial Untaugliche zu stellen. Könnten wir alle diese Menschen dem schlechten Boden entreißen, in dem sie wurzeln, […] so würden wir viele, vielleicht sogar den größten Teil vor dem sozialen Untergang bewahren. […] Das Leben nimmt seinen Gang und zermalmt den, der nicht mitkann. […] Und es sind viele, die zugrunde gehen, zugrunde gehen müssen.“ (Aschaffenburg 1923: 223f.)

Sozialselektionistische Vorstellungen und soziale Werturteile flossen im Begriff der „sozialen Unbrauchbarkeit“ zusammen. Und untermauert mit statistischen Angaben, mit „der Wucht der Zahlen“, die Aschaffenburg 

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selbst als „gefährlich“ bezeichnete, werde deutlich, dass etwa die Unverbesserlichkeit minderwertiger Verbrecher in nichts anderem bestehen könne als in der individuellen Veranlagung: Der nach eigenem Bekennen „stets skeptische“ Aschaffenburg müsse aber zugeben, dass „wir mit einem Heer von Verbrechern rechnen [müssen], die unter gegebenen Verhältnissen sich in ein geordnetes Leben nicht mehr einordnen lassen“. Damit ist klar, der Minderwertige ist der „verhinderte Mensch“: Der eine erliege der Versuchung schneller, der andere langsamer, „aber sie erliegen bestimmt“ (Aschaffenburg 1923: 225). Der „psychopathische Verbrecher“ Während Kochs Konzept der „psychopathischen Minderwertigkeit“ zunächst zu „Minderwertigkeit“ abgekürzt wurde, ließ die Kriminologie diesen Begriff bald weitgehend fallen – er implizierte eine biologische, moralische und soziale Abwertung von Menschen, die als unpassend empfunden wurde. Man konzentrierte sich nun auf das Adjektiv „psychopathisch“, um damit mentale Grenzzustände zu bezeichnen (Wetzell 2000: 144-153). Schon 1904 hatte Emil Kraepelin vier Typen psychopathischer Persönlichkeiten unterschieden: den geborenen Verbrecher, den pathologischen Lügner, den Querulanten und den Triebmenschen (Kraepelin 1904, Bd. 2: 816841). Kraepelin fasste unter dem Begriff „Psychopathie“ demnach sozial unerwünschte Verhaltensweisen, und weniger medizinische Phänomene. „Psychopathie“ war, in einer kritischen Perspektive (Katschnig/Steinert 1973: 112f.), eine ‚Restkategorie‘, unter die alle auffälligen Verhaltensweisen fallen konnten, die nicht einem der gängigen Krankheitsbilder entsprachen. Psychopathie war eine Abweichung von einer Norm, wobei Norm verstanden wurde als das Optimum der Anpassung an die Umgebung. Durch den Rekurs auf einen solchen absoluten Normbegriff kann die Kategorie der Psychopathie kaum anderes sein als eine Abstraktion von meist als gesellschaftswidrig und asozial eingestuften Verhaltensweisen. Psychopathie war keine Krankheit, Psychopathie war eine Rolle. Sie hatte allerdings als medizinisch konnotiertes ‚Krankheitsbild‘ die soziale Funktion, jenen nosologisch nicht erfassten und erfassbaren Handlungen, die als abweichend wahrgenommen wurden, den Charakter einer krankhaften, minderwertigen Abweichung zuzuschreiben. Individuen wurden aufgrund ihres Verhaltens dieser Kategorie zugeordnet, indem man sie, so Katschnig und Steinert, aus der Kategorie der ‚Normalen‘ „hinausdefinierte“. Wirkungsmächtig wurde dies vor allem in psychiatrischen Gutachten: Während andere psychiatrische Diagnosen entschuldigend wirken, habe die ‚Psychopathie‘ den umgekehrten Effekt: Der ‚Psychopath‘ sei Steigerung und endgültige Fixierung des Verbrechers. Die Spuren seines Ursprungs als Werturteil über abweichendes Sozialverhalten konnte das Psychopathie-Konzept nie wirklich ablegen. Kurt Schneider (1887-1967), der den neuen, typologischen Ansatz gegenüber der

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gleichsam monolithischen Auffassung von Minderwertigkeit in der Psychiatrie etablierte, wollte die moralische Engführung des Konzepts vermeiden, indem er seine Typologie psychopathischer Persönlichkeiten auf ‚objektive‘ psychologische Kriterien zu stützen versuchte. Dabei entwickelte er zehn Typen: hyperthyme, depressive, unsichere, fanatische, dominierende, emotional instabile, explosive, mitleidslose, willensschwache und asthenische Psychopathen (Schneider 1923: 30-79). Deren Abweichung bezeichnete Schneider rein quantitativ als Variationen von einer statistischen Norm, der „durchschnittlichen menschlichen Persönlichkeit“ (Schneider 1923: 1f.), womit er die Gleichsetzung von ‚normal‘ mit ‚gesund‘ zunächst vermied. Dass er zugeben musste, dass quantitative Aussagen im Bereich der Psychologie nur schwer zu machen seien, war nur eines der Probleme, die sich hieraus ergaben; schwerer wog, dass – wenn jede Abweichung von einer wie auch immer definierten Norm als abnormal bezeichnet wurde – die Zahl abnormaler Variationen unendlich war (vgl. Wetzell 2000: 147). Dem begegnete die psychiatrische Typenbildung einerseits mit einer expansiven Strategie, der Schaffung neuer Untertypen, andererseits mit einer Strategie der analytischen Beschränkung: Schneider wollte sich auf jene psychopathischen Persönlichkeiten konzentrieren, „die an ihrer Abnormität leiden oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet“ (Schneider 1923: 2). Mit dieser Definition aber holte Schneider die zuvor verbannten Werturteile wieder in das Psychopathie-Konzept zurück, und seine vorgeblich objektiven psychologischen Kriterien erwiesen sich, wie Wetzell deutlich macht, als ebenso werturteilend: Indem Schneider den Psychopathen durch fehlendes Mitgefühl, Schamhaftigkeit, Ehre und Gewissen definierte, ging er davon aus, „that compassion and remorse were normal human characteristics. Yet this assumption was not based on statistical studies proving that the average person was compassionate but on the unexamined belief that a socially desirable trait like compassion must be biologically normal“ (Wetzell 2000: 152). Das Kriterium des Leidens der Gesellschaft an der Abnormalität eines Menschen erweist sich somit als höchst subjektiv; basierend auf diesem ex post-Kriterium umfasst „Psychopathie“ eben nur jene Fälle, mit denen die Gesellschaft konfrontiert wird und an denen sie dann „zu leiden“ glaubt. Vom Wortsinn her scheint dieses „Leiden“ eher eine Pathologie der Gesellschaft als eine jener Individuen aufzudecken, die als nicht integriert oder nicht integrierbar wahrgenommen wurden. Dies unterstreicht den Charakter der Psychopathie als ‚Restkategorie‘. Karl Birnbaum (1879-1950) führte bereits 1914 den typologischen Ansatz in die Kriminologie ein. In „Die psychopathischen Verbrecher“ unterschied er verschiedene psychopathische Persönlichkeiten – in der Erstausgabe waren es beinahe dreißig, die für die zweite Ausgabe 1926 auf ein Dutzend reduziert wurden. Birnbaum glaubte an eine Verbindung zwischen Psychopathie und kriminellem Verhalten, da Psychopathen an ganz grundlegenden Defekten litten: An einem Missverhältnis zwischen Reiz und Reaktion, einem Mangel an „seelischem Ebenmaß und Gleichmaß, an physischer 

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Ausgeglichenheit“ und schließlich an einer „seelischen Labilität und Gleichgewichtslosigkeit, verbunden mit erhöhter psychophysischer Intoleranz und Widerstandsschwäche“ (Birnbaum 1926: 10f.). Als Konsequenz dieser Defekte, die vor allem den Gemüts-, Gefühls-, Trieb- und Willensanomalien zugehörig seien, falle es Psychopathen schwer, sich den Anforderungen des Lebens anzupassen. Dies könne einerseits zu individuellem Leiden, andererseits zu antisozialem und auch zu kriminellem Verhalten führen. Die „Entgleisungen“ gingen demnach – und hier wird deutlich, dass die Psychopathie dem Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ zugerechnet werden muss – „unmittelbar aus der individuellen Eigenart, aus der Gesamtpersönlichkeit“ eines Verbrechers hervor; die „kriminellen Dispositionen und Tendenzen“ seien „fest im psychopathischen Charakter verwurzelt (Birnbaum 1926: 16). Gleichwohl war für Birnbaum eine psychopathische Konstitution nicht identisch mit antisozialem Verhalten, denn die Wesenszüge der psychopathischen Verbrecher seien „nur dem Grad, nicht der Art nach der normalen Breite fremd. Sie stellen nur Auswüchse und Defekte natürlicher psychischer Eigenschaften dar“, denn oft könnten schon „relativ geringfügige, von normalem Durchschnitt sich durchaus nicht allzuweit entfernende Wesenszüge, wie beispielsweise Unstehtheit, Willensschwäche, Haltlosigkeit, genau so schwere und selbst schwerere kriminelle Manifestationen mit sich führen […], als mancher andere psychiatrische Charakterzug von schwerem pathologischen Gepräge“ (Birnbaum 1926: 19). Psychopathie war nach 1900 eine wirkmächtige Erklärung für die Ursache von Verbrechen im Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“; das Konzept steht analytisch daher klar neben der Atavismus-, vor allem aber neben der Degenerationstheorie, aus der es ja auch hervorgegangen war. So versteht Birnbaum die psychopathischen Verbrecher unter Rückgriff auf „Entartung“ und „biologische Entwicklungsstörungen“ als „charakterologische Fehlbildungen […], die durch Abirrungen in der Entwicklung der psychischen Persönlichkeit: durch ein Stehenbleiben oder Fehlgehen auf unfertiger, unabgeschlossener psychischer Entwicklungsstufe, gegeben sind“ (Birnbaum 1926: 9). Der „individuelle Faktor“, die „persönliche Anlage“ erweise sich als maßgeblich für das kriminelle Handeln beim psychopathischen Verbrechertyp, der im Übrigen die „Kern- und Reservetruppe des modernen Verbrechertums“ darstelle (Birnbaum 1926: III). Das anteilsmäßige Anwachsen der psychopathischen Verbrecher gebe der „kriminellen Physiognomie der Gegenwart“ ihren charakteristischen Zug, wobei es nach Birnbaum ohne Belang sei, „ob eine tatsächliche (vielleicht irgendwie auf Kulturschädigungen zurückzuführende) Zunahme der Zahl der Psychopathen auch eine solche der psychopathischen Verbrecher“ bedinge, ob „bestimmte kulturelle oder soziale Gegenwartseinflüsse, die komplizierteren Verhältnisse des modernen Gesellschaftslebens ein leichteres und häufigeres soziales Entgleisen“ nach sich zögen oder ob eine vermehrte Aufmerksamkeit gegenüber „diesen pathologischen Naturen“ und eine häufigere Erkennung derselben für die Zunahme verantwortlich sei. Birnbaum verpackt sei-

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ne Kritik an der Moderne in die Klage über einen zunehmenden „Mangel an geistiger Rüstigkeit“, eine „Zunahme von Geisteskrankheiten“ und des „geistigen Angekränkeltseins“; zugleich gibt er eine Erklärung für die Zusammensetzung des „modernen Verbrechertums“, das eben, als Merkmal seiner Modernität, durchsetzt sei mit „‚Neurasthenikern‘, d.h. in unserem Sinne speziell der psychopathischen Grenzzustände“ (Birnbaum 1926: 7). Die Einordnung der Psychopathie in das Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ zeigt dessen analytischen Stärken auf: Es löst, weil unabhängig von den ursächlichen Faktoren die körperlichen, geistigen und sozialen Verhinderungen sein Gegenstand sind, das Problem des Verhältnisses von Anlage und Umwelt auf. Dieses Verhältnis war bereits zeitgenössisch nicht eindeutig bestimmt, zumeist wurde konstatiert, dass im Einzelfall eine klare Abgrenzung des Anteils der Milieueinflüsse kaum möglich sei. Wie differenziert hier die Argumentation verläuft, ohne dass von der Überzeugung einer vorgängigen Verhinderung abgerückt wird, zeigen Birnbaums Bemerkungen zum „biologischen Verbrecherproblem“: Es müssten bei psychopathischen Verbrechern eigentlich exogene Faktoren der Kriminalität gänzlich abzulehnen sein; jedoch brächten es gerade die Eigenschaften „psychopathischer Naturen: so die abnorme psychische Labilität, Zugänglichkeit und Ansprechbarkeit, die mangelhafte innere Festigkeit, die Widerstandslosigkeit gegen Reizeinflüsse aller Art, die pathologische Suggestibilität und ähnliche Wesenszüge […]“ mit sich, dass der Milieufaktor auch für die Untersuchung der Kriminalität der Psychopathen die ihm gebührende Stellung einnehme (Birnbaum 1926: 150). Soziale Verhinderungen psychopathischer Verbrecher könnten auf soziale Mängel, also auf ein „sozial minderwertiges Milieu“, auf das Milieu als „kriminelle Reizquelle“ mit vielfältigen Verführungsmitteln zurückgeführt werden; erst diese Einflüsse machten aus den psychopathisch Veranlagten antisoziale Elemente. „Milieusicherung“, d.h. feste Arbeitsstellen, Familienanschluss, Schutzaufsicht, Aufenthaltsortsbestimmung, wirke dem jedoch entgegen. Die „degenerativ-psychopathische kriminelle Konstitution“ aber, bei der das endogene Moment überwiege, bedinge aus sich heraus und unabhängig von äußeren Einflüssen einen „charakteristischen sozialen Frühverfall“, ferner eine habituelle kriminelle Tendenz und schließlich die durch „mangelnde Straf- und Milieubeeinflußbarkeit gekennzeichnete Unverbesserlichkeit“ (Birnbaum 1926: 153). Dennoch war Birnbaum der Meinung, dass psychopathische Persönlichkeiten – je nach den äußeren Einflüssen ihrer Umgebung – entweder soziale oder antisoziale Tendenzen entwickeln könnten, dass soziale und unsoziale Wesenstendenzen aus der gleichen psychopathischen Konstitution hervorgehen und unmittelbar nebeneinander stehen könnten. In der Konsequenz müsse demnach ein „Manko unserer Betrachtungsweise“, dass der psychopathisch-kriminelle Typus „zu sehr als eine von vornherein bestehende, gewissermaßen feststehende biopathologische Gegebenheit“ betrachtet werde, eingestanden werden; es reiche nicht aus, sich, „wie wir es bei unseren pathologischen Verbrechertypen getan haben und zwecks Herausstellung der 

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typischen Bilder auch tun mussten, mit den äußeren Umreißungen im Einzelfall zu begnügen“; vielmehr müsse man „durch weitgehende Heranziehung der psychodynamischen Anteile das Werden und Gestalten des kriminellen Einzelindividuums in allen seinen Richtungen, die vollständige individuelle Determinierung seiner kriminell-psychopathologischen Eigenart und Äußerungsweisen“ aufdecken (Birnbaum 1926: 158). Es scheint hier eine Vorstellung auf, die auch im Rahmen der theoretischen Grundlegung der Kriminalbiologischen Untersuchung eine Rolle spielte; mehrfach betonte Viernstein, das der „Verbrecher als biologisches Wesen“ zu sehen sei, der nur im Zusammenhang mit seinen Anlagen und seinen Umweltverhältnissen verstanden werden könne. Und der Jurist Hans Klare, der die Akten der Kriminalbiologischen Sammelstelle für seine 1930 publizierte Dissertation verwendete, charakterisierte die Kriminalbiologische Untersuchung als Versuch, erschöpfende Einsicht in „die anthropologischen, erbbiologischen, familienstatistischen, soziologisch-ökonomischen, individual-psychologischpsychiatrischen und kriminologischen Verhältnisse, Anlagen und Eigenschaften“ zu erhalten, eine „gewaltige Anreicherung unseres Wissens“ über den Verbrecher mit dem „Ziel, eine eventuelle Neigung zu kriminellen Taten auf exogene oder endogene Faktoren zurückzuführen“ (Klare 1930: 10). Viernsteins und Klares Positionen stehen im Einklang mit dem Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ und dort mit dem degenerationstheoretischen Bild des minderwertigen Verbrechers, das in diesem das Produkt von Anlage und Umwelt sah. Gleichzeitig gehören weite Teile des Viernsteinschen Theoriegebäudes eben nicht zu diesem Erzählmuster, etwa wenn er meint, das der eigene Resozialisierungswille des Verbrechers im Mittelpunkt der strafhäuslichen Beeinflussung stehe,3 dass gleichsam dessen Gesinnung, die ihn im Bösen verharren lasse oder nicht, dem Verbrecher zur Wahl bereit stünde. Dies nun aber war Kennzeichen des Erzählmusters vom „gefallenen Menschen“, weshalb – wie eingangs angedeutet – der Schluss gezogen werden kann, dass die Kriminalbiologische Untersuchung Anteile beider Erzählmuster in sich vereinigte, auch wenn die Anteile des Erzählmusters vom „verhinderten Menschen“ durchaus dominierten. Kriminalbiologie Kriminalbiologie hier als eigenen Gliederungspunkt neben Kriminalanthropologie und Degenerationstheorie anzuführen, ist einerseits verwirrend, da auch diese Ansätze Kriminalität auf biologische Faktoren zurückführten und in der Bestimmung des Verhältnisses von Anlage und Umwelt bei der Verbrechensentstehung die Aufgabe der Kriminologie sahen. Daran hatte sich auch seit ca. der Mitte der 1920er Jahre, dem Zeitraum, der nun in den Blick

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BHStA, MJu 24261, Denkschrift Viernsteins an das Bayerische Staatsministerium der Justiz, S. 7.

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genommen wird, nichts geändert. Schlüssig erscheint es hingegen aus mehreren Gründen: Zum einen gab es eine terminologische Verschiebung: „The expansion of psychiatric research on the causes of crime was accompanied by a change in terminology. Before the war Aschaffenburg had introduced the term ‚criminal psychology‘, which had gradually replace ‚criminal anthropology‘ as the preferred designation of the field during the prewar period. After the war, ‚criminal psychology‘ gave way to ‚criminal biology‘, which quickly gained wide currency for designating medical research in the causes of crime. Finally, a general awareness that criminal biology formed part of a larger whole was reflected in the increasing use of the term ‚criminology‘ to refer to the larger field including both criminal biology and criminal sociology, although sometimes the term ‚criminal biology‘ was also used to refer to criminology as a whole.“ (Wetzell 2000: 126)

Zum anderen grenzten Kriminalbiologen ihre Disziplin gegenüber den zeitgenössisch als „Kriminalpsychologie“ bezeichneten degenerationstheoretischen Überlegungen ab, indem sie diese als auf die seelische Persönlichkeit des Verbrechers bezogen verstanden, die Kriminalbiologie hingegen auf den Verbrecher als körperliche Person. Zudem gaben sie der Anlagebedingtheit von Kriminalität mehr Raum. Die Kriminalbiologie sei, so der Grazer Kriminalbiologe Adolf Lenz (1868-1959), „die logisch geordnete (systematische) Lehre von der Persönlichkeit des Täters und von seinem Verbrechen als individuellem Erlebnis. […] Sie hat mit der differentiellen Psychologie die Betrachtungsweise gemeinsam, wenn sie sich auch nicht darin erschöpft. […] Da die Kriminalbiologie in der einzelnen Persönlichkeit das Subjekt erblickt, als dessen individuelle Lebensäußerung das Verbrechen gilt, ist sie geschieden von der Kriminalsoziologie, die das menschliche Zusammenleben in seinen verschiedenen kriminogenen Formen betrachtet. Die Umwelt kommt für die Kriminalbiologie nur so weit in Betracht, als sie sich im individuellen Leben widerspiegelt.“ (Lenz 1927: 20)

Orientierung auf die Persönlichkeit des Täters im Sinne einer körperlichen Person, die biologischen, psychischen und (in geringerem Maße) sozialen Faktoren unterliegt, waren somit die Kennzeichen der Kriminalbiologie. Viernstein hatte dafür, wie erwähnt, die Formel vom „Verbrecher als biologischem Wesen“ gefunden und auf die umfassende Erforschung des Verbrechers in seinen körperlichen, seelischen und sozialen Äußerungen gezielt. Weiterhin prägten die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs auch die medizinisch-biologischen Verbrechenserklärungen, die in Reaktion auf dessen sozio-ökonomischen Folgen, nicht zuletzt auf die gestiegenen Kriminalitätsraten, neu profiliert wurden. Die Millionen Tote und Verkrüppelte sowie die Unterversorgung weiter Bevölkerungsteile rückte zudem die Sorge um die Gesundheit und die Größe der deutschen Bevölkerung in den Mittelpunkt. Interpretiert als „Kampf ums Dasein“ schien vor allem den Rassenhygieni

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kern der körperliche und psychische Zustand der Bevölkerung geeignet, diesen Kampf zu verlieren, zumal der Krieg mit seinen angeblichen „kontraselektorischen“ Effekten – dem Verlust so vieler „tauglicher“ Männer – die biologische Waagschale zugunsten der Schwachen und Kranken geneigt habe (so auch Liang 1999: 168f.). In der Folge wurden verstärkt rassenhygienisch Maßnahmen wie die Sterilisation zum Schutz der „Gesundheit“ der Bevölkerung diskutiert. In der Kriminologie entwickelte sich in diesem Zusammenhang aus dem Anlagedenken heraus eine veränderte Akzentuierung: Der kriminalbiologische Diskurs drehte sich bald um erbbiologische Faktoren und eugenische Maßnahmen gegenüber etwa dem Gewohnheitsverbrecher, die dann im „Dritten Reich“ zur vom Regime gewollten dominanten Strömung in der Kriminologie – und umgesetzt – wurden. Eine weitere Folge des Krieges, der von den Zeitgenossen diagnostizierte Niedergang der moralischen Ordnung der Gesellschaft, wurde zum treibenden Moment für die Kriminalbiologie: „A discourse based on the notion of biology […] permitted criminologists to address fundamental concerns about Weimar society. Perceiving moral decline around them, criminalbiologists sought to uphold a bourgeois vision of morality by linking antimoral behavior with biology“ (Liang 1999: 222). Oliver Liang kann schlüssig zeigen, dass die Kriminalbiologen der Vision einer bürgerlichen Moralordnung auf der Basis der Biologie folgten und davon ausgingen, dass nur biologisch „gesunde“ Menschen ein Moralgefühl entwickeln könnten (Liang 1999: 209). Im Umkehrschluss bedeutete dies, dass diejenigen, die nicht in das biologische Moralsystem passten, daraus mit ebenfalls biologischen Mitteln auszuschließen seien – die Vorschläge reichten von unbestimmter Verurteilung im Sinne einer dauerhaften Verwahrung über Sterilisation bis hin zur Todesstrafe (Liang 1999: 219). Vor allem gegen Ende der Weimarer Republik, als diese ohnehin von vielen Seiten wegen ihres liberalen und (in Bezug auf den Umgang mit sozialen Problemen) integrationistischen Charakters angegriffen wurde, kamen im Lager von Kriminologen und Juristen Stimmen auf, die den staatlichen Umgang mit Verbrechern als „verweichlicht“ brandmarkten. Die Kriminalbiologie aber bringe die nötige Härte zurück in die Strafpolitik, da sie nicht, wie etwa die Kriminalpsychologie, den Verbrecher zu verstehen suche und dadurch den Charakter von Strafe aufweiche, sondern der natürlichen Auslese eine strafpolitische Entsprechung gebe. Im kriminalbiologischen Diskurs der Zeit herrschte, trotz inhaltlicher Pluralität und methodischer Heterogenität, dabei folgender Konsens: „Modern penal practice was soft and effeminate and had to be replaced by rigorous identification, treatment, and removal of criminal specimens of the race. This could not be done by more rational, codified penal principles; instead, an elite caste of professionally trained experts should be given the authority to determine […] appropriate sentences for those who had broken the law. The authority to do so would not arise from the social contract, positive law, or any other source of liberal jurisprudence which required democratic consensus and was hence subject to endless renego-

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tiation and corruption; it would be founded on a source as solid as religion had been in the past: biology. Biology identified with certainty the numerous symptoms of modernity – cosmopolitanism, alcoholism, cinematophelia, homosexuality, socialism, atheism, materialism, consumerism, and, to a small degree, Judaism – not as direct causes of criminality, but as biological manifestations of crime itself. The true religion of biology would be a resolute answer to the false ‚cult of the socially inferior‘.“ (Liang 1999: 221)

Innerhalb dieses Konsens richteten die Kriminalbiologen ihren Blick auf verschiedene Aspekte, etwa auf das Verhältnis von Anlage und Umwelt, auf die soziale Diagnostik oder auf eugenische Überlegungen. Diese Themen gilt es im Folgenden kurz vorzustellen. Anlage-Umwelt-Problematik Auch in der kriminalbiologischen Ausrichtung war es weiterhin das zentrale Anliegen der Kriminologie, das Verhältnis von Anlage und Umwelt bei der Verbrechensentstehung zu bestimmen. Und man ging auch weiterhin davon aus, dass diese Bestimmung dazu beitrage, die besserungsfähigen und die unverbesserlichen Verbrecher definieren zu können, um letztere wirksam zu bekämpfen – und mit ihnen eine gesellschaftliche Bedrohung. Der Schutz der Gesellschaft vor dem Rückfalltäter blieb Ziel aller strafpolitischen und wissenschaftlichen Anstrengung, auch mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten, die „Schutz der Gesellschaft“ ideologisch umdeuteten in „Schutz der Volksgemeinschaft“ und diesen Schutz rassenhygienisch – durch Eliminierung der „Gemeinschaftsfremden“: Gewohnheitsverbrecher, „Erbkranke“, Juden – zu erreichen gedachten. Kontinuität ist ohnehin eines der prononciertesten Merkmale des kriminologischen Diskurses. Liang konstatiert: „It is interesting to note how little mainstream criminal biological research changed in substance under the Nazis. Major works on criminal-biology did not lapse into reductionists biological determinism which designated all criminals as biologically defective, nor was criticism of biologism entirely suspended in deference to the notion of the ‚racial state‘.“ (Liang 1999: 271)

Dies gilt zumal in der Frage „Anlage oder Umwelt?“, denn die hegemonialen Konzepte zur Deutung von Verbrechen basierten ja auf der psychiatrisch fundierten Degenerationstheorie, die wiederum in den Diskurs über „Minderwertige“ bzw. „Psychopathen“ weiterentwickelt wurde. Deswegen ist es auch nicht überraschend, dass bei der Profilierung der kriminalbiologischen Themen zunächst der psychiatrisch-medizinische Zugang dominierte, zumal die meisten Diskursteilnehmer dieser frühen Phase Psychiater waren; z. B. Gustav Aschaffenburg, Kurt Schneider, Karl Birnbaum, Johannes Lange, Hans Gruhle (Wetzell 2000: 125-128). Die Kontinuität zeigt sich auch darin, dass an der Vorstellung, dass das Verbrechen zwar Produkt aus Anlage und 

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Umwelt sei, der Anlage aber die entscheidende Rolle zukomme, im Rahmen auch des kriminalbiologischen Diskurses festgehalten wurde. Die Umwelt wirke auf eine in ihren Umrissen gegebene Persönlichkeit (Aschaffenburg 1933: 828), das Verhältnis sei, wie schon angeführt, eines von anlagebedingter Ursache und umweltbedingtem Anlass. Folgerichtig wurde die Untersuchung der erblichen Anlagen in den Mittelpunkt der kriminalbiologischen Forschung gerückt, auch, um zu einer deutlichen Abgrenzung der beiden Faktoren zu gelangen und den jeweils wirksamen Faktor genauer bestimmen zu können. Dies wurde neben der Theoriebildung vor allem auf zwei empirischen Wegen versucht: über genealogische Untersuchungen und über Studien an Zwillingen (Rohden 1933: 24-46). Die genealogische Erfassung der Verwandtschaft eines Verbrechers und die Präsentation der Familienverhältnisse in einer Verwandtschaftstafel standen im Zentrum der empirischen Erforschung des Verhältnisses von Anlage und Umwelt. Einer Stammtafel, die Angaben zu den vier Großeltern, den beiden Eltern und sämtlichen Kindern und Seitenverwandten der einzelnen Familie enthalten solle, ließe sich, so der Kriminalbiologe Friedrich von Rohden, ohne weiteres entnehmen, ob ein Merkmal erblichen Charakter habe. Auf einem zusätzlichen Personalbogen seien anlagerelevante Merkmale zu verzeichnen und alle „normalen, psychopathischen und kriminellen Typen“ zu berücksichtigen. Verschiedene Merkmale gab Rohden vor; so solle notiert werden, ob jemand „brav, ernst, gutherzig“ sei oder eine „böse Klatschbase“, ein „fauler, heiterer Trinker“, „großmannssüchtig“, „leichtsinnig“, „eingesperrt“ usw. Daneben sollten auch die exogenen Verhältnisse wie Erziehung, Beruf, wirtschaftliche und soziale Entwicklung berücksichtigt werden. Mit der Zwillingsforschung habe man dagegen die Möglichkeit, „erbgleiche“ Menschen unter verschiedenen und „erbverschiedene“ Menschen unter gleichen Umweltbedingungen zu erforschen, um das Verhältnis von Anlage und Umwelt genauer zu bestimmen. Man ging grundsätzlich davon aus, dass „erbgleiche“, also eineiige Zwillinge, ähnliche Reaktionsweisen auf die Umwelt zeigten, so dass Unterschiede in den Reaktionsweisen mit Umwelteinflüssen in Verbindung gebracht werden müssten, eine Überstimmung dagegen für die vorwiegend erbliche Natur einer Erscheinung spreche. Zwillingsforscher wie Johannes Lange (1891-1938) behaupteten aufgrund ihrer – auf quantitativ schmaler Basis stehenden – Beobachtungen die starke Rolle der Erbanlage.4 Diese statistischen Methoden, genealogisch nach dem Vorkommen bestimmter, für kriminogen gehaltener Faktoren zu suchen oder über den Vergleich der Lebensentwürfe von Zwillingen empirisches Material zu erhalten,

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Wetzell betont, dass Lange zwar die indirekte Rolle der Disposition zur fehlenden Hemmung gegenüber Umwelteinflüssen einer simplen ‚Kriminalität aus Anlage‘ vorzog; gleichwohl sei diese feinsinnige Unterscheidung in der Rezeption seiner Theorie nicht immer verstanden worden (Wetzell 2000: 161-168).

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verdeutlicht das methodische Dilemma der Kriminalbiologie, nur gleichsam ex post, über das Herstellen signifikanter Beziehungen zwischen Faktoren, denen signifikante Eigenschaften zugeschrieben wurden, dem Problem der „Anlage“ begegnen zu können. Der Begriff „erbliche Belastung“ stellte somit lediglich eine Behauptung dar, die allein durch die Häufigkeit des Vorkommens bestimmter Faktoren ‚gestützt‘ war (vgl. auch Wetzell 2000: 154). Von den eigentlichen genetischen Prozessen hatten die Kriminalbiologen, wie die Biologie der Zeit, keine genaue Vorstellung. Dennoch zogen sie theoretische Schlussfolgerungen aus ihren Beobachtungen (Wetzell 2000: 154f.): Das hohe Aufkommen psychischer Krankheiten im Verwandtenkreis von Verbrechern führte zu der Theorie, dass ein genetischer Zusammenhang zwischen Kriminalität und Geisteskrankheit bestünde, das häufige Vorkommen von Kriminalität auch unter den Verwandten eines Kriminellen zu der Überlegung, es werde eine kriminelle Disposition vererbt, und schließlich die Beobachtung, dass psychopathische Eigenschaften im Stamm von Kriminellen gehäuft auftraten, zu der Theorie, dass die ererbten Defizite zu kriminellem Verhalten beitrügen. Die beiden ersten Vorstellungen einer direkten Vererbung krimineller Eigenschaften wurden bald verworfen, doch die dritte Theorie, dass die Anlage eine indirekte Rolle bei der Verbrechensentstehung spiele, indem eine ererbte Minderwertigkeit die Ausbildung der Widerstandskraft gegen äußere Einflüsse verhindere, blieb, wie aus der vorangegangenen Darstellung kriminologischer Theorien deutlich geworden ist, virulent – Anlage als Ursache, Umwelt als Anlass. Wenn aber die Disposition in Form einer minderwertigen Anlage einen Menschen nicht befähige, eine ausreichende Widerstandskraft gegenüber den Einflüssen der Umwelt zu entwickeln, dann war es aus dieser Sicht folgerichtig, die Besserungsfähigkeit des zum Verbrechen disponierten Menschen in Frage zu stellen und ihn als „unverbesserlich“ zu etikettieren (Liang 1999: 191). Die Tendenz zeigte in Richtung einer Ausweitung des Anteils der vermeintlich unverbesserlichen Straftäter – die Schätzungen Viernsteins, dass doch mehr Strafgefangene (etwa sechzig Prozent) zu dieser Kategorie zu zählen seien (Viernstein 1927: 35), sind hierfür Beleg. Soziale Prognose In der sozialen Prognostik, der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit zukünftiger Kriminalität, wechselte die Stimmung dementsprechend von optimistisch zu pessimistisch: Die Anfang der 1920er Jahre in Kreisen der Kriminologie und des Strafvollzugs gehegte Hoffnung, einen Großteil der Verbrecher durch den pädagogischen Stufenstrafvollzug bessern zu können, wich gegen Ende der 1920er der Überzeugung, dass dies nicht gelungen sei. Dies aber wurde nur selten der mangelnden Wirksamkeit des Strafvollzugs bei der Besserung von Gefangenen angelastet; vielmehr wurde die Verantwortlichkeit hierfür in die Konstitution und damit in die Entscheidungs-



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reichweite des Verbrechers verlegt: „hereditary factors were ultimately the responsibility and burden of the individual“ (Liang 1999: 208). Diese Vorstellung zeigt sich auch in der Definition von exogenen und endogenen Verbrechen bei Lenz: Das endogene Verbrechen erhalte seinen „Reizursprung“ überwiegend aus der „Innenwelt“ des Individuums; die Anreize der Triebe gäben den Auftakt zu einem seelischen Ablauf, der zum Verbrechen führe. Dabei müssten die inneren Antriebe zur Tat „nicht bloß t r i e b m ä ß i g , d.h. ohne Kampf aus der Anlage entspringen, sie können auch w i l l e n s m ä ß i g sein, so daß die Entäußerung erst nach einem Kampfe der Antriebe und Hemmungen durch E n t s c h e i d u n g der Persönlichkeit erfolgt“ (Lenz 1927: 107). Lenz ging also davon aus, dass nicht ein reiner, konstitutionsbedingter „Trieb“ zu einer Tat führe, sondern dass durchaus auch eine bewusste Entscheidung zur kriminellen Tat vorliegen könne, zumal nach Lenz das zweite Merkmal des „Innenweltverbrechens“ darin bestehe, dass die Anlage – gleichsam die inneren Reize – im Vergleich zu den äußeren Reizen die höhere Wirkungskraft besitze: „Es besteht eine g e s t e i g e r t e Bereitschaft zur Antwort auf derartige Reize; sie kann sogar in ein S u c h e n nach Reizen solcher Art übergehen. […] Die Überwertigkeit der Antriebe führt dazu, daß sich die Umwelt nur als M a t e r i a l für die innere Triebkraft darstellt“ (Lenz 1927: 107f.). Das endogene Verbrechen sei demnach die auf ererbten Neigungen basierende inadäquate Antwort auf den Reiz der Innenwelt. Dass Lenz hier das Werturteil der ‚Adäquatheit‘ anführte, verweist auf die zugrunde liegende Vorstellung, dass die ererbte Innenwelt, die Reize zur Begehung einer Tat liefert, nicht allein ausschlaggebend sei dafür, ob jemand Verbrecher wird oder nicht; dieser Moment komme der „Entscheidung der Persönlichkeit“ zu, die somit verantwortlich gemacht werden kann für ihre Taten, für ihre strafrechtlich und moralisch unzureichende Entscheidung. Beim exogenen Verbrechen hingegen komme der Ursprung des Reizes, der im Organismus eine Antwort auslöse und deren Form bestimme, aus der Umwelt; äußere Einflüsse hätten hier die höhere Wirkungskraft. Je nach Stärke des Reizes trete eine durch einen geminderten oder ganz ausgeschalteten Einfluss der Persönlichkeit gekennzeichnete Antwort auf: die Stärke des Reizes kann dabei so hoch sein, dass die Reaktion, auch wenn sie sich in einer strafrechtlich relevanten Tat äußert, schuldmildernd oder sogar -ausschließend sein kann – eine Affekttat also (Lenz 1927: 120-122). Das exogene Verbrechen, das Folge eines Umweltreizes ist, erscheint in dieser Argumentation als das Verbrechen, bei dem eben gerade keine Kontrolle durch den Täter anzunehmen ist, während das endogene Verbrechen, gekennzeichnet durch ein triebmäßiges, aber auch willentliches Nachgeben gegenüber inneren Reizen, dem Verbrecher durchaus Kontrolle zuspricht – nämlich darüber, auf die inneren Reize mit einer „adäquaten“ Antwort zu reagieren oder eben nicht. Damit konstruiert Lenz eine Form der Verantwortlichkeit des Straftäters für seine Persistenz im Bösen, die einerseits mit den Ansätzen aus dem Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“ korrespondiert, die ja ebenfalls eine Entscheidung, ba-

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sierend auf einer verderbten Gesinnung, als Ursprung kriminellen Handelns annahmen. Andererseits erlaubt es diese Konstruktion, im anlage- oder gesinnungsbedingten „verhinderten Menschen“ dennoch den schuld- und damit straffähigen Straftäter zu sehen. Es scheint der Schlüsselbegriff der „Adäquatheit“ der Antwort auf den inneren oder den äußeren Reiz zu sein, der die entscheidende Rolle beim Blick auf den Verbrecher, vor allem hinsichtlich der sozialen Prognostik, spielt, denn die kriminalbiologische soziale Prognostik beruhte allein auf der Unterscheidung von Straftätern in „besserungsfähige“ und „unverbesserliche Verbrecher“. Theodor Viernstein definierte, dass der Verbrecher „verbesserlich“ sei, wenn er von sich selbst aus oder durch bestimmte äußere Einwirkungen zur Wiederanerkennung der Berechtigung der im Strafgesetze geschützten Gemeinwesensnormen komme und dieser Einsicht entsprechend sein Leben einrichte, mindestens einzurichten bestrebt sei, dass er dagegen „unverbesserlich“ sei, wenn er von sich selbst aus oder trotz äußerer Einwirkungen nicht zur Wiederanerkennung der Gemeinwesensforderungen komme, bzw. nicht gebracht werden könne, sondern in der verbrecherischen Laufbahn verharre (Lenz 1927: 34). Viernstein versicherte sogleich, dass „wir als Biologen“ mit diesen beiden Definitionen kein moralisch-ethisches Werturteil verbänden, sondern nur eine aufgrund der Betrachtung der Gesamtpersönlichkeit anzunehmende Wahrscheinlichkeit des späteren sozialen Verhaltens feststellten. Da aber die Besserungsfähigkeit respektive die Unverbesserlichkeit an die Anerkennung der Rechtsgüter gebunden sei und somit an eine gesellschaftlich gesetzte Norm, und diese Anerkennung bzw. Nicht-Anerkennung wiederum an die (gesellschaftliche) Verantwortlichkeit des Individuums, darf Viernsteins Behauptung, diese Definitionen manifestierten kein moralisch-ethisches Werturteil, als Versuch gewertet werden, eben dieses moralische Werturteil mit Wissenschaftlichkeit zu bemänteln. Zumal Viernstein seine Behauptungen mit empirischem Material aus seiner Kriminalbiologischen Untersuchung zu stützen suchte: Von den von ihm selbst untersuchten Gefangenen seien etwa bei den Eigentumsdelikten 25 Prozent unverbesserlich und immerhin 29 Prozent fraglich in der Prognose (Viernstein 1927: 47). Unverbesserlich meinte nicht, dass der Strafvollzug in seiner vermuteten bessernden Wirkung hinterfragt wurde, sondern dass die Gefangenen von sich selbst aus und trotz äußerer pädagogischer Einwirkungen nicht zur Wiederanerkennung der Gemeinwesensforderungen kämen und in der verbrecherischen Haltung verharrten. Als „unbedingt unverbesserlich“ seien demnach „diejenigen, zahlenmäßig sicher wenigen Rechtsbrecher“ zu betrachten, „die den endogen präformiert unsozialen Typ darstellen“ – „eine pathologische Varietät auf degenerativer Basis“ (Viernstein 1927: 28) –, als „bedingt unverbesserlich“ hingegen, „weil im nicht änderbaren praktischen Leben stets wieder versagend, wird man eine bestimmte Gruppe von Psychopathen bezeichnen dürfen, die durch Mangel an sittlichen Hemmungen, z. B. auf seniler Grundlage oder durch Willensschwäche, mit



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einer gewissen Notwendigkeit immer wieder und trotz vielleicht bester Vorsätze im gegebenen Augenblick die Anpassung an die Gemeinschaftsforderungen vermissen lassen.“ (Viernstein 1927: 53)

Die Prognose auf Besserungsfähigkeit hing also davon ab, wie hoch der Anteil der Endogenität des Verbrechens bei seiner Entstehung war: je geringer, desto höher die Chance auf Besserung, je größer, desto wahrscheinlicher war die Prognose auf Unverbesserlichkeit. Eugenische Maßnahmen Wie Imanuel Baumann festhält (Baumann 2006: 75-79), bereitete die angebliche „Erfolglosigkeit“ herkömmlicher Erziehungsmethoden auch im Strafvollzug den Boden für die zunehmende Akzeptanz radikalerer Lösungsoptionen: für die Diskussion eugenischer Maßnahmen. Die radikalisierte Diskussion entwickelte sich in Deutschland entlang gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Extremsituationen, ein erstes Mal, wie schon angedeutet, vor dem Hintergrund der Weltkriegs- und Inflationserfahrungen und der Befürchtung, durch den Aderlass der vielen „tauglichen“ Männer auf dem Weg zum biologischen Untergang zu sein, und ein weiteres Mal vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung gegen Ende der Weimarer Republik, als das Krisenbewusstsein der Sozialpraktiker vor dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise und knapper Kassen zugenommen hatte. Anlagemäßige bedingte Verbrecher sollten durch Sterilisation an der Fortpflanzung gehindert werden, damit sie ihre vermeintlichen kriminellen Anlagen nicht weitergeben können, wodurch auch die Verbrecherpopulation reduziert werden sollte (Müller 2004: 150). Rassenhygienisches Denken bzw. eugenische Maßnahmen nicht nur im Hinblick auf die ‚Normalbevölkerung‘, sondern auch im Zusammenhang mit Kriminalität zu diskutieren, ergab sich, neben dem zumindest diskursiven Erfolg der Eugenik, aus der kriminalbiologischen Theoriebildung und wurde als kriminalpolitisches Instrumentarium verstanden – auch wenn es zunächst noch eine Außenseiterrolle spielte. Es war dann jedoch eines der ersten Gesetze, das die Nationalsozialisten erließen, das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ vom 24. November 1933, mit dem die Strafschärfung für Gewohnheitsverbrecher sowie die Sicherungsverwahrung kodifiziert wurde. Insofern stellte das Jahr 1933 mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten einerseits keine Zäsur dar, andererseits natürlich schon: Einerseits erscheint das Gesetz als Verwirklichung älterer Reformgedanken, andererseits wird hierin die „Verformung“ (Christian Müller) der Normalität unter der NS-Herrschaft deutlich, zumal das Gesetz den Richtern einen sehr großen Ermessensspielraum ließ, wer „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ war und den diese auch nutzten. Ein vollständiger Bruch mit den Reformtraditionen seit dem Kaiserreich erfolgte, so Müller, „erst während des Zweiten Weltkriegs, als die durch das Gewohnheitsver-

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brechergesetz erfaßten Personengruppen in die rassenhygienisch begründete Vernichtungspolitik einbezogen wurden“ (Müller 2007: 100). Hier ist nicht der Ort, die Kriminologie im „Dritten Reich“ darzustellen, zumal der eigentliche Gegenstand der vorliegenden Arbeit, die Kriminalbiologische Untersuchung, nach 1927 keine inhaltlichen Veränderungen erfuhr. Ihre Praxis während der Zeit des Nationalsozialimus hingegen wird uns jedoch zu beschäftigen haben. Deshalb sollen hier abschließend lediglich die Schlussfolgerungen Richard Wetzells zusammengefasst wiedergegeben werden, um einen Eindruck von der Kriminologie im „Dritten Reich“ zu geben. Die Haltung der Nationalsozialisten gegenüber der Kriminologie war zunächst ambivalent: Einerseits misstrauten sie einer Wissenschaft, die versuchte, die Persönlichkeit eines Verbrechers zu ‚verstehen‘, da dies die Vorstellung von der Verantwortlichkeit des Verbrechers für seine Taten untergraben und zu nachsichtigeren Urteilen geführt habe; andererseits lag die erbbiologische und zum Teil deutlich rassenhygienische Sichtweise der stärksten Strömung innerhalb der Kriminologie, der Kriminalbiologie, ganz auf der Linie der nationalsozialistischen Ideologie, so dass sie sich der kriminalbiologischen Forschung stark näherten (Wetzell 2000: 179f.). Führende Kriminologen, unter anderem auch Aschaffenburg, Lenz und Viernstein, versuchten daraufhin, die Kriminologie den neuen Machthabern nahe zu bringen, was bis Mitte der 1930er Jahre durchaus erfolgreich gelungen war: Nicht nur erlangte die Kriminalbiologie breiteste Unterstützung, 1937 wurde zudem, wie schon erwähnt, der Kriminalbiologische Dienst, der auf der bayerischen Untersuchungspraxis basierte, reichsweit eingeführt (Wetzell 2000: 180-184). Dennoch war die Kriminologie im „Dritten Reich“ durchaus „characterized by a continuing process of increasing methodological sophistication“, und nicht ausschließlich dominiert von erbbiologischen und rassistischen Deutungsmustern (Wetzell 2000: 230). Bei der Suche nach den erblichen Faktoren für Kriminalität mussten etwa der Psychiater Friedrich Stumpfl (1902-1994), aber auch andere Kriminologen die Komplexität im Verhältnis von Anlage und Umwelt anerkennen. Kriminalsoziologie Richard Wetzell hat zudem die Beobachtung stark gemacht, dass die Kriminologie in der Weimarer Zeit und im „Dritten Reich“ nicht ausschließlich durch die kriminalbiologische Strömung bestimmt war. Sie dominierte zweifellos und verdrängte kriminalpsychologische oder -soziologische Ansätze, die jedoch, wenn auch randständig, durchaus weiterbestanden. Ein Höhepunkt kriminalsoziologischer Argumentation stellte die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen infolge des Ersten Weltkriegs und der Inflation und mit dem damit zusammenhängenden Anstieg der Kriminalität dar, die wichtige Argumente für eine stärkere Berücksichtigung sozialer Ursachen von Verbrechen lieferten (Wetzell 2000: 107). 

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Die Kriminalität der Kriegs- und Nachkriegszeit war eine der deutlichsten sozialen Folgen des Ersten Weltkriegs in Deutschland. Hier kam dem Krieg, vergleichbar vielleicht mit der Industrialisierungsphase gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als eine Art ‚zweiter sozialer Strukturwandel‘ erhebliche Bedeutung zu. Dass infolge des Ersten Weltkrieges und der Nachkriegszeit die Kriminalität allgemein anstieg, ist unmittelbar einsichtig. Diese Feststellung erschließt sich zudem durch einen Blick auf die Verbrechensstatistik der fraglichen Jahre (Wetzell 2000: 110-112): Besonders die Ziffern der Eigentumsdelikte nahmen zu; eine offensichtliche Folge, so interpretierten schon die Zeitgenossen, der dramatischen wirtschaftlichen Situation. Dagegen sank die Zahl der Körperverletzungen; zugeschrieben der Unterernährung und dem Rückgang des Alkoholgenusses. Allerdings stieg die Zahl der Morde; eine scheinbare Folge, so wollte es den Zeitgenossen scheinen, der Enthemmung, der Brutalisierung und Radikalisierung der Gesellschaft durch die Kriegs- und Nachkriegserfahrung. Eine Differenzierung dieser Gesamttendenzen nach Deliktgruppen erhellt – unter Berücksichtigung der notorischen Fehlerquellen von Kriminalitätsstatistiken – den ‚typischen‘ Verlauf der Kriegskriminalität während und nach dem Krieg. Der Diebstahl war das Verbrechen der Kriegs- und Nachkriegszeit; die Zahlen lagen 1923 gegenüber dem Vorkriegswert in Deutschland dreimal so hoch. Ein Rückgang trat erst mit der beginnenden Stabilisierung der Republik nach der Inflation ab 1923 ein. Den gleichen Verlauf zeigt – folgerichtig – die Hehlerei, während Betrug genau die spiegelbildliche Entwicklung nahm: Sachwerte waren gefragt, während die Inflation Delikte gegen das Vermögen wenig attraktiv erscheinen ließ. Körperverletzung und Sittlichkeitsdelikte sanken im Krieg und bis 1919 auf einen Tiefstand herab, um danach einen um 50 Prozent höheren konstanten Wert zu erreichen. Die Zahlen für Mord wiederum sanken im Krieg und verdreifachten sich danach. Übereinstimmend wurden für den dramatischen Anstieg der Diebstähle und der Hehlerei die wirtschaftlichen Verhältnisse der Zeit angeführt. Not, Warenknappheit und eine „seelische Haltlosigkeit“ als Folge der zum Teil verzweifelten Situation habe, so die zeitgenössische Deutung, eine Lockerung der Hemmungen zu stehlen mit sich gebracht. Volker Seitz betont darüber hinaus, dass viele oftmals einfach bewusst Unrecht begingen, weil sie glaubten, ein gutes Recht dazu zu haben, das Recht der „Überlebensnotwehr“ (Seitz 1989: 58). Der Hamburger Strafrechtler und Kriminologie Moritz Liepmann (1869-1928) dazu: „Wieder drängte die Not zu einem erneuten, alles Bisherige übersteigenden grotesken Sprung der Eigentumsdelikte – die eigene Not als unmittelbares Verbrechensmotiv und mehr noch als Beseitigung der Hemmungen, seit mit der Preisgabe der unbescholtenen bürgerlichen Existenz nur Sorgen und Einschränkungen verloren zu sein schienen, und die Not der anderen als verlockende Gelegenheit. Jeder Punkt, um den die Mark fiel, steigerte die Antriebe zur Unredlichkeit.“ (Liepmann 1930: 71)

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„Kriegskriminalität“, so auch der Strafrechtler Franz Exner (1881-1947), „ist wirtschaftliche Kriminalität“ (Exner 1926: 88). Der Anstieg der Mordrate nach einem anfänglichen Absinken dagegen war offensichtlich nicht mehr einfach mit der wirtschaftlichen Mangelsituation zu erklären. Hier griffen individual- und sozialpsychologische Deutungen – allerdings mit zum Teil vorsichtiger Zurückhaltung. Für Liepmann war es „zu banal zu sagen, hier liege eine typische Kriminalität der Kriegsteilnehmer vor, die Gewöhnung des Kriegsdienstes dränge hier in kriminelle Betätigungsformen. Aber im Grund wissen wir außerordentlich wenig über diese Zusammenhänge“ (Liepmann 1930: 37). Angeführt wurden in diesem Zusammenhang Mechanisierung und Technisierung des Krieges, Zermürbung, mangelnde Verantwortung für die Tötung eines Menschen aufgrund des massenhaften Sterbens, eine zur Lebensform gewordene Todesgefahr, die ein „Eintagsgefühl“ mit sich brachte, abgestumpftes Gefühl für den Wert fremden Lebens, Erschütterung des Rechtsbewusstseins und der „Unverletztlichkeit“ der Gesetze, Alltäglichkeit der Todesnachrichten und Verlust von Familienangehörigen, sittlicher Verfall, Enttäuschung über den Kriegsausgang, Umwertung der Werte, Hass und Gereiztheit in der Nachkriegszeit, betonte Generationengegensätze, die verwirrten politischen Verhältnisse, mangelnde staatliche Autorität, Idealisierung der heroischen Tat. Dazu „kam noch der Anblick tausendfacher ungesühnt gebliebener Gesetzwidrigkeiten, mag es sich um Eingriffe in die fremde Eigentumssphäre, um rohe Gewalt oder um die täglichen Wirtschaftsdelikte gehandelt haben. Da mußte die Vorstellung von der Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung verloren gehen. Man gewöhnte sich daran, Gesetze zu übertreten und zu sehen, wie die anständigen Leute das Gleiche taten.“ (Seitz 1989: 60)

Diese „seelische Nachwirkung“ des Krieges – so wurde geschlossen – gelte nicht nur für die unmittelbaren Kriegsteilnehmer. Es wurde bereits von Zeitgenossen eine spezifische Kriegserfahrung als Erklärung dieses Sachverhalts angeführt: Wie anders sollte die Verdopplung der von Frauen nach dem Krieg begangenen Morde gedeutet werden als durch eine allgemeine Kriegserfahrung, die eine Verrohung und Brutalisierung weiter Bevölkerungsteile mit sich brachte (Wetzell 2000: 112f.)? Einfacher zu erklären waren zwei weitere kriegsbedingte Sachverhalte: Zum einen änderte sich vor allem das Verhältnis zwischen Erstkriminellen und Rückfalltätern: Die Ziffern für die Erstkriminalität stiegen dramatisch an, was angesichts des sozioökonomischen Hintergrundes der Kriegskriminalität kaum der Erklärung bedarf. Zum anderen fand unter den ‚Daheimgebliebenen‘ eine Verschiebung im Anteil der Bevölkerungsgruppen statt; die Kriminalität der Frauen und vor allem die der Jugendlichen stieg erheblich an. Der Anteil von jugendlichen Straftätern an der Gesamtkriminalität stieg in 1917 von 10 auf 30 Prozent. Liepmann und Exner erklärten diesen Anstieg mit Unterernährung, der Abwesenheit der Väter und die der arbeitenden Mütter, der Auflö

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sung geregelten Schulunterrichts und der unbeaufsichtigten Fabrikarbeit anstelle einer Ausbildung. Ein Effekt dieser Umstände war auch die Zunahme des Grades an Verwahrlosung, den beide aber weniger als moralisches Defizit denn als soziales Phänomen verstanden (Wetzell 2000: 113). Kaum ein Wort fällt im Zusammenhang mit der Deutung der Kriegsund Nachkriegskriminalität über die individuelle, in der biologisch-psychischen Konstitution des Täters liegende Motivation zum Verbrechen im Krieg, wie es die Hegemonialität des kriminalbiologischen Ansatzes vielleicht nahelegen würde. Nur vereinzelt findet sich in der kriminologischen Debatte der Zeit eine Aussage wie die folgende von Rudolf Michel, Arzt am gerichtsmedizinischen Institut in Graz, aus dem Jahr 1925: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß intellektuell und ethisch Tiefstehende sich den vollkommen veränderten Verhältnissen im Kriege oft nicht anzupassen verstanden. Was die Gesetze verboten und bestraften, wurde jetzt zur Pflicht gemacht oder geduldet, die sittlichen Begriffe sanken bei vielen, latente verbrecherische Triebe wurden frei. [...] Sterben und Verderben ringsum wirkten abstumpfend, besonders bei Psychopathen, bei denen eine gewisse Bereitschaft zur Depravation von Haus aus bestand; bei Vollwertigen kann davon gewiß nicht die Rede sein, denn sonst müßten Millionen verkommen sein. Viele, die vor dem Kriege unter den festen Verhältnissen der Ordnung und Arbeit sich tadellos geführt hatten, wurden kriminell; gewiß haben aber nachteiliger als der Krieg noch die ungewissen, schwankenden wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse der Nachkriegszeit zur Zunahme der Kriminalität beigetragen. Psychopathen haben, wie immer in bewegten Zeiten, in vielen Fällen Oberwasser bekommen und die Konjunktur benützt, auch wenn es nur im Wege des Verbrechens möglich war.“ (Michel 1925: 253)

Diese Aussage ist beispielhaft für den Diskurs über Kriegskriminalität: eine eigenartige Mischung aus der Unterstellung persönlicher Verantwortlichkeit und dem Ausgeliefertsein der großen sozialen Umwälzungen – der Verbrecher als Täter und Opfer zugleich. Das scheint naheliegend, da die Kriminalstatistik die Trends der Verbrechensentwicklung vor, während und nach dem Krieg erkennen ließ – ein starker Einfluss der wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse auf diese Entwicklung war unübersehbar. Demnach blieb eigentlich kein Raum für eine andere Deutung der Verhältnisse als eine soziologische; zumal der Krieg und damit die Kriegserlebnisse und -erfahrungen naturgemäß gerade nicht in der Verantwortung des Einzelnen lagen. Mit Bezug auf die Kriegs- und Nachkriegskriminalität lässt sich also beobachten, dass die Kriminalsoziologie nicht nur die sozialen Bewegungen von Kriminalität verzeichnete, sondern aufgrund der aus der Statistik gewonnenen Erkenntnisse zunehmend imstande war, auch soziologische Begründungen für diese Art der Kriminalität zu liefern. Nimmt man dagegen die kriminologischen Deutungen hinsichtlich einzelner Verbrecherbilder in den Blick, dann verschwimmt dieser eindeutige Fokus auf die sozioökonomischen Kriminalitätsfaktoren, und die biologisch-psychische Konsti-

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tution eines Menschen im Sinne einer mangelnden Anpassungsfähigkeit an bzw. Widerstandskraft gegen ungünstige Verhältnisse gewann an Erklärungsrelevanz. Die kriminalbiologische Trennung zwischen besserungsfähigen und unverbesserlichen Verbrechern beruhte auf der Überzeugung, dass die immer wieder rückfällig werdenden Gewohnheitsverbrecher von ihren Taten entweder nicht lassen konnten – aufgrund eines biologisch-psychischen Hanges zum Verbrechen – oder nicht lassen wollten – aufgrund eines unterstellten sozial-moralischen Defekts. Einfluss auf die Verbrechensentstehung hatte demnach allein die Persönlichkeit des Täters; soziale Faktoren blieben dagegen außen vor. Anders verhielt es sich mit der Kriminalität der Kriegs- und Nachkriegszeit. Viele – dramatisch viele – zuvor unbescholtene Bürger wurden jetzt kriminell, und ihre nachfolgende Rückfälligkeit beruhte auf denselben Konstellationen wie ihre erste Tat: auf den sozial-ökonomischen Folgen des Krieges, und nicht auf einer etwaigen kriminogenen Disposition ihrer Persönlichkeit. Für die Kriminologen stellte dieser Sachverhalt einen deutlichen Erfahrungsbruch dar. Hatte zuvor die Verantwortlichkeit für eine Tat gleichsam ‚bequem‘ und ‚weit entfernt‘ in der Person des Täters, des Gewohnheitsverbrechers, in der „sozialen Krankheitserscheinung Unterwelt“ gelegen, über die es sich leicht moralisch erheben ließ, so brach sich jetzt die Erkenntnis Bahn: „Es gibt keine verwahrlosten Menschen, es gibt nur verwahrloste Verhältnisse“; mit „pharisäerhaftem moralisierendem Aburteilen“ komme man nicht weiter (Liepmann 1930: 5). Für die Zeit des Ersten Weltkrieges kann thesenhaft festgehalten werden: Eine biologistische Reaktion auf die soziologischen Erkenntnisse der Kriminalstatistik ist in diesem reinen Sinne nicht zu beobachten. Es scheint vielmehr, dass der Krieg als die Ausnahme, die Sondersituation, betrachtet wurde, für die sozial-wirtschaftliche Erklärungen der Verbrechensentstehung die zuvor vorherrschenden biologischen Erklärungen dominierten. Doch die Entwicklung machte an diesem Punkt nicht halt. Bereits in der Nachkriegszeit, besonders aber in der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik, setzte erneut der Rekurs auf biologistische Deutungen von Kriminalität ein. Hintergrund scheint eine kontrafaktische Wahrnehmung der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung zu sein: Zwar sank, nach einem kurzen Anstieg, die Kriminalitätsrate schon um 1923/1924 wieder auf die Rate der Vorkriegszeit, da aber die Statistik mit dreijähriger Verzögerung veröffentlicht wurde, erreichte dies erst 1927 die Öffentlichkeit (Müller 2004: 175179). Angesichts vermeintlich kaum sinkender Rückfallzahlen auch nach der Inflation setzten die biologistischen Kriminalitätserklärungen also erneut ein. Jetzt, wo die Ausnahmesituation Weltkrieg nicht mehr bestand, nahm man aus Sicht der Kriminalbiologen wieder die ‚normale‘ Kriminalität in den Blick. Und die offenbarte: Das Zustandsverbrechertum bliebe konstant. Das ließ vordergründig nur einen Schluss zu: Unbescholtene Bürger wurden eben in normalen Zeiten nicht kriminell, wie sie es in der Sondersituation des Krieges geworden waren, sondern nur noch diejenigen Menschen, die nicht dieser Sondersituation bedurften: Menschen mit einer kriminogenen 

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Disposition – sei diese sozial bedingt oder biologisch-psychisch. Terminologisch und konzeptionell änderte sich also gegenüber der Vorkriegskriminologie wenig. Es stellt sich die Frage, ob hierin eine gleichsam verspätet nachwirkende Kriegserfahrung zu sehen ist, ob also die Ausweitung sozialselektionistischer Vorstellungen eine schleichende ‚Brutalisierung‘ im Denken über Kriminalität spiegelte? Oder ist hierin ein Ausdruck derselben moralischen Erhebung über den abweichenden Menschen zu sehen ist, die bereits der Vorkriegskriminologie eigen war? Dazu noch einmal Liepmann: „Moralische Entrüstung verliert gegenüber dieser Erkenntnis [des ungeheuren Einflusses des Krieges auf die Kriminalität, Th. K.] ebenso ihren Sinn wie der unbeherrschte Schrei triebhafter Vergeltung. [...] Daß der Krieg nicht bloß bei den Jugendlichen ein großes Maß an ‚Verwilderung und Verwahrlosung‘ hervorgerufen oder gefördert hat, ist unbestreitbar. Aber diese Tatsache gibt uns kein Recht zu Verdammungs- und Entrüstungswerturteilen. [...] Der gefährlichste Feind für den wissenschaftlichen und praktischen Fortschritt in der Erkenntnis und Bekämpfung der Kriminalität ist das ethische Mißachtungsurteil über den Rechtsbrecher. Immer nur gefühlsmäßig, niemals exakt wissenschaftlich, lenkt ein solches Urteil in durchaus dilettantischer, subjektivistischer und praktisch gefährlicher Art von Feststellungen ab, auf die es allein für die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität ankommt: von Feststellungen kausaler Art.“ (Liepmann 1930: 165; kursiv im Original)

AUSNAHMESTANDARDS : V ERBRECHERTYPOLOGIEN Stellt man dieser kriminalsoziologisch fundierten Aussage Liepmanns über die Kausalität von Verbrechensursachen jene von Aschaffenburg zur Seite, der konstatierte, bei den Gründen für Kriminalität – seien es endogene, seien es exogene – nur vermuten, nicht aber mit Bestimmtheit wissen zu können, offenbart sich die Schwierigkeit der kriminologischen Theorien gleich welcher Provenienz, auf dem Boden einer Theorie von der biologisch-sozialen „Vererbung“ von Kriminalität zu einer wirklichen Erklärung der Ursachen von Verbrechen zu kommen und gleichzeitig die Vorstellung von der Andersartigkeit des Verbrechers aufrecht zu erhalten; zu vielfältig scheinen die kriminogenen Faktoren zu sein, zu vielgestaltig die biologischen und die lebensweltlichen Zusammenhänge. Es verwundert daher nicht, dass die Kriminologie dieser Zeit bestrebt war, zu einer „Komplexitätsreduktion“ (Galassi 2004: 351) der Beschreibungsebene zu kommen, ein handliches Klassifikationssystem in Form einer brauchbaren Tätertypologie zu finden. Denn der „Kampf gegen das Verbrechertum“ müsse sich gegen die Person des Rechtsbrechers richten, und trotz der Schwierigkeit, die Vielgestaltigkeit menschlicher Erscheinungsformen in ein Schema zu pressen, sei der Versuch einer Einteilung der Verbrecher in Gruppen „aus praktischen Gründen“ nötig – wenngleich die Einteilung nicht mehr als ein Leitfaden sein solle und dürfe (Aschaffenburg 1923: 227). Der eigentliche Hintergrund von Tä-

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tertypologien war demnach die strafpolitische Überlegung, nicht mehr die Tat als Maßstab der Strafe zu nehmen, sondern den Täter, genauer gesagt, die „Gefährlichkeit“ des Täters, die Wahrscheinlichkeit also, mit der jemand auch in Zukunft Verbrechen begeht. Gemeint war damit im Übrigen die Gefährdung der Rechtssicherheit, „die aus der Veranlagung des Verbrechers, nicht aus der oft durch den Zufall der Begleitumstände bestimmten objektiven Schwere der Straftat entspringt“ (Aschaffenburg 1923: 231). Doch sollte der Täter tatsächlich Maßstab der Strafe sein, so war es nötig, noch mehr und differenzierteres Wissen über die Hintergründe zu erhalten, warum wer welche Art von Verbrechen begeht; in letzter Konsequenz also sollte eine Einteilung der Verbrecherpersönlichkeiten die Strafpolitik in Stand setzen, die Strafzwecke Besserung und Unschädlichmachung effektiv und orientiert an der Persönlichkeit des Täters auszurichten. „Die Einteilung der Verbrecher in eine überschaubare Anzahl von Typen und die gesetzliche Festsetzung bestimmter Strafformen für jeden einzelnen Typus“ habe, so Silviana Galassi, den Vorteil geboten, „sowohl hinreichend allgemein zu sein, um jeweils eine Vielzahl individueller Fälle zu erfassen, als auch hinreichend spezifisch, um den jeweiligen Verbrechensursachen im Einzelfall zumindest annäherungsweise Rechnung zu tragen“ (Galassi 2004: 351). Diese Vorteile waren geeignet, eine große Zahl von Tätertypologien entstehen zu lassen, die in ihrer Breite hier nicht darzustellen ist (Metelmann 1928; zur kriminal- und strafpolitischen Rolle der Typologien: Galassi 2004: 351-360). Es soll daher nur die Tätertypologie von Gustav Aschaffenburg näher betrachtet werden, um anhand dieses Beispiels wissenshistorische Aspekte anzureißen. Aschaffenburg modifizierte die Einteilung der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV) von 1897 und unterschied, differenzierter, „Zufallsverbrecher“, „Affektverbrecher“, „Gelegenheitsverbrecher“, „Vorbedachtsverbrecher“, „Rückfallsverbrecher“, „Gewohnheitsverbrecher“ und „Berufsverbrecher“ (Aschaffenburg 1923: 231238; dort auch alle folgenden Zitate), wobei eine graduelle Zunahme der Gefährlichkeit der Typen feststellbar sei. Als „Zufallsverbrecher“ bezeichnete Aschaffenburg einen Straffälligen, der durch Fahrlässigkeit eine Gesetzesverletzung begehe. Ihm fehle wie dem „Affektverbrecher“ die Schädigungsabsicht; der Affekt sei vielmehr – als eine augenblickliche Aufwallung der Leidenschaft – psychologisch erklärlich und entschuldbar. Als „typisches Beispiel“ für einen Affektverbrecher gelte „der von dem Gatten, der seine Frau beim Ehebruch überrascht, ausgeübte Totschlag“. Die Normorientierung von Typologien zeigt sich hier nicht nur in der Annahme, die in-flagranti-Situation sei „typisch“ und damit ebenso ‚normal‘ wie die Reaktion des Ehemannes, sondern auch in der denormalisierenden Qualifikation jenes „Sturmes der Gefühle“, der beim Affektverbrecher „alles kühle Überlegen, die Auswirkungen des normalen Charakters zunichte“ mache. Kennzeichnend für die Gruppe der „Gelegenheitsverbrecher“ schließlich sei der Mangel an Überlegung, das schnelle Erliegen. In den schweren Fällen – Aschaffenburg scheidet sie von den leich

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ten, etwa, wenn ein „armer Teufel“ ein gefundenes Geldstück behalte – sei dagegen etwa beim Dieb, der eine offen vorgefundene Ladenkasse plündere, eine besondere Charakterschwäche ursächlich: „je stärker die Versuchung, um so weniger bedeutsam die Persönlichkeit“. Problematischer seien die Fälle, in denen der „Vorbedachtsverbrecher“ seine Taten ruhig und überlegt plane; er weise einen hohen Grad an Gemeingefährlichkeit auf. Noch höher sei die Gefährlichkeit beim „Rückfallverbrecher“, dessen Taten immer ähnlichen psychologischen Beweggründen entsprängen. Graduell davon verschieden waren für Aschaffenburg die „Gewohnheitsverbrecher“, zu denen Landstreicher und Bettler zu rechnen seien, die „passiven Gewohnheitsverbrecher“, die „in verbrecherischer Umgebung aufgewachsen, ohne jede Scheu vor entehrenden Strafen, im Schmutze verkommend, träge und haltlos in den Tag hineinleben“. Hauptursache hierfür sei deren psychische Artung, denn: „Wem das bescheidene Maß an Halt im Getriebe des Lebens fehlt, der verkommt; seine zahlreichen Vorstrafen sind die Merkmale, ihn zu erkennen.“ Gegenüber diesen Haltlosen handelten die „Berufsverbrecher“ aufgrund von „kriminellen Begierden“; ihnen sei das Verbrechen Beruf, sie seien im eigentlichen Sinne des Wortes „unverbesserlich“ und entsprächen jener Gruppe von Verbrechern, deren Einordnung in das gesellschaftliche Leben nicht mehr zu erwarten sei. „Unverbesserlichkeit“ sei auch das Merkmal der eher „passiven Gewohnheitsverbrecher“, wobei der Klassifizierung der beiden Gruppen als Typus „unverbesserlich“ mehr als nur theoretische Bedeutung zukam. Aschaffenburgs Typen, die eben das ‚Typische‘ im Verhalten von bestimmten Rechtsbrechern repräsentieren und für den Kampf gegen das Verbrechen operationalisieren sollten, waren im Wesentlichen die dominanten diskursiven Schlüsselkategorien, nach denen Verbrecher in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts theoretisch eingeteilt wurden. Sie bezeichnen zweifellos Ausnahmestandards: Ausnahmen, weil abweichendes Verhalten klassifiziert, kategorisiert wurde; Standards, weil Beschreibungen und Definitionen bestimmte Persönlichkeitsmerkmale ein-, andere ausschlossen. Die Formulierung von Tätertypologien erscheint als eine Strategie der doppelten Normalisierung: Einerseits bezeichnen Tätertypologien die vorgängige, gleichsam gesetzte Normalität (hier: „Halt im Getriebe des Lebens“) durch die Benennung der Abweichung (hier: „Haltlosigkeit“). Andererseits individualisieren Typologien den Verbrecher, indem sie ihm einen festen „Ort“ im Raum der Typologie und im Beziehungsgefüge von Rechtschaffenheit und Abweichung zuweisen (hier: „der Gewohnheitsverbrecher“). Dieser Ort aber macht im Effekt das verbrecherische Individuum eben gerade nicht unverwechselbar: Er oder sie „ist vielmehr wie alle anderen. Was aber ist Normalität anderes, als sein, wie andere sind?“ (Hark 1999: 67). Wenn aber Normalität bedeutet, zu sein, wie andere sind, dann ist damit das Wesen von Ausnahmestandards beschrieben, wenn das „wie-andere-Sein“ bezogen ist auf abweichendes Verhalten oder auf abweichende Zustände.

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Die Formulierung solcher Ausnahmestandards teilt die Kriminologie mit einer ihrer Bezugswissenschaften, der Medizin, und sie stößt damit an derselben Stelle an ihre Grenzen, an der auch die Medizin in Schwierigkeiten gerät: beim strukturellen Konflikt zwischen Abstraktion und Konkretion, zwischen Typen und Individuen. Durch die Anbindung an die Medizin teilen Sozialtechnologien und mithin die Kriminologie auch deren konstitutive Strukturmomente: Die Konzentration auf von einer selbst definierten Norm abweichende Sachverhalte und die Beherrschung dieser lösungsbedürftigen Zustände im Sinne einer ‚Heilung‘. Diese Besonderheiten ärztlicher Tätigkeit hat ebenfalls Ludwik Fleck beschrieben (Fleck 1983f.): Der Arzt treffe bei seinen Beobachtungen krankhafter Phänomene auf einen großen Reichtum und auf Individualitäten dieser Phänomene, auf eine Vielheit ohne abgegrenzte Einheiten, voller Übergangs- und Grenzzustände; es fehle eine genaue Grenze zwischen dem, was gesund, und dem, was krank ist, und nirgends treffe man ein zweites Mal auf dasselbe Krankheitsbild. In der Pluralität der krankhaften Erscheinungen ist das Grundproblem ärztlichen Denkens benannt; diese Vielheit müsse, das sei die Erkenntnisaufgabe der Medizin, dadurch „gedanklich bezwungen“ werden, indem man in der Vielfalt der krankhaften Phänomene Regelmäßigkeit finde, „Typen höherer Ordnung“ – Krankheitseinheiten. Diese Einheiten, die sich um individuelle und veränderliche Krankheitsphänomene gruppierten, generiere das ärztliche Denken einerseits durch Abstrahieren, „d. h. durch das Verwerfen einiger beobachteter Daten“, andererseits durch Hypothesenbildung, „d.h. durch das Vermuten nicht beobachteter Zusammenhänge“. Dabei spiele die statistische Beobachtung eine Rolle: „Allein zahlreiche, sehr zahlreiche Beobachtungen entfernen die Individualität dessen, was krankhaft ist, und in komplizierteren Bereichen, wie der Pathologie oder der Soziologie, ist das individuelle Merkmal mit dem Zufall identisch und muß entfernt werden“. Dies bedeute zwar einen Fortschritt des ärztlichen Wissens, aber die Individualität des Krankhaften nötige dazu, die abstrakten Krankheitstypen zu differenzieren und von ihnen gesonderte Untertypen zu unterscheiden – daher die vielen Subgruppen, daher die vielen pseudo- und para-Bestimmungen. So auch in der medikalisierten Kriminologie: Ein Blick in die Inhaltsübersicht der „Kriminalpsychopathologie“ von Karl Birnbaum offenbart das Bedürfnis nach differenzierender Typisierung auch im kriminologischen Feld, hier für den „pathologischen Menschentypus“: „organische Demenztypen, apolektische, arteriosklerotische, präsenile, senile, luetische, paralytische Formen, schizophrene Typen, paranoische Typen, degenerativparanoide Charaktere, epileptische Typen, degenerativ Epileptiode, traumatisch-epileptische Typ, alkoholistische Typen, Imbezilitätsgruppe, thymopathisch-unsoziale Typen, degenerative Affektnaturen, degenerative Querulanten, degenerativ-hypomanischer Typ, degenerativ-depressiver Typ, neurasthenischer Typ, sexuell-perverser Typ, Phantasten- und Pseudologentyp, degenerativ-hysterischer Typ, morphinistischer Typ, moral-defekter Typ.“ (Birnbaum 1921; Inhaltsübersicht)



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Die Schaffung neuer Bedeutungsvarianten fängt die relativ strikte Bedeutungsinvarianz der Idealtypen auf – sowohl in der Medizin als auch in einer pathologisierenden Kriminologie, wo solche Formen der differenzierten Verbrecherklassifikation eine Reaktion auf einen Abstraktionsprozess sind, der absolute und damit gleichsam konstruierte Verbrechertypen wie den „Gewohnheits-“ oder den „Gelegenheitsverbrecher“ hervorbrachte. Die Vielheit des Lebens erzwingt die Formulierung zahlloser Ausnahmestandards, und es stellt sich (auf einer unwissenschaftlichen und ganz pathetischen Metaebene und nicht zum ersten Mal in der Geschichte des Normalismus) die Frage, ob nicht die Ausnahme jener Standard ist, der Leben heißt. Oder: „Über Norm und Normalisierung zu sprechen bedeutet deshalb, insbesondere über Abweichung sprechen zu müssen. Gewissermaßen nur im Rückschluss von dem, was ‚nicht normal‘ ist, erschließt sich, was ‚normal‘ ist. In der Genealogie der normalisierenden Subjektivierung hat daher paradoxerweise das Pathologische, das Anormale, das Deviante einen bestimmten epistemischen Vorrang vor dem Normalen“ (Hark 1999: 79). Das ärztliche Denken sei, so wieder Fleck, geprägt von zwei nicht zur Deckung zu bringenden Bewegungen: Beim Vorliegen idealtypischer Krankheitseinheiten die individuelle Ausprägung der Krankheit zu erfassen und therapeutisch zu beherrschen. Damit werde ein permanenter Perspektivwechsel, ein Zurücktreten vom konsequenten Denkstandpunkt, nötig: „Wie es auf der einen Seite nur ein weitgehendes Abstrahieren des medizinischen Denkens erlaubt, Typen inmitten atypischer Phänomene zu finden, so erlaubt es auf der anderen Seite nur der Verzicht auf Konsequenz, ein Gesetz auf nicht gesetzmäßige Phänomene anzuwenden. Und die Folge davon ist die Inkommensurabilität der Ideen, sie ergibt sich aus der jedes Mal anderen Weise, die Krankheitsphänomene zu fassen, und führt dazu, daß es unmöglich ist, sie einheitlich anzuschauen.“ (Fleck 1983f: 42f.)

Und dennoch trete ein gewisser leitender Gedanke als dominierender Standpunkt hervor, eine „temporäre und dynamische Fassung der Krankheitsphänomene“, da der Gegenstand ärztlichen Denkens, die Krankheit, kein dauerhafter Zustand sei, sondern vielmehr „ein sich unablässig verändernder Prozeß, der seine eigene zeitliche Genese, seinen Verlauf und Hingang hat. Diese wissenschaftliche Fiktion, dieses Individuum, geschaffen durch Abstraktion, gestützt auf Statistik und Intuition, das Individuum genannt Krankheit, das bei statistischer Auffassung rundweg irrational ist, unfassbar, und sich nicht eindeutig definieren lässt, wird erst in temporärer Fassung zur konkreten Einheit. Niemals ein status praesens, sondern erst die historia morbi schafft die Krankheitseinheit.“ (Fleck 1983f: 43)

Die kriminologische Typenbildung lässt sich durchaus als die Produktion von „wissenschaftlichen Fiktionen“ in diesem Sinn verstehen: Typen stellen

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Abstraktionen dar, abgrenzbare Einheiten zwar, deren Wirksamkeit jedoch bei der Applikation am Individuum und dessen dynamischer Fassung in ebensolcher Weise gelingt/scheitert wie die Anwendung abstrakter Krankheitseinheiten. Dass diese Typen eben jenen „status praesens“ darstellen, dessen war sich die Kriminologie wenigstens der frühen 1930er Jahre bewusst, und so solle und dürfe „der Typus nicht mehr sein als ein Orientierungsmittel, eine Ordnungshilfe, ein Leitfaden, der das Zurechtfinden in der Vielgestaltigkeit der Erscheinungen erleichtern soll“ (Rohden 1933: 130). Die „historia morbi“ des Verbrechers zu erforschen, hatte sich der Arzt Viernstein mit der Entwicklung der auf medizinisch-psychiatrischer Grundlage stehenden Kriminalbiologischen Untersuchung zur Aufgabe gemacht. Den Verbrecher sollte die Untersuchung in seiner Individualität auffinden, seine Taten in ihrer zeitlichen Position einer dynamischen Entwicklung verorten, pseudomedizinische Kausalzusammenhänge, das Verhältnis zwischen Veranlagung und äußeren Einflüssen offenbaren, eine differenzierte Kategorisierung leisten, aus der wirksame therapeutische Handlungsanweisungen für den Einzelfall ableitbar waren. Die medizinische Terminologie an dieser Stelle ist keineswegs die Folge einer affirmativen Übernahme zeitgenössischer Positionen als vielmehr der analytischen Offenlegung der Nähe von sozialtechnologischen Strategien und medizinischem Denken. Diese Nähe ist kritisch zu beurteilen, hatte die Medikalisierung der Kriminologie doch ähnlich wie die Eugenik schon zur Zeit der Weimarer Republik etwa über das Konzept der Minderwertigkeit Folgen für die biopolitische Disziplinierung abweichenden Verhaltens. Dennoch sollte das Phänomen der Typenbildung als Grundlage sozialtechnologischer Eingriffs- und Kontrollphantasien nicht ausschließlich als Versuch bürgerlicher Interessengruppen, unliebsame ‚Elemente‘ auszusondern, gewertet, sondern auch als die Bedingung zur Generierung eines spezifischen Wissens vom Verbrecher – im Sinne problemorientierter Wissenschaft, als Problemlösung also – verstanden werden. Ob das ‚Problem‘ selbst überhaupt als eines gelten kann, ist vom rückblickenden Standpunkt aus ohne den unzulässigen Rekurs auf heutige moralische Standards nicht mehr zu entscheiden. Typenbildung erweist sich somit als ein strukturelles Merkmal problemorientierter Wissenschaft; sie erfüllt, auch wenn die Analogie nun letztlich nicht überstrapaziert werden sollte, gerade auch im Fall der Kriminologie eine ähnliche Funktion wie die Formulierung von Krankheitseinheiten in der Medizin.



Strafrecht

Liszts im „Marburger Programm“ niedergelegten Vorstellungen waren auch für die Strafrechtswissenschaft und für das Strafrecht und seine Reform von katalysatorischer Bedeutung: Seine Überlegungen waren provokant und polarisierend genug, eine eigene Gefolgschaft hinter sich zu scharen, die in der Strafrechtswissenschaft bald als „moderne Schule“ firmierte und sich von der „klassischen Schule“, den Anhängern des traditionellen Vergeltungsstrafrechts, abgrenzte. Zwar ist diese Trennung, die als „Schulenstreit“ bezeichnet wird, sehr idealtypisch gedacht, macht aber die Unterschiede in der Auffassung vom Zweck der Strafe deutlich. Die seit den 1870er Jahren diskutierte Reform des Strafgesetzbuches erhielt durch die Perspektive der „modernen Schule“ ebenfalls neue Impulse, aber die teilweise verhärteten Positionierungen führten neben anderen, eher strafpolitischen Gründen auch dazu, dass weder zur Zeit des Kaiserreichs noch in der Weimarer Republik das Strafgesetzbuch reformiert werden konnte. An Debatten, Versuchen und Entwürfen hatte es nicht gemangelt; doch die erste, wirklich gesetzmäßig fixierte Neuerung wurde erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verwirklicht, mit dem „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Besserung und Sicherung“ vom 24. November 1933. Dieses Gesetz, das nur einen winzigen Teil des Strafrechts, die Strafbehandlung rückfälliger Verbrecher, reformierte und die lange diskutierte Sicherungsverwahrung nach der Strafe einführte, fußte auf den seit Ende des 19. Jahrhunderts geführten Debatten über den Gewohnheitsverbrecher und über Besserung und Sicherung und wird deswegen häufig als kein genuin nationalsozialistisches Gesetz interpretiert (Müller 1997: 1). Doch auch hier zeigt sich das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität hinsichtlich der Zäsur von 1933: Auch wenn die Nationalsozialisten oft Strömungen und Bewegungen der Zeit aufgegriffen, so bekam diese Debatte und ihre Kodifizierung im „Gewohnheitsverbrecher-Gesetz“ eine typisch nationalsozialistische Tönung, denn: Nicht mehr die Straftat, sondern die (rassenhygienisch fundierte) Einstufung eines Straftäters als ein bestimmter Verbrechertyp („gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“) entschied über Strafverschärfung oder über die Anordnung von Maßregeln wie der Sicherungsverwahrung. Auch die ebenfalls lange disku-

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tierte und umstrittene Sterilisation von Straftätern als „Träger minderwertiger Erbanlagen“ konnte nun zwangsweise angeordnet werden. Und schließlich waren die unter die Regelungen des „Gewohnheitsverbrecher-Gesetzes“ fallenden Personengruppen („Gewohnheitsverbrecher“, „Sittlichkeitsverbrecher“ und „Asoziale“) in besonderem Maße von den nationalsozialistischen eugenischen „Ausmerze“-Aktionen bedroht (Müller 1997: 3). Im Folgenden sind diese drei Bereiche – „Schulenstreit“, Strafrechtsreform und Strafrecht im „Dritten Reich“ – kurz darzustellen, um einen wichtigen Hintergrund für die Kriminalbiologische Untersuchung im Rahmen des modernen Strafdispositivs aufzuzeigen, denn: Die Untersuchung operierte mit den Verbrechertypen, auf die die zweckmäßige Strafe ausgerichtet werden sollte, und mit ihr wurde nach 1933 auch die Anordnung der Maßregel Sicherungsverwahrung begründet.

„M ARBURGER P ROGRAMM “ UND S CHULENSTREIT „Marburger Programm“ und Schulenstreit waren ebenfalls bereits mehrfach Gegenstand der Forschung (Vormbaum 2009: 123-183; Müller 2004: 180227; Frommel 1987: 42-114), weshalb es ausreichend ist, sich auf eine Darstellung zu beschränken. Der Schulenstreit entstand letztlich, wie bereits angedeutet, aus der Wahrnehmung einer Krise: Die generalpräventive, pauschale Verurteilung eines Straftäters und die Festsetzung des Strafmaßes allein nach der Tat ohne Ansehung seiner Person sowie die anschließende undifferenzierte Verbüßung der Strafe führe eben nicht zur Abschreckung und auch nicht zur Besserung eines Verbrechers. Die Folge seien eben nicht sinkende, sondern, wie man die Rückfallstatistiken interpretierte, sogar steigende Kriminalitäts- und Rückfallquoten. Demgegenüber habe der Zweck der Strafe und auch das Strafmaß sich an der Persönlichkeit des Täters und damit an der Einschätzung seiner zukünftigen Gefährlichkeit zu orientieren. Damit standen sich zwei Positionen deutlich gegenüber: Die vom Idealismus geprägte, tatorientierte „klassische Strafrechtsschule“ war dem Menschenbild der Aufklärung verpflichtet und sah in der Androhung eines Strafübels das Mittel, das vernunftbegabte, sich frei entscheidende Individuum von einer Straftat abzuhalten. Kam es dennoch dazu, so sollte den Delinquenten eine Sanktion treffen, deren Maß sich allein nach der Schwere der Tat richtete, da die Strafe dem Grad der Rechtsschädigung entsprechen und damit diese vergolten, gesühnt werden sollte (Müller 1997: 14). Dem freien Willen des Individuums, das dieses zum Rechtsbruch genutzt hatte, stand nach dieser Auffassung die Sühne der falschen Entscheidung gegenüber; der Zweck der Strafe lag allein in der Vergeltung des Rechtsbruchs. Der Rechtsgüterschutz sollte demnach zwischen den Eckpunkten Generalprävention und Vergeltung durch abschreckende Freiheitsstrafen gewährleistet sein. Die „moderne Strafrechtsschule“ dagegen lehnte, in ihrer radikaler auf naturwissenschaftlichen Axiomen basierenden Variante, die freie

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Willensbestimmung des Menschen als Fiktion ab: Der Mensch im Allgemeinen und der verbrecherische im Besonderen sei determiniert durch seine biologisch-soziale Konstitution, die ihn in ihrer pathologisch-abnormen Form zum Verbrechen disponiere. Der Zweck der Strafe und ihre Bemessung müssten sich daher spezialpräventiv auf die Person des Täters richten, auf die Erziehung der Besserungsbedürftigen und die dauernde Verwahrung der Unverbesserlichen. Durch diesen Zweckgedanken sollte im Strafrecht das Abschreckungsprinzip abgelöst werden. Thomas Vormbaum hat das „Marburger Programm“ und seine neuen strafpolitischen Forderungen konzise dargestellt (Vormbaum 2009: 123128). Auch Vormbaum versteht die Stoßrichtung der Kritik Liszts als doppelte Kampfansage: gegen den unzureichenden Erfolg bei der Verbrechensbekämpfung einerseits, gegen die diese Erfolglosigkeit repräsentierende Strafauffassung des Vergeltungsstrafrechts andererseits. An die Stelle einer instinkthaften, triebartigen Reaktion der Gesellschaft auf eine Schädigung der Rechtsgüter müsse ein Verhältnis zwischen Tat und Strafe gesetzt werden, das den Schutz der Rechtsgüter sichere, nicht aber die Schädigung vergelte. Die gerechte Strafe sei daher die für die Sicherung der Rechtsgüter notwendige Strafe. Diese Strafe – verstanden als gegen den Straftäter gerichteter Zwang – könne nun darin bestehen, einen Gefangenen gleichsam zwangsweise zur Besserung zu führen, ihn abzuschrecken oder ihn unschädlich zu machen, ihn dauerhaft zu verwahren. Hierin liegt nun auch ein Unterton, den die Forschung kritisch sieht: „Die Ausführungen zur ‚Unschädlichmachung‘ sind bei weitem nicht die einzigen problematischen Passagen. Liszt lag damit auf der Linie einer Zeit, die von ‚Humanitätsdusele’ nicht viel hielt. Ein populistisch-rüder Jargon, eine verwahrloste Sprache, durch den verrohenden Einfluss des Weltkriegs später noch verstärkt, wurde in den folgenden Jahrzehnten in der Kriminalpolitik heimisch. Der Anspruch auf Humanität, den die Aufklärungsphilosophien noch mit dem Utilitätsdenken hatten verbinden wollen, wurde zugunsten einer mitleidlosen ‚Wissenschaftlichkeit‘ aufgegeben.“ (Vormbaum 2009: 126)

Auch Nikolaus Wachsmann erkennt im dualen Ansatz der täterspezifischen Strafbehandlung eine Mischung aus Reform – Resozialisierung – und Repression – Unschädlichmachung – (Wachsmann 2002: 415). Dies lässt sich an der Kategorisierung der den Strafzwecken entsprechenden Verbrecherkategorien zeigen: Auf der operativen Ebene stand Besserung und Abschreckung für besserungsfähige Verbrecher Unschädlichmachung des unverbesserlichen Verbrechers gegenüber. Hintergrund dieser Kategorien war die Bestimmung der individuellen Motivierbarkeit eines Verbrechers, nicht rückfällig zu werden, weshalb das Konzept der mangelnden Zurechnungsfähigkeit von Vertretern der „modernen Schule“ auch nicht als ein körperlich-psychischer Autonomiedefekt (als Unfähigkeit des Einzelnen in die Einsicht seiner Tat), sondern als Defekt der Motivierbarkeit 

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gesehen wurde. Darüber aber kommt die Gesinnung eines Täters als Maßstab für Art und Umfang der Strafe ins Spiel: Eine ‚krankhafte‘ Schuldunfähigkeit war eine Frage der mangelnden Zurechnungsfähigkeit hinsichtlich der Schuldeinsicht, eine fehlende Motivation aber war in die Verantwortung des Täters gestellt und damit, davon war Liszt überzeugt, eine Frage der Gesinnung des Täters, ob er sich zur Besserung motivieren lassen wolle oder nicht. In dieser von der Gesinnung eines Menschen abhängigen fehlenden Bereitschaft zur Besserung sah Liszt nun die Gefährlichkeit eines Täters begründet, und der Gesellschaft bliebe keine andere Möglichkeit, als sich vor dem unverbesserlichen – und das meinte letztlich den nicht besserungswilligen – „Gewohnheitsverbrecher“ dauerhaft zu schützen. Strafe war in Liszts System also eine Schutzstrafe. Erneut zeigt sich die fehlende empirische Fundierung sozialpolitischer Postulate im Zusammenhang mit Kriminalität: Man war der „alltagspsychologischen) Meinung, dass die gewohnheitsmäßige Begehung von Straftaten auf einem „verbrecherischen Hang“ beruhe. Darin aber wurde eine erhöhte und strafschärfende Schuld bzw. moralische Verantwortung gesehen, weil der Verbrecher die Entstehung einer Gewohnheit nicht unterdrücke. In der durch Liszt angestoßenen Diskussion erfuhr der Begriff des „Hangs“ daher einen Bedeutungswandel, eine „theoretische Umorientierung weg von Gesichtspunkten individueller Zurechnung von Schuld hin zu einer Theorie der Strafe als sozialer Schutzreaktion gegen sozial schädigende und mit entsprechendem Bewusstsein begangene Handlungen“ (Frommel 1991: 468). Hier zeigt sich, dass bei Liszt liberale Züge (gegenüber den besserungsfähigen Verbrechern) und autoritäre Forderungen (gegenüber den unverbesserlichen und den Gewohnheitsverbrechern) nebeneinander standen (Frommel 1987: 83-97; Sander 2010). Und die suggestive Vagheit des nur auf der Zahl des Rückfalls basierenden Begriffs des Gewohnheitsverbrechers könnte durchaus Teil der Intention Liszts gewesen sein, diesen Begriff im Dienst der Verbrechensbekämpfung zu operationalisieren: „In der Konsequenz wurde der inhaltlich disponibel definierbare Gewohnheitsverbrecher ‚zur politischen Manövriermasse‘ – die Intensität der ‚Unschädlichmachung‘ konnte den tagesaktuellen kriminalpolitischen Bedürfnissen beliebig angepasst werden“ (Sander 2010: 517f.). Den Gedanken des Schutzes der Gesellschaft als Metazweck von Strafe hatte vor Liszt bereits der damals noch unbekannte junge Psychiater Emil Kraepelin in einer Schrift über „Die Abschaffung des Strafmaßes“ aufgegriffen (Kraepelin 1880). Kraepelin hatte in sehr radikaler Weise Verbrecher mit Geisteskranken praktisch gleichgesetzt und daraus abgeleitet, dass sich die Gesellschaft eher durch Verwahrung des gefährlichen, rückfälligen Verbrechers vor diesem schützen, als seine Tat, die ohnehin gleichsam zwangsläufig eingetreten sei, vergelten müsse. Doch während beide Autoren mit verschiedenen Voraussetzungen ähnliche Schlussfolgerungen zogen, unterschieden sie sich doch in der professionspolitisch relevanten Frage, wer denn diese Gefährlichkeit eines Verbrechers bestimmen sollte: Kraepelin wollte hier seine eigene Profession stärken und den medizinisch geschulten

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Psychiater in der Verantwortung sehen. Nach Liszt hingegen sollte dieser Entscheider der Richter sein, der anhand der aktuellen Straftat und des Vorstrafenkontos des Verurteilten dessen Gefährlichkeit erkennen sollte. Christian Müller bilanziert, dass es ihm eben nicht darum gegangen sei, „den empirischen Wissenschaften größeren Einfluss auf die Strafrechtspflege zu gewähren und einer Medikalisierung des Strafsystems Vorschub zu leisten. Das Gegenteil war der Fall: Durch eine utilitaristische Umgestaltung des Strafrechts sollte die juristische Definitionsmacht gesichert und zugleich den naturwissenschaftlich ausgerichteten Strafrechts-Kritikern der Wind aus den Segeln genommen werden“ (Müller 2004: 135). Dieses Ansinnen wurde in Juristenkreisen jedoch nicht von allen als Stärkung der eigenen Disziplin verstanden, sondern durchaus auch als Angriff auf etablierte und, nach Meinung Vieler, bestbewährte Praktiken. Der zentrale theoretische Streitpunkt war dabei die Unterscheidung zwischen Schuldstrafe und Sicherungsstrafe (Vormbaum 2009: 140): Karl Binding (1841-1920) etwa wollte mit dem Ziel, das Schuldstrafrecht aufrechtzuerhalten, Sicherungsmaßnahmen nur außerhalb des Strafrechts, etwa als polizeiliche Maßnahme, eingerichtet wissen. Hier aber war auch die Möglichkeit eines Kompromisses gegeben: Die „moderne Schule“ rückte im Diskurs von ihrer Forderung, die Sicherungsmaßnahmen innerhalb des Strafrechts zu etablieren, ab und akzeptierte, dass die Sicherung keine eigentliche Strafe sein und als Maßregel nach der eigentlichen Strafe angeordnete werden können sollte. Dieser Kompromiss, der die folgenden Debatten über eine Reform des Strafgesetzbuches beeinflusste, darf als Erfolg für die „moderne Schule“ gewertet werden, die sich mit ihrem dualen System – zunächst diskursiv, dann auch im Rahmen der Strafrechtsdebatten – tendenziell durchgesetzt hatte.

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Das Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes von 1870 bildete die Grundlage für das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 und wurde bis zum Ersten Weltkrieg nicht substantiell verändert. 1902 war ein wissenschaftliches Komitee einberufen worden, um Vorschläge für eine Reform zu entwickeln. Bereits hier machten sich die unterschiedlichen Positionen der beiden Lager bemerkbar, was sich durch die ganze Debatte um die Reform des Strafgesetzbuches ziehen sollte (zur Debatte um eine Strafrechtsreform mittlerweile Müller 2004: 159-227). Dieses Nebeneinander ‚alter‘ und ‚neuer‘ Rechtsanschauungen prägte auch den von einer Expertenkommission 1909 publizierten Vorentwurf für ein Deutsches Strafgesetzbuch, wenn auch der genannte Kompromiss zum Tragen kam: Dieser Kompromiss, der auch alle weiteren Entwürfe prägen sollte, kam darin zum Ausdruck, dass sichernde Maßnahmen neben der Strafe aufgenommen worden waren: Einweisung in ein Arbeitshaus für Vagabunden und Prostituierte, Unterbringung in einer Trinkeranstalt, Verwahrung gemeingefährlicher Geisteskranker. Die Sicherungs

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verwahrung für gefährliche Gewohnheitsverbrecher war noch nicht geregelt (Vormbaum 2009: 148). Kritik an diesem Entwurf führte 1911 zu einer Veröffentlichung eines Gegenentwurfes, der die Kritik (vor allem war die fehlende Einarbeitung von im Laufe der Zeit entstandener Nebengesetze moniert worden) aufnahm und der in den offiziellen Entwurf der Strafrechtskommission im Auftrag des Reichsjustizministeriums von 1913 mündete. Der Ausbruch des Krieges verhinderte die weitere Arbeit, so dass dieser Entwurf – zwischenzeitlich überarbeitet – 1919 in einen neuen Entwurf überführt und 1920 veröffentlicht wurde. Am Entwurf von 1919/1920 wurde von liberaler Seite Kritik geübt. Der Strafrechtler Moritz Liepmann (18691928) gehörte dem ‚linken‘ Flügel der Strafrechtsreformbewegung an und kritisierte das „alte und problematische Recht“ im neuen Entwurf. Die Diskussion hatte sich vom wissenschaftlich-strafrechtsdogmatischen Bereich in den des Politischen verlagert: Der Kompromiss zwischen den Schulen war im Prinzip gefunden; nun ging es vor allem um die Ausgestaltung der Reform, wobei die Frontlinie nicht mehr zwischen „klassischer“ und „moderner“ Schule verlief, sondern zwischen liberalen und autoritären Strafrechtspolitikern (Müller 2004: 183). Dies zeigt sich dann auch an der Debatte um den nächsten Entwurf. Der sozialdemokratische Reichsjustizminister und Liszt-Schüler Gustav Radbruch (1878-1949) hatte 1922 einen neuen Entwurf vorgelegt, in dem er verstärkt auf Vorstellungen und Kategorien der „modernen Schule“ zurückgriff und auch liberale Regelungen einband. So wollte er etwa die Strafe an die Persönlichkeit des Täters angepasst wissen. Gleichwohl atmete der Entwurf nicht ungebrochen den Geist Liszts: In der Entwurfsbegründung propagierte Radbruch einerseits konsequent die Durchführung des Schuldprinzips, stellte aber auch auf die „verwerfliche Gesinnung“ und auf den „verbrecherischen Willen“ des Täters ab. Gesinnung und Willen, ein zweimaliger Rückfall und die Würdigung der Tat konnten einen Straftäter als für die öffentliche Sicherheit gefährlichen Gewohnheitsverbrecher kennzeichnen, was ebenso wie Milderungsgründe in das Ermessen des Richters gelegt wurde, von dem nun eine umfangreiche soziale, psychologische und medizinische Beurteilung verlangt wurde. Ausdruck des Einflusses der „modernen Schule“ war die Aufnahme von Maßregeln der Besserung und Sicherung und hier nun auch die Regelung zur Sicherungsverwahrung, die bereits nach zwei Verurteilungen zu schwerer Freiheitsstrafe greifen sollte. Heute gerühmt, damals umstritten war der Entwurf im Übrigen, weil er die Abschaffung von Todes-, Zuchthaus- und Ehrenstrafen vorsah. Auch hier stehen also repressive neben liberalen Zügen, Humanisierungstendenzen neben einem scharfen Durchgreifen gegen das Gewohnheitsverbrechertum; der Entwurf „erlaubte größere Milde ebenso wie größere Härte gegenüber den Verletzern der Rechtsordnung. […] ‚Sozial‘ war der Entwurf freilich im doppelten Sinne: Resozialisierung neben sozialer Verteidigung“ (Müller 2004: 185). Nachdem im November 1922 das Kabinett von Reichskanzler Joseph Wirth (1879-1966) zurückgetreten war, stagnierte die Strafrechtsreform

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unter dem neuen Kanzler Wilhelm Cuno (1876-1933). 1925 kam es, zunächst unter Radbruchs Leitung, dann unter Staatssekretär Curt Joël (18851945), zu einem – um die „sozialistisch-parteipolitischen Verzerrungen bereinigten“ (Müller 2004: 189) – „Amtlichen Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches“, dem ersten von der Reichsregierung getragenen Entwurf. Dieser folgte dem Entwurf von 1922, nahm aber die Todesstrafe wieder auf; insgesamt wurden den liberalen resozialisierenden Aspekten deutlich die repressiven Züge zur Seite gestellt. In diesem Entwurf wurde gerade hinsichtlich des Gewohnheitsverbrechers deutlich, wie eng die Verbindung zwischen der herrschenden, kriminologischen Auffassung vom Verbrecher und dem Verbrecherbild in der Reformdebatte war. Der Entwurf ging davon aus, dass „die Kriminalität häufig und in steigendem Maße eine Wirkung geistiger Minderwertigkeit ist“; infolgedessen seien den vermindert Zurechnungsfähigen auch mildere Strafen zuzumessen, doch andererseits auch nicht zu übersehen, „daß der verminderten Schuld häufig gerade eine erhöhte Gefährlichkeit entspricht“.1 Der Entwurf stieß aber auf Widerstand, weil er immer noch mit dem Sozialdemokraten Radbruch in Verbindung gebracht wurde; mit der Folge, dass die weitere Arbeit an der Reform, nicht zuletzt von den Ländern, verschleppt wurde (Müller 2004: 190-193). Der „Amtliche Entwurf“ von 1925 wurde 1927, in zentralen Bereichen modifiziert, in die parlamentarischen Ausschüsse gegeben. Es waren Möglichkeiten für Strafmilderung gestrichen und die Maßregeln zur Anstaltsunterbringung zu einem Verwaltungsvorgang ohne rechtsstaatliche Sicherheiten für Betroffene herabgestuft worden (Müller 2004: 194). Nun kam es im Reichstag zur Debatte zwischen den Befürwortern eines liberalen und denen eines autoritären Strafrechts. Diskutiert wurden vor allem die Maßregeln, also die Sicherungsverwahrung, die im Entwurf vorgesehen war, aber auch die Sterilisation, die nicht im Entwurf stand, sondern von außen in die Debatte getragen wurde. Die Sicherungsverwahrung nach der Strafe war für Unzurechnungsfähige (in einer Heil- und Pflegeanstalt), Trinker (in einer Trinkerheilanstalt), Vagabunden und Prostituierte (in einem Arbeitshaus) sowie Gewohnheitsverbrecher (in einer Anstalt der Justizverwaltung) vorgesehen. In der Debatte zeigte sich ein Rechts-Links-Gefälle, wobei auch deutlich wurde, dass die Ambivalenz des dualen Konzepts der Strafpolitik auch hier zum Tragen kam, denn dessen Modernität bestand eben nicht in einer Humanisierung des Strafens, sondern im Rechtsgüterschutz (Müller 2004: 201). Hinsichtlich der Forderung, auch Verbrecher aus eugenischen Gründen zu sterilisieren, war die Lage noch komplizierter: Man befand sich in einer juristischen Grauzone, da die zwangsweise Sterilisation als Körperverletzung galt (Müller 2004: 206-223). Ein von mehreren Abgeordneten eingebrachter Antrag wollte den Paragraphen zur Entlassung aus der Sicherungsverwahrung ergänzen um die Möglichkeit für den Richter, die Zu-

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Entwurf eines Allgemeinen Strafgesetzbuches (Radbruch 1992: 58)



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stimmung zur Entlassung insbesondere dann zu erteilen, wenn sich der Untergebrachte einer Sterilisation unterzogen hatte. In dieser Phase der Reformdebatte hatte die Sterilisation bislang eigentlich keinen Platz; der Vorschlag belegt aber den Einfluss eugenischer Vorstellungen auch auf diesen Bereich des modernen Strafdispositivs – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der eugenischen Argumentation, die Kosten im Wohlfahrtsbereich zu reduzieren. Die Vorschläge zur Sterilisation wurden verworfen, doch die Debatte leistete indirekt einer zukünftigen Regelung der eugenischen Sterilisation außerhalb des Strafrechts durch bloße Thematisierung Vorschub. Durch die folgenden Parlamentsauflösungen war eine kontinuierliche Reformarbeit kaum möglich, so dass diese – von einem weiteren Entwurf 1930, der nicht zuletzt wegen der Verweigerung einer konstruktiven Mitarbeit von NSDAP und KPD, nicht in den Reichstag kam, abgesehen – in der Zeit der Weimarer Republik auch nicht mehr abgeschlossen werden konnte. Im Übrigen wurde auch zur Zeit des Nationalsozialimus außer dem „Gewohnheitsverbrecher-Gesetz“ keine Reform des Strafgesetzbuches erreicht; ein entsprechendes Vorhaben, das Reichsjustizminister Franz Gürtner (1881-1941) im Jahr 1936 vorgelegt hatte, wurde nach Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 endgültig auf Eis gelegt (Schwartz 1997: 26). Die programmatische Schrift Liszts und die „moderne Schule“ haben durchaus ambivalente Spuren in den Debatten um eine Reform des Strafrechts und in den Entwürfen hinterlassen. Neben der liberal zu nennenden Einrichtung eines pädagogischen Strafvollzugs mit dem Ziel der Besserung besserungsfähiger Verbrecher stehen die autoritären Züge der „modernen“ Vorstellungen, die auf besonders prononcierte Weise in den diskutierten Maßregeln zur Unschädlichmachung von als unverbesserlich erachteten Verbrechern deutlich werden: die Sicherungsverwahrung und die zunehmend geäußerten Forderung nach einer gesetzlichen Regelung der Sterilisation auch von Verbrechern. Die Ambivalenz der „modernen“ Konzepte schlug sich aber nicht nur in Forderungen nach einzelnen verschärfenden Strafmaßnahmen nieder, sondern auch in der Debatte um die grundsätzliche Ausrichtung der Strafrechtspraxis und der Strafpolitik: Diese war hinsichtlich der Strafpolitik und der Reform des Strafrechts gegen Ende der Weimarer Republik von einer zunehmenden Abkehr vom liberalen Strafrecht geprägt (Frommel 1987: 25-31). Die Vertreter eines autoritären Strafrechts waren der Meinung, dass der liberal-soziale Kompromiss des Weimarer „Systems“ und die „Milde“ der Gerichte zu einer Übertonung von Rechten und Freiheiten des Individuums geführt habe und dass die Bedürfnisse der Gemeinschaft vernachlässigt worden seien; zudem sei der Erziehungsgedanke zu einseitig hervorgehoben, der Sicherungsgedanke hingegen ebenso einseitig zurückgedrängt worden (Müller 1997: 19). In der Folge wendeten sich viele „Klassiker“ und „Moderne“ der autoritären Seite des Vergeltungsund Abschreckungsprinzips zu und rekurrierten verstärkt auf den auch in den Vorstellungen der „modernen Schule“ angelegten repressiven Charakter selektionistischer Instrumente wie der Sicherungsverwahrung. 1932 wurde

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diese Frontstellung offenbar (Naumann 2006: 105f.): Bei einer Tagung der IKV plädierten die Vertreter eines autoritären Strafrechts für dessen Ausrichtung auf die Volksgemeinschaft, für strikte Generalprävention, für die Unschädlichmachung von Gewohnheitsverbrechern durch Sterilisation, Todesstrafe oder Sicherungsverwahrung. Sie behaupteten, der Fürsorgegedanke, der ohnehin nur einem verschwindend kleinen Teil der Strafgefangenen zugute kommen könne, werde überbewertet und sei zu teuer. Man begann, sich von der Idee der allgemeinen Erziehbarkeit abzuwenden. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme schwenkte die IKV ein auf die Linie eines mit generalpräventiver Härte, der Abkehr vom Erziehungsvollzug und der Unschädlichmachung ausgestatteten und an der Volksgemeinschaft orientierten Strafrechts und -vollzugs (Laubenthal 2008: 63).

D AS „G EWOHNHEITSVERBRECHERGESETZ “ Das Verhältnis von Kontinuität und Umschlag im sozialselektionischen Diskurs manifestiert sich in besonderer Weise im „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ vom 24. November 1933. Das Gesetz wird, wie schon erwähnt, nicht als ein nationalsozialistisches Gesetz interpretiert, sondern als die Verwirklichung älterer Reformgedanken, womit angedeutet ist, dass erst mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten das sozialselektionistische Paradigma absolut gesetzt wurde – folgerichtig, nicht zwangsläufig. Erst mit den institutionalisierten und bürokratisierten Zwangsmitteln des „Dritten Reichs“ wurden die Maßnahmen und Gesetze zur „Gesunderhaltung des deutschen Volkes“ verwirklicht. Und erst mit dem totalitären Terror wurden sie durchgesetzt. Dieses Gesetz war jedoch nicht das einzige, das nach dem nationalsozialistischen Machtantritt erlassen wurde und für das auf eine entsprechende Reformdebatte noch aus der Zeit der Weimarer Republik zurückgegriffen wurde. Als Teil der Rationalisierungs- und Modernisierungstendenzen, die von einem auf die Gesellschaft bezogenen utilitaristischen und leistungsorientierten Denken begleitet waren, wurden, wie eben dargelegt, schon gegen Ende der 1920er Jahre auf breiter gesellschaftlicher Ebene gesundheitspolitische Reformen diskutiert. Den Fokus bildete dabei die hygienische Richtung, die zum einen auf die Verbesserung der Lebens-, Wohn- und Arbeitsverhältnisse zielte und zum anderen – in ihrer selektionistischen Variante – die erbhygienische bzw. rassenhygienische „Gesunderhaltung des Volkes“ im Blick hatte. Die Debatte um die Reform des Strafrechts verlief demnach parallel zur Diskussion um die gesetzliche Einführung der Unfruchtbarmachung und Sicherheitsverwahrung aus eugenischer Indikation und überschnitt sich, wie gezeigt, mit dieser. Dies galt vor allem hinsichtlich der präventiven und repressiven Maßnahmen, die gegen den Verbrecher zum Schutz der Gesellschaft vorgeschlagen wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte die sozialhygienische Diskussion, die bereits 

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mit dem Aufkommen eugenischer bzw. rassenhygienischer Gedanken um die Jahrhundertwende begonnen hatte, verstärkt wieder ein. Die Forderung nach einem gesetzlich legitimierten Ausschluss „Minderwertiger“ aus dem Fortpflanzungsprozess durch Sterilisation oder dauernde Verwahrung hatte mit dem – allerdings inoffiziellen – Gesetzentwurf des Zwickauer Bezirksarztes Gerhard Boeters 1923 einen ‚Höhepunkt‘ erreicht. In dieser Eingabe (vgl.: Müller 1985: 60-63), die er an die sächsische Staatsregierung richtete, forderte er, „blind geborene, taubstummgeborene oder blödsinnige und damit als unfähig erkannte“ Kinder mit dem Eintritt in das schulpflichtige Alter zu sterilisieren; ebenso die in den Landesanstalten Untergebrachten mit den gleichen Leiden, dazu die Epileptischen und Geisteskranken vor ihrer Entlassung. Die Eheschließung dieser Menschen sei erst zu genehmigen, wenn diese sich einer sterilisierenden Operation unterzogen hätten. Verbrechern solle ein Teil ihrer Strafe erlassen werden, wenn sie den Eingriff freiwillig vornehmen ließen. Auch wenn die Eingabe Boeters überwiegend auf Widerspruch stieß, begann man seit 1923 Kommissionen einzurichten und andere gesetzgeberische Vorbereitungen einzuleiten, die 1932 im preußischen Entwurf eines Sterilisierungsgesetzes einen ersten Abschluss fanden. Umstritten blieb dabei immer die Frage der Zwangssterilisation, zumeist mit der Begründung, dass mit dem Widerstand der Öffentlichkeit zu rechnen und unter den gegebenen gesetzlichen Bedingungen ein zwangsweiser Eingriff ohnehin nicht durchsetzbar sei (Müller 1985: 85). Der preußische Entwurf gab dann schließlich nach der Machtübernahme die Vorlage ab zum modifizierten „Gesetz zur Verhütung erbranken Nachwuchses“, das bereits am 14. Juli 1933 verabschiedet wurde und am 1. Januar 1934 in Kraft trat. „Erbkrank“ und damit potentiell betroffen im Sinne des Gesetzes waren Personen mit „angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, manisch-depressivem Irresein, erblicher Fallsucht, erblichem Veitstanz, erblicher Blind- und Taubheit, schwerer erblicher körperlicher Mißbildung“ und schließlich „schwerem Alkoholismus“. Gleichzeitig mit diesem Gesetz wurde ein besonderes System zu dessen Durchführung eingerichtet. Die Entscheidung über eine Sterilisation oblag dem „Erbgesundheitsgericht“, dessen Verfahren den Charakter von quasi-ordentlichen Gerichtsverhandlungen annahmen (Müller 1985: 109). Nach ergangenem Beschluss auf eine Sterilisation konnte diese auch gegen den Willen des Patienten vorgenommen werden, wenn nötig auch mit Zwang – eine Einwilligungserklärung des Patienten zur Sterilisation war, wie noch im preußischen Entwurf vorgesehen, nicht mehr gefordert, woraus das Verhältnis zwischen Kontinuität und Umschlag erneut und unmittelbar sichtbar wird. Insgesamt 205 Erbgesundheitsgerichte ordneten bis 1945 schätzungsweise 350.000 Sterilisationen an (Friedländer 1997: 67-71). Mit fünfzig Prozent stellten die Sterilisationen nach der Diagnose auf „angeborenen Schwachsinn“ die Hauptgruppe, gefolgt von „Schizophrenie“ mit fünfundzwanzig Prozent und „erblicher Fallsucht“ mit vierzehn Prozent. Ergänzt wurde dieses Gesetz durch das 1935 erlassene „Gesetz zum Schutze der Erb-

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gesundheit des deutschen Volkes“, das sogenannte „Ehegesundheitsgesetz“, das die Überprüfung der Bevölkerung vorschrieb, um Eheschließungen angeblich erbkranker Personen zu verhindern. Als Teil der rassenhygienischen Maßnahmen erfassten diese Gesetze Menschen mit Geisteskrankheiten und körperlichen Gebrechen zur Zwangssterilisation bzw. zum Eheverbot und definierten zugleich die Gruppen, die aus der „Volksgemeinschaft“ auszugrenzen waren. Mit einiger Berechtigung kann von diesen Gesetzen als dem „Auftakt“ nationalsozialistischer Vernichtungspolitik gesprochen werden (Friedländer 1997: 71; Klee 1993: 77), die den Kreis der Betroffenen – Behinderte, Asoziale, „Zigeuner“, Verbrecher, Juden, „Gemeinschaftsfeinde“ – immer weiter fasste und in den „Euthanasie“-Aktionen und der Vernichtung der Juden planmäßig durchgeführt wurde. Für die Gruppe der Verbrecher, insbesondere der Gewohnheitsverbrecher, wurde 1933 das schon mehrfach erwähnte „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ erlassen, das hinsichtlich der Erfassung und Ausgrenzung von „Gemeinschaftsfeinden“ in enger Verbindung zum „Sterilisierungsgesetz“ stand (Müller 1997: 41-45). Es führte sowohl eine Strafverschärfung für gefährliche Gewohnheitsverbrecher als auch Maßregeln der Sicherung und Besserung ein. Nach § 20a konnte die Strafe auf fünf bzw. fünfzehn Jahre Zuchthaus erhöht werden, falls bereits zwei Verurteilungen mit erheblichen Strafen vorlagen und die „Gesamtwürdigung“ der Taten ergab, dass der Täter ein „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ war. Daneben konnte nach § 42e die Sicherungsverwahrung auf unbestimmte Zeit angeordnet werden, wenn jemand nach § 20a als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ verurteilt worden war und zudem „die öffentliche Sicherheit es erfordert“. Die Sterilisation von „gefährlichen Sittlichkeitsverbrechern“ war in § 42k geregelt. Im Sinne der Rassenpolitik bedeutsam war die Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt, denn ein Ausführungsgesetz zu dieser Regelung sah vor, dass sie auch bei denjenigen Tätern angeordnet werden konnte, gegen die wegen vermuteter Unzurechnungsfähigkeit kein Strafverfahren durchgeführt wurde (Müller 1997: 42). Damit verblieb diese Gruppe – auf die definitorische Besonderheit in der Frage der Zurechnungsfähigkeit von „Minderwertigen“ wurde bereits mehrfach hingewiesen – in der Sphäre des Strafrechts. Die Implementierung der rassenhygienischen Politik erstreckte sich mit diesem Gesetz also auch auf das Gebiet des Strafrechts, besonders, wenn man berücksichtigt, dass mit der Typisierung als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ die erbbiologische Disposition des Verbrechers strafverschärfend wirkte, dass Sterilisation und Freiheitsstrafe als Maßnahmen betrachtet wurden, die Träger vermeintlich krimineller Erbanlagen aus dem Fortpflanzungsprozess auszuschließen, und dass schließlich die durch das Gesetz erfassten Personengruppen in besonderem Maße von den „Euthanasie“-Aktionen bedroht waren (Müller 1997: 2f.). Mit der Senkung der formalen Hürden für die Verhängung der Strafverschärfung und der unbefristeten Sicherungsverwahrung wurde der Personenkreis, der für diese Maßregeln in Frage kam, erheblich ausgeweitet 

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(Müller 1997: 42): Die Strafverschärfung war zum einen nun obligatorisch, zum anderen griff sie bereits nach drei, nicht näher definierten Straftaten. Hinzu kam, dass für die Verhängung der Sicherungsverwahrung eine Verurteilung nach § 20a, der die Etikettierung als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ vorausging, ausreichte. Damit drohte fast allen Mehrfachtätern die unbefristete Verwahrung; in Zahlen äußerte sich dieser Umstand, indem nach dem Entwurf von 1927 ca. zwölf Prozent „formal verwahrungsreif“ waren, nach dem Gewohnheitsverbrechergesetz hingegen fast neunzig Prozent (Müller 1997: 43). Problematisch in diesem Zusammenhang war, dass bei der Vorschrift über die Verhängung der Sicherungsmaßnahme mit der Formulierung „wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert“ eine dehn- und auslegbare Bestimmung eingeführt wurde, die zudem durch die Identität von „gefährlich“ und einer Bedrohung der „öffentlichen Sicherheit“ Strafverschärfung und Sicherungsverwahrung aneinander koppelte. War dieses Gesetz hinsichtlich der Maßregeln zur „Sicherung“ mehr als deutlich, so fand der Aspekt der „Besserung“, den es ebenfalls im Titel trug, keine Berücksichtigung. An diesem Zusammenhang kann abschließend erneut die These von Kontinuität und Umschlag biologistischen Denkens im Strafrecht verdeutlicht werden: Nicht die repressiven Maßnahmen gegen den unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher, sondern das Fehlen der Maßregeln für die Besserung bzw. die Resozialisierung des besserungsfähigen Straftäters, die nicht nur im Entwurf von 1927 vorgesehen waren, sondern gerade einen Kerngedanken des täterorientierten Strafrechts darstellte, kennzeichnet den Bruch. Indem die Reformansätze der Weimarer Zeit einseitig repressiv verwirklicht und in den Dienst einer autoritären Verbrechensbekämpfung gestellt werden sollten, war der Justiz im Kampf gegen den Verbrecher – der in einem verabsolutierten Schutz des „Volkskörpers“ immer auch der „Gemeinschaftsfeind“ und „Volksschädling“ war – eine mit großem Ermessensspielraum ausgestattete ‚Waffe‘ gegeben, in der durch den biologistischen Hintergrund ein inhumanes Potential bereits angelegt war.

Strafvollzug

In seiner Ministerialentschließung vom 3. November 1921, die den Stufenstrafvollzug in Bayern einführte, formulierte das Bayerische Justizministerium als Begründung für diese Etablierung eines Besserungs- und Resozialisierungssystems im Strafvollzug eine deutliche Diagnose der noch andauernden krisenhaften Nachkriegszeit: „Ist es schon schwer, ein gut geratenes Kind richtig zu erziehen, so ist es ungleich schwerer, einen vom rechten Weg abgeirrten, allen bessernden Einflüssen bewußt widerstrebenden Menschen wieder auf einen guten Weg zu bringen; und besonders schwierig muß sich ein solches Bemühen in Zeiten gestalten, wo die allgemeine Moral in ihren Grundfesten erschüttert, die Achtung vor der Autorität des Staates und des Rechts gesunken ist und die Gier nach mühelosem Gewinn und schalem Lebensgenuß die besseren Regungen in so vielen Menschen nahezu rettungslos überwuchert hat. […] Zu keiner Zeit ist es notwendiger, den auf Läuterung und Besserung der Strafgefangenen abzielenden Bestrebungen mit allen Kräften und Mitteln zum Durchbruch zu verhelfen, als gerade jetzt, wo sich die Strafhäuser bis auf den letzten 1 Platz füllen.“

Der Verlust der sittlichen Orientierung, der Niedergang moralisch-ethischer Werte und Normen, die Auflösung des familiären und gesellschaftlichen Zusammenhalts mache es, wie dem zu entnehmen ist, ungleich problematischer, „Abgeirrte“ wieder in das soziale Gefüge zu integrieren – eine ohnehin bereits auch in Zeiten gesellschaftlicher Ruhe schwierige Aufgabe. Das Gefängnis als reiner Ort der Verwahrung von Straftätern war im Urteil von Strafvollzugsreformern dieser Aufgabe bereits vor dem Ersten Weltkrieg nicht gewachsen; umso mehr müsse diese Institution nun, da die Kriminalität zuvor unbescholtener Bürger die „Strafhäuser bis auf den letzten Platz“ fülle, mit einem anderen Ansatz reagieren, mit einem Ansatz, der letztlich dabei helfen sollte, den moralisch-sittlichen Haushalt der Gesellschaft wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Prinzipien eines Erziehungsstrafvollzugs

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Ministerialentschließung Nr. 57911 des bayerischen Staatsministeriums der Justiz v. 3.11.1921 (Stufenstrafvollzug, Bd. 1: 10-18).

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wurden schon seit langem diskutiert, und erneut sollte für den Strafvollzug zurückgegriffen werden auf den „Geist wahrer Nächsten- und Menschenliebe“, auf „wohlmeinend gerechte, auf Besserung und Erziehung bedachte Behandlung“, welche „die Atmosphäre der Öde und des stumpfen Dahinbrütens, in der früher das Leben der Gefangenen sich abspielte“, abzulösen, um den Gefangenen den „Weg zum Wiederaufstieg zu ebnen, sie zum Lebenskampfe besser [zu rüsten]“ (Degen 1926: 3). Diese Hinwendung zum Besserungs- und Erziehungsgedanken lag dem neuen Ansatz, dem Stufenstrafvollzug, zugrunde, der „durch geeignete Maßnahmen den Besserungswillen der Gefangenen stärken und sie durch Gewöhnung an Zucht, Ordnung und Arbeit soweit bringen will, daß sie aus sittlichen Beweggründen sich aus eigener Kraft von Stufe zu Stufe emporarbeiten und bei ihrer Entlassung sittlich genügend gefestigt sind, um sich redlich durchs Leben zu schlagen“ (Degen 1926: 4f.). Mit großem Optimismus gestartet, stellte sich, wie am Beispiel des bayerischen Stufenstrafvollzugs gezeigt werden kann, schon gegen Ende der 1920er Jahre eine resignierte Ernüchterung ein hinsichtlich des Erfolgs des Stufenstrafvollzugs, als deutlich wurde, dass eine wachsende Zahl vermeintlich hoffnungsloser Fälle in der ersten, härtesten Stufe verblieb. Dem entsprach die Verfügung des Bayerischen Justizministeriums, jene Gefangenen vom Stufenstrafvollzug auszuschließen, bei denen eine Erziehungsarbeit vergeblich sei, also diejenigen Gefangenen, „die infolge ihrer Veranlagung als unverbesserlich gesellschaftsfeindlich zu erachten sind oder die den erzieherischen Einflüssen bewußt böswillig“ widerstrebten.2 Und 1930 musste Ministerialreferent Degen eingestehen: „Wenn ich nüchtern, ohne mich selbst zu belügen, die Erfahrungen abwäge, die bisher gemacht worden sind, so muß ich mir sagen, daß die Erfolge, die ich seinerzeit erwartet habe, nicht eingetreten sind“.3 Wesentlich mehr Gefangene als gedacht seien erzieherischen Maßnahmen nicht zugänglich und sollten ganz aus dem Stufenstrafvollzug ausgeschlossen werden. Die Erziehungspädagogik machte einer Auslesepädagogik Platz mit der Folge, dass der Großteil der Strafgefangenen in Bayern als „unverbesserlich“ aufgegeben wurde (Müller 2004: 265). Auch im Strafvollzug offenbart sich also die Spannung, die die Weimarer Republik ausgemacht hat, die „Janusköpfigkeit“ der Klassischen Moderne. Diese Spannung zog sich durch viele Bereiche des Weimarer Staates, der Wohlfahrtsstaat auf der einen, Interventionsstaat mit immanenten Repressionstendenzen auf der anderen Seite war. Besonders deutlich wurde diese Ambivalenz in den Wohlfahrts- und Fürsorgeeinrichtungen und in den

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Ministerialentschließung Nr. 17377 des bayerischen Staatsministeriums der Justiz v. 27.4.1927 (Stufenstrafvollzug, Bd. 2: 16f.) BHStA, MJu 24257: Reichsminister der Justiz an die Landesjustizverwaltungen v. 24.2.1930: Bericht (Aktenvermerk) über die Zusammenkunft und Beratungen der Strafvollzugsreferenten der Länder v. 18.1.1930, Referat Degen.

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Strafanstalten, setzte doch einerseits zu Beginn der 1920er Jahre ein Umdenken im Strafvollzug ein, diesen nicht mehr als Vergeltungs- und Disziplinarinstrument zu verstehen, sondern auch als pädagogisches Instrument der Erziehung, der Besserung, der Resozialisierung. Sicher nicht Wohlfahrt, wohl aber so etwas wie Fürsorge war intendiert in den Konzepten der Strafvollzugsreformer, die mit großem Elan und noch größeren Ambitionen das Projekt der Umgestaltung des deutschen Gefängniswesens angingen. Die oben zitierten Positionen zeigen andererseits aber auch, dass der Strafvollzug der Weimarer Republik immer und ganz grundlegend von äußeren Einflüssen geprägt war, etwa durch die Revolution 1918, die Hyperinflation 1922/23, durch die Ausweitung sozialpolitischer Maßnahmen, aber eben auch durch die Stärkung der radikalen Kräfte von rechts und links (Wachsmann 2004: 18). Den wohlfahrtsstaatlichen Bestrebungen, die auch zu mehr selbstverantwortlichem statt obrigkeitsstaatlichem Handeln führen sollten, standen interventionsstaatliche Instrumente zur Seite, und ihnen entgegen stand das Misstrauen gegenüber einem Volk, das dieses selbstverantwortliche Handeln bislang nicht gewohnt war. So auch im Strafvollzug: Die zumeist konservativen Beamten der Strafverfolgungsbehörden traten – häufig mit militärischem Hintergrund – in der Regel für eine strikte und autokratische Disziplin und sowie für Abschreckung und Vergeltung ein, was zu Zeiten ihrer universitären und praktischen Ausbildung im Übrigen die zeitgemäßen Konzepte waren. Deren Eingeständnis in das Scheitern des traditionellen Strafvollzugs hätte ein Eingeständnis des eigenen Scheiterns dargestellt (Wachsmann 2004: 31f.). Diese Beamten misstrauten der Fähigkeit zur Selbstverantwortlichkeit der Gefangenen, die diese in der Tat in der jungen Republik (noch) nicht gelernt hatten, da auch sie mit Disziplin und Gehorsam im Strafvollzug sozialisiert worden waren. Gelingen konnte eine erzieherisch fundierte Reform unter diesen Umständen, mit fehlenden pädagogischen Kompetenzen auf beiden Seiten, kaum. Dieses Scheitern hatte zur Folge, dass die Gefangenen, die das Angebot zur Selbstverantwortung aus Sicht der Vollzugsbeamten nicht zu nutzen in der Lage oder gewillt waren, eine besondere Härte zu spüren bekamen. Der Strafvollzug spiegelt so gesehen das Schicksal der Weimarer Republik: die Weimarer Zeit war, so Nikolaus Wachsmann im Anschluss an Peukert, „full of contradictions: a time of change and conservatism, optimism and despair, radical reform and missed opportunities, humanitarian dreams and authoritarian initiatives.“ Gerade diese Widersprüche der Weimarer Moderne aber waren es, die so weitreichende Folgen hatten, denn: „It was also a time which left important legacies for the Nazi period – not least in penal policy“ (Wachsmann 2004: 18). Im Folgenden soll zunächst ein Abriss über die Reform des Strafvollzugs im 19. und frühen 20. Jahrhundert gegeben werden. Einen Schwerpunkt stellen der Stufenstrafvollzug und Anmerkungen zur Einführung des Konzepts in Bayern dar. Die mit diesem neuen Vollzugskonzept einhergehende Einrichtung von Persönlichkeitsuntersuchungen im Strafvollzug zur Identifizierung jener Gefangenen, die in dem Stufenstrafvollzug zugeführt 

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werden können, soll ebenfalls kurz dargelegt werden, bevor der eigentliche Gegenstand, die Kriminalbiologische Untersuchung in Bayern, im nächsten Teil ausführlich behandelt wird.

D IE R EFORM DES DEUTSCHEN S TRAFVOLLZUGS IM 19. UND 20. J AHRHUNDERT Als 1921 der Stufenstrafvollzug in Bayern eingeführt wurde, war diese Idee keineswegs neu. Bereits im 18. Jahrhundert wurden, etwa vom englischen Philantropen John Howard (1726-1790), Konzepte des Besserungsstrafvollzugs diskutiert. Howards Einfluss führte 1822 in den USA zur Einrichtung des „Eastern Penitentiary“ in Philadelphia, das auf dem Konzept der strengsten Einzelhaft (solitary system) basierte. Kritik an diesem System, das die Gefangenen durch strenge Isolation zu Gott und damit zur Reue bringen sollte, führte schon 1823 zur Gründung einer Strafanstalt in Auburn, New York, in der die Gefangenen, im Gegensatz zu Philadelphia, tagsüber gemeinsam, aber schweigend, arbeiteten und nur die Nächte und ihre „Freizeit“ in Einzelzellen verbrachten – das so genannte silent system. Zwar setzte sich in den USA das Auburnsche System durch; gleichwohl aber fanden beide Vollzugsformen international Nachahmer, und es entbrannte ein Systemstreit, der die Reform des Gefängniswesens in vielen Ländern behinderte (Laubenthal 2008: 54). In Europa wurde mit der Londoner Strafanstalt Pentonville ein dem „Eastern Penitentiary“ nachempfundenes Gefängnis eröffnet, das jedoch auch erste Ansätze eines Stufensystems aufwies; ab 1857 wurde ein solches eingeführt, um den Schwierigkeiten bei der sozialen Integration, die ein abrupter Übergang von der Einzelhaft in die Freiheit mit sich bringen konnte, zu begegnen (Laubenthal 2008: 54). Der Strafvollzug in Deutschland hingegen stand nicht nur unter dem Eindruck des Systemstreits, sondern auch vor dem Problem einer Vielzahl unterschiedlicher Regelungen in den Partikularstaaten. Daran änderten weder die in den 1820er Jahren gegründeten Gefängnisgesellschaften (siehe Schauz 2008) noch eine Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende Gefängniswissenschaft (siehe Riemer 2005) oder der Erste Internationale Gefängniskongress von 1846 etwas grundlegend. Zwar kam es zum Bau von Musteranstalten nach dem Vorbild des „Eastern Penitentiary“ (Bruchsal, BerlinMoabit), aber keines der Systeme konnte sich entscheidend durchsetzen – das Nebeneinander der Systeme blieb bestehen. Trotz der Reichseinigung 1871 kam es auch während des Kaiserreichs aus vielen Gründen zu keiner einheitlichen, reichsweiten Kodifikation eines Strafvollzugsrechts. Vor allem der Systemstreit über die richtige Ausgestaltung des Strafvollzugs (Vergeltung und Abschreckung gegenüber Besserung), aber auch die heterogenen Positionen der Befürworter des Besserungskonzepts sowie der Widerstand traditioneller Strafrechtler, die in den strafrechtlichen Innovationen

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eine Aufweichung des Vergeltungskonzepts sahen, lähmten die Reformbestrebungen. Der „Entwurf eines Gesetzes über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen“, den die Reichsregierung 1879 vorlegte und der eine Form des Stufenstrafvollzugs vorsah, scheiterte dann auch, nicht zuletzt an den notwendigen finanziellen Anforderungen für den Aufbau einer neuen Infrastruktur in den Strafanstalten (Laubenthal 2008: 59). Und auch Liszts Reformprogramm, das „Marburger Programm“ mit seiner Forderung nach einem progressiven System, war aufgrund des Schulenstreits im Strafrecht und damit auch im vom Strafrecht abhängigen Strafvollzug in der Vollzugspraxis des 19. Jahrhunderts nicht wirksam geworden (Laubenthal 2008: 60). Um die Jahrhundertwende fanden sich die meisten Gefangenen im deutschen Strafvollzug in einem „cruel system of isolation and depersonalisation“ (Wachsmann) wieder, das auf der Militarisierung des Gefängnislebens beruhte: Gefangene hatten Haltung anzunehmen, wenn sie mit den Wärtern sprachen, aufzustehen, ihren Namen, ihr Vergehen und die Länge der Strafe zu nennen, wenn die Wärter ihre Zelle betraten. Überraschen kann das Obrigkeitliche und Militärische in einem Umfeld von Disziplin und Bestrafung nicht, zumal sich das Gefängnispersonal auch in Deutschland meist aus ehemaligen Soldaten rekrutierte, die nach längerem Militärdienst ein Anrecht auf eine staatliche Beschäftigung hatten. Voraussetzung für eine Tätigkeit als Wärter war allein ein Grundschulabschluss, keine Vorstrafen und ein kräftiger Körperbau – die von den ehemaligen Soldaten im Dienst habitualisierten militärischen Ideale (und bürgerlichen Tugenden) wie Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Befehlserteilung und -befolgung und Mut waren zudem willkommene Fähigkeiten (Wachsmann 2004: 23f.). Besserung schien von dieser Form des Gefängnislebens nicht auszugehen, wie auch schon zeitgenössische Kritiker bemerkten, denn „solitary confinement was often physically and mentally ruinous, the rule of silence alienated prisoners from human interaction, and the exhausting, monotonous and mindless prison labour left inmates with a general revulsion for all forms of work“ (Wachsmann 2004: 25). Jedoch erst nach dem Weltkrieg, besser: infolge des Krieges kam wieder Bewegung in die Strafvollzugsreform. Die Lage des deutschen Gefängnissystems nach dem Krieg war nun auch noch aus anderen Gründen katastrophal (Naumann 2006: 42f.; Wachsmann 2004: 22-27): Eine anwachsende Kriminalitätsrate (Eigentums- und Diebstahlkriminalität) in den letzten Kriegsjahren und in der Inflationszeit sowie die massiven Verhaftungswellen im Zuge der politischen Kämpfe (vor allem gegen linke Aktivisten) führten zu steigenden Belegungszahlen, verschärft noch durch den Verlust von Tausenden Haftplätzen durch die Gebietsabtritte infolge des Versailler Vertrages. Die Überbelegung wiederum führte zu einem Mangel an Wäsche und an Wasch- und Arbeitsmöglichkeiten, zu Krankheiten und Ernährungsengpässen. Die jährliche Sterblichkeitsrate bei Strafgefangenen war schon in den letzten Kriegsjahren stark angestiegen. Bedingt also durch die Erfahrung eines totalen Kriegs an Front und Heimatfront und einer von Hunger, 

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Inflation, Arbeitslosigkeit und Orientierungslosigkeit in sozialer und politischer Hinsicht geprägten Gesellschaft schien nur eine grundlegende Reform des Gefängniswesens, schien nur ein anderer, ein bessernder Strafvollzug zu gewährleisten, dass die Nachkriegskriminalität eine der Notsituation geschuldete Ausnahme bleiben und die durch die Lebensumstände kriminell gewordenen Strafgefangenen wieder in rechtskonforme Lebensverhältnisse zurückkehren würden. Resozialisierung schien das Gebot der Stunde. Die Gefängnisreform war auch Ausdruck der dringend nötigen Stabilisierung der aus den Fugen geratenen Nachkriegsgesellschaft durch fördernde und unterstützende Maßnahmen. Denn: Was für alle Bürger galt, sollte auch dem Straftäter zukommen; „nicht achtlose Repression, sondern bessere Förderungsmöglichkeiten sollten die noch entwicklungsfähigen Verlierer der Entwicklung, die kriminell geworden waren, in die Gesellschaft zurückholen“ (Naumann 2006: 44f.). Dies umso dringender, erschien doch die steigende Kriminalitätsrate als ein weiteres Zeichen der Auflösung der Gesellschaft, des völligen Verfalls der sozialen, politischen und moralischen Ordnung und des Verlustes von Autorität und traditionellen Werten (Wachsmann 2004: 20). Der Strafvollzug war vor diesem Hintergrund nur ein Bereich, über den die ‚große pädagogische Welle‘, wie es ein Vollzugsreformer formulierte (Wachsmann 2004: 25), hinweg ging, die durch eine Ausweitung von Fürsorgemaßnahmen und Sozialpolitik sowie von neuen, erzieherischen Methoden in anderen Institutionen, etwa in Heil- und Pflegeanstalten und Arbeitshäusern, gekennzeichnet war (Wachsmann 2004: 25). Entscheidend aber für die weiteren Reformversuche im Strafvollzug waren vor allem Bestrebungen, vor dem Hintergrund der Kriegserfahrung der Jugendlichen – geprägt von fehlender Aufsicht, Abenteuer und (Straf-) Freiheit – die Jugendgerichtsbarkeit und den -vollzug auf die Erziehung jugendlicher Straftäter auszurichten (ausführlich dazu Dörner 1991: 59107). Der Kampf gegen das als Erziehungsproblem infolge der sozialen und politischen Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit gedeutete Jugendproblem, nämlich die drohende Jugendverwahrlosung und -kriminalität, wurde zum Inhalt der Jugendfürsorge. Zugleich wurde eine staatliche Jugendarbeit und -pflege aufgebaut, vor allem aber die lange geforderte Jugendgesetzgebung in Form des „Jugendwohlfahrtsgesetzes“ (JWG, 1922) und des „Jugendgerichtsgesetzes“ (JGG, 1923) etabliert mit dem Ziel, „eine ‚gesunde und starke Jugend‘ zum Wiederaufbau des Staates und der Durchsetzung der über Parteiinteressen stehenden Volksgemeinschaft“ zu gewährleisten (Dörner 1991: 65). Das JGG war entsprechend vom erzieherischen Ansinnen durchsetzt, ohne dass inhaltliche Überlegungen, etwa wie die Erziehung denn zu gestalten sei, zu finden wären. Hinsichtlich des Strafvollzugs wurde in § 16, Abs. 1 nur bestimmt: „Der Strafvollzug gegen einen Jugendlichen ist so zu bewirken, daß seine Erziehung gefördert wird“ (RGBl. 1923, Teil I, S. 135-141). Ausgehend vom Jugendstrafvollzug – dem „Motor der Strafvollzugsreform“ (Krause 1999: 84) – und im Selbstverständnis der fürsorgestaatlichen

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Republik, Erziehung und Fürsorge in den sozialpolitischen Maßnahmen zu etablieren, begann sich zur Weimarer Zeit in der Strafvollzugsreform der Erziehungs- und Besserungsgedanke durchzusetzen (Laubenthal 2008: 60). Schon die „Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen“ vom 7. Juni 1923 (auch „Reichsratsgrundsätze“), die bis zu einem neuen Strafvollzugsgesetz wie geltendes Recht behandelt wurden, spiegelten das (ideale) Programm des Erziehungsstrafvollzugs der Republik wider: Die Gefangenen sollten an Ordnung und Arbeit gewöhnt und sittlich so gefestigt werden, dass sie nicht wieder rückfällig werden würden; Einzelhaft und Schweigegebot sowie grausame Disziplinarstrafen sollten abgeschafft werden.4 Der Etablierung des Erziehungsgedankens im Strafvollzug und seiner praktischen Umsetzung hatte sich eine politisch diverse, aber liberal orientierte Gruppe von Wissenschaftlern, Juristen und Strafvollzugsbeamten verschrieben, die 1923 unter der Führung Moritz Liepmanns die „Arbeitsgemeinschaft für die Reform des Strafvollzugs“ gründete (Wachsmann 2002: 417-419; Naumann 2006: 55f.). Weiterhin waren Liepmanns Schüler Max Grünhut (1893-1964) und Curt Bondy (1894-1972) sowie der Gießener Jurist Wolfgang Mittermaier (1867-1956) beteiligt. Im Kern vertrat die Arbeitsgemeinschaft die Auffassung, dass charakterstärkende Übungen und die kreative Stimulation der Gefangenen durch inspirierende Lehrer die gänzlich mechanischen und militärischen Formen der Anstaltsdisziplin ablösen sollten; nur, wenn den Gefangenen mehr Freiheit und persönliche Verantwortung zugestanden werden würde, könnten diese wieder zu normkonformen Bürgern werden. Es sei außerdem absurd, von „unerziehbaren“ Verbrechern zu sprechen, wenn bislang in den Gefängnissen keinerlei erzieherischen Versuche zu deren Besserung unternommen worden seien (Wachsmann 2002: 423). Zudem forderten sie, die Strafgefangenen durch Arbeit an modernen Maschinen für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Die Forderungen wurden mit Unterstützung des thüringischen Strafvollzugsreferenten Lothar Frede im Gefängnis Untermaßfeld umgesetzt: Zunächst begleitet von Ablehnung nicht zuletzt der Wärter in Untermaßfeld, die wiederholt Aufstände unter den Gefangenen anzettelten, um die Unsicherheit des pädagogischen Strafvollzugs zu beweisen, wurde dort der von Sozialarbeitern begleitete Stufenstrafvollzug bis gegen Ende der 1920er Jahre etabliert (Wachsmann 2004: 27-35). 1929 und 1930 dann zeigten sich jedoch erste Brüche innerhalb der Arbeitsgemeinschaft: Die Verteidiger des pädagogischen Strafvollzugs beklagten die fehlende Durchsetzung erzieherischer Prinzipien im zeitgenössischen Strafvollzug, den Gegnern hingegen erschien vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und der zunehmenden Kritik an einem „verweichlichten“ Strafrecht und Strafvollzug ein Festhalten am Resozialisierungsprinzip nicht mehr opportun (Naumann 2006: 63 und 85f.). Nicht nur die Arbeitsgemeinschaft war gespalten; die Strafvollzugsreformer insge-

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Naumann 2006: 46-50; Dörner 1991: 108-121; Wachsmann 2002: 415f.



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samt verspürten schon seit Mitte der 1920er Jahre verstärkten Gegenwind (Naumann 2006: 72-81; Wachsmann 2002: 422f.). Zwar versuchte sich das Parlament 1927 noch einmal am Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, der die Trennung von jüngeren und älteren Gefangenen, Stufenstrafvollzug in seinen wesentlichen Elementen und die Sicherungsverwahrung für kleine Zielgruppe vorsah, aber nicht realisiert wurde (Naumann 2006: 101f.). Insgesamt zeigt sich für die Reformbestrebungen im Strafvollzug der Weimarer Republik, dass zwar zunächst viele ambitionierte fürsorgerische Projekte in Angriff genommen worden waren, dass aber schon nach 1925 die politische und gesellschaftliche Unterstützung für mehr sozialstaatliche Maßnahmen im Strafvollzug wieder abnahm. Abgesehen vom Stufenstrafvollzug, dessen erzieherische Wirkung sehr von der Praxis abhing und leicht als pädagogisch bemäntelte Disziplinarmaßnahme eingesetzt werden konnte, wurden nur wenige Forderungen der Reformer umgesetzt. Zumeist wurde Zugang zu Sport, Theater, Musik oder Radio gewährt, während nur selten reformorientiertes Personal eingestellt oder mehr Selbstverantwortung der Gefangenen realisiert wurde. Das hatte verschiedene Gründe: Sicherlich fiel es dem häufig noch im Kaiserreich geschulten Strafvollzugspersonal schwer, das gewohnte, auf unbedingte Disziplin fixierte Ordnungssystem der Strafanstalten auch mental zu überwinden und Verbrecher nun gleichsam ‚über Nacht‘ als selbstverantwortliche Individuen zu behandeln. Zögerliche, skeptische Haltungen bis hin zur offenen Opposition, getragen von der Auffassung, dass die Gefangenen zu sanft behandelt würden, prägte die Situation sowohl in den Gefängnissen als auch in manchem Presseerzeugnis der Zeit (Wachsmann 2004: 30-35). Letztlich wirksame Kritik an der erzieherischen Ausrichtung von Strafrecht und Strafvollzug kam auch aus den Reihen von Strafrechtlern und Strafvollzugspraktikern, die sich in der „Deutschen Strafrechtlichen Gesellschaft“, einer „Äußerungsplattform einer Gruppe unzufriedener konservativer Strafrechtler“ (Naumann 2006: 76), organisierten. Auch ihnen galt die praktizierte Strafbemessung als zu milde, sie plädierten für Verbrechensvorbeugung durch polizeiliche Internierung und verlangten höhere Strafen für Rückfalltäter zum Zweck der entschiedenen Generalprävention. Dass diese Positionen gegen Ende der 1920er Jahre an Gewicht gewannen, hatte aber auch Gründe, die in der Reformbewegung und im Erziehungskonzept selbst zu suchen waren. Widerstand des Strafanstaltspersonals, aber auch der Gefangenen und einer zunehmend auf Härte im Strafvollzug bedachten Öffentlichkeit sowie die Krise auf dem Arbeitsmarkt, die gegen Ende der 1920er Jahre auf die Gefangenenarbeit im Gefängnis durchschlug und zu einer Reduzierung der für die Resozialisierung so wichtigen Tätigkeiten führte, hatten zur Folge, dass die Reformer begannen, an der Durchsetzbarkeit ihres Konzepts zu zweifeln (Wachsmann 2002: 428f.). Und am Konzept selbst, geriet doch die Sozialpädagogik insgesamt und damit auch der Erziehungsvollzug angesichts der öffentlichen und professionellen Ablehnung einer „falsch verstandenen Humanität“, einer „ver-

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weichlichten“ Pädagogik, die „alles versteht und alles verzeiht“, und der Sehnsucht nach Härte und Autorität allmählich in die Defensive. Es fiel das Schlagwort von den „Grenzen der Erziehbarkeit“. Wie das Beispiel des Stufenstrafvollzugs in Bayern und der Kriminalbiologischen Untersuchung zu Eingang dieses Kapitels belegt und wie daran noch zu zeigen sein wird, ging die Tendenz des Strafvollzugs dahin, dessen pädagogischen Anteil hinsichtlich der als „unverbesserlich“ erachteten Strafgefangenen massiv zu beschneiden. Auch die NSDAP attackierte die Weimarer Justiz und forderte, dass mit ‚Schwäche‘ und ‚Humanitätsdusele’ gegenüber Strafgefangenen, wie sie im Stufensystem deutlich würden, ein Ende gemacht und erneut Vergeltung und Abschreckung, Härte und Autorität gegenüber Besserung und Erziehung der Vorzug gegeben werden müsse. Nikolaus Wachsmann konstatiert, dass diese Angriffe zum Teil dem Ziel dienten, sich auf Kosten des angeblich schwachen liberalen Weimarer Strafvollzugs zu profilieren und damit von der verbreiteten Angst vor Verbrechen zu profitieren. Doch bereits vor der Machtergreifung zeigten die Nationalsozialisten, welches Schicksal dem Weimarer Besserungsvollzug wohl beschieden sein würde: Nach ihrem Sieg bei der Landtagswahl in Thüringen Mitte 1932 setzten die Nationalsozialisten mit Alfred Krebs, dem Leiter des Modellzuchthauses Untermaßfeld, Curt Bondy, mittlerweile Direktor der Jugendstrafanstalt Eisenach, und Lothar Frede die drei hohen Gefängnisbeamten ab, welche die Reformen im Strafvollzug maßgeblich gestaltet und umgesetzt hatten (Wachsmann 2002: 52f.). Spätestens hier schien das Projekt des pädagogischen Strafvollzugs für alle Gefangenen gescheitert. Was für das liberale Strafrecht, wohl für die „Klassische Moderne“ insgesamt gilt, zeigt sich auch im Strafvollzug: Die mit hohen Ansprüchen versehenen gesellschaftlichen Veränderungen und Reformen konnten die in sie gesetzten Erwartungen nicht zuletzt wegen fehlender Unterstützung nicht erfüllen. Zu Anfang der 1930er Jahre war der Erziehungsstrafvollzug vollends in eine Krise geraten: Der Resozialisierungsgedanke konnte sich nur in geringem Maße durch- und das alte Verwahrvollzugssystem nicht ersetzen, es fehlte an gut ausgebildetem Personal, an Arbeitsmöglichkeiten für die Gefangenen, an einer wirkungsvollen Entlassenenfürsorge und an Arbeitsplätzen für Entlassene. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffte eine Lücke, die allmählich auch von den Reformern selbst nicht mehr geschlossen werden konnte. Spätestens mit der Weltwirtschaftskrise brach der Weimarer Fürsorgestaat auseinander. Auf breiter Front wurden die staatlichen Aufwendungen für die Fürsorge (Arbeitslosengeld, Wohlfahrtsunterstützung, Aufwendungen für gesellschaftliche Außenseiter und oder Behinderte, Geisteskranke oder eben Strafgefangene) reduziert. Mit ähnlichen Folgen wie in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg: Erneut kam es aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu einem Anstieg vor allem der Diebstahlskriminalität und wieder zu einer Überbelegungskrise in den Strafanstalten. Die Lebensbedingungen in den Gefängnissen sanken ab, und die Schwierigkeiten gerade für ehemalige Häftlinge, sich in den ökonomischen Zwängen einen 

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Lebensunterhalt ohne Straftaten zu sichern, ließ die Zahl der Rückfalltäter erneut steigen (Wachsmann 2002: 427). In Zeiten der Krise geriet der pädagogische Strafvollzug von vielen Seiten unter Druck: „The attack on the prison system went far beyond local prison officials, and involved rightwing journalists and politicians, as well as judges and state prosecutors, who joined in the call for cuts in prisoner provisions and a ‚limitation of exaggerated measures of education and reform‘” (Wachsmann 2002: 428). Vor diesem Hintergrund musste Kritik an einem Strafvollzug aufkommen, in dem die Gefangenen angeblich besser lebten als die freien Bürger – mit der Folge, dass der Lebensstandard für die Gefangenen gesenkt wurde. Kein Widerstand der Reformer konnte die Erosion des Erziehungsvollzugs aufhalten, was ebenso wie die schnelle Beseitigung reformerischer Maßnahmen nach 1933 belegt, wie wenig verankert die pädagogischen Bestrebungen im Weimarer Strafvollzug waren, wie wenig Vertrauen einer Erziehung zur Selbstverantwortung im Gefängnis entgegengebracht wurde und wie viel hingegen Autorität, Disziplin und vergeltender Bestrafung. Das Gefängnispersonal begrüßte die neue Entwicklung der härteren Behandlung der Strafgefangenen seit den frühen 1930er Jahren so weitgehend, dass „there was no need for the Nazis to purge the prison service“ (Wachsmann 2002: 431). In der Tat war die Unterstützung für die Unschädlichmachung von „unverbesserlichen“ Verbrechern eine der wichtigsten Hinterlassenschaften für den Strafvollzug im Nationalsozialismus, und nicht zufällig wurde, wie schon dargelegt, bereits im November 1933 das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ mit der Maßregel der Sicherungsverwahrung eingeführt. Auch hier zeigt sich wieder das Motiv von der Janusköpfigkeit der „Klassischen Moderne“, wiesen doch schon die antiliberalen Positionen in der Diskussion um das Strafrecht und den Strafvollzug, die nach der „Machtergreifung“ in die Praxis umgesetzt wurden, durchaus Merkmale der modernen Strafrechtsschule auf – was, wie Klaus Marxen treffend analysiert, nur möglich war, weil das moderne „Konzept einer Besserungs- und Sicherungsstrafe im Keim illiberales, rechtsstaatsgefährdendes Gedankengut enthielt“ (Marxen 1975: 248). Auch daran konnten die Nationalsozialisten nach ihrem Machtantritt anknüpfen (Laubenthal 2008: 62f.): Sie versuchten, viele Strafvollzugsreformen zurückzunehmen; was umso leichter gelang, je stärker sie, rechtsnationale Positionen aus den frühen 1930er Jahren fortführend, den Strafvollzug der Weimarer Jahre diskreditierten. 1939 legte eine vom Reichsjustizministerium eingesetzte Kommission einen Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes zur Neugestaltung des „Strafvollstreckungsrechts“ vor, der in Einklang mit den nationalsozialistischen Strafzwecken den Prinzipien „Schutz des Volkes“, „Sühne“ und „Festigung des Willens zur Gemeinschaft“ folgte; eine gesetzliche Regelung auf Basis dieses Entwurfs gelang nicht mehr. Stattdessen erließ der Reichsjustizminister 1940 eine Allgemeinverfügung, welche die Dienst- und Vollzugsvorschriften für den Strafvollzug vereinheitlichen sollte, und die dann die Grundlage für einen rigiden Vergeltungs- und Sicherungsvollzug bildete (Laubenthal 2008: 63).

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S TUFENSTRAFVOLLZUGS

Trotz seines Scheiterns war der pädagogische (Stufen)Strafvollzug die zentrale und in Teilen auch umgesetzte Reformidee im Strafvollzug des frühen 20. Jahrhunderts, weshalb dieser hier noch einmal gesondert betrachtet werden soll. Zu Anfang stand die Beobachtung, dass strikte Einzelhaft für alle Gefangenen nicht dazu geeignet war, den Gefangenen zu ermöglichen, sich in eine Gemeinschaft einzufügen und verantwortlich zu handeln. Das Prinzip des Stufenstrafvollzugs sollte dem entgegenwirken: Die Gefangenen sollten ein System aus drei Stufen der allmählichen Lockerung der Haftbedingungen (von der Einzelhaft bis zur Entlassungsvorbereitung) und der Gewährung von Vergünstigungen, das mit steigenden Anforderungen an die Willenskraft der Gefangenen einherging (Dörner 1991: 122), durchlaufen. Mit anderen Worten: Stufenweise Vergünstigungen der Haftbedingungen als Gegenleistung für gute Führung und erkennbaren Änderungswillen sollten den Erziehungserfolg sicherstellen. Das Stufensystem war bereits in den „Reichsratsgrundsätzen“ empfohlen worden; es war jedoch den Ländern überlassen, das System einzuführen. Bis 1926 war dies dann in allen Länder geschehen, mit Bayern (1921) und Thüringen (1922) als Vorreitern. Es war von Anfang an unklar, ob der Stufenstrafvollzug eher dazu dienen sollte, den besserungsfähigen Gefangenen Aufstiegs- und Wiedereingliederungsmöglichkeiten zu bieten oder doch die angepassten von den nicht angepassten, den im Urteil der Strafvollzugsbeamten lästigen Insassen zu trennen – der Stufenstrafvollzug war gekennzeichnet durch die Verbindung von Erziehung und Selektion (Naumann 2006: 64; Müller 2004: 230). Der für den Strafvollzug in Bayern zuständige Ministerialrat Richard Degen verband, wie eingangs schon beschrieben, mit dem Stufensystem beides: einerseits die Hoffnung, durch geeignete Maßnahmen den Besserungswillen der Gefangenen zu stärken und sie auf eine sittliche Lebensführung für die Zeit nach der Entlassung vorzubereiten; andererseits war es Degen aber auch darum zu tun, die „erziehbaren“ Gefangenen sogleich dem schlechten Einfluss der „unerziehbaren“ Gefangenen zu entziehen (Degen 1926: 5). Diese Ambivalenz war im Stufenstrafvollzug angelegt, und es blieb den Gefängnisoffiziellen sowie den Strafgefangenen überlassen, den Rahmen, den diese Ambivalenz vorgab, durch ihr Verhalten auszufüllen. In diesem Rahmen dürften sich in der Praxis die Vergünstigungen nicht selten als Belohnung für Anpassung und Wohlverhalten angeboten haben, womit sich auch schon der immanente Charakter des Stufensystems zeigt: Es kam, nicht zuletzt in Bayern, als Verfeinerung des Systems der Disziplinarmaßnahmen zum Einsatz und war ein erfolgreiches Mittel zur Aufrechterhaltung der Anstaltsdisziplin (Laubenthal 2008: 72; Dörner 1991: 125; Naumann 2006: 70; Wachsmann 2004: 50). Zudem: „Many prison officials agreed that, as long as security confinement had not become law, ‚incorrigible‘ inmates should at least be excluded from most benefits“ (Wachsmann 2002: 424). Ein System zur Erziehung zu einem straffreien Leben in Freiheit jedenfalls konnte 

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der Stufenstrafvollzug unter diesen Bedingungen kaum sein, zumal die Vergünstigungen – mehr Tabak, mehr Freigang im Hof der Strafanstalt – wenig erstrebenswert waren. In der Tat lag der eigentliche Zweck darin, den Gefangenen einen Anreiz zu konformen Verhalten zu bieten, sie an die Befolgung sozialer Regeln zu gewöhnen, ihnen zu zeigen, dass sie belohnt werden, wenn sie sich so verhalten, wie es andere, die belohnen können, von ihnen erwarten. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass der Stufenstrafvollzug auf dem Erziehungsideal der instrumentellen Konditionierung – Verhaltensänderung durch Belohnung für das gewünschte Verhalten – beruhte; ein Aspekt, der hier nicht vertieft werden kann. Blickt man auf das Beispiel Bayern, so zeigt sich, dass der Stufenstrafvollzug als eine moderne Form des Strafvollzugs verstanden wurde, der, von Optimismus begleitet, versprach, den pädagogischen Anforderungen an einen modernen Strafvollzug zu entsprechen – der jedoch zugleich, wie Christian Müller zu Recht betont, fest in traditionellen, christlichkonservativen Erziehungskonzepten verankert war und mit dem strikten Ausschluss bestimmter Gefangener einen überaus repressiven Charakter offenbarte (Müller 2004: 235f.; so auch Naumann 2006: 71f.). Im Gegensatz zum Stufenstrafvollzug in anderen Ländern wie etwa im liberalen Thüringen oder in Sachsen war die Variante im katholischen Bayern pädagogisch anders ausgerichtet, indem dort für den Erziehungsstrafvollzug keine speziell ausgebildeten Fürsorger eingestellt, sondern die Lehrer und Pfarrer in den Anstalten mit dieser Aufgabe betraut wurden, die einem eher konservativen, auf Moral und Disziplin ausgerichteten pädagogischen Ideal folgten. Das dreistufige bayerische System sah vor (Naumann 2006: 71), dass – zunächst unabhängig von der sozialen Prognose auf Besserungsfähigkeit oder Unverbesserlichkeit – jeder Gefangene mindestens sechs Monate in Stufe 1, der Eingangs- und härtesten Stufe ohne Vergünstigungen, zu verbleiben hatte. Über den Aufstieg entschied die Beamtenkonferenz. Wurde dem Aufstieg zugestimmt, sollte der Gefangene auch in Stufe 2 mindestens sechs Monate bleiben und nachts in Zellen- und tagsüber in Gruppenhaft „gehalten“ werden. Auch sollten die Gefangenen dieser Stufe zu Außenarbeiten herangezogen werden. Frühestens nach einem Jahr also konnte der Aufstieg in Stufe 3 erfolgen, wenn sich der Gefangene in Stufe 2 tadellos geführt und die Beamtenkonferenz überzeugt war, dass die Strafe ihren Zweck erfüllt hatte und der Gefangene den ernstlichen Willen und die sittliche Kraft habe, nach seiner Entlassung ein ordentlicher Mensch zu werden und zu bleiben. In der dritten Stufe sollte die Strenge des Strafvollzugs weitgehend zurückgenommen werden; so erhielten die Gefangenen statt der typischen Gefangenenkleidung eine der Arbeitskleidung der freien Arbeiter angenäherte Kleidung, eine wesentlich höhere Arbeitsbelohnung, besser und freundlicher ausgestattete Hafträume. Außerdem sollten für die Gefangenen dieser Stufe an Sonntagnachmittagen Vorträge zur sittlichen Erbauung gehalten oder sie die Möglichkeit bekommen, an musikalischen oder turneri-

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schen Veranstaltungen teilzunehmen. Im Übrigen konnte die Beamtenkonferenz jederzeit eine Rückversetzung anordnen. In einer weiteren Ministerialentschließung5 bestimmte das Justizministerium als Voraussetzung für den Stufenstrafvollzug die Trennung der unverbesserlichen von den besserungsfähigen Gefangenen auf der Basis von Straflisten, Urteilsgründen und Erhebungen bei den Polizeibehörden. Die unverbesserlichen Gefangenen kämen nur für die Stufe 1 in Frage. Zwar sollten die Gefangenen, die nach dem neuen System der Stufe 1 zugeordnet würden, nicht sogleich die bisherigen Vergünstigungen entzogen bekommen, doch könne dies bei der nächsten Verfehlung gegen die Hausordnung geschehen. Bald schon wurden Klagen laut, sowohl von Seiten der Gefangenen wie auch der Anstaltsbeamten. Die Gefangenen beklagten, dass die Vergünstigungen in Stufe 1 wegfielen, was das Justizministerium mit den Worten kommentierte, es werde durch Äußerungen von Gefangenen „wie ‚es sei ja jetzt im Zuchthause gar nicht mehr schön‘ dargetan, wie notwendig es war, gerade gegenüber denjenigen Gefangenen, die es meisterhaft verstanden haben, sich das Leben in der Strafanstalt so angenehm als möglich zu machen, die Strenge des Strafvollzugs mehr zu betonen.“6 In der Tat aber stellte das Stufensystem zunächst einmal eine deutliche Verschlechterung der Haftbedingungen dar. Obwohl einige der Häftlinge, die ursprünglich als „unverbesserlich“ eingestuft worden waren, wegen guter Führung in die zweite Stufe aufrücken durften, hatten die meisten die harten Bedingungen der Stufe 1 zu ertragen. Mit Folgen: „Für sie bestand auch langfristig keine Aussicht, in eine bessere Stufe eingruppiert zu werden. Das Leben eines Gefangenen in Stufe I war äußerst reglementiert, insbesondere für Zuchthausinsassen: das Sprechverbot galt sowohl bei der Arbeit als auch bei dem einstündigen Hofgang. Zulagen zur kargen und eintönigen Anstaltskost wurden nicht gewährt, und Besuche der Angehörigen waren nur alle drei Monate für jeweils 15 Minuten gestattet. Im September 1924 befanden sich drei Viertel aller bayerischen Zuchthäusler auf dieser ersten Stufe.“ (Burgmair et al. 1999: 260)

Die Kritik der Anstaltsbeamten hingegen betraf den Begriff der „Unverbesserlichkeit“ und seine Anwendung auf bestimmte Gefangene; man beklagte das Fehlen genauer Kriterien für die Einteilung. Hier präzisierte die Ministerialentschließung, dass der Begriff nur zur Trennung der Gefangenen, nicht aber als Urteil, geradezu als ein „Stigma“, verwendet werden solle. Das wäre auch pädagogisch verfehlt: „Kein ‚Unverbesserlicher‘ darf ohne weiteres von der Vorrückung in Stufe 2 ausgeschlossen sein; es liegt nur an ihm, ob er sich eine solche verdienen will; das Stufensystem, die lockenden Vergünstigungen der Stufen 2 und 3 sollen ihre Kraft erst an ihm bewähren.“

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Ministerialentschließung 63798, v. 2.8.1922 (Stufenstrafvollzug, Bd. 1: 19-21). Ministerialentschließung 53740 v. 2.11.1922 (Stufenstrafvollzug, Bd. 1: 21).



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Ausdrücklich verweist die Ministerialentschließung darauf, den „aus dem Gesamtverhalten des Gefangenen zu schließenden Besserungswillen“ in den Vordergrund der Beurteilung zu rücken; „was als wirklich unverbesserlich in der Stufe 1 bleibt, sollen nur solche Gefangene sein, die trotzig in der Ablehnung aller Entwicklungs- und Besserungsbestrebungen verharren“. 7 Vor der Etablierung der Kriminalbiologischen Untersuchung war es also die durch die Strafanstaltsbeamten zu beurteilende Willensentscheidung des Gefangenen, sich gut zu führen und damit Anlass zur Hoffnung zu geben, nach der Haftentlassung ein normkonformes Leben zu führen, die für die Trennung der Gefangenen und ihre Einstufung den Ausschlag gab. „Unverbesserlich“ war nur, wer sich nicht bemühte; zunächst wurde kein eventuell biologisch bedingter Mangel an pädagogischer Zugänglichkeit angenommen. Die anfängliche Unklarheit über die Einteilung sorgte jedoch für einigen Unmut, und das bayerische Stufensystem „seemed doomed to founder on criminological confusion and imprecision.“ (Liang 1999: 85)

P ERSÖNLICHKEITSUNTERSUCHUNGEN IM S TRAFVOLLZUG Bislang hatte man also die Gefangenen eher ‚gefühlsmäßig‘ eingeteilt, „nach Richtlinien, die lediglich aus praktischen Erfahrungen im Strafvollzuge heraus aufgestellt worden waren“ (Klare 1930: 7). Diese intuitive Einteilung – oft das Ergebnis eines informellen Austauschs zwischen den Zuchthausgeistlichen, den dort tätigen Lehrern und untergeordneten Vollzugsbeamten über die Persönlichkeit eines Gefangenen (Liang 1999: 84) – stellte das eigentliche Problem im Stufenstrafvollzug dar: Es fehlten klare Kriterien für die Zuordnung der Strafgefangenen zu den einzelnen Stufen. Werde aber, wie das Justizministerium in der Ministerialentschließung zur Einrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung vom 7. Juli 1923 eingestand, die so wichtige Entscheidung über die Besserungsfähigkeit eines Gefangenen nur auf diese Weise gefunden, bleibe „das Stufensystem immer ein Bau auf schwankender Grundlage, der mühsam gestützt werden muß und zusammenstürzt, sobald sein Fundament ins Wanken gerät“.8 Das Problempotential fehlender Kriterien zeigte sich bereits bei den Zuordnungen, z. B. aber auch darin, dass die Strafgefangenen zu wissen verlangten, aufgrund welcher Kriterien ihnen der Schritt in die höhere, bessere Stufe verweigert wurde (Liang 1999: 84). Hiermit ist die entscheidende, handlungsinitiierende Krise des Stufensystems beschrieben; es war dies eine Krise, die man in Bayern mit Hilfe von mehr Wissen vom einzelnen Verbrecher, also durch die systematische und detailreiche Erforschung seiner Persönlichkeit, zu lö-

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Ministerialentschließung 53740 v. 2.11.1922, S. 22. Ministerialentschließung 32222 v. 7.7.1923 (Stufenstrafvollzug, Bd. 1: 28).

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sen gedachte. Um die Eignung für den Stufenstrafvollzug festzustellen, war also ein umfangreicher Persönlichkeitstest nötig, dessen früheste und zugleich elaborierteste Form eben die Kriminalbiologische Untersuchung in Bayern war. Persönlichkeitsuntersuchungen wurden allgemein begrüßt und für durchaus nötig erachtet. Bevor die Kriminalbiologische Untersuchung in Bayern, der eigentliche Gegenstand, im nächsten Teil der vorliegenden Studie ausführlich dargestellt wird, sei hier noch ein Blick auf Persönlichkeitsuntersuchungen in Belgien und Lettland und auf solche, die ebenfalls noch zur Weimarer Zeit in Sachsen und Preußen eingerichtet wurden, geworfen. In Brüssel bestand schon seit 1907 das kriminalanthropologische Laboratorium, das mit dem Zweck eingerichtet worden war, alle Strafgefangenen einer anthropologischen Prüfung zu unterziehen, um durch eine Klassifizierung eine individuelle Anwendung der Strafe erreichen zu können. Benutzt wurde ein Fragebogen, der neben psychiatrischen Aspekten auch psychologische, soziologische und kriminologische Zusammenhänge erfragte. 1920 wurden diese Untersuchungen für alle belgischen Gefängnisse verpflichtend. Und in Riga hatte Ferdinand von Neureiter (1893-1946) 1924 ein Kriminalbiologisches Kabinett als Abteilung seines gerichtsmedizinischen Instituts gegründet. Ziel war die Untersuchung der Strafgefangenen hinsichtlich Anlage und Umwelt. Neureiter hatte keinen eigenen Fragebogen entwickelt, sondern zunächst den belgischen verwendet, bevor er 1926 den bayerischen Fragebogen übernahm (Oberthür 1976: 6f.). In Sachsen etablierte der Mediziner Rainer Fetscher (1895-1945) im Jahr 1925 eine „Erbbiologische Kartei“, die weniger auf eine individuelle Behandlung von Gefangenen im Strafvollzug ausgerichtet war, als vielmehr auf die Sammlung von Daten über abweichende Personengruppen und die dem Ziel diente, auf der Basis der Ergebnisse sozialhygienische Maßnahmen – bei Fetscher waren dies in erster Linie Eheberatung und Sterilisation aus eugenischen Gründen – zu etablieren (Simon 2000: 129). Dabei folgte Fetscher einer zentralen Argumentationslinie des eugenischen Diskurses, indem er auf die Kosten hinwies, die gespart werden könnten, würde durch Sterilisation, auch von Verbrechern, „erbkranker“ Nachwuchs verhindert. Mit Blick auf Strafgefangene sollte die Kartei, die der sächsische Staat finanziell unterstützte, als beurteilendes Gutachten im Strafverfahren dienen, im Strafvollzug und in der Entlassenenfürsorge die individuelle Behandlung erleichtern, eine vorbeugende Fürsorge bei Nachkommen von Strafgefangenen ermöglichen sowie eine Grundlage bieten für die Zeit, wenn die geforderte Unfruchtbarmachung „Minderwertiger“ realisiert sein würde (Simon 2000: 135). Letztlich zielte Fetscher jedoch auf eine erbbiologische Erfassung der gesamten Bevölkerung, um diese als Basis zu nutzen, in allen Fürsorge- und Wohlfahrtsbereichen biologische Kriterien für die Behandlung und Mittelvergabe anzulegen (Simon 2000: 135f.). Auch Fetscher entwickelte einen Fragebogen, mit dem jeder Gefangene in Sachsen zu untersuchen war. Ähnlich dem bayerischen, von dem Fetscher nach eigenen Anga

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ben keine Kenntnis hatte (Liang 1999: 171), wurden auch mit diesem Fragebogen die Verwandtschaftsverhältnisse des Gefangenen erfragt, sodann Angaben über die soziale Lage, das charakterologische Bild und über Art und Umfang der Kriminalität gesammelt und anthropometrische Messungen angefertigt (Simon 2000: 136). Mit der Erhebung waren jedoch nicht immer die Anstaltsärzte, sondern nicht-medizinisches Personal wie Lehrer, Beamte oder Geistliche betraut, weshalb in Sachsen – anders als in Bayern – weniger Gewicht auf die kriminalbiologische Persönlichkeitsforschung gelegt wurde, mit der Folge, dass die Ergebnisse der Kartei nicht zur unmittelbaren Einstufung und Behandlung der Strafgefangenen im Strafvollzug eingesetzt wurden, sondern dem unmittelbaren Ziel der Registrierung der Verbrecher sowie dem langfristigen Ziel einer „qualitativen Bevölkerungspolitik“ nach sozialhygienischen Maßgaben dienten (Simon 2000: 138). Preußen führte eine Persönlichkeitsuntersuchung von Strafgefangenen erst 1929 ein, basierend auf dem bayerischen Modell. Anders aber als in Bayern, wo ein zufälliges System die zu untersuchenden Gefangenen bestimmte, sollten in Preußen nur Verbrecher, die bestimmte Delikte aus dem Bereich der Schwer- und Gewohnheitskriminalität (Verbrechen gegen das Leben, Sittlichkeitsverbrechen, Raub und Erpressung, Brandstiftung, Taschendiebstahl) sowie Schwererziehbare kriminalbiologisch untersucht werden, wobei ebenfalls ein Fragebogen verwendet wurde, der Angaben zur Familie, zum Vorleben, zum Charakter, Temperament, zu „degenerativen Zügen“ und zur Intelligenz des Probanden erfragte (Simon 2000: 150). Wegen der hohen Belegungszahlen wurden jedoch nur wenige Gefangene untersucht; bis 1933 gab es nur 398 kriminalbiologische Untersuchungen (Liang 1999: 176). Oliver Liang führt für diesen Unterschied zu Bayern an, dass hier der stärkere rassenhygienische Zug zu einer Ausweitung der Untersuchungen beigetragen, der Widerstand linker Kreise in Preußen hingegen eine erfolgreiche Implementierung der Untersuchungen verhindert habe (Liang 1999: 177). Dass sich auch andere Länder an einer Persönlichkeitsuntersuchung im Strafvollzug versuchten, zeigt, dass aus Sicht der damit befassten Theoretiker und Praktiker nur eine solche Untersuchung das Problem des Stufenstrafvollzugs, die Bestimmung des Personenkreises, bei dem Aussicht auf pädagogischen Erfolg und Resozialisierung bestand, zu lösen in der Lage war. Viernsteins Kriminalbiologische Untersuchung war im Vergleich zu den Einrichtungen in Sachsen und Preußen die elaboriertere Version einer solchen Persönlichkeitsuntersuchung. Dieser soll nun der dritte Teil der vorliegenden Arbeit gewidmet sein.

Topografie der Abweichung – Kriminalbiologische Untersuchung und Sammelstelle

Viernstein und die Einrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung

Theodor Viernstein1 hatte nach seinem Studium der Medizin in Tübingen und München, wo er 1903 zum Dr. med. promoviert wurde, und nach einigen Jahren als Assistenzarzt eine beachtliche, wenngleich ambivalente Karriere in zwei Feldern gemacht: im bayerischen Staatsdienst zum einen, im interdisziplinären wissenschaftlichen Netzwerk der Kriminologen zum anderen. Er begann als Anstaltsarzt in den bayerischen Gefängnissen Kaisheim, wo er bereits erste empirische Untersuchungen über die dortigen Strafgefangenen unternahm, und Straubing. Mittels zahlreicher Denkschriften und Fachaufsätze setzte Viernstein seine Vorstellung einer Persönlichkeitsausmessung von Strafgefangenen durch und erreichte schließlich die Institutionalisierung der Kriminalbiologischen Untersuchung in den bayerischen Strafanstalten sowie die Einrichtung der Kriminalbiologischen Sammelstelle. Institutionsgeschichtlich betrachtet waren Untersuchung und Sammelstelle ein voller, beispielgebender Erfolg: Schon Mitte der 20er Jahre interessierten sich Justizministerien anderer deutscher Länder für die bayerische Einrichtung, und es waren, wie schon eingangs erwähnt, bis 1930 Kriminalbiologische Untersuchungen und Sammelstellen in Württemberg, Sachsen, Baden und Preußen eingerichtet worden, die sich zum Teil an Viernsteins Fragebögen orientierten. Nach 1933 wurden reichsweit Kriminalbiologische Untersuchungen an Strafgefangenen nach dem Vorbild der bayerischen durchgeführt. 1937 schließlich rief der Reichsjustizminister den reichseinheitlichen Kriminalbiologischen Dienst ins Leben: Vom bayerischen Modell wurde die Trennung von Kriminalbiologischer Untersuchung und Kriminalbiologischer Sammelstelle übernommen, so dass über das ganze Reich verteilt Untersuchungsstellen in 73 Vollzugsanstalten und neun Kriminalbiologische Sammelstellen etabliert wurden (Oberthür 1976: 1416). Mit diesem Erfolg war Viernsteins Aufstieg in der Hierarchie der Staatsverwaltung vom Anstaltsarzt zum Obermedizinalrat und schließlich

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BHStA, MK 35772, Entnazifizierungsbogen (Viernstein, 24.3.1946); BHStA, Minn 85264, Personalbogen für Medizinalrat Viernstein.

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zum Ministerialrat im Bayerischen Innenministerium verbunden; ein Erfolg, der – dieses Eindrucks kann man sich kaum erwehren – auf dem persönlichen Ehrgeiz Viernsteins und seinem Kampf um die Anerkennung der Tätigkeit der Ärzte in Strafanstalten beruhte. Diese wiederum, in deren Namen er kämpfte, hatten jedoch keine uneingeschränkte Freude an Viernsteins Einsatz: Wie noch zu zeigen sein wird, fühlten sich die übrigen bayerischen Anstaltsärzte bei der Entscheidung über diese doch zentrale Erweiterung ihrer Aufgaben übergangen, kritisierten aber auch die Form der Untersuchung und scheuten vor allem den erheblichen zeitlichen Mehraufwand. Auch mit der wissenschaftlichen Begründung der Kriminalbiologischen Untersuchung polarisierte Viernstein: Begeisterter Zustimmung und Unterstützung (vor allem aus Kreisen der Justizverwaltungen) standen Kritiker aus Wissenschaft und Gefängniswesen gegenüber, die sein System deutlich ablehnten. Die Ministerialbeamten, allen voran der für den bayerischen Strafvollzug zuständige Ministerialdirektor Richard Degen, scheinen den sicherheitspolitischen Verheißungen der Kriminalbiologischen Untersuchung erlegen zu sein und sahen in ihr ganz offensichtlich ein probates Mittel, die besserungsfähigen, resozialisierbaren Verbrecher von den unverbesserlichen, den auch zukünftig für die Gesellschaft gefährlichen Verbrechern, unterscheiden zu können. Dagegen schlossen sich an eine grundsätzliche, pädagogisch fundierte Kritik an den Konzepten „Besserungsfähigkeit“ und „Unverbesserlichkeit“ auch Zweifel an der Wissenschaftlichkeit von Viernsteins Untersuchung an: Der noch geringe wissenschaftliche Gehalt von Genetik und Kriminalbiologie (und die fehlende wissenschaftliche Kompetenz der Anstaltsärzte, die die Untersuchung durchführten) ließe, so die Kritik, eine so weit reichende Anwendung noch gar nicht zu. Ambivalent erscheint schließlich auch Viernsteins Rolle im „Dritten Reich“. Von Anfang an hatte er rassenhygienische Theorien in sein Konzept eingearbeitet; nach 1933 ist nun verstärkt sprachliches und konzeptuelles Einschwingen auf die Vorstellungen des „neuen Staates“ in seinen Texten zu finden. Viernsteins Karriere im nationalsozialistischen Staat bekam aber mitnichten, wie man zunächst vielleicht vermuten würde, einen Schub: Die Ernennung zum Ministerialrat erfolgte 1933, Viernstein blieb aber weiter Leiter der Kriminalbiologischen Sammelstelle. Ein Angebot, beim Reichsgesundheitsamt in Berlin eine eigene Abteilung für Erbgesundheits- und Rassenpflege zu übernehmen, lehnte Viernstein nicht zuletzt aus finanziellen Gründen ab (Burgmair et al. 1999: 280). 1936 wurde er von der Juristischen Fakultät der Universität München zum Honorarprofessor ernannt. Er trat 1937 nach Aufhebung der Aufnahmesperre in die NSDAP ein und – nach eigenen Angaben – 1943, ein Jahr nach seiner Pensionierung, wieder aus. Seine Gutachtertätigkeit führte Viernstein, unterstützt von der amerikanischen Militärbehörde, im Übrigen nach dem Krieg bis 1947 fort. Ambivalenz also kennzeichnet Person und Karriere Viernsteins und sie kennzeichnet auch die Kriminalbiologische Untersuchung und die Sammelstelle. Die ausführliche Analyse der theoretischen Fundierung und der Kon-

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zeption sowie der Durchführung der Untersuchung und der Praxis der Sammelstelle wird in den Kapiteln 2 und 3 dieses Teils erörtert. Im Folgenden soll zunächst die Etablierung und Institutionalisierung der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Kriminalbiologischen Sammelstelle vor dem Hintergrund der angesprochenen Ambivalenz dargestellt werden; Viernsteins Texte werden in diesem Kapitel nur dann herangezogen, wenn sich dort Anhaltspunkte für diese Darstellung finden lassen. Ausgangspunkt ist hierbei, trotz des institutionellen Ursprungs des Gegenstands im Stufenstrafvollzug, aber wegen der engen Verknüpfung, vor allem die Person Viernstein. Aus diesem Grund werden zunächst die Anfänge Viernsteins und seine ersten Überlegungen zu einer Persönlichkeitsuntersuchung dargelegt, sodann der Durchbruch mit der Etablierung der Untersuchung und der Sammelstelle. Anmerkungen zum Verhältnis von Kriminalbiologischer Untersuchung und Kriminalpolitik schließen sich an. Ein Abschnitt wird der Popularisierung des Konzepts durch Viernstein und Degen und den Unterstützern gewidmet sein sowie der Vernetzung Viernsteins in der scientific community, aber auch deren Kritik an seiner Untersuchung. Die Darstellung der Rolle Viernsteins, der Untersuchung und der Sammelstelle in der Zeit des Nationalsozialismus schließt dieses Kapitel ab.

ANFÄNGE Als Anstaltsarzt oblag Viernstein zunächst einmal nur die ärztliche Grundversorgung der Gefangenen, doch strebte er über diese engen Tätigkeitsgrenzen hinaus und nutzte schon seine Zeit im Kaisheimer Gefängnis, um empirisches Material für Überlegungen zu den Ursachen von Kriminalität zu gewinnen und seine Ergebnisse zu publizieren. Ohne die inhaltliche Analyse dieser frühen Aufsätze zu vertiefen, sei hier doch vermerkt, dass Viernstein bereits in Kaisheim eine „ärztliche Betrachtungsweise des Verbrechers“ verfolgte und den Blick von der „irrenärztlichen Seite“ auf die „geistige Beschaffenheit der in den Strafhäusern aufgestapelten Menschenklasse“ richtete, um die Entwicklung zwischen dem „frühen Entgleisen“ und dem „Endstadium unverbesserlichen Verbrechertums“ aufzudecken (Viernstein 1911: 1f.). Kennzeichen für eine solche Entwicklung sei die „geistige Unterwertigkeit“ des Betreffenden, und bei der Schwierigkeit, diese zu erkennen und die auf „diese angeborene Unvollkommenheit zurückzuführenden moralisch-ethischen Mängel richtig zu bewerten“, bedürfe es der Psychiatrie und der Kenntnisse eines Arztes. Da also eine „zweckfördernde Strafanstaltsbehandlung“ ohne Rücksicht auf die Psyche des Häftlings unmöglich sei, komme dem Arzt „der erste, grundlegende Anteil an den auf Besserung und Resozialisierung abzielenden Bestrebungen zu, welche in Strenge, Ordnung, Arbeitszwang, Belehrung, Gewöhnung an Form und Sitte, Alkoholabstinenz usw. bestehen“ (Viernstein 1911: 21) – nämlich die Begutachtung und psychiatrisch-psychologische Einschätzung des Gefangenen.



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Dass Viernstein die Bedeutung und Wissenschaftlichkeit der anstaltsärztlichen Arbeit betonte, hatte nicht zuletzt einen professionsinternen Hintergrund, der in fast allen Texten Viernsteins anklingt: Den Ärzten in den Zuchthäusern und Gefängnissen blieb offenbar die Anerkennung der Fachkollegen weitgehend versagt – ein Zustand, der für Viernstein wohl ein starkes Motiv war, über die Etablierung eines entsprechenden Schemas für eine Erfassung der Persönlichkeit von Strafgefangenen Anerkennung für die Anstaltsärzte einzufordern und damit deren Situation (und somit auch seine eigene!) zu verbessern: „Das Ansehen der ärztlichen Arbeit im Strafvollzuge sowohl wie auch unleugbare praktische Belange des Strafvollzugs erforderten gebieterisch, die ärztliche Tätigkeit bei der Aufnahme von Strafhauszugängen auf eine andere, höhere Grundlage zu stellen“ (Viernstein 1924: 2). Der Anstaltsarzt solle in seiner Rolle als psychiatrisch geschulter Gutachter, der die in der „geistigen Unterwertigkeit“ eines Gefangenen liegenden Wurzeln des Verbrechertums erkennen könne, über die bloße medizinische Versorgung der Gefangenen hinaus eben auch mit Aufgaben der Erforschung der Verbrecher betraut werden. Die medizinisch-psychiatrisch fundierte Reform des Strafvollzugs, die bei dem Versuch der Resozialisierung verurteilter Verbrecher bei dessen Erziehbarkeit ansetze, werde den Anstaltsärzten noch „schöne Aufgaben bringen“, nämlich jene dieser Erziehbarkeit von Strafgefangenen Grenzen setzenden charakterlichen Konstellationen zu erkennen, offenzulegen und daraus Schlüsse für die Behandlung der Verbrecher im Strafvollzug zu ziehen. Aus diesem Grund hielt Viernstein es für entscheidend, „die ärztliche Anschauungsweise in Parallele zur richterlich-juristischen zu setzen“ (Viernstein 1911: 20). Hier bezieht sich Viernstein wohl auf die Debatte um die forensische Psychiatrie, in der Ärzte und Psychiater ihrer forensischen Gutachtertätigkeit mitunter höhere Bedeutung beimaßen, als das Richter und Anwälte taten. Auch seine Empfehlung, „Sonderanstalten“ einzurichten für „solche Gefangene, die sich psychisch für den regulären Strafhausbetrieb“ nicht eigneten oder im eigenen Interesse oder im Interesse des Anstaltsbetriebs „ausgeschaltet“ werden müssten, wie geisteskranke Verbrecher etwa oder schwere Psychopathen (Viernstein 1911: 22), nutzte der Arzt, um auf die besondere Rolle der Anstaltsärzte hinzuweisen, die hier für die Feststellung und Behandlung der „irren Verbrecher“ zuständig werden würden. Viernstein trat also, im Rahmen seines Tätigkeitsfelds, dem Strafvollzug, offensiv auf Seiten der Ärzte ein; immer vor dem Hintergrund fehlender Anerkennung durch die Fachkollegen: „Ich schliesse meine Ausführungen mit dem Empfinden der Genugtuung, falls es mir gelungen sein sollte, den amtsärztlichen Dienst an bayerischen Strafanstalten der Beachtung seitens der Fachgenossen etwas näher gebracht zu haben“ (Viernstein 1911: 23f.). Voraussetzung für die ärztliche Tätigkeit im Strafvollzug sei dadurch vor allem die „Erhebung möglichst aller, die soziale und geistige Person des Eingelieferten klärenden Punkte“ (Viernstein 1911: 2). In diesem Zusammenhang aber übte Viernstein deutliche Kritik an den in bayerischen Ge-

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fängnissen zur Erfassung der Gefangenen und zur Erhebung der für ihre „irrenärztliche“ Beurteilung nötigen Daten benutzten Fragebögen. Er stellte fest, dass die Bedeutung der abzugebenden Antworten bescheiden und der zur Beantwortung verfügbare Raum zu knapp bemessen sei. Kern dieses Aufnahmegutachtens war die Einteilung der Zugänge in eine von drei „Klassen“, wobei „Prädikat I“ gesunde Zugänge ohne „Mängel“ bezeichnete, „Prädikat II“ die „mittleren und grazilen, auch kränklichen Zugänge“ und „Prädikat III“ schließlich die „ausgesprochen Kranken, Krüppel und Dürftlinge irgendwelcher Art“ (Viernstein 1911: 12). Diesen Bögen sei der ins Detail gehende Fragebogen der preußischen Strafanstalten vorzuziehen, zwinge dieser doch zur schriftlichen Niederlegung sämtlicher Erkundigungen über die sozialen, hereditären und persönlich körperlich-geistigen Verhältnisse. Hiermit war offenbar ein Fragebogen gemeint, der auf den Dezernenten für das Strafanstaltswesen im preußischen Innenministerium, Karl Krohne (1836-1913), zurückging. Krohne hatte 1894 eine Zählkarte für rückfällige Strafgefangene eingeführt, mit der nicht nur die persönlichen Daten eines Strafgefangenen, sondern auch Angaben, von denen auf seine verbrecherische Karriere geschlossen werden konnte, erhoben werden sollten (Fleiter 2007: 187-189): Familienstand, Ehelichkeit, Grad der Bildung, Vermögen, Muttersprache, Religionszugehörigkeit, Vorstrafen wurden erfragt, ebenso, ob der Gefangene Trinker, Landstreicher, ob die Gefangene Prostituierte war, ob schwere geistige Krankheiten oder Tuberkulose, Epilepsie oder Syphilis – auch in der Verwandtschaft – vorlagen; zudem sollten der geistige und körperliche Zustand des Gefangenen bei der Einweisung in die Strafanstalt notiert sowie bestimmte Kopf- und Körpermaße abgenommen werden. Viernstein versuchte offenbar, seine Befragungen nach dem preußischen Muster anzupassen. Die Übernahme dieses Untersuchungsschemas auch in Bayern erachtete Viernstein als „wünschenswert, und zwar sowohl im Sinne der Verwaltungspraxis unserer Strafanstalten, wie der Wissenschaftlichkeit der ärztlichen Arbeit an derselben“ (Viernstein 1911: 2). Hier ist ein zentraler Einflussfaktor, der zur Entwicklung und Einrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung geführt hat, greifbar: Der in Bayern verwendete Erhebungsfragebogen schien Viernstein schon 1911 – anders als die preußische Variante – für ein fundiertes Urteil über die Persönlichkeit des Täters nicht ausreichend. Neben der verwaltungs- und erfassungstechnischen Erleichterung, die der preußische Fragebogen aufgrund seines Detailgrades ermöglichen würde, sieht Viernstein vor allem im Effekt des Fragebogens, nämlich die Basis für die verstärkte Wissenschaftlichkeit der anstaltsärztlichen Tätigkeit zu legen, einen bedeutenden Fortschritt für die Modernisierung des Strafvollzugs. Dies zeigt, dass Viernstein die preußische Zählkarte nicht nur kannte, sondern auch bereits zu diesem frühen Zeitpunkt eine Verbesserung der Erfassung der psychischen Konstitution von Verbrechern durch einen höheren Detailgrad der Gefangenenbefragung anstrebte. Diese Argumentationslinie des Arztes und das Vorbild der preußischen Erhebungspraxis für die Kriminalbiologische Untersuchung wurden



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bislang von der historischen Forschung nicht diskutiert, die nur die Vorbilder aus Belgien und Lettland nennt. Neben dem in Viernsteins Augen unvollkommenen Erhebungsfragebogen und den Gerichtsakten, welche die Gefängnisverwaltungen für jeden Fall erhielten, verwendete man im Übrigen im bayerischen Strafvollzug für die Erkundung der Persönlichkeit eines Zugangs weitere Fragebögen, die an die Heimatorte der Gefangenen, genauer gesagt an Gemeindebehörden, an Armenräte und Pfarrämter versendet wurden – eine Praxis, die als Ergänzung zur eigentlichen Kriminalbiologischen Untersuchung auch später beibehalten wurde. Viernstein argumentierte hier jedoch, dass bei dem Bedürfnis nach einer umfänglicheren Erhebung vor allem der psychiatrisch relevanten Daten eine Ausfüllung der Fragebögen eigentlich den Amtsgerichtsärzten als Aufgabe übergeben werden sollte (Viernstein 1911: 2f.). Noch ein anderer Aspekt in Viernsteins frühem Aufsatz ist für die Einrichtung einer Persönlichkeitsuntersuchung zum Zwecke der Feststellung der Besserungsfähigkeit von Gefangenen von Bedeutung; ein Aspekt, der an Liszts Überlegungen zu unverbesserlichen Rückfalltätern erinnert: „Die Rückfälligkeit und Chronizität in der verbrecherischen Betätigung legt nun allerdings hinsichtlich der hiesigen Verbrecher grosse Reserve in der Bejahung der Frage auf, ob das Zuchthaus dieser Besserungsaufgabe erfolgreich nachkommt. Für die Unverbesserlichen ist das Zuchthaus Sammelstätte, nicht Besserungsort! Der meist so gut wie sichere Rückfall nach erlangter Freiheit empfiehlt die Verhängung möglichst langzeitiger Inhaftierungen. Die kurzzeitige Verwahrung ist gerade bei den vermindert Zurechnungsfähigen und Willensschwachen wirkungslos, und erhöht immer wieder die Gefährdung der bürgerlichen Gesellschaft.“ (Viernstein 1911: 21)

Weil die Unverbesserlichen nach kurzen Strafen wieder in die Freiheit kämen und ungebessert weiter verbrecherisch aktiv würden, so könnte man noch ergänzen. Dass auch hier von der „Gefährdung der bürgerlichen Gesellschaft“ durch den Rückfalltäter die Rede ist, zeigt: Der Problematik des Rückfalls, die sich als Angst vor dem gefährlichen Individuum äußerte, wurde noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Charakter einer handlungsinitiierenden Krise zugeschrieben, eine Bedeutung, die sie auch noch bei der Argumentation für die Einrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle behalten sollte. Viernsteins Aufsatz lässt sich somit als diskursiver Beitrag zum modernen Strafdispositiv verstehen, als Beitrag zu der Frage, wie mit unverbesserlichen Verbrechern umzugehen sei. Seine Haltung gegenüber Rückfalltätern ist hier vorgebildet und kam dann bei Konzeption und Etablierung seiner Untersuchung zur vollen Entfaltung. Es sollte deutlich geworden sein, dass Viernstein schon in seinem frühen Aufsatz Aspekte forcierte, die ihn auf dem Weg zu einer Persönlichkeitserfassung von Strafgefangenen zur Feststellung ihrer Besserungsfähigkeit zeigen. Viernstein verstand sich als Anstaltsarzt „keineswegs auf die Aufgaben des rezeptierenden Praktikers allein beschränkt“ (Viernstein 1911: 23); er

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war bereits zu dieser Zeit Teil jenes Denkkollektivs, dass die diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken im modernen Strafdispositiv dominierte – seine Haltung zu Fragen des Umgangs mit unverbesserlichen Rückfalltätern, zum Aspekt der Gefährdung der Gesellschaft, zur Unterbringung „irrer Verbrecher“, zur Bedeutung der Medizin (inhaltlich) und der Ärzte (professionell) zeugen von profunden Kenntnissen des seinerzeit gepflegten Denkstils. In Bayern hatte dieser Denkstil Eingang in die Justizverwaltung und in den Strafvollzug gefunden, war doch etwa im Zuchthaus Straubing eine eigene Abteilung für geistesgestörte und psychisch auffällige Kriminelle neu eingerichtet worden. 1916 dann bat Viernstein um seine Versetzung dorthin, bot sich ihm doch hier die Möglichkeit, seine wissenschaftlichen Interessen und seine Karrierevorstellungen zu forcieren. Seiner Bitte kam man nach; Viernstein wurde ärztlicher Leiter der Irrenabteilung in dem Zuchthaus und zum Bezirksarzt befördert. Die Tätigkeit in Straubing gab Viernstein vermehrt Gelegenheit, den von ihm vermuteten Zusammenhang zwischen der hereditären Disposition, der charakterlichen Konstitution und der Kriminalität eines Menschen zu untersuchen. Von Straubing aus begann er auch, sich innerhalb dieses Denkkollektivs zu vernetzen: mit Vertretern des Bayerischen Justizministeriums, aber auch mit anerkannten Psychiatern und Kriminologen, die ihn in Straubing besuchen kamen, um sich über die Idee einer ätiologischen Untersuchung der Gefangenen auszutauschen. Hilfreich war auch die bereits frühe Unterstützung der Arbeit Viernsteins durch den Münchner Ordinarius für Psychiatrie, Emil Kraepelin, der schon 1918 den Forschungen Viernsteins „die allergrößte theoretische wie praktische Wichtigkeit“ bescheinigte,2 und die Zusammenarbeit mit dessen Mitarbeiter Ernst Rüdin (1874-1952). Wie Viernstein vermerkte, war es Rüdin, der ihm, als er dem Rassenhygieniker von seinem Plan berichtete, „das Material der Irrenabteilung nebenher zu irgendwie orientierten wissenschaftlichen Untersuchungen zu verwerten“, empfahl, sich mit erbbiologischen Fragen zu beschäftigen.3 Dabei kam es auch zu Kollaborationen mit aufstrebenden Vertretern der Kriminalanthropologie, so etwa mit dem Juristen und Kriminologen Hans von Hentig (1887-1974) (Mayenburg 2006: 301-306). Hentig hatte 1913 ein vielbeachtetes, sozialselektionistisches Werk mit dem Titel „Strafrecht und Auslese“ publiziert, in dem er – dem Titel ist es zu entnehmen – auf der Basis eines schlichten Verständnisses der Theorien Darwins die „Elimination“ von Verbrechern auf der individuellen Ebene (lebenslange Haft, Todesstrafe) und auf der Ebene des Volkes bzw. der Rasse propagierte (Hentig 1914: 24-48). Anfang 1914 war er an das Bayerische Justizministerium herangetreten und hatte erfragt, ob er eine Untersuchung über die Vererbbarkeit von

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BHStA, MJu 22864: Emil Kraepelin v. 2.4.1918 an das Bayerische Staatsministerium der Justiz. BHStA, MJu 24262: Viernstein: Denkschrift über die wissenschaftlichen Grundlagen für den Betrieb einer kriminalbiologischen Sammelstelle, S. 3.



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Kriminalität an Strafgefangenen in Bayern durchführen dürfe, was ihm auch erlaubt wurde,4 er aber wohl wegen des ausbrechenden Krieges nicht mehr durchführen konnte. Hentig hatte zudem bereits 1917 dem preußischen Innenministerium eine Denkschrift mit einem Vorschlag zur Einrichtung wissenschaftlicher Kriminalämter bei Polizeipräsidien vorgelegt, das von einem Psychiater, einem Sozialökonomen und einem Statistiker geleitet werden solle (Mayenburg 2006: 302) – es ist nicht auszuschließen, dass diese Konstruktion Viernstein bei der späteren Konzipierung seiner eigenen Untersuchung beeinflusst hat. 1921 veröffentlichte Viernstein zusammen mit Hentig einen Aufsatz über Sittlichkeitsverbrecher (Hentig/Viernstein 1921). Im Juli 1924 dann konkretisierte sich die Zusammenarbeit weiter, als von Hentig offiziell Mitarbeiter der Kriminalbiologischen Sammelstelle in Straubing wurde (Mayenburg 2006: 302). 1925 veröffentlichten sie gemeinsam Studien über Inzest als ersten Band in der von der Sammelstelle herausgegebenen Schriftenreihe (Hentig/Viernstein 1925). Für Viernstein musste diese Mitarbeit des Kriminologen von großer Bedeutung gewesen sein, hatte er doch selbst immer wieder darauf hingewiesen, dass für seine Kriminalbiologische Untersuchung auch solche Expertise heranzuziehen sei. Wie noch gezeigt werden wird, griff Viernstein auch Hentigs Zusammendenken von Strafrecht und biologistischem Auslesegedanken auf und betonte in seiner ebenfalls 1924 verfassten Denkschrift zur Einrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung und Sammelstelle eine dem Strafrecht und der Biologie gemeinsame Idee der Selektion sozial und biologisch „Minderwertiger“. Aber auch von Hentig dürfte die Kollaboration mit Viernstein auf einer übergeordneten Ebene stimmig erschienen sein, stellte diese doch eine Form der interdisziplinären Kooperation zwischen Strafrecht, Strafvollzug, Kriminologie und Biologie dar (Mayenburg 2006: 302), die, wie gezeigt wurde, schon Hentigs Lehrer Franz Liszt gefordert hatte. Die aus der Sicht der beiden Protagonisten wahrscheinlich vielversprechende Zusammenarbeit endete jedoch schon nach knapp einem halben Jahr, als von Hentig dem Bayerischen Justizministerium schriftlich mitteilte, dass er sich eine „interessante Unökonomie der Kräfte wie im vergangenen Jahr“ nicht mehr erlauben dürfe und er für eine weitere Mitarbeit in der Sammelstelle nicht mehr zur Verfügung stehen könne.5 David von Mayenburg konstatiert, dass die Hintergründe dieses Briefs nicht mehr im Detail aufgeklärt werden könnten, dass es aber nahe liege, ihn mit Hentigs bevorstehender Flucht in die Sowjetunion in Verbindung zu bringen: Der Nationalbolschewist Hentig wollte einem Prozess wegen Hochverrats (Planung eines kommunistischen Aufstandes in Sachsen und Thüringen) entgehen. Nach Hentigs Rückkehr nach Deutschland 1926 wurde die Zusammenarbeit mit Viernstein jedoch nicht wieder aufgenommen.

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BHStA, MJu 24264: von Hentig an das Bayerische Justizministerium v. 25.5.1914 und v. 3.7.1914. BHStA, MJu 24264: Hentig an das Bayerische Innenministerium v. 9.1.1925.

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Neben der diskursiven Fokussierung seiner Auffassungen arbeitete Viernstein auch an den nicht-diskursiven Praktiken, als er 1919 erste Ziele für eine systematisierte, wissenschaftliche Erfassung und Erforschung von Gefangenen in einem detaillierten „Arbeitsprogramm“ für eine erweiterte Zugangsuntersuchung im Zuchthaus Straubing formulierte.6 Hier finden sich neben Vorschlägen zur Durchführung einer wissenschaftlichen Untersuchung an Gefangenen auch Formblätter, mittels derer diese Erkenntnisse durch Auskünfte von staatlichen und kirchlichen Stellen und von Familienangehörigen des Gefangenen ergänzt werden sollten, um ein möglichst umfassendes, wissenschaftliches, biologisches Bild des konkreten Strafgefangenen zu erhalten.7 Mit seinem „Arbeitsprogramm“ befand sich Viernstein gegenüber seinen ersten Überlegungen zu Kaisheimer Zeiten noch einen Schritt weiter auf dem Weg zu einer ausführlichen Persönlichkeitserfassung von Strafgefangenen. Dies überzeugte die bayerische Staatsverwaltung: 1920 wurden mit Runderlass des Bayerischen Innenministeriums die Bezirksverwaltungsbehörden zur Unterstützung und Auskunftserteilung nach den von Viernstein entwickelten Formblättern aufgefordert.8 Die Mitarbeit hielt sich jedoch in Grenzen, so dass sich Viernsteins Pläne noch nicht im gewünschten Umfang verwirklichen ließen. Gleichwohl hielt er für das Zuchthaus Straubing an diesem Arbeitsprogramm fest und führte eine erweiterte Zugangsuntersuchung durch.

E INRICHTUNG UND E TABLIERUNG 9 Eine neue Chance für seinen Plan, eine detaillierte Persönlichkeitsuntersuchung zu etablieren, sah Viernstein nach der Einführung des Stufenstrafvollzugs 1921 in Bayern kommen, vor allem als zunehmend klar wurde, dass das Stufensystem mit einem, mit seinem zentralen Problem zu kämpfen hatte. Wie bereits im Kapitel über die Strafvollzugsreform dargelegt, erachtete man im bayerischen Justizministerium die bisherige Begutachtungsund Einteilungspraxis – basierend auf der Vorstrafenliste, knappen Angaben der Heimatbehörden, den Urteilsgründen, früheren Personalakten und der Menschenkenntnis des Anstaltspersonals – als nicht hinreichend, die Eignung eines Gefangenen für Besserungsbestrebungen und damit für eine Ein-

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BHStA, MJu 22864: Viernsteins Arbeitsprogramm, vorgelegt der Zuchthausdirektion Straubing und von dieser an das Bayerische Justizministerium weitergeleitet (18.10.1919). BHStA, MJu 22864: Hausarzt Viernstein an die Verwaltung des Zuchthauses Straubing v. 18.10.1919. BHStA, MJu 22864: Schreiben des Bayerischen Innenministeriums an die Bezirksverwaltungsbehörden v. 27.6.1920. Hierzu auch Wetzell 2000: 129-135; Simon 2000: 109-111; Müller 2004: 242244; Baumann 2006: 256f.; Burgmair et al. 1999: 260-271; Liang 1999: 85-101.



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ordnung in die Stufen erkennen zu können. Dem kam Viernstein entgegen und nutzte die sich bietende Gelegenheit: Er verband sein Interesse an der Erforschung der Verbrecherpersönlichkeit mit der zentralen Aufgabe im Stufenstrafvollzug, der Unterscheidung zwischen besserungsfähigen und unverbesserlichen Verbrechern. Sicherlich auch ermutigt durch die positive Resonanz, die sein erweiterter Fragebogen im Justizministerium hervorgerufen hatte (der damalige bayerische Justizminister Gürtner hatte den „wissenschaftlichen Forschungen“ Viernsteins zugestanden, jede Förderung zu verdienen10), trat Viernstein dann im Frühjahr 1923 erneut an das Ministerium heran und schlug in mehreren Briefen vor, seine erweiterte Untersuchung, die er nun Kriminalbiologische Untersuchung nannte, auch in den anderen bayerischen Strafanstalten einzuführen.11 Doch Viernstein hatte sein „Arbeitsprogramm“ nicht nur erweitert; er hatte es zudem in einen neuen Deutungszusammenhang gestellt: „Das Gedeihen der Rasse muss heute für uns Deutsche Gegenstand der wichtigsten Sorge sein, nachdem durch die ungünstige Auslesewirkung des Krieges kolossale Massen besonders hochwertiger Rasseelemente generativ ausgeschaltet worden sind“; es sei wegen dieser seiner Meinung nach eugenisch negativen Folgen des Krieges von großer Bedeutung, „die genaue biologische Zusammensetzung derjenigen, sich ständig mehrenden Elemente kennen zu lernen, welche durch Gesetzesübertragungen Schaden stiften und für die Ordnung und Sicherheit, für das Leben der Person und die Integrität des Eigentums eine mehr oder minder große Gefahr bilden und die überdies, ohne selbst 12 zu verdienen, dem Staate nur Kosten verursachen.“

Um dafür die nötigen Voraussetzungen zu schaffen, reicherte Viernstein seine Untersuchung mit charakterologischen Fragekomplexen an, war er doch – hier nur verkürzt ausgedrückt – der Meinung, dass sich der Verbrecher aufgrund der Art und Weise, wie er auf Erlebnisse reagiere, vom „sozialen Menschen“ unterscheide und dass diese andere Art der Verarbeitung auf der „vorwiegend erbmäßig bedingten Charakter- und Temperamentsanlage“ beruhe, deren Erforschung in der Kriminalbiologischen Untersuchung demgemäß den Brennpunkt der Bemühungen darstelle (Viernstein 1924: 74). Vom vorgeblich ererbten Charakter eines Menschen, seiner „biologischen Zusammensetzung“, sei dann darauf zu schließen, wie sich Erziehungseinflüsse auswirkten, was bei mangelnder Beeinflussbarkeit eben auf „Unverbesserlichkeit“ hindeute. Rassenhygienisch gesehen war auf diese Weise jener „dauernd schädliche Teil der Kriminellen“ identifiziert, deren

10 BHStA, MJu 24254: Bayerisches Justizministerium an Viernstein v. 9.11.1922. 11 BHStA, MJu 24254: Viernstein an das Bayerische Staatsministerium der Justiz (Schreiben v. 25.2.1923, v. 28.2.1923 und v. 19.4.1923). 12 BHStA, MJu 24254: Viernstein an das Bayerische Staatsministerium der Justiz v. 28.2.1923.

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„Auslese“ sowohl vom Strafrecht wie von der Rassenhygiene gewollt sei (Viernstein 1926: 70). Strafrecht, Strafvollzug und Auslese: Diese Argumentationsfigur belegt den Einfluss von Hentigs und dessen „Strafrecht und Auslese“, das Viernstein immer wieder zitierte. Die neuen charakterologischen Untersuchungspunkte sollten demnach der Erreichung zweier eng zusammenhängender Ziele dienen: Indem sie vorgeblich einen Hinweis auf die angeblich ererbte, charakterlich bedingte und damit scheinbar unveränderliche Zugänglichkeit eines Gefangenen gegenüber Erziehungseinflüssen gäben, sollten sie einerseits die wissenschaftliche Grundlage für die im Stufenstrafvollzug notwendige Einteilung der Gefangenen in Besserungsfähige und Unverbesserliche liefern und andererseits jene Individuen markieren, die sozial, strafrechtlich und biologisch die größte Gefahr darstellten: die Rückfalltäter, die unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher, die gefährlichen Individuen. Zudem versprach die Einrichtung einer Sammelstelle und die dadurch intendierte Praxis, die Verwandtschaft des Täters namentlich zu erfassen, wissenschaftlichen, rassenhygienischen und erkennungsdienstlichen Zugriff auf ein vermeintliches verbrecherisches Milieu. Viernstein bot also mit seiner Untersuchung und mit dem Plan für eine zentrale Sammelstelle nicht nur eine Lösung für ein drängendes strafvollzugliches Problem an, sondern darüber hinaus auch einen ersten Schritt für die Einrichtung rassenhygienischer Maßnahmen. Mir scheint, dass für das Justizministerium gerade in dieser Kombination – objektive Einteilung der Verbrecher im Stufenstrafvollzug, Aussicht auf die „von Strafrecht und Rassenhygiene gemeinsam gewollte Auslese“ der Gewohnheitsverbrecher – die Attraktivität der Vorstellungen Viernsteins begründet lag. Man kann in der Tat, wie Oliver Liang, davon sprechen, dass Viernstein „met with ready approval“, als er dem bayerischen Justizministerium seinen Vorschlag einer Kriminalbiologischen Untersuchung unterbreitete (Liang 1999: 92). Für Liang aber war die Zustimmung des Ministeriums vor allem Viernsteins überzeugender kriminalbiologischer Theorie geschuldet, die wie keine andere kriminologische Theorie zuvor Verbreitung gefunden hätte. Gemäß der eingangs dargelegten Hypothese, dass eine Krise im Bereich des Sozialen nach einer Lösung verlangt und dass von den Beteiligten verschiedene Wissenschaften herangezogen werden, die (vielleicht neben anderen) eine Lösung des Problems versprechen, soll hier argumentiert sein, dass weniger die mögliche Anwendung der stimmigen kriminologischen Theorie Viernsteins das Ministerium überzeugte, als vielmehr das Potential der Kriminalbiologischen Untersuchung, gleich mehrere Probleme des Strafvollzugs zu lösen – und das dazu auf vermeintlich wissenschaftlichobjektive Weise. Sicherlich kam Viernstein dabei auch dem Wissenschaftsbedarf des Justizministeriums entgegen (Müller 2004: 241), das mit einer vorgeblich strengen wissenschaftlichen Anforderungen genügenden Vorgehensweise einerseits die objektive Beurteilung der Gefangenenpersönlichkeit gegeben sah, darin andererseits aber auch die Möglichkeit einer Legitimation verschärfter selektiver Maßnahmen im Strafvollzug erkannte.



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Für eine solche Interpretation scheinen die Äußerungen Richard Degens sowie die Ministerialentschließungen zur Einrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle zu sprechen. Wenn Degens Positionen im ersten Band des die Ministerialentscheidungen und Viernsteins frühe Denkschriften zur Einrichtung einer Kriminalbiologischen Untersuchung zusammenfassenden Sammelbandes „Der Stufenstrafvollzug und die Kriminalbiologische Untersuchung der Gefangenen in den Bayerischen Strafanstalten“ aus dem Jahr 1926 im Hinblick auf die Haltung, die drei Jahre zuvor zur Einrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung geführt hat, aussagekräftig sind (Degen 1926: 5-7; dort auch alle Zitate), dann zeigt sich, dass die Argumentationsfigur „Schutz der Gesellschaft vor dem gefährlichen Individuum“ im bayerischen Justizministerium durchaus handlungsleitend war. „Unser Strafrecht ist veraltet. Es droht im Kampfe gegen das Verbrechen zu unterliegen“, so der Ministerialrat. Der neue Entwurf eines Strafgesetzbuches tue nun vor allem mit der Sicherungsverwahrung einen „ersten Schritt zur dauernden Unschädlichmachung gemeingefährlicher Verbrecher“, was zu begrüßen sei, da sie „die menschliche Gesellschaft wenigstens vor den schlimmsten und unverbesserlichsten Verbrechern“ besser schütze als der Strafvollzug bislang. Neben der Verwahrung auf unbestimmte Zeit werde aber der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Verbrechens unerlässlich sein, womit Maßnahmen zur Verhütung der Fortpflanzung verbrecherischer Eigenschaften, also Sterilisierung, gemeint waren. Unhinterfragt – und unbewiesen – gilt hier die Prämisse von der Vererbung krimineller Eigenschaften; die Umwelt als kriminogener Faktor rückte trotz aller Lippenbekenntnisse in den Hintergrund. Mit eindringlichen Worten schwor Degen seine Leser, bayerische Gefängnisbeamte, aber auch interessierte Fachkreise, auf die rassenhygienische Perspektive ein: „Die Verheerungen, die die Vererbung gesellschaftswidriger Anlagen in einem Volke von Geschlecht zu Geschlecht anrichten kann, sind ungeheuer, und kein Staat vermöchte, wenn er kraftvoll und leistungsfähig bleiben will, diese immer mehr anwachsende Verseuchung seiner Bevölkerung mit derartigen, seine Volkskraft unterwühlenden Eigenschaften auf die Dauer zu ertragen oder die schließlich zu unerträglicher Höhe ansteigenden Mittel für Gefangenen- und Besserungsanstalten, für Krankenund Blödenanstalten und für Irrenhäuser mehr aufbringen.“

In der Untersuchung sah Degen den Grundstein für die erbbiologische Erforschung der Bevölkerung („zunächst des kriminellen Teils“), die – würde sie auch auf nicht kriminelle Bevölkerungskreise ausgedehnt (z. B. auf die Untersuchung von Schülern) – in der Lage wäre, die „Verheerungen“ zu verhindern. Die rassenhygienische Sicht war demnach zu einem wichtigen, handlungsinitiierenden Argument geworden und sorgte gegenüber dem Reformbestreben für die andere, die repressive Seite des janusköpfigen Gesichts des modernen Strafdispositivs: Der Erziehungs- und Besserungsgedanke war die Grundlage des Stufenstrafvollzugs; ihm aber sollten nur zur

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Erziehung geeignete Gefangene zugeführt werden, deren Eignung man für ererbt hielt. Wer nicht geeignet war, nicht der pädagogischen Anstrengung wert, war verdächtig, aus biologischen Gründen nicht besserungsfähig zu sein. In diese Stimmung hinein traf Viernstein mit seiner Kombination offenbar den richtigen Nerv und erhielt die Unterstützung von Degen, den er kaum zu überzeugen brauchte – wenn sich die beiden nicht ohnehin, was sich nicht belegen lässt, miteinander abstimmten. Es ist also dem vorwärts drängenden Engagement Viernsteins, dem Problemlösungspotential der Kriminalbiologischen Untersuchung sowie dem im Einklang mit dem modernen Strafdispositiv stehenden Wissenschaftsbedarf des Bayerischen Justizministeriums zuzurechnen, dass mit der Ministerialentschließung vom 7. Juli 1923 die Kriminalbiologische Untersuchung eingeführt wurde. Dort wurde bestimmt: Der ärztliche Aufnahmebericht solle unter Zugrundelegung eines um charakterologische Aspekte ergänzten Formblattes vom Hausarzt erweitert und vertieft durchgeführt werden. Das fragliche Formblatt wurde 1925 noch einmal verändert, so dass hier noch auf eine ausführliche Darstellung verzichtet wird. Anzumerken ist jedoch, dass Viernstein bereits für diese frühe Fassung nicht nur auf die preußische Zählkarte und sein eigenes früheres „Arbeitsprogramm“ zurückgriff, sondern auch auf die Vorbilder aus Belgien und Lettland. Die erste Fassung des Formblatts enthielt bei Punkt 42 zur Ermittlung des „psychischen Bilds des Zuganges“ ein Frageschema, mit dem Beobachtungs-, Aufmerksamkeits-, Gedächtnis-, Bewusstseins-, Urteils- und Sprachstörungen sowie Störungen der psychomotorischen Tätigkeit sowie „Triebhaftigkeit“ und Zwangsvorstellungen, Perversionen, Phobien diagnostiziert werden sollten. Am Ende des charakterologischen Teils war die soziale Prognose zu stellen: „besserungsfähig“ oder „unverbesserlich“. Kriterien für diese Prognose gab es nicht; es ist Christian Müller zuzustimmen, wenn er beobachtet, dass der auf die Feststellung der „Auffälligkeiten im Stamme“ zugeschnittene Fragebogen es nahe legte, „bei einer vermeintlich vorliegenden ‚erblichen Belastung‘ von der ‚Unverbesserlichkeit‘ des Gefangenen auszugehen“ (Müller 2004: 245). Darum wissend wollte Viernstein das Ergebnis, zu dem die Ärzte kommen, als nicht allein für die Beurteilung eines Gefangenen maßgeblich oder sogar ausschlaggebend verstanden wissen, sondern „nur, vom medizinisch-wissenschaftlichen Standpunkte aus“, als „Baustein“ zu dessen Beurteilung. Den anderen Strafanstaltsoffiziellen, den juristischen Beamten, Hausgeistlichen und Hauslehrern, bliebe daneben „das Recht der Erforschung des Gefangenen und der Einwirkung auf ihn von ihrem Standpunkt aus vollkommen gewahrt“. Neu gestaltet wurde das Formblatt für die Heimatberichte, die ebenfalls weiter eingefordert werden sollten. Grundsätzlich seien zwar alle Zugänge nach dem neuen Verfahren zu untersuchen, wegen des Zeitmangels legte das Ministerium jedoch fest, dass pro Arbeitstag nur ein Gefangener untersucht werden solle. Die Auswahl habe zufällig, nach einem Quotienten, zu erfolgen.



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Gerade einmal sechs Monate nach der Etablierung der Kriminalbiologischen Untersuchung erfolgte die Einrichtung der Kriminalbiologischen Sammelstelle.13 Die entsprechende Ministerialentschließung war zunächst voll des Lobes über den Erfolg der Untersuchung, die nicht nur die mit ihrer Einführung verbundenen Aufgaben erfülle, sondern auch kommenden Entwicklungen im Strafrecht und im Strafvollzug vorarbeite: der Einführung der verminderten Zurechnungsfähigkeit (hierauf sollten die kriminalbiologischen Urteile Hinweise geben) und der Einführung der Sicherungsverwahrung für unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher. Außerdem ging man selbstbewusst davon aus, dass die Untersuchungsmethode allgemein eingeführt werde und dass dabei die bayerischen Erfahrungen verwertet und gute Dienste leisten würden. Von Bedeutung sei es aber auch, die Ergebnisse für wissenschaftliche Forschungen zu erschließen. Aus diesen Gründen sei es ratsam, die Personalakten nicht zerstreut liegen zu lassen, sondern sie zu sammeln und den beteiligten Kreisen zugänglich zu machen. Und so wurde bestimmt: Die Ergebnisse sämtlicher Untersuchungen sollen gesammelt werden, indem die Zweitschriften mit ergänzenden Unterlagen (Heimatbögen, Auszüge der Personalakte) einer Sammelstelle bei der Verwaltung des Zuchthauses Straubing mit Viernstein als Leiter zugeführt werden. Zusätzliches Personal für die Sammelstelle stünde nicht zur Verfügung, und auch deren Sachbedarf sei aus den laufenden Mitteln des Zuchthauses zu bestreiten. Indem die Sammelstelle nicht, wie von Viernstein nahe gelegt,14 nach München verlegt wurde, sondern beim Zuchthaus Straubing verblieb, erfüllte sich dessen Hoffnung, „seine Gefängnisarztstelle in der niederbayerischen Provinz gegen die Position eines kriminalbiologischen Institutsleiters in der Landeshauptstadt tauschen zu können und in die Wissenschaftsgemeinde der Münchener Rassenhygieniker aufgenommen zu werden“ (Müller 2004: 243f.), noch nicht. Das Ministerium hatte dennoch überaus schnell reagiert. Nur zweieinhalb Monate lagen zwischen der Korrespondenz Viernsteins mit Degen15 und der Ministerialentschließung, mit der die Kriminalbiologische Untersuchung in bayerischen Gefängnissen etabliert wurde. Und ein halbes Jahr später war die Einrichtung der Sammelstelle erfolgt. Die sehr schnelle Reaktion deutet erstens darauf hin, dass Viernsteins Petitionen im Vorfeld überzeugend und vorbereitend gewirkt haben und zweitens darauf, dass der Problemlösungsdruck und das politische Interesse auf Seiten des Justizministeriums hoch gewesen sein müssen. Doch nicht alle waren zufrieden: Die Anstaltsärzte etwa waren anders als das Justizministerium nicht unbedingt davon überzeugt, dass mit dieser Untersuchungsmethode eine wissenschaftliche, objektive Basis zur Beurteilung der Gefangenen gefunden sei; zudem sahen sie den zusätzlichen

13 Ministerialentschließung 8633 v. 27.2.1924 (Stufenstrafvollzug, Bd. 1: 40-42) 14 BHStA, MJu 24254: Viernstein an Bayerisches Staatsministerium der Justiz v. 25.2.1923. 15 BHStA, MJu 24254: Viernstein an Degen v. 19.4.1923.

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Arbeitsaufwand als gravierendes Problem an. Der Arzt im Gefängnis Amberg, Johann Bauernfeind, wies in einem Gutachten über die erweiterte Zugangsuntersuchung im Auftrag der Strafanstaltsärzte auf den Zeitdruck hin, der aufgrund der hohen Zugangszahlen und der personellen Unterausstattung selbst die Untersuchung von nur wenigen Zugängen nicht erlaube.16 Doch die eigentliche Kritik war grundlegender: Keiner der Anstaltsärzte sei Gegner der Untersuchung, und alle stünden Viernstein auch seine Verdienste in dieser Sache zu. Hingegen bekämpfe man dessen Ansicht, dass es möglich sei, durch optischen Eindruck allein schon anthropologische Typen zu erkennen. Viernstein hatte die Einteilung des Untersuchten in das schon damals umstrittene Konstitutionsschema Kretschmers verbindlich in den Untersuchungsfragebogen aufgenommen. Der Versuch, in Anlehnung an die Körperbaulehre von Kretschmer vom Konstitutionstypus aus Schlüsse zu ziehen auf die Besserungsfähigkeit eines Strafgefangenen, sei wissenschaftlich nicht begründet; zudem beobachteten bei Viernsteins Untersuchung nicht geschulte ärztliche Augen, sondern Strafanstaltsärzte. Und schließlich noch bat Bauernfeind das Justizministerium, den Strafanstaltsärzten zu gestatten, diese Form der Untersuchung bei denjenigen Gefangenen nach eigener Auswahl vornehmen zu dürfen, die für die höhere Einstufung in Frage kommen sollen, ferner – der individuellen Behandlung wegen – bei all jenen, die den Verdacht der geistigen „Minderwertigkeit“ erregten. Damit sei dem dienstlichen Zweck mehr gedient als durch die statistische Auswahl. Viernstein brauchte einen Monat für eine kurze Antwort, die oberflächlich gesehen versöhnlich ausfiel, genauer betrachtet aber der Versuch war, die strittige Sache – die Einteilung der Gefangenen in die Kretschmerschen Konstitutionstypen – herunter zu spielen: Im Prinzip herrsche ja Einheitlichkeit der Auffassungen, so Viernstein; er selbst sei der Meinung, dass die Einteilung lediglich eine „nebenherlaufende Befunderhebung bei der körperlichen Untersuchung“ darstelle, „im Range nicht viel höher [stehend] als etwa die Feststellung, ob ein Bruchleiden, eine Deformität der Extremitäten, ein Lungen- oder Herzleiden vorliegt“.17 Auf diesen Versuch reagierte wiederum Bauernfeind, nun schärfer im Ton:18 „Wir bekämpfen sie [die Typisierung nach Kretschmer; Th. K.] nicht allein deswegen, weil sie nach unserm Urteil eine unsachliche Verquickung mit dem kriminalistischen Zwecke der erweiterten Zugangsuntersuchung darstellt, oder weil aus ihrem Ergebnis Schlüsse auf die Besserungsfähigkeit nicht gezogen werden können, selbst

16 BHStA, MJu 24261: Gutachten über die erweiterte Zugangsuntersuchung an das Staatsministerium der Justiz von Obermedizinalrat Dr. Bauernfeind im Auftrag der Vereinigung der Strafanstaltsärzte (29.5.1924); dort auch alle Zitate. 17 BHStA, MJu 24261: Antwort Dr. Viernsteins auf das Gutachten von Dr. Bauernfeind v. 29.6.1924. 18 BHStA, MJu 24261: Antwort Dr. Bauernfeinds auf das Schreiben von Dr. Viernstein v. 13.7.1924; dort auch die folgenden Zitate.



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wenn sie wissenschaftlich einwandfrei vorgenommen werden könnte. […] Oft wird sich kaum bestimmen lassen, welcher Typus auch nur als vorwiegend zu betrachten sei. [...] Ein Urteil über die Besserungsfähigkeit könnte nie daraus geschöpft werden. [...] Sie beruht auf einer einfachen Schätzung und ist daher wissenschaftlich wertlos. Eine Statistik, die darauf gebaut werden wollte, hätte keinen Anspruch für ernst genommen zu werden.“

Nach dieser Kritik an der Wissenschaftlichkeit der Kretschmerschen Methode und ihrer Anwendung im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung wandte sich Bauernfeind seinem, wie es scheint, eigentlichen Thema zu, der Kritik an Viernstein: Die Anstaltsärzte fühlten täglich „bei unseren diesbezüglichen ‚Feststellungen‘ etwas, was man wissenschaftliche Gewissensbisse nennen möchte. Und wenn sich auch der ‚Publizist mit seiner Arbeit und seinem Namen vor die wissenschaftliche Kritik stellt‘ [Bauernfeind zitiert hier Viernstein, der sich damit verteidigt hatte, Th. K.], so ist es doch nicht nur das Justizministerium, sondern sind vor allem auch wir Strafanstalts-Aerzte miteinander, die wir dem ‚Publizisten‘ das Material liefern dürfen, diejenigen, welche sich kritisieren lassen müssen.“

Von Seiten der Anstaltsärzte war wohl Viernsteins Persönlichkeit – sein Ehrgeiz und die eigenbezogene Zielstrebigkeit, mit der er sein Ziel verfolgte – der entscheidende Reibungspunkt; hinzu trat der Vorwurf, dass Viernstein die Untersuchungsakten, die in den anderen bayerischen Gefängnissen unter zusätzlichem Zeitaufwand entstanden, als Material für eigene Forschungen und sein wissenschaftliches Renommee verwende. Ob Viernstein der Haltung der Ärzte Verständnis entgegen bringen konnte, ist zweifelhaft; vielleicht sah er darin sogar einen Ausweis von Undankbarkeit, brachte er doch in so gut jeder seiner schriftlichen Äußerungen vor, dass die Position der Ärzte in der Strafpolitik und im Strafvollzug aufgewertet werden sollte. Der eigentliche Streit um die Kretschmersche Einteilung scheint eine Stellvertreterdebatte gewesen zu sein – als Abstrafen des selbstbezogenen Auftretens Viernsteins, aber auch für die unterliegende Problematik, „whether doctors should be primarily concerned with the welfare of their patients or the interests of society at large, in this case scientific research that would eventually help to protect society against crime“ (Wetzell 2000: 130). Viernstein aber setzte sich letztlich mit Hilfe des Justizministeriums durch. Dieses hatte ihn im September 1924 vor dem Hintergrund der Kritik der Anstaltsärzte aufgefordert, seine Untersuchung zusammenzufassen und dabei besonders auf die strittigen Punkte einzugehen. Die Denkschrift sollte dann dem Obermedizinalausschuss beim bayerischen Staatsministerium des Innern zur Begutachtung vorgelegt werden. Vielleicht gibt der Ton, in dem Viernstein den Deckbrief zu dieser Denkschrift, aber auch Teile der Schrift selbst, vor allem den Schluss, formulierte, Aufschluss darüber, was er von der geplanten Begutachtung hielt: „Dem Staatsministerium der Justiz er-

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scheint eine zusammenfassende Darlegung der für die Errichtung und den Betrieb einer bayerischen kriminalbiologischen Sammelstelle von mir vorgeschlagenen und vorläufig durchgeführten Arbeitsgrundsätze erwünscht, um dieselben nach Überprüfung und, gegebenenfalls, Billigung seitens der prüfenden wissenschaftlichen Sachverständigen zur bleibenden Richtschnur erheben zu können“.19 Ein herablassender, ironischer, distanziert-defensiver Ton durchzieht die Denkschrift, der sich am Ende noch einmal verschärft: „Bezüglich der dem Staatsministerium der Justiz notwendig erscheinenden Nachprüfung meiner Vorschläge […], bevor dieselben endgültig eingeführt werden, darf ich wohl an meinen mündlichen Vortrag vom 25.8.24 beim Herrn stellvertretenden Ministerialreferenten, Ob.Reg.Rat Dr. jur. Meukel, erinnern, welchem mein diesbezüglicher Plan genehm schien: Ich beantrage, vorliegende Denkschrift samt Beilagen zur Überprüfung und gutachtlichen Stellungnahme dem Obermedizinalausschuß beim bayer. Staatsministerium des Inneren zuzuleiten.“ (Viernstein 1926)

Dies nun erscheint widersprüchlich: Warum stellt Viernstein selbst den Antrag auf Überprüfung seiner Untersuchung, zumal er ja im Anschreiben darauf hingewiesen hatte, dass das Justizministerium eine Überprüfung wünschte? Wollte er damit seinen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen, indem er so tat, die Begutachtung selbst zu wollen? Wollte er das Heft des Handelns wieder in die Hand bekommen? Hier kann nur spekuliert werden. Einfach zu verstehen ist hingegen, dass er eigene Vorschläge unterbreitete, welche Personen für die Beratung der Materie hinzugezogen werden sollten: Er schlug Ignaz Kaup (1870-1944) und Fritz Lenz (1887-1976) für die rassenhygienischen und Rüdin für die erbbiologischen Fragen vor, von Hentig für wissenschaftlich-kriminalistische Aspekte sowie Otto Leybold, den Leiter der Strafanstalt Landsberg, für die praktisch-strafvollzugliche Seite. Zu Otto Leybold sei hier der kleine Exkurs erlaubt, dass dieser seit 1908 Leiter jener Haftanstalt Landsberg war, in der Adolf Hitler zwischen dem 11. November 1923 und dem 20. Dezember 1924, also gleichzeitig zum hier interessierenden Zeitraum, seine Festungshaft nach dem gescheiterten Putschversuch absaß (Kershaw 2002: 280-298). Leybold brachte Hitler Sympathie entgegen, was sich einerseits darin äußerte, dass er ihm während der Haft Freiheiten ließ, sich weiterhin politisch zu betätigen (so etwa konnte Hitler ungestört Besuch empfangen, an der Zensur vorbei Briefe schmuggeln und nicht zuletzt das Manuskript von „Mein Kampf“ diktieren). Andererseits zeigten sich die Sympathien auch in Leybolds Berichten über Hitler, wenn er ihn als Mann der Ordnung und der Disziplin beschreibt, der ohne jede Ausfälligkeit peinlich bemüht sei, sich den Einschränkungen des Strafvollzugs zu fügen. Leybold bescheinigte seinem Gefangenen, in den Monaten der Strafhaft reifer und ruhiger geworden zu sein und keine Bedrohung mehr für den Staat darzustellen. Die Einschätzungen trugen – trotz der Ver-

19 BHStA, MJu 24262: Viernstein an das Staatsministerium der Justiz v. 27.9.1924.



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suche der Münchner Polizei und der Staatsanwaltschaft, namentlich des Chefanklägers Ludwig Stenglein, dies zu verhindern – zur frühzeitigen Freilassung Hitlers bei. Zu Hitlers ‚Verabschiedung‘ waren Leybold und die Gefängniswärter zusammen gekommen. Warum Viernstein ausgerechnet Leybold als Sachverständigen herangezogen sehen will, kann nur vermutet werden: Es mag sein, dass Viernstein Leybold aus demselben Grund vorgeschlagen hat wie Kaup, Lenz und Rüdin: Sie alle gehörten dem konservativen, rassenhygienisch orientierten Netzwerk im Umfeld der Münchner Rassenhygienischen Gesellschaft an, und Viernstein konnte wohl davon ausgehen, dass sie seine Kriminalbiologische Untersuchung auch nach außen hin wohlwollend beurteilen würden. Über die Spekulation hinaus ist es (zumindest aus der historischen Rückschau) ein interessanter Zufall, dass Viernstein just dem Strafanstaltsleiter, der zur selben Zeit in seinem Gefängnis den Parteichef der NSDAP in zuvorkommender Ehrenhaft einsitzen hatte, Expertise in einer strafvollzuglichen Frage zugestand, bei der es um die rassenhygienisch begründete Beurteilung und Ausscheidung von „Minusvarianten“, von „Schädlingen“ (Viernstein 1924: 6), ging. Auch in dieser Denkschrift die Aufwertung der Rolle der Ärzteschaft im Strafvollzug einen breiten Raum ein. Nur der Arzt mit seinen biologischen und psychologisch-psychiatrischen Kenntnissen könne den „Verbrecher als biologisches Wesen“ beurteilen und eine fundierte soziale Prognose stellen, wofür im Übrigen die erweitere Eingangsuntersuchung besser geeignet sei als die bislang geübte, „gefühlsmäßige“ Einteilung. Damit köderte Viernstein die in Unsicherheit gefangenen Ärzte mit deren „wissenschaftlichen Gewissensbissen“ beim Erstellen der sozialen Prognose. Neben der Bestimmung der Besserungsfähigkeit sei die Untersuchung zudem in der Lage, Anhaltspunkte für die „sozial-pädagogische Heilbehandlung“ im Strafvollzug zu geben. Dem beklagenswerten Umstand, dass es dem Gefängnispersonal hierfür an „Einfühlungsbefähigung“ mangele, könne durch bessere Ausbildung begegnet werden. Jedoch sei die genaue Kenntnis der „erbmäßig bedingten Charakter- und Temperamentsanlage“, die für ihn den Unterschied zwischen dem sozialem und dem unsozialem Menschen ausmachte – für eine erfolgreiche strafhäusliche Behandlung, aber auch für Ruhe und Sicherheit in der Anstalt unverzichtbar, man denke an „die Gegensätzlichkeiten der sensitiv-reizbaren und sensitiv-depressiven Naturen, der hypomanisch-geltungsbedürftigen und stumpf-wurstigen Persönlichkeitstypen, der harmlos-willensschwachen und brutal-aktiven Naturen, an die sozial Anethischen, an die zahlreichen infantil Unreifen, an die noch zahlreicheren Psychopathen im engeren Sinne des Wortes und an andere mehr, um sich sofort der vielfältigen Möglichkeit einer Fehlbehandlung mit völligem Mißerfolge klar zu sein.“ (Viernstein 1924: 13)

Indem er ein Panorama psychisch problematischer Charakterzüge mit Hilfe von Fachausdrücken aufreiht und darauf hinweist, dass die fehlende Kenntnis der Charaktereigenschaften von Gefangenen zu Fehlbehandlung führe,

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alarmiert Viernstein mit dieser für ihn typischen Argumentationsstrategie zunächst seine Leser, um ihnen dann die Lösung, natürlich eben seine Kriminalbiologische Untersuchung, anzubieten: Die Grundlagen für einen auf der wissenschaftlichen Höhe der Zeit stehenden Strafvollzug könne nur die Biologie liefern (Viernstein 1924: 22). Sodann ging Viernstein auf die strittigen Punkte ein. Er betonte zunächst erneut, dass die Schlüsse, die der Untersucher aus den Informationen, die ihm der Strafgefangene über die Verwandtschaft oder über die eigene Biografie liefere, nur als vorläufige Urteile aufgefasst werden dürften; zusätzlich seien die Fragebögen der Heimatbehörden heranzuziehen, auf denen ja auch nach dem neuen Schema Angaben zum Charakter von Eltern und Geschwistern gemacht werden sollten. Der Kritik, dass die Angaben nicht nachgeprüft werden könnten und man sich auf das Urteil der Heimatbehörden verlassen müsse, begegnete Viernstein lapidar: „Jedenfalls halte ich es für besser, die Erhebungen zu machen, und selbst bei teilweiser Nichtnachprüfung als durchschnittlich richtig hinzunehmen, als gar nichts zu erheben und gar nichts zu wissen!“ (Viernstein 1924: 31). Hinsichtlich der Auswahl der Probanden begründete Viernstein sein Verfahren damit, dass „das Spiel des Zufalls bei der Auswahl wissenschaftlich die einzige Möglichkeit ist, um eine Einseitigkeit […] zu vermeiden“ (Viernstein 1924: 19). In Bezug auf die Typisierung der Gefangenen nach Kretschmer, der zentrale Kritikpunkt der Anstaltsärzte, gab er zu, dass eine genaue Einordnung nur bei den seltenen reinen Formen gelinge. Deshalb habe er der Kritik der Ärzte „wenigstens teilweise“ zustimmen müssen und auch zunächst den Wegfall der Typisierung angekündigt. Er habe diese aber wieder eingesetzt, um wenigstens in den Fällen, die ohne Zweifel typisiert werden könnten („und diese Fälle sind vielleicht doch nicht ganz so selten“), ein Urteil zu bekommen (Viernstein 1924: 25). Der Vorwurf, diese Typisierung nicht mit Sicherheit und auf wissenschaftlicher Basis vornehmen zu können, habe ihn schließlich dazu bewogen, eine biometrische Untersuchung des Probanden in den Fragebogen aufzunehmen; Viernstein begründet dies ausdrücklich damit, auf diese Weise der von den Ärzten geforderten Wissenschaftlichkeit Rechnung getragen zu haben. Falls das stimmt, dann war die Hinzunahme der Vermessung eine Reaktion auf die Unterstellung fehlender Wissenschaftlichkeit und ein weiterer Versuch, die Rolle des Arztes zu stärken, denn der Gesamtwert der ärztlichen Erhebung dürfte insbesondere für den Fall einer wissenschaftlichen Weiterverarbeitung des Materials gestiegen sein (Viernstein 1924: 27) – wie diese Weiterverarbeitungen aussehen oder welchen Erkenntniswert die Messungen haben sollten, führte er nicht aus. Viernsteins Denkschrift wurde dem Obermedizinalausschuss des Bayerischen Innenministeriums und dem Justizministerium zur strafvollzuglichen und wissenschaftlichen Prüfung der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle zugeleitet. Der (Rassen)Hygieniker Max von Gruber (1853-1927), ehemaliger Vorsitzender der „Gesellschaft für Rassenhygiene“ und Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, legte dem



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Ausschuss noch im Dezember 1924 ein Gutachten vor.20 Gruber begrüßte „mit wärmster Anerkennung und lebhaftem Danke“, dass das Justizministerium mit der Einrichtung der Sammelstelle die Möglichkeit zur Verwertung der Kriminalbiologischen Untersuchung durch die Wissenschaft gegeben hat. Es sei hocherfreulich, dass das Justizministerium von diesem Schritt auch nicht mehr abrücke. Angesichts des eigenen Interesses des Wissenschaftlers von Gruber, der zudem selbst noch damit beschäftigt gewesen sein dürfte, die Rassenhygiene als Wissenschaftsdisziplin zu etablieren, scheint die Überparteilichkeit des Gutachters in diesem Zusammenhang nicht mehr in Gänze gegeben gewesen zu sein. Sodann wies von Gruber darauf hin, dass – bei „nüchterner Betrachtung“ – zahlreiche Gefangene unverbesserlich und somit dem Ansinnen des Stufenstrafvollzugs, auf die Freiheit vorzubereiten, nicht zugänglich seien. Unverbesserlichkeit beruhe in sehr erheblichem Maße auf Fehlerhaftigkeit der ererbten Anlagen, sodass die Feststellung der Erblichkeitsverhältnisse des Gefangenen daher für die Prognose von großer Wichtigkeit sei. Gleichwohl könnten erbbiologische Daten niemals das psychologische Feingefühl des Beobachters ersetzen: „Die Menge der vererblichen Anlagen ist zu gross, die Zahl ihrer möglichen Kombinationen zu ungeheuer, ebenso der Einfluss, der in jedem einzelnen Fall anders liegenden Kombination der Umweltbedingungen auf die Entfaltung der ererbten Anlagenkombinationen zu unübersehbar, als dass es je möglich sein wird, die Formel zu ermitteln, welche die Beschaffenheit des Individuums aus seiner Entstehung restlos erklären und berechnen lassen würde.“

Trotz dieser Einschränkung befürwortete von Gruber Konzeption und Praxis der Untersuchung und betonte, dass die Feststellung und Beschreibung der erbbiologischen Aspekte methodisch (damit nichts vergessen werde) und überall nach der gleichen Methode (wegen der Vergleichbarkeit der Ergebnisse) durchgeführt werden müsse. Der Professor verteidigte zudem den Primat der wissenschaftlichen Interessen gegenüber den strafvollzuglichen: „Wenige gründlich untersuchte Fälle sind nützlicher als viele nur obenhin behandelte“. Für ergänzungswürdig hielt Gruber die Regeln für die körperliche Untersuchung und wünschte, „dass 1.) die anthropometrische Untersuchung genau nach dem von R.[udolf] Martin (Richtlinien für Körpermessungen. München, Lehmann 1924) gegeben Vorschriften und mit den erprobten Martin‘schen Werkzeugen in jenem Umfange vorgenommen wird, wie es für die Festlegung des körperlichen Habitus und insbesondere zur Entscheidung der Frage, in welchem Masse körperliche und psychische Konstitution korreliert sind, notwendig ist […]; 2.) dass genau nach den von Martin gegebenen Weisungen die Untersuchten in völlig nacktem Zustande photographiert werden.“

20 BHStA, MJu 24262: Gutachten Prof. Max von Gruber für Obermedizinalausschuss v. 19.12.1924 (dort auch alle folgenden Zitate).

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Damit verwies Gruber auf die methodischen und handwerklichen Standards in seiner Disziplin; die Qualität der gewonnenen Ergebnisse sollte durch die richtige Verwendung der angemessenen Instrumente sichergestellt werden. Die Kretschmersche Typisierung durchzuführen lehnte er aber ebenso wie die Anstaltsärzte ab: Dessen Theorie von der Korrelation der psychischen Veranlagungen und dem körperlichen Habitus sei zwar beachtenswert, das Maß ihrer Geltung aber noch nicht sicher genug festgestellt. Zudem zeige schon die unbefangene Beobachtung, dass es mehr als die geschilderten Phänotypen, dass es vielmehr eine ganze Reihe Misch- und Übergangsformen gebe. Der Leiter der Sammelstelle solle prüfen, ob und in welchem Umfang die Einteilung in Typengruppen möglich sei – etwa mit Hilfe gründlicher Untersuchungsprotokolle, verlässlicher Messungen oder guter Photogramme, also per Ferndiagnose, ohne eigenes Ansehen. Das Gutachten stützte dann wieder Viernstein hinsichtlich der Auswahl der zu untersuchenden Gefangenen; dessen „Vorschlag der praktischen Auslese“ sei „tadellos“ und es sei nicht einzusehen, warum diese in der Praxis, wie die Anstaltsärzte meinten, nicht durchzuführen sei. Abschließend sprach sich Gruber für die Abhaltung von Kursen in Anthropometrie und anthropologischer Photografie zur Schulung der Anstaltsärzte aus. Viernstein nahm die ‚Anregungen‘ auf und überarbeitete den Fragebogen. Die Ergebnisse legte er in einem ausführlichen Gutachten für das Justizministerium dar.21 Der Ton des Gutachtens ist wieder der einer mehr oder weniger beleidigten Verteidigung einer aus seiner Sicht natürlich guten Idee gegen unangebrachte Kritik. Er habe ja eigentlich den Ärzten vor Ort freie Hand lassen wollen bei der Beurteilung des psychischen Bildes des Zugangs. Der Kritik nachgebend habe er aber eine stärkere charakterologische Schematisierung, die jedoch der Komplexität der seelischen Gesamtpersönlichkeit nicht gerecht werde, in die Untersuchung aufgenommen; die neuen Schlagworte seien eine Handhabe, sich schnelle über den Charakter des Einzelnen klar zu werden. Hinsichtlich der Kretschmerschen Typisierung übernahm Viernstein von Grubers Anregung – eine Konzession, ohne seine Position aufzugeben: Er wünsche die Typisierung beizubehalten, die ja auch der Leiter der Sammelstelle vornehmen könne. Natürlich könnten die Untersucher selbst schon zu einem Urteil kommen und dies auch wollen, es sei ihnen aber freigestellt; in diesem Fall solle die Frage „Ist eine Typisierung möglich und wenn ja, wie?“ beantwortet werden. Auch bei den anthropometrischen Messungen folgte Viernstein Grubers Vorschlägen, die Schemata der Anthropologen Martin und Henckel zu nutzen. Auch empfahl er, dass die Strafanstalten die von Martin verwendeten Messinstrumente anschafften. Zur Verwendung der Messinstrumente präzisierte er: „Mit dem Martinschen

21 BHStA, MJu 24261: Gutachten Viernstein über die endgültige Durchführung des kriminalbiologischen Dienstes (Viernstein an Staatsministerium der Justiz. Betr.: Die Organisation des kriminalbiologischen Dienstes im bayerischen Strafvollzug v. 26.1.1925); dort auch alle Zitate.



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Instrumentarium steht oder fällt das Interesse und die Anteilnahme der Anthropologen an unseren Arbeiten. Wir können unmöglich auf diese Mitwirkung verzichten.“ Wie schon Gruber verwies auch Viernstein hier auf die wissenschaftlichen Standards der Anthropologie, um die Untersuchung vor dem von der scientific community geäußerten Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit zu schützen und sich zudem offensiv auch die Teilhabe an diesem Denkkollektiv zu sichern. Auf die im Zusammenhang mit den anthropometrischen Messungen eingeführte Nacktaufnahme wollte Viernstein hingegen auf keinen Fall verzichten, denn „wissenschaftlich kommt man ohne sie überhaupt nicht aus“. Wieder nicht erklärend, warum sie wissenschaftlich unverzichtbar sei, empfahl er: „Den Forderungen des Schamgefühls soll dadurch Rechnung getragen werden, daß der äußere Geschlechtsteil durch Vorbinden eines schwarzen Tuchlappens von ca. 15 zu 20 cm Längenbreite verdeckt wird, nicht aber soll etwa eine Badehose oder ein ähnliches, die Beckenkonfiguration unkenntlich machendes Gewandstück zulässig sein. Der Tuchlappen soll lediglich an einem dünnen Faden um die Hüften befestigt sein.“

Die Nacktaufnahme solle zudem nur bei Männern erstellt werden, während von Frauen nur eine Porträtaufnahme gemacht werden solle. Detailliert äußert sich Viernstein über seine Vorstellung von den Aufgaben der Kriminalbiologischen Sammelstelle und über die Form der angelegten Kartothek: Die Sammelstelle solle alles urkundliche Material von den Untersuchungen aus allen bayerischen Gefängnissen sammeln, des Weiteren – was noch nicht geklärt war – anfragenden Strafverfolgungsbehörden Auskunft erteilen und schließlich das Material für die wissenschaftliche Verarbeitung aufbereiten. Viernstein regte auch an, der Sammelstelle einen wissenschaftlichen Beirat zu Seite zu stellen – es sei spekuliert, dass dies vor allem dem Justizministerium, weniger Viernstein selbst geraten schien und vor allem dem Wunsch nach Wissenschaftlichkeit und wissenschaftlicher Absicherung gegen Anfechtungen von außen entsprang. Der Beirat solle beim Justizministerium eingerichtet und mit Fachgelehrten („ein Rassehygieniker, ein Erbbiologe, ein Anthropologe, ein Kriminalist, ein Anstaltsarzt, Leiter der Sammelstelle, Oberstaatsanwalt, nichtmedizinischer Oberbeamter einer Strafanstalt“) besetzt werden. Dieser solle sich ein Bild vom Funktionieren der Sammelstelle verschaffen, etwaige Fehler und Mängel aufdecken, Anregungen für Änderungen oder Erweiterungen geben sowie die wissenschaftliche Verarbeitung der gesammelten Daten beraten. Das Justizministerium kondensierte die Ergebnisse des Gutachtens in einer Ministerialentschließung:22 Anders als bisher sollte nicht mehr ein Gefangener pro Tag untersucht, sondern an jedem dritten Arbeitstag eine er-

22 BHStA, MJu 24262: Staatsministerium der Justiz an die Direktion des Zuchthauses Straubing v. 8.5.1925.

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weiterte Untersuchung nach dem von Viernstein modifizierten Fragebogen vorgenommen werden, wobei die Auswahl nach dem praktizierten Quotienten und nicht nach dem Dafürhalten des Arztes erfolgen sollte. Hinsichtlich der Typisierung nach Kretschmer folgte die Entschließung den Vorschlägen Viernsteins und bestimmte, dass der Fragebogen entsprechend geändert werde. Es wurde zudem festgelegt, dass eine Nacktphotografie nur nach freiwilliger Zustimmung des Gefangenen angefertigt werden sollte – der Zwang hierzu sei nicht gut für die Disziplin im Gefängnis. Das Ministerium schloss sich auch der Empfehlung Viernsteins an, die Praxis der Auskunftseinholung durch die Heimatbögen beizubehalten. Gemäß dem Vorschlag Viernsteins wurde ein jährlich tagender Beirat eingerichtet, dem drei Vertreter der Wissenschaft (ein Rassenhygieniker, ein Erbbiologe und ein Anthropologe), der Medizinalreferent im bayerischen Innenministerium, der Oberstaatsanwalt beim Oberlandesgericht München, ein Strafanstaltsarzt sowie ein Strafanstaltsvorstand angehören sollten. Dem Beirat sollte die Aufgaben zukommen, sich ein Bild vom Funktionieren der Sammelstelle zu verschaffen, etwaige Fehler und Mängel aufdecken, Anregungen auf Abänderung und Erweiterung zu geben und schließlich die wissenschaftliche Verarbeitung zu beraten.23 Diese wurde ebenfalls per ministerieller Entschließung geregelt: Der Beirat hatte zwar das Bestreben Viernsteins, Versuche mit der wissenschaftlichen Verarbeitung der Ergebnisse zu machen, „als dankenswert anerkannt“, aber Bedenken geäußert, ob diese, besonders, wenn sie eine Typisierung nach Rassen vornähmen, bei der Umstrittenheit der Typisierung und zur Vermeidung der Gefahr unzutreffender Schlussfolgerungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Auch dürfe der Jahresbericht nur an vertrauenswürdige Personen, „die für die Bestrebungen der Sammelstelle schon bisher Interesse gezeigt haben und in Verbindung mit ihr standen, mit der ausdrücklichen Bemerkung überlassen werden, dass er nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist, nicht im Buchhandel erscheint und vertraulich zu behandeln ist“. Und, wie es scheint, als Reaktion auf Eigenmächtigkeiten Viernsteins, wurde bestimmt, dass sich der Leiter der Sammelstelle „künftig“ vor „Inangriffnahme weiterer wissenschaftlicher Bearbeitungen der angesammelten Untersuchungsergebnisse […] mit den wissenschaftlichen Mitgliedern des Beirats schriftlich oder mündlich ins Benehmen zu setzen und sich ihres Einverständnisses mit der Vornahme der Arbeit zu versichern“ habe.24 Und schließlich wurden die Aufgaben der Sammelstelle präzisiert, wobei man auch hier Viernsteins Vorschläge übernahm: Sammlung und Ordnung der Berichtsbögen, Auskunftserteilung an Strafverfolgungsbehörden auf Anfrage, Vorbereitung der Ergebnisse zur wissenschaftlichen Verwertung.

23 BHStA, MJu 24261: Gutachten Theodor Viernstein über die endgültige Durchführung des kriminalbiologischen Dienstes an das bayerische Staatsministerium der Justiz v. 26.1.1925. 24 BHStA, MJu 24261: Ministerialentschließung 46771 v. .9.1926.



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Betrachtet man diese Situation und die kompromisshafte Lösung der Konflikte unter der Perspektive des Denkkollektivs, so zeigt sich, dass Wissenschaft – hier der Wissenschaftsanspruch der Kriminalbiologischen Untersuchung – ganz im Fleckschen Sinne durchaus abhängig ist von anderen, von außerwissenschaftlichen Faktoren – hier der politischen und strafvollzuglichen Gemengelage in Bayern. Mit der Ministerialentschließung vom Mai 1925 stand die fertig ausgebildete Form der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Praxis der Kriminalbiologischen Sammelstelle fest. Doch die Ärzte waren nicht die Einzigen, die an der Untersuchungspraxis Kritik äußerten; diese kam auch aus den Reihen der Polizei. Schon bald nach der Einführung der Untersuchung informierte der Münchner Polizeipräsident und spätere Generalstaatsanwalt Eduard Nortz (1868-1939) mit Schreiben vom 3. Oktober 1923 das bayerische Innenministerium darüber, dass die Erledigung von Ersuchen aus den Strafanstalten über Auskunftserteilung mittels der „Heimatberichte“ für die Kriminalbeamten eine erhebliche Mehrbelastung bedeute, ohne dass der Erfolg der nötigen Arbeit entspreche.25 Nortz kritisierte auch den Zuschnitt des Fragebogens, der Fragen enthalte, die bei der Personenfestsetzung längst beantwortet sein müssten; dazu gingen die übrigen Fragen so ins Einzelne, dass nur durch zeitraubende Befragungen Feststellungen getroffen werden könnten. Auch über die Zuständigkeiten bei der Befragung und die Konsequenzen lässt sich der Polizeipräsident aus: Fragen über Familienverhältnisse könne wohl noch der Bürgermeister eines kleinen Ortes beantworten, „aber in der Großstadt hat wohl der Kriminalbeamte Kenntnisse über einen Teil der Bewohner seines Bezirks. Aber vielfach ist er bei Leuten, die mit den Gesetzen noch nicht in Konflikt gekommen sind, darauf angewiesen, sich über die Persönlichkeiten bei dritten ihm bekannten Personen zu erkundigen. Ob aber dann diese Erhebungen richtig sind, hängt vor allem davon ab, in welchen Beziehungen die Auskunftsperson zu der Person steht, über die die Erkundung eingezogen wird.“

Die Informationseinholung von Dritten berge die Gefahr von Denunziation und falscher Verdächtigung und für den Strafgefangenen auch die, dass seinem sozialen Umfeld seine bisher unbekannten Bestrafungen bekannt würden. Zudem würden die ärztlichen Gutachten vielfach die Beantwortung des Fragebogens überflüssig erscheinen lassen. Aus diesen Gründen richtete er die Bitte an das Innenministerium, beim Staatsministerium der Justiz zu erwirken, dass die Beantwortung der Fragebögen erlassen werde oder dass Fragebögen in vereinfachter Form herausgegeben würden. Dem Justizministerium war an einer Antwort an Nortz gelegen, und Viernstein reagierte – wie gewohnt – mit einer länglichen Antwort in einem

25 BHStA, MJu 24266: Polizeipräsident Nortz der Polizeidirektion München an das Staatsministerium des Innern v. 3.10.1923.

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Schreiben vom 28. Oktober 1923.26 Ausführlich beschreibt der Arzt zunächst die Bedeutung der Kriminalbiologischen Untersuchung – auch für den Kriminaldienst. Er machte, ebenfalls wie gewohnt, auf seine spezifische Weise deutlich, dass – da jeder Zugang „allseitig und psychologisch richtig“ vom Anstaltsarzt exploriert werde – vielmehr eben dieser eine „erhebliche Mehrarbeit!“ übernehme. Eine Nachprüfung der ärztlichen Berichterstattung durch die Behörden sei jedoch unerlässlich und überaus wertvoll, „weil durch die Anhäufung eines ständig wachsenden Nachrichtenmateriales eine große Sammlung von Kenntnissen, wie wir sie bisher in dieser Eigenart und Vollständigkeit nicht haben, allmählich erzielt wird, welche uns ein Bild derjenigen Schichten und Einzelstämme geben, aus welchen Verbrecher hervorgegangen sind bzw. hervorgehen.“ Der Gewinn sei sehr hoch, „denn der einmal in allen seinen Lebensbeziehungen umfassend und richtig explorierte und hinsichtlich seiner Angaben nachgeprüfte Verbrecher ist für jeden späteren Fall strafrechtlicher Entgleisung prinzipiell geklärt.“ Indem Viernstein an das professionelle Selbstverständnis der Polizei appellierte, versuchte er deutlich, weitere Kritik durch das Potential von Kriminalbiologischer Untersuchung und Sammelstelle im Keim zu ersticken. Dem diente zudem das Argument, dass auch schon früher Fragebögen von Strafanstalten an die Heimatbehörden zur weiteren Auskunftserteilung gerichtet, diese alten Bögen aber nie gerügt worden seien. Der neue Bogen enthalte keine wesentlich anderen Fragen, wohl aber sei er neu gruppiert und dadurch etwas komplizierter, aber auch für die Polizei „ein psychologisches Hilfsmittel ersten Ranges, weil der Polizist ja wohl kein Fachpsychologe“ sei. Wo Viernstein zunächst der Professionalität der Polizei entgegenkam, nahm er hier eine eher paternalistische Haltung ein und sprach der Polizei psychologische Kompetenzen ab – Kompetenzen, die dort wohl durchaus als zentral und auch als vorhanden erachtet worden sein könnten. Man könne im Übrigen, so Viernstein weiter in diesem Ton, dem gewissenhaften Beamten am besten durch den Hinweis, dass schon wenige Auskünfte einen hohen Wert haben, das peinliche Gefühl, eine nutzlose Arbeit verrichtet zu haben, nehmen. Ganz zugewandt konzedierte er: „Viele Bögen machen den Eindruck, dass sie in der Hand eines nicht nur gewandten, sondern auch dienstlich warm interessierten Beamten gewesen sind.“ Viernstein bat die Polizeidirektion abschließend, sich seinen Standpunkt zu eigen zu machen. Das aber schien nicht auf dem Weg der Überzeugung gelungen zu sein: In seinem Schreiben vom 11. Dezember 1923 machte Nortz deutlich, dass Viernsteins Gutachten vom 28. Oktober die Bedenken keineswegs zerstreut habe. Man füge sich aber, denn falls Ergänzungen nötig seien, dann würden sie gemacht, obwohl man es für zu weitgehend halte, für jeden Gefangenen derart ausführliche Fragebögen zu beantworten. Der frühere Fragebogen sei insofern einfacher gewesen, als dass nur zum Strafgefangenen selbst, nicht

26 BHStA, MJu 24266: Antwort auf Polizeipräsident Nortz durch Viernstein v. 28.10.1923.



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aber auch noch zu den Angehörigen Angaben gemacht werden mussten. Nortz weist darauf hin, dass bis Dezember 1923 bereits 993 Anfragen bei der Polizeidirektion München eingegangen seien. Für die korrekte Bearbeitung einer Anfrage sei ein Tag nötig, so dass mindestens drei Beamte der Direktion damit ständig beschäftigt seien. Mit Hinweis auf Sparmaßnahmen des bayerischen Gesamtstaatsministeriums schließt Nortz: „Der hierfür entstehende Kostenaufwand steht in keinem Verhältnis zu dem Erfolg.“ Das Innenministerium folgte dieser Argumentation und ersuchte das Justizministerium, für die Dauer der Sparmaßnahmen die Versendung von Fragebögen an die Polizeibehörden auf die Fälle einzuschränken, in denen der Bedeutung der Straftat und den Ergebnissen der weiteren anstaltsärztlichen Untersuchung eine Nachprüfung geboten erscheint.27 Mitte 1924 war diese Frage offenbar immer noch ungeklärt, denn dann adressierte Viernstein ein Schreiben an die Direktion des Zuchthauses Straubing,28 in dem er die Notwendigkeit der Erhebung bei allen Strafgefangenen als über jeden Zweifel erhaben deklarierte. Die Argumentation war leicht verändert, die Bedeutung für die Strafverfolgung und für die Ausmessung der verbrecherischen Bevölkerung in den Vordergrund gebracht: Was jetzt schon für die „Inventaraufnahme“ erarbeitet werden könne, stelle eine notwendige und wertvolle Vorarbeit für spätere strafrechtliche Maßnahmen dar, so dass es nicht verantwortet werden könne, die Beantwortung der Fragebögen abzuschaffen oder auch nur einzuschränken. „Alles in allem begutachte ich, an die Polizeidirektion die dringende Bitte zu richten, sie möchte ihre gewiss nicht gering bewerteten Bedenken gerade in der Jetztzeit zurückstellen und dem von strafvollzuglicher Seite angebahnten rassepolitisch wichtigen Werke wie bisher so auch fernerhin ihre Beihilfe nicht versagen.“ Drei Wochen später hatte dann auch das Innenministerium keine Einwendungen mehr gegen die Beibehaltung des Verfahrens.29 In diesen ersten entscheidenden Konflikten um die Einrichtung und Ausformung der Untersuchung konnte sich Viernstein – wenn auch nur mit Unterstützung des Ministeriums und beim Streit mit den Ärzten mit der Konzession, der Typisierung nach Kretschmer weniger Raum zu geben – gegenüber seinen Kritikern durchsetzen: Die Kriminalbiologische Untersuchung wurde mit den genannten Modifikationen per Ministerialentschließung vom 26. April 1925 endgültig in den bayerischen Gefängnissen etabliert.30 Der erweiterte Fragebogen erhielt hierin seine letztgültige Form (kleinere Änderungen hinsichtlich der Erfragung des psychischen Bildes des Zugangs gab

27 BHStA, MJu 24266: Staatsministerium des Innern an das Staatsministerium der Justiz v. 28.3.1924. 28 BHStA, MJu 24266: Viernstein an die Direktion beim Zuchthause Straubing v. 3.7.1924. 29 BHStA, MJu 24266: Staatsministerium des Innern an das Staatsministerium der Justiz v. 28.7.1924. 30 BHStA, MJu 24261: Ministerialentschließung 16716 v. 26.4.1925.

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es noch einmal Ende 1926, der Auswahlmodus wurde bestätigt, die Praxis der Kriminalbiologischen Sammelstelle festgelegt. Das Justizministerium belohnte darüber hinaus Viernsteins persönliches Engagement in der Sache und verlieh ihm den Titel eines Obermedizinalrates, was Viernsteins Position und Autorität gegenüber den Anstaltsärzten hervorhob und stärkte.

E RGÄNZUNGEN UND N ACHSTEUERUNGEN Die eigentliche Durchführung der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Betrieb der Sammelstelle werden in den folgenden Kapiteln dieses Teils der Studie ausführlich dargestellt. Hier seien zunächst weitere Aspekte erörtert, die noch zum Themenkomplex Einrichtung und Etablierung der Untersuchung und der Sammelstelle gehören und als Nachsteuerungen verstanden werden können: die Schulungen des Anstaltspersonals, die Einführung von Zwischen- und Nachberichten zu bereits untersuchten Gefangenen, die Hinzunahme des „subjektiven Eindrucks“ bei der Beurteilung eines Gefangenen während der Untersuchung, die Etablierung der „verkürzten Untersuchung“ aller Zugänge durch anderes Strafanstaltspersonal als den Hausarzt, die Gutachtenerstattung für Strafverfolgungsbehörden sowie der Umzug der Sammelstelle nach München im Jahr 1930. Möglicher weiterer Kritik an der Untersuchung seitens der Anstaltsärzte wurde noch 1925 mit einem mehrtägigen Einführungskurs begegnet, bei dem namhafte Wissenschaftler des Münchner rassenhygienischen Denkkollektivs den Anstaltsärzten Grundzüge der Genetik und der Eugenik, aber auch die Feinheiten der anthropometrischen Messungen und der charakterologischen Analyse – inklusive der Typisierung der Gefangenen nach Kretschmer – nahebringen sollten. Die (Selbst)Berichte von Viernstein, dem Arzt Martin Isserlin und dem Psychiater und Rassenbiologen Hans Luxenburger (1894-1976) über den Kurs sind im ersten Band von „Der Stufenstrafvollzug“ veröffentlicht.31 Zunächst gibt Viernstein einen kurzen Überblick über die Vorträge und Themen: Max von Gruber hielt den Einführungsvortrag, der die Tragweite der kriminalbiologischen Forschung in den Strafanstalten zum Gegenstand hatte. Der Anthropologe Wilhelm Gieseler (1900-1976) übte mit den Anstaltsärzten in mehreren Stunden die anthropometrischen Messungen ein. Der Rassenhygieniker Fritz Lenz sprach über Stand, Probleme und Ziele der Rassenhygiene und bezog diese auf den erbbiologischen Umgang mit Verbrechern und Kriminalität. Der Chefarzt des Münchner Lazaretts für Hirnverletzte sprach die Technik der psychologischen Befragung und Hans Luxenburger, der den verhinderten Rüdin vertrat, über Erbbiologie, Charakterologie und deren Einfluss auf die Entstehung kriminellen Handelns. Viernstein selbst gab eine Einführung in die

31 Berichte über den Kriminalbiologischen Einführungskurs für Strafanstaltsärzte (Stufenstrafvollzug, Bd. 1: 126-141):



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Praxis der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle, wobei es offenbar zu einer (nicht dokumentierten) Aussprache mit den Kursteilnehmern kam. Besichtigungen der Räume der Forschungsanstalt für Psychiatrie sowie der psychiatrischen Klinik der Universität München schlossen sich an. Inhaltlich blieb die Veranstaltung jedoch – wenn die abgedruckten Selbstberichte ein Maßstab sind – sehr im Vagen. Im Juli 1927 fand in München ein weiterer Fortbildungslehrgang für Strafanstaltsoberbeamte statt. Dabei sprachen, nach einer Einführung von Richard Degen, der Moraltheologe Ignaz Klug (1877-1929) über Willensfreiheit und Willensentscheidungen, der Kriminologe und Zwillingsforscher Johannes Lange (1891-1938) über die Anlage zum Verbrechen und über Psychopathie, Fritz Lenz erneut über rassenhygienische Grundlagen sowie Viernstein selbst über die Typisierung besserungsfähiger und unverbesserlicher Verbrecher. Die gegenüber den Selbstberichten des ersten Kurses wesentlich ausführlicheren Selbstberichte sind im zweiten Band von „Der Stufenstrafvollzug“ abgedruckt.32 Interessant ist vor allem der Vortrag von Lange, in dem deutlich biologistische, auch rassenhygienische Positionen vertreten werden. Das beginnt bereits im ersten Absatz mit der Feststellung: „Daß es Verbrecher aus Anlage gibt, wußte man schon seit vielen Jahrhunderten“, aber erst Lombrosos kriminalanthropologische Forschungen hätten die „noch in lebhaftem Fluß befindlichen Untersuchungen über die biologischen Eigenschaften verbrecherischer Individuen“ belebt (Lange 1927). Lange gibt zwar zu, dass Lombrosos Theorie von den Degenerationszeichen nicht aufrecht erhalten werden konnte, weist zugleich jedoch darauf hin, dass die Forschung von dieser Theorie aber die „Tatsache“ übrig gelassen habe, dass man bei Gewohnheitsverbrechern auffallend oft gehäufte körperliche Entartungszeichen und seelische Mängel finde, die an sich keinerlei Bedeutung hätten, in der Häufung aber auf eine „allgemeine minderwertige, ‚degenerative‘ Veranlagung“ hindeuteten. Unter den „Degenerativen“ wiederum träten die moralisch-defekten Typen mit ihrem Mangel an sozialen Gefühlen, mit Frühkriminalität und völliger Unbeeinflussbarkeit, aber auch andere antisoziale Menschen hervor, die man zur großen Gruppe psychopathischer Anomalien zusammenfassen könne, wobei zu beachten sei, dass Psychopathien immer durch die Anlage gegeben seien (Lange 1927: 141f.) – „Verbrechen als Schicksal“. Es sollen hier jedoch die Vorträge Langes und Viernsteins nicht ausführlich besprochen werden. Im Zusammenhang mit der Einrichtung und der Etablierung der Kriminalbiologischen Untersuchung in den bayerischen Gefängnissen sei hier nur darauf hingewiesen, dass die Einführungs- und Fortbildungskurse als Initiation der Strafanstaltsbeamten in den kriminalbiologischen Denkstil verstanden werden können, als die Aufnahme der Beamten in das Denkkollektiv der Kriminalbiologie bayerischer Prägung. Um das im

32 Fortbildungs-Lehrgang für Strafanstalts-Oberbeamte in München v. 4. bis 6.7.1927 (Stufenstrafvollzug, Bd. 2: 78-182).

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Abschnitt über Flecks Theorie vom Denkstil und vom Denkkollektiv Gesagte hier zu präzisieren: Die Anstaltsärzte und -beamten sollten auf diese Weise die Kriminalbiologische Untersuchung verstehen lernen, was aber eben nicht meint, den kritischen Blick auf den ihnen präsentierten Wissensbestand zu schärfen: Vielmehr sollten sie die Voraussetzungen akzeptieren, sie als selbstverständlich und gültig erachten. Die Ausrichtung auf im Denkkollektiv gültige Wissensbestände und Methoden und die initiierende Aufnahme in dieses Kollektiv erscheinen auch hier als wichtige Faktoren für die spätere Erkenntnistätigkeit, da stilgemäß angeleitete praktische Erfahrungen gemacht, Arbeitsweisen und Problemstellungen sowie theoretisches Rüstzeug des Kollektivs übernommen und die Zugehörigkeit und Identität der Beamten als Teile des Denkkollektivs ausgebildet werden sollten. Bemerkenswerterweise war die Frage, ob denn die in der Eingangsuntersuchung abgegebene soziale Prognose zutreffend war und wie dies zu prüfen sei, kein Thema bei der Einrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung. Erst ab Oktober 1926 forderte das Justizministerium die Anstaltsärzte auf, der Sammelstelle für jeden entlassenen Gefangenen, der kriminalbiologisch untersucht und für den dementsprechend eine soziale Prognose erstellt worden war, unmittelbar nach der Entlassung einen Nachbericht mit einer neuen sozialen Prognose zu erstatten. Der Bericht sollte Aussagen über das Verhalten des Gefangenen während des Strafvollzugs und über eine etwaige abweichende soziale Prognose sowie Begründungen sowohl der bei der ersten Untersuchung als auch der im Nachbericht gefassten Prognose beinhalten.33 Bei Strafgefangenen, die längere Freiheitsstrafen zu verbüßen hatten und eingangs kriminalbiologisch untersucht worden waren, sollten mehrfache Zwischenberichte die erste Prognose überprüfen und gegebenenfalls revidieren, wie das Ministerium Ende 1927 bestimmte. Eine Revision könne etwa nötig werden, wenn neue Züge, die erst während des Strafvollzugs hervortreten, das erste Gutachten veränderten. 34 Überhaupt schien es eine gewisse Unsicherheit über die Einstufungspraxis gegeben zu haben. Nachdem sich Degen 1924 für eine leichtere Versetzung von Gefangenen in die bessere Stufe 2 des Stufenstrafvollzugs ausgesprochen hatte, wurde die eigentlich als Eingangsstufe konzipierte Stufe 1 zu einem Auffangbecken für die vermeintlich „hoffnungslosen“ Fälle mit der Folge, dass, wie schon angedeutet, das Justizministerium 1927 bestimmte, jene Gefangenen vom Stufenstrafvollzug auszuschließen, die den damit intendierten Erziehungsbemühungen nicht zugänglich seien – in der Regel also die als „unverbesserlich“ betrachteten Gefangenen (Müller 2004: 261f.). Ohne Zweifel steht diese Maßnahme im Zusammenhang mit der Ernüchterung, die sich in Justizkreisen und im Strafvollzug gegen Ende der Weimarer Republik breitmachte und die mit dem Schlagwort „Grenzen der Erziehbarkeit“ umschrieben worden ist. Degen hat dieser Ernüchterung in

33 Ministerialentschließung 46771 v. 11.10.1926 (Stufenstrafvollzug, Bd. 2: 8f.): 34 Ministerialentschließung 54661 v. 14.12.1927 (Stufenstrafvollzug, Bd. 2: 27).



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einem Vortrag vor den Strafvollzugsreferenten der Länder im Januar 1930 deutlich Ausdruck verliehen:35 Das Problem sei viel schwieriger als angekommen; man müsse leider zugeben, dass ein großer Teil der Gefangenen in den Strafanstalten erzieherischen Einwirkungen nicht in dem Maß zugänglich sei, dass darauf die Hoffnungen gebaut werden könne, sie zu brauchbaren Staatsbürgern zu machen. Davor dürfe man die Augen nicht verschließen: „Ich weiß, daß es die Meinung gegeben hat und vielleicht noch gibt, daß jeder Mensch besserungsfähig sei und daß es Unverbesserliche nicht gäbe. Jeder erfahrene Strafanstaltspraktiker beweist Ihnen an vielen Fällen das Gegenteil.“ Wo die Zugänglichkeit zu erzieherischen Maßnahmen nicht vorhanden sei, sei jede Erziehung fruchtlos: „Die Natur bricht immer wieder durch, mag man sie auch noch so sehr zu unterdrücken suchen.“ Degens Blick richtet sich daher auf die Strafgefangenen: „Betrachten wir nun die Leute, die in die Strafanstalten kommen, so müssen wir wohl sagen: irgend einen konstitutionellen Fehler, sei es nun ein moralischer Mangel oder ein geistiger Defekt, irgend einen ‚Knacks‘ hat fast jeder. Die Schwierigkeiten des Erziehungsproblems in den Strafanstalten steigern sich also mit der ganz besonderen Eigenart der Zöglinge, die nicht nur irgendwie belastet, sondern zum großen Teil auch über das Alter hinaus sind, in dem erzieherische Beeinflussung noch irgend einen besonderen Eindruck auf den Menschen auszuüben vermag, die zum großen Teil schon fertig und nur in seltenen Fällen noch wandlungsfähig sind.“

Man möchte, so Degen, angesichts dieser erzieherischen Misserfolge an der Durchführbarkeit systematischer erzieherischer Einwirkung zweifeln, käme nicht die Kriminalbiologie zu Hilfe: Sie mache deutlich, dass die große Masse der Gefangenen für das Erziehungswerk untauglich sei, „ihm stumpf und gleichgültig gegenübersteht und sich durch die in der Gestalt von Erleichterungen des Strafvollzugs winkenden Anreize im besten Falle zu einer halbwegs anständigen Führung in der Anstalt aufrafft, ohne sich aber im Wesen oder Charakter im geringsten zu ändern.“ Die Frage der Verantwortung für diese fruchtlosen Erziehungsbemühungen bei bestimmten Strafgefangenen führt Degen damit eben nicht auf die erzieherischen Maßnahmen, die in ihrer Adäquatheit nicht angezweifelt wurden, zurück, sondern verlegt die Ursache dafür in den Körper und in die Verantwortlichkeit der Strafgefangenen. Man müsse nur den Bekennermut haben, dass nicht auf alle Gefangenen nachhaltig erzieherisch eingewirkt werden könne. Dies zugegeben, sei „unnötige[r] Ballast zur Seite [geräumt], der uns die eingehende Befassung mit den wirklich besserungsfähigen Gefangenen nur erschwert.“

35 BHStA, MJu 24257: Reichsminister der Justiz an die Landesjustizverwaltungen v. 24.2.1930: Bericht (Aktenvermerk) über die Zusammenkunft und Beratungen der Strafvollzugsreferenten der Länder v. 18.1.1930, Referat Degen (dort auch alle folgenden Zitate).

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Wer aber gehörte nun genau zu diesem „unnötigen Ballast“, zu denjenigen Gefangenen, die gänzlich von den Erziehungsbemühungen auszuschließen waren? Noch im selben Jahr beauftragte das Justizministerium Viernstein und seinen Nachfolger als Anstaltsarzt in Straubing, Hans Trunk, ein Gutachten über die Möglichkeit einer fundierten sozialen Prognose zu erstellen.36 Für dieses Gutachten hatten Viernstein und Trunk einerseits gefragt, ob bei solchen Gefangenen, bei denen soziale Einflüsse zur Entwicklung zum Kriminellen überwogen, eine günstigere soziale Prognose zu stellen sei als bei solchen, bei denen „erblich bedingte Einflüsse“ vorlagen, andererseits, welche Eigenschaften ein Gefangener haben muss, um in die Stufe 2 des Stufenstrafvollzugs gehoben zu werden, wenn nur wirklich erziehungsfähige Gefangene hierzu zugelassen seien. Die Prämissen und die Schlussfolgerungen in diesem Gutachten sind überraschend schlicht: Unter Verbrechern fänden sich zahlreiche Personen, bei denen Kriminalität „ausschließlich oder deutlich überwiegend erbanlagig bedingt“ sei, während andere Verbrecher „mit an sich sozial eingestellten Anlagen ausschließlich oder deutlich überwiegend durch Umwelteinflüsse zur kriminellen Handlung getrieben“ würden. Diese „wissenschaftlich lange gesicherten Annahmen“ hätten die beiden Autoren nun neuerdings bestätigt gefunden, indem sie in einer größeren Untersuchungsreihe mit Straubinger Insassen – es wurden nach eigenen Angaben mehr als 3.000 Gefangene berücksichtigt – deren Zugehörigkeit zu den Gruppen der „Endogeniker bzw. Exogeniker“ anhand der Befundbögen in der Sammelstelle auf ihre Besserungsfähigkeit bzw. Unverbesserlichkeit geprüft hätten. Das wenig überraschende Ergebnis: Mit eindrucksvoller Deutlichkeit habe sich gezeigt, dass die soziale Prognose in sehr hohem Maße von der Zugehörigkeit zur einen oder anderen der Gruppen abhinge. So hätten sich 81 Prozent der „Endogeniker“ als unverbesserlich und 79 Prozent der „Exogeniker“ als besserungsfähig erwiesen. Auf die methodischen Mängel der „Studie“ weist Christian Müller hin, denn dieser lagen dieselben Ausgangsdaten über eine vermeintliche „erbliche“ Belastung zugrunde wie den sozialen Prognosen in den ursprünglichen Befundbögen; zudem wurde nur die Kategorisierung der Strafgefangenen berücksichtigt, nicht aber deren tatsächliches – konformes oder weiterhin abweichendes – Verhalten nach der Haft (Müller 2004: 263). Viernstein und Trunk waren außerdem der Auffassung, dass die sozialen Prognosen im Allgemeinen zu günstig gestellt würden; die „Nachprüfung“ der Prognosen ließ sie zu dem Schluss kommen, „von vorneherein die Hälfte aller Strafgefangenen als für das Stufensystem untauglich zu erklären“ und diese in „vollkommener Trennung einem eigens zugeschnittenen Strafvollzug“ zu unterwerfen. Das Justizministerium empfahl entsprechend eine strengere Auslese derjenigen, die in Stufe 2 aufgenommen werden sollten.37 Welche Eigenschaften Gefangene haben sollten, die diese Hochstufung aufgrund

36 BHStA, MJu 24257: Gutachten Viernstein/Trunk v. 4.2.1930. 37 BHStA, MJu 24257: Ministerialentschließung v. 2.4.1930.



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ihrer „Erziehbarkeit“ verdienten, hatten Viernstein und Trunk gleich geliefert: eine gute Prognose, Anzeichen eigener Mitwirkung an den Bemühungen, ungeheuchelte innere Beteiligung und eine ihr entsprechende äußerliche Haltung, angemessenes Verhalten gegenüber dem Zwang des Gefängnisse, keine Entgleisungen, Arbeitsfleiß, charakterliche Stetigkeit, Willensstärke, seelische Gleichmäßigkeit, glaubhaft erscheinendes Dankbarkeitsgefühl, Einsicht in die eigene Schuld und in die Berechtigung der Strafe, ethisches und moralisches sowie religiöses Verhalten. Spätestens hier wird deutlich, dass mit der Kriminalbiologischen Untersuchung die moralisch fundierte Beurteilung von Strafgefangenen und die Aussonderung „unverbesserlicher“ pseudowissenschaftlich legitimiert wurde. Christan Müller bilanziert, dass sich die konservative Auslese-Pädagogik und die auf einer oberflächlichen Rezeption der Rassenhygiene basierende Kriminalbiologie wechselseitig in ihren selektiven Tendenzen bestärkt und bis zum Beginn der dreißiger Jahre bewirkt hatten, dass der Großteil der bayerischen Gefangenen als ‚unverbesserlich‘ aufgegeben wurde. Eine Rationalisierung des Strafens habe nicht stattgefunden (Müller 2004: 265). Die Ministerialentschließung vom 14. Dezember 1927 sah weitere Ergänzungen der Untersuchung vor: die Notierung eines subjektiven Eindrucks vom Gefangenen sowie die Einführung eines verkürzten Fragebogens. Auf den ersten Blick überrascht es, dass der Untersucher seinen unmittelbaren, subjektiven Eindruck vom Gefangenen notieren und dabei vor allem „auf Gesichtsausdruck, Mimik und Gestik, Art des persönlichen Auftretens und der Einstellung zur Untersuchung, etwa zutage tretende Gemütsbewegungen und besondere Vorkommnisse bei der Untersuchung“ eingehen solle.38 Die Wertung war gewollt: „Ausdrücke wie ‚sympathisch, angenehm, widerwärtig‘ usw., die in den objektiven Erhebungen keinen Platz haben, werden sich hier nicht vermeiden lassen“. Zudem dürfe nie der Vermerk fehlen, „ob der Gefangene glaubwürdig erscheint oder nicht, und immer sollte der subjektive Eindruck des Untersuchers in Beziehung gesetzt werden zu den objektiv bekannten Tatsachen, insbesondere auch aus der kriminellen Laufbahn“. Hintergrund der scheinbar widersprüchlichen Hinzunahme von subjektiven Eindrücken in den Rahmen einer betont wissenschaftlichen und objektiven Praxis waren wohl genau deren Grenzen, da es die Untersuchung, wie es in der Entschließung heißt, schwer machte, „ein wirklich anschauliches Bild von dem unmittelbaren Eindruck des Gefangenen, so wie er dem Untersucher gegenübertritt, zu vermitteln“. Christian Müller nennt die subjektive Einschätzung im Rahmen der Untersuchung eine „wissenschaftlich zweifelhafte Kategorie“, die darauf abzielte, unter Preisgabe naturwissenschaftlicher Standards die praxisrelevante Beurteilung des Gefangenen zu erleichtern (Müller 2004: 253). Dem geforderten subjektiven Eindruck aber die Wissenschaftlichkeit abzusprechen hieße, sich die vorgeblich naturwissenschaftlichen Kategorien und die

38 Ministerialentschließung 54661 v. 14.12.1927 (Stufenstrafvollzug, Bd. 2: 26f.

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wissenschaftliche Legitimität der von Viernstein propagierten Methoden zu eigen zu machen. Entsprechend sei hier folgender Überlegung der Vorzug gegeben: Das Pendel der Wissenschaftlichkeit war durch Viernsteins Fokus auf sein vorgeblich Objektivität sicherndes Verfahren der extremen Detailgenauigkeit zu sehr in diese Richtung ausgeschlagen; keine Berücksichtigung schien mehr die traditionell gültige strafvollzugliche Expertise zu haben, die Führung eines Gefangenen in Dienstbesprechungen mit Mitteln der lebensweltlichen Menschenkenntnis zu charakterisieren. Mit der Kriminalbiologischen Untersuchung aber wurde in dem Maß, wie den Anstaltsärzten mehr Einfluss bei der Erledigung der strafvollzuglichen Aufgabe, die Besserungsfähigkeit eines Menschen einzuschätzen, gegeben wurde, jenem Anstaltspersonal, das diese Aufgabe bislang wahrgenommen hatte, Verantwortung und Bedeutung genommen. Wo der Wissenschaft mehr Wert beigemessen wurde, musste die Kompetenz etwa des Wärters und sein Urteil, das er im täglichen Umgang mit den Gefangenen entwickeln konnte, eine Entwertung erfahren. Mir scheint, dass der sich von den Anstaltsärzten angeführte Widerstand gegen die Kriminalbiologische Untersuchung auf der sachlichen Ebene zwar gegen Zeitaufwand und Einteilung der Gefangenen in das Kretschmersche Schema richtete, dass aber hiermit auch im Namen des übrigen Anstaltspersonals diese weitgehende Entwertung der bisherigen eigenen Tätigkeit kritisch kommentiert wurde. Dem entgegenkommend ließ das Justizministerium mit dieser Hinzunahme des subjektiven Eindrucks bei der Beurteilung des Gefangenen das Pendel sich wieder ausschwingen. Noch entscheidender – auch mit Blick auf die Rolle des Anstaltspersonals – aber war, dass die Kriminalbiologische Untersuchung und mit ihr der Stufenstrafvollzug in Bayern schon bald vor einer existentiellen Krise standen, denn wegen der Dauer von vier Stunden pro Untersuchung konnten nur zwei Zugänge pro Woche ausführlich nach dem Viernsteinschen Schema erfasst werden. Der Stufenstrafvollzug verlor aufgrund einer derart niedrigen Rate von systematisch untersuchten und eingeordneten Gefangenen jede verlässliche Grundlage, denn es war ja eigentlich nötig, jede Einstufung zu begründen. Solange nicht mehr Personal eingestellt wurde, was bei der seinerzeitigen Finanzlage ausgeschlossen sei, wie es in der Entschließung hieß, so drohte das mit Selbstbewusstsein und großen Ambitionen gestartete und sich in seiner Vorreiterrolle gefallende Bayerische Justizministerium mit seinem ehrgeizigen Ansinnen, jeden Gefangenen in Bayern kriminalbiologisch zu untersuchen, zu scheitern. Mit der Entschließung vom 14. Dezember 1927 ordnete das Ministerium daher an, alle Gefangenen im Stufenstrafvollzug, die nicht vom Anstaltsarzt kriminalbiologisch untersucht wurden, einer verkürzten Untersuchung zu unterziehen.39 Zu diesem Zweck war ein neuer Fragebogen, der „psychologisch-soziologische Befundbogen“, entwickelt worden (Viernstein 1929: 44-47). Da nun aber der Gefängnisarzt über die reguläre Kriminalbiologi-

39 Ministerialentschließung 54661 v. 14.12.1927 (Stufenstrafvollzug, Bd. 2: 30.



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sche Untersuchung und über seine eigentlichen Dienstaufgaben in der medizinischen Versorgung der Gefangenen hinaus kaum zur Verfügung stand, sollten andere Gefängnisbeamte bzw. die Hausgeistlichen oder der Hauslehrer die Untersuchung vornehmen. Inhaltlich orientierte sich der kurze psychologisch-soziologische Befundbogen an der ausführlichen Variante der Kriminalbiologischen Untersuchung. Es fehlte jedoch – konsequenterweise, da die Untersuchung eben nicht von ausgebildeten Ärzten vorgenommen wurde – der Fragenkomplex zum psychischen Bild des Zugangs mit seiner charakterologischen Fragerichtung, wobei diese zum Teil von den Anstaltsärzten nachgetragen wurden. Auch bewegten sich die psychologischen Kategorien auf einem eher lebensweltlichen Niveau, wenn etwa „leicht beleidigt - explosiv - einsichtig - uneinsichtig - warm - gefühlskalt“ usw. zu unterstreichen war. Gleichwohl waren die Hilfsuntersucher aufgefordert, Schlussfolgerungen zu ziehen: „Ist der Gefangene nach Verstandesanlagen und insbesondere nach seiner sozial-altruistischen Gefühlssphäre voraussichtlich im Stande, sich in der wiedererlangten Freiheit in die Gesellschaftsordnung einzufügen“ oder nicht? Der Einsatz dieses Fragebogens und der von Anstaltsgeistlichen, -erziehern und -lehrern schien Viernstein dadurch begründbar, dass eine Vielzahl der Gefangenen „geistig gesund“ sei und bei ihnen eine heilpädagogische Behandlung, zu der das genannte Anstaltspersonal berufen sei, durchaus Wirkung zeige. Es drängt sich an dieser Stelle im historischen Rückblick, vermutlich aber auch schon für das damalige Anstaltspersonal die Frage auf, warum es, wenn es für die Mehrzahl der untersuchten Gefangenen genügte, eine soziale Prognose auf der Basis psychologischer und sozialer Kategorien zu erstellen, überhaupt einer ausführlichen, charakterologischen Untersuchung bedurfte. Vielleicht sollte die Forschung tatsächlich stärker als bisher in Betracht ziehen, dass die Untersuchung in erster Linie der Befriedigung der wissenschaftlichen Interessen eines Einzelnen – Viernsteins – diente, der für den Beleg seiner Theorie von der biologischen Formiertheit von Verbrechern empirisches Material brauchte. Gleichsam als Nebeneffekt konnte die Sammelstelle scheinbar noch die diffuse rassenhygienische Annahme belegen, dass eine kriminelle Bevölkerungsschicht existiere. Dass Viernstein sein Ansinnen mit rhetorischer Verve in den Dienst des Stufenstrafvollzugs und damit seines Dienstherren stellte, erscheint angesichts dieses quantitativen Verhältnisses zwischen wenigen intensiv untersuchten und der großen Mehrzahl der zunächst gar nicht, dann auf psychologisch und sozial eher einfache, lebensweltliche Weise befragten Strafgefangenen als vorgeschoben. Der verkürzte und der charakterologischen Aspekte entledigte Fragebogen kam auf jeden Fall einem Wunsch gerade der Anstaltsgeistlichen entgegen, mehr als bisher wieder andere als rein ärztliche Gesichtspunkte für die Beurteilung geltend zu machen. Wohl nicht zufällig wurde der verkürzte Fragebogen mit derselben Ministerialentschließung eingeführt wie die Regelung zum subjektiven Eindruck des Untersuchers. Beides ermöglichte dem Anstaltspersonal, zu der von ihnen gewollten Praxis zurückzukehren,

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gerade die auffälligen Strafgefangenen intensiver zu begutachten und, aus ihrer Sicht auch fundierter, einer Stufe im Strafvollzug zuzuordnen – ohne die Hilfe der Biologie, ohne Charakterologie, ohne Kretschmers Typen. Aber: Auch das auf diese Weise gewonnene Material sollte genauso wie die Befundbögen der regulären Kriminalbiologischen Untersuchung und ergänzt durch einen selbst geschriebenen Lebenslauf des Gefangenen an die Kriminalbiologische Sammelstelle übersendet werden. Es steht demnach zu vermuten, dass auch sie ihren Weg in die erbbiologische Erfassungsmaschinerie fanden, auch wenn diese Bögen in einer eigenen Abteilung gesammelt und mit einer gesonderten Kartei erfasst werden sollten.40 Die wohl folgenreichste zusätzliche Regelung der Aufgaben der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle aber war die seit Ende 1926 zulässige Erteilung von Auskünften gegenüber den Strafverfolgungsbehörden. Schon in den Ministerialentschließungen vom Oktober 1923 und vom Februar 1924 war dies der Kriminalbiologischen Sammelstelle als Aufgabe zugewiesen worden. Im Mai 1925 wurden die Gutachten in einer weiteren Entschließung angesprochen, jedoch mit dem Hinweis, dass sie erst nach einer geraumen Zeit, wenn die Sammelstelle genügend Material systematisch aufbereitet habe, praktisch werde. Der frühe Hinweis auf die Auskunftserteilung ergibt sich daraus, dass die Form der Erfassung aller Berichte deren Weiterverarbeitung durch Wissenschaft und Strafverfolgungsbehörden antizipieren sollte und daher in derselben Entschließung genannt ist, die auch die Erfassung mit Karteikarten genauer regelte.41 Ende 1926 dann wurde die Praxis ausführlicher skizziert: Die Sammelstelle sei aufgrund der bereits zahlreich eingegangenen Befundbögen und der reichlichen Karteiverweise mittlerweile in der Lage, eingehende Aufschlüsse über Gefangene geben zu können, „die in einem neuen Strafverfahren wichtige Unterlagen für die Erkennung der Persönlichkeit des Angeschuldigten und damit für die individuell richtige und gerechte Beurteilung und Bestrafung seiner Tat liefern können“.42 Das Ministerium ordnete daher an, dass die Strafverfolgungsbehörden künftig in allen Fällen, in denen eine genaue Kenntnis der Persönlichkeit des Angeschuldigten für die Beurteilung seiner Tat und die Strafzumessung wichtig sei und die bereits kriminalbiologisch untersucht worden sind, ein Gutachten der Sammelstelle einzuholen hatten. Da die Gutachtenabgabe ein zentraler Teil der Sammelstellentätigkeit war, wird diese Praxis im zweiten Teil noch ausführlicher dargelegt werden. Bezüglich der Durchführung sei jedoch schon hier erwähnt, dass Viernstein die Gutachten zumeist selbst erstellte, und das auch bei Gefangenen, die nicht er selbst, sondern einer der anderen bayerischen Anstaltsärzte untersucht hatte. Viernstein gutachtete also auf Basis der Aktenlage, nur nach Durchsicht der Bögen, die er aus den bayerischen Gefängnissen erhielt.

40 Ministerialentschließung 54661 v. 14.12.1927; vgl. auch: (Müller 2004: 253). 41 Ministerialentschließung 4326 v. 8.5.1925 (Stufenstrafvollzug, Bd. 1: 102-104). 42 Ministerialentschließung 46771 v. 11.10.1926 (Stufenstrafvollzug, Bd. 2: 14).



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Abschließend noch ein Hinweis auf eine weitere Entscheidung des Ministeriums, die den Betrieb der Sammelstelle betraf, nämlich deren Umzug nach München in die Räume der 1917 von Emil Kraepelin in München gegründeten und seit 1924 der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft angegliederten „Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie“. Die enge Zusammenarbeit Viernsteins mit der Forschungsanstalt hatte diesen Umzug nahegelegt, erachtete doch die genealogische Abteilung dort die Bestände der Kriminalbiologischen Sammelstelle als wertvolles Material für ihre Forschungen; es hatte bereits einige wissenschaftliche Arbeiten auf der Basis der Bestände gegeben (etwa die Zwillingsforschungen von Johannes Lange43). Man erhoffte sich von den persönlichen Kontakten eine bessere Vernetzung und eine effizientere Auswertung der Untersuchungsbögen. Der Umzug schien zunächst nicht realisiert werden zu können, da die bayerische Finanzverwaltung beträchtlichen Widerstand ausübte: Sie befürchtete eine Vermischung der Verwaltungsebenen der staatlich geleiteten und finanzierten Sammelstelle mit Kraepelins unabhängiger privater Forschungsanstalt. Vor allem aber fürchtete man die finanzielle Mehrbelastung, was auch nicht durch die Zusage der kostenlosen Überlassung von Räumen für die Sammelstelle durch die Forschungsanstalt ausgeräumt werden konnte. Erst die Intervention des Justizministers selbst, der sich in einem neunseitigen Schreiben an das Finanzministerium wendete und die Verlegung befürwortete, vor allem aber die schiere Menge an gesammelten Datenmaterials mit bereits über 10.000 Berichtsbögen, die in Straubing nicht mehr untergebracht werden konnte, ließ das Finanzministerium seinen Widerstand aufgeben. 1930 erfolgte die Verlegung der Sammelstelle an die Forschungsanstalt, genauer zur dortigen Abteilung „Genealogie und Demographie“ unter Ernst Rüdin.44 Obwohl sein neuer Dienstsitz München war, wahrte Viernstein – mittlerweile zum Medizinalrat I. Klasse und sogar zum Obermedizinalrat aufgestiegen – den institutionellen Zusammenhang mit Straubing.45 Damit ist der Zustand des ‚Normalbetriebs‘ von Kriminalbiologischer Untersuchung und Sammelstelle beschrieben, der in seinem Kern bis 1945 Bestand hatte: Untersucht wurden pro Woche zwei nach einem Zufallsquotienten ermittelte Zugänge. Der Fragebogen, an dem entlang die Untersuchung vorgenommen wurde, umfasste Fragenkomplexe zum genealogischen, sozial-biografischen und charakterologischen Bereich, wobei die charakterologische Typisierung nach Kretschmer beibehalten wurde. Vermerkt werden sollte auch der subjektive Eindruck des Untersuchers. Im Anschluss an die Befragung wurde der Proband anthropometrisch vermessen und körperlich beschrieben. In der Regel erfolgte abschließend eine (Nackt)Aufnahme. Die nicht der ausführlichen Untersuchung unterzogenen Zugänge

43 BHStA, MJu 24262: Kriminalbiologische Sammelstelle, Bericht über das fünfte Arbeitsjahr v. 31.10.1930. 44 BHStA, MJu 24262: Entschließung Nr. 27330 v. 28.6.1930. 45 BHStA, MJu 24262 (siehe auch Burgmair et al. 1999: 265f.).

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wurden von anderem Anstaltspersonal als dem Arzt mit dem psychologischsoziologischen Befundbogen untersucht. In beiden Fällen wurden die Angaben zu Familie und eigener Biografie, die vom Probanden selbst kamen, durch die Heimatbögen durch Auskünfte der Behörden am Heimatort des Gefangenen ergänzt. Am Ende beider Untersuchungen wurde die vorläufige soziale Prognose gestellt. Bei längeren Haftstrafen wurden Zwischenberichte, vor der Haftentlassung auch Nachberichte angefertigt, aus denen eine eventuelle Revision der vorläufigen sozialen Prognose hervorging oder die Bestätigung der ursprünglichen Einschätzung. Eine Abschrift der Bögen mit Kopien der Heimatbehörden und anderen Beiakten wurde der Kriminalbiologischen Sammelstelle in Straubing bzw. später in München übermittelt. Dort erfolgte der Übertrag der wichtigsten Angaben auf eigens entwickelte, nach einem Farbsystem für die Verbrechertypen unterschiedene Karteikarten, die so genannten „Individualzählkarten“. Diese wiederum wurden in regelmäßigen Abständen dem Statistischen Landesamt zur Auswertung zugeführt. Aufgrund der in der Sammelstelle vorliegenden Befundbögen erstellte der Leiter der Sammelstelle auf Anfrage auskunftsberechtigter Strafverfolgungsbehörden kriminalbiologische Gutachten für den Strafverfolgungsprozess – zum Teil ohne eigene Ansehung des Probanden, also nach Aktenlage. Die Gutachtenabgabe wurde im „Dritten Reich“ deutlich ausgeweitet und im Strafverfahren wirksam mit der häufigen Folge, dass eine Empfehlung auf Sicherungsverwahrung ausgesprochen wurde.

K RIMINALBIOLOGIE

UND

K RIMINALPOLITIK

Mit dieser letzten Anmerkungen ist das Feld der Strafpolitik betreten. Es stellt sich daher die Frage, welche Rolle die Kriminalbiologische Untersuchung in der Strafpolitik der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches“ spielte. In einem Aufsatz von 1936 zu „Stellung und Aufgaben der Kriminalbiologie im Hinblick auf die nationalsozialistische Gesetzgebung“ nannte Viernstein die drei großen kriminalpolitischen Probleme, zu deren Lösung die Kriminalbiologie und mithin die Kriminalbiologische Untersuchung „wertvolle, biologisch allseitig ausgreifende Begründungsunterlagen“ beisteuern könne: Gerichtsverfahren, Strafvollzug, Sicherungsverwahrung bzw. Entlassenenfürsorge (Viernstein 1936: 14). Seit Beginn seiner Publikationstätigkeit hatte Viernstein immer wieder auf die Bedeutung, die der Kriminalbiologischen Untersuchung in diesen kriminalpolitischen Bereichen zukommen könne, hingewiesen – auch hinsichtlich der von ihm immer wieder geforderten Sicherungsverwahrung, die, wie gezeigt, zwar schon seit Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert, aber erst mit dem „Gewohnheitsverbrechergesetz“ im November 1933 eingeführt worden war. Teilweise sind seine Anregungen auch zur Anwendung gekommen, etwa in Form der kriminalbiologischen Gutachten für die Strafverfolgungsbehörden und natürlich in Form der Untersuchung selbst. Im Folgenden sollen Aussagen und Positio-



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nen Viernsteins zur Rolle der Kriminalbiologie und der Kriminalbiologischen Untersuchung in zweien dieser kriminalpolitischen Feldern herausgearbeitet werden, hinsichtlich des Strafrechts und des Gerichtsverfahrens bzw. des Strafprozesses sowie der Sicherungsverwahrung und der Entlassenenfürsorge. Das kriminalpolitische Feld des Strafvollzugs kann hier ausgespart bleiben, da der Stufenstrafvollzug ja gleichsam die Existenzberechtigung der Kriminalbiologischen Untersuchung darstellte, was bereits in den vorangegangenen Abschnitten ausführlich verdeutlicht worden ist. Viernstein verstand die Kriminalbiologie als Hilfswissenschaft des Strafrechts, da von der Einsicht in die individuellen Ursachen der Rechtsbrechung Art und Erfolg der Verbrechensbekämpfung durch vergeltende, abschreckende, bessernde oder sichernde Maßnahmen abhinge – dies spreche auch für den Eintritt der Kriminalbiologie in Form der kriminalbiologischen Gutachten in die Strafrechtspraxis. Natürlich könne ein Ersatz der richterlich-wertmessenden Betrachtung des Rechtsbruchs durch eine nur biologische Betrachtung des Rechtsbrechers nicht in Frage kommen; die Kriminalbiologie könne jedoch zur höchstmöglichen Gerechtigkeit beitragen, ohne dabei eine Abbiegung des Rechts und Minderung seiner kulturellen Bedeutung zu einseitigen Gunsten seines Verletzers zu intendieren (Viernstein 1929: 7f.). Immer wieder betonte Viernstein, dass das Misstrauen gegenüber einer Wissenschaft, die sich der Erforschung der Täterpersönlichkeit verschrieben habe, unbegründet sei, denn nicht um Verständnis oder gar Entschuldung für den Täter ginge es, sondern um die Beisteuerung einer Entscheidungshilfe, die Schuld des Täters und das richtige Strafmaß im Strafprozess besser bestimmen zu können. In diesem Sinne sei die Kriminalbiologie eben Gerichtshilfe, und nicht Verbrecherhilfe. Die Kriminalbiologie werde am Tatprinzip, auf dem das Strafgesetz beruhe, nicht rütteln und kein Täterprinzip aufstellen. Das Misstrauen sei desweiteren unbegründet, hätten doch Strafrecht und Kriminalbiologie in ihrer rassenhygienischen Form im Gegenteil dasselbe Ziel: die „gemeinsam gewollte Auslese“, die „Unschädlichmachung oder, wenn nötig, Ausmerzung der für Volkstum und Rasse als unerwünscht erkannten Volksgenossen“ (Viernstein 1929: 8). Viernsteins schon 1929 in dieser Deutlichkeit formulierte rassenhygienische Position war über den Regimewechsel hinaus anschluss- und ausbaufähig, wurde von ihm aber, wie geschildert, bereits in seiner „Denkschrift über die wissenschaftlichen Grundlagen für den Betrieb einer kriminalbiologischen Sammelstelle“ vom September 1924 vertreten: „Rassegefährdung und Gefährdung der Rechtssicherheit decken sich. Rassegedeih ist ja nur möglich unter Voraussetzung rechtssicherer Zustände im Volke […] Das Strafrecht ist letzten Endes angewandte Ethik.“ Und diese Ethik messe ihre Postulate eben „mit dem Maßstabe der biologisch Besten, der Höchstwertigen der Rasse“; demgemäß hätten die Biologie und das Strafrecht, vor allem aber die Biologie und der Strafvollzug, breite Berührungsflächen, „aber auch ein identisches Ziel, nämlich eine selektive Aufgabe, wobei die zu eliminieren-

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den Volksbestandteile von beiden Betrachtungsreihen aus gleicherweise als Minusvarianten, als Schädlinge, gewertet sind“ (Viernstein 1924: 5f.). Aufgrund dieser Berührungsflächen würde die Kriminalbiologie eine wichtige Rolle für das künftige Strafrecht spielen; eine Position, die Viernstein schon in seinem frühen Aufsatz von 1911 über die Untersuchung Kaisheimer Gefangenen formuliert hatte (Viernstein 1911: 1). Die Aufnahme biologischer Gesichtspunkte in das Strafgesetzbuch und in den Strafprozess werde kommen, und die Kriminalbiologische Untersuchung arbeite daher der künftigen Entwicklung des Strafrechts in wirksamer Weise voran (Viernstein 1924: 14f.). In einem späteren Artikel weist Viernstein darauf hin, dass Strafgesetzentwürfe aller europäischen Rechtskreise eine verstärkte psychologische Wertung des Täters vorsehen würden und dass in den Neuentwürfen die Begriffe der Rückfälligkeit, des gewohnheitsmäßigen oder berufsmäßigen Verbrechers, der dauernd erhöhten Gemeingefährlichkeit und der Unverbesserlichkeit auftrete, an den künftig die Dauerverwahrung gebunden werden solle (Viernstein 1927: 30). Dass auch andere Länder eine ähnliche Auffassung hatten, bewies für Viernstein, dass eine „kulturgenetische Notwendigkeit“ vorliege, „die derzeit dazu ansetzt, die strafgesetzlichen und strafvollzuglichen Normen und Einrichtungen dahin zu beeinflussen, daß dem Tatprinzip der Strafgesetze das Täterprinzip beigestellt wird und neue kriminalpolitische Maßnahmen auf den Plan treten“ (Viernstein 1929: 9). Auch andere Mitglieder des bayerischen kriminalbiologischen Denkkollektivs, wie etwa Degen in der zitierten Passage über die Strafrechtsreform (Degen 1926: 5f.), äußerten ähnliche Vorstellungen über die Rolle der Kriminalbiologie im Rahmen dieser Reformen. Neben dem Versuch, die Kriminalbiologie zur Umgestaltung des Strafgesetzes zu empfehlen, drang Viernstein darauf, diese auch im Strafprozess zu verankern, und zwar in Form der kriminalbiologischen Gutachten, die dem Richter Unterstützung bei der Einschätzung der Verbrecherpersönlichkeit geben könne. Hier ist ein interessanter Veränderungsprozess in Viernsteins Argumentation zu erkennen: Zunächst machte er nur den Vorschlag, die Gutachten im Strafprozess nutzbar zu machen, indem die Strafverfolgungsbehörden diese bei der Sammelstelle anfordern konnten, wenn dies nötig erscheine. Auch von Gruber hatte ja 1924 gegutachtet, dass erbbiologische Untersuchungen eine unentbehrliche Vorarbeit für die vernünftige Umgestaltung des gesamten Strafjustizwesens seien und fand es wünschenswert, wenn dieses Verfahren nicht nur auf Bayern beschränkt bliebe, da nur dann die Ergebnisse für die gesamte deutschen Strafrechtspflege nutzbar gemacht werden könnten.46 1926 hatte dann, wie geschildert, das Bayerische Justizministerium angeordnet, dass die Strafverfolgungsbehörden in allen Fällen, in denen eine genaue Kenntnis der Persönlichkeit des Angeschuldigten für die Beurteilung seiner Tat und die Strafzumessung

46 BHStA, MJu 24262: Gutachten Prof. Max von Gruber für Obermedizinalausschuss v. 19.12.1924.



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wichtig sei und die bereits kriminalbiologisch untersucht worden sind, ein Gutachten der Sammelstelle einzuholen hätten. 1931 präzisierte das Ministerium in einer weiteren Entschließung, dass das Gutachten im Strafprozess nur verwertet werden könne, wenn es zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werde; eine Verlesung wäre allerdings unzulässig, da, spreche sich dies unter den Gefangenen herum, diese sich künftig weigern könnten, sich untersuchen zu lassen.47 Für das kommende Strafgesetz zur Zeit des Nationalsozialimus schlug Viernstein vor, die kriminalbiologische Begutachtung zu rein informatorischen Zwecken der Strafverfolgungsbehörde obligatorisch zu machen; das Gutachten würde dann vom Gutachter vor Gericht mündlich und unter Eid zu vertreten sein (Viernstein 1933a: 12). In einem Aufsatz von 1936 ging Viernstein dann soweit vorzuschlagen, die Strafprozessordnung zu ändern und darin die Möglichkeit, dass Gerichte kriminalbiologische Gutachten anfordern können, aufzunehmen. Die von Beginn an verfolgte offensive Strategie, die Kriminalbiologie und seine Kriminalbiologische Untersuchung in den Dienst der Strafrechtsreform zu stellen, führte Viernstein also auch über den Regimewechsel 1933 hinaus fort. Diesen begrüßend stellte Viernstein sogleich die besondere Rolle der Kriminalbiologie bei der Erneuerung der Rechtsordnung heraus. In der bereits erwähnten Denkschrift an den Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz formulierte er selbstbewusst: „Die Kriminalbiologie ist Trägerin der Aufgabe, im Strafgerichtsverfahren und überhaupt in der gesamten Kriminalpolitik der Zukunft durch Erforschung der im geistigseelischen Wesen des Rechtsbrechers und in dessen dauernden oder augenblicklichen Umweltverhältnissen gelegenen inneren Eigenheiten und äußeren Umständen diejenigen Unterlagen beizubringen, welche eine angepaßte Behandlung des Täters vor Gericht, im Strafvollzug und nach der Strafverbüssung ermöglichen.“ (Viernstein 1933a: 1)

Die Kriminalbiologie sei dieser Aufgabe mit ausreichender Verlässlichkeit gewachsen. Nach der Darlegung der Arbeitsweise und seiner Vorstellungen, wie die Kriminalbiologie in die Kriminalpolitik des neuen Staates zu integrieren sei, schließt Viernstein mit dem Hinweis, dass es für eine Reichsregelung zu empfehlen sei, von den bayerischen Einrichtungen und Arbeitsweisen auszugehen und eine reichseinheitliche Vorgehensweise zu schaffen. Wie weiter unten noch ausführlich zu zeigen sein wird, folgte auf diese Denkschrift zunächst keine weitergehende Umsetzung der Vorschläge. Und so musste Viernstein in dem Aufsatz von 1936 über „Die Stellung und Aufgaben der Kriminalbiologie im Hinblick auf die nationalsozialistische Gesetzgebung“ konstatieren, dass die Kriminalbiologie auf dem unmittelbar strafprozessualen Gebiet ihres Wirkens (immer) noch kaum Anerkennung in

47 BHStA, MJu 24262: Ministerialentschließung 23909: Kriminalbiologische Gutachten im Strafprozeß v. 17.6.1931.

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den Kreisen der Richter habe, auch wenn sich die Zahl derer, die in der Kriminalbiologie einen Fortschritt, einen Gewinn, sogar eine unbedingte Notwendigkeit für den Richter zur besseren Einsicht in die Täterpersönlichkeit sehen, mehren würde. Nicht zuletzt deshalb beendete er auch diesen Aufsatz mit vier Forderungen (Viernstein 1936: 15): Es sei erstens die allgemeine und reichseinheitliche Durchführung von riminalbiologischen Untersuchungen durchzusetzen, es sei zweitens die Möglichkeit zur Anforderung von kriminalbiologischen Gutachten durch die Gerichte in die Strafprozessordnung aufzunehmen, es sollten drittens solche Gutachten auch Gerichtsärzte anfordern können, ferner Erbgesundheitsgerichte, dazu Gerichte in Fällen von Unfruchtbarmachung, Entmannung oder Sicherungsverwahrung und schließlich die Verwaltungs- und Polizeistellen für Auskünfte in Fällen der Niederlassung eines früheren Verbrechers. Viertens seien in Analogie zur Sicherungsverwahrung für Unverbesserliche soziale Hilfsinstitutionen für besserungsfähige Entlassene ins Leben zu rufen. Dass Viernstein dies fordern muss, belegt, dass die Kriminalbiologie noch nicht in allen für ihn denkbaren Bereichen etabliert war. Die reichsweite Einführung des Kriminalbiologischen Dienstes nach bayerischem Vorbild stellte dann den größten Erfolg Viernsteins dar. Doch auch für die Zeit nach der Haftverbüßung sollte die Kriminalbiologische Untersuchung nach den Vorstellungen Viernsteins eine Rolle spielen, denn aus der Identifizierung von besserungsfähigen und unverbesserlichen Verbrechern erwuchs kriminalpolitisch gesehen ein Folgeproblem: Wer als besserungsfähig erachtet wurde, musste nach der im Gefängnis erfolgten Besserung immer noch in Freiheit resozialisiert werden. Und wer als unverbesserlich erachtet wurde, der würde dieser Wesenheit gemäß erneut rückfällig werden; das Scheitern des Erziehungsversuchs hätte somit konsequent die dauernde Verwahrung zur Folge, erscheint doch eine Freilassung aus dieser Perspektive widersinnig. Viernstein trat deshalb, wie andere Kriminalbiologen und Kriminalpolitiker auch, schon früh und im Anschluss an die kriminalpolitischen Forderungen Liszts für die Einrichtung der Sicherungsverwahrung für unverbesserliche Verbrecher ein und stellte dem die Etablierung einer systematischen sozialstaatlichen Entlassenenfürsorge zur Seite. Wer für welche dieser Maßnahmen und Einrichtungen in Frage käme, sei nur mit Hilfe der Kriminalbiologischen Untersuchung zu entscheiden, zumal Viernstein sein wiederholtes und durchgängiges Eintreten für die Sicherungsverwahrung von Beginn an mit rassenhygienischen Argumenten zu stützen suchte, wie in seiner Denkschrift von 1924 deutlich wird: „Nur auf Grund biologischer Betrachtungsweisen kann der Staat zur Dauerasylierung, nach Umständen auch zur Sterilisation bei Unverbesserlichen schreiten, kann er diese Elemente mit ihrer Neigung zur Rückfälligkeit und mit ihrer Gefahr für die Entartung der Rasse für immer aus dem Gesellschaftsleben aussondern.“ (Viernstein 1924: 7) Als Viernstein diese Denkschrift verfasste, hatte das Etikett „unverbesserlich“ für die entsprechenden Gefangenen ‚lediglich‘ zur Folge, aus dem



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Stufenstrafvollzug ausgeschlossen zu werden, da sie in der ersten Stufe ohne Vergünstigungen und in der Regel ohne Aussicht auf Aufstieg zu verbleiben hatten – was, wie schon Viernstein anmerkte, auch eine Form der Verwahrung darstellte (Viernstein 1924: 8), wurde ihnen doch keine pädagogische Aufmerksamkeit zuteil. 1933 wurde Viernstein noch konkreter: Die Sicherungsverwahrung und die Sterilisation unverbesserlicher Verbrecher müsse in Zukunft die Gesellschaft von ihren „erkannten Dauerschädlingen befreien und den Staat von den Kosten ihrer ewigen Inanspruchnahme der Gerichte“ entlasten (Viernstein 1924: 10). Dabei komme der Kriminalbiologie ein wichtiges Wort zu, müsse sie doch die für diese Maßnahme vorzusehenden Verbrecher identifizieren; günstigenfalls schon zu einer Zeit, in der die Fortpflanzungstätigkeit noch nicht eingesetzt habe. 1932 verdichtete Viernstein seine Auffassungen zu Sicherungsverwahrung und Entlassenenfürsorge in einem diesen Themen gewidmeten Aufsatz. Schon im freilich nie realisierten Entwurf eines Strafgesetzbuches von 1927 waren Regelungen zur Sicherungsverwahrung eingezogen worden: Bei gefährlichen Gewohnheitsverbrechern (zweimaliger Rückfall mit einer Verurteilung von mindestens sechs Monaten und wenn aus der neuerlichen Tat auf eine Gewohnheit geschlossen werden kann) sollte das Gericht Sicherungsverwahrung anordnen können. In der Begründung zum Entwurf wurde vorgeschlagen, die Richter auf Nachforschungen über die Persönlichkeit des Beschuldigten zu verpflichten. Diese aber könne, so Viernstein, nur durch den biologischen Sachverständigen herbeigeführt werden; das kriminalbiologische Gutachten könne hierfür die Grundlage sein, da die Kriminalbiologische Untersuchung in der Lage sei festzustellen, welche psychiatrischpsychologischen Typen vorzugsweise zur Sicherungsverwahrung kommen werden: Aus der großen Gruppe der „unverbesserlichen Psychopathen aus endogener Beschaffenheit“ seien dies einerseits die „sozial fühlenden Verführbaren, Willensschwachen und Haltlosen“, andererseits die „sozial rudimentär gearteten Gefühlskalten, Beziehungslosen und verbrecherisch Aktiven“ (Viernstein 1932: 24f.). Auf deren Erkennung sei die Kriminalbiologische Untersuchung ausgerichtet. Hinsichtlich der Entlassenenfürsorge bestand nach Viernstein das Problem im Fehlen einer gesetzlichen Regelung sowohl auf Länder- als auch auf Reichsebene. Die Schwierigkeiten der Wiedereingliederung in ein neues Umfeld in Freiheit, sogar der Rückfall eigentlich Besserungsfähiger, seien, so Viernstein, seltener ein Ergebnis einer an sich gegebenen antisozialen Artung als häufiger der „Endpunkt eines langen, hoffnungslos machenden, zermürbenden Kampfes mit der Ungunst der äußeren Verhältnisse“ (Viernstein 1932: 18). Das Argument, in Zeiten der wirtschaftlichen Not sei die Durchführung einer Entlassenenfürsorge unmöglich, ließ Viernstein nicht gelten, sei es doch gerade zu solchen Zeiten mehr als sonst geboten, durch Bereitstellung des Nötigsten z. B. weitere Eigentumsdelikte zu verhindern (Viernstein 1932: 19). Bislang sei die materielle Versorgung Entlassener Angelegenheit privater Obsorgeorganisationen, und die „höhergestellten

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Kreise glauben durch den Beitrag von zwei Mark pro Jahr an einen Obsorgeverein oder eine caritative Stelle sich weiterer ‚Berührung‘ mit dem Verbrechertum enthoben“ (Viernstein 1932: 19). Dies ignoriere aber die Psychologie des Entlassenen, sein Erleben dieser „Insulte“, seinen dadurch schwächer werdenden Selbstbehauptungswillen, seine wachsende Enttäuschung und schließliche Selbstaufgabe. In den Vordergrund müsse daher die Arbeitsbeschaffung rücken, zumal die ehemaligen Strafgefangenen wegen ihres Vorlebens einen Nachteil auf dem Arbeitsmarkt hätten. Für die Organisation einer systematischen Entlassenenfürsorge schlug Viernstein vor (Viernstein 1932: 21), in allen Gemeinden ehrenamtliche Entlassenenfürsorger als Berater aufzustellen, die in enger Zusammenarbeit mit den Obsorgeorganisationen möglichst für einen Entlassenen mit dessen freiwilliger Zustimmung zuständig sein sollten. Für Entlassene, die noch kein Unterkommen gefunden haben, seien Obsorgeheime zu schaffen. Der Staat habe hier eine Pflicht, die ersten Lebensschritte eines Entlassenen so zu „befürsorgen, daß der Gnadenerweis nicht zum Danaergeschenk“ werde; selbstverständlich habe diese Regelung „nur da Sinn und Berechtigung […], wo es sich um Elemente handelt, die Gewähr für künftiges soziales Verhalten bieten. Zu dieser Einsicht kann bloß die biologischpsychologische Untersuchung und Deutung des Einzelfalles mit dem Ende der sozialen Prognosenabmessung befriedigend führen“ (Viernstein 1932: 18). Viernstein implizierte, dass die Ermittlung der „biologisch als fürsorgewürdig und sozial fürsorgebedürftig“ erachteten Personen noch vor Haftablauf Aufgabe der Kriminalbiologischen Untersuchung sei.

P OPULARISIERUNG , V ERNETZUNG WISSENSCHAFTLICHE K RITIK

UND

Kriminalbiologische Untersuchung und Sammelstelle waren institutionsgeschichtlich ein voller Erfolg, da Justizbehörden anderer deutscher Länder das bayerische Modell einer Persönlichkeitsuntersuchung von Strafgefangenen aufgriffen und 1937 die reichsweite Einrichtung des Kriminalbiologischen Dienstes nach diesem Vorbild erfolgte. Von großer Bedeutung für diesen Erfolg sowohl in Justizkreisen, in Teilen der scientific community und auch in der Öffentlichkeit war Viernsteins Popularisierungstalent. Er hatte mit seinen Denkschriften an das Justizministerium seine Vorstellungen dort erfolgreich verbreitet, konnte in der Presse mit eigenen Artikeln und als Experte reüssieren, entfaltete eine breite wissenschaftliche Publikationsaktivität, war maßgeblich an den zwischen 1926 und 1929 im Auftrag des Bayerischen Justizministeriums zu Selbstdarstellungs- und Popularisierungszwecken publizierten Bänden von „Der Stufenstrafvollzug“ beteiligt und veranstaltete 1929 gemeinsam mit Degen und dem dortigen Zuchthausdirektor Franz Kohl eine Informationsveranstaltung für Strafanstaltsbeamte und die Presse im Zuchthaus Straubing. 

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Diese Aktivität, die Untersuchung bekanntzumachen, zeigt, dass nicht nur das Problemlösungspotential der Untersuchung und der Bedarf nach einem wissenschaftlich fundierten Umgang mit der gesellschaftlich drängenden Problematik rückfälliger Straftäter zur Etablierung von Untersuchung und Sammelstelle beigetragen haben. Viernstein hat es vielmehr verstanden, diesem Bedarf mit einer vorwärtsdrängenden Popularisierungsstrategie nachzuhelfen, die sowohl inhaltlich als auch in Form und Umfang auf die Zeitgenossen durchaus beeindruckend und überzeugend, teilweise sicherlich befremdlich gewirkt haben mag. Die Breite der außerwissenschaftlichen wie wissenschaftlichen Unterstützung Viernsteins ist hierfür Beleg, ebenso die eine oder andere Kritik. Ein weiterer Faktor bei der Popularisierung der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle war Viernsteins beachtliche wissenschaftliche Publikationsaktivität: Er veröffentlichte eine große Anzahl an Aufsätzen in angesehenen kriminologischen und medizinischen Fachzeitschriften. Ausdruck seiner gelungenen wissenschaftlichen Vernetzung waren zudem die in der Mehrzahl durchaus positive Rezeption durch andere Wissenschaftler, vor allem aber seine Mitwirkung in der Kriminalbiologischen Gesellschaft, deren Gründungsmitglied und sogar Vorstand er war. Doch es gab auch wissenschaftliche Kritik, vor allem von den Gefängnisreformern aus dem Umfeld des Hamburger Seminars für Strafrecht und Kriminalpolitik um Moritz Liepmann, die weniger an einer Persönlichkeitsuntersuchungen an Strafgefangene als solcher ansetzte, als vielmehr an der erbbiologischen Ausrichtung der bayerischen Untersuchung. Im folgenden Abschnitt soll der Popularisierungsstrategie sowie der wissenschaftlichen Vernetzung Viernsteins und der Kritik an der Kriminalbiologischen Untersuchung nachgegangen werden. Zunächst wird ein Blick geworfen auf die Aktionen, die Viernstein, oft gemeinsam mit Degen, zur Popularisierung der Kriminalbiologischen Untersuchung auflegte. Darunter fallen Viernsteins Denkschriften, die Sammelbände und die Informationsveranstaltung im Zuchthaus Straubing sowie die Berichterstattung in der Presse. Unter Rückgriff auf die Studie von Liang sollen hier auch die verschiedenen außerwissenschaftlichen Unterstützerkreise der Kriminalbiologischen Untersuchung vorgestellt werden. Der darauf folgende Abschnitt wird dann die Vernetzung Viernsteins im erb- und kriminalbiologischen Denkkollektiv – namentlich in der Kriminalbiologischen Gesellschaft, – sowie die wissenschaftliche Kritik an der Untersuchung zum Gegenstand haben. Das Medium der Denkschrift war Viernsteins bevorzugtes und erfolgreiches Mittel der Kommunikation mit den zuständigen Stellen im bayerischen Justiz- und Innenministerium, gleichsam dem exoterischen Kreis interessierter Laien. Sicherlich stellt auch dieses Instrument eine Form der Popularisierung dar, wenn man hierunter nicht nur die vereinfachte Darstellung komplexer Wissensinhalte und die lineare top-down-Weitergabe von der Wissenschaft an ein Laienpublikum meint, sondern eine zwischen dem eso- und dem exoterischen Kreis eines Denkkollektivs wechselwirkende Form der Wissensverbreitung, die einerseits (wie etwa von Viernstein für ‚seine‘

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Kriminalbiologische Untersuchung) dazu dienen kann, Status und Sozialprestige eines bestimmten Wissenschaftsfeldes, eines Gegenstandes oder auch einer Person zu steigern, die andererseits aber auch von bestimmten Rezipienten (hier wäre an die Ministerialbeamten zu denken) zur außerwissenschaftlichen Instrumentalisierung genutzt werden kann (Kretschmann 2003: 9). In diesem Prozess sind Produzenten und Rezipienten von Wissen über ihre jeweiligen Bedürfnisse, Ziele und Strategien miteinander verbunden, so dass Popularisierung als kommunikativer Prozess der Wissensgenerierung und -verteilung erscheint, als eine wechselseitige Kommunikation zwischen Produzenten und Rezipienten von Wissen, die wiederum Einfluss auf Inhalt, Form und Ausrichtung des verteilten Wissens hat. Dieser Effekt stellt sich, wie in der methodischen Orientierung zu Beginn bereits dargelegt und hier zusammenfassend wiederholt, besonders in Bezug auf jene sozialen Phänomene ein, die als krisenhaft wahrgenommen werden und einer Lösung bedürfen. In diesem Zusammenhang sind gerade Denkschriften von Experten ein Instrument, diese krisenhaften Phänomene zu problematisieren, zu diskursivieren und schließlich Lösungen anzubieten. Denkschriften bestimmen auf diese Weise im wechselseitigen Prozess von Wissensgenerierung und -rezeption die soziale Wichtigkeit des in ihr thematisierten Phänomens mit. Gleichzeitig wird das so popularisierte, also verteilte Wissen entsprechend der sozialen Problemlagen selbst zum Gegenstand von Kritik; es wird differenziert, durchgesetzt oder angepasst. Auch Popularisierung, in diesem weiten Sinne verstanden, erscheint als prozesshafte Anpassung der Antwortsuche an die jeweilige Problemlage in Abhängigkeit zu der dieser unterstellten sozialen Wichtigkeit und zu den sozialen Kontexten, in der es generiert wurde. Das wiederum deckt sich mit dem, was oben über den wechselseitigen kommunikativen Prozess von Popularisierung gesagt wurde. Zieht man zudem noch einmal Achim Landwehrs vierphasige Beschreibung der Aufgabe von Experten heran, Untersuchungen durchzuführen, um Lösungen für ein bestimmtes Problem zu formulieren (durch Problembenennung und -untersuchung, durch das Schreiben von Berichten und das Prägen von Erinnerung/Wissen), dann wird deutlich, welche Bedeutung den Denkschriften, gleichsam den Berichten, in diesem Prozess zukommt. Und dem Ton: Es kommt bei der Sichtbarmachung einer lösungsbedürftigen Problemlage vor allem auf die Bewusstmachung und Verdauerung im Sinne einer konstanten Erzeugung von Aufmerksamkeit an, auf den Verbreitungsgrad, die ‚Lautstärke‘, die Intensität und die Frequenz, mit der Experten über die Problemlage kommunizieren. Der Experte – Mitglied des esoterischen Kreises eines Denkkollektivs – generiert also nicht mehr nur Wissen, sondern lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit – den exoterischen Kreis – auf sein Problemfeld und auf seine Lösungsangebote. Hier ist nicht der Ort, der Bedeutung von Denkschriften als Medium der Wissenspopularisierung vertieft und in allen wissenshistorischen Implikationen nachzugehen – es bleibt ein Forschungsdesiderat zu konstatieren. Gleichwohl kann man am Beispiel der Denkschriften Viernsteins die oben



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verkürzt beschriebenen Prozesse verdeutlichen. Viernstein hatte seine Denkschriften in Ton und Inhalt immer wieder angepasst und an den verschiedenen Situationen und Anforderungen ausgerichtet. Manche Schrift ist darstellend und problemorientiert, auch auffallend stark andienend und offensiv formuliert, während andere, wie etwa jene, die auf Angriffe der Anstaltsärzte oder auf den vom Justizministerium erzeugten Änderungsdruck reagierten, eine Mischung aus selbstbewussten und zugleich defensiven, bisweilen sogar ‚gekränkt‘ wirkenden Passagen enthalten. Die Schriften changieren zwischen Propagierung und Legitimation, Andienung und Revision, offensivem Vertreten seiner ‚Mission‘ und defensiver (und oft wohl nur vorgeschobener) Akzeptanz von Kritik. Auch inhaltlich sind Verschiebungen und Schwerpunktsetzungen erkennbar, die sich als Reaktion auf die jeweiligen Kontexte, in denen die Schriften entstanden sind, verstehen lassen. Zunächst stand die Benennung des Problems (eine ineffektive, weil unwissenschaftliche Einteilung der Gefangenen für den Stufenstrafvollzug) und das Anbieten einer Lösung (die Kriminalbiologische Untersuchung) im Vordergrund der Texte. Die an sich schon als krisenhaft wahrgenommene Situation verschärfte Viernstein rhetorisch und argumentativ noch weiter, indem er rassenhygienische Schlussfolgerungen zog: Mit einem gewissen Alarmismus verstärkte er die angebliche Gefahr für den ebenfalls als krisenhaft wahrgenommenen Zustand des „Volkskörpers“, der bedroht sei von „minderwertigen Rasselementen“ im Allgemeinen und vom „dauernd schädlichen Teil der Kriminellen“ im Speziellen. Viernstein war in der Lage, das Selektionsbedürfnis für den Stufenstrafvollzug mit dem rassenhygienischen Selektionsgedanken plausibel zu verbinde und gleichzeitig den mit reformerischer Verve in den Strafvollzug der Weimarer Republik eingeführten Erziehungsgedanken einzubinden. Alarmismus in der Problembenennung, Beruhigung in der Problemlösung – zweifellos beherrschte Viernstein die Klaviatur der Popularisierung und Diskursivierung lösungsbedürftiger Problemlagen. Dies auch dann, als sich der Schwerpunkt seiner Schriften noch deutlicher verlagerte: vom Erziehungsgedanken (mit Selektionsanteilen) zum Selektionsgedanken (mit Erziehungsanteilen). Eklatant sichtbar wird dies etwa in einer Denkschrift, die Viernstein im Juni 1933 im Auftrag des Reichsjustizministeriums erstellt hatte.48 Scharf wendet sich der Arzt hier gegen den Reformstrafvollzug der Weimarer Republik, deren Teil – und Profiteur! – er war, der aber nun, „im neuen Staate“, dem Verdikt der Schwäche gegenüber den Strafgefangenen ausgesetzt war: Im Vordergrund des Strafvollzugs müsse die moralisch-ethische Beeinflussung stehen sowie der Kontakt eines „charakterlich vorbildlichen und suggestiv wirkenden Beamtentums mit Führereignung“, während „so genannte ‚Vergünstigungen‘ durchaus eine

48 BHStA, MJu 24262: Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz in den Ländern und für Erneuerung der Rechtsordnung an die Landesjustizverwaltungen v. 15.8.1933. Betreff: Kriminalbiologische Gutachten; Anlage: Denkschrift Viernstein: „Kriminalbiologie und Erneuerung der Rechtsordnung“.

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Nebenrolle“ spielen sollten. Abzulehnen seien Übertreibungen von sozialpädagogischer Seite, „in einem der Allgemeinheit unverständlichen Ausmaße die Rechtsbrecher geradezu zum Mittelpunkt alles erzieherischen und fürsorgerischen Aufwandes“ zu machen. Vielmehr habe das „Volk in Not“ andere Aufgaben, „als um jeden Preis Abwegige und Minderwertige hochzuzüchten.“ Es sei die Grenze der Erziehungsbemühungen „hart und sicher“ dort zu ziehen, wo die Wahrscheinlichkeit der Besserung endet – „diese Grenze kann aber nur mittels der Kriminalbiologie befriedigend festgelegt werden“. Deren Aufgabe sei es, im Strafgerichtsverfahren und überhaupt in der gesamten Kriminalpolitik für die angepasste Behandlung des Täters vor Gericht und im Strafvollzug zu sorgen und die Tauglichkeit für die Besserung zu begründen oder aber die Sicherungsverwahrung bzw. die Sterilisierung zu empfehlen. Von letzterer „rücksichtsloser Ausschaltung aus der Gesellschaft und aus der Generationenfolge“ würden im Übrigen neben den Verbrechern auch Trinker, die berufsmäßigen Armen aus inneren Ursachen, Schwachsinnige, Psychopathen, Epileptiker, Geisteskranke und Taubstumme betroffen sein; sie seien gemeinsam mit ihrer Sippe zu erfassen, um Unterlagen für eugenische Maßnahmen zu erhalten. In dieser Denkschrift ergreift Viernstein die Gelegenheit, sein Modell einer Untersuchung von Strafgefangenen und der Erfassung von Personen aus deren Umfeld auch auf reichsweiter Ebene ins Spiel zu bringen. Auch in anderen Hinweisen auf die von ihm vorangetriebenen Einrichtungen und deren Leistungen propagierte Viernstein sein Modell, selbst wenn er scheinbar bescheiden davon sprach, dass „die für Bayern bereits seit Jahren getroffene Regelung als erste günstige Erfahrung angesprochen“ werden könne. Zudem beweise die bayerische Sammelstelle, dass „die große und für die nationale Zukunft überragend wichtige Aufgabe einer biologischen Inventuraufnahme des Gesamtvolkes arbeitstechnisch und geldlich durchführbar“ sei. Viernstein war in der Lage, die Problemlagen wechselnder Zeiten und wechselnder Regime instinktsicher zu erkennen und in ihrer Bedrohlichkeit und Handlungsbedürftigkeit plausibel zu beschreiben. Dass er – für jede dieser Zeiten – passende Lösungen anbot, zeugt nicht nur von seiner Flexibilität, sondern auch davon, dass er als Popularisator seines Lebensthemas dessen Variationsbreite genau kannte und, wie das Beispiel der Denkschrift zu Beginn des „Dritten Reiches“ verdeutlicht, in den nötigen Nuancen verändern konnte. Das Wohlwollen, das der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle entgegengebracht wurde, dürfte nicht zuletzt auf die Inszenierungskompetenz zurückzuführen sein, die Viernstein gemeinsam mit Degen an den Tag legte. Zunächst verschickte das Justizministerium 1925 die Entschließung, mit der die Kriminalbiologische Untersuchung und die Sammelstelle in Bayern etabliert wurden, an das Reichsjustizministerium sowie an die Justizministerien der Länder, an Ersteres mit dem Hinweis, dass die erbbiologische Untersuchung für die künftige Entwicklung von Strafvollzug und Strafrechtspflege, Erkennungsdienst und Wissenschaft so wichtig werden würde, dass es wünschenswert sei, wenn dieses Verfahren nicht nur auf



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Bayern beschränkt bliebe; nur dann könnten die Ergebnisse der Untersuchungen der gesamten deutschen Strafrechtspflege nutzbar gemacht werden. Es reagierten zunächst nur die Ministerien Preußens (man erbat sich zwanzig weitere Abdrucke) sowie Sachsens, Württembergs und Thüringens mit einer Antwort und bekundeten ihr Interesse.49 Sodann stellte Degen im Auftrag des Justizministeriums zwischen 1926 und 1929 die drei Bände umfassende Kompilation „Der Stufenstrafvollzug und die Kriminalbiologische Untersuchung der Gefangenen in den bayerischen Strafanstalten“ zusammen, deren ersten beiden Bände Ministerialentschließungen, Gutachten, zwei von Viernsteins Denkschriften, verschiedene Berichte und Vorträge von den Einführungsveranstaltungen sowie Fragebögen und Formblätter enthielten. Der dritte Band umfasste längliche Aufsätze von Viernstein zum Thema „Kriminalbiologie“, von Ignaz Klug zu „Kriminalpädagogik“ und von dem Straubinger Juristen Robert Koch über „Kriminalpönologie“.50 Die Zusammenstellung sei zunächst zum Gebrauch für die mit der Durchführung der Maßnahmen betrauten Beamten in den Strafanstalten bestimmt, wie Degen im Vorwort des ersten Bandes klarstellte; darüber hinaus aber solle die Veröffentlichung auch „weiteste Fachkreise auf die neue Betrachtungs- und Behandlungsweise“ von Strafgefangenen aufmerksam machen (Degen 1926: 5). Der dritte Band wurde von Degen im Vorwort explizit als „Lehrbuch für Strafanstaltsbeamte“ bezeichnet. Allein die disziplinäre Zusammenstellung in diesem Band – von der Biologie über die Moraltheologie und die Pädagogik zur Pönologie – deutet auf die Art und Weise hin, wie der Strafvollzug nach Ansicht der Verantwortlichen zu gestalten war und welche Einflüsse hier geltend gemacht werden sollten: Es werde der Versuch gemacht, so Degen, „den kriminellen Menschen biologisch zu erfassen und für seine psychologisch-pädagogische Behandlung im Erziehungsstrafvollzuge unter Herausarbeitung bestimmter Grundtypen Richtlinien aufzustellen“ (Degen 1929). Die systematische Veröffentlichung der Ministerialentschließungen und des die Grundlagen der Kriminalbiologie und der Kriminalbiologischen Untersuchung aufschließenden Begleitmaterials war ein gelungener Coup. Nun fanden sich in relativ systematischer Weise die relevanten Texte zum Thema in einer Veröffentlichung, war das für die Kriminalbiologische Untersuchung von Viernstein und Degen als grundlegend erachtete Wissen zusammengefasst und konnte auf einfachem Wege verbreitet werden. Sicherlich geht man nicht fehl in der Annahme, dass hiermit ein Ziel von Wissenspopularisierung im oben beschriebenen Sinne intendiert war, nämlich das Prestige Viernsteins, des Justizministeriums und der Kriminalbiologischen Untersuchung und Sammelstelle zu steigern. Aus Sicht der Justiz- und Strafvollzugsbeamten wiederum lag nun ein Kompendium mit den für den

49 BHStA, MJu 24261: Ministerialentschließung 16716 v. 8.5.1925. 50 Ähnliche Veröffentlichungen gab es im Übrigen in Preußen (1928), v. Reichsministerium (1928) und in Thüringen (1930) (Dörner 1991: 108f., Anm. 63).

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Betrieb der eigenen Untersuchungspraktiken nötigen Anleitungen und Hintergründen zum Nachschlagen vor, das die Initiation des Anstaltspersonals und des weiteren Kreises interessierter Laien in den kriminalbiologischen Denkstil leisten sollte. Das programmatische Werk zum modernen Strafvollzug – und um einen solchen, das gilt es zu wiederholen, handelte es sich aus der damaligen Sicht für die meisten Beobachter – war auch nach außen hin ein voller Erfolg: Es wurde an die Justizverwaltungen von Reich und Länder verschickt, die sich für den Erhalt zum Teil enthusiastisch bedankten.51 Interessant zu erwähnen scheint noch, dass Viernsteins Denkschrift vom September 1924 für die Veröffentlichung in „Der Stufenstrafvollzug“ überarbeitet wurde. So wurde etwa die Passage entfernt, in der Viernstein den Rat Ernst Rüdins erwähnte, sich für die Persönlichkeitsuntersuchung mit Erbbiologie zu beschäftigen. Gestrichen sind auch viele Passagen, in denen sich Viernstein in seiner Rolle als Anreger, als Propagator seiner eigenen Untersuchung stilisierte. Eingefügt wurde hingegen eine längere Passage über Grundlagen des Stufensystems. Zudem wurde die Denkschrift gleichsam stillschweigend um die Modifikationen ergänzt, die der Obermedizinalausschuss beim Bayerischen Innenministerium, der mit der Evaluation der Kriminalbiologischen Untersuchung beauftragt war, vorgenommen hatte. Dies betraf etwa die Anzahl der zu untersuchenden Gefangenen: In der internen Denkschrift schlug Viernstein vor, jeden Tag einen Gefangenen zu untersuchen, in der publizierten Schrift hieß es dann gemäß dem Vorschlag des Ausschusses, dass nur jeden dritten Tag ein Zugang zu untersuchen sei. Öffentlichkeitswirksam – und nicht in der ursprünglichen Fassung – war die ambitionierte Einschätzung, dass ein Zeitraum von drei bis vier Jahren hinreichend sei, „um die Hauptmasse der Kriminellen Bayerns in unserer Weise zu fixieren“ (Viernstein 1926: 77). Entscheidend geändert wurde der Teil über die Fragebögen; hier hat man versucht, die vorausgegangenen Meinungsverschiedenheiten zu glätten und eine auf die 1926 bereits gehandhabte Praxis ausgerichtete Darstellung zu finden; die mit abgedruckten Fragebögen entsprechen demgemäß den in diesem Jahr verwendeten. Die Veröffentlichung von „Der Stufenstrafvollzug“ war ein Mittel, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, adressierte aber vor allem zunächst eine Dienstöffentlichkeit. Um aber auch die bayerischen Juristen, vor allem aber die Presse und damit die Öffentlichkeit mit den Neuerungen bekannt zu machen, organisierte man 1929 eine Informationsveranstaltung für verschiedene Segmente des exoterischen Kreises, indem man Justizbeamte, Juristen und Journalisten in das Zuchthaus Straubing einlud. Neben Vorträgen und Führungen durch das Zuchthaus gaben die Gefangenen den Anwesenden ein Konzert und führten turnerische Übungen vor. Zur Verteilung wohl auch bei diesem Ereignis lag eine Broschüre bereit, die der damalige Anstaltsleiter Franz Kohl im selben Jahr verfasst hatte: „Das Zuchthaus Straubing und

51 BHStA, MJu 24263.



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seine Organisation. Ein Führer durch eine neuzeitliche Strafanstalt“ stellte, reich bebildert, das Straubinger Zuchthaus als eine Musteranstalt vor (Kohl 192952). Solche, modern gesprochen, ‚PR-Maßnahmen‘ zielten zuallererst auf Justiz-, Verwaltungs- und Strafvollzugsbeamten, auf Richter, Staatsanwälte und Polizisten. Willkommener Nebeneffekt aber war eine positive Berichterstattung in der regionalen und überregionalen Presse. Degen, Viernstein und Kohl verstanden es, nicht nur die wissenschaftliche und strafpolitische Bedeutung von Stufenstrafvollzug und Kriminalbiologischer Untersuchung zu betonen; es gelang ihnen bei der Veranstaltung ganz offenbar auch, dem Sicherheitsbedürfnis der Öffentlichkeit und der eigenen Rolle bei der Verhinderung zukünftiger Straftaten Rechnung zu tragen, indem sie die latente Angst vor entlassenen Unverbesserlichen zwar schürten, die Öffentlichkeit zugleich jedoch mit der Leistungsfähigkeit ihrer kriminalbiologischen Prognostik beruhigten. Eine Journalistin kommunizierte diese Problembenennungs- und Problemlösungsstrategie in der Vossischen Zeitung, basierend auf dem Referat Viernsteins in Straubing, folgendermaßen: „Eine Reihe von Rechtsbrechern sei unbestreitbar aus inneren charakterlichen Anlagen und Eigenschaften unverbesserlich. Wiederum andere seien dank ihres sozialen Denkens und Fühlens sowohl im Strafhause, als später in der Entlassenenfürsorge jeder Hilfe und Unterstützung würdig“.53 Die Bestimmung der entsprechenden Typen sei Hauptaufgabe der Kriminalbiologie in Form der Kriminalbiologischen Untersuchung, die damit Unterlagen nicht nur für den Stufenstrafvollzug, sondern auch für die spätere Entlassenenfürsorge liefere; die Sammelstelle verfüge derzeit über rund 9.400 kriminalbiologische Berichte aus allen bayerischen Gefängnissen. Damit schien, und so implizierte es die Journalistin, die sicherheitspolitische Grundlage für einen – an den Strafzwecken von Besserung und Sicherung, also am Schutz der Gesellschaft, gemessen – „erfolgreichen“ Strafvollzug gelegt zu sein. Ähnlich argumentierte ein Memminger Staatsanwalt, der 1929 unter dem Titel „Schutz vor dem Gewohnheitsverbrecher“ den dritten Band von „Der Stufenstrafvollzug“ in der „Nürnberger Zeitung“ ausführlich besprach und mit eigenen Gedanken versah.54 Im redaktionellen Vorwort zu diesem Aufsatz war von dem „bekannten Forscher Dr. Viernstein“ die Rede, im Text selbst wird der „verdienstvolle Forscher dieses Gebietes, Obermedizinalrat Dr. Viernstein“, genannt. Der dritte Band von „Der Stufenstrafvollzug“ sei zwar als ein Lehrbuch für Strafanstalten gedacht, verdiene aber die Beachtung weitester Kreise, auch solcher, die nicht unmittelbar mit dem Strafvollzug befasst sind. Der Staatsanwalt benannte dann weiterhin und mit deutlichen Worten die vermeintliche Grundproblematik der Kriminalität

52 Für die Übersendung dieser Broschüre danke ich Herrn Hauptlehrer in der JVA Straubing Friedolin Resch herzlich. 53 BHStA, MJu 22507: Lenka von Koerber: Im Zuchthaus Straubing. Strafvollzug und Kriminalbiologie. In: Vossische Zeitung v. 13.11.1929. 54 BHStA, MJu 22507: Stufenstrafvollzug bis 1927. Presse.

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seiner Zeit, den „Rückfall direkt nach der Entlassung“. Der menschlichen Gesellschaft sei damit, dass „das frühere Verbrechen so etwas wie gesühnt oder ‚gerecht vergolten‘ ist, nicht geholfen“; die Strafe hätte nur dann einen Zweck, wenn der Verbrecher gebessert sei. Dies sei aber beim „unverbesserlichen, technisch ausgedrückt beim ‚freiheitsunfähigen‘, ‚gesellschaftsuntauglichen‘, ‚führungsunfähigen‘ Gefangenen“ nicht möglich: „Haben diese ihre Strafe abgesessen, so lassen wir sie heute noch mitsamt ihrem abnormen Hang zum Bösen, zur Grausamkeit und zur Rücksichtslosigkeit in die menschliche Gesellschaft in Kenntnis dieser ihrer gesellschaftsfeindlichen Einstellung mit den erwähnten Folgen und dieses von Rechts wegen.“

Jedoch sehe der neue Entwurf zu einem Strafgesetzbuch neben der Strafe auch die Sicherungsverwahrung für diese Täter vor, die solange fortdauern könne, wie es ihr Zweck erfordere. Es sei ersichtlich, dass die Identifizierung des Gewohnheitsverbrechers nach äußeren Merkmalen eine einseitige Angelegenheit sei, die ihre Ergänzung finden müsse in der „genauen Kenntnis der inneren Persönlichkeit des sozial gefallenen Menschen“ – eine Kenntnis, über die nur der Arzt verfüge. Die Kriminalbiologische Untersuchung stelle dies, ob der Strafgefangene besserungsfähig sei oder nicht, fest und schaffe damit eine sichere Grundlagen „für die Unschädlichmachung oder wenn nötig Ausmerzung der für Volkstum und Rasse als unerwünscht erkannten Volksgenossen.“ Doch der Stufenstrafvollzug verlange daneben auch Menschenliebe und Hilfsbereitschaft, und die Früchte seiner Bemühungen würden dem ganzen Volke zugute kommen, denn die „Mehrkosten werden durch den Mehrerfolg aufgewogen werden. Wer durch einen guten Strafvollzug ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft geworden ist, wird das Volksvermögen vermehren helfen.“ Die Presse urteilte also insgesamt eher positiv über die neuen Institutionen, über Stufenstrafvollzug und Kriminalbiologische Untersuchung.55 Kritik wie etwa jener anonyme und letztlich unveröffentlichte Text, der im September 1929 bei der „München-Augsburger Abendzeitung“ eingegangen war,56 gab es nur selten. Der unbekannte Autor skandalisierte zunächst einen Vorgang im Umfeld der Untersuchungen, bei dem offenbar Gefangene zur Ablage von Akten und Fotos herangezogen worden waren und dabei „der eine eine Sammlung ihm gefallender weiblicher Verbrecherinnenphotos mit in seine Zelle zu abendlichem platonischem Genusse“ genommen und sich „der andere ‚für alle Fälle‘ ein Adressenverzeichnis solcher weiblicher Kolleginnen“ angelegt habe. „Doch nett! einfach reizend! [...] Gefangene also erhalten dieses Material mit allen Behörden- und Verwandtenrapporten über Mitgefangene in die Hand! […] Da hört sich wirklich schon verschiedenes auf“, wie der Anonymus kommentierte. Der ‚Datenschutz‘ und die Kritik an

55 BHStA, MJu 22507: Stufenstrafvollzug bis 1927. Presse. 56 BHStA, MJu 24262: „Kriminalbiologie“ (anonym). Abschrift v. 26.9.1929.



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der Sammlung der Daten von Gefangenen und ihrer Verwandtschaft in der Kriminalbiologischen Sammelstelle war dann auch das eigentliche Thema des Schreibens: die „allerneueste Wissenschaft der Katastrierung der Verbrecher und ihrer Familien.“ Der Autor schien im Übrigen Viernstein und dessen wissenschaftlichen Ehrgeiz zu kennen, setzte er doch hinzu: „Eine Wissenschaft, die keine ist; wenn sich auch der Vater derselben bereits einen Lehrstuhl verspricht. […] Was erklärt man heute nicht alles als ‚Wissenschaft‘?“ Der Artikel trifft aber auch den Kern der unkontrollierten Datenerfassung in der Sammelstelle: „Glaubt jemand im Ernst, dass bei der heutigen Einstellung unserer Richter und Staatsanwälte dem künftigen Angeklagten dieser Kataster Asozialer auch nur einen Deut nützen könne oder das Urteil über ihn zu mildern vermöchte? Aber doch sonst!!! Natürlich, wer künftig einen Staatsposten antreten will, dem wird in Straubing bei der kriminalbiologischen Auskunftsstelle nachgefragt, ob [er] einen sittenreinen Stamm besitzt und wehe ihm, wenn auch nur [eine] einzige Verwandtenadresse in der Kartei liegt.“

Auch die Praxis, auf der Suche nach verwertbaren Informationen von den Heimatbehörden Auskünfte zu erfragen, kritisiert der anonyme Autor. Die Schreiben trügen ein verheissungsvolles ‚Zuchthaus Straubing‘ im Kopf und dem schönen Vermerk ‚Vertraulich‘ und es werde gefragt: „der N.N. befindet sich wegen einer schweren Straftat im Gefängnis, was wissen Sie über denselben und dessen Verwandtschaft?“ Das sei „Verfemung des Gefangenen und die Infamierung ganzer alteingesessener Familiensippen, verehrter Herr Kriminalbiologe!“ Viernstein stehe aufgrund der Ministerialentschließungen und dem Einverständnisses der kirchlichen Behörden zwar auf sicherem Boden, doch der Autor gibt mit seinem letzten Satz zu bedenken: „Weiß der Staatsbürger heute überhaupt noch, was sich Behörden alles erlauben und ehrgeizige Forschungsbeflissene sich herausnehmen?“ Viernstein kam ohnehin nicht gut weg in dem Text, wurde ihm doch vorgeworfen, „Erholungstouren in den Bayerischen Wald in der armseligen Mercedeslimousine des Zuchthauses“ zu unternehmen. Der ungedruckte Artikel wurde zu einem kleinen (nicht-öffentlichen) Politikum. Der Schriftleiter der „München-Augsburger Abendzeitung“ hatte gleich Justizminister Gürtner informiert, denn es sei „vielleicht gut, wenn Sie vorher Kenntnis nehmen, damit wir dem Skandal unter Umständen gleich begegnen können“.57 Und Viernstein fühlte sich herausgefordert, sich in einem zehnseitigen Antwort-“Gutachten“ vom 12. Oktober 1929 gegen die in dem Artikel erhobenen Vorwürfe zu verwahren.58 Zunächst machte der Arzt klar, dass er keinen Lehrstuhl anstrebe, „sondern nur die Möglich-

57 BHStA, MJu 24262: Schreiben des Schriftleiters der „München-Augsburger Abendzeitung“ an Staatsminister Gürtner v. 19.9.1929 (Müller 2004: 258). 58 BHStA, MJu 24262: Antwort-Gutachten Viernstein.

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keit, in ausreichender Sicherung mich auf dem kriminalbiologischen Arbeitsfelde, das ich lieb gewann, weiter betätigen zu können, ohne wie jetzt durch anderweitige Arbeitsbelastung behindert zu sein“. Dem Vorwurf, er würde mit dem Anstalts-Mercedes in den Bayerischen Wald fahren, entgegnete er, dass dies gar nicht sein könne, denn er mache nämlich nie Ausflüge und fahre nur gelegentlich zu einer Leichenöffnung. Dieser fast schon witzigen und ironischen Reaktion ließ Viernstein die wiederum wenig humorvolle Anmerkung folgen, dass er in der angenehmen Lage sei, diese Angaben auch jederzeit beeiden zu können. Die Kritik an seiner Arbeitsweise verstehe er als Teil jener „dornen- und sorgenvollen Zeit der ersten Anfänge einer hart umstrittenen Neuerung“. Hinsichtlich der – ihm eigentlich unerwünschten – „Mitbeschäftigung von Gefangenen“ erklärte der Arzt, dass diese aufgrund des Mangels an anderen Mitarbeitern vom Justizministerium genehmigt gewesen sei. Außerdem stammten die Fotos, so Viernstein, nicht aus der Sammelstelle, sondern aus dem Fotoatelier des Zuchthauses Straubing – womit er eingesteht, dass Gefangene offenbar tatsächlich Zugang zu den Fotos hatten. Die angesprochene „Liste von weiblichen Strafgefangenen“ sei hingegen „wahrscheinlich Knastklatsch“. Und damit hatte sich die Sache für Viernstein wohl erledigt. Abgesehen von dieser Invektive war, wie gesagt, die Berichterstattung über den Stufenstrafvollzug und die Kriminalbiologische Untersuchung wohlwollend. Diese Berichterstattung ist einzuordnen in die allgemeinere Tendenz in Politik und Öffentlichkeit schon seit dem Kaiserreich, verstärkt aber in den 1920er und frühen 1930er Jahren – einer Zeit, die den Zeitgenossen ohnehin als eine der durchgreifenden Reformen erschien –, wie nie zuvor Fragen nach dem Verbrecher und seinem Wesen, nach der Reform des Strafrechts und des Strafvollzugs in den Mittelpunkt öffentlicher Diskussionen zu stellen (Siemens 2007: 193-265). Zumal die Kriegsfolgen (Demobilisierung, Arbeitslosigkeit, Bürgerkriegssituationen, Inflation) durchaus Einfluss auf die Kriminalitätsentwicklung hatten, wenn auch tatsächlich weniger spektakulär, als es den Zeitgenossen scheinen wollte: Nach einem kurzen Anstieg sank die Kriminalitätsrate schon um 1923/1924 wieder auf die Rate der Vorkriegszeit. Erklärungsbedürftig blieb der Anstieg der Rückfalltäter: Dies war zwar zuvorderst ein rein statistischer Effekt, da zunächst eine Straftilgung 1920 zu weniger statistisch notierten Vorbestraften und in der Folgezeit, bei neuer Registrierung und einer veränderten, effektiveren polizeilichen Strafverfolgungspraxis, zu einem faktischen Anstieg der Zahlen führte. In der Öffentlichkeit wurde dieser Effekt jedoch durchaus krisenhaft wahrgenommen, denn „nicht jeder sah die statistischen Zusammenhänge so nüchtern wie die Statistiker selbst. Den weniger informierten Zeitgenossen suggerierte die Rückfallstatistik über die gesamte Lebensdauer der Weimarer Republik hin eine stetige Zunahme des Gewohnheitsverbrechertums“ (Müller 2004: 177). Gerade die Sensationspresse nahm diese kontrafaktische Kriminalitätsentwicklung auf und verstärkte sie durch eine extensive Berichterstattung über Kriminalfälle und Gerichtsprozesse. Doch auch se-



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riösere Blätter widmeten sich dem Thema und ließen Kriminologen und Kriminalisten mit populärwissenschaftlichen Beiträgen zu Wort kommen. Daniel Siemens sieht in der breiten Beschäftigung mit dem Thema Kriminalität und seiner Bekämpfung das Bedürfnis der Menschen zur Zeit der Weimarer Republik, sich durch Reden über Verbrechen und Verbrecher über Werte und Normen, über die moralische Ordnung ihrer Gesellschaft zu verständigen: Der Verlust normativer Verbindlichkeiten habe einen Bedarf an Diskussionen über Moral, Lebensstile und Grenzen individueller wie kollektiver Selbstverwirklichung hervorgebracht, zumal die Veränderungen und die krisenhafte Entwicklung in Deutschland ein Gefühl von Unsicherheit produzierten, ein gesteigertes öffentliches Interesse an Kriminalität und Gewalt, das durch zum Teil dramatisierte Kriminalfälle gesteigert und zum Signum für gesellschaftliche Konflikte und Modernitätsängste wurde (Siemens 2007: 15f.). Dazu gehörten auch die Debatten in der Presse über die Besserungsfähigkeit – oder eben die Unverbesserlichkeit – von Straftätern, die, wie Siemens zeigen konnte, durchaus auf wissenschaftliches Wissen zurückgriffen, aber kein unmittelbares Abbild der kriminologischen Theoriedebatten darstellten; vielmehr hatten auch langfristige Vorstellungen vom Verbrecher sowie aktuelle politische Konflikte Einfluss auf die Berichterstattung und das Bild, das man sich vom Verbrecher machte (Siemens 2007: 195). Die Berichterstattung schwankte dabei durchaus – wie die kriminologische Debatte ja selbst – zwischen kriminalsoziologischen, -psychologischen und -biologischen Perspektiven, und man kann in Anlehnung an Siemens‘ Ergebnisse und unter Verwendung der Terminologie von Peter Becker zuspitzend von einem Nebeneinander der Erzählmuster „gefallener Mensch“ und „verhinderter Mensch“ sprechen, wobei psychologisierende und milieutheoretische Darstellungen überwogen, ohne jedoch den kriminalbiologischen Positionen kritisch zu begegnen (Siemens 2007: 214). Vor allem gegen Ende der Weimarer Republik lässt sich gerade für die bayerische Presse festhalten, dass biologistische Erklärungen von Kriminalität durchaus Zustimmung fanden und dass die Kriminalbiologie und mithin das Projekt der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle als vielversprechendes Instrument der Zukunft erschien.59 Die Popularisierung der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle in dienstlichen wie öffentlichen Bereichen war also durchaus erfolgreich, was sich an der Unterstützung, die dem Projekt und Viernstein gerade in den dienstlichen Kreisen zuteil wurde, ablesen lässt. Hinweise darauf hat schon die Darstellung der Einrichtung von Untersuchung und Sammelstelle gegeben; hier sollen unter Rückgriff auf die Studie von Oliver Liang die Gruppen, die einen unmittelbaren Anteil am Projekt Kriminalbiologische Untersuchung hatten (die bayerischen Justiz- und Strafvollzugsbeamten, die Ärzte, die Anstaltsgeistlichen und -lehrer) zusammenfassend vorgestellt werden, die nach dem Urteil Liangs das Projekt mehrheitlich unter-

59 BHStA, MJu 22507: Stufenstrafvollzug bis 1927. Presse (Liang 1999: 138).

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stützten, wenn auch aus Gründen, die nur bedingt etwas mit den Inhalten von Kriminalbiologie und Kriminalbiologischer Untersuchung zu tun hatten: Kriminalbiologie sei für sie mehr gewesen als die kompromisslose Anwendung einer eugenischen Theorie: „For doctors, jurists and clerics alike, criminal-biology was vested with deep implications concerning professional status, the importance of religion and morals in society, and ultimately fundamental questions concerning human nature“ (Liang 1999: 139). Als Justiz- und Vollzugsbeamte (Liang 1999: 112-118; dort auch alle Zitate), die mit dem Stufenstrafvollzug und mit der Kriminalbiologischen Untersuchung befasst waren, führt Liang Richard Degen, Franz Kohl, Direktor des Zuchthauses Straubing, Otto Kahl, Direktor der Strafanstalt Nürnberg und den bayerischen Justiz- und späteren Reichsjustizminister Franz Gürtner namentlich an und weist zudem auf die vielen Verwaltungsbeamten, Aufseher und Wärter in den Gefängnissen hin. Zumindest die führenden Personen dieses Denkkollektivs teilten nach Liang Merkmale mit anderen Beamten in Deutschland: „They were mostly trained jurists with a conservative, though not radical, political orientation“. Auch sie hätten nach 1920 einen Abstieg hinsichtlich ihres Einkommens und ihrer Arbeitsbedingungen erfahren. Die konservative Justizkultur in Bayern, in der sich auch jene Beamten bewegten, welche die kriminalbiologische Strömung unterstützten, war mit christlichen Reforminteressen verbunden, was vor allem bei Degen greifbar ist. In Einklang mit Konzepten der caritativen Reform aus dem 19. Jahrhundert hoffte Degen, dass bessere Bedingungen in den Gefängnissen, eine humanere Behandlung der Gefangenen und das gute Vorbild der Gefängnisbeamten die Sträflinge zu Güte und Menschlichkeit führe. Zur Erreichung dieses Ziels wurden Mittel zur moralischen und patriotischen Belehrung der Gefangenen eingesetzt: Kino- und Musiksäle, Vorträge, Konzerte, Theater- und Musikgruppen. Als deutlich wurde, dass sich mit diesen Maßnahmen, die sehr teuer waren, nicht gleichsam automatisch eine Besserung der Strafgefangenen einstellte, stieg die Frustration über Gefangene, die – aus welchen Gründen auch immer – auf diesem Wege nicht erreicht werden konnten. Selbst der durchaus idealistisch-reformerisch denkende Degen konnte sich dem auf breiter Front aufkommenden Gedanken nicht entziehen, dass nur eine strikte Trennung der Gefangenen helfe. „As a result, a different notion of redemption came to the fore. Instead of ‚uplifting‘ the entire prison population, those capable of ‚redemption‘ had to be winnowed from those who were permanently ‚incorrigible‘.“ Als zentralen Beweggrund, der für die genannten Justiz- und Vollzugsbeamten mit dem Stufenstrafvollzug und vor allem mit der Kriminalbiologie verbunden war, macht Liang jedoch das Ziel aus, die bürgerliche Vorstellungen von Moral und Gesellschaft auf der Basis der Biologie umzugestalten. Liang zitiert dafür Otto Kahl, der 1930 in den „Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft“ der Meinung war, dass Kriminalbiologie dabei helfen könne, einen Gefangenen moralisch, geistig, mental und auch körperlich stärker und widerstandfähiger für den Kampf im Leben zu ma-



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chen, indem sie jene, die „nicht können“ von denen trenne, die „nicht wollen“, und es so ermögliche, auf letztere die pädagogischen Bemühungen zu konzentrieren. Auch bei Kahl war offenbar – ähnlich wie bei Degen und bei vielen anderen mit dem Strafvollzug befassten Personen und im Trend, den pädagogischen Reformstrafvollzug für gescheitert zu erklären – gegen Ende der Weimarer Republik Ernüchterung eingetreten hinsichtlich der Möglichkeiten der Erziehbarkeit. In der Frage der moralischen Umgestaltung der Gesellschaft auf biologischer Basis trafen sich nach Liang die Interessen der Justiz- und Vollzugsbeamten mit denen der Anstaltsärzte (Liang 1999: 118-126; dort auch alle Zitate). Es war das Konzept der Charakterologie, das für Viernstein von aller größter Bedeutung in dieser Hinsicht war, genauer gesagt, eine Form der charakterologischen Biologie. Ausgangspunkt war dabei Viernsteins Überzeugung, dass die Biologie die Basis von Moral sei und dass somit Biologie und Religion dieselbe Funktion hätten, wobei die Biologie in einer modernen, wissenschaftlichen Sprache im Kern Vorstellungen der Religion bestätige. Moral war für Viernstein also biologisch in ihrem Ursprung, und jede Besserung eines Gefangenen musste daher von seiner biologischen Konstitution ausgehen, welche die Besserungsfähigkeit laut Viernstein in entscheidendem Maße bestimme. Liang vermutet, dass die Mehrheit der Anstaltsärzte in Bayern Viernsteins Auffassungen von Bedeutung und gesellschaftlicher Rolle der Kriminalbiologie geteilt hätte; zumindest die Wahrnehmung der Rückfälligkeit und – gegen Ende der Weimarer Republik – auch die Notwendigkeit, härter gegen unverbesserliche Verbrecher vorzugehen. Aber auch die Anstaltsärzte hatten für die Unterstützung wohl in erster Linie professionelle Gründe: Gegenüber privaten Ärzten fehlte es ihnen an sozialem Status, sie waren einer engen Verwaltungskontrolle ausgesetzt, schlecht bezahlt und wegen der Reintegration von Militärärzten zudem einem extremen Konkurrenzkampf ausgesetzt. Die Kriminalbiologie konnte das professionelle Prestige der Anstaltsärzte steigern; das Beispiel Viernstein zeigt dies eindrücklich. Liang führt auch persönliche und politische Erfahrungen an und schließt, dass die Ärzte einen ähnlichen konservativen Hintergrund teilten, ähnlich vielleicht auch dem der Justizbeamten. Ernst Rüdin, Theodor Viernstein, Hans Luxenburger – die von Liang angeführten Ärzte entstammten alle dem gehobenen Mittelstand, teilten konservative politische Ansichten und waren Moralisten. Zudem standen sie in Kontakt mit der Münchner Gesellschaft für Rassenhygiene, die ein stabiles Denkkollektiv und für die bayerische medizinische community eine elitefördernde Organisation darstellte. Attraktiv scheint die kriminalbiologische Fundierung ihrer Arbeit auch deshalb gewesen zu sein, weil diese – Moral biologisch deutend – in der Lage schien, den Ärzten Teilhabe an der moralischen Umformung der Gesellschaft zu geben: „Through criminal-biology, doctors became crimefighters, guardians of social order. The status of being a community guardian – equal in status of a judge, a clergyman, a professor – guaranteed doctors a status beyond mere medical practitioner.“

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Eine interessante, wenngleich überaus ambivalente Position im Gefüge des kriminalbiologisch geführten Strafvollzugs nahmen die Anstaltsgeistlichen ein (Liang 1999: 126-134; dort auch alle Zitate): „Members of the clergy also entertained an equally flexible and ambiguous concept of ‚biology‘ with which religious conceptions of morality could be bolstered.“ Etwas überraschend verwendeten die bayerischen Anstaltsgeistlichen nicht nur biologistische Metaphern wie jene von der „moralischen Infektion“, vor der die moralisch noch erreichbaren Verbrecher durch Trennung von den unmoralischen Verbrechern geschützt werden müssten. Manche vertraten auch die Ansicht, dass Charakter und Moral erblich bedingt seien und die religiöse Unterweisung nicht gegen die Vererbung und die geistig-psychische Struktur von Gefangenen ankomme. Einen etwas differenzierten Standpunkt vertrat der schon erwähnte Ignaz Klug. Der Moraltheologe hatte ein Konzept der Pastoralmedizin entwickelt, das rassenhygienische Aspekte mit katholischer Theologie kombinierte.60 Er verband dabei Vorstellungen der biologischen Bestimmung mit dem freien Willen: Selbst Täter, die biologisch zum Verbrechen disponiert seien, könnten wählen, ob sie diesem Hang folgten oder nicht. Die Kriminalbiologische Untersuchung könne hierbei helfen: Indem sie den biologisch „unverbesserlichen“ Verbrecher identifiziere, ihn mit seiner ererbten Disposition konfrontiere und er diese akzeptiere und beherrsche, sei eine innere moralische Rettung – angeleitet durch den Anstaltsgeistlichen – noch möglich. Bei den Gefangenen aber, die sich auch weiterhin „freiheitsunfähig“ (ein Begriff, den Klug dem zu stark determinierenden „unverbesserlich“ vorzog) zeigten, sei die erzwungene Sterilisation folgerichtig. Bedeutung erlangten solche Überlegungen vor dem professionellen Hintergrund der Anstaltsgeistlichen: Es ist durchaus plausibel, mit Liang anzunehmen, dass diese im Rahmen ihrer mit dem Stufenstrafvollzug und der Selektion der Gefangenen ambivalenter und komplexer gewordenen Aufgabe im Strafvollzug durch die kriminalbiologische Konnotierung von Moral und Gesinnung Entlastung fanden. Ihre Aufgabe sei, so Liang, die schwierigste im Gefängnissystem gewesen, da sie sich – im Gegensatz etwa zu den Ärzten, die mit den Gefangenen in einem respektierten Arzt-PatientVerhältnis standen – feindseligen Gefangenen, Antiklerikalen und Sozialisten gegenüber sahen. Hinzu kam, dass in Einklang mit dem Säkularisierungstrend in Bayern die Teilnahme an Gottesdiensten zurückging, mit der Folge eines Absinkens der Stellung von Priestern im sozialen Leben. Daher sahen auch die Geistlichen, wie die Justizbeamten und die Anstaltsärzte, in der Kriminalbiologie eine Möglichkeit, ihren Status auch außerhalb des Strafvollzugs, als Beschützer der gesellschaftlichen Moral, aufzuwerten. Ihre Position war dabei durchaus ambivalent: „The clergy‘s task remained moral redemption, but the means had become biological“, wie Liang zusammenfasst. Interessanterweise entpuppten sich die Anstaltsgeistlichen

60 Vgl. seine Beiträge in den Bänden 2 („Willensfreiheit – Willenshemmung - Willenserziehung“) und 3 („Kriminalpädagogik“) von „Der Stufenstrafvollzug“.



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als die strengsten Untersucher; ihnen oblag ja die Untersuchung mit dem verkürzten psychologisch-soziologischen Untersuchungsbogen: Sie bestimmten weit mehr Gefangene für die Stufe I im Stufenstrafvollzug als die medizinischen und juristischen Beamten. Einen anderen, stärker pädagogischen Zugang zum Strafgefangenen und seiner Besserungsfähigkeit hatten naturgemäß die Anstaltslehrer (Liang 1999: 134-138; dort auch alle Zitate): Sie befürchteten, dass bei einer zu stark auf deterministischer Basis stehenden Einteilung der Verbrecher im Stufenstrafvollzug die Nachfrage nach ihren Diensten zurückgehen werde – aus ihrer Sicht war das überaus problematisch, zumal sie hinsichtlich der pädagogischen Kompetenz, aber auch im Kampf um einen begrenzten Anteil an Einfluss im Strafvollzug mit den Anstaltsgeistlichen in Konkurrenz standen. Die leicht andere Perspektive der Lehrer änderte aber nichts daran, dass sie, ähnlich wie die Vollzugsbeamten, die Anstaltsärzte und die -geistlichen den Kanon an bürgerlichen moralischen Werten aufrecht erhielten. In der Tat traktierten die Kurse, die die bayerischen Anstaltslehrer in den Strafanstalten anboten, den ganzen Kanon bürgerlicher Wertvorstellungen mit Themen wie die „Ziele im Leben“, „ethische Verantwortung“, das „Arbeitsleben“, „Arbeit und Fleiß“, „Monogamie“ usw. Insgesamt also unterstützte eine breite Mehrheit der Justiz- und Vollzugsbeamten die kriminalbiologische Richtung, die Viernstein mit seiner Untersuchung und der Sammelstelle eingeschlagen hatte, und dies vor allem aus den beiden Gründen, den eigenen Status durch die neue, auch öffentliche Rolle aufwerten zu können und zugleich mit einer biologisch fundierten Moralvorstellung zur Umgestaltung der Gesellschaft nach biologischethischen Grundsätzen beitragen zu können. Der inner- wie außenwissenschaftlichen Vernetzung, mit den Worten Flecks: der Sicherung des Denkkollektivs, und der Popularisierung und Durchsetzung der Kriminalbiologie in Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft diente die Gründung der Kriminalbiologischen Gesellschaft im Jahre 1927 (Baumann 2006: 66-69; Simon 2000: 152-160; Liang 1999: 180-189). Viernstein war, zusammen mit Lenz und von Neureiter eines der Gründungsmitglieder. Die Gesellschaft hatte sich zudem zum Ziel gesetzt, die Kontakte zwischen den verschiedenen kriminalbiologischen Zentren in Lettland, Bayern, Sachsen und Österreich zu stärken, die Kriminalbiologie in der Strafrechtspraxis, also vor allem im Strafprozess, zu verankern, Vertreter unterschiedlicher Disziplinen sowie Praktiker und Wissenschaftler zusammen zu bringen und ihnen ein Diskussionsforum zu bieten. Neben Juristen und Mediziner, die zahlenmäßig dominierten, gehörten der Gesellschaft Psychologen, Pädagogen und Sozialarbeiter an; die Mitglieder kamen von Universitäten, aus der Strafrechtspflege, dem Strafvollzug, der Polizei, der Verwaltung, der Fürsorge und aus Heil- und Pflegeanstalten. Den Vorstand bildeten zwischen 1927 und 1937 führende Kriminalbiologen, wie etwa die Rechtsprofessoren Edmund Mezger (1883-1962) und Franz Exner, der Kriminologe Ernst Seelig (1895-1955), von Neureiter, Rüdin, Viernstein und

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Fetscher. Der erste Vorsitzende war Lenz, dem 1937 Viernstein für ein Jahr nachfolgte. Für die Entwicklung der Mitgliederzahl, die von 1927 mit 98 auf 165 Mitglieder im Jahr 1933 stieg und bis 1937 auf 68 zurückging, führt Sylvia Kesper-Biermann zwei Gründe an: Zum einen verließen jüdische und aus anderen Gründen missliebige Personen wie der politisch als „unzuverlässig“ eingestufte Albert Krebs (1897-1992) oder der Sozialdemokrat Rainer Fetscher die Kriminalbiologische Gesellschaft nach 1933 bzw. mussten sie verlassen. Zum anderen habe sich die Gesellschaft wegen der weitgehenden Erfüllung ihres Ziels, die Kriminalbiologie in der Strafpolitik und im Strafprozess zu etablieren, gleichsam selbst überflüssig gemacht; eine Organisation zur Vertretung und Durchsetzung der eigenen Interessen habe daher an Bedeutung verloren (Kesper-Biermann 2008: 10f.). Die Etablierung machte sich nicht zuletzt darin bemerkbar, dass die führenden Mitglieder der Gesellschaft in einflussreiche Positionen gelangten (Kesper-Biermann 2008: 11f.): Ferdinand von Neureiter etwa leitete ab 1936 die Kriminalbiologische Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt in Berlin, bevor er 1939 an das rechtsmedizinische Institut der Universität Hamburg wechselte. Viernstein bekleidete, wie schon erwähnt, seit 1933 die Stelle eines Ministerialrats für das Gesundheitswesen im Bayerischen Innenministerium und bekam 1936 den Titel eines Honorarprofessors verliehen. Friedrich Stumpfl schließlich wurde 1939 Professor für Erb- und Rassenbiologie in Innsbruck. Bevorzugtes Mittel zur Vernetzung und zur Popularisierung der Kriminalbiologie waren vor allem die Schriftenreihe „Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft“ und die Organisation regelmäßiger wissenschaftlicher Tagungen. Die Tagungen waren in erster Linie wissenschaftlicher Natur, konnten aber auch eine kriminalpolitische Stoßrichtung bekommen, wenn etwa auf der Tagung 1930 in München eine Entschließung formuliert wurde, die vom Deutschen Reichstag und von der Internationalen Strafrechts- und Vollzugskommission eine praktische Auswertung der kriminalbiologischen Forschungsergebnisse im künftigen Strafprozess fordert. Bei der hochrangig angesiedelten Tagung traten etwa der bayerische Minister für Unterricht und Kultus, der Staatsrat des Justizministeriums, der Landtagspräsident und andere hohe Persönlichkeiten auf.61 Auch wenn in der Satzung der Gesellschaft davon die Rede war, die biologische Betrachtung des Verbrechens in der Wissenschaft zu fördern und ihre Einführung in die Strafrechtspflege in die Wege zu leiten, fanden zunächst noch unterschiedliche Ansätze Raum. Nach 1933 dominierte die anlageorientierte Sichtweise, andere wurden zurückgedrängt. Die Kriminalbiologische Gesellschaft existierte noch bis 1967; schon 1951 wurde die Veranstaltung von regelmäßigen Tagungen wieder aufgenommen (Kesper-Biermann 2008: 13f.). Merkmal der Gesellschaft war die Kontinuität hinsichtlich der Methoden, Themen und Personen, da auch weiterhin die Täterper-

61 BHStA, MJu 24262: Kriminalbiol. Sammelstelle, Bericht über das fünfte Arbeitsjahr v. 31.10.1930.



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sönlichkeit und medizinische und biologische Erklärungen von Kriminalität im Mittelpunkt standen, mit einer Verschiebung in Richtung psychologischpsychopathologischer Deutungen. Die Alliierten hatten den nationalsozialistisch organisierten Kriminalbiologischen Dienst zwar aufgelöst, doch 1961 wurden vergleichbare Einrichtungen, die sich nun auf die Resozialisierung von Straftätern konzentrierten, bundesweit eingeführt. Erst 1967 benannte sich die Kriminalbiologische Gesellschaft in „Gesellschaft für die gesamte Kriminologie“ um und begann, wenn auch nicht umfassend, sich mit ihrer Rolle im Nationalsozialimus auseinanderzusetzen. Während die Kriminalbiologische Gesellschaft ein zwar heterogener, doch zumindest in der Perspektive auf den Verbrecher als Produkt aus Anlage und Umwelt geeinter Verbund war, so gab es auch dezidierte wissenschaftliche Kritik (vgl. Wetzell 2000: 137-142; Burgmaier et al. 1999:271274; Naumann 2006: 86-95; Müller 2004: 246f. und 265f.; Simon 2000: 126-128), wobei sich eine Opposition zwischen Hamburg (hier wirkte der liberale Kriminologe Moritz Liepmann) und München (hier waren es Viernstein und die Mitglieder der Forschungsanstalt für Psychiatrie) herauskristallisierte, die auch eine Opposition zwischen milieutheoretischer versus anlageorientierter Argumentation und nicht zuletzt eine zwischen demokratischen, republikanisch-liberalen und konservativen, autoritär-nationalen Haltungen unter den Beteiligten war (Naumann 2006: 86-95). Liepmann selbst äußerte sich kritisch, zwar weniger gegenüber einer Persönlichkeitsuntersuchung von Strafgefangenen an sich; er befand jedoch, dass die Trennung in besserungsfähige und unverbesserliche Gefangene, wie sie in Bayern praktiziert wurde, jeder wissenschaftlichen Basis entbehre (Liepmann 1926: 66). Der ehemalige Direktor eines Jugendgefängnisses und Gefängnisreformer Curt Bondy bezog sich ebenfalls auf die Trennung von besserungsfähigen und unverbesserlichen Verbrechern (Bondy 1927: 332) und kritisierte, dass Unverbesserlichkeit – er selbst wollte den Begriff „Unerziehbarkeit“ verwendet sehen – ein relatives Konzept sei und weniger abhängig von der Persönlichkeit des Verbrechers, als vielmehr von äußeren Faktoren, z. B. von den erzieherischen Maßnahmen, die beim einzelnen Gefangenen angewendet würden, oder vom sozialen Umfeld nach der Haftentlassung. Wie sein Lehrer Moritz Liepmann zweifelte auch Bondy die Wissenschaftlichkeit der Kriminalbiologischen Untersuchung, nicht eine Untersuchung als solche an: Kriminalbiologie und Genetik befänden sich in einem derart anfänglichen Entwicklungsstadium, und die bayerischen Anstaltsärzte seien in diesen Fragen nicht kompetent genug, so dass eine Anwendung wie in Bayern, zumal mit solch weit reichenden Konsequenzen für den einzelnen Gefangenen, verfrüht sei (Bondy 1927: 334). Allenfalls als Beitrag zum wissenschaftlichen Wissen vom Verbrecher könnte die Untersuchung daher dienen, vielleicht noch als ein unterstützendes Instrument für den Strafanstaltsbeamten, die passende Behandlung für den einzelnen Strafgefangenen zu finden. Einer der prononciertesten Kritiker der Untersuchung war Werner Petrzilka, ebenfalls Schüler Liepmanns. Auch Petrzilka verstand eine Persön-

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lichkeitsuntersuchung als sinnvolles Instrument für eine Differenzierung im Strafvollzug, kritisierte aber in seiner 1930 publizierten Dissertation „Persönlichkeitsforschung und Differenzierung im Strafvollzug“ gleich mehrere Aspekte der bayerischen Untersuchung (Petrzilka 1930: 42f.), z. B. die für die weitreichenden Interpretationen und die Abgabe der sozialen Prognose nicht ausreichende Datenmenge, den Umstand, dass nicht alle Gefangenen untersucht werden (was Petrzilka auch auf die mangelnde personelle Ausstattung in den Strafanstalten zurückführt), die geringe für die Untersuchung eingesetzte Zeit, die fehlenden fachlichen Kompetenzen des mit der Untersuchung betrauten Gefängnispersonals, die in der Praxis vorhandenen sozialen und moralischen Vorurteile der Untersucher, die Unsicherheit der Selbstauskünfte des Probanden, die Unsicherheit der Auskünfte von Dritten in den Heimatbögen, die Fixierung auf die erbbiologischen Interpretationen, zumal deren Kausalität und ihr Zustandekommen nicht erklärt werde, die zu frühe Unterscheidung von Besserungsfähigen und Unverbesserlichen gleich beim Eingang in die Strafanstalt, die Berücksichtigung nur eines geringen Bruchteils der Umweltfaktoren, die zum Verständnis der Persönlichkeit notwendig wäre. Petrzilka62 bilanzierte, dass alle Fragen, „die nicht entweder durch Messung, Tests, Augenschein oder amtlichen Nachweis beantwortet werden“ könnten (und dies sei der weitaus größere Teil aller Fragen), von diesen grundsätzlichen Mängel der Untersuchung betroffen sein; die „Ergebnisse der Untersuchungen m ü s s e n unter diesen Umständen mangelhaft sein (Petrzilka 1930: 49f.; Sperrung im Original) und seien daher nur mit äußerster Vorsicht zu verwenden. Da „innerhalb der einzelnen Untersuchung ein Teil der Ergebnisse falsch sein wird“, sei auch der Wert der Untersuchungen hinsichtlich der pädagogischen Aufgabe des Stufenstrafvollzugs und der Kriminalbiologischen Untersuchung, die besserungsfähigen von den unverbesserlichen zu unterscheiden und Erstere dem pädagogischen Strafvollzug zuzuführen, eher gering anzusetzen; der potentielle Schaden der falschen Ergebnisse dafür umso höher (Petrzilka 1930: 52f.). Aus den genannten Gründen müsse daher die Erfüllung der zentralen Aufgabe der Kriminalbiologischen Untersuchung, die versuchte Trennung der Gefangenen nach Besserungsfähigkeit, „als verfehlt bezeichnet werden“ (Petrzilka 1930: 58). Dass Petrzilka schließlich auch die gerichtliche Verwendung von Gutachten auf der Basis von Kriminalbiologischen Untersuchungen vor diesem Hintergrund überaus skeptisch betrachtet, erscheint dann nur als folgerichtig. Ähnlich argumentierte auch Hans Klare. Auch er stimme grundsätzlich zu, dass ein dringendes Bedürfnis bestünde, den Täter und seine kriminelle Konstitution genauer und eingehender als bisher zu erforschen. Gleichwohl bedürfe die bayerische Praxis der Gutachten- und Prognoseerstellung einiger Änderungen: Es müssten alle Strafgefangenen untersucht werden, die Be-

62 Petrzilka konnte sich im Übrigen auf eigene Anschauung stützen: Er verbrachte 1926 einige Zeit als Gast in Straubing.



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urteilung des Untersuchten durch die Heimatbehörden dürfte allenfalls als Orientierung dienen, der Gutachter müsse alle Gerichtsakten einsehen, die Abgabe einer Prognose solle nur im Zusammenspiel von begutachtendem Arzt und einem Juristen erfolgen, die Gutachtenabgabe dürfe nur bei persönlich vorgenommener Untersuchung erfolgen. Viernstein und die bayerischen Strafvollzugsbehörden zeigten sich von der Kritik relativ unbeeindruckt; die Praxis der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle wurde nicht verändert. Viernstein trat lediglich in einen diskursiven Dialog ein und verteidigte sein System – wie eigentlich immer, wenn er mit Kritik konfrontiert war. In einem Vortrag bei einer Tagung der Kriminalbiologischen Gesellschaft 1930 (Petrzilka 1930: 32-34; dort auch alle Zitate) gab er durchaus zu, dass die Abgabe der sozialen Prognose in vielen Fällen durchaus mangelhaft sei; da aber zukünftige Forschungen die Richtigkeit des Vorgehens mit Sicherheit bestätigen würden, sei es nicht notwendig, auf den wissenschaftlichen Nachweis zu warten. Auch der Kritik, dass die Besserung eines Gefangenen vor allem von seinem sozialen Umfeld nach der Entlassung abhinge, antwortete Viernstein: Unverbesserliche zeigten sich eben auch darin, dass sie in ihrem sozialen Umfeld nach der Haftentlassung erneut rückfällig würden. Viernstein ging dann seinerseits in die Offensive und behauptete, dass es die ökonomische Lage zur Zeit der Weltwirtschaftskrise nötig mache, die teuren Resozialisierungsmaßnahmen nur den tatsächlich Besserungsfähigen zukommen zu lassen; im gleichen Atemzug erhöhte er, gegenüber seiner früheren Schätzung, den Anteil der unverbesserlichen Straftäter auf fünfzig Prozent. Dieser Behauptung Viernsteins begegnete ein anderer Schüler Liepmanns, Rudolf Sieverts (1903-1980), indem er zum einen die methodischen Grundlagen dieser Behauptung mit ähnlichen Argumenten kritisierte wie Bondy, Petrzilka und Klare auch (fehlende Wissenschaftlichkeit, mangelnde Kompetenz der Untersucher, Unzuverlässigkeit der Ergebnisse usw.), zum anderen auch das seiner Meinung nach unterliegende sozialpolitische Ziel, den „Angriff der kriminalpolitischen Reaktion in Deutschland“ auf den Weimarer Sozialstaat und den nicht angepassten Teil der Bevölkerung (Sieverts 1932; auch: Naumann 2006: 92f.). Dieser Teil – die „Unverbesserlichen“ – werde einfach aus dem Bemühen, mit ihnen in irgendeiner Weise umzugehen und damit dieses Problem zu lösen, ausgeschlossen. Diese Auseinandersetzung zwischen Viernstein und Sieverts spiegelt die Debatte über die Reichweite der sozialstaatlichen Maßnahmen wider, die sich gegen Ende der Weimarer Republik immer weiter und immer stärker mit rassenhygienischen Untertönen auf das Kosten-Nutzen-Argument reduzierte, nur den ‚nützlichen‘ Gliedern der Gesellschaft Unterstützung zu gewähren und, in Zeiten wirtschaftlicher Not, die Unterstützung der ‚Untüchtigen‘ zu minimieren – ein Argument, das Teil auch der nationalsozialistischen Ideologie wurde.

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„I M

NEUEN

S TAATE ...“

Der bayerische Kriminalbiologische Dienst spielte ungeachtet dieser Kritik eine wichtige Rolle für die Kriminalbiologie in Deutschland nach 1933, indem er einerseits eine institutionalisierte Struktur sowie eine Sammlung von Daten zu einer großen Anzahl von Verbrechern bereitstellte und andererseits als Modell einer biologisch fundierten Persönlichkeitsuntersuchung im Strafvollzug fungierte, das letztlich auch reichsweit implementiert wurde. Und schließlich hatte die bayerische Kriminalbiologische Untersuchung über ihre Funktion, die gegen Ende der Weimarer Republik immer prononcierter vertreten wurde, die „Unverbesserlichen“ im Strafvollzug zu identifizieren und diese und ihre Verwandtschaft zu katalogisieren, den Boden mit bereitet sowohl für die selektionistischen Maßnahmen der Nationalsozialisten gegenüber dem „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ als auch für die erbbiologische Bestandsaufnahme der Bevölkerung (Wetzell 2000: 141f.). Dieser repressive Zug war in der auf Ausgrenzung ausgerichteten Kriminalbiologischen Untersuchung angelegt; ihn nach und nach auch im praktischen Vollzug umzusetzen, lag bereits im Trend der Strafpolitik seit dem Ende der 1920er Jahre, den vermeintlich pädagogisch verlorenen Gewohnheitsverbrecher einem zunehmend schärferen Zugriff zu unterwerfen. Auch dieses Erbe hinterließ die Kriminalbiologie und mit ihr die Kriminalbiologische Untersuchung den neuen Machthabern, die im Zuge ihrer rassenhygienischen Sozialpolitik auf ein bereits etabliertes und funktionierendes System zugreifen konnten. Während die Kriminalbiologische Untersuchung und die Sammelstelle im historischen Rückblick auf diese Weise in ihrer späteren Rolle und Bedeutung für die Ausgrenzungsmaßnahmen der Nationalsozialisten beschrieben werden können, so ist ihr Urheber hinsichtlich seiner Position „im neuen Staate“ politisch etwas schwieriger zu beurteilen. Einerseits diente er sich den Nationalsozialisten an, schwang sich terminologisch und konzeptionell auf die neuen Konzepte ein, und natürlich stand er bereits zur Zeit der Weimarer Republik für rassenhygienische Positionen ein. Andererseits trat er erst, wie so viele, nach der Aufhebung der Aufnahmesperre 1937 in die NDSAP ein, war also kein Nationalsozialist der ersten Stunde, was aber wenig über seine Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus in den Jahren zwischen 1933 und 1937 aussagt. Eigenen Angaben zufolge sei er 1943, nach dem Ende seiner aktiven Dienstzeit 1942, wieder aus der Partei ausgetreten.63 Eine deutlichere Sprache scheint da schon seine Mitgliedschaft in verschiedenen Reichsbünden zu sprechen (so etwa im Reichsluftschutzbund, im „Reichsbund der Kinderreichen“ und im „Reichsbund der deutschen Beamten“), vor allem aber seine Aktivitäten in anderen nationalsozialistischen Gruppierungen, unter anderem als ehrenamtlicher SA-Sturmarzt und HJ-Arzt (Simon 2000: 108).

63 BHStA, MK 35772: Entnazifierungsbogen Viernstein, 24.3.1946.



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Viernstein stieg trotz ‚guter Voraussetzungen‘ (im ideologischen Bereich) nicht in eine führende Position auf. Diese Ambivalenz im Verhältnis von Viernsteins Überzeugungen, seinem Kampf um die Anerkennung der Kriminalbiologischen Untersuchung und der nicht entwickelten Karriere im Nationalsozialimus mag auch generationelle Gründe gehabt haben. Liang deutet in Bezug auf die Mitglieder der Kriminalbiologischen Gesellschaft an, dass die erste Generation der Kriminalbiologen – im Kaiserreich sozialisiert, zur Zeit der Weimarer Republik auf dem Höhepunkt der Theoriebildung – zwar einerseits vom nationalsozialistischen Regime profitierten und sie zu „cogs“ wurden, zu Zahnrädchen im nationalsozialistischen System, wie Liang treffend formuliert, dass andererseits aber ihr Engagement „between amiable passivity and lukewarm enthusiasm“ schwebte – Liang diagnostiziert hier „lack of total commitment“ (Liang 1999: 251). Viernstein, Lenz, Edmund Mezger (1883-1962), Seelig, Neureiter: Sie alle unterstützten die Nationalsozialisten, ohne in führende politische Verantwortung aufzusteigen; ähnliches gilt für die zweite Generation der Kriminalbiologen (Liang 1999: 252). Die dritte Generation in der Kriminalbiologischen Gesellschaft hingegen erreichte Positionen mit größerer Verantwortung (Liang 1999: 252f.): Robert Ritter (1901-1951) etwa, der rassenhygienische Untersuchungen an Sinti und Roma durchführte, wurde Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung des Zigeunerwesens und 1941 zum Direktor des „Kriminalbiologischen Instituts der Sicherheitspolizei“ ernannt, das vor allem die sicherheitspolizeilichen Behörden wissenschaftlich beraten sollte. Während die erste Generation der Kriminalbiologen also eher den Boden bereitete, war es diese dritte Generation, die im „Dritten Reich“ die Kriminalbiologie auf breiterer Ebene umsetzte. Die erste Generation kämpfte um die Anerkennung und Institutionalisierung der Kriminalbiologie und benutzte die Kriminalbiologische Gesellschaft als Sprachrohr. Dagegen brauchten die späteren Kriminalbiologen diese Unterstützung nicht mehr; „once criminalbiology was adopted as the de facto official criminological theory of the Third Reich, criminal-biologists were able to avail themselves to a growing number of criminal-biological institutions directly under government control“ (Liang 1999: 253f.). Vor diesem Hintergrund kann die Entwicklung der Karriere Viernsteins im „Dritten Reich“ eingeordnet werden. Einen ersten öffentlichen Versuch, die Brauchbarkeit der Kriminalbiologischen Untersuchung und ihrer Ergebnisse für die Strafpolitik des neuen Regimes zu verdeutlichen, unternahm Viernstein im September 1933 mit einem Vortrag vor Medizinalbeamten. In acht Punkten zeichnete er ein Bild vom Erfolg der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle, das sich inhaltlich, in Bezug auf Praxis und Ziele von Untersuchung und Sammelstelle, kaum von früheren Publikationen unterschied. Es frappiert jedoch die hier verwendete nationalsozialistisch geprägte Terminologie und sein überdeutliches Abrücken von den Zielen des Strafvollzugs in der Weimarer Republik. So habe das Bayerische Justizministerium 1933 erneut strengere Maßstäbe an einen Aufstieg von

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Gefangenen in eine höhere Stufe des Stufenstrafvollzugs verfügt und Wahl und Ausmaß der Vergünstigungen angepasst, indem einige in der Praxis eingeschlichene „Übertreibungen und Überspitzungen“ abgestellt worden seien. Zudem habe man mit der Vorstellung einer restlosen Besserungsfähigkeit des Verbrechers – „einer Vorstellung, die wir in Bayern übrigens nie gepflegt hatten“ – unzweideutig aufgeräumt. Abgesehen davon, dass Viernstein damit seinem Ministerialdirektor Degen direkt widersprach, der diese Besserungsfähigkeit mit pädagogischem Enthusiasmus ja noch 1926 vertreten hatte, bevor auch er in die resignative Haltung gegenüber Gewohnheitsverbrechern umschwenkte, setzte diese Abgrenzung vom Strafvollzug der Weimarer Zeit den Ton für den weiteren Vortrag. So machte Viernstein gleich im ersten Punkt (Viernstein 1933b: 27f.) klar, dass der Stufenstrafvollzug „trotzdem er in der Sturmzeit der Umsturznachwehen geboren wurde, doch kein Kind der Novembertage 1918“ sei, sondern weitaus älter. Man dürfe ihn nicht an die „marxistische Zeitverirrung“ binden; er sei keineswegs als Sieg der „Umwelttheoretiker“, die Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen sowie die „Schuld der Gesellschafts- und Wirtschaftszustände am Verbrecherlos predigten“, zu bezeichnen. Bayern habe seinen Stufenstrafvollzug nicht aus dieser Denkrichtung heraus geschaffen, ihn vielmehr auf die Grundlage einer naturwissenschaftlichen Untersuchung gestellt, wie der Arzt im zweiten Punkt (Viernstein 1933b: 28f.; dort auch alle Zitate) mit der Darstellung der Untersuchungspraxis zu verdeutlichen suchte. Im dritten Punkt (Viernstein 1933b: 28-33; dort auch alle Zitate) über die Berechtigung der sozialen Prognose griff Viernstein erneut die „marxistische Welt- und Wirtschaftsauffassung“ an, die versuche, aus unverbesserlichen Gesellschaftsfeinden soziale Menschen zu machen und der Meinung sei, dass die Schuld weit mehr bei der Gesellschaft als beim einzelnen Verbrecher liege. Die Invektive richtete sich wohl gegen Liepmann und seine Schüler, denn Viernstein merkte an, dass die kriminalbiologische Praxis in Bayern dem Vorwurf ausgesetzt gewesen sei, mit der sozialen Bewertung der Gefangenen auf biologischer Basis „finsteren, ja mittelalterlichen Anempfehlungen“ zu folgen. Jedoch: „Die bayerische Justizverwaltung ist fest geblieben. Nach dem Siege des nationalsozialistischen Staatsgedankens, jetzt, im Zeichen der rassischen Erneuerung des Volkes, ist die Streitfrage der Besserungsfähigkeit oder Unverbesserlichkeit der Verbrecher in dem von uns stets vertretenen Sinne der allseitigen biologischen Erforschung und Wertung der Persönlichkeit endgültig entschieden.“

Diese biologische Erforschung habe ergeben, dass mindestens die Hälfte der Gefangenen ungünstig prognostiziert werden müsse, wohingegen – „bei recht optimistischer Abschätzung“ – nur etwa zwanzig Prozent den pädagogischen Anstrengungen im Stufenstrafvollzug zugeführt werden könnten. Die unverbesserlichen Gefangen aber müssten „ohne Sentimentalität und Humanitätsduselei“ der Sicherungsverwahrung unterworfen werden; für vie-



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le werde „auch im Sinne der Erneuerung und Aufartung des Volkes die Verhinderung der Fortpflanzung durch Sterilisation“ geboten sein, denn es könne bei der „heutigen Notlage des Staates und zahlloser Volksgenossen“ nicht verantwortet werden, „daß Aufwendungen im Strafvollzug und nach ihm für Leute gemacht werden, die nach allen Einsichten in ihre Person und Artung eben Ballastexistenzen sind“. Da sich unter den Verbrechern „bekanntlich“ eine große Zahl „Minderwertiger“ mit der „unerfreulichen Eigenschaft der Neigung zu verbrecherischen Entgleisungen“ fänden, werde deutlich, dass das Verbrecherproblem als Teil des „Minderwertigenproblems“ zu erachten sei. Dieses Problem sei staatsökonomisch nur durch eine „Herabdrückung der Lasten und Aufwendungen zu lösen, indem die Träger derartiger Eigenschaften unter tunlichster Ausnutzung ihrer Arbeitskraft auf das Daseinsminimum gesetzt werden“. „Rassisch“ sei das Problem nur dadurch zu lösen, indem „die Ausschaltung solcher Anlagenträger von der Weitergabe ihres abträglichen Erbgutes eine Verschlechterung der blutmäßigen Zusammensetzung des Volkskörpers und eine Herabdrückung unseres kulturellen Niveaus und unserer Volkskraft dauernd unmöglich macht.“ Der Verlust an humaner Orientierung (Ralph Giordano) manifestiert sich hier nicht nur in der Rede über die angedeutete „Ausmerzung“ von „Trägern abträglicher Erbanlagen“, sondern auch darin, dass der Wert eines Menschen auf das empfohlene Daseinsminimum und auf die „tunlichste“ Ausnutzung der Arbeitskraft dieser „Ballastexistenzen“ reduziert wird. Unter den Punkten vier und fünf (Viernstein 1933b: 33-35) bekräftigte Viernstein die Brauchbarkeit der Ergebnisse der Kriminalbiologischen Untersuchung hinsichtlich der Auskunftserteilung einerseits durch den Gefangenen selbst, andererseits durch die Heimatbehörden. Punkt sechs (Viernstein 1933b: 36f.; dort auch alle Zitate) war der Versuch, die Ergebnisse der Untersuchungen und die Gutachten als Hilfsmittel im Strafprozess zu empfehlen; das Gutachten werde dabei „selbstverständlich eine Rechtshilfe und keine Verbrecherhilfe sein. Ihr Ziel darf niemals in einer Infragestellung der Schuld des Verbrechers gelegen sein“ – Kriminalbiologie bedeute daher auch niemals eine Gefahr für Recht und Rechtsempfinden des Volkes. Auf ähnliche Weise argumentierte Viernstein hinsichtlich der Organisation des Kriminalbiologischen Dienstes in Bayern unter Punkt sieben (Viernstein 1933b: 37-40; dort auch alle Zitate) und verwies auf die erzielten Leistungen und die bestehende funktionierende Struktur. Zudem wies er daraufhin, dass das Material der Sammelstelle der Forschungsanstalt für Psychiatrie für weitere Forschungen zugänglich gemacht werde. Den wohl wichtigsten Faktor, die Kriminalbiologische Untersuchung dem neuen Regime anzudienen, setzte Viernstein ans Ende seines Vortrags. Unter Punkt acht (Viernstein 1933b: 40-42; dort auch alle Zitate) skizzierte er, auf welche Weise die Persönlichkeitsuntersuchung von Verbrechern als Ausgangspunkt und Teil der biologischen Bestandsaufnahme des „Gesamtvolkes“ und der Klassifizierung nach ihrem „Erbwert“ verstanden werden kann. Die Untersuchung und die Sammelstelle hätten gezeigt, wie eine so

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gut abgrenzbare Bevölkerungsgruppe wie die Verbrecher und ihre Verwandtschaft nach biologischen Kriterien erfasst und registriert werden könnten; im Übrigen ohne nennenswerten Aufwand an Geldmitteln mit dem vorhandenen Beamtenpersonal. Die erbbiologische Bestandsaufnahme müsse im Sinne einer „biologischen Volkserneuerung“ vorgenommen werden, denn trete keine Wendung ein, „so gehen wir nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ zurück und zugrunde. Es muß alles getan werden, um den heutigen Tiefstand in rassischer und prokreativer Hinsicht zu beheben“. Dabei könne auf den günstigen Erfahrung mit der Kriminalbiologischen Untersuchung in Bayern aufgebaut werden. Viernstein entwarf sodann die Vision, wie die erbbiologische Bestandsaufnahme – ausgehend von der Registrierung der „verbrecherischen Klasse“ – weitergeführt werden könne: Gruppe für Gruppe der abgrenzbaren Bevölkerungsschichten könne einer gleichgearteten Untersuchung zugeführt werden, wobei man in erster Linie jene herausgreifen müsse, „welche durch die Eigenart ihres sozialen Auftretens die öffentlichen Lasten vermehren, ohne dem Staate das Gegengeschenk eigener ersprießlicher bürgerlicher Leistungen“ zu bieten. Diese „Elemente samt ihren Stämmen“ seien es auch, die „erfahrungsgemäß in ihrer überwiegenden Mehrzahl ungünstige Erbanlagen besitzen und nicht nur bloß staatsökonomisch unerfreulich, sondern noch dazu blutmäßig-rassisch schädlich sind“. Welche „Elemente“ Viernstein dabei im Auge hatte, ergänzte er sogleich: Fürsorgezöglinge, Epileptiker, Taubstumme, „Kretinanstaltsinsassen“, professionelle Gemeindearme, amtsbekannte Trinker „usw.“. Außerdem sei es von höchster Bedeutung, durch den Ausbau des schulärztlichen Dienstes innerhalb von ein, höchstens zwei Schulgenerationen das gesamte Volk biologisch zu untersuchen und erbwertlich zu qualifizieren. Viernstein schließt mit seinem bekannten Hinweis darauf, dass den Ärzten bei dieser Aufgabe die entscheidende Rolle zukomme. Viernstein verfolgte auch weiterhin den Weg, in der wissenschaftlichen Welt und im Staatsdienst Fuß zu fassen. Seine universitäre Karriere setzte in der Tat auch erst nach 1933 ein. Mit der Juristischen Fakultät der Universität München, besonders zu dem dortigen Strafrechtler Edmund Mezger, unterhielt Viernstein enge Verbindungen, überließ er diesem doch auf Anfrage Abschriften von kriminalbiologischen Gutachten. Ab 1933 erhielt Viernstein einen Lehrauftrag für Kriminalbiologie an der Universität, der ab 1934 auch vergütet wurde.64 Den Höhepunkt dieser wissenschaftlichen Vernetzung innerhalb des rassen- und erbbiologischen Denkkollektivs stellte sicherlich die Ernennung Viernsteins zum „ordentlichen Honorarprofessor“ an der Juristischen Fakultät der Universität München im Jahr 1936 dar. Ebenfalls schon 1933 war er ja zum für das Gesundheitswesen zuständigen Ministerialrat im Innenministerium benannt worden. Hier war er für die Besetzung von Stellen an den staatlichen Gesundheitsämtern zuständig.

64 BHStA, MK 35772: Bayerisches Kultusministerium an den Rektor der Universität München v. 11.5.1934.



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Ziel Viernsteins blieb aber immer, die Kriminalbiologische Untersuchung nicht nur über Bayern hinaus bekannt zu machen, sondern zur reichsweiten Einführung von Persönlichkeitsuntersuchungen nach dem Vorbild seiner Untersuchung zu empfehlen. Die Umstände dafür waren günstig, wie im Abschnitt über die Kriminalbiologie im „Dritten Reich“ gezeigt wurde: Der Kriminalbiologie und mithin der kriminalbiologischen Untersuchung von Gefangenen wurde im „Dritten Reich“ immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt, nicht zuletzt dank Viernsteins tätiger und bisher von der Forschung offenbar übersehener Nachhilfe: So hatte der Arzt bereits im Juni 1933 eine Denkschrift zum Thema „Kriminalbiologie und Erneuerung der Rechtsordnung“ an den Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz in den Ländern und für Erneuerung der Rechtsordnung an die Landesjustizverwaltungen übermittelt, in der er in bekannter Weise die Ziele und die Vorzüge der bayerischen Einrichtung pries Viernstein (1933a). Viernstein sprach darin neben den Zwecken der Kriminalbiologie auch das Thema der erbbiologischen Bestandsaufnahme der Bevölkerung sowie die Aufgabe des Stufenstrafvollzugs an, der – jedoch ohne „Schwächlichkeit und Sentimentalität“ – beibehalten werden solle. Entlassenenfürsorge sowie die Sicherungsverwahrung und die Sterilisation unverbesserlicher Verbrecher wurden mit den bekannten rassenhygienischen Argumenten thematisiert. Zentraler Punkt der Denkschrift war jedoch der Vorschlag, zur Sammlung der Daten einzelner Verbrecher und zur erbbiologischen Erfassung der Bevölkerung Länderzentralen wie die Kriminalbiologische Sammelstelle in Bayern zu schaffen. Der Reichskommissar verschickte die Denkschrift dann erst im August desselben Jahres an die Landesjustizverwaltungen mit der Bitte um baldige Stellungnahme und kündigte an, dass die Schrift Gegenstand einer Besprechung der Landesjustizminister werden würde. Flankiert wurde diese Denkschrift im September 1933 von einer Pressenotiz des Bayerischen Justizministeriums über die „Schaffung kriminalbiologischer Sammelstellen nach bayerischem Vorbild“. Als Aufgaben dieser Sammelstellen in den Ländern wurden genannt: Unterstützung der Gerichte bei der Beurteilung der Persönlichkeit des Rechtsbrechers, Offenlegung der Antriebe und Hemmungen, die den ererbten erworbenen Eigenschaften entsprängen, wissenschaftliche Begründung für eine Einordnung in den Stufenstrafvollzug oder für die Sicherungsverwahrung. Die Einrichtung von Untersuchungs- und Sammelstellen sei auch über das Gebiet des Strafrechts hinaus im Dienst der Volksgesundheit wichtig, da sie neben den Rechtsbrechern auch andere Träger minderwertiger Anlagen, wie Fürsorgezöglinge, gewisse Psychopathen und Epileptiker, Geisteskranke und Taubstumme in den Kreis ihrer Betrachtungen zieht und damit Unterlagen für entsprechende eugenische Maßnahmen schaffe.65

65 BHStA, MJu 24262: Pressenotiz aus bayerischem Justizministerium: „Schaffung kriminalbiologischer Sammelstellen in allen deutschen Ländern nach bayerischem Vorbild“ v. 7.9.1933.

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Dann passierte offenbar erst einmal nichts. Im Januar 1934 richtete der Präsident des Reichsgesundheitsamts, Hans Reiter (1881–1969), eine Denkschrift seines Amtes über die Errichtung eines kriminal-biologischen Dienstes im Deutschen Reich mit „Vorschlägen für die Organisation und Durchführung einer kriminal-biologischen Untersuchung der Gefangenen in den deutschen Strafanstalten“ an den Reichsinnenminister Wilhelm Frick (18771946).66 Darin wies Reiter darauf hin, dass schon im Mai 1933 eine Denkschrift von Viernstein mit ähnlichem Inhalt vorgelegen habe, er – Reiter – aber nicht wisse, was daraus geworden sei. Auch das Reichsgesundheitsamt schlug in der Denkschrift die Schaffung von Kriminalbiologischen Sammelstellen in den Ländern vor, wobei es sich in der Ausgestaltung von Struktur und Zielen der Sammelstellen überaus eng an das bayerische Modell anlehnte. Die nächste Maßnahme hinsichtlich der Kriminalbiologischen Untersuchung erfolgte erst 1935, als das Reichsjustizministerium die Strafanstalten Preußens anwies, Kriminalbiologische Untersuchungen nach bayerischem Vorbild unter Berücksichtigung der Gesetze „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und „gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherheit und Besserung“ durchzuführen, um geistig Minderwertige, Sittlichkeitsverbrecher, Berufs- und Gewohnheitsverbrecher zu entdecken (Wetzell 2000: 184). 1936 erlebte Viernstein eine Stärkung seiner Position, als das Reichsjustizministerium die Generalstaatsanwälte bei den Oberlandesgerichten anwies, der Kriminalbiologischen Sammelstelle uneingeschränkt Auskünfte aus dem Strafregister zu erteilen und die Staatsanwaltschaften zur Zusammenarbeit mit der Sammelstelle zu bewegen.67 Obwohl das Projekt, die Kriminalbiologische Untersuchung reichsweit einzuführen, zunächst nicht umgesetzt wurde, blieb Viernstein dennoch ein gefragter Mann: Im November 1934 erhielt er, wahrscheinlich vom Reichsjustizministerium, den Auftrag, ein Gutachten über den „Widerruf von Einbürgerungen“ jüdischer deutscher Staatsangehöriger zu schreiben. Viernstein befürwortete als „Arzt und Rassensachverständiger“ die Ausbürgerung der „seit 1918 bei uns aufgetauchten Ostjuden“ und zudem die Überprüfung aller seit 1870/71 eingewanderten Juden (Burgmair et al. 1999: 278). Durch seine breite ‚Expertise‘ wurden auch höhere Stellen auf Viernstein aufmerksam: Ebenfalls im November 1934 bekam er von Reiter das Angebot, eine eigene Abteilung für Erbgesundheits- und Rassenpflege im Reichsgesundheitsamt in Berlin zu übernehmen. Viernstein lehnte jedoch ab, da die Ausbildung seiner Kinder in München nicht unterbrochen werden sollte und er außerdem eine finanzielle Schlechterstellung befürchtete. Auf Viernsteins

66 BHStA, MJu 24262: Präsident des Reichsgesundheitsamts (Prof. Reiter) an den Reichsinnenminister: „Denkschrift des Reichgesundheitsamtes über die Errichtung eines kriminal-biologischen Dienstes im Deutschen Reich“ v. 11.1.1934. 67 BHStA, Kriminalbiologische Sammelstelle 24: Schreiben des Reichsjustizministers an die Generalstaatsanwälte bei den Oberlandesgerichten v. 13.1.1938 (zit. n. Burgmair et al. 1999: 281, Anmerkung 103).



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Bedingung, die Stelle nur anzutreten, wenn die „Höchstbesoldung“ zugesichert werden würde, lehnte Reiter ab (Burgmair et al. 1999: 278-280). 1937 war es soweit: Der reichseinheitliche Kriminalbiologische Dienst wurde mit der Aufgabe, im Sinne der Erb- und Rassenpflege Wesensart und erbliche Belastung von Verbrechern zu untersuchen, eingerichtet; insgesamt wurden 73 Untersuchungs- und neun Sammelstellen aufgebaut. Institutionell war der Dienst mit anderen staatlichen Einrichtungen verbunden; die polykratische Struktur des nationalsozialistischen Staates machte dies auf der einen Seite möglich, auf der anderen Seite verhinderte das eine vollständige Zentralisierung. Vor allem jene Stellen innerhalb der Reichsjustizverwaltung, die mit rasse- und erbbiologischen Fragen beschäftigt waren, standen in Verbindung mit der Kriminalbiologie; im Reichsgesundheitsamt etwa das Kriminalbiologische Institut der Sicherheitspolizei von Ritter. Damit ging jedoch ein Teil der Kriminalbiologie in den Einflussbereich des Polizei über. Im Sinne einer vorbeugenden Verbrechensbekämpfung wurde eine Vielzahl von kriminalbiologischen Gutachten angefordert. Für die Untersuchung wurde ein standardisierter Fragebogen verwendet, der sich eng an den bayerischen anlehnte. Das Design der Untersuchung selbst wurde kaum verändert; es wurde im Umfang reduziert (Simon 2000: 185), inhaltlich kam bei der Einschätzung der Gesamtpersönlichkeit der Punkt hinzu, den Verbrecher als „vorwiegend anlage- oder vorwiegend umweltbedingt“ zu klassifizieren. Die Veränderungen, die sich nach dem „Gewohnheitsverbrechergesetz“ und nach den „Nürnberger Rassegesetzen“ aus dem Jahr 1935 ergaben, bestanden zum einen darin, dass nun neue Delikte wie etwa „Rassenschande“ in den Akten auftauchen und dass eruiert werden sollte, ob der Untersuchte die „Volksgemeinschaft“ schädige, ein „Volksschädling“ sei. Zum anderen kam der kriminalbiologischen Untersuchung bei der Entscheidung für die Anordnung von Sicherungsverwahrung für Gewohnheitsverbrecher eine zentrale Rolle zu. Seitdem die Möglichkeit zur Verwahrung mit dem Gewohnheitsverbrechergesetz eingeführt worden waren, nahmen die gutachterlichen Empfehlungen, den Untersuchten nach der Strafe so lange zu verwahren, bis man glaubte, er stelle keine Gefahr mehr für die öffentliche Sicherheit bzw. für die „Volksgemeinschaft“ dar, endemisch zu (Wachsmann 2001: 169). Unter den Bedingungen des Krieges hatte diese Empfehlung in der Regel tödliche Folgen, da neben der vermehrten Anwendung der Todesstrafe vor allem die Einweisung in Konzentrationslager zur „Vernichtung durch Arbeit“ erfolgte (Wachsmann 2001: 178-181). Mit der Einrichtung des reichsweiten Dienstes war das Ziel verbunden, jeden Verbrecher zu untersuchen, was jedoch aufgrund des gleichen Problems wie seinerzeit in Bayern, dem Mangel an Zeit und Personal, scheiterte (Wetzell 2000: 184): Die Zahl der Untersuchungen blieb weit hinter den Erwartungen zurück, vor allem der Zweite Weltkrieg brachte die Arbeit weitgehend zum Erliegen. An eine ‚geordnete‘ Arbeit der Kriminalbiologischen Sammelstelle war nach Ausbruch des Krieges bald nicht mehr zu denken. So bestehen die meisten Akten der Jahrgänge ab 1939 der Münch-

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ner Sammelstelle aus angeforderten Gutachten, die auf der Grundlage älterer, zum Teil erheblich älterer, Untersuchungen zusammen‘gestückelt‘ waren; Bögen neuer Untersuchungen gibt es so gut wie keine mehr.68 Diese Gutachten wurden vor allem von Viernstein selbst und von seinem Stellvertreter in der Kriminalbiologischen Sammelstelle, dem allerdings schon bald verstorbenen Arzt im Gefängnis München-Stadelheim, Martin Riedl, erstellt. Das Besondere an diesen Gutachten war, neben der Tatsache, dass sie – wie schon immer üblich bei Gutachten für eine anfordernde Stelle – ohne Ansicht des betreffenden Verdächtigen oder Gefangenen allein aufgrund früherer Kriminalbiologischer Untersuchungen und der Berichte über die Führung der Person abgeben wurden auch, dass diese Gutachten von den repressiven Sondergerichten angefordert wurden. Während des Krieges war Viernstein auch mit der Gutachtenerstattung für Militärgerichte im ganzen Reich beschäftigt; leider sind, wie Burgmair, Wachsmann und Weber konstatieren, Einzelheiten dieser Tätigkeit derzeit nicht bekannt.69 Hier sei jedoch eine plausible Vermutung bezüglich der Gründe, warum Viernstein für diese Gutachtenerstattung herangezogen wurde, erlaubt: Im März 1939 hatte er vor der Militärärztlichen Akademie Berlin einen von der Forschung bislang nicht beachteten Vortrag über die „Die Behandlung Krimineller“ aus „heerespsychologischer Sicht“ gehalten, eine Sicht, die er insofern für bedeutsam hielt, da „erstens gewisse vorbestrafte Personen dem Heere angehören können und zweitens heeresangehörige Personen sich strafgesetzliche Verstöße zuschulden kommen lassen oder sonstwie durch kriminelle Geneigtheit in der Truppe Schwierigkeiten bereiten“ (Viernstein 1939: 1). Zunächst stellte er auf bekannte Weise die Einrichtung des Stufenstrafvollzugs und der Kriminalbiologischen Untersuchung in Bayern dar, um sich dann den strafhäuslichen Reaktionstypen (dem Auflehnungs- oder Rebellentyp, dem Unterwerfungstyp, dem Opportunitätstyp und dem Versagertyp) zu widmen (Viernstein 1939: 5f.). Der Hinweis auf diese strafhäuslichen Reaktionstypen in einem Vortrag über die (potentielle) Kriminalität von Heeresangehörigen war nachvollziehbar, stellten diese doch Reaktionsweisen auf ein Disziplin- und Gehorsamssystem, eben das des Strafvollzugs, dar, und schienen für Viernstein auf andere, entsprechende Systeme wie etwa das Militär, übertragbar, „sobald das Dasein in diesem als subjektiv irgendwie schwierig empfunden wird“ (Viernstein 1939: 6). Zum Beleg dieser Behauptung stützte sich Viernstein auf die psychologischen Untersuchung von 112 Strafgefangenen, die 1918 wegen militärstrafrechtlicher Vergehen wie Feigheit vor dem Feind, unerlaubte Entfernung, Selbstverstümmelung, Meuterei, Gehorsamsverweigerung, tätlichen Angriffe

68 Vgl.: BHStA, die Akten der kriminalbiologischen Untersuchung (eingesehen: Jahrgänge 1939, 1940, 1941). 69 BHStA, Kriminalbiologische Sammelstelle 24: Schreiben Viernsteins an den Generalstaatsanwalt in München v. 29.4.1944 (zit. n. Burgmair et al. 1999: 283, Anm. 110).



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gegenüber Vorgesetzten, Diebstahl von Heeresgut, Plünderung, Mord an Zivilpersonen oder Vaterlandsverrat in Straubing einsaßen. Von diesen sei in 41 Fällen die Familie mit Kriminalität belastet, seien 31 persönlich belastet durch familiäre Psychopathie, 6 durch Geistesstörung der Eltern, 35 durch elterlichen Alkoholismus, wobei sich oft mehrere der Belastungsmomente in der gleichen Familie gehäuft zeigten (Viernstein 1939: 8). Psychologisch gesehen sei allen „die in Verbrechen umgesetzte Unlust, weiterhin in soldatischer Pflicht sich fürs Vaterland einzusetzen“ gemeinsam gewesen, und es sei kaum zweifelhaft, „daß ein künftiger Krieg wieder solche Fehlgänger zeitigen wird. Sie stecken in einzelnen Exemplaren wohl schon im Soldatenrock oder kommen in ihn, sobald mobil gemacht wird“ (Viernstein 1939: 9). Viernstein folgte erneut seiner üblichen Strategie, vor seinem Publikum, hier eben vor Militärärzten, ein Bedrohungsszenario aufzubauen, um sogleich eine Lösung anzubieten (Viernstein 1939: 9f.): Zunächst fragte er: „Was kann die Heeresleitung tun zur richtigen Erkennung, Behandlung und Erziehung oder aber rechtzeitigen Beseitigung solcher Elemente?“, um zu empfehlen, unauffällige ärztliche Beobachtungen der Mannschaften im Bereich der psychologischen Erfassung und Wertung einzuführen. Trete dann ein Fehlverhalten auf, sei dies nicht nur zu ahnden, sondern es könne dann auch in einer ärztlich-psychiatrischen Untersuchung „heeresprognostisch“ geklärt werden, ob das Verhalten grundsätzlich auf „Heeresdienstunwilligkeit“ oder „-willigkeit“ zurückgeführt werden könne. Überflüssig zu erwähnen, dass Viernstein im „heeresdienstunwilligen“ Typus die größere Gefahr für Ordnung, Disziplin und Sicherheit der Truppe sah, zumal er diese in die Nähe des „Typus der echten Gesellschaftsfeinde“ stellte. Der Vortrag stellte den Versuch Viernsteins dar, die Kriminalbiologische Untersuchung bzw. ihre Methodik auch in den Dienst des Militärs und der Heeresleitung zu stellen. Deutlich wird dies in seiner Bilanzierung, die Forderungscharakter hat (Viernstein 1939: 14): Heeresangehörige, die zu kriminellen Entgleisungen neigten, bedürften einer psychiatrisch-biologischen Sonderuntersuchung und Typisierung, um sie einer wesensangepassten Behandlung und Nacherziehung zuzuführen. Diese habe sich in den Grenzen der militärischen Normen zu halten. Psychopathen unter den Soldaten dürften keine besondere Behandlung erfahren, da gerade sie „durch scharfes Anfassen psychisch gut beeinflusst“ werden könnten, während Milde als Schwäche gedeutet werde. Und die Methodik der Kriminalbiologischen Untersuchung sowie kriminalbiologische Erkenntnisse und Erfahrungen seien auch gegenüber Heeresangehörigen ein empfehlenswerter technischer Behelf, der die individuelle Diagnostik zudem mit rassenhygienischen und sozialwertlichen Betrachtungen verbände und so die unmittelbare Beziehung des Individuums zur Gemeinschaft beleuchte. Betrachtet man die Gutachtertätigkeit Viernsteins für die Militärgerichte vor diesem Hintergrund, so kann plausibel vermutet werden, dass seine Strategie zumindest ansatzweise von Erfolg gekrönt war.

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Kommen wir abschließend wieder zurück zur Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle. Nach dem Tod Riedels versuchte Viernstein noch, einen Wissenschaftler aus der Forschungsanstalt für die Aufgaben in der Kriminalbiologischen Sammelstelle zu gewinnen, jedoch ohne Erfolg, so dass er die gesamte Gutachterarbeit dann selbst übernahm (Burgmair et al. 1999: 282). Diese setzte er auch fort, nachdem er zum 1. April 1942 in den Ruhestand gegangen war; er erhielt dafür eine Jahresvergütung von 4.800 Reichsmark.70 Bei den schweren Luftangriffen auf München war Anfang 1943 das Gebäude der Forschungsanstalt beschädigt worden, so dass Viernstein die Kriminalbiologische Sammelstelle zunächst in das Amtsgericht München verlegte, dann, im Frühjahr 1944, endgültig in das Zuchthaus Kaisheim. In Kaisheim hatte seine Karriere als Gefängnisarzt und Forscher begonnen, hier nun endete sie auch (Burgmair et al. 1999: 283): Viernstein erlebte das Kriegsende in Kaisheim, im September 1946 wurde er wegen seiner Mitgliedschaft in der NSDAP aus dem Lehrkörper der Universität München entlassen; auch verlor er den Titel als Honorarprofessor. Viernstein habe, so Burgmair, Wachsmann und Weber in ihrem biografischen Aufsatz zu Viernstein, unterstützt von den amerikanischen Besatzungsbehörden seine Gutachtertätigkeit bis 1947 fortgesetzt; leider ist bisher über diese etwas überraschende Wendung wenig mehr bekannt. Viernstein starb im Alter von 70 Jahren am 28. Mai 1949 in München. Politisch ist Viernstein nur schwer einzuschätzen. Vor dem Eintritt in die NSDAP war er von 1927 bis zu ihrer Auflösung 1933 Mitglied der konservativen Bayerischen Volkspartei (BVP). Sein familiärer Hintergrund lässt erkennen: „Born into a Catholic family, Viernstein evolved into a particular breed of educated, middle-class Bavarian conservative: a staunch monarchist with extreme conservative moral views, yet with an anti-clerical attitude at the same time“ (Liang 1999: 86f.). Viernstein gehörte also der konservativen Elite der Weimarer Republik an, die – in der Gründerzeit geboren – nationalen und autoritären Traditionen verhaftet war und die Republik ablehnte (Simon 2000: 108; Burgmair et al. 1999: 277-283). Diese Zurechnung kann präzisiert werden: Nicht nur lässt sich Viernstein dieser konservativen Elite zurechnen, vielmehr entsprachen Viernsteins rassenhygienische Vorstellungen dem politischen Einstellungsprofil der deutschen Eugeniker und Rassenhygieniker der Zeit, das als nationalistisch, völkisch, rassistisch oder nationalsozialistisch beschrieben werden kann (Weingart et al. 1996: 363). Diese um 1870 geborene Elite stand der nationalistischen, nationalsozialistischen Bewegung nahe, sie musste sich nicht überwinden. Tatsächlich gehörte Viernstein sowohl hinsichtlich der politischen Haltung wie auch hinsichtlich der Ziele, die er mit der Rassenhygiene verband, in dieses Denkkollektiv. Die von Viernstein vertretenen Urteile über die Wertigkeit verschiedener sozialer Schichten und ihrer Angehörigen unterscheiden sich

70 BHStA, Kriminalbiol. Sammelstelle 24: Schreiben d. Generalstaatsanwalts an d. Reichsjustizminister v. 3.3.1942 (zit. n. Burgmair et al. 1999: 282, Anm. 107).



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nicht von denen anderer Rassenhygieniker – unabhängig von deren politischen Couleur, denn „selbst dort, wo die ‚Eugeniker‘ sich der politischen Linken zurechneten wie z.B. Grotjahn oder Schallmayer, blieben sie […] ‚biologisch‘ orientiert“ (Weingart et al. 1996: 363). Diese Werturteile resultierten nicht zuletzt aus einem Elitedenken, das in den eugenischen Postulaten einen vorgeblich wissenschaftlichen Ausdruck fand und die „Mandarine“ auch für politische und staatliche Interessen anfällig werden ließ (Weingart et al. 1996: 363; siehe zu den Gelehrten auch Ringer 1987). Deren Elitedenken traf beim Praktiker Viernstein, der dieser Gelehrten-Gruppe wegen seiner Vernetzung im wissenschaftlichen, im eugenischen Denkkollektiv zugerechnet werden kann, auf ein paternalistisches Beziehungsverständnis, die Strafverfolgungsbehörden und Gefängnisbeamte gegenüber Verbrechern und Strafgefangenen üblicherweise an den Tag legten. Bei Viernstein zeigt sich diese Mischung aus Elitedenken und paternalistischer Haltung, die geprägt zu sein schien sowohl von philanthropischer „Menschenliebe“ als auch von ordnungspolitischer „Zucht“, in seinen Gutachten. Was sich allerdings in den Schriften Viernsteins bis 1933 nicht unbedingt beobachten lässt, ist antidemokratisches Denken bzw. eine eindeutige Abkehr von liberalen Positionen in Strafrecht und Strafvollzug der Weimarer Republik. Erst nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten scheint sich Viernstein konzeptionell und terminologisch den neuen Verhältnissen angepasst zu haben, wenngleich ihm die Anpassungsleistung aufgrund der vorhandenen Nähe nicht sonderlich schwer gefallen sein wird.

Mapping the Criminal – Die Kriminalbiologische Untersuchung

Es frappiert im Design der Kriminalbiologischen Untersuchung die Abwesenheit genuin biologischer Untersuchungspunkte. Gefragt wurde nach der persönlichen und sozialen Entwicklung des Gefangenen, vor allem nach seiner charakterlichen Disposition. Selbst die Bestimmung der elterlichen und verwandtschaftlichen Verhältnisse wurde in Abhängigkeit vom Einzelfall ausgelegt: Fast ebenso oft wie auf die Anlage rekurrierten die Untersucher im genealogischen Bereich auf die Umwelt des Gefangenen – zumeist auf eine Mischung aus beidem. Und auch die anthropometrische Vermessung der Gefangenen diente nicht zur Herleitung oder Erklärung kriminogener Ursachen, sondern der quantitativen Erhebung körperlicher Merkmale im Rahmen einer positivistischen anthropologischen Rassenforschung. Das eigentlich Biologische an der Kriminalbiologischen Untersuchung waren nur Viernsteins Prämisse, der Verbrecher sei als „biologisches Wesen“ in seinen psychischen und sozialen Ausprägungen durch das Verhältnis von AnlageUmwelt bestimmt, sowie die argumentative Konzentration des Arztes auf die Rassenbiologie: „Für den Biologen nun ist der Verbrecher seiner Natur und Wirksamkeit nach ein der Erhaltung der Norm, der Tüchtigkeit und Integrität der Rasse […] zuwiderlaufendes Phaenomen“ (Viernstein 1924: 5). Wie gezeigt, ließ Viernstein keinen Zweifel daran, dass Rassenbiologie und Strafrecht identische Ziele verfolgten, nämlich die selektive Aufgabe, ‚unerwünschte‘ Personen aus dem Gemeinschaftsleben auszuschalten. In Bayern sei für diese Aufgabe die Grundlage geschaffen worden, könnten doch mit dem Stufenstrafvollzug die kriminalpolitischen Maßnahmen des Staates – die Verwahrung Unverbesserlicher und die bessernde Behandlung Besserungsfähiger – umgesetzt werden. Viernstein bezog sich hierbei explizit auf die Typologie der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung aus dem Jahr 1897, die zwischen „Augenblicksverbrechern“, Verbrechern, bei denen die Fähigkeit zur Einordnung in die Gesellschaft geschwächt, und solchen, deren Einordnung nicht mehr zu erwarten sei, unterschied. Gleichwohl wendete er die Typologie in die rassenbiologische Richtung, wenn er postulierte, dass Verbrecher „biologisch-rassewissenschaftlich“ nach dem Grad ihrer „Rasse- bezw. Rechts- und Kulturschädlichkeit“ einzuteilen seien

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(Viernstein 1924: 5). Um aber die Besserungsfähigen und Unverbesserlichen im Gefängnis für den Stufenstrafvollzug identifizieren zu können, habe es eines Systems bedurft, das es erlaubte, zwischen den genannten Typen zu unterscheiden; dies sei zweifellos mit der Kriminalbiologischen Untersuchung gegeben. Zudem sei es möglich, mit der Untersuchung Anhaltspunkte für eine zweckdienliche, psychologisch-pädagogische Heilbehandlungen im Stufenstrafvollzug zu liefern. Viernstein war „durchaus optimistischer Einstellung“, beide Aufgaben mit der Untersuchung möglich zu machen. Auf die Erfüllung dieser Aufgaben waren die theoretische Fundierung der Kriminalbiologischen Untersuchung, ihr Untersuchungsdesign und die konkrete Durchführung des einzelnen Untersuchungsvorgangs ausgerichtet, die im folgenden Kapitel im Mittelpunkt stehen sollen. Die theoretische Fundierung der Kriminalbiologischen Untersuchung soll durch eine intensive Analyse der Schriften Viernsteins – sowohl seiner Denkschriften als auch seiner publizierten Aufsätze – nachvollzogen werden. Dabei soll zum einen die Breite der Bezugswissenschaften, jene von Burgmaier, Wachsmann und Weber konstatierte „eklektische Mischung“ wissenschaftlicher und pseudo-wissenschaftlicher Theorien, aufgezeigt werden, und zum anderen, dass in seinen Texten psychologisch-charakterologische Vorstellungen vom Verbrecher einen größeren Raum einnehmen als kriminalbiologische Theorien – ein Umstand, der in der Forschung bislang vernachlässigt wurde. Im Anschluss daran wird das Design der Untersuchung, die aus einem genealogischen, einem sozial-biografischen, einem charakterologischen und einem anthropometrischen Teil bestand, ausführlich vorgestellt. Dieses Design spiegelt – natürlich – das wider, was über ihre theoretische Fundierung gesagt werden kann: Den breitesten Raum nahmen auch in der Untersuchung selbst die charakterologischen Untersuchungspunkte ein. Die Biologie hingegen war zwar als vorgängige Prämisse empirisch unbelegtes (und unbelegbares) Argument der Untersucher präsent, nicht aber als eigenständiger Untersuchungsteil. Allein der genealogische Untersuchungskomplex weist in dieser Hinsicht eine Ambivalenz auf: Nicht im Design, wohl aber in der konkreten Durchführung der Untersuchung bzw. in der Interpretation der erfragten Informationen über die Verwandtschaft wurde ein Bezug zur Biologie hergestellt, zumeist in der eher schlichten Form des Anlage-Denkens, die Kriminalität eines Gefangenen aus den „schlechten Anlagen“, die sich in Kriminalität oder (Geistes)Krankheiten der Eltern und der Verwandtschaft offenbaren würden, abzuleiten – Biologie als Schicksal. Dies deutet bereits an, dass nicht nur auf den Aufbau der Untersuchung ein intensiver Blick zu richten ist, sondern vor allem auch auf ihre eigentliche Untersuchungspraxis im Einzelfall. Hier werden konkrete Einzelfälle und deren Beurteilung durch den jeweiligen Untersucher besprochen, wird der Blick auf vorgängige und auf die in der Untersuchung generierten Wissensinhalte gerichtet. Um gleichzeitig vom Einzelfall ab strahieren zu können, wurden fünfhundert, über einen langen Untersuchungszeitraum verteilte Untersuchungsakten ausgewertet. Auf breiter Quellenba-

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sis können verschiedene Aspekte genauer diskutiert werden, so etwa die Beobachtung Liangs, in der Kriminalbiologischen Untersuchung seien vornehmlich klassenspezifische und moralische Werturteile über den nonkonformen Außenseiter gefällt worden, oder die Bedeutung des Geschlechts der Strafgefangenen oder auch Rolle und Folgen der rassenbiologischen Prämissen Viernsteins für den einzelnen Strafgefangenen. Um die selektive Aufgabe im Strafvollzug, die der Kriminalbiologischen Untersuchung zugeschrieben wurde, erfüllen zu können, wurden Abstammung, Lebensführung und Persönlichkeit eines Verbrechers einer höchst detaillierten Untersuchung unterzogen, wurde der Verbrecherkörper bis in kleinste Detail fragmentiert und ausgemessen, um den kriminogenen Zusammenhängen am Fall eines konkret untersuchten Strafgefangenen auf die Spur kommen und für diesen eine soziale Prognose stellen zu können. Dieser Vorgang der Fragmentierung und Bezeichnung einzelner Zonen, die als kriminogen gedacht waren, im Rahmen einer kriminalbiologischen Untersuchung soll, wie dargelegt, als mapping the criminal bezeichnet und als Versuch verstanden werden, am Körper des Verbrechers, der auch für Viernstein nicht nur dessen tatsächlichen Körper, sondern auch dessen psychische Konstitution und – daraus abgeleitet – dessen Lebensführung umfasste, eine Landkarte der Abweichung zu zeichnen. Hintergründe und Praxis dieses Kartografierungsprozesses sollen nun ausführlich dargestellt werden.

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THEORETISCHE

F UNDAMENT

Bei der Konzeption der Kriminalbiologischen Untersuchung hatte sich Viernstein an medizinisch-psychiatrischen und kriminologischen Konzepten, an etablierten Verbrechertypen und -bildern sowie an sozialen und charakterologischen Kategorien orientiert, um die Strafgefangenen seinem Konzept vom „Verbrecher als biologischem Wesen“ gemäß, der in all seinen anlage- oder umweltbedingten körperlichen, psychischen und sozialen Ausdrucksformen zu erforschen sei, umfassend untersuchen, ausmessen und erfassen zu können und um die zentrale Aufgabe im Stufenstrafvollzug, die Identifizierung der besserungsfähigen und der unverbesserlichen Strafgefangenen, zu ermöglichen. Dieser ehrgeizige Anspruch hatte zur Folge, dass Viernstein vorgängiges Wissen aus den verschiedensten Disziplinen in das Untersuchungsdesign der Kriminalbiologischen Untersuchung einfließen ließ, die Hilfe bei der Bewältigung dieser Aufgabe versprachen: Aus Kriminologie, Psychiatrie, Charakterologie, Rassenhygiene, Anthropometrie und Kriminalanthropologie, Pädagogik, Moraltheologie. Wie schon eingangs zitiert, haben Burgmair, Wachsmann und Weber das Viernsteinsche Konzept einer Persönlichkeitsuntersuchung von Strafgefangenen als eine „eklektische Mischung verschiedener wissenschaftlicher und – auch nach damaligen Maßstäben – pseudo-wissenschaftlicher Theorien“ bezeichnet. Während bei diesen Autoren ein eher negativer Unterton anklingt, gibt Oliver Liang 

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der Mischung eine eher positive Note: „Perceiving himself as remaining true to Liszt‘s concept of a grand theory of criminology, Viernstein sought to combine all modern approaches for a total evaluation of the criminal in terms of his environment and heredity“ (Liang 1999: 96). In diesem Sinne soll auch hier Viernsteins Strategie, Wissen aus verschiedenen Disziplinen und Wissenschaften zur theoretischen Fundierung der Kriminalbiologischen Untersuchung heranzuziehen, verstanden werden. Denn Viernstein sprach der Kriminalbiologischen Untersuchung die Aufgabe zu, die verbrecherische Persönlichkeit naturwissenschaftlich „in ihren gesamten Lebensbeziehungen und Lebensäußerungen, also erbmäßigen Anlagen, umweltlichen Beeinflussungen, eigener körperlich-geistiger Beschaffenheit und Entäußerung zu untersuchen, das Verhalten, die ‚Reaktionsweise‘ der Persönlichkeit, allgemein und hinsichtlich bestimmter Augenblickslagen zu ergründen und weiterhin die Zugehörigkeit der Persönlichkeit zu etwaigen abgrenzbaren charakterlichen bzw. ‚lebensformlichen‘ Sondergruppen abzumessen.“ (Viernstein 1929: 7)

Dieses Programm bringt schon als Voraussetzung die synthetische Zusammenschau endogener und exogener Faktoren mit; es rekurriert auf die Vorstellung vom Verhältnis von Anlage und Umwelt als ein Verhältnis der geistig-körperlich-sozialen Disposition zur Umwelt, als ein Ausweis der Reagibilität eines Menschen auf äußerliche und wechselnde Sachverhalte. Des Weiteren sei die Kriminalbiologie Hilfswissenschaft der Strafrechtspflege, da sie am Einzelfall das beim verbrecherischen Geschehen gegebene Tätermoment aufklären solle. Zu diesen Zwecken habe die Kriminalbiologie aus verschiedenen Quellen zu schöpfen: aus der Erbbiologie und der Rassenhygiene, aus der Psychiatrie, aus der Psychologie und der Charakterologie und schließlich aus der Anthropologie (Viernstein 1929: 8). Diese Systematik seiner Bezugsdisziplinen veröffentlichte Viernstein 1929, im lehrbuchartigen dritten Band von „Der Stufenstrafvollzug“; er nennt sie „sonderwissenschaftliche Arbeitsbehelfe“, die für ihn zur Unterstützung der Kriminalbiologie und der Kriminalbiologischen Untersuchung herangezogen werden müssten. Es gilt nun, vor der Analyse des Fragebogens und der Betrachtung der konkreten Durchführung der Kriminalbiologischen Untersuchung, ihr theoretisches Fundament vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Aufgaben und „Arbeitsbehelfe“ der Kriminalbiologischen Untersuchung darzustellen. Dafür soll eine Auswahl der Denkschriften und wissenschaftlichen Aufsätze Viernsteins untersucht werden, in denen er seine Untersuchung wissenschaftlich, kriminalpolitisch und strafvollzuglich konzipierte, popularisierte und legitimierte. Als Grundlage der Gliederung dient die oben genannte, leicht veränderte Systematik; ihr lassen sich auch entsprechende Bezüge zu den genannten Disziplinen aus den Schriften zuordnen. Den Einstieg bildet ein längerer Abschnitt über Erbbiologie und Rassenhygiene. Länger deshalb, weil darin auch Viernsteins AnlageUmwelt-Denken, seine beiden zentralen Typisierungen von Verbrechern

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(einerseits in „vorwiegend endogene“ und „vorwiegend exogene Verbrecher“, andererseits in „besserungsfähige“ und „unverbesserliche Verbrecher“) sowie seine Vorstellungen von Erziehung und Unschädlichmachung, letztere eben vor allem rassenhygienisch begründet, angesprochen werden – Aspekte, die sich aus dem Bezug auf die Erbbiologie ergeben. Danach wird Viernsteins Rezeption der anderen Bezugswissenschaften vorgestellt: Charakterologie, Psychologie und Psychiatrie sowie Anthropometrie. Erbbiologie und Rassenhygiene Die Erbbiologie als Bezugswissenschaft der Kriminalbiologischen Untersuchung darzustellen und zu beurteilen, ist nicht ganz einfach, da in den Texten Viernsteins tatsächlich wenig Biologie und Genetik vorkommt, als vielmehr unbewiesene erbbiologische Postulate, die sich einerseits folgerichtig aus der Logik der Prämisse ergaben, abweichendes Verhalten sei aufgrund der Erblichkeit bestimmter Dispositionen anlagebedingt, und andererseits aus der genealogischen Anschauung, um nicht zu sagen, plausiblen Anschaulichkeit des gehäuften Auftretens bestimmter abweichender Verhaltensmuster innerhalb eines Verwandtenkreises, von der auf die „erbliche Belastung“ der Familie geschlossen wurde. Keine Bemerkung findet sich hingegen dazu, wie die Vererbung bestimmter abweichender Dispositionen vonstatten gehe – sieht man ab von Viernsteins Bemerkung, dass die Vererbungslehre ihre reichsten Ergebnisse bisher bei Pflanzen und Tiere gewann, indes die Gesetze der Erblichkeit auch auf den Menschen anwendbar seien, oder von nichtssagenden Hinweisen wie dem, dass sich etwa Alkohol negativ auf die Erbanlagen auswirke. So hatte Viernstein bei seinen frühen Untersuchungen in Kaisheim festgestellt, dass bei dem dort befindlichen „ausgesucht schweren Materiale“ gewohnheitsmäßiger, unverbesserlicher Diebe und Betrüger die „Ziffer der erblich Belasteten, von Haus aus mit einem Minus Bedachten“, besonders hoch sei. Hinzu kämen noch die Folgen von Alkoholismus, die „missliche Gestaltung der Schulbildungs- und Erziehungsverhältnisse“ sowie das Vorhandensein von Zeichen körperlicher Entartung als Beleg für „die bei dieser Menschenklasse bestehende Minderwertigkeit“ (Viernstein 1911: 14). Viernsteins changierendes Anlage-Umwelt-Denken, das sich sowohl in seinen Texten wie in der Konzeption des genealogischen Abschnitts der Kriminalbiologischen Untersuchung und nicht zuletzt auch in den konkreten Untersuchungen selbst findet, entspricht dem Verständnis dieser Problematik unter den Kriminologen seiner Zeit: Es fehlten genaue Kenntnisse der Vererbungsvorgänge, die durch genealogische Beobachtungen ausgeglichen wurden, die ihrerseits – etwa: gehäuftes Auftreten eines Merkmals innerhalb einer Familie – je nach Bedarf als anlage- oder als umweltbedingt interpretiert werden konnten. Das lag vor allem darin begründet, dass Viernstein im Verbrecher ein „biologisches Wesen“ sah: 

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„Der Verbrecher als biologisches Wesen ist phänotypisch nur ein einziges Glied in einer langen Kette blutmäßig, genotypisch zu ihm gehöriger anderer Individuen. Er kann erschöpfend nur im Zusammenhang mit diesen vielen Stammesangehörigen und nur im Zusammenhang mit seinen eigenen Umweltverhältnissen, den konstellativen Faktoren, verstanden und behandelt werden.“ (Viernstein 1926: 70)

„Erbbiologie“ bedeutete daher, auch im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung, zunächst einmal nachträgliche genealogische, also massenstatistische Beobachtung und Schlussfolgerung unter gleichzeitiger Berücksichtigung nicht näher bestimmter umweltlicher Einflüsse. Diese Auffassung hatte Einfluss sowohl auf die theoretische Typisierung von Verbrechern wie auch auf die praktische Umsetzung im Rahmen der Untersuchung. Viernstein benutzte eigentlich nur zwei Typisierungen: Er unterschied eben einerseits „vorwiegend exogene“ und „vorwiegend endogene Verbrecher“, andererseits „besserungsfähige“ und „unverbesserliche Verbrecher“, wobei „exogene Verbrecher“ meist als „besserungsfähig“, „endogene Verbrecher“ hingegen meist als „unverbesserlich“ erachtet wurden. In seinen Schriften vermied es Viernstein weitgehend, die Kategorien „Gelegenheits-“ und „Gewohnheitsverbrecher“ zu nutzen, und wenn er es tat, dann ordnete er, wie auch in der Praxis der Untersuchung, die Gelegenheitsverbrecher zumeist der ersten Gruppe zu, die Gewohnheitsverbrecher hingegen der zweiten. Doch auch für die Behandlung der Strafgefangenen im Strafvollzug ist das Anlage-Umwelt-Denken Viernsteins mit der sich daraus ergebenden Typisierung der Gefangenen von Bedeutung, denn hiervon hing eben die Einstufung im Stufenstrafvollzug und damit die Behandlung des Individuums – Erziehung und Besserung oder pädagogischer Ausschluss und sogar „Unschädlichmachung“ – ab. Da Viernstein letztere rassenhygienisch begründete, schließt sich sozusagen der erbbiologische Kreis und es wird deutlich, dass der biologische Anteil in der Kriminalbiologischen Untersuchung vor allem in den erbbiologischen Prämissen, den unbewiesenen erbbiologischen Postulaten und in der genealogischen Herangehensweise lag, dass der starke biologistisch-selektionistische Zug Viernsteins und seiner Untersuchung allein dem Ziel der biologischen Begründung der Identifizierung vermeintlich unverbesserlicher Verbrecher diente. Die von Unkenntnis der genetischen Vorgänge geprägte Ambivalenz der kriminologischen Positionen zum Verhältnis von Anlage und Umwelt zeigt sich auch in Viernsteins Texten: Während er einerseits meinte, dass die Bedeutung der Erbbiologie kaum zu bestreiten sei, betonte er andererseits, dass das erbbiologische Moment nicht überbewertet werden dürfe, um schließlich kurz darauf zu erklären, dass die Art und Weise, wie der „Lebenskampf“ aufgenommen werde, beeinflusst sei durch bestimmte Persönlichkeitsgrundlagen, die zugleich auf erblicher Veranlagung und äußeren Bedingungen der Lebensgestaltung beruhten (Viernstein 1929: 15). Viernsteins Perspektive auf die Anlage-Umwelt-Problematik stand somit ganz im Einklang vor allem mit der psychopathologischen Kriminologie, die in der an-

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lagebedingten Reaktion auf die Umwelt die Ursache für abweichendes Verhalten sah. So war auch für ihn der entscheidende erbbiologische Faktor der nach seiner Ansicht angeborene Charakter – jene Anlagen und Dispositionen, die man als die „gefühlsmäßigen und willentlichen Reaktionen auf gegebene gemeinschaftsethische Forderungen“ bezeichnen könne. Viernstein übernahm hier Kretschmers Unterscheidung von „cyklothymen“ und „schizothymen“ Reaktionsweisen. Die cyklothyme Form umfasse Menschen, die dem Leben offen zugewandt seien und eine reizangepasste seelische Gegenäußerung aufbrächten. Der schizothyme Typ dagegen sei eigenlebiger, dem Leben abgewandter Prägung; es herrschten Empfindlichkeit, Kälte oder Beziehungslosigkeit vor. Bezogen auf die Persönlichkeit von Verbrechern fänden sich unter den Cyklothymen der unüberlegt draufgängerische Affektverbrecher, der bummlerische Lebensgenießer, Betrüger und Hochstapler; bei den Schizothymen fänden sich egoistische Eigentumsverbrecher, sittlich Irre, kalt-brutale Mörder, rachsüchtige Brandleger. Alle Fälle seien gekennzeichnet durch ein Missverhältnis zwischen Reiz und Reizbeantwortung (Viernstein 1929: 16). Da diese Reaktionsformen grundlegend seien für die Anpassungsfähigkeit und Anpassungsbereitschaft, also für die Fähigkeit, sich erzieherischen Einflüssen überhaupt zuzuwenden, werde eine Typisierung der Gefangenen nach diesen Kategorien notwendig; gleichwohl seien reine Formen eben nur selten und eine verwirrende Verflechtung cyklothymer und schizothymer Teilanlagen erschwere das Urteil, so dass eine Typisierung nach dem Kretschmerschen Schema wenig praktikabel erschien. Einerseits nutzte Viernstein also das Arsenal zeitgenössischer state of the art-Psychiatrie, andererseits aber verblieb er ganz im erfahrungsbasierten induktiven Schließen: Denn die Erblichkeit solcher charakterlicher Grundeigenschaften werde, so Viernstein, durch die „Erfahrungstatsache“ bewiesen, dass sich im blutsverwandtschaftlichen Umkreis häufig gleich oder ähnlich geartete Charaktere fänden. Zugleich komme der Umwelt bei der Persönlichkeitsentwicklung erhebliche Bedeutung zu, erfolge doch erst damit der „Ausbau der Anlage zur Eigenschaft. Die Umwelt formt erscheinungsbildlich den Eigenschaftsträger“ (Viernstein 1929: 17f.). Unter die Umwelteinflüsse fasst Viernstein Alkohol, Armut und Arbeitslosigkeit, erregende wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Konstellationen, Hass und Streit. Bemerkenswert, dass Viernstein nur die Faktoren aufzählt, die scheinbar von Einfluss auf problematische Menschen – Verbrecher – sind und keine, die auf eine ‚positive‘ Entwicklung hindeuten. Der Einfluss dieser Umweltfaktoren sei fördernd oder hemmend, günstig oder ungünstig; „Anlage plus Umwelt“ begründeten die „soziale Konstitution“, oder anders: Die Umwelt liefere nur die „formativen Reize“, während jegliches Leben primär an den vererbten Besitz geistiger Anlagen gebunden sei. Ohne sie abzulehnen, sei aber doch die Umweltwirkung „in die zweite Reihe“ zu verweisen, während den erbmäßigen Dispositionen der primäre Einfluss zukomme. Die Kriminalbiologie habe „beide Reihen im Einzelfall zu ergründen und in ihrer wechselseitigen Einwirkung abwägen zu trachten, um die 

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Persönlichkeit als Ganzes und ihre allgemeine und augenblickliche Verhaltensweise zu verstehen“ (Viernstein 1925/26: 288). Neben der Untersuchung der individuellen Persönlichkeitsentwicklung habe die Kriminalbiologie und mithin die Kriminalbiologische Untersuchung daher auch auf den „Blutkreis“ zu blicken, der Aufschlüsse über die Persönlichkeit des Probanden geben könne. Der Vergleich mit den Blutsverwandten stütze die Typisierung: Es würden sich Fälle finden, wo erblich bedingte Charaktereigenschaften „von vornherein der Persönlichkeit den Weg wiesen“, dann solche, wo sich „einschneidende Umweltverhältnisse“ nachweisen ließen, die die Persönlichkeit trotz guter Anlagen zum Verbrechen drängten, schließlich solche, wo kein Übergewicht des einen oder des anderen Moments deutlich werde. Bei der ersten Gruppe könne man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die einzelne Persönlichkeit und die ganze Familie aufgrund anlagemäßiger Eigenheiten unter bestimmten Lebensbedingungen befinde und dort hartnäckig verharre; sie trügen eine spezifische Affinität für diese Umwelt in sich, wie z. B. die tiefe proletarische Schicht, der viele Verbrecher entstammten. Viernstein scheint hier, obwohl es nicht ganz eindeutig zu bestimmen ist, nicht die willentliche, verderbliche Entscheidung dafür verantwortlich zu machen, dass die Betreffenden in der schlechten Umwelt „verharrten“, sondern die anlagebedingte Unfähigkeit dazu, diese zu verlassen. Umgekehrt hätten Angehörige der zweiten Gruppe entweder gewaltigen Schicksalsschlägen und schwersten Belastungsproben nicht standzuhalten vermocht oder es handele sich um „schwächliche, […] in den Hemmungen und Regulierungen doch etwas brüchige Elemente“, deren „partiale Defekte“ sie erliegen lasse. Bei der dritten Gruppe sei die Ursache für ihre Kriminalität gleichermaßen in Anlage und Umwelt zu suchen (Viernstein 1929: 18f.). Viernsteins erbbiologische Prämissen und seine Auffassung der AnlageUmwelt-Problematik hatten nun auch Auswirkungen auf seine Einteilung der Verbrecher – sowohl in der Theorie als auch in der Praxis einer konkreten kriminalbiologischen Untersuchung eines Strafgefangenen. Im Wesentlichen waren es zwei Typologien, die Viernstein auch hinsichtlich der sozialen Prognose verwendete: Zum einen unterschied Viernstein, wie erwähnt, zwischen „vorwiegend exogen“ und „vorwiegend endogen“ motivieren Verbrechern, um die kausalen Faktoren – Anlage bzw. Umwelt – für die Kriminalität des Einzelnen zu benennen, zum anderen trennte er die Strafgefangenen in „besserungsfähige“ und „unverbesserliche Verbrecher“, um deren Zugänglichkeit für Maßnahmen zur Verhaltensänderungen kenntlich zu machen. Letztere war die für die Kriminalbiologische Untersuchung entscheidende Typologie, war die Untersuchung doch auf den Nachweis dieser beiden Kategorien ausgerichtet. Viernstein vertrat, wie dargelegt, die Auffassung, dass den Verbrecher die Unfähigkeit kennzeichne, sich sozialen Forderungen anzupassen, sich reibungslos in die Ordnung der Gesellschaft einzugliedern. Dies lasse Rückschlüsse auf den Charakter des Verbrechers zu, auf seine Reaktionsweise

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gegenüber der Umwelt. In Anlehnung an Birnbaum und Lenz übernahm er die Unterscheidung zwischen „vorwiegend exogen“ motivierten Verbrechern und solchen, die „vorwiegend endogen“ bestimmt seien (Viernstein 1925/26: 290f.; ders. 1927: 31f.). Beim „vorwiegend exogen“ motivierten Verbrecher käme den äußeren Einflüssen die höhere Wirkungskraft zu. Auch hier sei die seelische Veranlagung von Bedeutung, es fehle aber die gegebene, auf ‚krankhafter Anlage‘ beruhende Unfähigkeit zur Bildung und Anwendung von altruistischen Vorstellungen und Gefühlen. Äußere Umstände, Einzelerlebnisse oder die totale Lebensgestaltung seien für das einoder sogar mehrmalige Überschreiten der Gesetze verantwortlich. Zur Entgleisung führe bei diesen Verbrechern eher das Missverhältnis von äußerer Reizgröße und der psychischen Bereitschaft, und die soziale Prognose sei in der Mehrzahl der Fälle günstig (Viernstein 1925/26: 291). Der vorwiegend „endogen“ motivierte Verbrecher hingegen stelle, so Viernstein in Anlehnung an Birnbaum, aufgrund seiner „erbmäßig gegebenen unsozialen Verfassung“ eine menschliche „Sondergruppe“ dar, die unabhängig vom zeitlichen Wechsel der Straf- und sittengesetzlichen Normen bestünde – der Verbrecher als Typus. Lombroso habe den Anteil dieses Verbrechertypus, den „echten, gewohnheitsmäßigen Verbrecher“, auf 35-40 Prozent der Gesamtzahl der Verbrecher geschätzt (Viernstein 1925/26: 290). Der eigentlich schon um 1900 in das kriminologiehistorische Kuriositätenkabinett verbannte „geborene Verbrecher“ blieb offenbar – als Präidee im Fleckschen Sinne – latent im Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ wirksam. Wobei Viernstein dieser Theorie völlig widersprüchlich gegenüber stand: Erst behauptete er, an der Existenz eines Typs des geborenen Verbrechers zweifle „ja heute niemand mehr ernsthaft“ (Viernstein 1927: 28), dann wiederum – nur vier Jahre später – meinte er, Lombrosos Lehre vom „geborenen Verbrecher“ könne heute freilich nicht mehr gelten (Viernstein 1931: 2). Psychiatrisch sei die Gruppe der „endogenen Verbrecher“ mit dem „degenerativen Menschen, dem Entarteten“ gleichzusetzen, soziologisch stelle der „entartete Verbrecher den Auswurf aus allen Gesellschaftsklassen“, den „Deklassierten“ dar, kriminologisch kennzeichne ihn das Früheinsetzen der Entgleisung, die starke Rückfälligkeit und die geringe Beeinflussbarkeit durch Bestrafung, die Unverbesserlichkeit, und psychologisch schließlich hafte ihm der Mangel überindividueller Funktionen und sozialpsychischer Qualitäten an, woraus sich die Anpassungsunfähigkeit ergebe – „die soziale Prognose ist meist absolut schlecht“ (Viernstein 1925/26: 291f.). Letztlich lag dieser Einteilung eine sozial-moralische Wertung zugrunde: Viernstein genügte es nicht, den Verbrecher nur als Rechtsbrecher zu betrachten; er wollte Begriffe finden, die etwas über die „Dauerhaftigkeit oder Vergänglichkeit des beim Täter gegebenen seelischen Zustandes der Aversion vor der Erfüllung der Gemeinwesenspflichten“ aussagten. Damit wird die Motivation des Täters allein auf eine ihm unterstellte Aversion gegen „Pflichten“ reduziert; deutlich sei jedoch zumindest, dass es dem seelischen Zustand von Verbrechern an der richtigen Entwicklung mangele 

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(Viernstein 1927: 26). Grundlegend erschien ihm die Frage, ob diese Zustände wandelbar seien oder nicht. Um das zu bestimmen, formulierte er eine Definition von „Besserungsfähigkeit“ und „Unverbesserlichkeit“: „1. Verbesserlich ist der Verbrecher, wenn er von sich selbst aus oder durch bestimmte äußere Einwirkungen zur Wiederanerkennung der Berechtigung der im Strafgesetze geschützten Gemeinwesensnormen kommt und dieser Einsicht entsprechend sein Leben einrichtet, mindestens einzurichten bestrebt ist. 2. Unverbesserlich ist der Verbrecher, wenn er von sich selbst aus oder trotz bestimmter äußerer Einwirkungen nicht zur Wiederanerkennung der Gemeinwesensforderungen kommt bzw. nicht gebracht werden kann, sondern in der verbrecherischen Laufbahn beharrt.“ (Viernstein 1927: 34)

Besserungsfähigkeit bzw. Unverbesserlichkeit hat hier etwas mit Anpassung des Einzelnen an die Forderungen der Gesellschaft zu tun, vor allem aber etwas mit Können und Wollen bzw. mit Nicht-Können und Nicht-Wollen; das wiederum war für Viernstein eine Frage des auf der Basis der Anlage durch Umwelteinflüsse und Lebensgestaltung entwickelten Charakters, der Gesinnung und des Willens. Unter „Gesinnung“ verstand Viernstein „die durch den ethischen Begriffsvorrat gegebene dispositionelle Gefühlsgrundströmung, mit der der Charakter innerhalb seiner sonstigen, intellektuellen, insbesondere aber temperamentskonstitutionellen, affektiven und willensdynamischen Beschaffenheit auf Lebensreize reagiert, welche eine überindividuelle, also altruistische Stellungnahme erfordern“ (Viernstein 1927: 50). Zeige der Verbrecher keine altruistische Reaktion, so könne auf eine antisoziale Gesinnung und auf eine Tendenz zur Unverbesserlichkeit geschlossen werden; zeige er diese Reaktionen aber, so wären Handhaben für die erzieherische Beeinflussung hier gegeben. Gesinnung aber erscheint beinahe als wählbar, als eine Haltung nicht zuletzt gegenüber den Strafverfolgungsbehörden und deren pädagogischen Bemühungen. War der Verbrecher von seiner Gesinnung her in der Lage, positiv und sich anpassend auf überindividuelle Lebensreize zu reagieren, indem er z. B. die Bedeutung des Strafgesetzes und das Recht der Gesellschaft zu ihrem Schutz vor Rechtsgutverletzung wiederanerkennt, dann war er besserungsfähig, wenn er aufgrund seiner Gesinnung nicht zu dieser Anerkennung kommt, war er unverbesserlich. Dabei spielte für Viernstein auch der „Wille“ eine entscheidende Rolle, der Ergebnis der in der Gesinnung gegebenen dispositionellen Grundströmung sei (Viernstein 1927: 51). Konsequenterweise müsste hier die Freiheit des Willens ausgeschlossen, zumindest relativiert sein, und tatsächlich folgte Viernstein dieser Auffassung, wenn auch mit dem Hinweis, dass der deterministischen psycho-pathologischen Richtung ebenso viel Raum gegeben werden müsse wie der normal-psychologischen (Viernstein 1927: 21) – der Verbrecher kann dann entweder normativ an seiner Gesinnung oder psychopathologisch an seiner durch Anlage und Umwelt entstandenen Bedingtheit gemessen werden. Eine durchaus bequeme Haltung: Das Scheitern der

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Besserung, der Rückfall, könne entweder in der Disposition eines Menschen verortet werden („nicht können“) oder in ihrem Willen („nicht wollen“). Der eigene Resozialisierungswille des Verbrechers stand demnach für Viernstein im Mittelpunkt der strafhäuslichen Beeinflussung, nicht aber die Angemessenheit dieser Beeinflussung. Etwas überraschend ist hier plötzlich also von einem – in Grenzen zumindest – autonomen Individuum die Rede, das sich den Erziehungsmaßnahmen und damit seiner Resozialisierung zuwenden könne und dem die Verwahrung des unverbesserlichen Verbrechers gegenüber gestellt wird. Dieses Individuum scheint etwas anderes als der „besserungsfähige Verbrecher“ zu sein, man könnte es als den charakterlich, gesinnungsmäßig und willentlich besserungsbereiten Sträfling bezeichnen und als eine modernisierte Variante des „gefallenen Menschen“ verstehen. Indem er mit einem Begriff operierte, der eigentlich den Verbrecher im Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“ kennzeichnet und der vordergründig aus dem Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ herausgefallen war, nämlich mit „Gesinnung“, setzte Viernstein diese heimlich und leise als Kriterium für die soziale Prognose neben Faktoren wie „Endogenität“, „Augenblickslagen“ oder „Schicksalsschläge“ wieder ein. Es zeigt sich gerade in der Frage der Besserungsfähigkeit, wie sie von Viernstein vertreten und so auch in der Praxis der Kriminalbiologischen Untersuchung wirksam gewordenen war, das schon angesprochene Nebeneinander der beiden von Becker in Reinform skizzierten Erzählmuster, ein Nebeneinander, dass eigentlich eine seltsame Vermischung der Auffassungen über „verhinderte“ und „gefallene Menschen“ darstellt: Im Gegensatz zu dem sonst für Viernsteins Argumentation konstitutiven Gewicht auf der Unterscheidung zwischen dem besserungsfähigen und dem unverbesserlichen Verbrecher scheint hier eine andere Trennung auf: Die Unterscheidung der Verbrechertypen besteht bei Viernstein zunächst in der Entscheidung über die grundsätzliche Besserungsfähigkeit eines Verbrechers. Ist er dazu nicht fähig, dann ist er „unverbesserlich“ – der „verhinderte Mensch“. Ist der Verbrecher hingegen „besserungsfähig“ im Sinne des Erzählmusters, so wird hier abhängig von der Gesinnung und vom Willen des einzelnen noch einmal eine Unterscheidung in „besserungsbereit“ und „uneinsichtig“ vorgenommen: der aktualisierte „gefallene Mensch“. Der „besserungsbereite Sträfling“ sei „besserungswillig“, während der „uneinsichtige“ zwar besserungsfähig wäre, aber von sich aus im Bösen verharre. Die selbst gewählte Persistenz im Bösen aber war, wie bei der Darstellung des Erzählmusters vom „gefallenen Menschen“ deutlich wurde, dessen wesentliches Kennzeichen. Es zeigt sich, warum der eigentliche Auftrag des Stufenstrafvollzugs, die Besserung des Gefangenen durch Verhaltensänderung, letztlich also durch Erziehung, in der Perspektive des biologisch argumentierenden Arztes eine so ambivalente Stellung einnahm. Einerseits sieht Viernstein im Stufenstrafvollzug die Rückkehr zum dem Strafrecht innewohnenden „Strafmotiv der bürgerlichen Wiedergewinnung der Verbrecher“. Doch zugleich machte 

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er klar: Nicht „gefühlsmäßige Milde“ sei die Folge dieser Rückkehr, denn die Erkenntnisse der biologischen und psychologischen Wissenschaften zeigten die Grenzen der psychischen Beeinflussungsmöglichkeiten auf. Und wieder zurück: Auch wenn man vom psychologischen Standpunkt aus eine Begrenzung der Besserungsfähigkeit, des Potentials der Wiedereinordnung in die Gesellschaftsforderungen, ablehne, so lehre doch unzweifelhaft „die Erfahrung, dass praktisch eine Reihe von Individuen vermöge ihrer gesamten inneren Organisation und äußeren Lage eben jenseits einer solchen noch so weiten Grenze stehen und nach menschlicher Voraussicht nicht dazu gelangen, sich im sozialen Leben ohne Konflikte mit der Schutzeinrichtung desselben, der Strafgesetze, zurechtzufinden. Es wäre utopisch, um des Axioms der ideellen psychologischen Besserungsfähigkeit willen an Tatsachen des Lebens vorüberzugehen.“ (Viernstein 1927: 32f.)

Solche Grenzen, die „Tatsachen des Lebens“, seien „häufig gezogen in zahlreichen Schwächen der seelischen Beschaffenheit, an deren Unabänderbarkeit erzieherische Bemühungen oft praktisch scheitern, oder, und dies häufiger, durch die Übermacht der unwendbaren Umwelt nach Haftende“ (Viernstein 1927: 11f.). Erziehung sei eine Frage der Anpassung des Individuums an gesellschaftsnotwendige Formen durch Gewöhnung. Unter Bezugnahme auf die Arbeit „Grenzen der Erziehbarkeit“ des Psychiaters Werner Villinger (1887-1961) argumentierte Viernstein, dass diese Anpassung nicht gelinge, wenn zum einen die Anpassungsfähigkeit – sie könne anlagemäßig nicht vorhanden oder in der Kindheit nicht entwickelt oder wieder verloren gegangen sein –, zum anderen die subjektive Erziehungsbereitschaft fehle. Gerade der subjektiven Erziehungsbereitschaft aber seien, wie Viernstein meinte und wie aus den obigen Ausführungen über die Besserungsbereitschaft von Verbrechern hervorgeht, scharf umrissene Grenzen gesetzt (Viernstein 1927: 12). Villinger sah diese „Grenzen der Erziehbarkeit“, etwas anders als Viernstein, vor allem im sozialen Milieu und den persönlichen psychischen Bedingungen begründet, nicht jedoch in einer verabsolutierten Anlage eines Menschen. Die gänzlich Unerziehbaren seien ohnehin nicht das Problem; die Grenzen der Erziehbarkeit machten vielmehr die Übergangsfälle sichtbar: jenes große „Heer von Grenzfällen, jene dissozialen Individuen, die als Kriminelle, Vagabunden, Prostituierte, Süchtige, Arbeitsscheue, Renten- und Kriegsneurotiker, Revolutionäre, Querulanten usw. sich nicht in den Rahmen des Gemeinschaftslebens einzufügen vermögen“ (Villinger 1927: 145f.). Diese Haltung führte auch Peukert an, um die Krise der Fürsorgeerziehung gegen Ende der Weimarer Republik zu charakterisieren: Die Plädoyers für einen Abbau der bescheidenen Reformansätze hätten einen wachsenden Zuhörerkreis gefunden und jene Publikationen sich gemehrt, die „ihr zentrales Motiv am Begriff der Grenze haben“ (Peukert 1986: 148). Nimmt man die Denkschrift Viernsteins von 1924, so wird dieser Befund bestätigt, denn

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hier war dieser noch der Meinung, dass „die Zahl der wirklich nicht Resozialisierbaren nur gering“ sei (Viernstein 1926: 22). Das Motiv der Grenze scheint für Viernstein zunehmend, auch wegen der praktischen Erfahrungen, bedeutsamer geworden zu sein, wie etwa das gemeinsam mit Trunk erstellte Gutachten von 1927 zeigt, in dem auf der Basis der Behauptung, dass die sozialen Prognosen zu günstig gestellt würden, davon die Rede war, den Kreis der wirklich Besserungsfähigen enger zu ziehen. Die Grenze schien, und auch dies bedeutet der Begriff der „Grenzen der Erziehbarkeit“, prekär. Umso nötiger war ihre sichere Bestimmung; Viernstein war ja auch mit diesem Anspruch angetreten. Indem die Kriminalbiologische Untersuchung diese Grenzen mit naturwissenschaftlichen Methoden, mit Hilfe von Psychologie, Charakterologie und Biologie aufzeigen und entsprechende Handlungsanweisungen, nämlich die Aufkündigung pädagogischer und bessernder Unterstützung, formulieren könne, werde sie „Utopien, wie z. B. die Meinung restloser Besserungsfähigkeit aller Kriminellen nicht mitmachen“; die „Gefahr naturwissenschaftlicher Einsichten liegt nicht in diesen selbst, […] sondern in der unsinnigen Art, wie von ihnen Gebrauch gemacht wird“ (Viernstein 1929: 12). Eine Formulierung, die vom, zeitgenössisch gesehen, fortschrittlichen Selbstverständnis und Selbstbewusstsein Viersteins zeugt, wohl aber auch von eben jenem „Janusgesicht der Moderne“, das, wie Peukert sagt, „auch nur einen Kopf“ habe (Peukert 1986: 309). Ein „Janusgesicht“ offenbarte auch Viernstein – in seinen Überlegungen, mit welchen Maßnahmen „erzogen“ werden könne bzw. was mit jenen zu geschehen habe, die Erziehung nicht zugänglich sind. Er habe beobachtet, dass Arbeitsunlust infolge Willensschwäche oder mangelnder Erziehung, berufliche Unfähigkeit, „Versagen im Wirtschaftskampfe“ und die Konkurrenzunfähigkeit die Zuchthäuser mit Eigentumsdelinquenten fülle; andere strömten hinzu infolge einer Hemmungslosigkeit der Affekte, dem Mangel an Gefühlssteuerung und seelischer Anpassung an überstarken Reiz. Hier helfe starker suggestiver Zwang zu geregelter, ernster, aber auch belohnter Arbeit, das Erlernen eines Handwerks oder eines Berufs, die Fortbildung mit Blick auf das spätere freie Leben im „erbarmungslosen Wirtschaftkampf, in den sie nach Ablauf ihrer Strafe wieder geworfen werden“ – solche Strafgefangenen könnten durch eine Arbeits- und Willenstherapie wenn nicht geheilt, so doch gebessert werden (Viernstein 1925/26: 297). Erhöhung und Festigung der sozialen Leistungsbereitschaft sei das Ziel, und der psychologische Kern des Stufenstrafvollzugs bestünde in der „Herbeiführung einer Persönlichkeitswandlung durch Hebung und Stärkung der sozialpsychischen Qualitäten auf dem Wege der Suggestivwirkung“, wofür der Gefangene jedoch zugänglich sein müsse. Sentimentalität sei jedoch gerade „in der heutigen Zeit der politischen, wirtschaftlichen und eugenischen Not“ gegenüber jenen, die einem dauernden Hang zum Rechtsbruch unterlägen, gegenüber den Unzugänglichen also, völlig fehl am Platz, sei es



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„dass innere, persönlichkeitseigene Momente des angeborenen oder umweltlich erworbenen Charakters, dass Geistesschwäche, verhängnisvolle psychopathische Eigenschaften, wie Reizbarkeit, Leidenschaftlichkeit, Haltlosigkeit, Willensschwäche, Eitelkeit und Geltungsbedürfnis einen dauernden Hang zum Rechtsbruche bedingen, sei es, dass überhaupt jene seltene absolute sozialpsychische Unansprechbarkeit vorliegt, […] die das Wesen des eigentlichen geborenen Verbrechers im Sinne Lombrosos und der moral insanity ausmacht, sei es endlich, dass unwendbare Missgunst der Wirtschaftslage, Familienverhältnisse, Kameradschaft, Trunk und Spiel oder zufällige Gelegenheit den Rückfall immer wieder zeitigen.“ (Viernstein 1932: 17)

Hier ist in nuce der „verhinderte Mensch“ gezeichnet mit Charaktereigenschaften, die sich aus seiner Verhinderung zu ergeben scheinen. Dies ist der Verbrecher, den Viernstein identifizieren wollte, um ihn, den Unverbesserlichen, aus dem Stufenstrafvollzug, letztlich aber aus der Gesellschaft auszusondern. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil sich der Strafvollzug in der „geldknappen Zeit“ – der Vortrag wurde 1931, zur Zeit der Depression also, gehalten – und vor dem Hintergrund rassenhygienischer Faktoren auf eine Auswahl der am meisten geeigneten Individuen zu konzentrieren habe. Viernstein vertrat nicht erst zu Zeiten der Wohlfahrtskrise selektionistische, rassenhygienische Positionen – es sei nur an die Denkschrift von 1924 erinnert, wo er die Selektion von „Schädlichen“ als gemeinsames Ziel von Biologie und Strafrecht bzw. Strafvollzug ausmachte. Die Rassenhygiene wurde von Viernstein als weitere Bezugswissenschaft genannt, nur: Die Kriminalbiologie zog nicht in einer Weise wie etwa aus der Psychiatrie Erkenntnistechniken auch aus der Rassenhygiene, viel eher war die Kriminalbiologie Teil der Rassenhygiene, mit der man die Ziele gemeinsam hatte. Die Rassenhygiene erforsche „die Bevölkerung auf ihren Gehalt an gesunden und kranken, sozial förderlichen bezw. schädlichen Anlagen und Eigenschaften“, sie verfolge die Zu- oder Abnahme dieser „Qualitäten“ im Hinblick auf die Fortpflanzungstätigkeit und gebe gestützt auf diese Einblicke, „die zur Erhaltung und Hebung des erwünschten Anlagenbesitzes dienlichen Maßnahmen an“. Damit werde ein Werturteil, die Unterscheidung von schlechten und guten Anlageträgern, in die Betrachtung gezogen: „Der Hebung der Geburtlichkeit hochwertiger Träger steht notwendig die Forderung der Ausmerzung oder Unschädlichmachung rasseschädlicher Volksbestandteile gegenüber.“ Soweit auch Verbrecher „gewisser Artung unter die Verschlechterer der blutmäßigen Zusammensetzung der Bevölkerung und des Gemeinschaftslebens gerechnet werden“ müssten, so decke sich eben das selektive Bestreben der Rassenhygiene mit jenem des Strafgesetzes (Viernstein 1929: 30f.; dort auch alle Zitate). Das Werturteil, das dem rassenhygienischen Denken und den entsprechenden Maßnahmen zugrunde liege, solle jedoch nicht in die anthropometrischen Messungen der Kriminalbiologischen Untersuchung eingehen: Während die Rassenhygiene die Ausschaltung „schlechter“ Elemente aus der Gesellschaft und dem Fort-

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pflanzungsprozess erreichen wolle, war mit den Messungen die, wie Viernstein beteuerte, die „rein wissenschaftliche“ Bestimmung des anthropologischen Rassentyps intendiert. Und tatsächlich scheint der Untersuchungspunkt „Rass.-Zugehörigkeit“ – als eines von insgesamt zwanzig beschreibenden Merkmalen neben den Beschreibungen der Körperbehaarung, der Kopf- oder Nasenform – an dieser Stelle nur ein Beschreibungsmerkmal, noch nicht aber ein Werturteil über einen Verbrecher im Sinne der Rassenhygiene gewesen zu sein. Zumal die Bestimmung des anthropologischen Rassetyps nichts über die „höhere oder niedrigere geistige und kulturelle Befähigung“ aussage, nichts auch über eine eventuelle Ursache für kriminelles Verhalten. Erst am Ende der Untersuchung stünde ein Werturteil an, das nämlich über „besserungsfähig“ oder „unverbesserlich“, über, und hier holt Viernstein die Rassenhygiene als Werturteil explizit heran, „rassische bezw. gesellschaftliche“ Unbedenklichkeit oder Schädlichkeit (Viernstein 1929: 32). Ein kriminogener Faktor ist mit den Messungen selbst nicht benannt. Rassenhygiene nahm in Viernsteins Argumentationsmuster also eine prominente Stellung ein; das Urteil, das die bayerische Variante der kriminalbiologischen Untersuchung eine rassenhygienische war, ist durchaus berechtigt (Simon 2000: 101). Gleichwohl muss neben den Intentionen auf die unmittelbare Durchführung der Untersuchung geblickt werden, die schon in der zahlenmäßigen Reichweite und – da die Gutachten (zunächst!) keine strafrechtliche Wirkung hatten – in der Wirksamkeit der Urteile über die Verbrecher erheblich beschränkt blieb. Doch gerade gegen Ende der Weimarer Republik, als die Krise des Wohlfahrtsstaates aufgrund der zunehmenden Zahl Hilfsbedürftiger immer deutlicher, das Menschenbild der Wohlfahrtspflege kontrovers diskutiert wurde und die Fürsorgekosten für randständige Personen oder Gruppen der Leistung, die diese vorgeblich (nicht) erbrachten, gegenüber gestellt wurden (vgl. etwa Lohalm 1991), erscheint die 1931 geäußerte rassenhygienische Position Viernsteins in Bezug auf Verbrecher nicht als Ausnahme, sondern als populäre Position: „Wir müssen nicht nur ‚ahnen‘ und ‚fühlen‘ und nicht nur ‚befürchten‘, wohin die Reise geht mit dem Erbgut unseres Volkes, wenn die Belasteten aller Art generativ im Vorsprung sind. Wir müssen genau wissen, welchen eugenischen Wert im Einzelnen jeder Angehörige insbesonders aus den Bevölkerungsschichten besitzt, die vorwiegend aus ihrer erbmäßigen Konstitution heraus die Mittel des Staates und seine Einrichtungen in Anspruch nehmen und belasten, ohne nur annähernd Gleichwertiges als Gegengeschenk zu bieten.“ (Viernstein 1931: 14)

Der Begriff des „Gegengeschenks“ ist hier zentral. Das erste „Geschenk“ habe der Staat, habe die Gesellschaft dem Verbrecher mit dem Stufenstrafvollzug gemacht, mit der Möglichkeit, sich aus eigenem Können und Wollen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Dabei sei man allerdings, unter dem Eindruck des verlorenen Krieges, zu der irrigen Auffassung gelangt, dass der Rechtsbrecher ein bedauernswertes Opfer der Gesellschaft und sei

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ner misslichen Lebensverhältnisse sei, die es nur zu verbessern gelte. „Übersteigerter Optimismus, Humanitätsduselei, rein oberflächliche Handhabung der Vergünstigungsseite des Stufensystems unter Vernachlässigung der viel wichtigeren psychologischen Momente und inneren Werte“ hätten ein Zerrbild des Strafvollzugs geschaffen. Der Stufenstrafvollzug, die Gewährung von Erleichterungen, sei, so Viernstein 1936, ein do, ut des-Geschäft: „Anfänglich wars der Strafvollzug, der reichlich und ziemlich wahllos seine Gaben spendete und „do“ sagte, damit der Rechtsbrecher zur sozialen Umkehr sich entschlösse; heute muß der Rechtsbrecher es sein, der zuerst seine Gabe, nämlich den Nachweis der Besserung durch glaubhafte soziale Einfühlung zu liefern hat, damit er „ut des“ sagen darf“ (Viernstein 1936: 10). Vom besserungsfähigen Verbrecher wurde der Nachweis über den Willen zur Besserung, die Besserungsbereitschaft, gefordert; dann erst könne er auch in den Genuss der „seelischen Anregungen und Impulse einer menschlich wohlwollenden, teilnehmenden, wenn auch strengen Führung und Behandlung“ kommen. Moralischer, als das seit dem Aufkommen des medizinisch-biologischen Erzählmusters eigentlich üblich war, und viel stärker auf den Willen und auf die Gesinnung eines Straftäters bezogen, verlaufen nun die Argumentationen. Es scheint – und dieser These müsste eigentlich eine eigene Studie gewidmet werden – als habe das Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“ in der Zeit des Nationalsozialismus wieder verstärkt in den kriminologischen Diskurs zurückgefunden: Der Gewohnheitsverbrecher sei ohne Rücksicht aus der „Volksgemeinschaft“ auszuschließen, und der besserungsfähige bzw. -bereite Verbrecher habe die Verantwortung für seine Besserung und seine Pflicht gegenüber der Volksgemeinschaft zu tragen. Für diesen besserungsbereiten Verbrecher müsse dann der nationalsozialistische Staat seine Verpflichtung im Bewusstsein seiner Verantwortung für Gesellschaft, Volk und Rasse ernst nehmen und, die Argumentation ist bekannt, eine im Bedarfsfall eingreifende Entlassenenfürsorge schaffen: „Hier mit materiellen Gaben, vor allem aber durch Beratung und seelische Führung Wandel zu schaffen, ist nach meiner Überzeugung ein Gebot nationalsozialistischen Denkens und Fühlens, ist ein Ausfluss jener Hinwendung zu jedem, auch dem geringsten Volksgenossen, der seinen Zeitgenossen als Mitmensch und der Zukunft seines Volkes als Träger brauchbaren Erbgutes auch dann noch achtenswert sein muss, wenn er sich auf falschem Wege befunden hat.“ (Viernstein 1936: 12)

Vor allem gegenüber seiner früheren Begeisterung für das Potential des Stufenstrafvollzugs wird die Anpassung der Positionen Viernsteins an die neuen Zeiten sehr deutlich; der Stufenstrafvollzug sei – ohnehin aus einem übersteigerten Fürsorgeempfinden entstanden – durch die wahllose und lasche Anwendung des Vergünstigungsprinzips geradezu verkommen. Gegenüber seiner 1924 geäußerten Schätzung, dass nur eine Minderheit der Verbrecher „unverbesserlich“ sei, konstatiert Viernstein nun: „Optimismus ist keinesfalls am Platze“; die soziale Prognose dürfe nur für eine Minderzahl

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als gut bezeichnet werden (Viernstein 1936: 8). Die biologische Forschung war nach Auffassung Viernsteins von dieser „Verweichlichung“ jedoch nicht ‚kontaminiert‘; die Erforschung von Persönlichkeit und Umwelt des Verbrechers auf rassen- und erbbiologischer Basis blieb durchgängig das zentrale Merkmal der Kriminalbiologischen Untersuchung in Bayern und konnte in die nationalsozialistischen Ziele integriert werden. Selbstbewusst formulierte Viernstein schon im Mai 1933: „Die kriminalbiologischen Erhebungen sind künftig ein Teil der gesamten Rassenbiologischen Untersuchungen der Bevölkerung. Sie gliedern sich der Aufgabe der kommenden Rassengesundheitsämter ein. […] Bei dieser Sachlage ist geboten, daß die Kriminalbiologie schon jetzt Anschluß findet an die Bestandaufnahme auch anderer abgrenzbarer Bevölkerungsschichten von wirtschaftlicher, soziolagischer [sic] und rassisch-blutmäßiger Bedeutung.“ (Viernstein 1933a: 3; Hervorhebung im Original)

Für Viernstein war es also keine Frage: Der Kriminalbiologische Dienst in Bayern und ebenso in anderen deutschen Ländern werde sich also schon jetzt auf die Einschaltung in die gedachten Rasseämter einstellen müssen. Charakterologie, Psychologie und Psychiatrie Für Viernstein stand, wie bereits beschrieben, der Charakter des Verbrechers im Mittelpunkt seiner kriminalbiologischen Theoriebildung und der Untersuchungskonzeption, weshalb in dieser Studie auch davon ausgegangen wird, dass es sich bei der Kriminalbiologischen Untersuchung eigentlich um eine kriminalcharakterologische Untersuchung handelte und nur insofern um eine biologische, als Viernstein von der Prämisse ausging, der Verbrecher sei ein biologisches Wesen, unterliege vorwiegend anlagebedingten charakterlichen Reaktionsweisen auf die Umwelt und sei erbbiologisch und letztlich rassenhygienisch zu bewerten. Viernsteins Charakterkonzept – er gebrauchte auch Begriffe wie „Persönlichkeit“, „Persönlichkeitseigenschaften“ oder „Temperament“ synonym – war recht eng: Charakter sei ein angeborenes und erworbenes Set an Reaktionsweisen, er bestimme „als angeborene und umweltmäßig von Jugend auf durch Erziehung und Lebensgestaltung fortgebildete seelische Gesamtverfassung die Reaktionsweise des Menschen“ und sei ausschlaggebend für die Handlung, die demnach das äußere Ergebnis der „seelisch in uns liegenden Handlungsmöglichkeiten sei“ (Viernstein 1925/26: 290). Für die soziale Rolle seien die gefühlsmäßigen und willentlichen Reaktionen auf gegebene gemeinschaftsethische Forderungen ausschlaggebend, da hieraus die Art der Erfüllung sozialethischer Belange hervorgehe. Deshalb sei gerade für die Beurteilung von Menschen, deren Hauptmerkmal eben die Vernachlässigung sozialethischer Grundsätze und Belange sei, die Erforschung des Charakter nach der gefühlsmäßigen Reaktionsweise bedeutsam und Aufgabe der Kriminalbiologischen Untersuchung (Viernstein 1929: 16f.). 

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Ausgehend vom Charakter und seiner Erforschung leitete Viernstein die Bedeutung der Psychologie auf der einen, die der Psychiatrie auf der anderen Seite als Bezugswissenschaften ab: In seinem lehrbuchartigen Text über „Kriminalbiologie“ im dritten Band des Sammelbandes „Der Stufenstrafvollzug“ von 1929 unterschied Viernstein die Psychologie von der Psychiatrie folgendermaßen: Die Psychologie (Viernstein 1929: 21-23; dort auch alle Zitate) widme sich dem „normalen Seelenleben“, den Fragen der frei entschlussfähigen, zurechnungsfähigen und verantwortlichen Persönlichkeit und ihren Handlungen. Die Psychologie hätte damit jene Elemente der „gesunden“ psychischen Persönlichkeit im Blick, die sich zum Persönlichkeitsganzen, zum Einzelcharakter zusammenfügen: die Vielseitigkeit seiner Psyche, seine erblichen Anlagen, seine persönlichen Eigenschaften, Bereitschaften, Antriebe und Hemmungen, das ausgeprägte Verstandes-, Willensund Gefühlsleben. Dies gelte vor allem im Hinblick auf Religion, Strafrecht, Ethik und Moral. Gegenstand der Psychiatrie hingegen sei jener zwischen den Polen der geistigen Gesundheit und der geistigen Krankheit liegende Bereich der „geistigen Minderwertigkeiten“, die einmal Störungen des Verstandeslebens („Schwachsinn“) oder solche des Gemüts- und Willenslebens (Psychopathie) betreffen könnten. Psychiatrie könne demnach auch als Psychologie des krankhaften Seelenlebens bezeichnet werden. Die Kriminologie nun dürfe aber, trotz ihres Bekenntnisses zu den Naturwissenschaften, die „geisteswissenschaftliche“ Betrachtung des Rechtsbrechers und damit die philosophisch orientierte Psychologie nicht außer Acht lassen. Wie bereits ausgeführt, wollte Viernstein den Verbrecher sowohl normal-psychologisch wie psycho-pathologisch erforschen und bewerten. Dabei müsse aber das Verbrecherproblem grundsätzlich „innerhalb der Grenzpfähle der normalen Psychologie“ bleiben; den Begriff der Handlungsunfreiheit oder gar den der Krankheit grundsätzlich an Kriminalität anzulegen, sei abzulehnen, um die Schuldfähigkeit auch des „verhinderten Menschen“, wenn man so sagen will, zu erhalten: „Insbesondere wäre es ebenso bedenklich wie es tatsächlich unnötig erschiene, aus der von der Biologie vertretenen kausalen Determiniertheit der Handlungen den Schluss auf Unfreiheit der Willensentscheidung und damit Unzurechenbarkeit zu ziehen. Ein solcher Schluss müsste die Gefahr einer Erschütterung von Strafrecht, Ethik und Moral heraufbeschwören und zu einer Infragestellung der wichtigsten Kulturgüter führen.“

Man könne sich, auch als Biologe, in der Frage des biologischen Determinismus durchaus mit der Auffassung arrangieren, es gäbe eine „Relativität des Willens“, wenn man annehme, dass eine „konkrete Determinierung des abstrakt frei bestehenden Willens durch anlagemäßige oder umweltlich bedingte dauernde wie augenblickliche Bereitschaften“ bestehe. Es ist bezeichnend, dass Viernstein der Wissenschaft, die er dem „normalen“ Geistesleben, dem „normalen“ Charakter, zuordnete, in seinen Tex-

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ten so gut wie keinen Raum gegeben hat. Aus seiner Sicht war dies wohl geraten, hatte Viernstein mit den Strafgefangen doch Menschen vor sich, die bereits auf eine nicht adäquate Weise auf die sozialethischen Forderungen reagiert hatten. Auch die Psychologie des „gesunden“ Seelenlebens müsse daher von der Vermutung ausgehen, dass auch in der normalen psychischen Persönlichkeit eine grundsätzliche Anlage und Bereitschaft zu abweichendem Verhalten vorhanden sei (Viernstein 1929: 22). Von einer breiten Rezeption zeitgenössischer psychologischer Theorien kann kaum die Rede sein: Von den verschiedenen Systemen, die den Charakter zu typisieren versuchten, habe allein das von Kretschmer vorgeschlagene ausnahmsweise schätzenswerte Unterlagen geliefert. Wie schon gezeigt, übernahm Viernstein vor allem Kretschmers Unterscheidung von „cyklothymen“ und „schizothymen“ Reaktionsweisen. Beide Reaktionstypen würden aus den zugehörigen großen Gruppen endogener Seelenstörungen, dem cyklischen (Manie, Depression) und schizophrenen Irresein, hergeleitet; gleichwohl besäße jeder dieser Krankheitsprozesse seine Wurzel im gesunden seelischen Bereich der cyklothymen oder schizothymen reaktiven Bereitschaft des Charakters. Diese natürlichen und der Breite der Gesundheit angehörigen Reaktionsformen könnten mit allmählich steigenden Übergängen zum Krankhaften werden (Viernstein 1929: 22). Viernstein hielt den Anteil der Psychiatrie, die sich mit dem zwischen der geistigen Gesundheit und der geistigen Krankheit liegenden Bereich der „geistigen Minderwertigkeiten“ beschäftige, als Bezugswissenschaft für die Kriminalbiologie für wesentlich bedeutsamer als den der Psychologie. Je nach hauptsächlich betroffenem Teil der Gesamtpersönlichkeit könne man bei den „geistigen Minderwertigkeiten“ noch zwischen Störungen des Verstandeslebens („leichter und mittelgradiger Schwachsinn“) oder solchen des Gemüts- und Willenslebens („psychopathische Persönlichkeiten“) unterscheiden (Viernstein 1929: 24f.; dort auch alle Zitate). Ein leichter Grad an „Schwachsinn“ lasse sich nur schwer erkennen, etwa wenn „hinter der Fassade ein Defektzustand von Urteilsschwäche, von Unmöglichkeit der Erfassung höherer Lebensziele und insbesondere ein Mangel an ethischer und moralischer Begriffsbildung“ aufscheine; einen mittelgradigen „Schwachsinn“ dagegen häufig schon am mangelnden Schulerfolg. Bei diesen Persönlichkeiten sei das Urteilsvermögen herabgesetzt, die Gesamtpersönlichkeit mehr oder weniger deutlich verstandesschwach. Die psychopathischen Persönlichkeiten, und hier verweist Viernstein explizit auf Schneiders Formulierung vom „Menschen, der an der Gesellschaft und an dem die Gesellschaft leidet“, besäßen ihre „Abwegigkeiten“ in den Bereichen des Gefühlsund Willenslebens, das dauernd disharmonisch verändert erscheine. Es handele sich hier um Charakteranomalien, etwa um hyperthymische, depressive, gemütslose oder explosible Psychopathen, deren Eigenart in der Steigerung gesunder Reaktionsweisen ins leicht Krankhafte einer Zwischenstufe sei, die aber den Grad der Geistesstörung nicht erreiche. Man könne Psychopathen als „Konfliktmenschen“ bezeichnen, von denen eine Gruppe aus 

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sozial lebenden Selbstleidenden, eine andere Gruppe aus dissozialen Schadensstiftern bestehe. „Statistiken“, die Viernstein nicht näher nannte, legten nahe, dass es unter den Strafhausinsassen bis zu dreißig Prozent Psychopathen gebe – anders als in der „freien Bevölkerung“, wo es nach Meinung von Lenz zehn Prozent seien (Viernstein 1929: 25). Rechne man noch die „Schwachsinnigen“ hinzu, so komme man zu dem Ergebnis, dass unter Verbrechern ein erheblicher Anteil abnormer Persönlichkeit vorkomme. Viernstein nannte verschiedene Charakterzüge von besonderer sozialer Wichtigkeit, deren Erkennung und Rückführung auf krankhafte oder normalpsychologische Ursachen im Persönlichkeitsganzen eine der bedeutsamsten Aufgaben und Ziele der Kriminalbiologischen Untersuchung sei: Mangel an ethischen Gefühlen, Impulsivität, Haltlosigkeit, Leichtsinn, Überwertigkeit und Triebhaftigkeit (Viernstein 1929: 27f.; dort auch alle Zitate). Der Mangel an ethischen Gefühlen, angezeigt durch Mangel an Einfühlbefähigung in soziale Belange, an Reue und Scham sowie an Wärme zu Mitmenschen, könne angelegt oder durch Hirnkrankheit oder Milieu erworben sein. Diese leichteren Fälle seien zu unterscheiden von solchen der „echten moral insanity“, bei denen nicht nur die ethischen Gefühle völlig fehlten, sondern auch der Gesamtcharakter zusätzlich durch „abnormen Hang zum Bösen, durch Schadenfreude, Grausamkeit, Bosheit, Heimtücke, Missgunst und Unwahrhaftigkeit, Mitleidlosigkeit und Rücksichtslosigkeit“ geprägt sei. Impulsivität sodann sei die Abkürzung und Einengung des Spiels der Motive, wenn die normalen ethischen Vorstellungen gegenüber den augenblicklichen Lockungen nicht oder zu spät zur Geltung kämen. Bei Widerstandsunfähigkeit gegen Verführungen durch die Augenblickslage spreche man auch von Haltlosigkeit; hier seien überhaupt keine festen Prinzipien für das Handeln vorhanden. Diese Prinzipien fehlten beim Leichtsinn keineswegs, sie seien nur im gegebenen Augenblick „abgeschaltet“. Überwertigkeiten erwiesen sich einerseits als impulsiver Leichtsinn, andererseits als verdauerte Züge, wo Überlegung im Handeln vorherrsche. Prototyp, aber nicht alleinige Ausprägung der Triebhaftigkeit seien gewisse sexuelle Abwegigkeiten. Wie noch zu zeigen sein wird, sind es diese fünf Charakterzüge, die im Punkt 42 des kriminalbiologischen Fragebogens abgeprüft wurden. Die eingangs geäußerte These von der binären Struktur der Kriminalbiologischen Untersuchung scheint hier eine erste Bestätigung zu finden: Wenn die Fragmentierung des Verbrecherkörpers, seiner körperlichen, geistigen und sozialen Ausdrucksformen, und die Benennung der Fragmente als potentiell kriminogene Faktoren immer auch eine implizite Vorstellung von den normkonformen Faktoren mit einschließt, dann würde die Reihe der jeweilig gegenteiligen Charakterzüge – Ethik, Prinzipien, Halt, Willensstärke, Maß; letztlich bürgerliche Tugenden – sozialethische Konformität verbürgen. Der moralische Zug der Kriminalbiologie, den Liang herausgearbeitet hat, kann hier konkretisiert werden. Unter Bezug auf Kretschmer führt Viernstein dann noch weitere Charakterzüge an: Reizbarkeit, Zorn und die Neigung zu Widersetzlichkeiten, und

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diskutierte diese in Bezug auf bestimmte Reaktionstypen: den Hypomaniker, den Epileptoiden und den Hysteriker (Viernstein 1929: 28f.). Es sei bei der Untersuchung immer darauf zu achten, auf welches Temperament diese Züge träfen, da die gleiche Erscheinungsform, auf unterschiedlichen Charakteren beruhend, zu gänzlich verschiedenen sozialen Prognosen führen könne: Der Hypomaniker sei dem Leben offen zugewandt, meist auch von einsichtiger Reue über seine momentane Hinreißung; hier bestünde Hoffnung, den Betreffenden, der ein harmloser, lenkbarer und anpassungsfähiger Mensch sei, durch freundliche verstehende Führung zu bessern. Der Epileptoide dagegen sei stets in gespannter Verstimmung und neige wegen seiner Bewusstseinsschwankungen zu unvorhergesehenen Affektkrisen. Der Hysteriker schließlich besitze das „theatralisch-egozentrische, auf Effekt und Nutzen eingestellte üble Grundwesen dieser sozial unerfreulichen Anomalie“. Bezüglich seiner Behandlung sei entweder Ignorieren der Entäußerung oder deren konsequente Repression angezeigt. Doch auch der Strafvollzug selbst sei hier von Einfluss, bringe dieser doch als solcher eine Reihe anderer psychischer Phänomene als Haftfolge hervor. Gerade im Hinblick auf die soziale Prognose musste dies von Bedeutung sein, zumal diese Beobachtungen gerade bei den Zwischen- und Nachberichten – nur „teilweise“, wie Viernstein zugab (Viernstein 1932: 14) – auch ein Gradmesser für die soziale Prognose werden konnten. Deshalb beschrieb er verschiedene „strafhäusliche Reaktionstypen“: den Rebellionstyp, den Unterwerfungstyp, den Opportunitätstyp und den seelischen Versagertyp (Viernstein 1932: 14f; dort auch alle Zitate). Der Rebellionstyp äußere sich entweder als unansprechbarer, unbeeinflussbarer Asozialer oder als gelegentlich Explosibler, aber gutartig-ungehemmter Polterer. Ersterer sei, da strafunempfindlich, nur unzureichend disponiert für die stufenstrafvollzugliche Idee; er entspreche dem „geborenen Verbrecher“ Lombrosos. Die zweite Gruppe hingegen falle zwar durch gelegentliche disziplinäre Entgleisungen auf, die man aber nicht als Hinweise auf ihre Unverbesserlichkeit verstehen dürfe, da ihnen eine durchaus sozial ausgerichtete Grundeinstellung eigen sei; Mentalität und Führung im Strafvollzug deckten sich bei ihnen nicht. Der Stufenstrafvollzug bedeute für diese Menschen eine wohltuende Quelle der Selbstzucht und der inneren Haltgebung. Der Unterwerfungstyp sei das psychologisch aufnahmefähigste und pädagogisch aussichtsreichste Objekt des Stufenstrafvollzugs. Er sei der nach innerer Gesinnung und äußerer Führung ehrlich sich in die notwendige Kausalität von Straftat und Tatahndung einfühlende „Mustergefangene“. Der Opportunitätstyp dagegen besitze nur die „äußere Schale der Unterwerfung und Demut“; reines Vergeben einer guten Gesinnung würden bei ihm als wahrer Hintergrund der guten Führung leicht übersehen. Dieser Gruppe der „Häuslschleicher“ sei das Handwerk zu legen; ihr Gehorsam deute nicht auf Einsicht aus wahrem Strafempfinden hin. Dem Versagertyp schließlich gehöre eine große Zahl von Strafgefangenen an: „die Neurastheniker mit ihrer Neigung zu Zusammenbruch, die Depressiven mit ihren quälenden Komplexen, 

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die Hysteriker mit ihrer hochgesteigerten Suggestibilität und rücksichtslosen Durchsetzungsweise, die Querulanten mit ihrem grundsätzlichen Negativismus“. Sie würden den Stufenstrafvollzug entsprechend ihrer Individualität entweder als Erleichterung erleben, ihn als „verbrieften und selbstverständlichen Tribut an ihre übersteigerte Selbstbewertung“ erachten oder mit zynischem Sarkasmus begleiten. Viernstein schätzte, dass nur die Hälfte dieser Gruppe wirklich empfänglich sei für erzieherische Maßnahmen. Abschließend lässt sich mit Viernstein sagen, dass die Kriminalbiologische Untersuchung im charakterologischen Bereich die Aufgabe hatte, an die Aufschließung der Grundelemente, aus denen die Persönlichkeit ihre Struktur gewinnt, heranzugehen, „die Persönlichkeit in ihre Teile zu zerlegen und zu sehen, wie sie aus diesen Teilen wiederaufbaufähig ist, zu sehen weiterhin, wo und in welchem Grade Defektstellen, Brüchigkeiten größerer oder kleinerer, tieferer oder nur oberflächlicher Art, als normal verstehbar oder schon krankhafter Natur sich finden, die uns eine Erklärung für die Entwickelung des Menschen nach der kriminellen Seite hin zu liefern vermögen und die wiederum im Interesse der Heilung auf ihre psychologisch-pädagogische Beeinflussungszugänglichkeit geprüft werden müssen.“ (Viernstein 1929: 22)

Dieser Abschnitt ist im Ganzen wiedergegeben, weil er zum einen den Hintergrund für die extreme Auffächerung des Untersuchungspunktes 42 „Psychisches Bild des Zuganges“ im Fragebogen der Kriminalbiologischen Untersuchung liefert. Dort konnte der Untersucher unter acht Hauptpunkten eine große Menge vorformulierter Anamnesemöglichkeiten zu somatischen Hinweisen auf seelische Labilität, zu seelischen Grundeigenschaften, somatischen Belastungen der Charakterentwicklung, zu Ausdrucksfunktionen, zu groben seelischen Abweichungen, zur Intelligenz, zum Temperament sowie zu Verhaltensweisen (für Rückschlüsse auf die Gesinnung) angeben. Dies wird uns bei der Analyse des Untersuchungsbogens noch beschäftigen. Zum anderen wird in dieser Passage der in der Einleitung angesprochene Aspekt der Fragmentierung des Verbrecherkörpers im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung deutlich und mithin der Effekt des mapping the body: Der Körper des Verbrechers – zu dem in Viernsteins biologischem Konzept ja auch der Charakter zählte – wurde mit der Absicht der vollständigen Erfassung fragmentiert, kartografiert und in Zonen zerteilt, die angebliche Hinweise auf Abweichung geben könnten. Der Komplexität des Menschen begegnete Viernstein mit dessen Zerteilung; das Individuum aber war später, die Teile waren nun mit kriminogener Signifikanz aufgeladen, jederzeit wieder zusammensetzbar – der ganze Mensch war die Summe seiner kriminogenen Einzelteile: ein Verbrecher.

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Anthropometrie und anthropologische Fotografie Im Zusammenhang mit der theoretischen Grundlegung der Kriminalbiologischen Untersuchung die Anthropometrie darzustellen, ist insofern schwierig, als sich Viernstein dazu weder in seinen Denkschriften noch in seinen wissenschaftlichen Texten explizit-erklärend geäußert hat. Eher beiläufig – „der Vollständigkeit halber“ – verweist er darauf, dass „anthropometrische Untersuchungen mit Messungen nach Rudolf Martin unter Beigabe einer körperlichen Merkmalsbeschreibung und eines Nacktlichtbildes“ durchgeführt würden (Viernstein 1931: 6). Die einzige andere Anmerkung findet sich im dritten Band von „Der Stufenstrafvollzug“: Die Kriminalbiologische Untersuchung habe als eine Teilaufgabe „rein wissenschaftlich und ohne Beigabe eines kulturellen Werturteiles bei Verbrechern auch anthropologisch wichtige Erhebungen zu pflegen; insbesondere die von der Anthropometrie angegebenen Messungen“. Damit sei eine Einschätzung der körperlich-konstitutionellen, und, „mit besonderer Vorsicht, über die rassische Beschaffenheit des Untersuchten“ möglich, um, gemäß der empirischen anthropologischen Rassenforschung, „den vorwiegenden anthropologischen Rassentyp“ zu bestimmen (Viernstein 1929: 31 und 35). Das Fehlen weitergehender Erklärungen zu den anthropometrischen Messungen bedeutet aber auch, dass Viernstein keine unmittelbare Verbindung herstellte zwischen der Vermessung des Verbrecherkörpers und der Kriminalität des betreffenden Menschen; vor allem keine kriminogene Verbindung. Nur in seiner Untersuchung Kaisheimer Gefangener hatte Viernstein noch einen Zusammenhang zwischen den körperlichen Merkmalen eines Gefangenen und seiner Kriminalität beschrieben und sich in dieser Frühzeit als Rezipient kriminalanthropologischer Theorien erwiesen. Er meinte beobachten zu können, dass die „körperlichen Entartungszeichen, Stigmata degenerationis“, kriminalanthropologisch bedeutsam seien, auch wenn man heute wisse, dass die von Lombroso mit übermäßiger Bedeutung belegten Merkmale auch bei „Unbescholtenen und Nichtirren“ vorkämen und nicht für sich allein, sondern höchstens im Zusammentreffen mit anderen Symptomen „als für den Verbrecher pathognomonisch aufgefasst werden“ dürften. Gleichwohl führte Viernstein – an selber Stelle, unkommentiert – die von ihm beobachteten „Anomalien“ auf; etwa das Missverhältnis der Entwicklung des Hirnschädels zum Gesichtsschädel (Viernstein 1911: 12). In späteren Texten finden sich solche Äußerungen nicht mehr. Das Fehlen einer vertieften Diskussion der Anthropometrie als Bezugswissenschaft für die Kriminalbiologische Untersuchung bedeutet, dass in diesem Kapitel über die theoretische Grundlegung der Kriminalbiologischen Untersuchung nur eine allgemeine Darstellung der Anthropometrie sowie der anthropologischen Fotografie (denn in der Untersuchung wurden die Gefangenen auch fotografiert) möglich ist. Viernstein übernahm dabei die anthropometrischen Messpunkte des Anthropologen Rudolf Martin (18641925). Die anthropologische Körpermessung war auf die Bestimmung mor

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phologisch-anatomischer Merkmale gerichtet, um die körperliche Konstitution des Untersuchten festzustellen; mit ihr sollten anatomisch die Unterschiede zwischen Körperbautypen als solche erfasst und beschreibend und messend festgelegt werden (Bauer/Fischer/Lenz 1923): 82). 1925 hatte Martin im „Handbuch der Sozialhygiene“ die Eintragung über Anthropometrie publiziert und diesen Beitrag mit der Bedeutung begründet, die „die Anthropometrie für die medizinische Konstitutionslehre gewonnen hat und immer noch gewinnen wird“. Im selben Jahr erschien dieser Text als Sonderausgabe, die sich, so Martin im Vorwort, durch die große Nachfrage nach einer kurz gefassten „Anleitung zu selbständigen anthropologischen Erhebungen und deren statistischer Verarbeitung“ – so der Untertitel – rechtfertige (Martin 1925: 1). Dabei betonte er nachdrücklich, dass „anthropometrische Erhebungen nur dann vergleichbare Resultate ergeben können, wenn sie nach streng einheitlicher Methode durchgeführt und in gleicher Weise statistisch verarbeitet werden“ (Martin 1925, Vorwort). Der Hinweis auf die notwendige Wissenschaftlichkeit der Untersuchungen sowie die von Martin konstatierte „große Nachfrage“ nach einer Einführung in die Anthropometrie deuten darauf hin, dass der Anthropologie Anfang des 20. Jahrhunderts eine Schlüsselstellung in der Entwicklung der Wissenschaften vom Menschen zukam. Die Anthropologie war bis dahin vor allem eine Wissenschaft des Sammelns und Katalogisierens gewesen; nun aber schlossen sich viele Anthropologen dem rassenbiologisch-’naturwissenschaftlichen‘ Ansatz an. Im Mittelpunkt standen jetzt morphologisch-anatomische, vornehmlich kasuistische Studien und die konstitutionell-anatomische Rassenforschung. Diese Konzentration der Anthropologie sicherte ihr in der politischen Konjunktur der Rassentheorien in Deutschland eine zunehmend wichtige Rolle. Erst die Erfolge der moderneren Populationsgenetik drängten die Rassentheorien gegen Ende der dreißiger Jahre langsam zurück (Weingart et al. 1996: 355-362; Mühlmann 1984: 100). Es spiegelt die aufgewertete Rolle der Anthropologie in den 1920er Jahren wider, wenn Martin selbstbewusst formuliert, dass die Sozialhygiene einen Erfolg nur gestützt auf die Kenntnis der biologischen Beschaffenheit und der Zusammensetzung großer Bevölkerungsmassen erwarten dürfe; es seien dazu umfassende statistische, in „methodisch einwandfreier Weise“ angestellte Erhebungen nötig. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Anthropometrie als Teilgebiet der Sozialhygiene auf solche Merkmale zuzugreifen habe, durch die der allgemeine Körperbautypus charakterisiert werde; „ein gedankenloses Drauflosmessen hat keinen Sinn, sondern jedes Maß muss entweder für sich allein oder in Beziehung zu einem anderen irgendein wichtiges Verhältnis des Körpers zum Ausdruck bringen“. Die Anthropometrie habe daher die Aufgabe, „1. den körperlichen Merkmalkomplex der einzelnen Individuen genau, wenn möglich zahlenmäßig, zu erforschen und 2. die Stellung und Verteilung der solcher Art bestimmten Individuen innerhalb einer bestimmten Population festzustellen, um auf solche Weise diese selbst in ihrem Aufbau und ihrer Zusammensetzung erkennen und auf sie

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wirken zu können.“ (Martin 1925: 2) Es gelte, nicht wenige, auffallende pathologische Körperbautypen herauszuarbeiten, sondern vielmehr, die Charakteristik des Körpers in seiner Totalität zu erkennen, sämtliche innerhalb einer Bevölkerung vorhandenen Körperbautypen zu erfassen und ihre prozentuale Beteiligung und ihre physiologische Eignung zu erforschen, um einen „sicheren Überblick über die körperliche Beschaffenheit unserer Bevölkerung“ zu erlangen (Martin 1925: 1). Martin beschränkte sich in seinem Werk unter Auslassung der zweiten, der statistischen Aufgabe auf die technische Seite der rassenanthropologischen Erfassung. Dies deutet vor allem darauf hin, das die anthropologischen Messungen in der detaillierten anatomischen Erfassung von Körpermerkmalen ihren Ursprung hatten; die biometrische und damit letztlich erbbiologisch-rassenhygienische Erfassung auf statistischer Basis war demnach nicht im unmittelbaren Kernbereich anthropologischer Forschung angesiedelt. Dies lässt sich wohl auch aus der Kritik Eugen Fischers an dieser „systematischen Anthropologie“ herauslesen, die zu Beginn der zwanziger Jahre auf erbbiologische Aspekte hin orientiert wurde: Die Rassenhygiene brauche gleichzeitig anatomische und biologische Erkenntnisse; die „Betrachtung der Form und Größe genügt also nicht“ (Baur/Fischer/Lenz 1923: 82). In ihrer rassenanthropologischen, stärker erbbiologischen Variante wurden die Körpermessungen auf konstitutionell-anatomische Rassenmerkmale ausgerichtet. Damit aber traten zwei Schwierigkeiten auf: Zum einen konnten so unterschiedliche Merkmalsgruppen wie Schädelform, Hautpigmentierung, Physiognomie oder geistige Veranlagung nicht als „rassisch relevant“ ausgemacht werden – die Körpermessungen selbst konnten demnach nur auf einer quantifizierenden Stufe verbleiben, die Werturteile mussten erst von außen an sie herangetragen werden. Zum anderen sollte die Bestimmung des Rassentypus dem rassenhygienischen Fernziel dienen, den Grad der „rassischen Durchmischung“ einer Bevölkerung festzustellen – dies war jedoch nicht das unmittelbare Ziel der spezifischen anthropologischen Untersuchung, mit der abgrenzbare Merkmale festgestellt und „reine“ Rassentypen erkannt werden sollten (vgl. Weingart et al. 1996: 359f.). Das wollte, wie schon dargelegt, auch Viernstein. Er stellte explizit fest, dass mit den anthropometrischen Messungen in der Kriminalbiologischen Untersuchung allein der anthropologische Rassentyp bestimmt werden sollte; das habe mit der Rassenhygiene an dieser Stelle noch nichts zu tun. Die „Wertigkeit“ eines Menschen im Sinne der Rassenhygiene, der Viernstein mit seiner Untersuchung dennoch dienen wollte, werde nicht über die Messungen festgelegt (Viernstein 1929: 31). Dass Viernstein die werturteilende Rassenhygiene an dieser Stelle außen vorlässt, ist aufgrund des unmittelbar mit den Messungen verbundenen Zieles der reinen Datenerhebung nachvollziehbar. Da Viernstein mit der Untersuchung und mit der Kriminalbiologischen Sammelstelle aber auch die Erfassung von abgrenzbaren Bevölkerungsgruppen – in diesem Fall zunächst der Verbrecher, aber auch andere Gruppen wie z. B. Fürsorgezöglinge, waren für ihn ja denkbar – intendierte, dürf

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ten, ohne dass wir darüber etwas aus den Schriften Viernsteins oder aus anderen Quellen erfahren, die in der Sammelstellte archivierten Messungen und die anthropologischen Fotografien von Strafgefangenen für die Feststellung der „rassischen Durchmischung“ mit Hilfe der rassenanthropologischen Anthropometrie vor allem nach 1933 interessant gewesen sein. Es können aus dem Gesagten und aufgrund der Beobachtung, dass einerseits die Aufnahme der anthropometrischen Messungen in die Kriminalbiologische Untersuchung nach außen hin kaum begründet wurden und dass andererseits die Bestimmung des anthropologischen Rassetyps, die mit den Messungen intendiert war, als Faktor kriminogener Ursachen nicht in Betracht gezogen wurde, zwei Schlussfolgerungen gezogen werden: Erstens: Die Abwesenheit einer Begründung für die Messungen scheint unter anderem darauf hinzudeuten, dass solche Erhebungen im Umfeld von Abweichung ganz selbstverständlich als wissensrelevant erachtet wurden. Hinter der symbolhaften Abbildung (es handelte es sich immerhin um Strafgefangene), die die Messungen leisteten, scheint ein implizites Bedürfnis nach Repräsentation bzw. nach einer plausiblen Visualisierung von Abweichung als Hintergrund der Messungen auf. Ergebnisse anthropometrischer Messungen wurden bereits im 19. Jahrhundert gesammelt (Regener 1999: 142f.). Die Abwesenheit einer Begründung für die anthropometrischen Messungen in der Kriminalbiologischen Untersuchung könnte demnach auch in der Existenz solcher Vorbilder gesucht werden: Die Standardisierung und der Erfolg der Bertillonage dürfte die Herausbildung einer gemeinsamen Bildsprache anthropometrischer Abbildungen befördert haben. Obwohl die anthropometrischen Personenfeststellungsverfahren anders gelagert waren als die anthropometrischen Messungen am bereits verurteilten Verbrecher: So wurde zum einen in der Kriminalbiologischen Untersuchung keine Daktyloskopie, keine Abnahme der Fingerabdrücke, vorgenommen, während umgekehrt die ‚nur‘ verdächtigen Personen im Erkennungsdienst nicht die erniedrigende Prozedur einer Nacktfotografie über sich ergehen lassen mussten. Der dokumentarische Zugriff wurde bei bereits verurteilten Rechtsbrechern offenbar selbstverständlicher durchgeführt. In diesem Zusammenhang kommt auch dem Ort der Vermessungen eine bedeutende Rolle zu: Die Strafanstalt als Zwangsinstitution erlaubte – ähnlich wie die psychiatrische Klinik und wie im Übrigen auch die Schule und der Wehrdienst, wo wiederholt anthropometrische Messungen durchgeführt wurden (Ammon 1893) – weitreichende Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte eines Individuums, die Offenlegung seiner psychischen und sozialen Konstitution, das Beiseiteziehen jeder Bedeckung und die grelle Durchleuchtung des Lebens des betreffenden Menschen. Das konstitutive Verhältnis der zwangsweisen Subordination ermöglichte damit eine enthüllende Kartografierung des aller Privatheit beraubten Körpers, die in anderen sozialen Situationen (noch) nicht durchsetzbar war. Zweitens: Die kausale Distanz zur Kriminalität des Probanden, die den Ergebnissen der Messungen im Gegensatz zu den meisten anderen Untersu-

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chungspunkten in der Kriminalbiologischen Untersuchung eigen ist, scheint darin begründet zu sein, dass mit diesen Messungen Ziele verfolgt wurden, die nur am Rande für die Beurteilung der Person des Verbrechers, viel eher jedoch für die Beurteilung einer gefährlichen Klasse Bedeutung hatten. Der Rekurs auf die klassifikatorische Rassenbestimmung weist demnach auf die von Viernstein intendierte Erfassung und Beurteilung der verbrecherischen Schichten innerhalb der Gesamtbevölkerung hin. Aus dieser Perspektive erscheinen die Messungen, analog zur Kartografierung des Körpers, als mapping criminality: Als administrative Erfassungspraktik war die Kriminalbiologische Untersuchung ein Teil eines sozialtechnologischen, dann zunehmend rassenhygienischen Klassifikationsnetzes. Die anthropometrischen Messungen im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung erscheinen als der rassenanthropologische Anteil, als die Erfassung der körperlichen Beschaffenheit einer Bevölkerung bzw. einer abgrenzbaren sozialen Gruppe. Die anthropometrische Vermessung der jeweiligen körperlichen Merkmale des einzelnen Verbrechers diente demnach immer auch dem übergeordneten Ziel der Erfassung des abweichenden Bevölkerungsteils.

D AS U NTERSUCHUNGSDESIGN Viernsteins ausführlicher Untersuchungsbogen umfasst vier größere Abschnitte, in denen genealogische, biografische, charakterologische und anthropometrische Daten erhoben werden sollten. Im genealogischen Abschnitt sollten Informationen über die Eltern und die Verwandten zusammen kommen, wobei es nicht, wie Wetzell meint, nur darum ging, die erblichen Verhältnisse zu eruieren, sondern auch darum, die eventuelle sozial-konstitutionelle Verhinderung des Unverbesserlichen durch Anlage und/oder Umwelt oder eben auch die mögliche Basis für erzieherische Einflüsse beim Besserungsfähigen offen zu legen. Die Lebensentwicklung des Gefangenen stand im zweiten Abschnitt im Mittelpunkt: Erziehungseinflüsse, Schulbesuch, Ausbildung, Beruf, Militär, seine kriminelle Karriere. Der dritte Abschnitt, die charakterologische Ausmessung, ist der umfangreichste Teil, wo in überaus detaillierter Weise die normal-psychologische bzw. die psychiatrische Struktur der Persönlichkeit, des Charakters herausgearbeitet werden sollte. Der Untersucher sollte z. B. das Temperament, seelische Störungen, die Intelligenz, die Reaktionsweisen, die Ausdrucksformen, die Haltung des Untersuchten zu seiner Umwelt und mögliche Geisteskrankheiten bestimmen und, wenn möglich, den Probanden in das Kretschmersche Konstitutionsschema einordnen. Am Ende dieses Abschnitts war die soziale Prognose zu stellen. Abgeschlossen wurde die Untersuchung durch umfangreiche anthropometrische Messungen, eine detaillierte körperliche Beschreibung und die Anfertigung einer (Nackt-)Fotografie. Zusätzlich sollten die Probanden einen handschriftlichen Lebenslauf anfertigen. Flankiert wurde die Untersuchung durch die Ergebnisse der Heimatbögen. Beim verkürzten Fra

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gebogen für die so genannte „psychologisch-soziologischen Untersuchung“ fehlten, da sie von anderen Anstaltspersonal als dem Arzt vorgenommen werden sollte, die erbbiologischen und psychiatrischen Befundbereiche; er war beschränkt auf den normal-psychologischen Charakter und auf die Umweltverhältnisse des Strafgefangenen. Der Fragebogen umfasste sechs Fragebereiche: Persönliche Daten, Elternhaus, Lebensgang des Gefangenen, kriminelle Laufbahn, psychologisches Bild des Gefangenen und den Bereich der typologischen Schlussfolgerungen, wo eine Einschätzung über die Zugänglichkeit des Gefangenen für erzieherische Maßnahmen abzugeben, wo also letztlich die Frage „besserungsfähig“ oder „unverbesserlich“ – ohne erbbiologische oder psychiatrische Aspekte – zu entscheiden war. Auch diese Untersuchung wurde um Heimatberichte ergänzt. Im folgenden Abschnitt werden die vier Untersuchungsbereiche des Fragebogens im einzelnen vorgestellt und ausführlich analysiert. Dabei soll versucht werden, den Hintergrund einzelner Untersuchungspunkte einerseits mit den in den Texten Viernsteins ausgebreiteten theoretischen Begründungen, andererseits mit zeitgenössischen Kontexten in Verbindung zu bringen. Dabei muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass vor allem die sozialen Kontexte weder in den Schriften Viernsteins noch in der konkreten Durchführung einer Untersuchung expliziert wurden. Es handelt sich hier, etwa wenn die (Un)Ehelichkeit der Geburt eines Strafgefangenen festgestellt werden soll, meines Erachtens um eine in der kriminologischen Forschung der Zeit ebenfalls immer noch übliche Hereinnahme lebensweltlicher Evidenzen, die mit impliziten zeitgenössischen Gesellschafts- und Moralvorstellungen und -vorurteilen aufgeladen waren – was sich dann in der konkreten Untersuchung, wie zu zeigen sein wird, noch verstärkte. Die Kontexte sollen hier demnach angerissen werden, um zu zeigen, mit welchem (impliziten) Erkenntnispotential sie versehen waren. An dieser Stelle, stärker natürlich noch bei der konkreten Untersuchung, lässt sich Oliver Liangs Befund, das kriminalbiologische Projekt habe sich aus zeitgenössischen Moralvorstellungen gespeist und diese in eine (pseudo)wissenschaftliche Form gebracht, um eine auf der Biologie gegründete Moralalität durchzusetzen, bestätigen. Genealogische Ausmessung Mit der genealogischen Ausmessung eines Strafgefangenen verfolgte Viernstein das Ziel, den „Stamm“ des Probanden, also seinen unmittelbaren Verwandtschaftskreis – Eltern, Geschwister, eigene Kinder – abzubilden, um, je nach Ergebnis, Schlussfolgerungen hinsichtlich des Verhältnisses von anlage- oder umweltbedingten Faktoren in dessen Charakter näher bestimmen zu können. Dabei sollte nach den Umständen der Geburt, nach der Persönlichkeit von Vater und Mutter und deren Stämmen sowie nach der Art der elterlichen Ehe gefragt werden. Die Auskünfte stammten größtenteils vom Strafgefangenen selbst und wurden durch die Heimatberichte ergänzt.

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Die erste Frage des kriminalbiologischen Untersuchungsbogens richtete sich auf den Beginn des Lebens eines verbrecherischen Menschen: „Ehelich oder unehelich geboren?“ Unehelichkeit scheint nicht zuletzt wegen dieser prominenten Positionierung an erster Stelle als ein potentieller kriminogener Faktor verstanden worden zu ein. Dass nach der Ehelichkeit gefragt wird, beruht zunächst einmal darauf, dass die uneheliche Geburt als soziales Stigma häufig einen schlechten Ruf sowohl des Kindes als auch der Mutter begründete. Sozialmoralisch konnte hinter der unehelichen Schwangerschaft der Frau eine ‚Vergangenheit‘, die Neigung zur Leichtlebigkeit und Haltlosigkeit, vermutet werden. Dieses Vorurteil traf vor allem Frauen aus dem Arbeitermilieu und Fabrikarbeiterinnen, es wurde aber auf das proletarische Sexualleben insgesamt projiziert (vgl. Lipp 1990). Das Kind selbst war mit dem sozialen Makel des „Bankert“ behaftet, es erhielt gleichsam eine sittlich-erzieherische ‚Verhinderung‘ mit auf den Lebensweg. Mutter und Kind gerieten schnell in eine gesellschaftliche Außenseiterrolle. Eine uneheliche Geburt war zwar oft auch der Anlass zur Heirat, so dass aus der unehelichen eine voreheliche Geburt wurde. Gleichwohl aber blieben unverheiratete Mütter in der Regel doch stigmatisiert: Keinen Mann zum Kind zu haben, zeugte von einem erheblichen moralischen Mangel, von Leichtlebigkeit und Haltlosigkeit. Die Unehelichkeit war hier das Zeichen für eine konstitutive Anomalie, viele ledige Mütter seien „moralisch, manche auch geistig minderwertig“ (Oekinghaus 1925: 159, Am. 1). Auch kriminalistisch war die ledige Mutter tendenziell der Abtreibung, der Kindsaussetzung oder der Kindstötung verdächtig: „Am ehesten tötet aber bekanntlich die ledige Mutter. Die Kinder sind auch leicht zu töten, wehren sich nicht oder nur wenig“, befand der Psychiater Paul Näcke (1851-1913) (Näcke 1908: 87). Manche Kriminologen sahen die ‚Verhinderung‘ des unehelichen Kindes durch die konstitutionelle Schwäche jener Kreise, aus denen sich auch die meisten Verbrecher rekrutierten, bedingt (Wulffen 1925: 288-318): Uneheliche begingen infolge angeborener „Minderwertigkeit“, die durch das Milieu eine Steigerung erfahre und darauf beruhe, dass bei den Unehelichen besonders in ländlichen Gegenden die Bedingungen für die körperliche, geistige und sittliche Entwicklung nicht in hinreichendem Maß geboten sei, verhältnismäßig häufiger Verbrechen. Die „Minderwertigkeit“ der Unehelichen sei aber nicht durch die soziale Umwelt bedingt, sondern vor allem durch die „Minderwertigkeit“ der unverheirateten Eltern. Die „Minderwertigen“ seien dem „Kampf ums Dasein“ nur ganz unzulänglich gewachsen; zu ihrer angeborenen Unzulänglichkeit geselle sich noch, wenn sie aus einer „entarteten“ Familie stammten, das Problem hinzu, dass sie keine vernünftige Erziehung genossen hätten: Die ungünstige wirtschaftliche Lage der ledigen Mutter, die schwierige Stellung der unehelichen Kinder in der Gesellschaft, der Mangel eines geordneten Familienlebens führe dazu, dass die Erziehung der unehelichen Kinder empfindlich Not leide und der Entwicklungsgang geschädigt werde (Aschaffenburg 1923: 153f.). Mangelhafte Berufsausbildung schließlich führe leicht zu Kriminalität (Hentig 1914: 216). 

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Die schwierige Lage der ledigen Mutter betraf jedoch nicht nur den wirtschaftlichen Aspekt, sondern auch das Fehlen der Familie als ‚Notgemeinschaft‘, als Überlebensform im ökonomischen Sinne (Kienitz 1989: 87-92). Die Abwesenheit des männlichen Elternteils (der Vater als Familienvorstand, Haupternährer und Repräsentant) wurde als existentielle Bedrohung für das Überleben der Familie sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer Hinsicht verstanden. Erst durch einen männlichen Familienvorstand konstituiere sich Familie; dessen Abwesenheit zeugte hier von der Nichtexistenz bürgerlichen Familienlebens und wurde als potentiell kriminogener Faktor gesehen (Becker 2002: 187). Darüber hinaus kam der ledigen Mutter und ihrem Kind eine rechtliche Sonderstellung zu: Es sei immer noch der Fall, dass der unehelichen Mutter und ihrem Kinde an dem Vater keine Rechte zugestanden und beide der wirtschaftlichen Verelendung und der sozialen Ächtung verfallen würden (Oekinghaus 1925: 158). Der Vater habe zwar Unterhaltspflicht, doch stehe der Alimentationsanspruch auf unsicheren Füßen: Die Väter gehörten meist den unteren Schichten der Bevölkerung an und seien durch häufige Ortswechsel in der Lage, sich der ohnehin niedrigen Alimentation zu entziehen (Oekinghaus 1925: 161). Die Proletarisierung der unehelich Geborenen sei eine Folge dieser Realitäten; durchschnittlich seien den unehelichen Kindern nicht annähernd die äußeren Entwicklungsmöglichkeiten gegeben wie den ehelichen: Die Mütter, die sich notwendigerweise bald nach der Geburt wieder der Erwerbstätigkeit zuwendeten, gäben ihr Kind in der Regel vierzehn Tage bis vier Wochen nach der Geburt in Pflege; die äußeren Entwicklungsmöglichkeiten seien am ungünstigsten für diejenigen Kinder, die bei der unverheirateten Mutter blieben, denn in sozialer Ächtung ohne wirkliches Familienleben seien sie „körperlicher und sittlicher Degeneration“ ausgeliefert (Oekinghaus 1925: 163, Anm. 1). Sozial-psychologisch argumentierte Hildegard Kipp in ihrer 1933 erschienenen Studie über Unehelichkeit. Sie nannte verschiedene konfliktauslösende Momente wie etwa die öffentliche Meinung über die Unehelichkeit, die „Verheimlichungs-Sphäre“ (die Verleugnung des unehelichen Kindes), die vom Kind geschaffene „Heimlichkeits-Sphäre“, verschiedene Erlebnisse der Unehelichkeit in familiären Situationen. Hinzu träten konfliktverstärkende Momente, etwa wenn eine „spezifische Nähe“ zwischen Mutter und Kind bestünde oder eine psychopathische Konstitution vorliege. Letztere sei geprägt durch eine hohe „Erlebnisbereitschaft“ sowie durch eine gesteigerte Sensibilität und Reaktivität; käme nun noch die ganze spezifische Lebenssituation der Unehelichen hinzu – die Fülle von Kränkungen, Verleugnungen, der Liebesentzug, die Unsicherheit, die Unruhe und das Hin- und Hergerissensein –, so gestalte sich das Erlebnis bei psychopathischen Unehelichen in besonders vertieft (Kipp 1933: 134f.). Strategien der Konfliktbewältigung reichten von „strebenden“ Momenten der Sehnsucht über „fliehende“ Momente der Resignation und „ideell überwindende“ Momente der Identifikation bis zum „reaktiv-oppositionellem“ Moment der Aggression. Damit seien alle mit dem Ziel der Selbstbehauptung sich antisozial äußernden Verhal-

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tensweisen gemeint und zwar sowohl psychischer wie körperlicher Art, außerdem alle reaktiven objektfeindlichen Affekthandlungen und -entladungen (Kipp 1933: 154-165). Aggressives Verhalten als Antwort auf erlebten Liebesentzug sei bei Unehelichen häufig festzustellen, Aggression aus der Motivation der Rache komme ebenfalls vor. Die oppositionelle Aggression, etwa gegen die Mutter, den Lehrer, den Meister, die Pflegeeltern, aber auch gegen die Gemeinschaft, die dem Unehelichen mit Kränkungen und Zurückweisungen entgegentrete, sei die typische Haltung vieler Unehelicher: „Eine Einfügung in diese Gemeinschaft ist für die nur aggressiv eingestellten Unehelichen außerordentlich schwierig, weil ihnen die wesentliche Voraussetzung dafür fehlt: die Möglichkeit der Anerkennung einer Autorität“, die sich bei Unehelichen überhaupt nur schwer ausbilde (Kipp 1933: 165). Die Frage nach der Ehelichkeit der Geburt in der kriminalbiologischen Untersuchung zielte also vor dem soziokulturellen Hintergrund dieser Problemlage und vor der unterstellten Minderwertigkeit der ledigen Mutter und deren potentieller Weitergabe an das uneheliche Kind auf den „verhinderten Menschen“, dem seine ‚Verhinderung‘ – als soziale oder psychische – in die Wiege gelegt und in der Erfahrung einer zurückweisenden Umwelt erworben war. Die Wahrscheinlichkeit einer kriminogen wirksamen ‚Verhinderung‘ des unehelichen Kindes scheint die Aufnahme dieser Frage, gerade an der prominenten ersten Position im Fragebogen, legitimiert zu haben. Einem ähnlichen Muster folgten die Fragen zur Abstammung des Probanden: zu seinem Vater, seiner Mutter, der elterlichen Ehe und zu den Verwandten. Auch hier wurde eine ‚Verhinderung‘ erfragt, die je nach Problemlage auf einen erbmäßigen oder einen umweltlichen Hintergrund hin interpretiert werden konnte. Mit der Frage nach einer eventuellen Trunksucht des Vaters oder der Mutter ist ein wesentliches Moment einer potentiellen ‚Verhinderung‘ des Probanden sowohl aus zeitgenössischer erbbiologischer als auch sozialer Sicht benannt: Während die Sozialisation im Umfeld von Alkohol schwierig sein könne, erschien vielen Kriminologen die Abstammung von „Trinkern“ wegen einer potentiellen Schädigung des Erbgutes als ein Faktor von Degeneration problematisch. Am Beispiel des Alkohols lässt sich zeigen, welcher Art die Entwicklung vom Erzählmuster des „gefallenen Menschen“ hin zu dem des „verhinderten Menschen“ war: eine Schwerpunktverlagerung, durch die neue Vorstellungen über die Genese von Kriminalität in das neue Erzählmuster integriert wurden. Peter Becker hat auf die Bedeutung des Alkohols für das Erzählmuster des „gefallenen Menschen“ aufmerksam gemacht, der in erster Linie für das Herbeiführen des trunkenen Zustandes zur Verantwortung gezogen wurde (Becker 2002: 351358). Um 1900 war es eine etablierte Auffassung, dass Alkoholmissbrauch alle Gewebe und Organe krankhaft verändere und nachhaltig die Konstitution des Individuums beeinflusse. Mit dieser medizinischen Vorstellung wurde nicht die moralisch-sittliche Verurteilung des Alkoholismus ersetzt, vielmehr lagerte es sich an diese an und stellte neue Modelle zur Erklärung der moralisch-sittlichen Depravation der „Trinker“ bereit. Vor allem im Fa

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milienleben äußerten sich nach dieser Überlegung die Folgen der Trunksucht, etwa in der körperlichen und sozialen Benachteiligung der Kinder: Totgeburten, geistiges Zurückbleiben, angeborene Missbildungen, Schwachsinn, Epilepsie – „[…] das ist die traurige Erbschaft, die das Kind des Trunkfälligen mit auf die Welt bekommt. Körperliche und geistige Krüppel, wie sollten sie dem Kampf ums Dasein gewachsen sein? Sie sind die geborenen Anwärter des Irrenhauses und des Gefängnisses“ (Aschaffenburg 1923: 56). Die Kinder stellten aus der Sicht der medizinisch-biologischen Modellen folgenden Kriminologen ein großes Problem dar, weil sich bei ihnen die Degeneration, der sie aufgrund von Keimschädigung unterliegen würden (Weingart et al. 1996: 48f.), durch Alkoholmissbrauch potenzieren konnte und sie aufgrund von nur gering entwickelten moralisch-sittlichen Hemmungsvorstellungen eine Gefahr für die Gesellschaft darstellten (Becker 2002: 355). Aschaffenburg schilderte nicht nur die generativen Folgen des Alkoholmissbrauchs in deutlichen Worten; für die sozialen Folgen findet Aschaffenburg nicht minder drastische Beschreibungen: „Mit der traurigen Erbschaft ist das Verhängnis für die Kinder noch nicht erschöpft. […] In Schmutz und Elend verkommen, abgehärtet gegen das hässliche Schauspiel der Trunkenheit, gewöhnt an den brutalen Egoismus des Vaters, an widerliche Streitigkeiten und rohe Gewalttätigkeit, – was soll in einem solchen Kinde die Bildung sittlicher Vorstellungen ermöglichen?“ (Aschaffenburg 1923: 57). Das Verhängnis der biologischen Erbschaft und der sozialen Gewöhnung von Kindern aus Trinkerfamilien galt ihm als ‚Verhinderung‘. Vererbung und Milieu wurden sowohl im Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“ als auch in dem vom „verhinderten Menschen“ thematisiert, wobei die Unterschiede in der Gewichtung lagen: Die selbstverantwortliche Verstrickung des „Trinkers“ und die anschließende moralische Korruption seiner Kinder auf der einen, der Faktor der erblichen Belastung mit einer minderwertigen Konstitution, die durch das schlechte Beispiel verstärkt werde, auf der anderen Seite (Becker 2002: 353). Hier muss nun, eingedenk der These von der Gleichzeitigkeit der Erzählmuster, genau argumentiert werden, um das Verhältnis der Erzählmuster zueinander zu bestimmen: Während sich die Äußerungen über Alkohol im Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“ in erster Linie auf den „Trinker“ selbst konzentrierten, haben jene im Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ dessen anlageoder umweltbedingt „geschädigte“ Nachkommen im Blick. In dieser Konzentration auf den bereits im Leben Stehenden, der sich entscheiden kann, einerseits und in der auf den von vornherein „verhinderten Menschen“ andererseits liegt eben genau der Unterschied zwischen den Erzählmustern, der einen Vergleich schwierig, aber auch ihre Unterscheidung möglich macht. Die Vorstellung, dass die Entscheidung zum Trunk in der ‚Verhinderung‘ der Nachkommen ende und dass das schlechte Beispiel des sich zum Trunk entscheidenden Elternteils die „minderwertige“ Anlage verstärke, verbindet den „gefallenen Menschen“ – den „Trinker“ – und den „verhinderten Menschen“ – den Nachkommen – in einer aufeinander bezogenen Art und Wei-

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se. Die Gleichzeitigkeit der Erzählmuster muss demnach deutlich herausgestellt werden. Unsittlichkeit und körperlicher Verfall durch Alkoholmissbrauch betrafen im Rahmen der Erzählmuster im Übrigen vor allem den sozialen Raum der niederen Bevölkerungsschichten, auf den der kriminologische Diskurs die Alkoholproblematik einschränkte (Becker 2002: 353; vgl. dazu auch Spode 1993) – die Kriminalbiologische Untersuchung spiegelte diese Einschränkung, die durchaus in Einklang mit der rassenhygienischen Einschätzung der Rolle des Alkohols stand, durch die signifikante Abwesenheit von betroffenen Mittel- oder Oberschichtenangehöriger. Der Umstand, dass die Informationen über die Eltern vom Probanden selbst geliefert wurden – ergänzt durch die Informationen aus den Heimatberichten –, wird in dem Moment bedeutsam, wo über eine eventuelle Kriminalität der Eltern Auskunft zu geben war. Intendiert war mit diesem Untersuchungspunkt einerseits die Feststellung eines kriminellen Milieus, das sich auch auf die Verwandtschaft erstrecken konnte. Andererseits konnte, wenn man die Daten in diese Richtung interpretierte, die Ahnung der Heredität von Kriminalität aus den Angaben herausgelesen werden. Es gab in der Kriminologie die Meinung, dass die hohe Kriminalitätsziffer unter den Geschwistern ein Fingerzeig sei, die kollaterale Belastung nicht ganz außer acht lassen zu können; es herrsche zweifellos „polymorphe Vererbung“ vor (Michel 1925: 256f.). Die Vorstellung der Existenz von Verbrecherfamilien war schon von Lombroso popularisiert worden (Lombroso 1894: 133-156); andere Kriminologen, wie etwa Aschaffenburg, sahen die Frage der unmittelbaren Vererbung von Kriminalität aber durchaus kritisch: „Ich kann dem nicht zustimmen. Die Erscheinung, daß Kinder verbrecherischer Eltern wieder zu Verbrechern werden, läßt doch auch noch andere Deutungsmöglichkeiten offen, ebenso wie die nicht selten beobachtete Tatsache, daß sich ganze Familien, ja ganze Ortschaften durch eine vorwiegend verbrecherische Tätigkeit auszeichnen. Ein Kind, das von frühester Jugend an in einer Umgebung von Verbrechern und Dirnen lebt, nimmt auch an ihrem Denken teil und kommt gar nicht zu anderen, rechtlich einwandfreien Anschauungen.“ (Aschaffenburg 1923: 149f.)

Gleichwohl vertrat auch Aschaffenburg die Meinung, dass Kinder aus „entarteten“ Familien vielleicht nicht mit kriminellen Neigungen ausgestattet, wohl aber vielfach körperlich und geistig minderwertig seien. Deren mangelnde Bildungsfähigkeit wirke sich auch auf die Erziehung aus, und der Schritt ins Verbrechertum sei dadurch verständlich, dass sie dem Kampf ums Dasein nur ganz unzulänglich gewachsen seien (Aschaffenburg 1923: 152). Interessanterweise finden sich in den Texten Viernsteins keine Anmerkungen dazu, wie genau Kriminalität in einer Familie – als Anlage- oder als Umwelteinfluss – im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung von Bedeutung sein sollte. Dies spricht sehr für die Interpretation, dass einerseits diese Frage auf der eben genannten Vorstellung beruhte, Kriminalität im Stamm sei erbbiologisch gesehen ein Zeichen von Minderwertigkeit 

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und habe in irgendeiner Weise den untersuchten Gefangenen geprägt, und dass dieser Untersuchungskomplex andererseits in erster Linie im Dienst der kriminalistischen, kriminalpolitischen und rassenhygienischen Erfassung einer kriminellen Bevölkerungsschicht stand: Wenn der Proband Auskunft über Eltern und Verwandte lieferte, konnten gleichsam im Schneeballsystem sofort zehn bis fünfzehn und mehr Personen inventarisiert werden. Kriminalität im „Stamm“ konnte darüber hinaus auch Hinweise auf die wirtschaftliche Lage der Gefangenen und ihren Familien geben. Überblickt man die Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, so zeichnet sich eine recht eindeutige Tendenz ab: In einem, vielleicht in zwei Fällen von Hundert pro Jahrgang werden Angehörige der Mittelschichten untersucht; mir ist kein Fall eines Angehörigen der Oberschicht begegnet. Die Untersuchten entstammten demnach fast alle den unteren Schichten, es waren häufig lohnabhängige Gehilfen oder Arbeiter, also nicht unbedingt selbstständige Handwerker oder Unternehmer. Die allermeisten Fälle kamen aus der Schicht der proletarisierten Land- und Fabrikarbeiter. Etwas quer dazu liegen die Sittlichkeitsdelikte: Wenn ein Angehöriger der Mittelschichten eine Strafe zu verbüßen hatte, dann meistens wegen Sexualdelikten oder aber Betrug bzw. Unterschlagung (von Firmenkapitel etwa). Ein ähnliches Bild zeigt sich, wenn man die zeitgenössische kriminologische Literatur mit heranzieht: Es sind namentlich Delikte wie Bettelei, Landstreicherei, Diebstahl aus Not, die im Zusammenhang mit Rückfallkriminalität bzw. dem „Gewohnheitsverbrechertum“ immer wieder genannt werden. Die Kriminalbiologische Untersuchung erscheint somit als Teil und Ergebnis jenes Wissens, das durch zeitgenössische Analysen dieser sozialen Phänomene wie etwa der Kriminologie produziert und in der Praxis der Sozialgesetzgebung, der Gerichte oder des Strafvollzugs appliziert wurde. Dieses Wissen verband verschiedene Phänomene zu einem strukturellen Zusammenhang: Das soziale Phänomen der Armut bzw. der Proletarisierung im Zuge des sozialen Strukturwandels seit Ende des 19. Jahrhunderts, die Marginalisierung und Kriminalisierung von Armut (zur Marginalisierung z. B. Jütte 2000: 190-236) in der Folge eines gesellschaftlichen Etikettierungsprozesses und die Profilierung der Kategorie des Gewohnheitsverbrechers und die Praktiken seines kriminalistischen und kriminologischen Nachweises. In diesem Zusammenhang kann die Historische Kriminalitätsforschung helfen, deren Augenmerk bislang aber auf der Frühen Neuzeit und nur selten auf der Situation seit Ende des 19. Jahrhunderts lag. Mit der historischen Kriminalitätsentwicklung, der Stigmatisierung sozialer Schichten und der staatlichen Strafpolitik hat sie zentrale Aspekte dieser Zeit zum Gegenstand (vgl. etwa Schwerhoff 1999: 130-149; Evans 1997). Ihre Erkenntnisse müssten, soweit sich das an einem zugänglichen Quellenmaterial zeigen lässt, jeweils für die hier in Betracht kommende Zeit aktualisiert werden: Armut und ihre Kriminalisierung stellte auch seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine zentrale soziale Problematik dar und kann zwischen Prozessen der sozialen Entwurzelung infolge der Industrialisierung und Mobilisierung,

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durch periodisch auftretende Krisenphänomene wie Hungersnöte, Teuerung usw. auf der einen und einer zunehmenden, von Obrigkeit und Justiz ausgehenden Kriminalisierungstendenz auf der anderen Seite verortet werden. Da in der Regel mit einer Ausweitung des Wissens vom devianten Subjekt auf diese soziale Problematik reagiert wurde, erweist sich dieser sozialhistorische Komplex als eine Schnittstelle zwischen gesellschaftlichem Wandel und Wissenskultur, zwischen dem Bedürfnis nach Generierung neuen und besseren Wissens und seiner Applizierung. Die Kriminalbiologische Untersuchung lag an dieser Schnittstelle, indem mit ihr vorgängig als wissenswert erachtete Informationen abgefragt und über die sozial-moralische und biologische Wertung dieser Informationen den von ihr Untersuchten Gefangenen klassifiziert und damit über sein weiteres Schicksal entschieden wurde. Im Zusammenhang mit der sich durch die Zielrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung ergebenden Fragehaltung der Untersucher, „Auffälligkeiten im Stamm“ entweder anlageprägend oder umweltbestimmt, immer aber zu Lasten des Untersuchten zu interpretieren, erlangte dieser Zusammenhang nicht nur in der Frage von Alkoholismus, wirtschaftlicher Lage oder Kriminalität Bedeutung, sondern auch und gerade dann, wenn sich der Untersucher ein Bild verschaffen sollte von Charakter, Temperament und familiärem Verhalten des Vaters und der Mutter des Probanden. Da aber die Informationen vom diesem selbst stammten, kann der Wahrheitsgehalt der Antworten sich nur auf dessen Wahrnehmungsweise beziehen. Gleichwohl übernahmen die Untersucher in den allermeisten Fällen dessen Angaben: „Vater Trinker, sonst freundlich“, „Vater Säufer und haltloser, erregbarer Psychopath, 2mal Zuchthaus wegen Sittlichkeit“, „Vater verschwenderisch, vertrank sein Anwesen, gab schlechtes Beispiel in Erziehung“, „Mutter an Epilepsie gestorben“, „von der Mutter wie ein ‚Muttersöhnchen‘ behandelt worden“. Die Akten zeigen, dass die Untersucher den Angaben in der Regel nur dann misstrauten, wenn sie dem Probanden insgesamt misstrauten oder wenn eine Diskrepanz zwischen dessen Aussagen und denen der Heimatberichte vorlag. Ähnlich gelagert war die Frage nach den Charakteren und Eigenschaften der Verwandten; soziale und geistige Auffälligkeiten wurden nach der Sicht und nach den Kenntnissen des Probanden notiert, etwa: „Bruder der Mutter soll an religiösem Wahn gelitten haben“. An Besonderheiten im Stamm waren auffällige Charaktere in der Verwandtschaft zu erfragen, Pauperismus, Auswanderung, uneheliche Kinder, wirtschaftliche oder kriminelle Entgleisungen, Geisteskranke usw. Wie alle Fragen im Umfeld dieses ersten, des genealogischen Untersuchungskomplexes zielte auch diese Frage darauf, welche ‚Verhinderungen‘ sozialer oder erbmäßiger Natur dem Probanden über die Eltern oder dem nahen Verwandtschaftskreis mit auf den Weg gegeben waren. Daher lag – wie bei der Erfragung der Trunksucht der Eltern – auch die charakterliche Einschätzung und die Erfragung eventueller geistiger Störungen oder Geisteskrankheiten und sonstiger sozialer und geistiger Auffälligkeiten vom Anspruch her ganz auf der Linie des Anlage und Umwelt als wechselwirkende Faktoren verste

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henden Degenerationskonzeptes einerseits oder rein soziologischer Milieuerklärungen andererseits. Erneut zeigt sich, dass im Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ die ohnehin idealtypische Dichotomie zwischen Anlage und Umwelt, zwischen biologistischen und soziologistischen Erklärungen, aufgehoben war. Zugleich aber war mit dieser Frage, wie schon mehrfach angedeutet, die Möglichkeit gegeben, das Umfeld des Verbrechers in seiner sozialen und geistigen Struktur zu erfassen. Vor allem die Geschwister, Verwandten und angeheirateten Personen wurden mit Namen, Beruf, Kinderzahl und einem Kommentar über eventuelle Auffälligkeiten erfasst. Vater und Mutter des Probanden waren je eigene Fragenkomplexe gewidmet, zu denen größtenteils die gleichen Fragen gestellt wurden. Über die Mutter sollte der Untersuchte jedoch noch zusätzliche Auskünfte geben; an den hierüber an den Gefangenen gerichteten Fragen lassen sich zeitgenössische Ehe- und Familienvorstellungen, auch Frauen- und Mutterbilder, wenigstens indirekt, ablesen. Gefragt wurde der Proband nach der hausfraulichen und mütterlichen Einstellung seiner Mutter, nach ihrem Verhalten gegenüber dem Ehemann, den Kindern und der Nachbarschaft, nach ihrer sittlichen und erzieherischen „Qualität“ und über ihre Neigung zu Streit oder Putz. Aussagen wie „Mutter kränklich und nachgiebig“, „Mutter schwachsinnig, sondern harmlos und gutmütig“, „Mutter gutmütig, verträglich, opferfähig, warmherzig, sparsam, tüchtig im Hause, fleißig, besorgt, solid“ bestimmten die Bewertung der Mutterrolle, die allein aus den Informationen des Probanden und damit aus dessen Perspektive gewonnen wurden. Wurde nichts notiert, war – so kann geschlossen werden – das Verhalten der Mutter offensichtlich in Einklang mit nicht weiter spezifizierten Kriterien von Weiblichkeit und Mutterrolle. Notiert wurden dagegen vor allem Abweichungen, die stigmatisierend auf den Charakter der Mutter zielten: „Streitsucht“, „Putzsucht“, sexuelle „Triebhaftigkeit“, „Schwatzsucht“, „Zank mit den Nachbarn“ finden sich als Charaktereigenschaften im Fragebogen. Die Frage nach dem Zustand der elterlichen Ehe zielte darauf zu erfragen, ob die Ehe und die Familienstruktur harmonisch gestaltet war. War das aufgrund von Trennung, Scheidung oder Tod eines Elternteiles nicht der Fall, dann konnte unter Umständen eine dysfunktionale Familie vorliegen, die eine ‚Verhinderung‘ des Probanden im sozialen wie auch im hereditären („Minderwertigkeit“) Sinne begründen konnte. Hinsichtlich der diesen Fragen unterliegenden, impliziten Gesellschafts- und Moralvorstellungen lässt sich Ähnliches sagen wie oben zur Unehelichkeit, zumal auch die Existenz vorehelicher Kinder erfragt wurde. Die Familie als zentraler Ort der bürgerlichen Vergesellschaftung diente so als Maßstab, der dysfunktionalen Familienstruktur der untersuchten Verbrecher einen kriminogenen Einfluss zuzuschreiben. Wie in allen Bereichen der Kriminalbiologischen Untersuchung wurde aber auch hier die Umkehrung dieser Schlussfolgerung nicht reflektiert, nämlich warum in anderen dysfunktionalen Familien vielleicht keine Kriminalität vorlag und welche Bedingungen es in dem konkret vorliegenden Fall waren, die zur Kriminalität geführt hatten.

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Zudem wurde nach weiteren ehelichen und unehelichen Kindern der Eltern, nach den Geschwistern des Probanden also, gefragt. Während beim Stamm von Vater und Mutter vor allem nach deren Geschwistern und den sozialen, geistigen und kriminellen Auffälligkeiten gefragt wurde, so steht hier nun die unmittelbare Familienebene im Mittelpunkt. Die Gesamtzahl der Kinder, die Geburtenreihenfolge, Geburtsjahre, Sterbejahre, Lebensalter und eventuelle Todesursachen, Alter, Stand, Wohnort waren zu erfragen; diese Angaben ergaben eine Art quantitatives, familiäres Koordinatensystem, dass auf der ‚qualitativen‘ Ebene mit Fragen nach der sozialen und wirtschaftlichen Lage, nach Schulerfolge, nach den geistigen und gemütlichen Anlagen, nach Kriminalität und Trunksucht abgerundet wurde. Biografische Ausmessung Der Untersuchungsbereich der biografischen Ausmessung umfasste ein Sammelsurium an potentiell kriminogenen Faktoren im Leben eines Menschen, die sich wiederum mehr oder weniger eindeutig einem der hier in Rechnung stehenden Erzählmuster zuordnen lassen. Die Fragerichtung zielte auf das determinierende Milieu, auf die persönliche Lebensgestaltung und die Lebensentscheidungen des Probanden, auf seine Gesinnung, auf eventuelle pädagogische Ansatzmöglichkeiten zur Besserung sowie schließlich auf ‚Verhinderungen‘ körperlicher, geistiger sozialer Art. Gefragt werden sollte nach Erziehung und Erziehungseinflüssen, nach Schulbesuch und Schulerfolgen, nach Berufswahl, Berufswechsel und Wanderschaft, nach den Militär- und Kriegserfahrungen, nach dem Einsetzen und der Wiederholung von Kriminalität, nach der Entwicklung und dem Stand der wirtschaftlichen Lage, nach einer Verheiratung und nach Kindern, nach der persönlichen Jugendentwicklung, nach späteren Krankheiten, nach Trunksucht und schließlich nach der persönlichen Stellung zur Tat. Auch hier stammten die Antworten, soweit sie nicht aus der vorliegenden Personalakte entnommen werden konnten, vom Gefangenen selbst. „Auf steinigem Boden gedeiht keine Frucht, und es bedarf nicht erst noch des schlechten Keims, um den Mißwachs erklärlich zu machen“ (Aschaffenburg 1923: 101). Mit dieser aphoristischen Bemerkung machte Aschaffenburg das Verhältnis von Anlage und Umwelt, vor allem aber die Bedeutung der Erziehung aus der damaligen auch kriminalpädagogischen Perspektive deutlich. Die ersten beiden Punkte des Fragebogens zur biografischen Ausmessung setzen sich dann auch mit der Erziehung des Probanden in der Familie oder außerhäuslichen Erziehungsorten auseinander. Die außerhäusliche Erziehung in einem Heim deutete auf den Hintergrund einer dysfunktionalen Familie hin, manchmal auch auf eine große Not, wodurch der Proband zu Pflegeeltern oder in ein Erziehungsheim kam. Ohne dass dieser Bereich explizit abgefragt worden wäre, so ist neben der grundlegenden Bedeutung von Art und Umfang der Erziehung des Probanden für die Entstehung seiner Kriminalität hier vielleicht auch abgeho

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ben auf soziokulturelle Erscheinungen der jugendlichen Existenz im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, z. B. auf die Situation der Jugendlichen nach dem Ersten Weltkrieg oder auf den Aspekt der Verwahrlosung. Das Interesse der Sozialpädagogik hatte schon um 1900 eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem verwahrlosten Jugendlichen durch Mediziner, Psychologen und Pädagogen angeregt. Peukert nannte den Begriff der Verwahrlosung ‚relational‘; er bezeichne „die relative Stellung und Beurteilung von Personen mit abweichendem Sozialverhalten aus einer kategorischen Sichtweise heraus, die sich an den herrschenden gesellschaftlichen Normen der Zeit orientiert“ (Peukert 1986: 152). Und was Peukert für den Umgang mit und den Blick auf den verwahrlosten Jugendlichen feststellte, gilt wohl für den Blick auf den Verbrecher – in der Zeit der Weimarer Republik und auch in der Kriminalbiologischen Untersuchung – insgesamt: „Die Beschreibung von Fällen verwahrloster ‚Bewahrungsbedürftiger‘ durch professionelle Fürsorger hatte also immer eine doppelte Referenzfunktion: Sie verwies auf Notlagen und Problemkonstellationen in Lebenswelten der Betroffenen, die den Eingriff der Fürsorge hervorriefen, sie verwies aber zugleich auch auf die spezifische Problemrezeption und die ihr zugrunde liegende Ordnungsvorstellung seitens der Fürsorger.“ (Peukert 1986: 152)

Diese doppelte Referenz – bei Peukert: das Zusammenprallen unterschiedlicher Lebenswelten und das selbstgewisse Ordnungsbewusstsein tragender Gesellschaftsschichten – ist auch im pädagogisch orientierten Strafvollzug zu beobachten. Der Kriminalbiologischen Untersuchung kam in dessen Rahmen die Aufgabe zu, den Besserungsfähigen und Besserungsbedürftigen zu identifizieren und ihn der strafvollzuglichen und pädagogischen ‚Fürsorge‘ zu übergeben. Zugleich lagen dieser staatlich legitimierten administrativen Nachweispraktik die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen zugrunde, mit denen der Verbrecher zuerst bei der polizeilichen Strafverfolgung, dann bei der gerichtlichen Verurteilung und schließlich bei der wissenschaftlichen Klassifizierung als unverbesserlicher oder besserungsfähiger Verbrecher konfrontiert wurde. Die Ambivalenz der Moderne ging gleichsam mitten durch die Kriminalbiologische Untersuchung hindurch. Der Frage nach dem Ort der Erziehung – wenn es denn überhaupt eine gegeben hatte – kam aus der Perspektive des pädagogischen Strafvollzugs entscheidende Bedeutung zu, lag hierin doch z. B. begründet, ob ein Gefangener es gewohnt war, sich pädagogischen Autoritäten unterzuordnen oder nicht. Doch auch die häusliche Erziehung konnte durchaus eine problematische gewesen sein; darüber sollte die Frage zu mutmaßlichen günstigen oder schlechten Erziehungseinflüsse nähere Informationen bereitstellen: Wie waren die Erziehungseinflüsse auf die sittliche, soziale, wirtschaftliche oder kriminelle Entwicklung und Einstellung des Probanden gewesen? Diese Frage wurde spezifiziert, indem man nach der Religiosität in der Familie ebenso fragte wie danach, ob der Proband zu Bettel, Diebstahl oder Alko-

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holgenuss angeleitet worden war. Die Erziehungseinflüsse hingen auch davon ab, ob die Eltern Streit hatten oder ob „Pauperismus“ vorgelegen habe. Neben der häuslichen Erziehung waren der Schule als zweiter Sozialisationsinstanz zwei Fragepunkte gewidmet. Art und Weise des Schulbesuchs ließ die Beurteilung zu, ob Erziehung und Bildung regelmäßig verlaufen waren, ob bereits hier ein Aufbegehren gegen Autoritäten zu erkennen war, ob schon ein unregelmäßiger Schulbesuch auf eine spätere „Arbeitsscheu“ hinwies. Der unregelmäßige Schulbesuch musste jedoch nicht immer aus Faulheit, Rebellion oder „Minderwertigkeit“ resultieren: In ärmeren Familien wurde – gerade zu Erntezeiten – jede Hand zur Erwirtschaftung des Lebensunterhalts benötigt. Neben dem Schulversäumen aus „Verdienstzwang“, Krankheit und Schwänzen wurde in diesem Punkt nach den Gründen für den – schlechten – Schulerfolg gefragt, nach Sitzenbleiben, nach den Noten in Verstandes- oder Merkfächern. Diese Angaben wurden gestützt oder widerlegt aus den Angaben aus den Heimatberichten. Sie dienten letztlich dem Nachweis einer sozialen oder körperlich-geistigen ‚Verhinderung‘: War der Schulerfolg schwach, so wurde, wenn der Untersucher eine geistige ‚Verhinderung‘ an seinem Gegenüber feststellte, diese als Merkmal konstitutiv. Hinter dem Schulschwänzen etwa konnte sich aus der Perspektive des Untersuchers dann durchaus eine „minderwertige“ Anlage verbergen, genau so gut aber ließe sich auch hier eine bewusste Entscheidung gegen die Schule vermuten, die wiederum Rückschlüsse auf die Gesinnung des Verbrechers ermöglichte. Und schließlich konnten aus einer guten Erziehung Handhaben für eine Besserung deutlich werden. Die Bedeutung der Lehrzeit lag darin, eine Grundlage für die spätere Berufsausbildung und damit für die Chance eines geregelten Einkommens zu haben. Hatte ein Proband keine Ausbildung, dann lag hier, wenn man so will, durchaus eine Art sozialer ‚Verhinderung‘ vor. In diesem Zusammenhang spielte die Berufswahl insofern eine Rolle, als das „der geistig Tiefstehende sich nie über das Niveau des Handlangers und Tagelöhners erheben können“ werde (Aschaffenburg 1923: 51). Fragen nach der Lehrzeit, dem Lehrerfolg, vor allem aber danach, ob die Lehre abgeschlossen und eine weitere Qualifizierung (Geselle, Meister) erfolgt war, sollten über den Verlauf der Lehrzeit ebenso Auskunft geben wie über eventuelle Störungen. Auch ein Berufswechsel konnte im kriminogenen Zusammenhang als bedeutsam verstanden werden, da zum einen vielleicht mangelnde Anpassungsfähigkeit, Schwierigkeiten bei der Unterordnung unter die Autorität von Vorgesetzten oder der Arbeitszeit oder Streit mit dem Arbeitgeber vorliegen konnte, was auf einen ‚aufsässigen‘ Charakter hindeuten mochte. Zum anderen aber war hier von Bedeutung, ob mit dem Berufswechsel ein sozialer Auf- oder Abstieg verbunden war. Die Berufswahl war auch aus kriminalistischer Sicht bedeutsam: Untersuchungen zeigten, dass die Angehörigen der Landwirtschaft eine geringere Kriminalität hätten, weil sie sesshaft seien, während bei den weniger sesshaften Berufsarten den Verlockungen leichter nachgegeben werde; am höchsten sei der Verbrechensanreiz bei 

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Taglöhnern und Gelegenheitsarbeitern, da sich häufig die Arbeitsplätze und damit Existenzbedingungen veränderten, sie ein unstetes Leben führten, häufig in gefährdeter Lage seien und leicht dem Pauperismus verfielen (Michel 1925: 258; Lindenau 1904). Das führt zum nächsten Untersuchungsbereich: Mobilität, Wanderschaft, Landstreicherei und Bettel war ein besonderer Problemkomplex in der Kriminologie und vor allem in der Rechtsprechung der Zeit (Bonhoeffer 1900; Hippel 1895). Einen guten Überblick über die Auffassungen zum Vagabunden gibt Adolf Lenz: Der unstillbare Freiheitstrieb, der Widerwille gegen jede Schranke des Ichs, die große Empfänglichkeit für Natureindrücke, der Drang nach Abwechslung, die besondere Kraft im labilen Gefühlsleben des Psychopathen zusammen mit der geminderten Erwerbsfähigkeit ließen, so Lenz, im typischen Landstreicher eine notorische Unrast entstehen, die ihn mit kurzen Pausen in Arbeitsstellen immer wieder zur Landstraße zurückführten (Lenz 1927: 100). Zwar nennt Lenz es nicht beim Namen, aber mit dem „unstillbaren Freiheitstrieb“ bewegt er sich auf die pseudowissenschaftliche Theorie von der Poriomanie zu, eine angeblich hirnorganisch bedingte Krankheit, die für eine triebhafte und motivlose „Herumtreiberei“ verantwortlich sei. Dieser Trieb werde nicht durch die Umwelt ausgelöst, sondern sei endogen (Peters 1997: 394). Die Aufmerksamkeit, die der Vagabund in der Kriminologie erhielt, fand auf einer theoretisch-konzeptionellen Ebene in der Kriminalbiologischen Untersuchung interessanterweise keine Entsprechung. Bettel und Landstreicherei, die als Delikte der untersuchten Gefangenen geradezu endemisch waren, erscheinen als ein gutes Beispiel für die Beobachtung, dass die Kriminalbiologische Untersuchung nicht deliktorientiert war: kein einziger Untersuchungspunkt stellte eine Verbindung her zwischen der Persönlichkeit des Täters und seiner Tat. Die Verurteilung wegen Landstreicherei und Bettel konnte schnell erfolgen, und sie war stigmatisierender Natur. Meist waren die Strafen vor der Ausweisung aus dem Landkreis oder dem Land nur kurz; gleichwohl war ein Eintrag in das Strafregister gemacht, das damit schnell hohe Zahlen an Verurteilungen aufwies. Die Mehrzahl der Landstreicher ist durch unterschiedliche Gründe auf die Landstraße gezwungen worden, durch Militärdienst, Saisonarbeit, Eheprobleme, politische Gründe, Armut, durch eine Kriminaljustiz, die vielerlei Probleme durch Ausweisung ‚löste‘ (Schwerhoff 1999: 141f.). Die meisten Ursachen der Kriminalität dieser Gruppe weisen daher auch nicht auf eine „endogene“ Arbeitsscheu oder einen Hang zum Verbrechen, hin als darauf, dass ein Eintrag in das Strafregister kriminalisierend wirkte. Zur Mobilität wurde auch die Praxis des Gesellenwanderns gezählt; die Straffälligkeit dieser sozialen Gruppe geht aus den Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung hervor, wo der Wanderschaft zudem ein eigener Erhebungspunkt gewidmet war („Beginn und Zeitdauer, Grund des Antrittes, Arbeit oder Bettel auf dieser, aufgesuchte Gegenden, Länder und Städte?“). Im Zusammenhang mit der Mobilität steht im Untersuchungsbogen auch die Frage nach der Erhaltung, Lockerung oder dem Verlust des Fami-

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lienzusammenhanges. Die Vorstellung von der Familie als Halt gebender (Not)Gemeinschaft bezieht sich auf den sozialen Halt – nicht nur aus dem Wunsch heraus, dass der Proband nach seiner Entlassung wieder in ein festes Familiengefüge einrücken können sollte, sondern auch, um eventuelle kriminelle Vernetzungen zu erfragen. Die Gründe dafür, den Kontakt aufzugeben, können zum einen in dem schlechten Verhältnis zwischen Proband und Familie liegen, zum anderen aber in einem bewussten Bruch; damit erführe der Untersucher etwas über eine eventuell disharmonische Familienstruktur. Doch konnte dem Abschneiden der Kontakte auch eine bewusste Entscheidung eines autonomen Individuums zugrunde liegen. Mit Mobilität und Halt im weiteren Sinne, vor allem aber mit der Ausbildung sozialkonformer Verhaltensweisen hat die Frage nach dem Militärdienst zu tun. Der Drill des Militärs übt die zwangsweise Subordination ein, die Pflicht zur guten soldatischen Führung dagegen gesellschaftliche Normen. Dies waren während des Weltkriegs keine unmittelbaren militärischen Erziehungseffekte mehr. Nach dem „Anteil am Kriege, Front oder Etappe“ wurde gefragt, nach der Führung dort, ob man ausgezeichnet wurde oder bestraft, ob man verwundet oder verschüttet wurde, ob man im Lazarett gewesen sei und momentan eine kriegsbedingte Rente bezieht. Die Frage nach der Verschüttung wies auf die mit dem Ersten Weltkrieg massenhaft auftretende Traumatisierung von Soldaten hin, auf das so genannte „Kriegzittern“. Sie wurden als „Rentenneurotiker“, die sich durch die Simulation des Zitterns eine Rente erschleichen würden, abqualifiziert, weil man im Gegensatz zu den Kriegsversehrten bei den traumatisierten Soldaten keine organische Verletzung sah (vgl. etwa Radkau 2001: 339-353 und 432-439). Im wohlwollenden Fall kann, da die Frage nach der Verschüttung im Fragebogen vorgesehen war, die Traumatisierung als ein das Leben des Probanden belastender Faktor angesehen worden sein; im ungünstigeren Fall konnte über den Vorwurf der Simulation das Misstrauen gegenüber dem Probanden – gerade, wenn er eine Rente erhielt – noch vergrößert werden. Hinsichtlich der Kriminalität wurde nach Zeitpunkt, Delikt, äußerer oder innerer Verursachung gefragt, danach ob Frühkriminalität vorgelegen habe, welches die bevorzugte Deliktkategorie sei und schließlich wie sich der Proband bei früheren Strafen geführt habe. Die Frage an den Probanden, ob seine Tat äußerer oder innerer Verursachung gewesen sei, zielte darauf zu erfahren, ob der Betreffende die Tat aus sich heraus begangen habe oder von anderen angestiftet worden sei. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Frage nach dem Zeitpunkt der ersten Kriminalität, ob eventuell der Proband „frühkriminell“ geworden war. Frühkriminalität wurde häufig in den Zusammenhang mit kindlichen Charaktereigenschaften wie Triebhaftigkeit, Impulsivität, Egoismus und einen durch die noch unfertige Erziehung bedingten Mangel an Moral und Selbstbeherrschung gestellt. Auch sei den Jugendlichen eine größere Erregbarkeit der Affekte eigen sowie ein ausgeprägter Nachahmungstrieb; zugleich müsse sich, wenn die Auffassung richtig sei, dass zahlreiche Verbrechen in den äußeren Verhältnissen ihren Ur

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sprung hätten, diese gerade bei den Jugendlichen „um so eher zeigen, je früher und je zahlreicher sie als Fabrikarbeiter dem Schutze des Elternhauses entzogen werden“ (Aschaffenburg 1923: 169). Daneben wurde der Umstand geltend gemacht, dass viele Eltern nicht die Mittel hätten, ihre Kinder durch eine mehrjährige Lehrzeit ein Handwerk erlernen zu lassen; durch die mangelnde Berufsausbildung bestünden sie im Kampf ums Dasein nur schwer, und sei erst einmal die erste Bestrafung erfolgt, so käme es rasch zu einer Häufung (Michel 1925: 261f.). Die Anbindung der Kriminalität, besonders der der Jugendlichen, an untere soziale Schichten scheint hier gleichsam ein Nebeneffekt der Auffassung von der Existenz des Phänomens der „Frühkriminalität“ zu sein, die ja als Kennzeichen von „minderwertigen“ Sozialverhältnissen und Familien verstanden worden ist. Am stärksten tritt die Konzentration auf die individuelle Lebensgestaltung des Probanden neben den Fragen zu Lehre und Berufswahl in der Frage nach Entwicklung und Stand der sozialen und ökonomischen Lage als selbständiger Mann sowie nach der eigenen Familie hervor. Schon die Bezeichnung als „selbständiger Mann“ weist darauf hin, dass die Jugend- und Heranwachsendenzeit vorüber ist; spätestens nach der Militärzeit bzw. nach dem Einsetzen der ersten Kriminalität und damit dem Eintreten der eigenen Verantwortlichkeit. Die Frage nach den eigenen Kindern hat sicherlich auch zum Hintergrund, dass man über deren Schulerfolge, deren „geistige und gemütliche Qualitäten“, Ehelichkeit, kriminologische Führung und über sonstige Auffälligkeiten Informationen das Vorliegen „minderwertiger“ Anlagen und/oder die soziale Lage der Familie erhalten wollte. Fragen zur persönlichen Jugendentwicklung, über Laufen- und Sprechenlernen, über Bettnässen, über verschiedene Krankheitsanlagen und Kinderkrankheiten, sowie über spätere Krankheiten und Aufenthalten in Heilanstalten standen im Vordergrund des Fragenkomplexes zur Jugendentwicklung. Die Skrophulose etwa galt als ein Vorläufer der Tuberkulose; sie kann ähnlich wie die Tuberkulose durch falsche Ernährung, Mangel an Licht und Luft, feuchte Wohnungen entstehen und, bei Nichterkennung, die Gesundheit das ganze Leben hindurch negativ beeinflussen (Pschyrembel Klinisches Wörterbuch 2002: 1371). Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen waren sowohl für die Einschätzung der Konstitution des Probanden (war sie ererbt?) als auch für die Entscheidung darüber, ob er arbeitsfähig war oder nicht, bedeutsam. Hier wird neben den Geschlechtskrankheiten auch nach Nerven- und Geisteskrankheiten gefragt. Die Frage nach einer eventuellen Trunksucht und dem Ausmaß des Alkoholgenusses schloss den Untersuchungsabschnitt zur Persönlichkeit des Zugangs ab. Das Delikt konnte die unmittelbare Folge des Trinkens sein. Empirische Untersuchungen zeigten auf, wie hoch der Anteil von Verbrechern mit Eltern mit „schlechten“ Neigungen (väterlicherseits zumeist Trunksucht, mütterlicherseits zumeist Arbeitsscheu und Unsittlichkeit) und Straffälligkeit sei, wie viele Verbrecher Gewohnheitstrinker seien, wann die meisten Verbrechen wegen Trunkenheit begangen werden (Samstag, Sonn-

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tag, Montag), wer die meisten „Alkoholverbrechen“ begehe, nämlich Arbeiter und Studenten, und welcher Art die Delikte im Zusammenhang mit Alkohol sind (vor allem Körperverletzung und Sittlichkeitsverbrechen) (Michel 1925: 265f.; Boas 1907: 66-76; zu Alkohol und Sittlichkeitsverbrechen: Wulffen 1910: 204f.; Bleuler-Waser 1904). Alkohol wurde als zentraler kriminogener Faktor identifiziert: Unter den Zustandsverbrechern seien 123 Gewohnheits- und 47 Gelegenheitstrinker gewesen, unter den akutKriminellen 26 Gewohnheits- und 21 Gelegenheitstrinker. Von trunksüchtigen Vätern stammten 65 Zustandsverbrecher und 15 akut-Kriminelle ab, nicht so selten seien Fälle gewesen, „wo die Väter an Delirium tremens gelitten hatten, auch die Mütter trunksüchtig waren, die ganze Verwandtschaft Trinker waren, und die Vorfahren Hab und Gut vertrunken hatten“. Bei 55 Zustandsverbrechern und 19 akut-Kriminellen sei das Verbrechen ein Trunkenheitsdelikt gewesen, vielen gaben an, sich vor der Tat Mut angetrunken zu haben. „Im Rausche exzessiv und gewalttätig waren 74 Zustandsverbrecher, […] manche sagten aus, im Rausche hätten sie den Teufel im Leibe, das Messer sei dann sofort in der Hand“ (Michel 1925: 265). Es folgt ein Sittengemälde des Alkoholmissbrauchs: von Alkoholpsychosen über die vertragenen Alkoholmengen („viele erzählten, daß sie schon als kleine Kinder Alkohol erhielten, als Säuglinge Rum in die Milch, damit sie Ruhe geben, mit 6-10 Jahren regelmäßig täglich Schnaps oder Most“) und den Gruppendruck („tranken sie nicht, so wurden sie von ihren Kollegen verhöhnt“) bis zu den wirtschaftlichen Folgen: Manche „stahlen, um Geld für Alkohol zu bekommen“ (Michel 1925: 265). Auch andere Autoren nannten die Trunksucht als erste Verbrechensursache; es wurde die Wechselwirkung zwischen Trunksucht und Elend, Verarmung und Familienschicksal geschildert und dass Arbeitslosigkeit und Hunger ebenso wie eine degenerierte Nachkommenschaft die Folge des Alkoholmissbrauchs seien (Löffler 1903). Abgeschlossen wurde dieser Untersuchungskomplex durch Fragen zur persönlichen Stellung des Probanden zu seiner Tat. Zunächst sollte der Gefangene eine kurze Schilderung der strafbaren Handlung geben. Danach war durch den Untersucher zu erfragen, ob ein Geständnis oder eine Unschuldsbehauptung vorlag, ob der Proband die Tat beschönige oder Reue zeige und welche Motive ihn dazu getrieben hätten. Diese Fragepunkt hob implizit darauf ab, welches Verhalten im Strafvollzug von den Gefangenen zu erwarten war: Sah er seine Schuld ein, so war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er auch die Strafe und damit die Behandlung im Strafvollzug anerkannte. Über eine mögliche Besserung war damit noch nichts gesagt, obwohl die Chancen wohl als günstig erachtet wurden. Behauptete er jedoch weiterhin seine Unschuld, obwohl ihm die Tat nachgewiesen worden war, so konnte mit einer die Maßnahmen im Strafvollzug ablehnenden, ja einer sich gegen diese auflehnenden Haltung gerechnet werden. Je nach Charakter konnte sich also einer der von Viernstein beschriebenen Haftreaktionstypen entwickeln, auf dessen Entstehung die Beantwortung dieser Frage unter Umständen schon hindeuten würde. 

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Es scheint, als ob in diesem biografischen Abschnitt des Fragebogens am stärksten auf die Selbstverantwortung des Probanden abgehoben wurde; es waren vor allem Fragen der Lebensgestaltung, die sich – je nach Wertpräferenz des Untersuchers – als soziale oder körperlich-geistiger ‚Verhinderung‘ im Sinne einer Minderwertigkeit oder auch als die Abfolge von selbstverantwortlichen Lebensentscheidungen verstehen ließen. Damit wird Beckers Beobachtung über die Bedeutung der Biografie im kriminalistischen und kriminologischen Diskurs relevant: Auch im Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ konnte die Biografie und die Lebensgestaltung Hinweise auf das Wesen des Verbrechers geben. Anders als beim „gefallenen Menschen“, wo die Biografie Aufschluss gab über die Wegmarken der willentlichen verderblichen Entscheidungen, zeige die Biografie vom „verhinderten Menschen“ vor allem Entstehung und Weg einer Krankheit, der „Minderwertigkeit“ etwa, an – eindeutige Wendungen in dieser Biografie seien nicht als die Entscheidung für eine falsche Gesinnung, sondern als Ausbruch einer Krankheit gedeutet worden (Becker 2002: 337). Diese eindeutige Unterscheidung und funktionale Festlegung möchte ich für die Kriminalbiologische Untersuchung relativieren; gerade im Untersuchungsabschnitt über die persönliche Entwicklung und Lebensgestaltung des Verbrechers kann dies – vor allem mit Blick auf die tatsächlich ausgefüllten Akten – so kaum aufrechterhalten werden. Die Mehrzahl der Fragen zielte nicht eindeutig auf eine Verhinderung, zumindest war neben der Annahme einer ‚Verhinderung‘ für eigentlich fast jeden Punkt auch die Annahme von mehr oder weniger willentlichen, verderblichen Entscheidungen möglich: Schulschwänzen, Abbruch der Lehrzeit, Wechsel der Arbeitsstelle, Führung im Krieg, Einsetzen der kriminellen Entgleisung, ökonomische Lage (z. B.: Streik), Ehe und Eheführung, Erziehungsfragen, Trunksucht. Dass verschiedene Erzählmuster, die analytisch plausibel auf ganz bestimmte Koordinaten und Merkmale reduziert werden können, gleichzeitig eine Rolle im Denken über den und im Umgang mit dem Verbrecher spielen konnten, ist eine Grundannahme der vorliegenden Studie, die sich für die Kriminalbiologische Untersuchung in Bayern immer wieder aufzeigen lässt. Gleichzeitigkeit bedeutet dabei nicht, dass ein Untersuchungspunkt eindeutig diesem, ein anderer eindeutig jenem Erzählmuster zugeordnet werden könnte. Nicht nur zumindest, denn es bedeutet vielmehr auch, dass die uneindeutige Zuordnung durch den historischen Betrachter nur die uneindeutige, mehrere Aspekte der Verbrechensentstehung abdeckende Fragerichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung spiegelt. Der Komplexität der menschlichen Konstitution, Persönlichkeit und Entwicklung korrespondierte die Detailtiefe der Untersuchung, die jeweils – je nach Wertpräferenz, vor allem aber über die pragmatische Entscheidung, welche Erklärung im Einzelfall weiter trägt und diesem eher gerecht wird – variiert werden konnte.

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Charakterologische Ausmessung Die charakterologische Ausmessung des Strafgefangenen stellte den Kernbereich der Kriminalbiologischen Untersuchung dar – sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht. Es frappiert zunächst die schiere Menge an Untersuchungspunkten in diesem Bereich: Er bestand aus acht größeren Hauptpunkten, mit denen somatische Hinweise auf seelische Labilität, seelische Grundeigenschaften, Belastungen der Charakterentwicklung, die Ausdrucksfunktionen, seelische Abweichungen, die Intelligenz, das Temperament sowie bestimmte Verhaltensweisen herausgearbeitet werden sollten. Diese Hauptpunkte wiederum waren in 35 Unterpunkte mit einer Vielzahl an Begriffen, die zu unterstreichen waren, unterteilt. Drei Viertel der Fragen bezogen sich auf psychiatrische Aspekte, das restliche Viertel zielte auf den charakterologischen Reaktionstyp, wo mit dem Ziel, seine Gesinnung aufzudecken, nach der Haltung des Gefangenen zu seiner Umwelt gefragt wurde. Nach der Abarbeitung dieser Hauptpunkte sollte zudem eine klinischpsychiatrische Typisierung erfolgen, um festzustellen, ob der Untersuchte psychisch vollwertig sei, ob ein psychopathischer Zustand anzunehmen sei und ob eventuell eine Geisteskrankheit vorliege. Der Bereich der charakterologischen Ausmessung wurde durch den Versuch, den Probanden in das Konstitutionsschema nach Kretschmer einzuordnen, abgeschlossen. Die Menge an Untersuchungspunkten erscheint folgerichtig: Der Charakter eines Menschen war für Viernstein bekanntlich die Gesamtheit der „gefühlsmäßigen und willentlichen Reaktionen auf gegebene gemeinschaftsethische Forderungen“. Das seelische Geschehen sei komplex, und die seelische Gesamtpersönlichkeit nach ihrer charakterologischen und temperaments-konstitutionellen Beschaffenheit zu erfassen. Das derartige Eindringen in eine fremde Psyche, das im Stufenstrafvollzug gefordert sei, verlange die Aufdeckung „aller psychischen Erscheinungsformen, Lebensäußerungen, Lebensbeziehungen, Lebensgewohnheiten, der erblichen Anlagen und des angebildeten geistigen Besitzes, es macht unerlässlich die Kenntnis nicht nur der Intellektualität des Gefangenen, sondern vor allem der Gemütsverfassung, der seelischen Zugänglichkeit und Reaktionsmöglichkeit – kurz dessen, was man Charakter nennt“ (Viernstein 1925/26: 294). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, was Viernstein mit der „Zeichnung eines Individualbildes“ zur begründeten psychologischen Behandlung meinte: die umfassende Aufschließung einer Persönlichkeit in allen denkbaren Äußerungen und Reaktionen dem Leben gegenüber. Und das verdeutlicht, warum dieser Untersuchungspunkt so umfangreich war. Um diesen Umfang rein technisch zu bewältigen, führte Viernstein Schemata in die Untersuchung ein, um die Vielfalt menschlicher Ausdrucksund Persönlichkeitsformen auf einige wenige Begriffe zu reduzieren: Reihen nach dem Muster „Äußerungsdrang: hastig, zappelig, geschäftig, lebhaft, natürlich, verhalten, still, lahm, steif, eckig, plump, stuporös“. Schemata würden, so Viernstein, zwar eigentlich verhindern, dass die seelische Ge

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samtpersönlichkeit nach ihrer charakterologischen und temperamentskonstitutionellen Beschaffenheit erfasst werden könne, gleichwohl reicherte er diesen Untersuchungspunkt durch eine schematische Feststellung von Charaktereigenschaften an; dadurch gewänne die Untersuchung einerseits zwar an Umfang, andererseits böten die Schlagworte eine bequeme Handhabe, sich rasch über den Charakter des Einzelnen ein Bild zu verschaffen und „abzuschätzen, in welcher Weise beim Individuum der Durchgang eines Erlebnisses durch den ganzen Mechanismus des Seelenlebens erfolgt“ (Viernstein (1927: 3). Demnach musste die charakterologische Ausmessung für den Arzt auch ‚qualitativ‘ der entscheidende Untersuchungspunkt sein. Die subjektive, gefühlsmäßige und willentliche Verarbeitung von Erlebnissen hinsichtlich der Art, wie das Ich auf sie reagiere, werde von den Dispositionsgrundlagen des Charakters gesteuert, nicht vom Verstand – in dieser Richtung aber sei der kriminelle Mensch gegenüber dem sozialen Menschen „defektuös“, hier habe die Untersuchung und die Bekämpfung des Verbrechers anzusetzen (Viernstein 1926: 12). Die Fragerichtung der charakterologischen Ausmessung war daher, aufgrund dieser Prämisse vom vermutlich krankhaften Charakter des Verbrechers, in erster Linie auf die psychopathologische Seite ausgerichtet, während die normal-psychologische Betrachtungsweise weniger Raum bekam: Im Fragebogen überwogen Begriffe wie „Störungen“, „Belastungen“ oder Labilität“, was darauf hindeutet, dass Viernstein hiermit vor allem die „Minderwertigkeit“ eines Gefangenen, seine eventuelle Psychopathie zu bestimmen suchte. Darüber hinaus sollten die in diesem Untersuchungspunkt angeführten psychischen Zusammenhänge schon bei der Eingangsuntersuchung eines Zuganges Hinweise darauf geben, welchen strafhäuslichen Reaktionstypus man erwarten konnte. Es ist nicht möglich, die Gesamtheit der Untersuchungspunkte vertieft zu analysieren. Es scheint sinnvoller zu sein, einerseits die acht Hauptpunkte kurz vorzustellen, andererseits jene sechs Charakterzüge, die Viernstein in seinem lehrbuchartigen Text „Kriminalbiologie“ nannte (Mangel an ethischen Gefühlen, Impulsivität, Haltlosigkeit und Leichtsinn, Überwertigkeiten und triebhafte Handlungen) und die mit der charakterologischen Ausmessung bestimmt werden sollten, mit einzelnen Untersuchungspunkten in Verbindung zu bringen. Dazu kommt noch die Zuordnung zu Konstitutionstypen nach Kretschmer. Während zum genealogischen und zum biografischen Untersuchungsbereich auch sozialhistorische Kontexte angeführt werden konnten, sind die genannten Charakterzüge nur unter Zuhilfenahme zeitgenössischer theoretischer charakterologischer Beschreibungen, die Viernstein herangezogen hatte, zu diskutieren. Dabei ist weniger die theoretische Grundlegung dieses Untersuchungsbereichs Ziel der Darstellung, als vielmehr die Frage, welches Ziel Viernstein mit der Auswahl der einzelnen Untersuchungspunkte verfolgte, welches Wissen, welche Kriterien er für nötig erachtete, um den Charakter eines Verbrechers zu bestimmen.

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Hauptpunkte der charakterologischen Ausmessung Mit den ersten drei Hauptpunkten sollte „somatischen Hinweise auf seelische Labilität“, „seelischen Grundeigenschaften“ und „somatischen Belastungen der Charakterentwicklung“ nachgegangen werden, also dem, was Friedrich von Rohden später „Kriminalsomatologie“ nennen sollte (Rohden 1933: 58). Diese müsse den Ausgang nehmen von der Untersuchung der körperlichen Grundlagen, zunächst der Beschaffenheit und Funktion der einzelnen Organe, dann der körperlichen Gesamtkonstitution. Von Rohden brachte die „Belastungen“ in Verbindung mit den alten lombrosianischen Degenerationszeichen, wollte diese zumindest aber als Ausdruck einer „minderwertigen“ Konstitution verstanden wissen. Dergleichen sprach Birnbaum hier von einer allgemeinen „seelischen wie körperlichen Resistenzlosigkeit“, die keiner Schädigung gewachsen sei, gleich mit pathologischen Reaktionen antworte und sich auf verschiedene Weise äußern könne: in einer erhöhten körperlichen und intellektuellen Erschöpfbarkeit, in seelischen Erschütterungen, in der pathologischen Neigung, auf alle möglichen Anlässe mit Allgemeinbeschwerden und Funktionsstörungen wie Kopfschmerz, Schwindel, Ohnmachten zu reagieren, aber auch mit vasomotorischen Störungen der Verdauungs- und Atmungsfunktion (Birnbaum 1926: 194f.). Diesem körperlich-seelischen Ausdruck von Minderwertigkeit auf die Spur zu kommen, kann auch als Hintergrund für die Aufnahme dieser Punkte in den Fragebogen angenommen werden. Auf „seelische Labilität“ sollten etwa in Einklang mit Birnbaums Psychopathologie somatische Merkmale wie Erröten, Erblassen, Ohnmachten, Weinen, Schwitzen, Erbrechen, Erregungsdurchfall, Tremor, Lidflattern, Tics, Zusammenfahren, Kopfschmerzen, Schwindel, innere Unruhe, morgendliche Abgeschlagenheit hinweisen. Auf eine „somatische Belastung der Charakterentwicklung“ deuteten etwa Schwachsichtigkeit, Schwerhörigkeit, Sprachfehler, Krüppelhaftigkeit, abnorme Hässlichkeit, Herzfehler, rote Haare, Akne, Hasenscharte „usw.“ hin. Als Zusatzinformation sollte bei diesem Punkt vom Probanden erfragt werden, wie eine dieser „Belastungen“ im Charakteraufbau verwertet wurde, welche Rolle sie also in der Persönlichkeitsentwicklung gespielt hat. Außerdem sollten die „seelischen Grundeigenschaften“, womit Ermüdbarkeit, Erschöpfbarkeit, Tageskurven, Schlafbedürfnis, Schlaftiefe, Träumen, Nachtsprechen und Nachtwandeln gemeint waren, notiert werden. Hauptpunkt IV war der Ausdrucksfunktion in Sprache, Schrift, Mimik und Gestik gewidmet. Dieser Untersuchungspunkt war phänomenologischer Natur, er beruhte auf der Annahme, dass jegliche Körperbewegung ein unbewusster und ungewollter Ausdruck des Charakters sei, auf den man über den Gesamteindruck des Verbrechers Rückschlüsse ziehen könne (Rohden 1933: 67). Neben der Motorik, die im kriminalbiologischen Fragebogen keine Rolle spielte, sollten vor allem Gestik und Mimik diese Rückschlüsse ermöglichen, zumal diese als unwillkürliche Ausdrucksbewegungen verstanden wurden, die auch dadurch gekennzeichnet seien, dass damit „ein 

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Mensch sogar g e g e n s e i n e n W i l l e n ein Stück seines Ichs preisgibt, enthüllt, verrät“ (Rohden 1933: 75; Sperrung im Original). Zwar gab von Rohden zu, dass die Erforschung von Mimik und Gestik des Verbrechers methodisch noch ungesichert sei, doch erwächst gerade aus dem unterstellten Aspekt der unwillentlichen Preisgabe des Charakters durch Mimik und Gestik die Bedeutung dieses Untersuchungspunktes auch für die Kriminalbiologische Untersuchung: „Blickausweichen“, was auch Zeichen von Schüchternheit sein könne, fände sich aber vor allem „bei Schuldbewussten, bei falschen und verlogenen Menschen, sofern sie nicht aus einer gewissen Unverschämtheit heraus gar nicht darauf bedacht sind, den anderen über ihre Unwahrhaftigkeit durch einen ‚offenen Blick‘ zu täuschen“ (Rohden 1933: 77). Mimik und Gestik erschienen Viernstein demnach wohl als ein Mittel, einigermaßen ‚unverstellt‘ von verbalen Äußerungen des Gefangenen auf seinen Charakter schließen zu können. Eine Gefahr bestehe allerdings: „[D]aß die besten Schauspieler unter den Verbrechern zu finden sind, ist nur allzu bekannt“ (Rohden 1933: 77f.). Auch eine graphologische Probe war Bestandteil der Kriminalbiologischen Untersuchung: Der Gefangene sollte einen handgeschriebenen Lebenslauf anfertigen. Die Handschrift sei ein ebenfalls wesentlich unwillentlicher Ausdruck der Persönlichkeit und als solcher, zusammen mit Gestik und Mimik, gut zur Erforschung des Charakters geeignet. Man könne zwar nicht den Verbrecher aus seiner Handschrift diagnostizieren, aber man könne an der Handschrift den Psychopathen sowie sittliche Defekte erkennen – eine Antwort, wie das zu bewerkstelligen sei, bleibt von Rohden allerdings schuldig (Rohden 1933: 87f.). Grobe seelische Abweichungen sollten in Hauptpunkt V diagnostiziert werden. Darunter fielen formale Denkstörungen (Hemmung, Ideenflucht, Ablenkbarkeit, Zerfahrenheit, schizophrenes Denken), inhaltliche Störungen der Wahrnehmungsfunktionen (z. B. Trugwahrnehmungen, überwertige Ideen, Wahnvorstellungen, Größenideen), gestörte Gedächtnisfunktionen (z. B. Aphasie, Gedächtnisschwäche, Merkstörungen, Bewusstseinsstörungen), abnorme Stimmungsverschiebungen (z. B. Affekterregbarkeit, Wutzustände), psychomotorische und Willensstörungen (Hemmung, Erregung, Negativismen, Manieren, Grimassen, Sonderbarkeiten), epileptische Züge (z. B. anfallsartige Störungen, Dämmern, pathologischer Rausch, Weglaufen, Wut, Jähzorn) sowie hysterische Züge (z. B. Unechtes, Theatralisches, reaktive Ohnmachten, Krämpfe, pathologisches Lügen). Hiermit ist ein Kernbereich des als Kennzeichen des Psychopathologischen verstandenen Missverhältnisses von Reiz und Reaktion bezeichnet, der sich in einem Mangel an seelischem Gleichmaß, in seelischer Labilität und in Widerstandsschwäche sowie in psychischen Anpassungsmängeln äußere, weshalb diese Merkmale auch verstärkt bei Verbrechern auftreten würden (Birnbaum 1926: 10f. und 15). Die Untersuchung folgte hier ganz der „Kriminalpathologie der Symptomenkomplexe“ von psychopathologischen Verbrechern, wie sie Karl Birnbaum 1921 vorgelegt hatte: Birnbaum nannte unter den bei Verbrechern angeblich vorherrschenden Symptomen halluzinatorische Gebilde, Wahnge-

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bilde, pathologische Gefühlserscheinungen, Dämmerzustände, psychische Desequilibrationszustände und psychische Defektkomplexe (Birnbaum 1921: 20-50). Die halluzinatorischen Gebilde seien Trugwahrnehmungen ohne adäquaten Sinnesreiz. Kriminalpathologisch seien sie wegen der dadurch gegebenen Diskrepanz zwischen subjektivem Erleben und objektiven Vorgängen, die zu inadäquaten Reaktionen von sozialer Bedenklichkeit führen könnte, bedeutsam. Davon seien die Wahngebilde, genauer: halluzinatorisch-paranoische Gebilde zu unterscheiden, inhaltlich falsche Vorstellungen, durch abnorme Denkvorgänge entstehende Urteilsfälschungen, die sich Kritik gegenüber korrekturunfähig erwiesen (etwa als Größen- und Kleinheitswahn). Kriminalpathologisch entscheidend sei die Verfälschung des Wirklichkeitsbildes, das sich in Bezug der persönlichen Stellungnahme zum und im Verhalten im Gemeinschaftsleben als Verschiebung des eigenen Verhältnisses und der persönlichen Beziehungen zur Umgebung äußere. Die pathologischen Gefühlserscheinungen fielen aufgrund der Funktion und des biologischen Wertes der Gefühle kriminalpathologisch besonders schwer ins Gewicht, da die Gefühle die motivierenden und richtungsgebenden Kräfte für das Handeln seien und daher die eigentlichen Träger der kriminalpsychologisch ausschlaggebenden psychischen Reaktionen, zumal sie die „Regulierungsvorrichtungen“ darstellten, die die Beziehungen zur Umwelt im Sinne von Moral, Sittlichkeit sowie der sozialen Bezüge und Anpassung regelten. Die kriminelle Wirksamkeit von pathologischen Emotionserscheinungen sei in allgemeiner Hinsicht in der Gefühlsintensität (pathologische Verstärkung oder Abschwächung von Gefühlen mit der jeweiligen Wirkung auf die kriminelle Tendenz und Gefährlichkeit sowie emotionale Partialeffekte in Bezug auf sozial grundlegende Gefühle im moralischen und altruistischen Bereich), in der Gefühlsfärbung (Lust, Unlust) sowie in der psychischen Gesamtkonstitution (seelische Labilität, Krankheit, Erschöpfung, Affektkrisen). Daneben kämen pathologische Affektdispositionen wie Affektintoleranz mit impulsiv-triebartigem Verhalten oder Entladungen ohne Maß, pathologische Verstimmungszustände (Depression, Angst, Unruhe, Bewusstseinsbeeinträchtigungen und nervöse Störungen wie Schlaflosigkeit und Schwindel), die sich in unsozialen Reaktionen wie maßloser Gewalttätigkeit, Herumtreiben oder Alkoholismus mit der Gefahr zum sozialen Dauerverfall äußerten, sowie pathologische Triebe und Impulse hinzu. Die kriminalpathologisch „hochbedeutsamen“ Dämmerzustände wiesen, so Birnbaum, eine bis fast zur Aufhebung mögliche Erschwerung aller geistigen Leistungen auf, besonders im Bereich der Gedankenarbeit und der Orientierung. Die Einschränkung der Gedankenarbeit, vor allem der höheren Urteilskraft, sei durch das Zurücktreten von durch Wahl und Überlegung entwickelten Willenshandlungen zugunsten von primitiveren und sozial bedenklicheren Ablaufformen gekennzeichnet. Der Mangel an Auffassung, also die Orientierungsstörung, bedinge dagegen ein Fehlgreifen in Motiven, Mitteln und Zielen des Tuns, was nicht-adäquate Handlungen nach sich zöge. In den Bereich der Dämmerzustände fielen zudem noch Formen episodi

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scher Bewusstseinsstörungen, die jedoch Grenzbereiche seien, wie etwa Schlaftrunkenheit, Traumzustände mit motorischen Reaktionen, Nachtwandeln, Rauschzustände – sie alle deuteten aber auf eine psychopathische Disposition hin. Die Desequilibrationszustände seien leichte, vorübergehende seelische Gleichgewichtsstörungen, aber dennoch Zeichen neuropsychischer Minderwertigkeit und von Resistenzschwäche. Kriminalpathologisch gesehen bewirkten diese psychischen Koordinationsstörungen eine Ausschaltung der hemmenden Verstandes- und Gefühlsmotive durch unvermittelte psychische Reaktionen wie egoistische Impulse und aufwallende Affekte, mit der Folge eines episodischen Versagens der sozial und ethisch eingestellten Selbstkontrolle und -regulierung. Die psychischen Defektkomplexe hingegen hätten gemeinsam, dass die Grundelemente des psychischen Gesamthabitus geschädigt seien. Hierunter fielen Imbezillitäts- und Demenzformen. Alle diese psychopathologischen Aspekte mit einem vermeintlichen Bezug zum Charakter von Verbrechern kamen auch in diesem Hauptpunkt im Fragebogen der Kriminalbiologischen Untersuchung vor. Eine ebenfalls beinahe vollständige Übernahme von Erkenntnissen aus der charakterologischen Bezugswissenschaft findet sich auch in Hauptpunkt VI, wo die Prüfung der Intelligenz des Probanden erfolgen sollte. Viernstein bezog sich für diesen Untersuchungspunkt explizit auf die Methoden der Intelligenzprüfung, die der Psychiater Theodor Ziehen (1862-1950) 1909 veröffentlicht hatte. Darin ging es Ziehen nicht um die Bestimmung dessen, was der einzelne Mensch weiß, sondern darum, wie die intellektuellen Prozesse eines Menschen entwickelt und ob sie „normal“ seien (Ziehen 1909: 3-5). Ziehen skizzierte Methoden, eigentlich nur spezifische Fragestellungen, zur Prüfung der Merkfähigkeit, der Vorstellungsentwicklung und -differenzierung und der Reproduktions- und Kombinationsfähigkeit. Ein Beispiel mag an dieser Stelle genügen: Nach Ziehen beruhten Vorstellungsentwicklung und Vorstellungsdifferenzierung auf den drei fundamentalen Prozessen der Isolation (Herauslösung einer Vorstellung: „Zucker“ gleich „süß“), der Komplexion (etwa Verschmelzung von Blitz, Donner und Regen zu „Gewitter“) und der Generalisation (etwa Allgemeinvorstellung „süß“) (Ziehen 1909: 22f.). Die Intelligenzprüfung, also die Prüfung der Adäquatheit dieser Prozesse, sollte anhand entsprechender Fragen vorgenommen werden: Die zusammen gehörenden Prozesse der Isolation und der Komplexion seien durch Eigenschafts- und Zerlegungs- bzw. durch Kombinationsfragen zu prüfen, etwa welche Eigenschaften Zucker hat. Ziehen empfahl jedoch, durch Definitionsfragen den Entwicklungsstand aller drei Prozesse auf einmal zu prüfen: „Was ist ein Gewitter?“ Den umgekehrten Weg konnte man mit Unterschiedsfragen einschlagen: „Unterschied zwischen Ochse und Pferd?“. Könne der Unterschied nicht benannt werden, so liege ein Defekt vor, da z. B. „Debile“ eine solche Differenzfrage häufig nicht beantworten könnten (Ziehen 1909: 28f.). Emil Utitz (1883-1956), den Viernstein ebenfalls rezipierte, rechnete die Intelligenz nicht zum Charakter, wies aber darauf hin, dass das Streben eines Menschen von der Intelligenz beeinflusst werden

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könne; „Intelligenz ist ein Steuer im Fluss des Strebens“ – zumal als Vorbedingung höherer Sittlichkeit, während Dummheit diese schädige. Die Intelligenz könne zudem eingesetzt werden, um Schwächen in Tugenden umzugestalten, berechnend und praktisch zielführend, aber auch anpasserisch zu agieren, während fehlende Intelligenz Entscheidungsschwäche und Ängstlichkeit nach sich ziehen könne (Utitz 1925: 281-283). In vereinzelten Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung sind die Fragen – und die Antworten der Gefangenen – als Beilage erhalten, so dass Inhalt und Erkenntnisabsicht dieser Intelligenzprüfung ersichtlich werden. Beim Rechnen standen die Grundrechenarten im Vordergrund: „Wird ein Wagen mit 25 Ztr. beladen, so sind 12 Fuhren nötig um einen Haufen Erdreich wegzuräumen. Wie viele Ztr. müssen jeweils geladen werden, wenn nur 10 Fuhren gemacht werden können?“, „B legte am 1. Oktober 1928 bei der städtischen Sparkasse Nürnberg 1250 RM ein, welche zu 7% verzinst werden. Am 1. April 1929 hob er erstmals Zinsen ab. Wie viel RM erhielt er?“ Auch die Verdeutschung von Fremdwörtern war vorgesehen. Daneben sollten geografische (Hauptstadt von Bayern, die fünf Erdteile) und historische Fragen („Wann war der Weltkrieg?“, letzter deutsche Kaiser) gestellt werden. Dazu kamen Differenzfragen (Unterschied zwischen Kind und Zwerg, zwischen Ochse und Pferd), Definitionsfragen („Was ist eine Insel, was ist der Zweck der Ehe?“) sowie lebensweltliche Fragen („Wie viele Tage hat ein Jahr, wann ist Weihnachten und was bedeutet es?“). In einer der untersuchten Akten ist ein ausführlicher Prüfungsvorgang mit allen gestellten siebzig (!) Fragen erhalten geblieben; zu umfangreich, um den Vorgang im einzelnen darzustellen, sollen hier nur die Fragebereiche genannt werden: Orientierung (Name, Datum, Ort), Schulwissen (historische Persönlichkeiten, Geografie, Feiertage, Wochentage), Rechnen, Lebenswissen („Sonnenaufgang, warum gehen Kinder in die Schule? Preise von Post und Lebensmitteln, Unterschiede zwischen z. B. Irrtum und Lüge, Treppe und Leiter, Rechtsanwalt und Staatsanwalt“), spezielle Fragen aus dem Beruf, Satzbildung (Satz bilden aus z. B. „Soldat – Krieg – Vaterland“), historische Erzählung und Sprichworterklärung, sittliche Allgemeinvorstellungen („warum lernt man?, wie denken Sie sich Ihre Zukunft?, was ist das Gegenteil von Tapferkeit?“), Gedächtnis und Merkfähigkeit (Merken von Zahlen und Worten). Außerdem sollte der Untersucher das Verhalten des Probanden bei der Untersuchung notieren. Der Hauptpunkt VII widmete sich dem Temperament des Strafgefangenen. Erhoben werden sollte die habituelle Stimmungslage (war der Gefangene heiter, vergnügt, adäquat, ernst, verzagt oder depressiv), die Affizierbarkeit (war der Gefangene z. B. erregbar, reizbar, empfindlich, gleichmäßig, indolent, wurstig, durch nichts aus der Fassung zu bringen?) und sein Äußerungsdrang (hastig, zappelig, geschäftig, lebhaft, natürlich, verhalten, still, lahm, steif, eckig, plump, stuporös). Das Temperament wurde verstanden als eine für die ganze Persönlichkeit charakteristische Gesamthaltung der Affektivität, zu der neben dem Temperament auch noch Stimmungen, 

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Gefühle, Affekte, Emotionen und Gemütsbewegungen gezählt wurden (Rohden 1933: 96). Die Bestimmung des Temperaments in der Kriminalbiologischen Untersuchung ging vom Spektrum der Reaktionstypen aus: „cyklothyme“, also der Umwelt eher zugewandte Personen, und „schizothyme“, also der Umwelt eher abgewandte Personen. Von Rohden bestimmte, ähnlich wie Viernstein, die Personen cyklothymen Temperaments (Rohden 1933: 97f.) durch „Gemütswärme, Gutmütigkeit und Gemütlichkeit“ aus; es seien meist heiter-bewegliche Menschen mit gehobenem Selbstgefühl, Elan, Ideenreichtum, in der etwas ruhigeren Mittellage Personen mit gesundem Menschenverstand, praktischer Energie, mehr nach der selteneren depressiven Seite schwerblütig-stille Naturen – allen gemeinsam sei im Kern eine gesellige, realistische und anpassungsfähige soziale Einstellung, so dass ihre Kriminalität in erster Linie eher affektiver Art, etwa Zusammenstöße, Sachbeschädigungen oder Körperverletzungen, sei. Die Personen mit schizothymen Temperament (Rohden 1933: 98-100) hingegen seien ausgesprochen egoistisch, ungesellig, menschenfeindlich und unsozial; es fehle ihnen die sozialpsychische Adaptionsfähigkeit, was auch der Grund sei für die häufigere Kriminalität dieses Typus. Ihr Temperament schwanke zwischen Reizbarkeit und Stumpfheit, zwischen Überempfindlichkeit und Kälte. Der kriminalpsychopathologisch problematischste Typ sei der gemütskalte Schizothymiker, der unfähig zur Reue, unfähig zu einer echten Erschütterung des Gemüts sei, unkameradschaftlich und ohne soziales Mitgefühl, rücksichts- und mitleidlose Egozentriker. Von Rohden urteilte: „Das Leben der gemütlosen Schizothymen kann sich nicht anders als jenseits der menschlichen Gesellschaft und im Kampf mit ihr vollziehen, ein Kampf, der schließlich mit der Ausschaltung dieser u n v e r b e s s e r l i c h e n Kriminellen aus der sozialen Gemeinschaft endigt, sei es in der Fürsorgeerziehungsanstalt, sei es im Zuchthaus oder im Irrenhaus. Sie sind prädestiniert für die künftige Sicherungsverwahrung.“ (Rohden 1933: 100; Sperrung im Original)

Der achte Hauptpunkt, mit dem „Stellungnahmen und Verhaltungsweisen“ erfragt werden sollten, war der bei weitem umfangreichste: Es gab 18 Unterpunkte, in denen Stellungnahmen z. B. zum eigenen Gesundheitszustand und Körper, zu somatischen Bedürfnissen, zur eigenen Bedeutung und zum eigenen Ethos, zu den Vorgesetzten, zu den Kameraden, zur Arbeit, zur Herkunftsfamilie, zur eigenen Ehe, zum Sexualleben, zu den Kindern, zum sozialen Kreis, zur politischen Einstellung und zu religiösen Werten, zu geistigen und materiellen Interessen gefordert wurden. Hier sollten ins Pathologische gehende Wahnvorstellungen identifiziert werden, etwa wenn die Stellung gegenüber dem eigenen Gesundheitszustand oder die Selbstwahrnehmung erfragt wurde. Vor allem aber ging es um die Gesinnung, und zwar über die Haltung gegenüber Vorgesetzten, gegenüber der Arbeit, gegenüber der eigenen Familie. Die Frage nach der politischen Einstellung und nach der zur Religion konnte ebenfalls über die Gesinnung Auskunft

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geben, hier aber in einem Feld, dass eigentlich wenig psychologische, geschweige denn psychiatrische Relevanz hatte. Auch sollte wohl das Vorliegen einer „amoralischen Psychopathie“, die sich im Mangel jeder inneren Gefühlsbeziehung zur Mitwelt äußere, mit diesen Fragen geklärt werden. Und schließlich gaben manche Unterpunkte auch Aufschluss über das Temperament, etwa wenn die Haltung gegenüber dem sozialen Umfeld das vermeintlich cyclothyme oder schizothyme Temperament des Untersuchten erkennen lassen sollte. Schließlich dürfte auch dieser Fragebereich für Viernstein hinsichtlich des zu erwartenden Hafttypus von Bedeutung gewesen sein. Bei weitem zu umfangreich, um diesen Punkt im Ganzen darzustellen, sollen hier wenige Beispiele genügen. Die Stellung des Untersuchten gegenüber Vorgesetzten etwa sah folgende vorgegebene Reihe an Stichworten vor, z. B. „bescheiden, scheu, ängstlich, natürlich, vorlaut, frech, polternd, unverschämt, anmaßend, folgsam, willfährig, bestimmbar, unterwürfig, ablehnend, widerspenstig, herausfordernd, querulatorisch“, um nur 17 von insgesamt 58 Worten zu nennen. Die Zu- oder Abgewandtheit des Probanden sollte aus den Fragen zum sozialen Kreis hervorgehen: Hatte der Proband ein Bedürfnis nach Umgang oder herrschte „Einspännertum“ vor? Hatte er Gemeinschaftssinn oder war er ein Egoist? War er verträglich, streitsüchtig, zänkisch, intrigant, war er geachtet oder, sogar verachtet? Die politische Einstellung sollte mit Begriffen wie Nachredner, Phrasendreher, Schreier“ oder „besonnen, vernünftig, fanatisch, utopisch“ erfragt werden; hinzu kam auch die Frage, ob der Untersuchte Revolutionär oder konservativ sei und welche Position er zur Gesellschaftsordnung, zur Besitzfrage, zum Recht des Einzelnen gegenüber der Gesamtheit und umgekehrt einnehme. In der Beantwortung von drei Fragen sollte der Charakter des Untersuchten abschließend zusammengefasst werden: „Überwiegt im ganzen der Verstand, die Besonnenheit, das Zweckhafte oder das Triebhaft-Affektive?, welche Züge geben Handhaben für erzieherische Maßnahmen?, welche Züge dominieren im Charakter?“ Von dieser Einschätzung hing letztlich die soziale Prognose ab, auch wenn diese auf dem „Gesamtbilde“ beruhen sollte. Im Rahmen der ausführlichen Kriminalbiologischen Untersuchung aber war es wohl dieser umfangreiche Untersuchungspunkt 42, der dem psychiatrisch geschulten Untersucher Aufschluss über den Charakter einer Persönlichkeit geben und ihn vermeintlich befähigen konnte, einen Gefangenen auf der Basis der charakterologischen Beurteilung einerseits als für den Stufenstrafvollzug geeignet oder ungeeignet, andererseits als die Gesellschaft eventuell auch zukünftig noch bedrohender unverbesserlicher Verbrecher zu kennzeichnen. Viernstein richtete dabei – etwas überraschend – seine Kriminalbiologische Untersuchung aber nicht nach einer Systematik oder Typologie aus. Gleichwohl decken sich die Charakterzüge, die seiner Ansicht nach am häufigsten bei Verbrechern vorkämen und mit dem charakterologischen Untersuchungsbereichen nachgewiesen werden könnten (er nennt Mangel an ethischen Gefühlen, Impulsivität, Haltlosigkeit und Leichtsinn, Überwertigkeiten sowie Triebhaftigkeit), in weiten Teilen mit jenen Aspek

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ten, aus denen Karl Birnbaum bereits 1914 verschiedene psychopathische Verbrechertypen entwickelt hatte: etwa die „amoralischen Psychopathen“, die „psychopathisch Reizbaren und Explosiblen“, die „psychopatisch Haltlosen“, die „Phantasten und Pseudologen“ und „hysterische Charaktere“ sowie schließlich die „sexuellen Psychopathien“. Es erscheint daher sinnvoll, im Folgenden von den von Viernstein genannten und ganz offenbar an Birnbaum angelehnten Charakterzügen auszugehen und die entsprechenden Typen bei Birnbaum darzustellen, um diese dann mit den Untersuchungspunkten in der Kriminalbiologischen Untersuchung Verbindung zu bringen. Charakterzüge Der Mangel an seelischem Gleichmaß, an psychosozialer Anpassungsfähigkeit und damit an ethischen Gefühlen wurde als das Kennzeichen von Psychopathen verstanden; er äußere sich in fehlender Einfühlbefähigung in soziale Belange, durch Mangel an Reue und Scham und fehlender Wärme zu Mitmenschen (Viernstein 1929: 27; Birnbaum 1926: 10-14). Birnbaum war sich jedoch sicher, dass es einen Typus gebe, bei dem diese Mängel aufgrund einer charakteristischen Entwicklungshemmung des seelischen Lebens noch gesteigert sei: die „amoralischen Psychopathen“ (Birnbaum 1926: 53-65). Bei ihnen seien die primitiven, egoistischen Gefühlskräfte ausreichend entwickelt, während aber die höheren und feineren Gefühlsregungen, die entscheidend seien für die positiven sozialen Beziehungen zur Umwelt, fehlten oder nur unzulänglich ausgebildet seien. Die Folge seien mangelhafte soziale und altruistische Grundempfindungen; es fehlten: Einfühlungsfähigkeit, Mitempfinden und Mitleid, Sympathiegefühl, also alle innerlich gefühlsmäßigen Verbindungen mit der Umwelt (gegenüber Eltern, der Familien, Freunden, Berufsgenossen), mit Heimat und Vaterland. Zudem, so Birnbaum, kennzeichne diesen Typus noch der Mangel an jenen „höheren und feineren Empfindungen, die als sittliche und kulturelle Leitmotive die Lebensführung des Kulturmenschen maßgebend bestimmen: des Gefühls für Recht und Wahrheit, für Sitte und Anstand, für Pflicht und Ehre und dergl.“. Diesen beiden Sachverhalten sollten im kriminalbiologischen Fragebogen neben der Bestimmung des Temperaments auch die Fragen nach der eigenen Stellungnahme einerseits zum sozialen Umfeld, zu Familie und Freunden eines Gefangenen, andererseits zum eigenen Ethos sowie zur politischen Einstellung und der zur Religion dienen. Und schließlich seien „amoralischen Psychopathen“ gleichgültig gegenüber dem fremden Verhalten zur eigenen Person, was sie unempfänglich mache für Zu- und Abneigung, für Anerkennung Verachtung, für Lob und Tadel. Diese konstitutive Unempfänglichkeit für äußere Einflüsse auf die eigene Person bedinge nun schon in der Kindes- und Jugendzeit eine „hochgradig erschwerte bzw. unmögliche sittliche Erziehbarkeit und Bildsamkeit, moralische Unlenkbarkeit“, mit einem Wort: „Unverbesserlichkeit“. Lombroso bereits hatte, wie schon erwähnt, diesen Typus mit dem psychiatri-

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schen Krankheitsbild der „moral insanity“ in Verbindung gebracht und ihn als den „geborenen Verbrecher“ bezeichnet; spätere Kriminologen, die, wie hier Birnbaum, Lombrosos schlichten biologistischen Verbrechertypus zurückwiesen, sahen im „amoralischen Psychopathen“ hingegen den schizothymen, den rückfälligen und „unverbesserlichen“ Verbrecher. Viernstein plädierte zudem dafür, nicht nur die extremen Fälle von „moral insanity“, die durch einen abnormen Hang zum Bösen, durch Schadenfreude, Grausamkeit, Bosheit, Heimtücke, Missgunst und Unwahrhaftigkeit, durch Mitleidlosigkeit und Rücksichtslosigkeit gekennzeichnet seien, diesem Typus zuzuordnen, sondern auch leichtere Fälle, wenn etwa Abwesende verleumdet würden (Viernstein 1929: 27f.). Eine kriminalpsychopathologische Spielart, die auf Impulsivität zurückgeführt wurde, identifizierte Birnbaum als die „psychopathisch Reizbaren und Explosiblen“ (Birnbaum 1926: 18-27). Im Prinzip sozial veranlagt, zeigten diese Menschen eine affektive Entgleisungstendenz, die auf einer pathologischen Affektdynamik beruhe und eine krankhafte Ausprägung in Bezug auf Intensität, Höhe, Umfang, Dauer und „Entladung“ aufweise. Die natürliche Folge dessen sei Maßlosigkeit, die sie im Gemeinschaftsleben gefährde und durch Exzesse und Zusammenstöße der Kriminalität entgegenführe. Viernstein beschrieb „Impulsivität“ als Abkürzung und Einengung des Spiels der Motive, da die normal vorhandenen ethischen Vorstellungen gegenüber den augenblicklichen Lockungen nicht oder nur zu spät zur Geltung kämen (Viernstein 1929: 28). Das deutlichste Merkmal dieses Typus seien die Zornes- und Wutaffekte; dieses treffe man auch häufig in Kombination mit anderen „abnormen Charakterzügen“ wie Haltlosigkeit oder moralischer Defektuosität, was die Affektkriminalität auch bei psychisch eigentlich anders gearteten Verbrechertypen, vor allem aber deren Reaktion bei Verhaftung, Vernehmung und im Strafvollzug erkläre. Man könne den reizbaren, explosiblen Charakter auch am Temperament erkennen, an zorniger Empfindlichkeit, Gereiztheit und Geladenheit. Unschwer ist hierin der Hintergrund für den kriminalbiologischen Fragenkomplex zum Temperament sowie zu den Stellungnahmen des Probanden gegenüber seiner Umwelt zu erkennen. Erkennbar sei dieser Typus, so wieder Birnbaum, auch an körperlichen und psychischen Begleiterscheinungen, die unmittelbar mit den gesteigerten Erregungszuständen zusammenhingen: Bei den körperlichen Erscheinungen seien vasomotorische Störungen wie abnormes Erbleichen oder Erröten, abnormer Schweißausbruch, allgemeines Zittern und Schwindelerscheinungen häufig anzutreffen, bei den psychischen Erscheinungen abnorme Bewusstseinsveränderungen wie Störungen in Klarheit, Umfang und Verknüpfung der Bewusstseinsinhalte, die auch die Auffassungs- und Urteilsfähigkeit beeinträchtigten. Auch zu diesem Symptomkomplex finden sich Untersuchungspunkte im Fragebogen der Kriminalbiologischen Untersuchung (vasomotorische Störungen, Störungen der Wahrnehmungsfunktionen, abnorme Stimmungsverschiebungen, epileptische Züge). 

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Der „psychopathisch Haltlose“ (Birnbaum 1926: 45-52) stellte im kriminalpsychopathologischen Diskurs der Zeit eine zentrale Figur dar, wurden doch Bettler, Vagabunden und Prostituierte zu diesem Typus gerechnet, aber auch Hehler, Spieler, Zuhälter und Gewohnheitsdiebe – mithin jene, die um 1900 das Gros der Verurteilungen und damit der statistisch registrierten Kriminalität ausmachten. Viernstein sah die Haltlosigkeit im Fehlen fester Prinzipien für das Handeln begründet (Viernstein 1929: 28); Birnbaum kennzeichnete die Vertreter dieses Typus als gefühlsstumpfe, apathisch-indolenten Psychopathen, deren Gefühlsindifferenz zur Passivität, speziell zur sozialen Passivität führe. Dieser „Defekt“, der Mangel an sozialen Energien, der besonders mit intellektuellen Anlagedefekten einhergehe, lasse sie ohne weiteres in die „parasitären Tiefenschichten der Gesellschaft“ entgleisen, wo sie sich den „asozialen Elementen des arbeitsscheuen herumvegetierenden Bettler-, Vagabunden- und Prostituiertentums“ zugesellten. Obwohl diese „kleine Kriminalität“ relativ harmlos sei, belegt deren Deklaration als eine Spielart der kriminellen Psychopathie diesen Typus mit dem Stigma der Krankheit. Diese subjektive und expansionistische Etikettierung sozial und sittlich abweichenden Verhaltens wurde bereits als typisches Merkmal des Psychopathie-Konzeptes aufgezeigt. Weniger Krankheit als Rolle, erfüllte diese dehnbare, psychiatrisch konnotierte Kategorie die soziale Funktion, den klinisch-klassifikatorisch nicht erfassten und erfassbaren abweichenden Handlungen den Charakter der krankhaften „Minderwertigkeit“ zuzuschreiben, indem ein bestimmtes Verhalten – wie z. B. das der „apathisch-indolenten Bettler“ – aus der Kategorie des Normalen hinaus und in die Restkategorie des Psychopathischen, des Krankhaften, hinein definiert wurde. Das Beispiel der Bettler zeigt die damalige Perspektive auf: Exogene, vielleicht wirtschaftliche Faktoren finden in der Totalität des psychisch Abnormen einen Platz lediglich als Bühne, vor deren wechselnden Kulissen der Charakter seine vorgegebene Rolle spiele. „Sozial unzulänglich“ veranlagt seien, so wieder Birnbaum, die eigentlichen Haltlosen, für die weniger die groben Ausfälle als die unzureichende Ausbildung und Ausprägung der Gefühlsseite charakteristisch sei, was Intensität, Kraft, Dauer und Festigkeit der Gefühle betreffe. Die Oberflächlichkeit des Fühlens führe zu psychopathischen Gefühlszuständen und finde ihren Ausdruck beispielsweise in der abnormen Leichtfertigkeit, „dem psychopathischen Leichtsinn, der allen geistigen Lebensäußerungen: den Anschauungen, den Interessen, den Neigungen, den Lebenszielen den Stempel der Flachheit und Hohlheit aufdrückt: Unfähigkeit zu richtiger Betonung wichtiger Lebenswerte, ideeller: Ehre und Sitte, Pflicht und Verantwortung, so gut wie selbst materieller: Vermögen und Gesundheit; mangelndes Verständnis für gewichtige höhere Leitmotive der Lebenshaltung und -führung; sorglos oberflächliches, genußsüchtigbequemes In-den-Tag-Hineinleben, das selbst in kritischen Lebenssituationen und -entscheidungen nicht vom Ernst der Lage und dem Gedanken an die Zukunft beein-

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flußt wird: dies ist der allgemeine seelische Untergrund, auf dem sich ihre Einstellung zum sozialen Leben aufbaut.“

Abgesehen davon, dass sich im Negativ dieser Psychopathien eine Übersicht zeitgenössischer bürgerlicher Moralvorstellungen und Werte darbietet, verriet Birnbaum seinen Blick auf den psychopathischen Verbrecher der „haltlosen“ Spielart im letzten Satz: Es sind die „Einstellungen“ dieser Menschen, um die es Birnbaum zu tun war, nicht deren vorgeblich pathologische Konstitution. Die Psychopathie des „Haltlosen“ weise ihn als eigentlich Kranken aus, doch erscheint seine Psychopathie nur in der moralischen Wertung fassbar, allenfalls noch als Ausdruck einer charakterologisch und damit konstitutionellen Gesinnung. Auf identische Weise umriss Birnbaum weitere psychopathische Gefühlszustände der „Haltlosen“: Die psychopathische Unstetheit, die mit der Abneigung gegen jede Form gesellschaftlicher Bindung in Familie, Ehe und Beruf einhergehe, die psychopathische Schwäche des Willens, der schnell erlahme und abspringe und bei Schwierigkeiten versage, und schließlich die Verführbarkeit, die in der Widerstandslosigkeit insbesondere gegen die schlechten Einflüsse eines „minderwertigen“ Milieus ihren Niederschlag finde. Das Resultat dieser „Einstellungen“ sei das soziale Versagen ihrer Träger. Der leichtherzige, gesellige Anschluss an „minderwertige Elemente“ und ihre Folgen, ein „liederliches Treiben mit Ausschweifungen aller Art in Trunk, Liebe, Spiel und Sport, mit unsinnigen Ausgaben und Verschwendungen und eventuell noch mit bedenklichen Manipulationen zu ihrer Deckung“, seien für das soziale Entgleisen verantwortlich. Gerade den schädigenden Rauschgiften wie Alkohol und Kokain, welche die Vererbung „minderwertiger“ Merkmale initiierten, verfielen die „Charakterschwächlinge“ oft und leicht; und so bringe es diese psychopathische Haltlosigkeit zustande, „daß speziell unter den Individuen, die sich soziologisch als Deklassierte kennzeichnen, gerade jene Naturen sich zusammenfinden, die biologisch als Degenerierte zu charakterisieren sind.“ Feste, habituelle Formen nehme der Haltlosentyp schließlich sowohl in „asozial-parasitären wie antisozial-kriminellen Existenzen“ an, die beide von „überragender krimineller Wertigkeit“ seien. Schieber, Spieler, Zuhälter und Prostituierte, Landstreicher, Bummler und Bettler fänden sich in der ersten, das gewerbs- und gewohnheitsmäßige Verbrechertum, vor allem Eigentumsverbrecher schwerster Art, in der zweiten Kategorie. Besonders sozialgefährlich werde die Konstitution der psychopathischen Haltlosen in ihrer „überaus verbreiteten“ Kombination mit angeborenem Schwachsinn, wodurch noch in die gleiche Richtung wirkende Verstandesmängel hinzukämen. Diese „haltlos-debilen Kriminellen“ seien besonders unter den psychopathischen Gewohnheitsverbrechern und den Unverbesserlichen zu finden; damit zeige sich, dass die Zukunfts- und Besserungssaussichten für psychopathische Haltlose nicht eben günstig seien. Auch der Einfluss der Strafe auf eine eventuelle Besserung sei gering, selbst gehäufte und langjährige Strafen vermögen nicht viel auszurichten. Was die Frage der forensi

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schen Begutachtung angehe, so müsse man „den Gedanken an die Aufhebung der Zurechnungsfähigkeit noch entschiedener als sonst bei psychopathischen Verbrechern zurückweisen und höchstens eine Minderung derselben in den ausgesprochen Fällen anerkennen.“ Damit wird klar: Der ‚kranke‘ Psychopath – es ist der „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ – bleibt schuldfähig. In der Kriminalbiologischen Untersuchung bezogen sich in erster Linie die Untersuchungskomplexe zu den Stellungnahmen des Probanden gegenüber seiner Umwelt, vor allem nach dem eigenen Verhältnis zur Arbeit, nach der Herkunfts- und der eigenen Familie, auf die Eruierung einer potentiellen Haltlosigkeit, aber auch die Frage nach einer Wanderschaft und ob Bettel vorlag, ging in diese Richtung. Mit dem Charakterzug der „Überwertigkeit“ bezog sich Viernstein vor allem auf den Typus, den Birnbaum mit den „Phantasten und Pseudologen“ im Blick hatte (Birnbaum 1926: 97-110). Deren Psychopathie führte Birnbaum auf eine krankhaft gesteigerte Einbildungskraft zurück. Dabei seien die „phantastischen Träumer“ noch die harmlosesten: Es seien „schlaffe, weichliche, willensschwache Naturen mit Neigung zu phantasievollen Wachträumereien“, die sich zu Bewusstseinsstörungen steigern könnten. Problematischer seien die „degenerativen Phantasten“, die man häufig unter Vagabunden antreffe, da ihnen der Drang zu abenteuerlich-phantasiereichem Erleben eigen sei. Neben diesen „parasitären Existenzen“ stünden jene mit einem krankhaften Geltungsdrang und mit Großmannssucht ausgestatteten Fälle, die sich großen unternehmerischen Erfolg zutrauten, aber scheiterten, um dann in kriminelle Bahnen abzugleiten. Der pathologische Geltungsdrang (die „Größenideen“ im Fragebogen) sei im Übrigen als Hang zum Großtun, zu „selbstgefälliger Renommisterei“ und zu maßloser Selbstüberschätzung unter psychopathischen Naturen und vor allem unter psychopathischen Verbrechern weit verbreitet und entfalte in Verbindung mit abnormer Einbildungskraft und Autosuggestibilität ihre volle Wirkung – wie etwa beim pathologischen „Schwindlertyp“, der nicht mehr zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden könne. Ein anderer Typus mit ähnlicher Tendenz zur Überwertigkeit sei der „hysterische Typus“ (Birnbaum 1926: 111121). Hier fände man zahlreiche verschieden gerichtete psychopathische Wesensmängel gleichzeitig: starke Labilität, Unbeständigkeit, Beeinflussbarkeit des Gefühlslebens, Übergewicht der Gefühlsfaktoren, Geltungsdrang, egozentrische Natur, Einbildungskraft. Äußerlich sei dieser Typus an körperlich-nervösen Störungen im Bereich der Empfindungen, der Bewegung, der Sinne und der Gefühle zu erkennen, im Verhalten etwa an gesteigerter Affektäußerung, an Unbeherrschtheit, „schauspielerischer Inszenesetzung“, Schwindeleien. Kriminalistisch kennzeichneten diesen Typus bestimmte Delikte: Affektdelikte wie Ehrkränkungen oder Beleidigungen, Betrugsdelikte, „Eigentumsvergehen aus hysterischer Haltlosigkeit und Verführbarkeit“. Der hysterische Zug stehe in enger „Verbindung mit der weiblichen Wesensart, und indem wir ihn erfassen, erfassen wir damit zugleich die Hauptvertreter der kriminell disponierten weiblichen Psychopathen“.

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Diesem interessanten Aspekt kann hier leider nicht in wünschenswerter Ausführlichkeit nachgegangen werden (siehe dazu den Abschnitt über Kriminalbiologische Untersuchungen von weibliche Strafgefangenen). Als letzter der von Viernstein genannten Charakterzüge bleibt noch die „Triebhaftigkeit“ kurz anzuführen, worunter er vor allem sexuelle Abwegigkeiten fasste, ohne diese allerdings näher zu benennen (Viernstein 1929: 28). Birnbaum umschrieb diese im Typus der „sexuellen Psychopathien“ (Birnbaum 1926: 73-87) und meinte damit „sexuell Abnorme mit psychopathischer Gesamtkonstellation“: Bi- und Homosexuelle, Sadisten, Exhibitionisten, „Notzucht“- und Sittlichkeitsverbrecher, „Lustmörder“. Birnbaum war der selbstverständlichen Meinung, dass „diese Sexualpsychopathen als Verbrecher in viel begrenzterem Sinne kriminelle Naturen sind wie die psychopathischen Gewohnheitsverbrecher im allgemeinen“, da ihre kriminelle Disposition sich auf ein eng begrenztes Gebiet, eben die Sexualsphäre, beschränke. Umgekehrt sei es so, dass die „sexuell Perversen außerhalb dieser sexuell-kriminellen Tendenzen sehr wohl durchaus sozial geartete Naturen sein können“. Gleichwohl entwickelten sie häufig eine ausgesprochene, gegen Strafeinwirkung unzugängliche Rückfallneigung und seien daher den schwersten und gemeingefährlichsten Formen degenerativen Verbrechertums, den gewohnheitsmäßigen und unverbesserlichen Verbrechern, zuzugesellen. Kastration und Sterilisation würden in den USA und in der Schweiz mit beachtenswertem Erfolg durchgeführt; in Deutschland stünden dem „vorerst noch“ ethische und rechtliche Bedenken entgegen, die nicht kurzer Hand weggewischt werden könnten. Insgesamt müsse man in den Fällen „sexueller Psychopathie“ mehr noch als sonst den Einzelfall prüfen. Das Konstitutionsschema von Kretschmer Nach Aufzeigen dieser verschieden Typen bleibt noch die umstrittene Einteilung der Untersuchten in das Konstitutionsschema nach Kretschmer zu diskutieren. Am Ende der charakterologischen Ausmessung waren die Untersucher vor die Frage gestellt: „Ist nach dem Gesamtbilde die Einreihung des Untersuchten in die Kretschmer‘schen Haupttypen, und wie, möglich?“ Die Kritik daran ist bereits ausführlich dargestellt worden, so dass es hier ausreicht, das Konstitutionsschema kurz darzulegen und die Absicht, die Viernstein mit der Aufnahme dieses Punktes verband, zu erläutern. Kretschmer ging davon aus, dass ein Zusammenhang bestehe zwischen Charakter und Temperament eines Menschen und seinem Körperbau. Er skizzierte drei Haupttypen: den asthenischen, den athletischen und den pyknischen Typus. Der asthenische oder leptosome Typus (Kretschmer 1921: 1317) sei körperlich gesehen ein magerer, schmalaufgeschossener Mensch mit schmalen Schultern, mageren Armen, mit dünnen Händen, schmalem und flachem Brustkorb und dünnem, fettlosen Bauch. Der athletische Typus (Kretschmer 1921: 17-21) sei körperlich gekennzeichnet durch eine starke Entwicklung des Skeletts und der Muskulatur, durch breite Schultern, einen 

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stattlichen Brustkorb und straffen Bauch sowie einem derben, hohen Kopf. Den pyknische Typus (Kretschmer 1921: 21-27) machten in körperlicher Hinsicht eine mittelgroße, gedrungene Figur, ein weiches, breites Gesicht auf kurzem, massivem Hals sowie ein stattlicher Fettbauch bei eher graziler Ausbildung von Schultern, Armen und Beinen aus. Diese Körpertypen ordnete Kretschmer den charakterlichen bzw. temperamentlichen Grundtypen, also dem lebhaften, impulsiven und offenen cyclothymen oder dem empfindlichen, stillen, zurückgezogenen schizothymen Charaktertypus, zu: den Pykniker dem cyclothymen, den Leptosomen und den Athleten dem schizothymen Kreis. In psychiatrischer Hinsicht stelle die pathologische Charakterform des asthenischen und des athletischen Typs die Schizophrenie dar, die der Pykniker hingegen die cyclothyme Psychose der manischen Depression (Kretschmer 1921: 28). Von Kretschmer übernahm Viernstein noch drei etwas anders als bei Birnbaum konzipierte Temperamenttypen: den Hypomaniker, den Epileptoiden und den Hysteriker (Viernstein 1929: 28f.). Der gutmütige, dem Leben offen zugekehrte Hypomaniker sei von leicht beweglicher Charakteranlage; seine rasche Affektbereitschaft und seine schnelle Abreaktion unter einsichtiger Reue ergäben eine gute Aussicht auf Besserung. Er sei auch im Gefängnis ein eher harmloser, lenkbarer und anpassungsfähiger Mensch, der scharfer Disziplin weniger bedürfe als einer freundlichen, verstehenden Führung. Der Epileptoide dagegen tendiere zur Explosion, die aus seiner stets gespannten Verstimmung, aus seiner Anlage zu unvorhergesehenen starken Affektkrisen, aus den Bewusstseinsschwankungen der Gesamtpersönlichkeit resultiere. Die soziale Prognose sei fraglos dauernd bedenklich. Der Hysteriker – es wurde schon ausgeführt – beherrsche das theatralisch-egozentrische, auf Effekt und Nutzen eingestellte Verhalten. Hier sei nur Ignorieren oder Repression angezeigt. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, alle Körperbautypen und ihre Untertypen aufzuführen; hier mag der Hinweis genügen, dass Viernstein, wie ausführlich dargelegt, der Einteilung eines Untersuchten in das Kretschmersche Konstitutionsschema vor allem deshalb so viel Gewicht beimaß, weil sie – den Glauben an die Existenz eines Zusammenhangs zwischen Körperbau und Charakter vorausgesetzt – weiteren, unmittelbar an der äußeren Erscheinung erkennbaren Aufschluss geben könne über den Charakter des Gefangenen. Wie auch die Anstaltsärzte erteilte auch Friedrich von Rohden den morphologischen Klassifizierungsversuchen hingegen eine Absage; sie blieben in der Kriminalbiologie vorläufig „Selbstzweck“: „Der anscheinend ewigwährende Drang der Menschheit, nach Entsprechungen zwischen Körper und Seele zu fahnden und in den biologischen Grundlagen der Persönlichkeit Erklärungsmöglichkeiten für das Zustandekommen asozialer Gesinnung zu suchen, wird hier nicht befriedigt“ (Rohden 1933: 66). Diese ambivalente Aussage von Rohdens scheint gut geeignet, diesen Abschnitt über die charakterologische Ausmessung von Strafgefangenen in der Kriminalbiologischen Untersuchung abzuschließen. Die Aussage ist deshalb ambivalent, weil sie bedeuten könnte, dass von Rohden lediglich in

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die Konstitutionslehre, die von einer unmittelbaren Entsprechung von psychischen und körperlichen Merkmalen ausging, kein Vertrauen setzte, dass es aber sehr wohl eine mittelbare Entsprechung in der Weise gebe, dass psychische Vorgänge und körperliche Merkmale über einen degenerativen, minderwertigen Zusammenhang aufeinander bezogen seien. Das aber war der Kern der Kriminalpsychopathologie, und sie war auch der Hintergrund für Einrichtung, Konzept und Durchführung der Kriminalbiologischen Untersuchung. Kontrafaktisch verstanden und wissenshistorisch betrachtet ist mit diesem Satz jedoch eine gute Formulierung gefunden für den Grund, weshalb eine Praxis wie die Kriminalbiologische Untersuchung überhaupt eingerichtet wurde: Die krisenhafte Wahrnehmung steigender, zumindest nicht zurückgehender Kriminalitätsraten, aber auch die Proletarisierung weiter Bevölkerungskreise förderte die Tendenz, sozialen Abstieg und soziale, moralische und rechtliche Abweichung als entweder selbstverschuldet oder als aufgrund einer körperlich-psychischen Konstitution folgerichtig, sogar zwangsläufig entstehenden Anlage zu deuten. Die lebensweltlichen Evidenzen aus dem sittlich-moralischen und sozialen Bereich leiteten meines Erachtens nicht nur die medizinischen und kriminologischen Theoretiker, sie leiteten – und das wird der Abschnitt über die Durchführung der Kriminalbiologischen Untersuchung zeigen – auch die „Praktiker“, hier etwa im Strafvollzug. Die vorgebliche Wissenschaftlichkeit, ein Anschein, der sich als gewünschter Nebeneffekt einer exzessiven Empirie einstellte, schuf Vertrauen und damit eine Grundlage für die Rechtmäßigkeit dieser Vorgehensweise, den Verbrecherkörper und dessen Persönlichkeit zu fragmentieren, ihn auszumessen und an Körper und Charakter eines devianten Menschen eine Landkarte der Abweichung zu zeichnen: Das mapping the criminal ermöglichte eine Topografie der Abweichung am Individuum, die dem Vermesser dieser Landschaft scheinbar unfehlbare Orientierung versprach. Anthropometrische Ausmessung Auf den ersten, ganz oberflächlichen Blick erscheinen die anthropometrischen Erhebungen der körperlichen Verfasstheit der Verbrecher in der Kriminalbiologischen Untersuchung als Selbstzweck: Die Angaben der „Höhe des oberen Brustbeinrandes über dem Boden“ oder der „Breite zwischen den Akromien“, der „Oberhöhe des Kopfes“ oder der „Unterkieferwinkelbreite“ waren im Untersuchungsbogen angeführt als quantitative Hinweise auf die körperliche Beschaffenheit eines Menschen. Die Zahlen aber stehen für den historischen Betrachter in einem scheinbar – im Wortsinn – äußerlichen Zusammenhang zum vermessenen Individuum, dem Verbrecher. Ähnliches gilt für die „Beschreibenden Merkmale“ („Knochenbau“, „Fettpolster“, „Brustkorb“, „Bauch“ und Nasenform usw.), die auf der deskriptiven Ebene spezifische Körpermerkmale manifestierten. Die Zahlen und Angaben gleichen statistischen Größen; erst mit dem professionalisierten Blick, mittels Interpretation und Kontextualisierung durch den medizinisch und anthropolo

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gisch geschulten Untersucher also, wurden sie zu aussagekräftigen Angaben. Als Eindruck aber bleibt: Vor dem Hintergrund, dass hier verurteilte Verbrecher untersucht wurden, stehen die anthropometrischen Erhebungsdaten und die Übersicht über die „Beschreibenden Merkmale“ in der Einzelfallakte seltsam unverbunden neben den soziometrischen und psychometrischen Untersuchungspunkten, die deutlicher auf kriminogene Zusammenhänge hin konzipiert waren. Wie bereits im Kapitel über die theoretische Grundlegung der Kriminalbiologischen Untersuchung dargestellt, intendierte Viernstein mit den anthropometrischen Messungen in erster Linie die anthropologische Bestimmung eines Menschen; einen kriminogenen Faktor sah Viernstein in den Körpermerkmalen jedoch nicht. Da Viernstein sich bei der Bestimmung der relevanten Körpermaße und Merkmale in der kriminalbiologischen Untersuchung an der Methode Martins orientierte, er das Zustandekommen der Messungen naturgemäß aber nicht dokumentiert hat, sei die Übersicht Martins im Folgenden etwas ausführlicher vorgestellt. Die Differenzierung der Körpermessungen bei Martin ging in Detailtiefen, die hier nicht darzustellen sind – es sind über fünfzig Messpunkte. Die Abnahme spezifischer Mess- bzw. Körperpunkte sollte der Erstellung einer Proportionsfigur dienen. Die Messpunkte wurden als prozentuale Werte (Körpergröße = 100) notiert, wobei insgesamt 21 Punkte abzunehmen waren. Auf Millimeterpapier wurden die Messpunkte „abgestochen“ und die Prozentzahlen daneben notiert. Durch die schematische Verbindung der Zahlen ließen sich dann alle wichtigen Proportionsmaße direkt an der Proportionsfigur ablesen; auch die absoluten Unterschiede zwischen Körperbautypen würden deutlich. Die Massenverhältnisse der Körper kommen dabei jedoch nicht zum Ausdruck, da fast alle Maße an Knochenpunkten abgenommen wurden. In einem nächsten Schritt sollte die so gewonnene Proportionsfigur mit dem Durchschnitt jenes Körperbautypus verglichen werden, dem der Untersuchte zuzurechnen sei. „Man hüte sich aber davor“, so Martin, „die arithmetischen Mittelwerte der Gruppe als ‚Normal‘-Werte zu betrachten“; sie seien „nichts weiter als ein Maßstab, an dem die Abweichungen der Individuen gemessen werden können. Allgemein gültige Normalzahlen gibt es nicht“ (Martin 1925: 45). Die Durchschnittswerte würden aber die subjektive und je nach Erfahrung beschränkte Beobachtung des Einzelnen durch einen „objektiven Maßstab“ für die Beurteilung der Körperentwicklung eines Menschen ersetzen. Der Blick auf den Fragebogen der Kriminalbiologischen Untersuchung zeigt, dass Viernstein für die anthropometrische Messung die meisten Maße von Martin übernommen hat. Von Bedeutung waren auch Kopfmaße, die in der Viernsteinschen Zusammenstellung der Messpunkte ebenfalls eine Rolle spielten. Es bestünden, so Martin, bestimmte Korrelationen zwischen Kopf- und Körperwachstum und es sei „mehr als wahrscheinlich, dass die Rassenzugehörigkeit auch in unserer stark gemischten europäischen Bevölkerung den Körperbautypus beeinflusst“ (Martin 1925: 16). Zusammengenommen würden die Punkte, wenn auch nur virtuell, die anatomischen und morphologischen Ausprägun-

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gen ergeben. Gerade bei den Kopfmessungen aber gelte, so László Károlyi 1971, der Grundsatz anthropologischer und anthropometrischer Untersuchungen, „nämlich zuerst sehen und beobachten, und dann zu untersuchen bzw. zu messen“ (Károlyi 1971: 3). Die anthropometrischen Messungen seien nur methodische Wege, den menschlichen Körper zu erfassen und zu erkennen; erst nach mehrmaligem Messungen stelle sich Erfahrung ein und durch die Messungen könnten dann anatomische und morphologische Ausprägungen und deren Variationsbreite und individuelle Erscheinungsformen „besser gesehen werden“ – um zu sehen, muss man erst wissen, wie Ludwik Fleck die Voraussetzung für denkstilgemäßes Erkennen formuliert hatte. Das Bedürfnis nach typenhafter Visualisierung des individuellen Körpers und seiner schematischen Revisualisierung zur späteren Ansicht wird durch den praktischen Blick, durch das kategoriale Sehen mit dem Hilfsinstrument der anthropometrischen Messungen sicher gestellt. Der Kopf und das Gesicht spielten hier eine besondere Rolle. Die Abnahme von Kopfmassen, die Kraniometrie, hat eine lange Tradition. Die Auswüchse der anthropologischen, tendenziell rassistischen Physiognomik (Blankenburg 1996) hatten – und hier lässt sich nun eine Verbindung zum kriminologischen Wissen herstellen und zugleich eine Verallgemeinerung ableiten – den „verhinderten Menschen“ im Blick; sie laufen auf die pseudowissenschaftliche Kraniometrie zu, die, gestützt auf die Zahlen von Schädelkunde und Hirngewichtsmessungen, vorurteilsbeladene Rangordnungen der biologischen Wertigkeit bestätigte und Schwarzen, Frauen, Verbrechern und Armen nur eine untergeordnete Rolle zubilligte. Der französische Chirurg Paul Broca (1824-1880) etwa war, wie Stephen J. Gould gezeigt hat, der Auffassung, dass Menschenrassen auf einer linearen Skala nach ihrem geistigen Wert eingeordnet, dass ihre relative Position innerhalb der menschlichen Gemeinschaft bestimmt werden könnte (Gould 1994: 88). Diese kartografische Phantasie der Bestimmung relativer Positionen von Individuen in einer sozialen Gemeinschaft lag auch der Kriminalbiologischen Untersuchung im Ganzen zugrunde; den gesellschaftlichen Rang bestimmter Gruppierungen – hier der Verbrecher – nach ihrem Wert für das gemeinschaftliche Ganze festzustellen, war Ziel Viernsteins: Die biologischen Wissenschaften seien in der Lage, den „sozialen und rassischen Wert“ eines Menschen zu unterscheiden, und die Kriminalbiologische Untersuchung sei aus dieser Perspektive: „Dienst fürs Volkswohl“ (Viernstein 1929: 9 und 8). Obwohl die Abnahme der Kopfmaße weder bei Martin noch bei Viernstein genauer ausgeführt wird – allein die Technik des Messens und die jeweiligen Ansatzpunkte sind bei Martin beschrieben – kann doch geschlossen werden, dass die anthropometrischen Daten am Schädel ähnlich wie die am Körper Hinweise geben sollen auf die dimensionelle Ausbreitung der einzelnen Formen. Gemessen werden sollten: Horizontalumfang des Kopfes, ganze Kopfhöhe, morphologische Gesichtshöhe, physiognomische Gesichtshöhe, Höhe der Nase, Oberhöhe des Kopfes, größte Länge des Kopfes, 

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größte Breite des Kopfes, kleinste Stirnbreite, Jochbogenbreite, Breite der Nase, Unterkieferwinkelbreite (Viernstein 1929: 42). Die durch die Vermessung gewonnenen absoluten Zahlenwerte charakterisierten nur das Individuum und, so Martin, selbst dieses nur in ungenügender Form, da es bei der Feststellung des Körperbautyps nicht so sehr auf die absolute Größe des einzelnen Maßes als vielmehr auf das gegenseitige Verhältnis verschiedener Maße zueinander ankomme. Dabei sei problematisch, dass die absoluten Maßzahlen nur eingeschränkt für Vergleiche verwendbar seien; man könne sie etwa zum Vergleich des Einzelnen mit einem Durchschnitt heranziehen, „der aus Massenbeobachtungen einer Gruppe rechnerisch erhalten wurde, der das Vergleichsindividuum vermöge seiner Abstammung, seiner sozialen Lage usw. als zugehörig zu betrachten ist. Je gewissenhafter diese Bedingung der Zugehörigkeit erfüllt ist, um so biologisch richtiger und wertvoller“ werde der Vergleich sein (Martin 1925: 18f.). Die „biologische Richtigkeit“ scheint jedoch in diesem Denkstil nur dann gewährleistet gewesen zu sein, wenn Individuen in Bezug auf einen außer- bzw. überindividuellen Maßstab beurteilt werden können. Die Proportionsfiguren waren ein solcher Maßstab, wenn etwa die Körpergröße als 100 Prozent gesetzt und die Maße als relative Angaben notiert wurden. Variabilität, aber auch Individualität, würden auf diese Weise ausgeschaltet und durch (die Illusion von) Objektivität, die sich scheinbar in mathematischen Formeln – in Indices etwa – ausdrücken ließen, ersetzt (Martin 1925: 23). Folgenreich erscheinen die Schlussfolgerungen, die aus solchen Indices gezogen wurden, wenn sie eine Verteilung auf einer Skala bzw. die Abweichung vom Durchschnitt mit einer gewissen – unerbittlichen – Plausibilität veranschaulichten. Die „zentralnormale Standardstufe“ und, z. B., die Körpergewichtsverteilungen, die sich um diese herum manifestieren, erscheinen als eine solche Soll- und Ist-Verteilung. Eine ähnliche Soll-Ist-Verteilung ergaben die beschreibenden Merkmale. Hierfür wollte Martin, um der Einheitlichkeit der Terminologie und der Vermeidung von sprachlichen Missverständnissen willen, feste Schemata einführen; diese könnten zudem leicht einer quantitativen statistischen Verarbeitung zugänglich gemacht werden. Schemata nach dem Muster „1. sehr grob, 2. grob, 3. mittel, 4. fein, 5. sehr fein“ gaben, indem Zutreffendes zu unterstreichen war, scheinbar diese terminologische Sicherheit – um den Preis der Entsubjektivierung: Erneut wird die faktenorientierte Konstruktion eines ‚Tatsachenblicks‘ deutlich, der die Wirklichkeit in Zahl und Maß – und Maßstab – auflöst und allein eine (vorgeblich) wissenschaftliche Reproduktion von Wirklichkeit darstellt. Die geschlossene Empirie der Beschreibung von Körpermerkmalen produzierte – am Maßstab einer Skala von „sehr“ bis „wenig“ – ein dem Bildnegativ vergleichbaren Abdruck vorgängiger Beschreibungskategorien und fixierte den Untersuchten damit in einer virtuellen, zugleich jedoch starren Hülle. Die notorische Illusion von Objektivität bewirkten auch die Vielzahl der beschreibenden Merkmale, die Viernstein unter Punkt 50 im Fragebogen der

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Kriminalbiologischen Untersuchung zu Beschreibung eines Körpers heranzog: Knochenbau, Muskulatur, Fettpolster, Haut, Hals, Brustkorb, Bauch, Körperbehaarung, Haarform, Haarfarbe, Kopfform, Hinterhaupt, Frontalumriss des Gesichts, Profil, Augen, Nase, der körperliche Typ nach Kretschmer und rassische Zugehörigkeit bildeten die Kategorien, die – mehrfach in verschiedene Schemata unterteilt – eine nur positivistisch zu nennende Gesamtschau des Individuums erlauben sollten, die komplette, vereinheitlichte semantische Erfassung eines Lebewesens, das in seiner Individualität sprachlich nicht zu beschreiben wäre. Aus diesem Grund kam auch der Veranschaulichung der Messresultate besondere Bedeutung zu. Die Messungen und die sie ergänzenden Beschreibungen dürften, wie Martin betont, nicht bei der Erfassung der Charakteristik des Körpers in seiner Totalität stehen bleiben. Auf die Analyse der Einzelformen habe die Synthese zu folgen, die sich jedoch nicht einfach in einer Summation der einzelnen Maßverhältnisse erschöpfen dürfe, sondern in der Erkenntnis der gegenseitigen Korrelationen bestehen müsse (Martin 1925: 39). Als Methoden, das rechnerisch ermittelte und daher nur schwer darzustellende Gesamtresultat zu veranschaulichen, kämen die zeichnerische oder fotografische Reproduktion des Körpers, Proportionsfiguren und die Aufstellung grafischer Abweichungstabellen in Frage. Die Fotografie (Martin 1925: 39-43) habe bestimmte Bedingungen zu erfüllen, um wissenschaftlich brauchbare und vergleichbare Bilder zu liefern. Technisch gebe es hier häufig Aufnahmen von nur geringer Güte, was auf die mangelnde Qualität der Objektive zurückzuführen sei. Alle Aufnahmen seien in gleicher Verkleinerung anzufertigen. Immer sei ein Maßstab mit zu fotografieren, damit auch am Abzug noch Messungen der Figur, die von vorne, von der Seite und von hinten aufzunehmen sei, gemacht werden könnten. Gerade auch in der Wissenschaft müsse die Gleichartigkeit der Fotografien gewährleistet werden: Die zu vermessende Person sei deshalb auf eine Drehscheibe zu stellen, die rechtwinklige Markierungen zur Ausrichtung des Probanden aufweise; eine Rückenlehne mit Kopfstütze solle die Kopfhaltung fixieren. Viernstein hat für die Kriminalbiologische Untersuchung weder die Erstellung von Proportionsfiguren noch die von Abweichungstabellen berücksichtigt. Einzig die Fotografie, wenn möglich eine Nacktfotografie, hatte er für die Veranschaulichung seiner anthropometrischen Messungen hinzugezogen – nicht zuletzt wohl auch aus erkennungsdienstlichen Gründen. In der Kriminalbiologischen Untersuchung wurden die anthropometrischen Daten demgegenüber nur abgenommen, notiert und dann in der Akte des Einzelfalls archiviert. In den Einzelakten gab es keinerlei Verweis auf die jeweils erhobenen Daten und damit keine Herstellung eines Zusammenhangs zu der Untersuchung eines straffälligen Menschen.



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D IE D URCHFÜHRUNG Jürgen Simon hat für den Zusammenhang von theoretischer Grundlegung der Kriminalbiologie, Umfang des Fragebogens und der konkreten Durchführung der Kriminalbiologischen Untersuchung die wichtige Beobachtung gemacht, dass die Kriminalbiologie der 1920er Jahre ihren umfangreichen theoretische Standard bei der praktischen Begutachtung nicht einlöste, da aus der Masse der ermittelten Daten nur wenige Konstanten für die soziale Prognose aufgenommen wurden, „die sich in unterschiedlicher Diktion wiederholten: ‚antisoziale Lebensführung‘, ‚Willensschwäche‘, ‚erbliche Belastung‘, ‚Gesellschaftsfeindschaft‘ und ‚psychopathische Minderwertigkeit‘ bildeten das Vokabular, das die Gutachten durchzog“ (Simon 2000: 122). Während, wie schon erwähnt, der bisherigen Forschung nur wenige, in zeitgenössischen Publikationen veröffentlichte Fallbeispiele vorlagen, konnte für die vorliegende Studie auf den gesamten Bestand der Akten aus der Kriminalbiologischen Sammelstelle zugegriffen werden. Der Überblick über die Akten und auch die spezifische Analyse einzelner Vorgänge bestätigt Simons Beobachtung: Die für die soziale Prognose wesentlichen Aspekte waren in der Tat „antisoziale Lebensführung, Willensschwäche, erbliche Belastung, Gesellschaftsfeindschaft und psychopathische Minderwertigkeit“. Dies kann jedoch noch präziser gefasst werden, gehören doch „antisoziale Lebensführung“ und „Gesellschaftsfeindschaft“ ebenso zusammen wie „Willensschwäche“ und „psychopathische Minderwertigkeit“; daneben, aber im Zusammenhang mit der charakterlichen Konstitution, steht „erbliche Belastung“. Simon hat demnach offenbar den Fragebogen selbst nicht analysiert, denn die von ihm konstatierte Reduktion war durch die Konzeption des Fragebogens gegeben: Es waren eigentlich nur drei Bereiche, die im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung für die soziale Prognose relevant wurden: Abstammung, für deren Wirkung die genealogische Ausmessung Belege liefern sollte, Lebensführung (wobei besonders auf Erziehung, wirtschaftliche Entwicklung, soziales Umfeld und vor allem auf die Vorstrafen geschaut wurde), die im Bereich der biografischen Ausmessung im Mittelpunkt stand, und Charakter, der in der charakterologischen Ausmessung eruiert wurde. Diese Bereiche sind mit drei der vier Abschnitte des Fragebogens identisch, weshalb die von Simon konstatierte Reduktion auf den ersten Blick überraschen mag, auf den zweiten aber darin begründet liegt, dass es eben genau diese Punkte – Genealogie, Biografie und Charakter – waren, die für Viernstein und für die Kriminalbiologie der Zeit Hinweise auf den endogenen Verbrecher zu geben vermochten. Dass die Untersuchung so aufwändig und breit angelegt, dass der Fragebogen so umfangreich war, gründet sich in der für Viernstein zwingend notwendigen „Aufschließung des Persönlichkeitsganzen“, also in der Fragmentierung des Verbrecherkörpers. Die einzelnen Untersuchungspunkte mögen für sich genommen wenig aussagekräftig erscheinen, in Summe aber sollten sie ein Gesamtbild der Verbrecherpersönlichkeit zeichnen, welches für den ge-

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schulten Untersucher das Vorliegen der erblichen Hintergründe, der sozialen Verhaltensweisen und der Charaktereigenschaften belegen sollte. Zudem ist Simons Perspektive eher einseitig auf den Diskriminierungseffekt der Kriminalbiologischen Untersuchung gerichtet. Zweifellos ist dieser Effekt in der Mehrzahl der Untersuchungen nachzuweisen, und es muss konstatiert werden, dass es vor allem bestimmte Verhaltensweisen und Charakterzüge waren, die auf diskriminierende Weise bei der Stellung der sozialen Prognose zum Tragen kamen: Neben der Abstammung von selbst durch Alkohol, Kriminalität und Minderwertigkeit „belasteten“ Eltern waren dies vor allem (Früh)Kriminalität, eine im Bereich von Erziehung, Beruf und sozialem Umfeld deviante Biografie, soziale und psychische Haltlosigkeit, Leichtsinnigkeit und Willensschwäche, die sich in fatalen Lebensentscheidungen äußerte, sowie ein Charakter, der auf eine unerwünschte Gesinnung und eine ablehnende Haltung gegenüber (bürgerlichen) Werten und unhinterfragten Gemeinschaftsforderungen schließen ließ. Doch die Untersuchung war auf eine Weise neutral konzipiert, die auch eine andere Auslegung der Einzelfälle erlaubte: Fehlende „Belastung“ im Stamm, eine tendenziell unauffällige Lebensführung und ein der Welt zugewandter Charakter konnten – in im Verhältnis jedoch seltenen Fällen – ebenso diagnostiziert werden. Die Kriminalbiologische Untersuchung war in dieser Hinsicht demnach offen, auch wenn sie gemäß der zeitgenössischen und kritisch zu beurteilenden kriminologischen Vorstellungen auf den Nachweis jener Faktoren ausgerichtet war, von denen man glaubte, dass sie die Identifizierung des des „gefährlichen Individuums“ ermöglichten. Neben den im Konzept des Fragebogen selbst angelegten, vorurteilsvollen und tendenziell diskriminierenden Konzepten wie „erbliche Belastung“, unbürgerliche Lebensführung oder „psychopathische Minderwertigkeit“ des vermeintlich angeborenen Charakters ist daher in gleichem Maße auf die unterliegende Perspektive der Untersucher zu achten; ihre Auslegungsarbeit am konkreten Einzelfall war es, die auf der Basis vorgängiger sozial-moralischer Werturteile von den Untersuchungsergebnissen auf weitreichende Schlüsse führte. Aus diesem Grund muss der Blick auf die explizit in den Gutachten formulierten Kommentare der Untersucher ergänzt werden um die Berücksichtigung des Nicht-Gesagten, des Implizierten. Denn aus den Akten geht da, wo sich der Untersucher nicht direkt zu bestimmten ermittelten Sachverhalten wie etwa zu „Unehelichkeit“ geäußert hat, auch nicht hervor, wie sich der Untersucher die Position von Unehelichkeit im Koordinatensystem der potentiellen kriminogenen Aspekte, die an Abstammung, Leben und Charakter des Untersuchten offengelegt wurden, dachte. Es ist daher – und es ist dies auch eine methodische Frage – verstärkt auf das Unausgesprochene und Nicht-Notierte zu achten, auf die nicht-verbalen kommunikativen Praktiken, an denen die Vorgänge der Konstruktion von Abweichung in einer Aussageund Wertungssituation wie der Kriminalbiologischen Untersuchung dennoch sichtbar werden können. Dies war von Bedeutung in jenen für die soziale Prognose ausschlaggebenden Momenten bei einer konkreten kriminal

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biologischen Untersuchung, wo etwa die negativ als Zeichen „psychopathischer Minderwertigkeit“ konnotierten Charakterzüge erklärend waren im Hinblick auf unerwünschte Gesinnungen und Verhaltensweisen, während die positiv konnotierten Züge im System bürgerlicher Moralvorstellungen Handhaben zu bieten schienen für die Herstellung und Förderung erwünschter Gesinnungen und Verhaltensweisen. Diese Charakterzüge „were listed as the desired characteristics in inmates who were to be advanced through the ranks of the progressive system, corresponding to the characteristics of what Viernstein called the ‚ideal type of person‘: ‚diligence‘, ‚steadiness of character‘, ‚practice of his respective faith‘, and ‚a certain honest and believable thankfulness to the administrative organs‘” (Liang 2006: 441). Gerade im moralisch-sittlichen Bereich muss demnach das Mitgesprochene, aber nicht Notierte als implizite, nicht formulierte Basis für die soziale Prognose mitgedacht werden. Dies gilt vor allem auch für die kriminalbiologischen Untersuchungen von weiblichen Strafgefangenen, die im Frauengefängnis Aichach durchgeführt wurden. Der Fragebogen selbst war geschlechtsneutral konzipiert, denn es gab außer Fragen zu „Mütterlichkeit“, Menstruation oder Menopause keine spezifisch auf Frauen ausgerichtete Untersuchungspunkte. Entscheidend war auch hier die konkrete Untersuchung, denn dort wurden, um das Ergebnis vorweg zunehmen, die geschlechtsneutralen Untersuchungspunkte geschlechtsspezifisch ausgelegt, also mit zeitgenössischen Vorstellungen von Weiblichkeit und Frauen- und Verbrecherinnenrollen angereichert, die häufig für die soziale Prognose ausschlaggebend waren. Nicht zuletzt aufgrund der Ergebnisse, die der gesonderte Blick auf die kriminalbiologische Untersuchung von weiblichen Strafgefangenen ermöglicht hat, rückt ein methodischer Aspekt in den Vordergrund: Eine der zentralen Fragestellungen der vorliegenden Studie bezieht sich auf das Verhältnis zwischen dem theoretischen, dem kriminologischen Diskurs und der strafvollzuglichen Praxis bzw. der Praxis der Kriminalbiologischen Untersuchung. In der Einleitung wurde ausgeführt, dass Zweifel angebracht sind, ob die einfache lineare Auffassung, wonach theoretisches Wissen aufgrund seines überlegenden Wahrheitsanspruches und seiner Wirkmächtigkeit in anders strukturierte gesellschaftliche Bereich diffundiert und dort implementiert wird, diesem Verhältnis in Gänze gerecht wird. Deutlich näher an der Wissenswirklichkeit der Praxis im Falle des Strafvollzugs bzw. der Kriminalbiologischen Untersuchung dürfte die Überlegung liegen, dass mit dem praktischen Bereich ein Feld in den Blick genommen wird, das seinerseits Wissen generierte und theoretische Diskurse – und nicht einfach nur den kriminologischen! – auf der Suche nach Lösungsangeboten rezipierte, und zwar die Diskurse, die Antworten auf spezifische strafvollzugliche Fragen boten oder versprachen. Gerade hinsichtlich der Kriminologie lässt sich erkennen, dass etwa Fragen nach Typologien oder nach den Kriterien von Besserungsfähigkeit oder Unverbesserlichkeit zuerst im Strafvollzug und im strafrechtlichen Diskurs gestellt wurden. Und dies aufgrund eines krisenhaften Handlungsdrucks, auf den mit der Generierung von strafvollzuglichem

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und damit gleichsam ‚praktischem‘ Wissen einerseits, mit der Rezeption von theoretischem und dessen Synthetisierung mit praktischem Wissen andererseits reagiert wurde. Und zudem: Keinesfalls darf in diesem Zusammenhang der Einfluss von lebensweltlichem Wissen und vorgängigen sozial-moralischen Vorstellungen übersehen werden. Wie schon bei der Darstellung der kriminologischen Theoriebildung und der Einrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung und ihrer theoretischen Grundlegung mehrfach betont, stellten die bürgerlichen Ordnungs- und Moralvorstellungen einen entscheidenden Faktor sowohl im theoretischen wie im praktischen Blick auf den Verbrecher dar. Die Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, vor allem jene der Untersuchung weiblicher Strafgefangener, spiegeln diesen Hintergrund – manche deutlicher, andere weniger deutlich. Die Menge der im Bayerischen Hauptstaatsarchiv befindlichen Untersuchungsakten (ca. 27.000) erlaubte keine vollständige quantitative Untersuchung. Und auch das erarbeitete Sample mit 500 Untersuchungsakten ist für eine, auch zahlenmäßig begrenzte, quantitative Analyse zu klein und wurde zudem archivseitig aufgrund von teilweise noch bestehender Sperrfristen nicht systematisch ausgewählt. Eine qualitative Analyse scheint sinnvoller, zum einen aus methodischen, zum anderen aus inhaltlichen Gründen: Methodisch gesehen bestünde bei einer quantitativen Analyse die Gefahr, die damaligen Untersuchungsergebnisse, die letztlich Zuschreibungen sozialmoralischer Kategorien von Abweichung und Konformität waren, unkritisch zu übernehmen und damit zu reproduzieren. Inhaltlich gesehen besteht mit einer qualitativen Analyse die Möglichkeit, die genannten Aspekte, die für eine soziale Prognose ausschlaggebend waren, anhand der Untersuchungsergebnisse und der Kommentare der Untersucher zu konkretisieren. Dafür sollen zunächst ausgewählte Einzelfälle in den Blick genommen werden, die lose zu Schwerpunkten gruppiert sind und zeigen sollen, auf welche Weise einerseits die Fragmentierung des Verbrecherkörpers den Blick des Untersuchers auf die Bereiche lenkte, in denen man die Ursache für Abweichung und Kriminalität vermutete, und andererseits die gleichsam wieder ‚zusammengesetzte‘ Verbrecherpersönlichkeit in einer Gesamtbeurteilung ihre soziale Prognose erhielt. Ein eigener Abschnitt wird den kriminalbiologischen Untersuchungen von weiblichen Strafgefangenen gewidmet sein. Kriminalbiologische Untersuchungen Eine Auswahl der Einzelfälle nach den drei Ausmessungsbereichen des Fragebogens – Abstammung, Lebensführung und Charakter – gestaltet sich schwierig, da praktisch kaum ein Fall exemplarisch für eine besondere Betonung nur eines Bereiches stehen kann. Dies ist nur folgerichtig, denn zum einen ging es Viernstein bei der Konzeption und der Durchführung der Kriminalbiologischen Untersuchung darum, durch das Aufschlüsseln der Gesamtpersönlichkeit zu einem Urteil über deren künftige Gefährlichkeit zu kommen; alle Ausmessungsbereiche kamen daher bei einer sozialen Prog

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nose zum Tragen. Zum anderen wurden häufig spezifische Zusammenhänge zwischen den Untersuchungsergebnissen aus den einzelnen Ausmessungsbereichen gesehen bzw. konstruiert: Die Abstammung aus einem schwierigen Milieu etwa bestimme (entweder über die Anlage und/oder über die Umwelt) Lebensführung und Charakter. Die unterschiedlichen Schlüsse, die aufgrund der Annahme einer „erblichen Belastung“ oder einer stärkeren Rolle der Umwelt gezogen wurden, beruhten dann eher auf der Bestimmung der Stärke dieses Einflusses sowie auf der Frage, ob eine Erziehung zu einem normkonformen Leben noch möglich schien. Aus diesem Grund ist eine Einzelbetrachtung der jeweiligen Ausmessungsbereiche wenig sinnvoll. Stattdessen wurden Einzelfälle ausgewählt, die in ihrer Gesamtheit einen Eindruck vermitteln von der Praxis der eigentlichen Untersuchung und den Aspekten, die die Untersucher im Einzelnen wie im Ganzen zu einer sozialen Prognose für den jeweils untersuchten Gefangenen brachten. Gruppiert werden die Fälle nach anderen Kriterien: Aus manchen Fällen geht z. B. die Pathologisierung und Kriminalisierung der Unterschicht hervor, in anderen wiederum lässt sich der Zusammenhang zwischen vorgängigen sozial-moralischen Werturteilen, dem geforderten subjektiven Eindruck des Untersuchers sowie der sozialen Prognosen verdeutlichen, und schließlich legen andere Fälle offen, welche Bedeutung die Untersucher der Frühkriminalität eines Gefangenen für die soziale Prognose beimaßen. Manche Fälle wiederum zeigen, für wie gefährlich man die „antisoziale Lebensführung“ von Landstreichern hielt. Nach der Darstellung der ausgewählten Fällen und den aus ihnen kondensierbaren Aspekte (Pathologisierung und Kriminalisierung der Unterschicht; sozial-moralische Vor-Urteile und subjektive Eindrücke; Frühkriminalität, sekundäre Devianz und Sozialdisziplinierung; antisoziale Lebensführung) werden diese sozial- und wissenshistorisch kommentiert. „Ein leichtsinnig-haltloser, willensschwacher Psychopath …“ Als erster soll noch einmal der Fall aufgegriffen werden, der schon in der Einleitung herangezogen wurde, die Akte zu Ernst H. Seine erste Straftat beging H.1 1910, mit dreizehn Jahren, die nächste, erneut Diebstahl, erst 1919. Zunächst in der Landwirtschaft als Hirtenjunge beschäftigt, hatte H. zwischen 1914 und 1916 eine Schlosserlehre abgeschlossen, bevor er 1916 zum Kriegsdienst eingezogen worden war. Nach dem Krieg arbeitete er ein Jahr als Maschinist, bevor er, eben 1919, wieder straffällig wurde. Zur Last legte man ihm sieben Vergehen des Diebstahls und des schweren Diebstahls, die ihm 1920 eine Verurteilung über zwei Jahre und drei Monate einbrachten. 1925 wurde H. wegen fünf Verbrechen des schweren Diebstahls zu vier Jahren und einem Monat Zuchthaus verurteilt. 1929 aus dieser Strafe entlassen, kam es bald erneut zu Straftaten; Anfang 1930 verurteilte man ihn wegen siebenfachen Diebstahls zu drei Jahren und drei Monaten Zuchthaus.

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BHStA, Akten der kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 7369 (1930).

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Zudem erkannte man ihm für fünf Jahre die bürgerlichen Ehrenrechte ab und bestimmte, dass er nach Ende seiner Haftzeit unter Polizeiaufsicht zu stellen sei. Zwischen Haftentlassung und einem versuchten schweren Diebstahl lagen 1933 nur wenige Monate; schon im Oktober 1933 wurde er zu einem Jahr Zuchthaus, weiteren fünf Jahren Ehrverlust und Polizeiaufsicht verurteilt; darüber hinaus wurde er, nachträglich, im September 1934 in Sicherungsverwahrung genommen. Im Mai 1937 wurde die Entlassung aus der Sicherungsverwahrung noch abgelehnt, da erhebliche Vorstrafen, darunter Zuchthausstrafen, nicht bessernd auf H. eingewirkt hätten; und obwohl seine Führung am Verwahrungsort gut sei und er fleißig arbeite, sah der Anstaltsleiter des Zuchthauses Straubing, in dem H. einsaß, keine Zeichen, aus denen eine Besserung hervorginge. Die muss dann rasch eingetreten sein, denn schon im Februar 1938 erkannte der Anstaltsleiter in seinem Gutachten für die Staatsanwaltschaft Kempten an, dass Reue und Besserungswille zwar vorhanden seien, dass aber bei der Zahl und Schwere seiner Vorstrafen, die ihren Besserungszweck völlig verfehlten, trotzdem keine Gewähr für künftiges Wohlverhalten bestünde. Er werde aber, sollte das Gericht H. in der Erwägung, dass die Sicherungsverwahrung nur nachträglich angeordnet wurde, noch einmal die Gelegenheit geben wollen, seinen Besserungswillen in der Freiheit unter Beweis zu stellen, einer bedingten Aussetzung der Verwahrung dennoch nicht entgegenstehen – allerdings unter der Voraussetzung, dass zum Zeitpunkt der Entlassung ein Arbeitsplatz gesichert sei und die tadelfreie Führung des Gefangenen anhalte. Bis dahin sei H. durch Beschäftigung bei Außenarbeiten auf die Arbeitsverhältnisse in der Freiheit vorzubereiten. Der Anstaltsleiter empfahl, „bei einer eventuellen Entlassung […] dem Häftling aufzugeben, daß er sich in der Arbeit tadelfrei führt, die ihm angewiesene Arbeit sofort aufnimmt und nicht ohne Zustimmung des zuständigen Arbeitsamtes freiwillig aufgibt, ferner daß er den Bezirk der Stadt und des Bezirksamtes Straubing nicht mehr betritt. Außerdem erscheint Anordnung pol.[izeilicher] Überwachung angezeigt.“ 1930 war H. kriminalbiologisch untersucht worden. Vom leiblichen Vater wisse er nichts weiter anzugeben als den Familiennamen und damit nichts über dessen „Stamm“. Die Mutter heiratete später, so dass H. als „außerehelich“ galt. Über sie gab H. zur Auskunft, dass sie in geordneten Verhältnissen lebe, im Haushalt tüchtig und fleißig sei. Sie sei geistig gesund, wenn auch lungenleidend, und habe bislang mit ihrem Mann „gut gehaust“; die Ehe sei harmonisch. Außerehelich habe die Mutter außer H. noch eine Tochter, die verheiratet sei; eheliche Kinder gab es zehn, die alle bis auf zwei in frühen Jahren verstorben seien. Die beiden Halbbrüder seien unbestraft und gesund. Der Stamm des Probanden war also ohne erbbiologische oder soziale Auffälligkeiten, und damit relativ unverdächtig. Der Umstand der außerehelichen Geburt und die Unkenntnis über etwaige Auffälligkeiten beim leiblichen Vater wurden nicht expliziert, aber als Zeichen potentieller Minderwertigkeit aufgrund der grundsätzlichen erbbiologischen ‚Verdachtshaltung‘ der Untersucher sicherlich nicht zugunsten H.s ausgelegt. 

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Auch Erziehung, Schulbesuch und Ausbildung boten kaum Hinweise auf kriminogene Hintergründe: Ab dem neunten Lebensjahr war H. ohne Komplikationen von den Großeltern erzogen worden; die Mutter habe finanziell immer für ihn gesorgt und ihn auch religiös angehalten. Zwar sei er mit dem Stiefvater weniger gut ausgekommen, doch die wirtschaftlichen Verhältnisse seien auskömmlich und geregelt gewesen. Ebenso der Schulbesuch; er habe leicht gelernt und keine Erziehungsschwierigkeiten gehabt. Mit neun Jahren begann er, als Hirtenjunge zu arbeiten, mit 18 absolvierte er eine zweijährige Ausbildung zum Schlosser, und arbeitete als Maschinist und geprüfter Lokführer, auch nach dem Krieg, bis er wegen Diebstahls und Schmuggels 1919 die erste längere Haftstrafe erhielt. Danach war er wieder bei derselben Firma beschäftigt gewesen, bis er 1924 erneut straffällig und verurteilt wurde. Die Strafe von zwei Tagen Gefängnis, die der damals Dreizehnjährige 1910 wegen Diebstahls erhalten hatte, war ihm wegen Geringfügigkeit noch erlassen worden, doch wurde der Umstand, dass er bereits in jugendlichem Alter mit dem Gesetz in Konflikt geraten, er also „frühkriminell“ war, bei der Beurteilung seiner Besserungsfähigkeit zum verschärfenden Faktor: „Frühkriminell“ wurde in verschiedenen Gutachten, zuletzt 1938, als Hinweis auf seine Unverbesserlichkeit genannt, eine „Nachreife“ liege bei H. nicht vor. Die Verurteilung wegen Diebstahls und Schmuggels 1919 erscheint von außen betrachtet als jene Art Kriminalität, die im Kapitel über Kriminologie als typische Verbrechensform in der Nachkriegs- und Inflationszeit und vor dem Hintergrund der sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten als „Notwehr-Kriminalität“ bezeichnet wurde. Doch ein Blick in den selbst geschriebenen Lebenslauf des H. lässt noch eine andere Deutung zu: Von 1918 bis zur Verhaftung 1919 war H. bei der Landesverteilungsstelle Lindau beschäftigt. Solche Zwangswirtschaftsstellen und Preisprüfungsstellen waren im Reich und in Bayern schon 1915 eingerichtet worden, um durch Beschlagnahmung von Produkten einen Ausgleich zwischen Überschuss und Bedarf herzustellen, um die Zwangsbewirtschaftung von Lebensmitteln und Rohstoffen zu koordinieren und um Preissteigerungen und Versorgungsengpässen als Folge der kriegsbedingten wirtschaftlichen Probleme begegnen zu können. Diese Stellen blieben teilweise bis 1924, bis zum Ende der Inflationszeit, bestehen (Volkert/Bauer 1983: 278-282). H. saß demnach gleichsam ‚an der Quelle‘, allerdings: Offenbar hatte er lediglich Tabak unterschlagen, geschmuggelt und gehandelt. Leider ist den Quellen keine weitere Information über die Umstände dieser Tat zu entnehmen. H. wurde jedoch im selben Jahr auch wegen Diebstahls in sechs weiteren Fällen verurteilt, was darauf schließen ließ, dass er nicht nur die Gelegenheit in der Landesverteilungsstelle zum Verbrechen genutzt hatte. Er selbst merkte zu diesen Taten an, dass er in schlechte Kameradschaft gekommen und von einem mehrfach vorbestrafen Kameraden zum Stehlen und Schmuggeln verführt worden sei. Darin und in den folgenden Straftaten, die alle nach demselben Muster und oft mit einem ebenfalls vorbestraften Komplizen begangen wur-

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den, begründet sich wohl auch die charakterologische Kategorisierung als „leichtsinnig-haltloser, willensschwacher Psychopath“ und „schizoider Gewohnheitsverbrecher“: Für den Untersucher lag offenbar bei H. nicht nur eine Prinzipienabschaltung vor, sondern auch Prinzipienlosigkeit, die ihn in Verbindung mit der Willensschwäche überaus leicht empfänglich für Verführungen machten. Die diagnostizierte Haltlosigkeit konnte der Untersucher zudem einerseits aus den fehlenden Bindungen an Familie und Freundeskreis, andererseits an seiner wirtschaftlichen Lage ablesen: Bindungen zur Familie hatte H. nach eigenen Angaben kaum noch, da sie ihn „mit 9 Jahren hinausgejagt“ hätten. Die Bindungen zum sozialen Umfeld waren offenbar ebenfalls nicht sehr stark; er habe wenig Umgang mit Kameraden und sei mehr „Einspänner“; Sonntags sei er „meist mit Mädels beisammen gewesen“, habe aber bisher noch nie ein festes Verhältnis gehabt. Seine soziale und ökonomische Lage als „selbstständiger Mann“ wird vom Untersucher damit charakterisiert, dass H. sozial nie selbstständig gewesen sei; ein Urteil, dass angesichts der festen Arbeitsstelle, die H. zumindest eine zeitlang hatte, überrascht. Aus dieser scheinbaren Abgewandtheit gegenüber seiner Umwelt glaubte der Untersucher offenbar, H. ein „schizothymes“ Temperament zuschreiben zu können. Die Diagnose, H. sei ein Gewohnheitsverbrecher, konnte aus der Vorstrafenliste oder bzw. und aufgrund der charakterologischen Interpretationshintergründe aus dem Blick auf H.s soziale Stellung und der Typisierung als „schizothym“ gewonnen worden sein. Die Frequenz des Rückfalls bei H. legte für die Strafverfolgungsbehörden bereits früh den Verdacht der Unverbesserlichkeit nahe. So war schon in den Urteilsgründen bei der Verurteilung im Jahr 1924 davon die Rede, dass wegen seiner Gemeingefährlichkeit eigentlich keine mildernden Umstände geltend gemacht werden sollten. Weil er aber längere Zeit „im Felde“ gestanden habe und dekoriert worden sei und weil er geständig war, wurde doch ein milderes Strafmaß gewählt. Bei Haftantritt in Kaisheim wurde er in die Stufe 1 des Stufenstrafvollzugs eingeteilt, rückte aber Ende 1925 in Stufe 2 vor, weil aus seiner strafhäuslichen Führung auf einen vorhandenen Besserungswillen geschlossen werden könne. Bei der Verurteilung im Jahr 1930 dauerte es zwei Jahre, bis eine Vorrückung in Stufe 2 gewährt wurde, zumal er eine Hausstrafe wegen verbotenen Besitzes von Kautabak erhalten hatte. Die Führung wurde zwar als ordentlich eingeschätzt – er arbeite fleißig in der Schneiderei, sei gegenüber den Vorgesetzten anständig und den Mitgefangenen verträglich –, der Nachbericht vom Mai 1933 wiederholte aber exakt die Kategorisierung der Eingangsuntersuchung und ebenso die soziale Prognose, wenn auch etwas optimistischer: H. sei „kaum besserungsfähig“, und während die Prognose bei Eintritt als „schlecht“ galt, so war sie nun „sehr zweifelhaft“. Im Oktober 1933 dann erfolgte tatsächlich wieder eine Verurteilung, nun zu einem Jahr Zuchthaus wegen versuchten schweren Diebstahls. Erneut war H. kriminalbiologisch untersucht worden, und nun klingt die Kategorisierung deutlich schärfer: H. sei ein „unheilbarer Gewohnheitsverbrecher, vor dem die Allgemeinheit durch ausgiebige Inter

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nierung zu schützen ist“. Die Staatsanwaltschaft Kempten beantragte im Januar 1934 gemäß des „Gewohnheitsverbrechergesetzes“ die nachträgliche Sicherungsverwahrung für die Wahrung der öffentlichen Sicherheit, die im September des Jahres dann auch angeordnet wurde. Aus der Sicherungsverwahrung war er 1938 entlassen worden, womit seine Präsenz im Erfassungsnetzwerk der Kriminalbiologischen Untersuchung endete. Mit der Akte des H. liegt ein Fall vor, bei dem für die Stellung der sozialen Prognose weniger erbbiologische Hintergründe für eine anlagebedingte Minderwertigkeit angenommen, als vielmehr soziale Wirkfaktoren und charakterliche Merkmale sowie die Vorstrafenliste als kriminogene Aspekte geltend gemacht wurden. Die charakterliche Disposition des H., die als haltlos, leichtsinnig und willensschwach diagnostiziert wurde, traf für den Untersucher, dieser Disposition ganz entsprechend, auf Umweltreize, etwa auf Gelegenheiten oder auf den schlechten Einfluss von ebenfalls vorbestraften Mittätern, denen H. keine wirksamen Charakterzüge entgegenzusetzen in der Lage schien. Unstetheit, Abneigung gegen Formen gesellschaftlicher Bindung an Familie, Freunde, Beziehungen und Beruf, ein bei Schwierigkeiten aussetzender, schwacher Wille und die Widerstandslosigkeit gegenüber schlechten Einflüssen mit der Folge des „sozialen Versagens“ galten als Hauptmerkmale dieses Typus des „psychopathisch Haltlosen“. Zusammen mit dem schizothymen Temperament, das bei H. erkannt worden war und das sich in fehlender sozialer Adaptionsfähigkeit, Ungeselligkeit, häufig auch in fehlender Fähigkeit zur Reue äußere, sowie mit der Vorstrafenliste ergab sich für den Untersucher aus dieser Perspektive beinahe zwingend die Schlussfolgerung, mit H. einen unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher mit schlechter, mindestens zweifelhafter Prognose vor sich zu haben. „Im mütterlichen Stamme eine degenerative Verfassung …“ Ganz anders gelagert war der Fall des Fritz B;2 auch von ihm war bereits in der Einleitung die Rede. 1883 unehelich geboren, hatte er 1936 29 Strafen vor allem wegen Diebstahls, Zuhälterei und Hausfriedensbruchs aufzuweisen und dabei sechzehn Jahre seines Lebens in Gefängnissen und Zuchthäusern zugebracht. Der gelernte Schreiner hatte bei einem Arbeitsunfall 1899 den rechten Daumen verloren; danach sei er, wie er sagt, „in die Lumperei gekommen“. In der Tat war er 1900 zum ersten Mal verurteilt worden. Die Straftat von 1924, Diebstahl, für die er wegen Rückfälligkeit mit zwei Jahren und acht Monaten Gefängnis bestraft worden war, begründete er mit seiner Mittellosigkeit, die ihn gezwungen habe, wieder einzubrechen. Es wäre besser gewesen, so B., sich wieder der Zuhälterei zuzuwenden, die ein Auskommen garantiert hätte; das nächste Mal aber müsse er etwas tun, dass er erschossen würde, er komme von seinem Leben doch nicht mehr los. B. habe eigentlich gut gelernt, aber seine Ausbildung als Metalldrücker wegen

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BHStA, Akten der kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 3862 (1936).

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Geldmangels nicht beendet. Zudem habe er seine verwitwete Großmutter unterstützen müssen, bei der er aufgewachsen sei. Dann kam der Verlust des Daumens, wodurch er nur noch schwer Arbeit fand. Gleichwohl wurde er in einem Gutachten als „arbeitsscheu“ bezeichnet, und in dem Gutachten von 1938 wurde eine Einweisung in ein Arbeitshaus empfohlen: Es sei dringend geboten, ihn an ein gesetzmäßiges Leben und geregelte Arbeit zu gewöhnen. 1939, im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Diebstahls, gefährlichen Gewohnheitsverbrechertums und der möglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung war der Umstand, dass B. die Hälfte seines Lebens hinter Gittern verbracht hatte, der Kripo Nürnberg Hinweis darauf, dass die vielen Strafen ihn in keiner Weise zu bessern vermocht hätten. Ob B. tatsächlich in Sicherungsverwahrung genommen wurde, geht aus den Akten nicht hervor; unwahrscheinlich ist es nicht. B. war mehrfach, insgesamt vier Mal, kriminalbiologisch untersucht worden. Im charakterologischen Untersuchungsbereich fällt vor allem die häufige Verwendung des Wortes „gleichgültig“ auf, so im Zusammenhang mit den Mitschuldigen, mit der Herkunftsfamilie, mit der eigenen Ehe, mit politischen und religiösen Fragen; zudem sei er gleichgültig gegenüber der Gesellschaft. In Bezug auf B.s Verhältnis zu seinem sozialen Umfeld urteilte der Untersucher 1924, dass er zwar ein Bedürfnis nach Umgang habe, er aber eher Mitläufer sei, eine unselbständige, anpassungsunfähige, willensschwache Natur, zwar verträglich und ruhig, aber nicht geachtet, nur geduldet. Es überwögen zwar Verstand, Besonnenheit und Zweckhaftigkeit, aber Handhaben für erzieherische Maßnahmen würden sich nicht finden: „Zur Erziehung ist es zu spät“. Reue zeige er nicht; vielmehr stelle er seine Gesinnung nicht in Frage und beschönige seine Taten. Es dominiere in seinem Charakter seine passive Natur; zudem habe er resigniert, was sich in seiner „wurstigen“, gleichgültigen Haltung gegenüber seiner Strafe geäußert habe. Als strafvollzugliche Haltung B. gegenüber wurden Energie und Strenge empfohlen. Der Untersucher fasste zusammen: „Von mäßiger, fast unterwertiger Intelligenz, seine gemütliche Stumpfheit und Gefühlsarmut, die sich bei ihm wohl nicht in Rohheiten äußern dürfte, zeigen sich in seiner Neigung zur Zuhälterei und Strafunempfindlichkeit. Er ist dem schizothymen Typ zuzurechnen, ein unverbesserlicher Verbrecher, der seine soziale Qualität ererbt hat und zu denen gehört, die dauernd aus der Gesellschaft eliminiert werden sollten.“ 1929 befand Viernstein, im Übrigen ohne eigene Ansehung des Falles, in einem Gutachten: „B. ist ein endogener, degenerativer Zustandsverbrecher. Die soziale Prognose ist absolut schlecht. Bei seiner [...] eigenliebigen, gewalttätigen und kalten Artung fehlen dem B. vor allem völlig die sozialethischen Gefühle und Beziehungsmöglichkeiten, die zur Einordnung in die gesellschaftlichen Belange nötig sind.“ Und im letzten Gutachten von 1939 ist zu lesen: „B ist ein ausgesprochener Gewohnheitsverbrecher, der sich niemals in die Volksgemeinschaft einfügen kann und aus diesem Grunde aus dieser ausgeschlossen werden muß.“ Und weiter: „B. muß als Volksschädling der schlimmsten Sorte bezeichnet werden.“ 

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Evidenzen für diese Werturteile glaubten die Untersucher nicht nur in B.s Persönlichkeit und Charakter gefunden zu haben, sondern auch in dessen „Stamm“, in seiner Familie und der Verwandtschaft. Der unehelich Geborene wusste über seinen Vater außer dessen Namen nichts anzugeben. Die Mutter, verurteilt wegen gewerblicher Unzucht und Diebstahls und Mutter zweier weiterer unehelicher Kinder, habe sich 1895 verheiratet; aus dieser Ehe entstammten vier weitere Kinder. Deren Lebensumstände und Wohnorte sind vermerkt: Die verheiratete Tochter sei unbestraft, was jedoch nachträglich durchgestrichen worden ist. Auch der jüngste Sohn sei – „noch“, wie der Untersucher einfügte – unbestraft. Anders die beiden ältesten Söhne, verurteilt jeweils wegen Zuhälterei, Diebstahl und Körperverletzung. Viernstein sah in seinem Gutachten von 1929 die Ursachen der Kriminalität des B., da Mutter und Geschwister ebenfalls straffällig waren, in dessen erblich bedingter „Anlage“: „Man wird zu dem Schlusse berechtigt sein, im mütterlichen Stamme eine degenerative Verfassung und soziale Abartung anzunehmen […]. Jedenfalls steht fest, daß ein Bruder im Zuchthaus war, daß die Mutter vor und nach der Ehe von anderen Männern gebar und daß der Untersuchte selber […] Zustandsverbrecher aus Anlage ist.“ Die Informationen über die Geschwister stammten von B. selbst und waren offenbar durch weitere Auskünfte der Heimatbehörden nicht gedeckt. Aber B.s Beschreibung der Charakterzüge der Geschwister sei, so Viernstein, „zu prägnant und typisch, als daß diese […] Erfindung und Kombination“ des B. sein könnte. Es handele sich bei B.s Familie vielmehr um Angehörige eines „wohlabgegrenzten und umschriebenen Typ[s] eigenliebiger Menschen“, die keine „warmen Gefühlsbeziehungen zur Außenwelt aufbringen können. Nur ein Bruder ist ‚lustig‘ bzw. ein Draufgänger, wahrscheinlich vom gleichen egozentrischen Kaliber wie die anderen Geschwister.“ Anders als im Fall H. gingen die Untersucher hier von einer schlechten Veranlagung aus, die sich im Charakter des B. selbst und in seiner kriminellen Biografie sowie in Charakter und Lebensführung seiner Mutter und seiner Geschwister ausdrücke. Der mehrfach rückfällige B. galt als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher und wurde, indem die vermeintlichen erbbiologischen Zusammenhänge, seine an ihm beobachtete Gleichgültigkeit und sein ihm zugeschriebenes schizothymes Temperament herausgestellt wurden, als endogen und unverbesserlich charakterisiert. Dabei wurde der Unfall mit dem Verlust des rechten Daumens, der in Zusammenhang mit seiner darauf folgenden Kriminalität zu stehen scheint, wenig berücksichtigt – Hinweise des B. auf diesen Zusammenhang wurden eher abgetan – „Schiebt die Schuld seines Versagens im bürgerlichen Leben auf seine Handverstümmelung“ – und vom Untersucher als Entschuldigungsstrategie wahrgenommen, als Legitimation für eine Gesinnung, die doch nach dem Urteil des Arztes in seiner „minderwertigen“ Anlage zu verorten war.

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„Persönlichkeitsbedingte minderwertige Verfassung …“ Darin, in seiner Anlage, wurde auch der Ursprung der Kriminalität im Fall des Emil M.3 vermutet. Der 1897 geborene, mehrfach wegen schweren Diebstahls und Sittlichkeitsdelikten vorbestrafte Tagelöhner und Hilfsarbeiter war 1928 und 1937 kriminalbiologisch untersucht worden. Beide Gutachten stellten ihm eine ungünstige soziale Prognose, 1937 wurde er als unverbesserlich bezeichnet und Sicherungsverwahrung empfohlen. M. gehöre, wie Viernstein bei dessen Untersuchung 1928 vermerkte, zur „Gruppe der ethisch minderwertigen, draufgängerisch, willensaktiven Erregten, deren Einordnung in Sitte und Gesetz häufig sehr lange erschwert ist, weil sie das Gefühl für Gemeinschaftsforderungen nicht besitzen“. Da M. mehrfach wegen Sittlichkeitsdelikten vorbestraft war, werde ihn höchstens vorgeschrittenes Alter bei Nachlass der sexuellen Aktivität in geordnete Bahnen bringen. M. besitze die erbmäßig bedingte Charaktereigenschaft der Erregbarkeit, die auch sonst in der Familie zu finden sei. Dies wird im Gutachten von 1937 expliziert: Zwar seien Mutter und Geschwister ohne Besonderheit, der Vater aber sei jähzornig gewesen, ebenso sei die Verwandtschaft zwar heiter, aber auch leicht erregbar gewesen, einer habe „ein rohes, finsteres Gesicht“. Setzt man voraus, dass die Informationen vom Untersuchten selbst stammten, dann deutet diese ungewöhnliche Beschreibung darauf hin, dass der Untersucher in seinem Bestreben, die „Erregbarkeit“ des M., die sich nach dieser Vorstellung auch in den Sexualstraftaten äußere, auch in seinem „Stamm“ nachzuweisen, M. gezielt nach dem Vorkommen von „Erregbarkeit“ auch unter seinen Geschwistern und seiner Verwandtschaft gefragt hat. M. hatte keine Ausbildung, war beim Militär wegen Diebstahls und Fahnenflucht verurteilt und in eine Strafkompanie versetzt worden; ein Heimatbericht bezeichnete ihn als „arbeitsscheuen Burschen“. Der Untersucher hatte den Eindruck einer gewissen Affektarmut; M. zeige keine Reue gegenüber der Straftat, was aber wohl daran liege, dass „er erwischt wurde“. Als Motivation zur Straftat gab er Geldnot an; dem stellte der Untersucher allerdings entgegen, dass M. die Diebstähle eben doch ohne Not begangen haben. Die Breite der Straftaten – schwere Eigentumsverbrechen, Erreglichkeitsdelikte, gröbere Verstöße gegen die Sittlichkeit – veranlassten den Untersucher des Jahres 1938, in M. einen „nach allen kriminellen Richtungen disponierten Mann“ zu sehen. Da M. bereits als Jugendlicher fünf Strafen, davon eine im Alter von dreizehn wegen sittlicher Verfehlung, erhalten hatte, ging der Untersucher davon aus, dass M. bereits über eine „gefestigte kriminalpsychologische Erfahrung“ verfüge. M.s Frühkriminalität und seine Tendenz, sich in verschiedenen „Verbrechenskategorien zu betätigen“, verrate eine besonders stark gestörte psychische Konstitution: „Die persönlichkeitsbedingte minderwertige seelische Verfassung ist es, welche als Hauptwurzel der sozial störenden Lebensführung aufzufassen ist“. M. sei ein ge-

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BHStA, Akten der kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 73 (1937).



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meingefährlicher, unverbesserlicher Mensch; seine kriminellen Handlungen seien auf seine ethisch-charakterliche Beschaffenheit und auf seinen Hang zum Verbrechen zurückzuführen und „keineswegs etwa vorwiegend durch äußere Umstände herbeigeführt“. Besonders auffallend sei seine kriminelle Beharrlichkeit, die rechtfertige, in M. einen gefährlichen Gewohnheitsverbrecher zu sehen. Die Sicherungsverwahrung zum Schutz der Volksgemeinschaft sei kriminalbiologisch zu befürworten. „Arbeitsscheu und niedrig genug …“ Nicht nur Sicherungsverwahrung, sondern auch Entmannung empfahl der Untersucher 1934 im Fall des Josef T.4 T. hatte 47 Vorstrafen, vor allem wegen Bettelei, hinzu kamen zwei Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Der Gefangene sei, so der Untersucher, ein gewerbsmäßiger Bettler, „ein Mensch, der keine Leistungen bieten will und immer Leistungen von anderen verlangt.“ Die Verhältnisse in der Familie waren offenbar „denkbar üble“ und hätten einerseits einen schlechten erzieherischen Einfluss ausgeübt, hingen andererseits aber „irgendwie mit der biologischen Minderwertigkeit des Stammes zusammen“: Der leibliche Vater sei jung an Tuberkulose, die Mutter „geistesgestört“ verstorben. Der Ziehvater des T. sei Trinker und ein pflichtvergessener Familienvater, und unter den Halbschwestern des Probanden gäbe es eine nachgewiesene Prostituierte. „Der Mensch“, so der Untersucher, „schafft sich seine Umwelt, nicht die Umwelt den Menschen; sie hat nur sekundäre Bedeutung“. Dieser in seiner Referenz etwas unklare Satz verweist meines Erachtens deutlich auf die Haltung, die die Untersucher mehrfach rückfälligen Gefangenen aus der Unterschicht entgegenbrachten: Die angenommene „biologische Minderwertigkeit“ eines Menschen wirkte in der Kriminalbiologischen Untersuchung in der Regel nicht entlastend oder gar entschuldigend, sondern verschärfte die Beurteilung sogar noch, da in der als kaum oder unveränderlich erachteten biologischen Disposition der Ursprung der Gefährlichkeit des Betreffenden vermutet wurde. Eigentlich weniger verantwortlich für ihre Taten, wenn die vorgeblich ererbte Disposition für Charakter und Lebensführung bereits die Weichen gestellt hätte, galten diese Menschen als umso gefährlicher, da sie dieser Disposition nichts entgegenzusetzen hatten und nicht zu einer konformen Lebensführung in der Lage schienen. Sie verharrten aus Sicht des Untersuchers nicht nur in ihrem kriminellen Leben, sondern gestalteten dieses Leben aktiv, schafften sich ihre Umwelt, und nicht diese Umwelt sie: „Prob. bettelt sich sein ganzes Leben durch, weil er arbeitsscheu ist und niedrig genug, um auf die Gutmütigkeit, besser gesagt Dummheit und Indolenz seiner Mitmenschen zu spekulieren“. Der Einfluss der Umwelt wird hier vernachlässigt, der Ursprung der Kriminalität in den ererbten Charakter – „arbeitsscheu“ – und die ererbte „Minderwertigkeit“ – „niedrig“ – verlegt.

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BHStA, Akten der kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 694 (1934).

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Diese Einschätzung mag sich auch daraus ergeben haben, dass T. zudem bereits wegen zweier Sexualdelikte verurteilt worden war, die für den Untersucher auf einen angeborenen, unkontrollierten Sexualtrieb hinwiesen und ihn, in Verbindung mit seiner „parasitären“ Lebensführung, „nicht nur als lästigen und nichtsnutzigen, sondern als gefährlichen Volksgenossen erweisen: Er ist schwerer Sittlichkeitsverbrecher.“ Die sexuelle Triebhaftigkeit sei in Menschen ab ovo verschieden stark in der Anlage gegeben, „sicher ist aber, dass Müssiggang und Faulheit besonders körperlicher Art sie noch zu üppigeren Blüten treibt“. Nach Angabe des Untersuchten sei seine „normale nach dem erwachs. Weibe gerichtete Appetenz schon erheblich überhöht und die durchschnittliche Triebstärke übersteigend. Prob. wendet sich aber ausserdem Kindern zu, zum Teil sogar Kleinkindern; dies ist eine nach allgemeinem Gefühl ausgesprochene Perversion“. Bereits 1925 war T. wegen einer Vergewaltigung zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Diese Strafe habe aber nichts gefruchtet, denn „1932 wurde er wieder ertappt, – was dazwischen liegt ist uns unbekannt –“, wofür er eine zweijährige Zuchthausstrafe erhalten hatte. Die Triebhaftigkeit des T. sei jedenfalls eine übernormale und außerdem eine abgeirrte; Strafen mögen eine gewisse Hemmung bewirken, „sie können aber das Uebel nicht wirklich gänzlich verhindern, wie die Erfahrung lehrt“. Der Untersucher schließt: „Die soziale Prognose ist abgesehen davon, was seinen sozialen Parasitismus angeht, auch hinsichtlich seiner Disposition zu Sittlichkeitsverbrechen eine ganz schlechte [sic]. Es unterliegt keinem Zweifel, dass T[…] als gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher aufzufassen ist. Die Bedingungen des § 42 k RSTGB. zur Entmannung sind gegeben. Da die erwünschten Folgen der operativen Massnahme, die Eindämmung bzw. Abtötung der Geschlechtslust (Libido), der Potenz und auch der Fortpflanzungsfähigkeit keineswegs immer sofort nach dem Eingriff, sondern nach unbestimmter Zeit eintreten, so ist die Verfügung der Sicherungsverwahrung notwendig, die ausserdem der Verhütung des nach anderer Richtung hin gegebenen unsozialen Verhaltens des Probanden dient. Beide Massnahmen sind zum Schutze der Volksgemeinschaft kriminalbiologisch zu befürworten.“

Das Zusammentreffen von Bettelei und Sittlichkeitsverbrechen bei T. veranlasste den Untersucher, nach beiden Richtungen zu gutachten und zum Schutz der „Volksgemeinschaft“ die drastische Maßnahme der Kastration zu empfehlen. Auch hier geht, da Sterilisationen und Kastrationen von einem Erbgesundheitsamt und eben nicht mehr im Rahmen des Strafvollzugs durchgeführt wurden, aus den Akten nicht hervor, ob die empfohlenen Maßnahmen – Kastration und Sicherungsverwahrung – erfolgt waren.



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Kommentar: Pathologisierung und Kriminalisierung der Unterschicht Die vier bislang vorgestellten Fälle haben Verschiedenes gemeinsam: Bei den mehrfach vorbestraften Gefangenen war Diebstahl bzw. Bettelei das vorherrschende Delikt. In drei der vier Fälle – die Ausnahme stellt die Untersuchung des H. dar – gingen die Untersucher davon aus, dass die Kriminalität aus einer ererbten „minderwertigen“ Anlage erwachse, die den Betreffenden soweit disponiere, dass er entweder Umwelteinflüssen keinen Widerstand entgegen bringen könne oder die Kriminalität gleichsam folgerichtig eintrete. Alle Gefangenen wurden als gefährliche Gewohnheitsverbrecher kategorisiert, alle als unverbesserlich. Und in allen Fällen wurde nach dem Inkrafttreten des Gewohnheitsverbrechergesetzes die Sicherungsverwahrung empfohlen, die – im Fall H. wissen wir es sicher – mit großer Wahrscheinlichkeit auch angeordnet worden ist, da die Empfehlung dieser Maßnahme in einem kriminalbiologischen Gutachten gewichtig genug war, dass die Gerichte entweder Sicherungsverwahrung oder Sterilisation (oder beides) anordneten, wie in anderen, vergleichbaren Fällen aus den Akten hervorgeht. Deutlich wurde bei der Analyse dieser Fälle, dass, wie eingangs dieses Abschnittes beschrieben, trotz der Vielzahl der Untersuchungspunkte im Fragebogen der Kriminalbiologischen Untersuchung eben nur wenige Frage- und Ausmessungsbereiche von Bedeutung waren: Deliktart und Vorstrafen, Herkunft und Lebensführung, Charakter und Temperament sowie die Einschätzung der Zugänglichkeit zu erzieherischen Maßnahmen waren die entscheidenden Kriterien zur Stellung der sozialen Prognose, die in der Kombination der ungünstigen Wertung dieser Kriterien und der Untersuchungsperspektive, die vorgängig einen möglichen, wenn auch nicht immer explizierten erbbiologischen Zusammenhang vermutete, in den dargelegten Fällen als schlecht beschrieben wurde. Hier tritt aus den Untersuchungsakten das „gefährliche Individuum“, der rückfällige, unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher, der dauernd gesellschaftsfeindliche und gemeingefährliche Mensch, hervor, jener Verbrechertypus, der als die zentrale Figur der bedrohlichen (Eigentums-)Kriminalität galt. Und Ziel und Aufgabe der Kriminalbiologischen Untersuchung war es, an einem konkreten Strafgefangenen erkennen und wissenschaftlich nachweisen zu können, ob dieser ein solches „gefährliches Individuum“ war, um ihn dann einer individualisierten, zweckgebundenen strafvollzuglichen Behandlung zuzuführen. Eine gute soziale Prognose erhielten jene Strafgefangenen, die diese ungünstige Kriterienkonstellation aufwiesen, demnach in der Regel nicht. Zwar lassen sich in den Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung vereinzelt Fälle finden, wo Gefangene als besserungsfähige Gewohnheitsverbrecher bezeichnet wurden, eine günstigere soziale Prognose erhielten und entsprechend im Stufenstrafvollzug voranschreiten konnten. Aber in all diesen Fällen sahen die Untersucher in Vorleben, im Charakter oder im Temperament eines Gefangenen ganz bestimmte Ansatzpunkte für eine erzieherische Einwirkung gegeben – zumeist waren dies Personen, die ihre Tat bereuten, sich gut, also

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folgsam, führten, beeinflussbar schienen und charakterologisch als cyclothym, als eher offen und der Welt zugewandt, eingestuft wurden. Selten aber finden sich bei den in den Strafanstalten am häufigsten vertretenen Deliktarten der Eigentumsverbrechen wie Diebstahl, Hehlerei oder Betrug eindeutige Urteile auf Besserungsfähigkeit – vor allem nicht, wenn diese im Rückfall und von als schizothym eingeschätzten Verbrechern begangen wurden. Und von Angehörigen der Unterschicht: Jeder der vier vorgestellten Strafgefangenen gehörte dieser an. Auch ein Abgleich mit anderen Fällen aus dem Sample macht deutlich, dass – den sehr hohen Anteil der Strafgefangenen aus der Unterschicht berücksichtigend – die Untersucher dazu tendierten, diesen in den allermeisten Fällen eine fragliche bis schlechte soziale Prognose zu stellen. Umgekehrt zeigte sich, dass fast alle Gefangenen, die als unverbesserlich prognostiziert wurden, der Unterschicht angehörten. Lebensumstände, die auf eine „antisoziale Lebensführung“ hindeuteten, auf jenes Prognosekriterium also, das von Simon zu Recht als ein zentrales Kriterium im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung genannt wird, wurden im analysierten Sample eigentlich immer nur bei Angehörigen der Unterschicht ausgemacht, oft mit einer allgemeinen „Minderwertigkeit“ in Verbindung gebracht und als kriminogen gedeutet. In diesem Zusammenhang war, wie im Abschnitt über die theoretische Grundlegung der Untersuchung ausgeführt, für Viernstein auch die Gesinnung eines Strafgefangenen von Bedeutung, die er als gefühlsmäßige Disposition verstand, die bestimmte, wie auf jene Lebensreize reagiert werde, die eine überindividuelle, altruistische Reaktion erforderten. „Antisoziale Lebensführung“ konnte daher auch zurückgeführt werden auf die falsche Gesinnung eines Menschen, auf eine fehlende Anpassung an die letztlich bürgerlich gedachten Werte der Gemeinschaft. Die Diskriminierung der Unterschicht, der „Sozialkrankheit Proletariat“, als Ganzer wurde hier auf der Ebene des antisozialen, von einer falschen Gesinnung geleiteten Individuums fortgesetzt. Eine fehlende überindividuelle, altruistische Reaktion des Gefangenen auf die allgemein anerkannten und gesetzlich fixierten Forderungen des Gemeinwesens wurde, wie die Analyse der Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung zeigt, in erster Linie bei Angehörigen der Unterschichten festgestellt – namentlich bei „Gewohnheitsdieben“, bei Vagabunden und Prostituierten. Die Analyse zeigte somit, dass die Kriminalbiologische Untersuchung durchaus zur weiteren Kriminalisierung der Unterschicht beitrug: Das gefährliche Individuum kam aus der gefährlichen Klasse. „Hysterisch geziert …“ Als eine Art umgekehrter Beleg für dieses Ergebnis soll nun ein anders gelagerter Fall vorgestellt werden. Zum einen handelt es sich bei dem begangenen Delikt um einen versuchten Mord, ein Delikt, bei dem es in der Regel nicht zum Rückfall kommt, zum anderen war der Täter ein Magistratsbeamter, gehörte also der oberen Mittelschicht an. Der nicht vorbestrafte Franz 

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E.5 hatte versucht, einen Soldaten, mit dem sich seine Geliebte eingelassen hatte, durch einen fingierten Brief mit Esswaren, die mit Strychnin versetzt waren, zu vergiften. Viernstein untersuchte den damals fünfzigjährigen E. im Jahr 1928. Seinen Vater beschrieb E. als sozial einwandfrei, die Mutter sei etwas aufgeregt, aber tüchtig. Auffällig sei nur eine Schwester; diese soll aus Angst vor Schlägen versucht haben, sich umzubringen und habe mit Durchbrennen gedroht. Die Erziehung sei ordentlich gewesen, wenn auch ärmlich. Die charakterologische Untersuchung ergab für Viernstein, dass E. ruhig, aber „hysterisch geziert“ sei, ein hysterischer Psychopath. Außerdem erkannte Viernstein im Gefangenen Überheblichkeit und Uneinsichtigkeit; dem stehe sein Fleiß und seine Intelligenz nicht entgegen. Die strafrechtliche Führung sei sehr gut, ebenso habe E. bis dahin eine einwandfreie bürgerliche Führung gezeigt. Diese „soziale Brauchbarkeit“ des E. zeige, dass dieser kein wirklicher Verbrecher sei, denn seine einmalige verbrecherische Handlung sei trotz der überlegten Handlungsabfolge vielmehr als ein „solitärer Komplex von stärkster Affektbeladung“ zu verstehen und werde sich nicht wiederholen, zumal ihn die Strafe sehr stark abschrecke. E. sei zwar kein ansprechender Charakter, aber seine soziale Brauchbarkeit, sein grundsätzliches soziales Fühlen und Wollen sowie die Singularität und Außergewöhnlichkeit der Tat und seine Lebensumstände rechtfertigten eine mildere Behandlung. Die Strafe wurde nach einem Teil der Haftzeit auf Bewährung fortgesetzt; Viernstein empfahl zudem: „Sollte es den wirtschaftlichen und bürgerlichen Fortkommen dienlich sein, so wäre kriminalbiologisch zu befürworten, dem E. den Verlust der bürgerlichen Ehrenrecht zu erlassen“. Im Fall E. wurden die gleichen Kriterien für die Stellung der Prognose angelegt wie in den anderen Fällen: Deliktart, Vorstrafen, Herkunft und Familie, Charakter und Temperament, Lebensführung, Erziehbarkeit bzw. Abschreckung. Dass es hier jedoch zu einer völlig andere Auslegung kam, zeigt, welche Bedeutung diesen Kriterien im Rahmen der Beurteilung der zukünftigen Gefährlichkeit eines Menschen zukam. Da wäre zunächst das Delikt: (Versuchter) Mord wird menschlich und gesellschaftlich als ein schweres Verbrechen gewertet, doch besteht in der Regel keine Gefahr eines Rückfalls, da die allermeisten Morde und Totschlagsdelikte – sieht man von Serien- oder Auftragsmord, bestimmten Formen der politischen sowie der Massenmorde infolge von (staatlichem) Terror und Genozid ab – im sozialen Nahraum begangenen werden. Diese Taten richten sich in der Regel auf eine Person, deren Beseitigung einen wirtschaftlichen, persönlichen oder emotionalen ‚Vorteil‘ verspricht, so dass mit dem Mord auch das unmittelbare ‚Problem‘ des Mörders beseitigt ist. So auch hier: E.s emotionaler ‚Vorteil‘ hätte darin bestanden, den Nebenbuhler zu beseitigen. Sowohl das Gericht als auch Viernstein bewerteten die Tat des E. trotz der überlegten Ausführung als Affektverbrechen, ohne die Unangemessenheit dieser Reak-

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BHStA, Akten der kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 114 (1928).

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tion zu explizieren. Damit korrespondiert die Beobachtung Viernsteins, dass E. von der Strafe stark abgeschreckt werde. Zudem empfahl Viernstein, von der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte abzusehen, wohl vor dem Hintergrund, dass ihr Verlust E.s bürgerliche Karriere bedrohen und die Gefahr weiterer, anderer krimineller Taten erhöhen würde. In Verbindung mit der ‚singulären‘ Tat war auch der Umstand, dass E. keinerlei Vorstrafen aufwies, noch einmal von besonderer Bedeutung, war doch das geregelte bisherige Leben ein Hinweis darauf, Entsprechendes auch für die Zukunft erwarten zu können. Die Lebensführung insgesamt, die „soziale Brauchbarkeit“ des E., wurde ebenfalls in diese Richtung ausgelegt, so dass Viernstein eben zu dem Schluss kam, E. sei „kein wirklicher Verbrecher“. Dieses Urteil gründete auch in der genealogischen und der charakterologischen Begutachtung des E. Herkunft und Familie waren ohne Befund, wobei E. angeben hatte, dass seine Mutter aufgeregt sei und die Schwester, die offenbar geschlagen wurde, Selbstmord versucht und mit Ausreißen gedroht habe. Erneut frappiert der enge Zusammenhang zwischen den vom Gefangenen selbst angeführten Charaktermerkmalen seiner Verwandten und den Merkmalen, die er dann selbst vom Untersucher zugeschrieben bekam. Für den Untersucher Viernstein stand fest: In der Familie des E. treten hysterische Charakterzüge auf, die vererblich schienen, da sie bei seiner Mutter, bei seiner Schwester und bei E. selbst auftraten. Dessen Tat nun schien mit diesen Charakterzügen in Verbindung zu stehen, wenn sie als hysterische Überreaktion auf eine emotionale Kränkung interpretiert worden ist. „Sympathisch, Gelegenheitsverbrecher …“ Dieser Zusammenhang zwischen familiären Hintergrund und der Einschätzung des untersuchten Gefangenen lässt sich auch in der umgekehrten Richtung nachweisen. Dazu zwei kurze Fälle: Der Kaufmann Karl H.,6 war 1930 wegen mehrfacher Unterschlagung und Urkundenfälschung zu neun Monaten Gefängnis verurteilt worden. Zunächst hatte H. offenbar ein Torfwerk betrieben, dann aber in der Inflationszeit alles verloren. Danach war er in den Tabakgroßhandel eingestiegen, der offenbar sehr gut lief, aufgrund großer Außenstände dann aber insolvent wurde. Danach gründete er eine neue Firma, eine Bürstenfabrik, geriet aber in Zahlungsschwierigkeiten, woraufhin er mit den Betrügereien angefangen hatte. Der Schaden sei gering gewesen, und die Angehörigen hätten die Schulden bezahlt. Der bereits verstorbene Vater des ehelich geborenen H. war Landwirt, mit einem eigenen Anwesen und Barvermögen, nach Aussage des H. still, fleißig, sparsam, tüchtig, Gemeinderat, geachtet, sehr besorgt um die Familie, sehr fromm. Auch die Mutter sei still gewesen, beliebt und sehr fromm. Die Erziehung war offenbar streng und sehr christlich; die wirtschaftlichen Verhältnisse sehr gut. H. hatte mit sehr gutem Schulerfolg nach der Volksschule das Gymnasium

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BHStA, Akten der kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 7386 (1930).



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besucht, dass er wegen einer Lungenerkrankung jedoch abbrechen musste. Er selbst war nach eigener Aussage im Freundeskreis beliebt und geachtet, auch die Heimatberichte konnten nichts Nachteiliges vermelden; im Gegenteil könne H. „nur gelobt werden“. Im Charakter des H. überwiege, so der Untersucher 1930, die Besonnenheit. Seine guten familiären Verhältnisse sowie seine lenksame und häusliche Art gäben zwar Handhaben für erzieherische Maßnahmen; dem stünden aber Sorglosigkeit und unangebrachter Optimismus entgegen. Der cyclothyme H. sei besserungsfähig; er bereue, verhalte sich in Haft anständig und leide schwer unter der Strafe. Der Gefangene sei „sympathisch, Gelegenheitsverbrecher“. „Hinterhältig, mürrisch …“ Der 1904 ehelich geborene Dekorateur Georg H.7 war 1930 wegen Diebstahls im Rückfall – er hatte bereits vierzehn einschlägige Vorstrafen – zu drei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden. H. gab an, alle seine Taten aus Not begangen zu haben, da er seine Familie nicht darben sehen wollte. Er wisse nicht, ob er allen Versuchungen gewachsen sei, sollte seine Familie wieder in Not geraten. Die Schulbehörde gab an, dass der Vater „fanatisch“ sei, ein „Krachmacher“ und starker Trinker. Die Erziehung sei sehr streng gewesen, er habe viel Prügel vom Vater bekommen, der auch die Mutter geschlagen habe. Die häuslichen Verhältnisse seien zerrüttet und ärmlich gewesen. Zwar habe er regelmäßig die Schule besucht, aber nur schwer gelernt. Nach dem Schulabgang hatte H. eine Ausbildung als Tapezierer und Dekorateur abgeschlossen und auch gut verdient. Die Straftaten fallen in Notzeiten: 1924 könnten die anhaltende Inflation, 1930 die Massenarbeitslosigkeit infolge der Wirtschaftskrise äußere Momente für die Straftaten gewesen sein. Charakterologisch fiel dem Untersucher auf, dass H. offenbar öfter unter Anfällen mit Bewusstlosigkeit, meist nach Aufregung, leide. Der Proband zeige wechselnde Stimmungslagen, und auch Erregungs- und Depressionszustände hätten bereits wiederholte Beobachtung erfordert. Einsicht sei zwar vorhanden, Wille und Vorsatz zur Umkehr jedoch nicht stark genug, zumal er beschönigend über die Taten spreche. H. sei ein „nervös erregbarer, erblich belasteter Psychopath“, ein schizoider Gewohnheitsverbrecher, dessen soziale Prognose auf unverbesserlich lautete. Der subjektive Eindruck der Untersuchers: „hinterhältig, mürrisch“. Kommentar: Sozial-moralische Vor-Urteile und subjektive Eindrücke In den drei vorgestellten Fällen entsprachen Charakterzüge und Verhaltensweisen der Eltern und der nahen Verwandten sehr deutlich denen, die vom Untersucher am untersuchten Gefangenen festgestellt wurden und die dessen Beurteilung und soziale Prognose bestimmten. Für die Untersucher lag

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BHStA, Akten der kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 7508 (1930).

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damit wohl der Schluss nahe, dass diese Charakterzüge und die aus ihnen folgenden Verhaltensweisen in einem erbbiologischen Zusammenhang stünden. Nun muss jedoch an dieser Stelle der Umstand Berücksichtigung finden, dass die vermutete, anlagebedingte charakterliche Disposition zur Devianz von der Kriminalbiologie der Zeit nie biologisch bewiesen, sondern lediglich auf der Basis methodisch unsauber erhobener empirischer Daten behauptet wurde. Dies gilt auch für die Kriminalbiologische Untersuchung, was überraschen mag, da sie doch als objektive Praxis der Datenerhebung konzipiert war. Doch berücksichtigt man weiterhin, dass die für die Bestimmung eines erbbiologischen Zusammenhanges relevanten Angaben über die Eltern und die Verwandten im Rahmen einer kriminalbiologischen Untersuchung vom untersuchten Gefangenen selbst stammten und nur in manchen Fällen ergänzt wurden durch die Heimatberichte, dass also der Untersucher die betreffenden Personen nicht selbst gesehen hat, dann wird offenbar, dass der vorgeblich wissenschaftliche Beleg, es existiere eine biologische Erblichkeit von Charakterzügen, die im Fall ihrer „Minderwertigkeit“ einen Menschen zur Devianz disponierten, nur auf der unsauberen Grundlage außerwissenschaftlicher Angaben und der Eindrücke, die der Untersucher von einem verurteilten Verbrecher gewonnen hatte, postuliert wurde. Methodisch gesehen ist diese enge Entsprechung zwischen der Charakterisierung der Familie durch den Probanden und der des Probanden durch den Untersucher von zentraler Bedeutung im Hinblick auf die Effekte der Kriminalbiologischen Untersuchung, findet sie sich doch nicht nur in den hier genannten drei Fällen, sondern in signifikanter Häufigkeit auch in anderen der analysierten Akten. Es gilt festzuhalten, dass diese Entsprechung und damit der ‚Beleg‘ für einen erbbiologischen Hintergrund charakterlicher Devianzfaktoren im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung nicht auf der genetischen Bestimmung der noch unbekannten Vererbungsmechanismen beruhte, sondern vielmehr auf einem diskusiven Weg im Verlauf der jeweiligen Untersuchung, im Dialog zwischen Untersucher und Untersuchtem zustande gekommen ist. Die Beobachtung, dass dieser Dialog, geführt anhand eines mit vorgängigen Vorstellungen über vermeintliche deviante Faktoren versehenen Fragebogens, angereichert war mit sozial-moralischen Werturteilen und subjektiven Eindrücken, stützt die auch von Oliver Liang vertretene Hypothese, wonach es in erster Linie außerwissenschaftliche, lebensweltliche Faktoren wie Unterschichtzugehörigkeit, unbürgerliche Lebensführung, Vorstrafenliste und unerwünschte Charaktereigenschaften waren, die für eine Beurteilung eines Gefangenen die entscheidende Rolle spielten – und die Fundierung der Untersuchung und der Prognose auf unhinterfragten erbbiologischen Vermutungen nur der Bemäntelung dieser Urteile diente. So argumentiert auch Richard Wetzell, der noch einmal deutlich hervorhebt, dass Viernstein die Gesinnung eines Straftäters zu einem ausschlaggebenden Kriterium für dessen Besserungsfähigkeit machte, wobei Gesinnung für Viernstein eben keine Frage der logischen Deduktion, sondern vielmehr des Empfindens war, ob man es mit einer guten oder einer 

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schlechten Person zu tun habe. Viernstein Definition von Gesinnung „simply dressed up moral assumptions in biological language“ zeige, dass es für den Kriminalbiologen letztlich eben doch eine moralische Frage war, ob jemand besserungsfähig war oder unverbesserlich (Wetzell 2000: 136f.). Die diskursive Herstellung einer Entsprechung zwischen den Charakterzügen des Gefangenen und denen seines Stammes erfolgte auf mehrere Arten: Zum einen über den zirkulären Schluss von der Beschreibung der Eltern und der Verwandten durch den Gefangenen auf die Persönlichkeit des Gefangenen selbst, in der dann aktiv nach Ähnlichkeiten in Charakter, Temperament und Lebensführung gesucht wurde. Zum anderen erkannten – „empfanden“ – die Untersucher offenbar durch das Delikt und dessen Umstände sowie durch den ersten persönlichen Eindruck in dem ihnen vor Augen stehenden Gefangenen unmittelbar einen bestimmten Charaktertyp, so dass die Exploration durch dieses Vor-Urteil gelenkt worden sein kann, dass die Untersucher also doch gezielt Fragen stellten, um dieses Merkmal auch in anderen Familienmitgliedern zu entdecken und so Hinweise auf Merkmalsvererbung zu erhalten. Und schließlich ist es wahrscheinlich anzunehmen, dass die Untersucher aus den vielen Angaben, die in einem Gespräch gemacht wurden, nur das herausfilterten und notierten, was in ihren Augen mit Bezug auf den konkreten Fall auffällig erschien – dies würde aber die These, dass ein Vor-Urteil über den Probanden die Untersuchung prägte, wenn nicht lenkte, nur noch erheblich stärken, da eben dadurch gleichsam vorgängig entschieden war, welche Aspekte im Hinblick auf den unterstellten Charakter des jeweiligen Probanden von Bedeutung sein würden. In dem wohl durchaus aktiven Bestreben, die aufgrund der Vorstrafen, der Tat und des ersten Eindrucks bereits vor dem Beginn der Untersuchung gewonnene Einschätzung des Untersuchten durch die eigentliche Exploration nun bestätigt zu finden, scheinen bestimmte Angaben mit Signifikanz aufgeladen und als ‚Beleg‘ z. B. für einen erbbiologischen Zusammenhang interpretiert worden zu sein. Hierin die Beziehung zwischen aktiver und passiver Koppelung beim Prozess des Erkennens im Sinne Flecks zu sehen, geht meines Erachtens nicht zu weit. ‚Erkennen‘ hieß, wie dargelegt, für Fleck, bei gewissen gegebenen Voraussetzungen, also aufgrund aktiver Setzungen (der aktiven Kopplungen) die sich dann zwangsläufig einstellenden Ergebnisse (die passiven Kopplungen) festzustellen. Als aktive Koppelungen zum Beispiel im Untersuchungsakt des E. erscheinen Schichtzugehörigkeit, Herkunft, Lebensführung und Beruf des E. auf der einen, die Umstände seiner Tat, der erste Eindruck des Untersuchers und die charakterologische Exploration anhand vorgängiger Charaktertypen auf der anderen Seite. Als passive Koppelungen stellten sich dann offenbar „soziale Brauchbarkeit“, „hysterische Geziertheit“, „Affekt“, „cyclothym“ und „Besserungsfähigkeit“ ein. Im Prozess des Erkennens kam dem ‚Eindruck‘ des Untersuchers eine bedeutende Rolle zu: Geht man von den auch von Simon genannten Kriterien für die soziale Prognose aus, dann zeigt sich, dass tatsächlich der Blick des Untersuchers auf aktive Setzungen wie antisoziale Lebensführung, Wil-

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lensschwäche, erbliche Belastung, Gesellschaftsfeindschaft und psychopathische Minderwertigkeit jene Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen offenlegen sollte, die den endogenen und letztlich unverbesserlichen Verbrecher kennzeichneten und die in der Beurteilung im Rahmen der Untersuchung zentral waren, während umgekehrt soziale Lebensführung, Willensstärke, soziale Brauchbarkeit und ein keine psychopathische Struktur aufweisender Charakter den besserungsfähigen Gelegenheitsverbrecher ausmachten. Allein das Kriterium „erbliche Belastung“ konnte, der Ambivalenz des damaligen Anlage-Umwelt-Denkens gemäß, in beiden Richtungen eine Rolle spielen, wobei in den Fällen, in denen auf Besserungsfähigkeit erkannt wurde, zwar eine Erblichkeit von Charaktermerkmalen angenommen wurde, die aber nicht immer als „Belastung“ interpretiert wurde, zumindest aber als nicht ausreichend, im Träger dieser Merkmale eine „minderwertige“ Persönlichkeit zu sehen. Darüber hinaus offenbart die Analyse des Samples, dass diesen Kriterien bestimmte Interpretationsmuster korrespondierten, die bei der Untersuchung an den konkreten Fall angelegt wurden: Zugehörigkeit zur Unterschicht, psychiatrisch und sozial auffällige Verwandte, ein vermeintlich „schizothymer“ Charakter, fehlende Reue, Einsicht und Wiederanerkennung der gesetzlich geschützten Gemeinwesensformen, angebliche Haltlosigkeit in Bezug auf Familie, Beruf und Freundeskreis, Widerstandsunfähigkeit gegenüber äußeren Einflüssen, vermeintliche „Minderwertigkeit“, Vorstrafen, ein ungünstiger subjektiver Eindruck beim Untersucher sowie eine beanstandete Führung während der Haft erhöhten die Wahrscheinlichkeit, als unverbesserlich kategorisiert zu werden. Gerade das Erscheinungsbild, das ein Gefangener seinem untersuchenden Gegenüber anbot, war für die Einschätzung seines Charakters ausschlaggebend: Hatte der Untersucher aufgrund der Erscheinung des Gefangenen, dessen Angaben, welche Haltung dieser gegenüber seinem sozialen Umfeld einnahm, und schließlich aufgrund des geforderten subjektiven Eindrucks das Gefühl, es mit einem tendenziell ablehnenden und auf sich selbst bezogenen (also einem schizothymen) Charakter zu tun zu haben, dann war die soziale Prognose in der überwiegenden Mehrheit der analysierten Fälle zweifelhaft bis schlecht. Hatte er aber einen cyclothymen Charaktertyp vor sich, einen Menschen, der offener wirkte, einsichtiger, sozialer eingestellt, dann erhielt dieser Gefangene in der Regel eine bessere soziale Prognose. Schizothyme Persönlichkeiten wurden offenbar als nicht mehr zugänglich für Erziehungsmaßnahmen erachtet, während cyclothyme Persönlichkeiten aufgrund ihrer zunächst einmal nicht ablehnenden, offenen Haltung ihrer Umwelt gegenüber Handhaben für ein erzieherisches Einwirken zu bieten schienen. Gänzlich unhinterfragt blieb dabei, dass die Befragungssituation während einer kriminalbiologischen Untersuchung für den Gefangenen vielleicht unangenehm war. Er konnte sich gegen die Aufdeckung familiärer und persönlicher Umstände nicht wehren, begegnete dem Untersucher daher mit Misstrauen oder aber auch mit Scham und reagierte vielleicht zurückhaltend und abweisend. Dabei dürften gerade den vorbestraften Verbrechern 

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ein ähnliches Procedere von den polizeilichen Vernehmungen bekannt gewesen sein, zumal die Kriminalbiologische Untersuchung ebenfalls eine behördliche Befragung war, obgleich es sich beim Befrager eben auch um einen Arzt handelte, der – im weißen Arztkittel – eine andere Art Respektperson darstellen mochte. Trotzdem blieb es eine erzwungene Befragung in einer Zwangsinstitution, wodurch sich sicherlich mancher Gefangener herausgefordert fühlte, kein Fußbreit Boden preiszugeben. Andere wiederum mögen durch eben diese Situation eingeschüchtert worden, andere schließlich offen-selbstbewusst damit umgegangen sein. Gleichwie: Vor allem für die als unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher kategorisierten Strafgefangenen mag der Moment, wo sie diese Kategorisierung und ihre soziale Prognose entgegennahmen, einer zweiten Verurteilung gleich gekommen sein. „Wer weiß von meinem Innenleben …?“ Diesen Effekt der Kriminalbiologischen Untersuchung hat scheinbar auch Hans E.8 an sich erlebt. Sein Fall ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, dass die mit der Kriminalbiologischen Untersuchung insgesamt verbundenen Intentionen durchaus durchschaut werden konnten, worauf der selbst geschriebene Lebenslauf des E. hindeutet: „Eine kurze Zusammenfassung der Geschichte meines Lebens bis zu meiner Verhaftung im Jahre 1924. Damit Sie sich ein klares Bild von meinem Charakter machen können, Herr Obermedizinalrat, will ich mich immer an die reine Wahrheit halten und ich bin überzeugt, daß Sie als Kriminalbiologe, als Psychologe, als Psychiater, als Arzt und nicht zuletzt als Mensch meinem Lebenslauf reges Interesse entgegenbringen werden und Sie werden dann Anhaltspunkte genug haben, ob ich wirklich ein unverbesserlicher Mensch bin, ob Psychopath, ob Querulant, ob halb oder ganz verrückt, ob normal oder anormal veranlagt.“

Der Großvater väterlicherseits habe ein schweres Verbrechen begangen und sei nach Amerika geflüchtet; jedoch: „‚De mortibus nihil, nil sit bene!’ Von den Toten soll man nur Gutes reden, Herr Obermedizinalrat! Sie werden es verstehen, daß ich in dem, was folgt, keinen Stein auf meine verstorbenen Eltern, insbesondere nicht auf meine gute Mutter werfen will, sondern nur Tatsachen anführe, welche eigentlich nur ein Biologe so richtig verstehen und beurteilen kann.“ Der Vater sei überaus brutal und ein vorbestrafter Trinker gewesen. Er selbst war zwar sehr gut in der Schule, habe jedoch doch schon mit 14 Jahren Straftaten begangen, da er kein Heim und keinen Rückhalt mehr gehabt hätte. Im Gefängnis kam er in den Stufenstrafvollzug, aus dem er wegen seiner vielen Vorstrafen ausgeschlossen worden war:

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BHStA, Akten der kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 5678 (1925).

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„‚Der Gefangene ist aus dem Stufenstrafvollzug auszuschließen, wenn ihm der Wille oder die Fähigkeit zur Besserung fehlt oder sein Betragen in der Anstalt darauf schließen läßt, daß er unverbesserlich ist!’ Nun möchte ich diesen Herren der Oberbeamten kennen, der mir sagen kann, mir fehlt der Wille oder die Fähigkeit, nach meiner Entlassung ein gesetzmäßiges Leben zu führen. Wer weiß von meinem Innenleben, von allem, was mein Herz bewegt, auch nur ein Jota? Wenn der Herr Kurat alle Monate einmal 1 oder 2 Minuten in meiner Zelle verweilt bei Besuchen, so macht das im Jahr keine halbe Stunde aus, für meine ganze Strafzeit kaum 5-6 Stunden, und wer kann in dieser Zeit einen Menschen so kennen lernen, um mit Bestimmtheit das schwerwiegende Wort auszusprechen: ‚Er ist unverbesserlich!’“

Er habe in der Inflationszeit, in der auch Wohlhabende straffällig geworden seien, viel durchmachen müssen; er sei immer wieder den Verhältnissen erlegen: „Ich begreife es auch, wenn ein Jurist, der es nicht genau nimmt mit dem Studium der Kriminalpsychologie, wenn er nur meine Vorstrafen liest und nicht auch den Ursachen nachgeht, welche mich immer wieder rückfällig werden ließen, bald zum Urteil kommen wird: ‚An diesem Menschen ist Hopfen und Malz verloren‘.“ H. war 1925 wegen Diebstahls im Rückfall zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die überaus hohe Strafe erklärt sich wohl durch die 35 Vorstrafen wegen desselben Delikts. Erschwerend kam sicherlich hinzu, dass er als frühkriminell eingestuft wurde. Der Zwischenbericht von 1927 bezeichnete H. als „sozial chronisch insuffizient; unverbesserlich gesellschaftsfeindlich trotz guter Führung“. Seine frühe Kriminalität hatte H. bereits in jungen Jahren mit den Strafverfolgungsbehörden in Kontakt gebracht; auch diese Erfahrungen dürften ihn dazu gebracht haben, die fehlende Einsicht von Polizei, Gerichten und hier des kriminalbiologischen Untersuchers in seine Lebenssituation zu beklagen. „Entwickelung zu einem richtigen Verbrecherschicksal …“ Frühkriminalität findet sich häufiger in den untersuchten Akten, und in allen Fällen, in denen Frühkriminalität vorlag, stellten die Untersucher eine zweifelhafte bis schlechte Prognose aus. Wie auch im Fall des Johann M.9 1930 war er wegen Diebstahls und Betrugs verurteilt worden. Im Untersuchungsakt finden sich die Abschriften einerseits eines Gerichtsurteils aus dem Jahr 1919 sowie eines frühen Gutachtens, dass Viernstein im selben Jahr angefertigt hatte und das die Grundlage für das kriminalbiologische Gutachten des Jahres 1930 bildete. Im Urteil von 1919 war bei M. in Ansehung seiner Vorstrafen bereits Unverbesserlichkeit festgestellt worden. Und auch Viernstein gutachtete entsprechend: M. war eines von dreizehn Kindern, wovon zwölf, inklusive M. selbst, vorehelich seien. Auch er selbst habe ein voreheliches Kind. Der Vater sei ein Kartenspieler und ein erheblicher Trinker; die

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BHStA, Akten der kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 285 (1930).



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Eltern hätten die Kinder aufsichtslos gelassen. M. war zwischen seinem zwölften und fünfzehnten Lebensjahr in einer Jugendfürsorgeanstalt untergebracht, aus der er weggelaufen war. Viernstein bezeichnete ihn als arbeitsscheuen Menschen, der wegen Arbeitslosigkeit gestohlen habe. Seine Führung im Gefängnis sei wegen gelegentlicher gewalttätiger Ausfälle getrübt gewesen; er sei aus innerer Unruhe und Verstimmungen heraus instabil. Viernstein fand es schwer zu sagen, „in wieweit für diese Entwickelung zu einem richtigen Verbrecherschicksal ungünstige äussere, erziehliche und später kameradschaftliche Verhältnisse, Not und zunehmend schlechte Arbeitskonjunktur, mit schuldig waren“. Indes dürfe angenommen werden, „dass die Linie zum obligaten Eigentumsverbrecher, der M. ist, sicher durch eine charakterliche Defektanlage im Sinne ungenügender ethischer, insbesondere sozialethischer Begriffsbildungsmöglichkeit grundsätzlich vorgezeichnet wurde.“ M. gehöre „zu den Schwachsinnigen auf moralisch-ethischem Gebiete“. Die Prognose des sozial haltlosen, willensschwachen, triebhaften M., der empfindungslos sei gegenüber Forderungen des Gesellschaftslebens, des Rechtes Dritter und der Ethik, sei eindeutig schlecht. 1930 stellte Viernstein bei seinem Gutachten den Aspekt der Sicherung der Gesellschaft vor M. in den Vordergrund; in einem weiteren Gutachten aus dem Jahr 1939 nahm der Untersucher von der Empfehlung der Sicherungsverwahrung Abstand, weil deren Androhung M. beeindruckt habe. „Etappen seines zunehmenden sozialen Verfalls …“ Für die Untersucher galt Frühkriminalität als ein Hinweis auf eine ererbte „minderwertige“ Anlage, da sich diese bereits in jungen Jahren zeige und den Weg in die Kriminalität vorzeichne. Ein solcher Fall stellt der des Franz H.10 dar. H. war 1938 wegen schweren Diebstahls im Rückfall zu fünf Jahren Zuchthaus und zehn Jahren Ehrverlust verurteilt worden, es war seine zwölfte Strafe. Zusätzlich war Sicherungsverwahrung angeordnet worden. Das Urteil bezeichnete ihn als eine „arbeitsscheue, haltlose, moralisch minderwertige Persönlichkeit, kriminell aktiv“, als einen völlig asozialen, gefährlichen Gewohnheitsverbrecher. Die Vorbedingungen für die Tat seien in seiner Person zu suchen, der vorwiegende Faktor für seine Taten seine „Verbrecher-Anlage“; erschwerend käme seine ehrlose Gesinnung hinzu. Der Gefangene gab an, dass sein Vater jähzornig und furchtbar streng gewesen sei, und dass seine Mutter, während sie mit ihm schwanger war, gestohlen habe, weswegen auch er stehle. Mit neun Jahren sei er in ein Waisenhaus gekommen, habe dann als Hirtenjunge gearbeitet, bevor er sich „Wanderleuten“ anschloss, über die er zu den Diebstählen kam. Sein Gemeinschaftsleben zeichne sich, so nun der Untersucher, durch ein unruhiges Leben ohne festes Heim und feste Bindungen aus. Er sei ständig in wirtschaftlicher Not in der Welt umhergeirrt und haltlos von einem Verbrechen

10 BHStA, Akten der kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 11399 (1938).

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ins andere gestolpert. Sein unstetes und haltloses Streuner- und Wanderleben seien die „ersten Etappen seines zunehmenden sozialen Verfalls“ gewesen. Sicherlich hätten seine vielen Krankheiten und Operationen am Bauch erheblich auf die sozialen Entgleisungen eingewirkt; er habe seinen Beruf als Schuhmacher aufgegeben und sei zum Hausierer-Gewerbe übergetreten, wo er gute Einstiegs- und Einbruchsplätze suchte und fand. Die psychische Untersuchung ergab, dass H. in seinem Verhalten gegenüber dem Untersucher misstrauisch und heuchlerisch sei, er beschönige, lüge und lache öfters verschmitzt und hinterhältig. Seine Mimik sei unecht und falsch. Er sei reizbar und jähzornig, von cholerischem Temperament. Die Einsicht in sein Vorleben lasse sehr zu wünschen übrig; dagegen seien seine Neigung zur Arbeitsscheue, zum Wandern, zum Sich-herum-Treiben und zum Lügen, zum Stehlen und Einbrechen stark ausgeprägt. H. habe sich von einem frühkriminellen Menschen, dem eine zielstrebige häusliche Erziehung fehle, der nirgends Halt oder Sesshaftigkeit gefunden habe und bei dem weder Ausweisung noch Einsperrung etwas geholfen hätten, zu einem „typischen, haltlosen, arbeitsscheuen, asozialen Gewohnheitsverbrecher entwickelt, der in seiner ethischen Minderwertigkeit und körperlich behinderten Leistungsfähigkeit nun zum verbrecherischen Schmarotzer an der Menschheit geworden ist und durch die Sicherungsverwahrung unschädlich zu machen ist.“ „Eine Dauerkette von Verfehlungen …“ Noch ein letzter Fall von Frühkriminalität sei kurz vorgestellt. Gregor A.,11 so befand schon 1912 ein Richter, sei ein gewohnheits- und gewerbsmäßiger Verbrecher; ein weiteres Urteil aus dem Jahr 1919 bescheinigte ihm einen Hang zum Stehlen. In der kriminalbiologischen Untersuchung 1928 wurde der frühkriminelle A. als ein rückfälliger Zustandsverbrecher, als haltloser Psychopath bezeichnet. 1935 – A. hatte bereits 36 Strafen erhalten und insgesamt 24 Jahre im Gefängnis gesessen – führte der Untersucher in einem für die Verhängung der Sicherungsverwahrung angeforderten Gutachten, dass allein auf der Lektüre der bereits vorhandenen Akte beruhte, aus, dass A. durch den frühen Tod der Eltern eine schlechte Erziehung erhalten habe und ohne Halt abgesunken sei. Als geradezu „widerlich“, so der Gutachter, empfinde man „mehrfach bei der Lektüre, wie dieser gewissenlose und immer wieder rückfällige Sünder den salbungsvollen Biedermann mimt und bei Gelegenheit sogar Moral predigt. Seine offenbar gute Begabung, wahrscheinlich auch Redefertigkeit im Verein mit einem minderentwickelten ethischen Empfinden und geringer Bereitschaft zu dauernder Arbeit prädestinieren ihn zum Betrug.“ Das Lebensbild verrate den persönlichkeitsbedingten Verbrecher, er sei „aus angeborener Natur geworden, was er ist“. Es könne nicht angehen, „eine solche Dauerkette von Verfehlungen aus äußeren Verhältnissen erklären zu wollen. A. kann nicht aus seiner Haut heraus.“

11 BHStA, Akten der kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 10186a (1935).



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Kommentar: Frühkriminalität, sekundäre Devianz, Sozialdisziplinierung Jugendkriminalität wurde in der kriminologischen Literatur der Zeit dramatisch geschildert; man war der Auffassung, dass je früher ein Mensch kriminell geworden war, desto schlechter stünden seine Chancen auf ein späteres ‚anständiges‘ Leben (Oberwittler 2000: 41-46; Wulffen 1926: 47-51). Die Gefahren der jugendlichen Entwicklungszeit seien für die öffentliche Rechtssicherheit umso bedenklicher, „je stärker sich die heranwachsende Generation am Kampfe ums Dasein beteiligt“, warnte etwa Aschaffenburg (Aschaffenburg 1923: 169). Die Jugendzeit gleiche einem sehr empfindlichen Instrument, dessen Tätigkeit schon beim leisesten äußeren Anstoß Not leide. Hieraus spricht mangelndes Vertrauen in die Festigkeit des jugendlichen Charakters, was Aschaffenburg zum einen in der Beobachtung bestätigt sieht, dass die Verfehlungen von Jugendlichen insgesamt regelmäßig und ununterbrochen zugenommen hätten, zum anderen darin, dass sich unter den kriminellen Taten von Jugendlichen die größte Vielfalt von Deliktarten finde, während mit zunehmendem Alter nur noch wenige verschiedene Verfehlungen überdurchschnittlich häufig aufträten (Aschaffenburg 1923: 174f.). Die verbrecherische Tätigkeit der Jugendlichen weise auf die Gefahren hin, die das Erwachsenenalter mit sich bringe können, zeige aber auch Möglichkeiten wie etwa die Jugendfürsorge, auf, „um die großen Scharen der Jugendlichen vor dem ersten Schritt auf der Verbrecherlaufbahn zu bewahren“ (Aschaffenburg 1923: 178). Solche Vorstellungen ging zurück auf Deutungen von Jugendkriminalität, die in Deutschland im Zusammenhang mit der beginnenden Industrialisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts virulent wurden und im devianten Jugendlichen zunächst noch Opfer ihrer sozialen Verhältnisse sahen. Eine defizitäre Erziehung galt als ein Hauptgrund für die Kriminalität gerade der Jugendlichen aus der Unterschicht, was die moralische Schuld an der Fehlentwicklung dieser Jugendlichen an deren Eltern weiterreichte. Dabei wurde jedoch weniger materielle Not als vielmehr die unzureichende Vermittlung von moralischen Begriffen und ein allgemeiner Mangel an Kontrolle und Disziplin in der Erziehung als Ursache für dieses Problem in Rechnung gestellt. Fehlende Aufsicht und Disziplin führten zur Verwahrlosung, und die Straße war der lebensweltliche Ort, an dem sich der Erziehungsmangel für die bürgerlichen Beobachter deutlich zeigte: „Die relative Ungebundenheit der Unterschichtenkinder auf den Straßen widersprach den strengen Erziehungsvorstellungen des Bürgertums, die auf eine Bändigung der kindlichen Triebe und auf ein Höchstmaß an Kontrolle und Selbstdisziplin ausgerichtet waren“ (Oberwittler 2000: 30). Damit einher ging eine aus Sicht des Bürgertums verfrühte Unabhängigkeit von Jugendlichen der Unterschicht, die nach einem nur kurzen Schulbesuch bald eine Erwerbstätigkeit in Handwerk oder Industrie aufnahmen. Als verfrüht galt dies, weil die noch ungefestigten Jugendlichen mit ihrem Lohn nun ihre Konsumbedürfnisse befriedigen und

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diese noch steigern könnten, wozu dann ihre Einkünfte unter Umständen nicht mehr reichten und sie sich kriminellen Tätigkeiten zuwenden würden. Diese traditionellen Deutungen jugendlicher Devianz wirkten, das hat Dietrich Oberwittler gezeigt, im von der Psychiatrie dominierten kriminologischen Diskurs über Jugendkriminalität an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert trotz der neuen, wissenschaftlichen Rhetorik fort (Oberwittler 2000: 28-34). Von Rohden sah in der Frühkriminalität eine Scharnierstelle für das weitere Leben: Denn die für eine „psychopathische Frühkriminalität charakteristische Störung im Entwicklungstempo“ führe einerseits zum „Verharren auf der Stufe sozialpsychologischer Unreife“, andererseits aber biete sie selbst jenen Jugendlichen, die scheinbar der Dauerkriminalität verfallen sind, immer noch eine Aussicht auf Spätsozialisierung. Hoffnung bestand, wenn eine „Nachreife“ einsetze, die zu stärkerer Selbstkritik und -beherrschung sowie zu einer Fähigkeit zur Unterdrückung möglicher psychopathischer Wesenszüge führen könne (Rohden 1933: 176-178). Die Annahme psychopathischer Wesenszüge bei frühkriminellen Jugendlichen speiste sich aus der unter anderem von Gustav Aschaffenburg geäußerten Vorstellung, „daß die Kinder aus entarteten Familien, wenn auch vielleicht nicht mit angeborenen kriminellen Neigungen ausgestattet, aber vielfach körperlich und geistig minderwertig sind“ (Aschaffenburg 1923: 151). Dies habe weniger mit Vernachlässigung der Erziehung und Mangel an Unterricht zu tun, sondern sei der „Erbteil der Erzeuger“. Das gleiche „Material“ stelle auch den Hauptteil der späteren Verbrecher, und diese Tatsache genüge, „um den Verfall ins Verbrechertum verständlich zu machen. Denn von vornherein sind alle diese Minderwertigen im Kampfe ums Dasein nur ganz unzulänglich gewachsen und müssen leichter als der Vollwertige erliegen. Zu dieser angeborenen Unzulänglichkeit gesellt sich aber bei den meisten dieser aus entarteten und verbrecherischen Familien stammenden Kindern noch die große Gefahr, die ihrer weiteren Entwicklung droht“ (Aschaffenburg 1923: 152). Zu dieser Gefahr zählte Aschaffenburg die häufig fehlende „regelrechte Erziehung“, daneben aber auch Unehelichkeit, Verwaisung, schlechte Wohnverhältnisse, üblen Umgang und zu frühe Selbständigkeit durch einen frühen Eintritt in das (Fabrik)Arbeitsleben. Aschaffenburg äußerte hier gängige kriminologische Vorstellungen über die Situation von Jugendlichen vor allem aus der Unterschicht. Wurden schon typisch kindliche Charaktereigenschaften wie Triebhaftigkeit, Egoismus und Impulsivität und ein durch die noch unfertige Erziehung bedingter Mangel an Moral und Selbstbeherrschung zur Erklärung ‚verbrecherischer Neigungen‘ von Kindern und Jugendlichen herangezogen, so verstärkte die Auffassung, dass eben diese Charakterzüge auch in den erwachsenen Angehörigen der Unterschicht vorherrschten, die Neigung der mit dem Anlage-UmweltKonzept argumentierenden Kriminologen, die Ursache für Jugendkriminalität in der ererbten Anlage der Jugendlichen und damit in der erblichen „Belastung“ der Eltern zu suchen. Um diese Deutung stimmig zu halten, waren sie bereit, auch auf ungeprüfte Aussagen Dritter über die Eltern zurückzu

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greifen, lieferten diese Aussagen nur Hinweise auf eine entsprechende „Belastung“ – eine Praxis, die in der Kriminalbiologischen Untersuchung in den Rang einer wissenschaftlichen Nachweismethode erhoben worden war. In der Untersuchung erhielten dann auch die bereits im Jugendalter kriminell gewordenen Gefangenen generell eine schlechte Prognose. Und kamen einschlägige Rückfalltaten hinzu, wirkte eine frühe Kriminalität als letzter Faktor, dem Untersuchten die Besserungsfähigkeit ganz abzusprechen. Frühkriminalität sollte also jene „Etappen des zunehmenden sozialen Verfalls“, jene „Dauerkette von Verfehlungen“ auslösen, von der bei den vorgestellten Fällen die Rede war. Da man zudem der Auffassung war, diese Frühkriminalität sei die Folge entweder mangelhafter Erziehung oder psychischer Minderwertigkeit, kamen für die Kriminologen der Zeit und auch für die kriminalbiologischen Untersucher die Umwelteinflüsse nur in geringem Maße, die Wirkungen der Erfahrungen der Verbrecher mit den behördlichen Strafverfolgungs-, -vollzugs- und Registraturpraktiken hingegen gar nicht in den Blick. Modernere kriminologische Theorien messen mittlerweile diesen Erfahrungen und Prozessen bei der Persistenz von Kriminalität eine größere Bedeutung bei. Die Etikettierungstheorie (labelling approach) etwa geht davon aus, dass Abweichung als eine gesellschaftliche Zuschreibung für ein als ‚kriminell‘ erachtetes Verhalten zu verstehen sei: „Abweichendes Verhalten wird von der Gesellschaft geschaffen. […] Ich meine […], dass gesellschaftliche Gruppen abweichendes Verhalten dadurch schaffen, dass sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert, und dass sie diese Regeln auf bestimmte Menschen anwenden, die sie zu Außenseitern abstempeln. Von diesem Standpunkt aus ist abweichendes Verhalten keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sonder vielmehr eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere und der Sanktionen gegenüber dem ‚Missetäter‘. Der Mensch mit abweichendem Verhalten ist ein Mensch, auf den diese Bezeichnung erfolgreich angewandt worden ist; abweichendes Verhalten ist Verhalten, dass Menschen so bezeichnen.“ (Becker 1981: 8)

Stigmatisierung, Vorurteile und Etikettierung von Menschen mit Normabweichung führen demnach zu einer Verstärkung der Abweichung, die in kriminelles Verhalten münden kann. Die primäre Devianz (also eine Handlung, die gesellschaftlich als kriminell verstanden wird) hat dann sekundäre Devianz zur Folge, wenn als Ergebnis eines Etikettierungsvorganges eine dauerhafte Veränderung in der Verhaltensdisposition eines Menschen, eine Umdefinition seiner Identität, stattfindet: Abweichendes Verhalten ist somit keine Qualität der Handlung, sondern eine Konsequenz von Mechanismen, die einen Menschen als ‚kriminell‘ etikettieren und die dieser Mensch als das label seiner Identität ansieht: „Gemessen an seinen Handlungen ist der sekundär Abweichende ein Mensch, dessen Leben und Identität von der Realität der Devianz bestimmt wird“ (Lemert 1975: 433f.).

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Da hier keine (kriminal)soziologische Untersuchung intendiert ist, muss der Hinweis genügen, dass die kriminologische Literatur der Zeit, dass aber, wie aus den analysierten Akten hervorgeht, auch Gerichte und die Untersucher im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung die Verbrecher auf eine Weise ansprachen, die eine Übernahme dieser kategorischen Beschreibungen im Sinne einer sekundären Devianz durch die Angeklagten bzw. die Strafgefangenen zumindest nahelegen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Haltung, die in der Praxis der Kriminalbiologischen Untersuchung den frühkriminellen Verbrechern entgegengebracht wurde, deutet sie doch auf Prozesse der Etikettierung hin; zumal bei der Kategorisierung des untersuchten Gefangenen als ein Verbrechertyp (Gelegenheits- oder Gewohnheitsverbrecher) und in der Stellung der sozialen Prognose. Denn sekundäre Devianz als Zuschreibungsprozess beruht eben auch auf Kategorien, denen damit im Kriminalisierungsprozess – und nicht nur untersuchungstechnisch im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung – im Sinne einer handlichen Definition zur Klassifizierung von Menschen eine Bedeutung zukommt. Zudem hat sekundäre Devianz eine bedeutende (Rück-)Wirkung für die zuschreibende Person selbst, indem die Zuschreibung gleichsam a priori, vorauseilend, automatisch, auf die Konsistenz der Kategorie reagierte und die der Kategorie entsprechenden Reaktionsweisen initiierte: Resozialisierung des besserungsfähigen, Unschädlichmachung des unverbesserlichen Verbrechers. Typen- und Kategorienbildung muss auch in dieser Hinsicht gesehen werden. Besonders für die Entwicklung und Anwendung von Nachweistechniken für Typen wie die Kriminalbiologische Untersuchung scheint dies, vor allem bezogen auf die Kohärenz von Kategorie und Diagnose, von Relevanz: Erst das Profil der Kategorie ermöglicht es, gezielt Nachweistechniken für eben dieses Profil zu finden. Das Bezeichnen, das Kategorisieren von kriminellen Außenseitern, fand demnach auf der diskursiven Ebene in öffentlicher Meinung, Literatur und Wissenschaft, aber auch auf der praktischen Ebene von Strafrecht, Strafvollzug und Kriminalbiologischer Untersuchung statt. Und auch für diese gilt, was Peukert über den behördlichen Umgang mit Fürsorgezöglingen geschrieben hat und in Hinsicht auf die Produktion zuverlässiger Menschen auch für die Kriminalbiologische Untersuchung gelten kann: „In solchen Akten schlugen sich Lebensschicksale als Vorgänge nieder. Felder der sozialen Auffälligkeit wurden betreten, Prozesse der behördlichen Wahrnehmung und Behandlung wurden notiert und abgeheftet, Verhaltensweisen als Symptome individueller Charakterdefizite registriert. Zwischen diesen pragmatischen Registraturebenen im Prozeß der Fürsorge und jenen Deutungsebenen, in denen eine Charakteranalyse als Lebensprognose versucht und auf die Begründung von Zwangseingriffen hin zugeschnitten wurde, klafft eine große Lücke. Sie wurde […] in der meisten zeitgenössischen Literatur nicht durch eine individuelle und soziale Kontexte mit Sorgfalt und Sympathie berücksichtigende Analyse zu überbrücken versucht, sondern eher noch durch pauschale Kategorisierungen unter Verwendung abstrakter moralischer



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oder fachwissenschaftlicher Begriffe, aus der Perspektive selbstgewisser gesellschaftlicher Normen und Standards markiert und vertieft. Den ‚Verwahrlosten‘ führte kein Weg in das glatte, durchstandardisierte Terrain, das nur den Produkten ‚erfolgreicher‘ Erziehungsanstrengungen geöffnet war, es sei denn unter völliger Anpassung an das angebotene Normgefüge und damit die bescheidene Einpassung in jene zumeist tief subalternen Stellungen, die ‚das Leben‘ für die Zöglinge bereithielt.“ (Peukert 1986: 156f.)

Nicht nur in der Dokumentation und Registrierung devianter Lebensläufe und auch nicht nur in der Charakteranalyse als Lebensprognose lagen die Ziele, die mit der Einrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung verbunden waren, sondern auch in der „pauschalen Kategorisierung unter Verwendung abstrakter moralischer und fachwissenschaftlicher Begriffe“, vor allem aber in der Entscheidung darüber, ob Anpassung und Einpassung des Gefangenen künftig möglich schien. Gerade diese Anpassungs- und Einpassungsleistung, die vom Gefangenen erwartet wurde, bietet die Möglichkeit, hier noch auf den Normierungs- und Disziplinierungsansatz, vertreten durch Michel Foucault und über die Rezeption seiner Werke auch durch weite Teile der Kriminologie- und Kriminalitätsgeschichte, hinzuweisen und ihn bei aller kaum zu überschätzenden Fruchtbarkeit doch auch kritisch zu hinterfragen. Sicherlich richtete die Ordnungsmacht in Gestalt des Strafvollzugs und der zwangsweisen Kriminalbiologischen Untersuchung mit ihrer wirkmächtigen Prognostizierung einen disziplinierenden Veränderungsanspruch an den Gefangenen und war in der Lage, diesen mit Disziplinierungspraktiken durchzusetzen. Gleichwohl würde es zu kurz greifen, allein diese Disziplinierungseffekte der Untersuchung zu berücksichtigen, kann doch mit Helmut König der Mangel von Disziplinierungs- und Zivilisationstheorien darin gesehen werden, dass sie es versäumten, „nach dem weiteren Schicksal der disziplinierten Wünsche und Bestrebungen zu fragen“ (König 1992: 12). Dies gilt auch für die Kriminologiegeschichte, die sich häufig auf die deskriptive, disziplin- und ideengeschichtliche Darstellung des kriminologischen Diskurses, und dort, wo es um die Kriminalbiologische Untersuchung geht, auf die Kritik an ihrer disziplinierenden Intention beschränkt (etwa Simon 2000: 128). Es müsste jedoch, folgt man der Kritik Königs, der historische Einzelfall, der in Berührung mit Kategorisierungs- und Nachweisprozeduren kommt, in den Blickpunkt rücken, denn erst „wenn man sich nicht nur für die Geschichte der Disziplin, sondern auch für die Geschichte des Disziplinierten und Verdrängten interessiert, erhält die historische Konstellation ihre Dynamik zurück, die über die Einseitigkeit hinausgeht, nach der die einen nur passive widerstandslose Opfer, die anderen die agierenden Täter waren. Die Geschichte der Disziplin ist nur dann vollständig, wenn man auch die Geschichte der disziplinierten und ausgegrenzten Leidenschaften einbezieht. Denn es gehört zum Wichtigsten an der ‚Produktion des zuverlässigen Menschen‘, daß sie nicht gelingt.“ (König 1992: 12f.)

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Die „Produktion des zuverlässigen Menschen“ (Treiber/Steinert 1980) und mithin die Disziplinierung, weniger die Zivilisierung, des devianten Subjekts war zweifellos eine Kernfunktion von Kategorisierungs- und Nachweisprozeduren wie der Kriminalbiologischen Untersuchung. Erst die Kontextualisierung dieser mit Recht als Disziplinierung zu bezeichnenden Prozesse sowohl hinsichtlich der historischen Prozeduren, der Akteure der Disziplinierung als auch der Disziplinierten selbst erlaubt es jedoch, über die bloße Aufweisung und Entlarvung dieser Vorgänge hinauszugelangen: „Den disziplinierten und zivilisierten friedlichen Menschen zum Programm zu erheben, richtet sich ja nicht nur gegen die Interessen der Menschen, sondern befindet sich auch mit ihnen in Übereinstimmung“ (König 1992: 12).Dafür mag der eingangs dieses Abschnittes vorgestellte Fall des E. als Beleg dienen, deutet sich doch hier neben der Einsicht, die E. in die Absichten Viernsteins und der Kriminalbiologischen Untersuchung hatte, auch der sozialdisziplinierende Aspekt an: Trotz eines Verhältnisses der zwangsweisen Subordination wird hier die Akzeptanz der Disziplinierungsmacht durch die Kooperation des Probanden deutlich und auch in seiner Hoffnung darauf, dass der Kriminalbiologe anders als der Richter oder der Gefängnisdirektor nicht nur auf seine Vorstrafen, sondern auch auf sein Wesen und seine Umstände zu blicken bereit war. E.s Einblick reichte aber nicht gänzlich hinter die Kulisse der kriminalbiologischen Inszenierung, denn es war gerade dieser kriminalbiologische Blick, der dazu führte, E. als „chronisch insuffizient, unverbesserliche gesellschaftsfeindlich“ zu kategorisieren. Ein „haltloser, Psychopath, Dieb und Abenteurer …“ In den allermeisten der untersuchten Fälle lebten die späteren Strafgefangenen, die unehelich geboren worden waren, entweder bei der Mutter oder wurden von den Großeltern aufgezogen. Im Fall des Johann B.12 hingegen handelt es sich um ein Findelkind, das zunächst bei Pflegeeltern lebte, dann aber in ein Waisenhaus kam. Der 1899 geborene B. hatte zwischen 1914 und 1917 bereits zehn Jugendstrafen vor allem wegen Diebstahls erhalten, galt also als „frühkriminell“. Er hatte offenbar die Schule regelmäßig und mit gutem Erfolg besucht, auch Bäcker und Konditor gelernt. 1917 hatte er sich freiwillig gemeldet und sei verschüttet worden. Über sein Leben während der unmittelbaren Nachkriegszeit gibt es in der Akte keine Informationen; 1920 dann ging er zur Fremdenlegion, wo er bis 1930 blieb und die ihn nach Afrika, Syrien und Indochina brachte. B. habe, so der Untersucher, in Frankreich in „wilder Ehe“ gelebt; in Afrika sei er auch „dem Cokainismus“ verfallen. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland fand B. immer mal wieder eine Anstellung; er arbeitete als Weber und im Straßenbau, unterbrochen durch Phasen der Arbeitslosigkeit. In dieser Zeit wurde er mehrfach wegen Diebstahls verurteilt. 1938 befand der Untersucher, dass

12 BHStA, Akten der kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 11218 (1938).



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„in der Lebenseinstellung, Lebensführung und im Charakter des Gefangenen Fehlen der elterlichen Erziehung und Stütze [überwiegen]; als Findelkind ausgesetzt; zwar ordentlich erzogen, geriet aber während der Lehrzeit in schlechte Kameradschaft; während Jugendzeit öfter wg. Diebstahls bestraft (Kriegszeit!!!); nach Militär und Fremdenlegion zurück nach Deutschland, einige Jahre arbeitslos und sank wieder ins Verbrechen; in seiner Haltlosigkeit, Willensschwäche, bei seinem leichtsinnigen Lebenswandel und seinem Hang zum Stehlen wurde er wieder rückfällig und wird nach verbüßter, jetziger Zuchthausstrafe durch die Sicherungsverwahrung aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschaltet.“

Der Untersucher diagnostizierte eine „minderwertige“, psychopathische Anlage, die auch das ausschlaggebende Moment für B.s Kriminalität sei. Diese Diagnose war selbst für die im Rahmen von kriminalbiologischen Untersuchungen üblichen erbbiologischen Kurz-Schlüsse gewagt, war doch über die Eltern des B. nichts bekannt. Vermutlich aktivierte die Unterstellung einer unehelichen Geburt und der Umstand, dass B. als Findelkind ausgesetzt worden war, ein bestimmtes, auf einem sozial-moralischen Werturteil basierendes, aber in der konkreten Untersuchung nicht-gesagtes Deutungsmuster, da diese Lebensumstände des B. für den Untersucher offenbar Rückschlüsse auf den „minderwertigen“ Zustand der unbekannten Eltern, vor allem der Mutter, zuließen. Hier wurde der bei erbbiologischen Schlussfolgerungen übliche Weg, vom „Stamm“ auf die Disposition des Probanden zu schließen, umgekehrt und vom den Umständen der Geburt und der Aussetzung B.s sowie seiner Lebensführung auf seinen Stamm geschlossen – und in einem Zirkelschluss wieder zurück: Die „minderwertige“ Anlage des B. musste von seinen unbekannten Eltern, zumindest von seiner Mutter, stammen, was dem Untersucher wiederum, wenn auch implizit, als ‚Beleg‘ für B.s „minderwertige“ Anlage diente. Zum anderen hielt der Untersucher bei B. eine soziale und psychische Haltlosigkeit und Willensschwäche sowie eine „geistige Unzulänglichkeit betr. sozialer Lebenseinstellung“ für gegeben: Sein Schicksal als Findelkind hätte dazu geführt, dass B. die familiäre Stütze und dadurch ein fester und innerer Halt fehle, was sich in Unstehtheit, Wander- und Abenteuerlust äußere und darin, dass B. sich in einem zweifelhaften sozialen Milieu bewege, sich leicht verführen ließe und einen Hang zum Stehlen und Abenteuerleben entwickelt habe, der ihn als Verbrecherpersönlichkeit ausweise. Der Untersucher sah in B. einen „Sondertyp: Haltloser, willensschwacher, leichtsinniger Psychopath, Dieb und Abenteurer“. Zu dieser Referenz – „Abenteurer“ – kam der Untersucher jedoch nicht nur nach Ansehung des Lebenswandels des B., sondern, so kann plausibel vermutet werden, aufgrund seiner Zeit in der Fremdenlegion. Hierbei handelt es sich um ein nicht-gesagtes, aber dennoch in der Untersuchung mitgesprochenes und damit für die Stellung der sozialen Prognose ausschlaggebendes Thema, das ausführlicher dargelegt werden soll. Zunächst ist der Zeitpunkt von B.s Eintritt in die Legion im Jahr 1920 interessant: Obwohl es bereits vor 1914 ein starkes Kontingent an deutschen

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Legionären gab, verzeichnete die Fremdenlegion nach dem Ersten Weltkrieg einen besonders starken Anstieg an Freiwilligen aus Deutschland (Michels 2006: 85-95). Dafür gab es mehrere Gründe: Man schätzte in der Legion deutsche Soldaten, die während des Krieges vor allem in Nordafrika eingesetzt wurden, nicht zuletzt wegen ihrer Zuverlässigkeit, weshalb schon bald nach dem Krieg, verstärkt seit 1920 erneut intensive Anwerbeaktivitäten im Deutschen Reich Tausende von jungen Männern, und offenbar auch Johann B., zur Legion brachten. Diese Männer unterschieden sich insofern von ihren Vorgängern, als Abenteurer und Söldner sowie gesuchte Kriminelle im zahlenmäßigen Verhältnis zurücktraten gegenüber denjenigen, die vor dem Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland in ihrem Eintritt in die Fremdenlegion einen – zeitlich begrenzten – Ausweg sahen. Neben dem Wunsch, wegen der wirtschaftlichen und der politischen Gründe das Deutschland der Nachkriegszeit zu verlassen (dem ein Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben, entsprochen haben könnte), spielte die Demobilisierung von Millionen Soldaten und der Freikorpstruppen eine Rolle. Es lag für die ‚trainierten‘ ehemaligen Frontsoldaten und Freikorpskämpfer vielleicht sogar nahe, sich weiterhin im Soldatengeschäft zu betätigen, hatten sie doch im Krieg und in den paramilitärischen Freikorps gleichsam eine spezielle ‚Ausbildung‘ mit spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten erhalten, die sie erfolgreich angewendet hatten, denn sie waren ja Überlebende und vielleicht deshalb der Ansicht, auf jeden Fall auch in der Legion überleben zu können, zumal diese im Vergleich zur Fronterfahrung im „Großen Krieg“ seltener und in einer anderen Dimension in Kampfhandlungen verstrickt war. Gleichwohl dürfen Abenteuerlust und Exotik als Gründe für einen Eintritt in die Fremdenlegion auch nach 1920 nicht vernachlässigt werden. Die französische Anwerbungsinitiative ab 1920 machte die Legion in Deutschland noch bekannter, als sie dies bis dahin ohnehin schon war. Der verstärkten Anwerbung wurde zwar von deutscher Seite eine Anti-Legions-Kampagne entgegengestellt, die mit sensationell aufgemachten Berichten und öffentlichen Vorträgen über die angeblichen Gräueltaten der Legion und die vermeintlich illegalen und mit Zwang oder List vorgenommenen Anwerbungen und mit dem Hinweis auf „vaterländische Pflichten“ vor dem Eintritt in die Legion warnte. Der Effekt aber war offenbar kontraproduktiv, denn nie war der Andrang der Bewerber für die Legion so groß wie zu Zeiten dieser Kampagne; aller Bedienung bekannter Klischees über die Legion zum Trotz: unmenschliche Lebensbedingungen in der Legion, hinterhältige Methoden bei der Anwerbung – „Marschier oder krepier. Leiden und Laster der Legion“, so ein typischer Buchtitel aus der Zeit. Dass die Kampagne, die auch in Schulen Aufklärung betrieb, nicht den gewünschten Erfolg hatte, mag auch daran liegen, dass die Fremdenlegion als „exotisches, abenteuerliches Dekor“ (Eckart Michels) in Literatur, auf der Bühne, im Zirkus, auf Jahrmärkten und im Film verwendet wurde. Die Fremdenlegion war daher eher ambivalent im kollektiven Bewusstsein der Deutschen verankert: Als 

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abenteuerlich-exotische Möglichkeit, fremde Länder zu entdecken oder den wirtschaftlichen und politischen Problemen in Deutschland zu entfliehen einerseits, als mit Leid, Gefahr und Entbehrungen verbundene, Gräueltaten verübende Organisation, als militärische Einrichtung des „Erbfeindes“, als vermeintlicher Zufluchtsort für unzuverlässige Deutsche, die dem Vaterland den Rücken kehrten, andererseits und schließlich als Sammelbecken für Abenteurer, vor allem aber – ein Klischee von langer Dauer – für Kriminelle, die sich mit dem Eintritt in die Legion einer Bestrafung in ihrer Heimat zu entziehen gedachten. Zudem ist der Zeitpunkt der Rückkehr des B. nach Deutschland 1930, mitten in der Wirtschaftskrise, von Bedeutung. Die Situation der Rückkehrer aus der Fremdenlegion war insgesamt problematisch (Michels 2006: 9597): Ab Mitte der 1920er Jahre bis 1933 kamen etwa 15.000 deutsche Fremdenlegionäre nach Deutschland zurück und sahen sich einer zum Teil massiven sozialen Ächtung gegenüber, die nicht zuletzt dem eben beschriebenen ambivalenten Image der Legion geschuldet war. So berichtete der französische Generalkonsul in Dresden 1929: „Nicht wenige Familien fühlen sich entehrt, weil einer von ihnen in der Legion gedient hat. Bei der Suche nach Arbeit ist der Legionär zudem schrecklich benachteiligt. Von der allgemeinen Arbeitslosigkeit einmal abgesehen, sind die ehemaligen Legionäre zusätzlich noch Arbeitslose, die mit einem besonderen Stigma behaftet sind“.13 Häufig gelang es den ehemaligen Legionären nur schwer, Arbeit und Unterkunft zu finden; viele versuchten, ihre Erlebnisse in der Fremdenlegion durch Vorträge oder mit Broschüren zu vermarkten – im Übrigen „politisch korrekt“, wenn sie diese Zeit als Zeit des Leidens darstellten, auch wenn dies nicht unbedingt ihren tatsächlichen Erfahrungen entsprach. Doch nicht nur hinsichtlich der sozialen und wirtschaftlichen Situation hatten die Rückkehrer einen schweren Stand, denn nach 1933 richtete das NS-Regime spezifische Zwangsmaßnahmen gegen ehemalige Fremdenlegionäre (Michels 2006: 103-107). Man versuchte den Zulauf zur Legion, der Deutschland wehrfähige Männer abzog, der aber auch als „undeutsches“ Verhalten, als ungerechtfertigte Verweigerungshaltung gegenüber dem „neuen“ Deutschland gesehen wurde, zu stoppen. Es sollte sich einerseits ein Mantel des Schweigens über die Fremdenlegion legen, da die öffentliche Anti-Legion-Kampagne nur dazu beigetragen hatte, den Zulauf deutscher Freiwilliger zu erhöhen. Schon Ende 1933 wurden deshalb in Preußen alle Zusammenschlüsse ehemaliger Legionäre und ihre Druckerzeugnisse sowie ihre öffentlichen Auftritte verboten, was bis 1936 auf das ganze Reich ausgedehnt wurde. Darüber hinaus wurden heimkehrende Fremdenlegionäre ab 1934 Opfer von Zwangsmaßnahmen, da man sie entweder wegen häufiger Geschlechtskrankheiten als Gesundheitsrisiko einstufte, in ihnen die wich-

13 Bericht des französische Generalkonsuls in Dresden an den französischen Botschafter in Berlin v. 28.8.1929 (zit. n. Michels 2006: 95).

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tigsten Werbeträger für die Legion oder gar mögliche Spione Frankreichs sah. Man nahm den ehemaligen Legionären alle persönlichen Unterlagen ab, wodurch sie unter anderem das Anrecht gegenüber dem französischen Staat auf eine Pension verloren. Außerdem wurden sie für vier Wochen in das Arbeitshaus Kislau in Baden eingewiesen, wo sie mittels Einschüchterung und Umerziehung mit den neuen Verhältnissen in Deutschland vertraut gemacht werden sollten. Eckard Michels rechnet diese Praktiken den Maßnahmen des NS-Staates gegenüber sozialen Randgruppen wie Bettlern, Obdachlosen, Prostituierten und „Arbeitsscheuen“, also gegenüber „Asozialen“, zu. Im Vergleich zu diesen wurden die Ex-Legionäre zwar etwas höher eingestuft, da sie als ‚Beweis‘ für die vermeintlich durch den Versailler Vertrag und die Weimarer Demokratie verschuldete wirtschaftliche Not Deutschlands dienen konnten und zumindest eine gewisse Neigung für Militär, Disziplin und Kameradschaft gezeigt hatten. Und doch mussten sie sich an einem zuvor bestimmten Ort niederlassen und sich dort polizeilich melden. Zudem wurde ihnen verboten, ein Wandergewerbe auszuüben, das Reichsgebiet zu verlassen, Kontakt zu aktiven Legionären zu unterhalten oder in ihren Familien und mit anderen Ehemaligen über ihre Erfahrungen in der Legion zu sprechen. Bei Nichteinhaltung drohte die erneute Einweisung in ein Konzentrationslager auf unbestimmte Zeit. Anfang 1939 wurde entschieden, rückwirkend allen Deutschen, die seit 1935 in die Fremdenlegion eingetreten waren, die Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Die Maßnahmen erwiesen sich aus der Sicht des Regimes als Erfolg: Die Zahl neuer Eintritte von Deutschen in die Legion ging drastisch zurück. Das ambivalente Bild der Fremdenlegion in Deutschland und von den Deutschen, die in ihr Dienst taten, sowie die Situation für die Rückkehrer und die NS-Maßnahmen sind deshalb so ausführlich dargestellt worden, weil die Dienstzeit des B. in der Legion, zum Teil in Kombination mit anderen Untersuchungspunkten, im Rahmen seiner kriminalbiologischen Untersuchung als Nicht-Gesagtes, aber Mitgesprochenes eine Rolle spielten. Zwar ist über die tatsächlichen Gründe des B. zum Eintritt in die Fremdenlegion aus den Akten nichts zu erfahren; auffällig ist jedoch der Zeitpunkt des Eintritts, eben 1920, mit Beginn der französischen Anwerbeinitiative. Die vom Untersucher gewählten Formulierungen und seine Einschätzung des Untersuchten als „Abenteurertyp“ implizieren, dass er der Meinung war, dass der unstete B., dem von Beginn seines Lebens an familiärer und sozialer Halt gefehlt habe, nicht aus wirtschaftlichen Gründen Deutschland den Rücken gekehrt hat, sondern auf diese Weise seine Abenteuerlust und seinen haltlosen Lebenswandel habe befriedigen wollen. Der Dienst in der Legion galt gleichsam als ‚Beweis‘, als Ausdruck seiner sozialen und psychischen Haltlosigkeit. Doch nicht nur das Stereotyp, dass nur Abenteurer zur Legion gingen, spielte in dieser Untersuchung als Mitgesprochenes eine Rolle. Darüber hinaus stellte auch die vermeintliche Zusammensetzung der Legion implizit für den Untersucher einen kriminogenen Faktor dar. Die Vorstellung, dass in der Legion vorzugsweise Abenteurer dienten, daneben gleich

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falls schlecht beleumundete Söldner, von denen angenommen wurde, dass sie – da sie ihre Kampfkraft und ihr Leben in den Dienst dessen stellten, der sie bezahlte, und nicht in den des Vaterlandes – wenig verlässlich und vertrauenswürdig waren, sowie vor allem gesuchte Kriminelle, bestätigte der Untersucher in einem Zirkelschluss, indem er mehrfach betonte, B. habe sich in schlechte Kameradschaft begeben. Diesen offenbar für sich selbst sprechenden Sachverhalt führt der Untersucher nicht aus. Zu anderen Umständen der Lebensführung des B. gibt es mehr Informationen: B. habe ein „Großstadtleben“ geführt, namentlich in Paris. In anderen Akten findet sich das Thema Großstadt nur selten, was damit zusammenhängt, dass viele der Gefangenen aus Kleinstädten oder Dörfern stammten. Aber auch bei Gefangenen, die aus Großstädten kamen, hatte der Hinweis auf das „Großstadtmilieu“, in dem sie sich bewegten, immer eine negative Konnotation. Dies steht im Kontext eines antiurbanistischen Diskurses, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts und verstärkt in völkischen Kontexten im 20. Jahrhundert das Großstadtleben verurteilte, weil es angeblich – in erster Linie im urbanen Proletariat – die Auflösung familiärer und sozialer Bindungen, moralisch-sittlicher Standards, der religiösen Orientierung und des Respekts vor dem Recht befördere. Diese Haltung mag auch manchen Untersucher bei seinen kriminalbiologischen Untersuchungen geleitet haben: Hatte ein Gefangener ein „Großstadtleben“ geführt, so wurde diese Lebensführung als ein möglicher kriminogener Faktor in die Einschätzung des Untersuchten einbezogen, wie sich im Fall des B. zeigt: Nicht nur habe dieser ein Großstadtleben geführt, noch dazu in Paris, sondern dort in „wilder Ehe“ gelebt, also auch ein „liederliches Leben“ geführt, was sich auch in seinem häufigen Bordellbesuchen geäußert habe. Einen weiteren Beleg für die Liederlichkeit, aber auch für die unterstellte Willensschwäche des B. fand der Untersucher in dessen Kokainsucht. Süchte sind in den untersuchten Akten ebenfalls extrem selten, gelten aber dann als Hinweis auf einen willensschwachen Charakter des Gefangenen – so auch bei B. Obwohl offenbar schon lange nicht mehr abhängig von Kokain (es finden sich in der Akte keine Hinweise auf eine aktuelle Sucht, was in anderen Fällen bei „Krankheiten“ notiert worden ist), wurde die Sucht neben einer „psychopathischen Veranlagung“ als vorwiegender Faktor für seine Kriminalität angenommen. Die Kombination dieser Umstände der Lebensführung des B. mit „Abenteuerlust“ und „schlechte Gesellschaft“ bildeten ein konsistentes, vorgängiges Deutungsmuster, das im Rahmen der Untersuchung eines verurteilten Verbrechers nicht zu dessen Gunsten ausgelegt wurde: Es zieht sich ein geringschätzender Ton durch das ganze Gutachten. Das gilt auch für die psychische Einschätzung: B.s Grundstimmung sei zwar heiter und humoristisch, insgesamt cyclothym, er sei aber auch empfindlich und leicht beleidigt. Beim Untersuchungspunkt „Triebleben“ notiert der Untersucher nicht nur den Sexualtrieb, den B. selbst als „mittelstark“ mit „normaler Betätigung“, aber auch mit „Grausamkeit“ beschrieb, sondern auch, dass B. als Soldat bei einem Stoßtrupp war und er „aggressiv“ sei.

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Leider geht über die genauen Umstände der Diebstähle des B. aus der Akte nichts hervor. B. hatte als Grund für die Taten „Notlage“ angegeben, was vom Untersucher notiert, aber mit dem Zusatz „trotz Verdienst“ versehen wurde. Ob B. nach seiner Rückkehr aus der Fremdenlegion 1930 wie viele ehemalige Legionäre sozialen und wirtschaftlichen Problemen ausgesetzt war, lässt sich nicht sagen. Gleichwohl waren soziale und psychische Haltlosigkeit, „Abenteuerlust“, Willensschwäche und Leichtsinn der Hintergrund, dass er wegen einer psychopathischen Veranlagung als „besonders gefährlich“ erachtet wurde. Eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft sei vorerst ausgeschlossen und die Rückfallgefahr sehr groß, weshalb bei seiner Verurteilung 1937 auch Sicherungsverwahrung angeordnet worden war. „Ein ganz geriebener Bursche …“ B.s Dienst in der Fremdenlegion machte ihn zu einem Sonderfall, doch wurde auch er zu jenen Menschen in Bewegung gezählt, die aufgrund ihrer scheinbar fehlenden sozialen Bindungen, ihrer vermeintlichen Unstetheit und Haltlosigkeit sowie ihrer häufig devianten Lebensführung als eine besondere Bedrohung wahrgenommen wurden. Dazu gehörten in erster Linie Vagabunden, Landstreicher und Menschen, die entweder von sozialer Not oder als Arbeitsmigranten auf die Straße gebracht worden waren. Sie waren damit Teil jener massiven Binnenwanderungen, die in Phasen seit dem Gründerboom Mitte der 1870er Jahre und verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg Millionen Menschen in Deutschland in Bewegung setzten. Besonders prononciert erschien dabei die Figur des bettelnden Landstreichers. Armutswanderung gab es natürlich auch schon im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, doch hatte sich das Bild der umherziehenden und Almosen erbettelnden Menschen in der Wahrnehmung von Gesellschaft, Strafverfolgung und schließlich auch der Wissenschaft gewandelt: „Der vagierende Bettler galt nicht mehr als Mahnung an den leidenden Christus, dem ein Almosen zu geben ein religiöses Verdienst war, sondern er wurde zum Inbegriff des faulen und gefährlichen Armen, des moral- und wirtschaftsschädigenden Müßiggängers, der unrechtmäßig auf Kosten anderer lebte, dabei vor Betrug und Gewalt nicht zurückschreckte und dessen gemeinschädliches Verhalten scharfe Straf- und Verfolgungsmaßnahmen rechtfertigte“ (Althammer 2010: 415). Diese Beschreibung kann auch für die Haltung übernommen werden, die die Untersucher im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung Landstreichern entgegen brachten. Neben Diebstahl waren Landstreicherei und Bettel jene Delikte, die am häufigsten in den Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung zu finden sind, was einerseits auf die hohe Zahl der aus verschiedenen Gründen umherziehenden Menschen, andererseits aber auch auf die besonders hohe Verurteilungsrate bei diesen Delikten schließen lässt. Mehrere Einzelfälle sollen verdeutlichen, dass der Vagabund nicht nur als eine wirtschaftliche und soziale Bedrohung, sondern auch als eine kriminalbiologische Herausforderung gesehen wurde. 

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Den recht typischen Lebensweg eines Landstreichers zeigt der Fall des 1889 geborenen Hugo S.,14 der wegen Betteldelikten und wegen gewalttätiger Diebstähle häufig verurteilt und zwischen 1921 und 1936 mehrfach kriminalbiologisch untersucht worden war. S. erhielt wegen einer Verletzung im Ersten Weltkrieg eine Militärrente, war aber schon 1920 wegen verschiedener gewalttätiger Diebstähle zu einer erheblichen Strafe, acht Jahre Zuchthaus, verurteilt worden. Eine frühes Gutachten, das in der psychiatrischen Abteilung der Universitätsklinik in Heidelberg angefertigt worden war und dem Akt beilag, kam zu dem Ergebnis, dass S. ein unsteter, haltloser, reizbarer Mensch sei, der in unbequemen Lebenslagen zu krankhaften Reaktionen neige, aber nicht geisteskrank sei. Das Gutachten von 1930 beschreibt ihn als von einem erregten Trinker abstammend, der leichtsinnig, auch vorbestraft gewesen sei. S. hatte nie einen festen Wohnsitz, er habe wegen seines „Wechselbedürfnisses“ und seiner Unstetheit ständige Arbeitsverhältnisse gescheut. Er zeige eine Neigung zur Flucht, sei nervös und reizbar, unverschämt, ein Querulant mit schlechter Führung. S. sei ein „endogen motivierter Zustandsverbrecher“ also „ein Mensch, der durch innere persönlichkeitseigene Momente der Veranlagung und des Charakters notwendig Verbrecher wurde. Äussere Umstände der Umwelt haben sicherlich an diesem Schicksal weit weniger Schuld“. Eigentlich von guten Verstandesanlagen, sei er doch moralisch-ethisch stark defekt, da in seinem Charakter nur „Ichförderung“, aber kein Gefühl für Gemeinschaftsbeziehungen vorherrsche. Der haltlose S., der einen Mangel an sittlichen Vorstellungen und Hemmungen aufweise, sei eine dauernde Gefahr für die Sicherheit von Personen und fremdem Eigentum. 1934 hieß es, dass er wegen seines fortgeschrittenen Alters und seiner Neigung zum Trinken „nicht mehr hemmbar“ sei. Er befinde sich im Vorgang des sozialen Versinkens, was weitere befristete Strafen in ihrer Wirkung ganz illusorisch mache: Er sei schon Kandidat für die Sicherungsverwahrung. Je länger eine Internierung dauere, um so mehr sei „dem Schutz der Volksgemeinschaft“ gedient. Im Gutachten von 1936 stand seine Lebensführung – „Wanderschaft (wenn auch nicht Landstreicher im engeren Sinne)“ – im Mittelpunkt. Es wurde seine Unstetheit und seine Abneigung gegenüber ehrlicher Arbeit betont, die ihn zu verschiedenartigen Betätigungen und nicht zuletzt zu kriminellen Seitengriffen aller Art veranlasse. In diesem Jahr aber war es ein anderes Vergehen, weswegen die Staatsanwaltschaft von der Kriminalbiologischen Sammelstelle ein Gutachten über S. anforderte: „Jetzt hat er sich wiederum durch grobe ausfällige Bemerkungen gegen unseren Führer und Reichskanzler bemerkbar gemacht“, was nach dem „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen“ vom 20. Dezember 1934, das die freie Meinungsäußerung einschränkte und kritische Äußerungen gegen den national-

14 BHStA, Akten der kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 397 (1930).

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sozialistischen Staat und seine Repräsentanten kriminalisierte, unter Strafe stand. S. sei ein „ganz geriebener Bursche, ein alter gefährlicher Spitzbube“, der mit psychischen Anomalien, die sich an der Grenze zwischen wirklicher Gegebenheit und auch Simulation bewegten, operiere. Er sei als Psychopath, aber immer als verantwortlich einzuschätzen und verdiene keinerlei Rücksicht. Der Gutachter schließt mit der Empfehlung: „Wie schon in den früheren Gutachten mag auch jetzt wiederum befürwortet werden, daß die Sicherung der Volksgemeinschaft diesem sozialen Dauerschädling gegenüber durch langandauernde Freiheitsentziehung gewährleistet wird.“ Bei S. beobachteten alle Untersucher eine soziale Haltlosigkeit, von der sie vermuteten, dass sie vor allem von seiner Anlage – S. stamme von einem Trinker ab – herrühre und sich in seinem Charakter, der einen Mangel an sittlichen Vorstellungen und an Gemeinschaftsgefühl aufweise, auspräge. Folge dieser charakterlichen Veranlagung sei Unstehtheit, die S. zur Wanderschaft ohne festen Wohnsitz bringe; dazu komme sein „Wechselbedürfnis“. Im Gefängnis zeige S. konsequenterweise eine Neigung zur Flucht. Die Kombination von Anlage, Charakter und Lebensführung sowie die Vorstrafen des S. ließ die Untersucher zu dem Schluss kommen, dass von diesem keine Besserung zu erwarten sei und daher die Sicherungsverwahrung der einzige Schutz der Gesellschaft vor seiner Rückfälligkeit darstelle. „Eine wahre Landplage der Landbevölkerung …“ Diese Empfehlung wurde auch im Fall des 1896 geborenen Karl H.15 ausgesprochen. Dass für die Anordnung von Sicherungsverwahrung vor allem auch die Vorstrafenliste neben der charakterlichen und sozialen Einschätzung eines Straftäters eine besondere Rolle spielte, war bei Landstreichern von besonders fataler Wirkung. Denn meist waren die Strafen wegen Landstreicherei und Bettelei nur kurz, da beides seit den frühen 1870er Jahren als „Übertretung“ verstanden und mit maximal sechs Wochen Haft belegt wurde (Althammer 2010: 416). Schnell kamen daher hohe Verurteilungszahlen zustande. So auch bei H., der innerhalb eines Jahres in Würzburg, Dresden und Offenburg wegen Bettel zu Strafen zwischen vier und zehn Tagen Haft verurteilt worden war. Bis 1930 hatte er 17 Strafen wegen Landstreicherei, Bettels und Diebstahls erhalten – die letzte: drei Jahre Zuchthaus wegen schweren Diebstahls im Rückfall –, was bei der kriminalbiologischen Bewertung seiner Person in Kombination mit der Einschätzung als haltloser, leichtsinniger, schizoider Gewohnheitsverbrecher und für die Empfehlung der Sicherungsverwahrung bei H. den zentralen Faktor darstellte. Der vorehelich geborene H. berichtete, dass der nicht bestrafte, aber invalide Vater ihn streng erzogen habe. Er habe vom Vater, der sagte, der Sohn sei nicht von ihm, viel Prügel bezogen; die Mutter sei wegen der Behandlung des Sohnes mit dem Vater in Streit geraten. Über die frühe Bio-

15 BHStA, Akten der kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 7479 (1930).



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grafie des H. erfährt man in der Untersuchungsakte nicht viel, nur, dass er zwar regelmäßig die Schule besucht habe, aber auch einmal sitzen geblieben sei. Bis zum Kriegsausbruch habe er in einer Fabrik als Eisengießer gearbeitet. Sein weiteres Leben bewegte sich offenbar zwischen Arbeitslosigkeit, Wanderschaft, kurzen Anstellungen und Gefängnisstrafen. 1927 war wegen Diebstahls im Rückfall und Bettel zu einem Jahr Zuchthaus, 1931 wegen schweren Diebstahls im Rückfall, Sachbeschädigung und Bettel zu drei Jahren und vier Monaten Zuchthaus verurteilt worden. 1936 forderte der Oberstaatsanwalt in Waldshut für ein Strafverfahren wegen Diebstahls, Sachbeschädigung, Landstreicherei und Bettelns ein kriminalbiologisches Gutachten über H. an. In der beiliegenden Anklageschrift heißt es, dass sich H. zuletzt auf Wanderschaft befunden habe und „zweck-, ziel- und mittellos umhergezogen“ sei. Er sitze nun wegen Fluchtgefahr in einer fortdauernden Untersuchungshaft. Er gab zwar die Sachbeschädigung, das Betteln und die Landstreicherei zu, bestritt jedoch den Diebstahl, da er nur zu essen habe holen wollen. Dies werde aber mit hinreichender Sicherheit dadurch widerlegt, wenn man sein Vorleben prüfe und seine mittlerweile 23 Vorstrafen näher untersuche. H. sei in seiner Heimat als arbeitsscheu bekannt; er sei zudem von seinen Eltern „beim wochenlangen Zuhausesitzen noch unterstützt worden“. Er habe keine dauernde Arbeit mehr gehabt, ziellos umhergewandert und habe sich schließlich erneut Bettel, Diebstahl und Betrug zugewandt, ohne sich durch die rasch aufeinander folgenden Strafen davon abschrecken zu lassen. Besonders betonte die Anklageschrift, dass H. sei 1926 begonnen habe, seine Taten zu leugnen. Überhaupt ist die Anklageschrift ein interessantes Dokument, sind dort doch Auszüge aus früheren Ermittlungsergebnissen oder Urteilsgründen notiert – Auszüge in Form ausgewählter Formulierungen, die Tatumstände, aber vor allem H. auf eine bestimmte Weise charakterisierten: „nicht im geringsten gebessert“, „gemeine und niedrige Gesinnung“, „Frechheit und Gemeingefährlichkeit der Tat“, „ein arbeitsscheuer Mensch ist, der glaubt sein Leben auf Kosten seiner Volksgenossen führen zu können“. Auch eine Passage aus der Anklageschrift in einem 1935 gegen H. geführten Verfahren wegen Diebstahls im Rückfall, Sachbeschädigung, Bettel, Landstreicherei ist in Gänze in der späteren Anklageschrift enthalten. Darin wird festgehalten, dass die ihm dieses Mal zur Last gelegten Taten bezeichnend seien für seine verbrecherische Natur, die in seinen früheren Taten schon genügend zum Ausdruck gekommen sei. H. sei zu einer „wahren Landplage der Landbevölkerung“ geworden, dessen Gefährlichkeit und seine „nicht im geringsten abgeschwächte kriminelle Veranlagung“ auch durch einen Ausbruchsversuch aus dem Ortsarresthaus offenbar werde. Die Gesamtwürdigung seiner früheren Taten ergebe, dass H. ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher sei, gekennzeichnet durch einen Hang zum Verbrechen, „der auf verbrecherischer Anlage, Verkommenheit, innerer Haltlosigkeit und Willensschwäche beruht und in ungewöhnlicher Stärke und besonders volksschädigend auftritt“. Da von ihm wegen seiner Veranlagung und nach den bisherigen Erfahrungen die Ver-

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übung weiterer schwerer Diebstähle und Betrügereien zu erwarten seien, und diese Gefahr auf andere Weise nicht gebannt werden könne, erfordere die öffentliche Sicherheit die Anordnung der Sicherungsverwahrung. Diese Schlussfolgerung zog auch der Untersucher in der kriminalbiologische Untersuchung von 1936. Dabei stützte dieser sich auch auf den kriminalbiologischen Nachbericht von 1933, dem zu entnehmen ist, dass sich H. im Allgemeinen diszipliniert geführt und er nur eine Hausstrafe – „Entzug der Mittagskost wg. Besitz eines Zigarillos“ – erhalten habe. Als subjektiver Eindruck ist dennoch „unzuverlässig“ notiert, auch, dass sich er gegenüber den Vorgesetzten zwar anständig, aber auch hinterhältig verhalten habe. Die psychische Einschätzung beschreibt ihn als unbeständig, schizoid, nervös, innerlich unruhig, willensschwach und haltlos. Die soziale Prognose – „recht zweifelhaft“ – wurde im Nachbericht beibehalten. 1936 wurde H. als äußerst haltloser und willensschwacher Psychopath bezeichnet, als schizoider, rückfälliger und unverbesserlicher Gewohnheitsverbrecher mit zweifelhafter sozialer Prognose. Die Haltlosigkeit zeige sich unter anderem darin, dass er Versuchungen, besonders in Not, nicht widerstehen könne und dass seine guten Vorsätze immer nur einige Tage anhielten. Da sich im Stamm des Probanden keine Auffälligkeit finden ließ, war es für den Untersucher die fehlerhaft einseitige strenge Erziehung des Vaters, die von Jugend auf nachteilig auf die Entwicklung des Gefangenen gewirkt hätte. Sein strafenreiches Vorleben habe ihn auf die schiefe Bahn gebracht und seine „totale innere Haltlosigkeit“ führe dazu, dass ein Wiederaufstieg zu geordnetem Lebenswandel ohne starke Stütze so leicht nicht möglich sein werde. „Ein Taugenichts, ein Erzfaulenzer, ein Landstreicher und Volksschädling …“ Der 1913 unehelich geborene Landarbeiter Johann D.16 war 1938 wegen Urkundenfälschung und Betrug zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt worden. Es war die vierzehnte Strafe des D.; zuvor war er wegen Nötigung, Diebstahl, Bettel und Landstreicherei ins Gefängnis gekommen. Nach Angabe des Probanden kannte er seine Mutter nicht, habe aber noch einen weiteren unehelichen Bruder, mit dem er bei Pflegeeltern aufgewachsen sei. Nach Abschluss der Volksschule sei er sich selbst überlassen gewesen und habe sich in landwirtschaftlichen Beschäftigungen verdingt. Er sei oft in Streitigkeiten geraten und habe sich viel in der Gegend herumgetrieben. Sein Leben spielte sich offenbar im Wechsel von „Herumstreunen“, Gefängnis und kurzen Arbeitsverhältnissen ab. Der Untersucher von 1938 fasste zusammen: „Kurze Gefängnisstrafe (1930); danach wieder herumstreunen; Landwirtschaft bis Ende 1931, dann wieder auf Walz; immer so weiter; dann vom Urlaub beim Arbeitsdienst nicht mehr zurückgekommen, daraufhin 4 M G; danach Streunen; so bis 1936: dann ins Arbeitshaus; danach Ar-

16 BHStA, Akten der kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 25916 (1938).



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beit in Mühle; danach zu Spediteur; danach wieder Walz und Verhaftung bis jetzt.“ In einem Urteil aus dem Jahr 1937 ist zu lesen, dass er sich nicht um Arbeit bemühe, auch wenn diese nach Ansicht des Gerichts in der Landwirtschaft leicht zu haben gewesen wäre; D. sei vielmehr ein unverwüstlicher, arbeitsscheuer Landstreicher, dessen Einschaffung ins Arbeitshaus erforderlich sei, um ihn zur Arbeit anzuhalten. Der Untersucher von 1938 meinte, sowohl in Anlage als auch in Umwelt den Grund für die neuerliche Straftat finden zu können und dass der vorwiegende Faktor für seine Kriminalität Arbeitsscheue und Verwahrlosung sei: „D. ist von Jugend auf unglaublich verwahrlost; eltern- und heimatlos aufgezogen; von seinem 14. Lebensjahr an vollständig sich selbst überlassend, ohne Aufsicht und Führung, ohne gutes Vorbild und Zucht, nur seinen natürlichen Trieben und Begierden, Neigungen und Wünschen folgend; nach seinen Angaben war er bisher schon bei 20 Arbeitsgebern, hielt nirgends lange aus und hatte bei jedem etwas auszusetzen; Nichtstun, Streunen und Betteln nach Zigeunerart war ihm am liebsten; ein Taugenichts, ein Erzfaulenzer, ein Landstreicher und Volksschädling.“

D. zeige in seinem Auftreten wenig Anstand und Respekt, er sei „patzig und abweisend, gleichgültig und wurstig sondergleichen, widerwillig und rechthaberisch, mit starrem, rohem Blick, vorübergehend mit kalt lächelnder Miene. Das kriminalbiologische Urteil war deutlich: „D. wird sich aus seinem Tiefstand infolge seines Streunertums und seiner moralischen Minderwertigkeit, infolge seiner Arbeitsscheue und Mangel eines ernsten Besserungswillens kaum mehr retten können.“ Zugleich sei er ein triebhafter Mensch mit antisozialer Willensaktivität, kaltem und rohem Gemüt, einer Neigung zu Zorn und Gewalttätigkeit. Er sei ohne Reue, ohne Ehrgefühl und ohne sittlichen Halt, mit nur geringer Einsicht und folge „animalischen Willensimpulsen“. Auch fehlten bei D. die Hemmungen hinsichtlich von Moral-, Pflicht- und Ehrbewusstsein; sein Seelen- und Gemütsleben sei roh, ungepflegt und unentwickelt, weshalb er zu gemütsrohen Handlungen neige, dabei aber feig, hinterhältig und vorsichtig sei. Der Untersucher stellte fest, dass D. kein Streben nach innerer Wertigkeit zeige und kein klares Lebensziel habe, was darauf zurückzuführen sei, dass D. unehelich geboren und ohne elterliche Liebe und Pflege aufgezogen worden sei, bald ins Bummeln kam, verwahrloste und bereits mit 15 Jahren kriminell wurde. Bis heute sei er triebhaft und asozial geblieben, ein „Zigeunertyp“, arbeitsscheu ohne jegliche moralische Grundlage. Weder Strafen noch Arbeitshauszwang hätten in ihm eine Wandlung erwirkt. Da er eine „antisoziale, zielbewußte kriminelle Willensaktivität“ aufweise, zudem gemütsroh, skrupellos, rein materialistisch und zyklothym sei, gab der Untersucher dem D. auch aufgrund seiner Vorstrafen und seines bisherigen Lebenswandels eine schlechte soziale Prognose, was 1938 im Beschluss des Bezirksamtes Vilshofen Folgen zeitigte, denn es wurde gemäß dem weiterhin gültigen bayerischen „Gesetz zur

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Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“ vom 16. Juli 1926 angeordnet, ihn für zwei Jahre in ein Arbeitshaus einzuweisen. Kommentar: Antisoziale Lebensführung: Landstreicherei und Bettelei Seit den 1870er Jahren, im Kontext von Industrialisierung, „Sozialer Frage“ und neuen sozialpolitischen Ansätzen, hatte die „Vagabundenfrage“ eine Renaissance erfahren. Beate Althammer hat jüngst gezeigt, dass der Diskurs über Vagabunden um 1900 auf die vorindustrielle Figur des Vagabunden zurückgriff, dass aber die Erklärungsmuster – wie in anderen sozialpolitischen Bereichen auch – neben sozial-moralischen Werturteilen zunehmend psychiatrisch-medizinische Begriffe und Konzepte aufwiesen. Und ein ähnliches Bedrohungspotential aufzeigten, das mit einer ebenso metaphernreichen Sprache transportiert wurde: Es war von einer „Flut“, von einem „Strom“ der Vagabunden die Rede, von einer „Landplage“, von einem „Notstand“ – Begriffe, die, kontrafaktisch, „die Vorstellung einer massenhaften und schädlichen Erscheinung [evozierten], die wie eine Katastrophe über die Gesellschaft hereingebrochen war“ (Althammer 2010: 421). Das öffentliche Bild des Vagabunden umfasste einen bestimmten Habitus (Althammer 2010: 425-429) und bezeichnete einen nicht sesshaften und damit überall fremden Menschen, der besitzlos und praktisch ohne Gepäck umherzog, dabei aber oft einen einigermaßen anständigen Anzug trug. Das Klischee wollte es, dass bei den Vagabunden selten die Schnapsflasche und ein knorriger Stock fehle, er unreinlich sei, verlaust, mit Krätze oder Geschwüren. Familiäre und soziale Ungebundenheit sowie Gewerbelosigkeit kennzeichneten den Vagabunden und unterschieden ihn zugleich von „Zigeunern“ und Wandergewerbetreibenden; er lebe, trotz des Vorwands, Arbeit zu suchen, ganz aus fremder Tasche. Der Vagabund war in dieser Vorstellung männlich; die seltenen Vagabundinnen wurde mit dann noch negativeren Zügen gezeichnet als die Männer. Das Bild vom Vagabunden war zugleich jedoch auch unscharf, wurde er doch nicht immer vom Handwerksburschen, der auf der Walz durch das Land wanderte, geschieden. Dieser war in seiner Lebensführung mit Wandern, Betteln und Bereitstellen seiner Arbeitskraft für Obdach und Essen gleichsam durch die Handwerkstradition legitimiert, wurde aber zunehmend in einem sich verschärfenden Diskurs dem bettelnden Vagabunden gleichgesetzt, da viele Autoren der Meinung waren, die Berufung auf den ehrbaren Handwerksbrauch der Walz sei nichts weiter als ein Euphemismus für arbeitsscheues Umhertreiben. Damit einher ging die Einteilung von Vagabunden in ‚gute‘ und ‚schlechte‘: Man unterschied die ‚arbeitsscheuen‘ Vagabunden, die nur auf fremde Kosten leben wollten, von den gutwilligen Arbeitssuchenden sowie von den körperlich und geistig Gebrechlichen, die auf der Straße lebten. Erstere Gruppe mache bei Weitem den Hauptbestandteil des „Vagabundenheeres“ aus. Als Ursachen für die Vagabondage galten verschiedene Faktoren (Althammer 2010: 429-437). Materielle Not und Mängel in der Armenpflege 

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sowie ökonomische Krisen wurden als Gründe durchaus ernst genommen, doch griffen die Autoren im späten 19. Jahrhundert vor allem zu moralischen Deutungsmustern. Arbeitslosigkeit treffe mit einer, breiten Bevölkerungsschichten eigenen, Neigung zum ungebundenen, genussreichen Leben zusammen; die „Genußsucht“ werde immer größer, die Lust zur Arbeit immer geringer. Hier griff eine interessante Argumentation: Der Gründerboom habe zu höheren Löhnen geführt und den Wunsch nach Konsum gesteigert; als die Krise einsetzte, verlegten sich viele, um den Konsumwunsch zu befriedigen, auf Landstreicherei und Bettelei. So gesehen war also die negative Wirkung des Gründerbooms, nicht aber die Krise der Auslöser der neuen Vagabunden“flut“. Einmal an dieses Leben gewöhnt, blieben die Vagabunden auch dabei, als die Krise endete, wie viele Autoren argumentierten und die soziale Dramatik des Problems damit am Leben hielten. Mehr als ökonomische Aspekte galten aber charakterliche Schwächen als Ursachen für die Vagabondage, ohne dass für die Entstehung von Arbeitsscheu, Trägheit, Leichtsinn oder Wandertrieb andere Erklärungen angeboten wurden als die traditionellen: Mängel in der Erziehung und in der sittlich-religiösen Unterweisung gerade bei unehelichen Kindern, defizitäre Bildung und Ausbildung, fehlende Anleitung zu Zucht, Ordnung und Arbeitsamkeit. Ähnlich wie im Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“ der Verbrecher für seine Gesinnung und seine verderbte Lebensführung aufgrund falscher Entscheidungen verantwortlich gemacht wurde, so galt auch im Diskurs über Vagabunden, dass der eigentlich arbeitsfähige Mensch das Leben auf der Straße selbst gewählt oder verschuldet habe. Und auch in diesem Diskurs gab es eine der Hinwendung zum Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ analoge Veränderung, denn auch der Vagabunden nahm sich ein medikalisierter Diskurs an, der in dieser Lebensweise das Symptom eines krankhaften Körper- oder Geisteszustands sah, ererbt von degenerierten Eltern. Dies zeigt auch ein Fall aus der Kriminalbiologischen Untersuchung: In einem Gutachten zu dem wegen Diebstahls angeklagten Josef F.17 zitierte der Untersucher aus früheren kriminalbiologischen Untersuchungen. Dort war notiert worden, dass F.s Vater Trinker und arbeitsunlustig sei und F. nur eine mangelhafte Erziehung genossen habe. Die Heimatbehörde berichtete, dass der Untersuchte schon als Kind arbeitsunlustig gewesen sei, ein Sorgenkind, das Landstreicherei betrieben habe und „im Charakter kalt und herzlos, verschlossen, brutal und verwegen, wurstig, arbeitsunlustig, von den Seinen gefürchtet“ sei. In der Untersuchung von 1928 ist festgehalten, dass beim Gefangenen Reue und Selbsterkenntnis fehlten, dass er ein „mißratener Sohn eines Trinkers“ sei, mit stechendem Blick und den verfallenen Gesichtszügen eines Trinkers, ein Berufsfaulenzer, dem höhere sozialethische Gefühle fehlten, ein antisozialer Psychopath und unverbesserlicher Zustandsverbrecher. Der Reigen diskriminierender Beschreibungen wurde

17 BHStA, Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 5653 (1935).

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dann auch im Gutachten von 1935 fortgeführt: „F. ist erblich belastet, er stammt von einem Trinker, auch die Mutter scheint psychisch nicht ganz intakt gewesen zu sein, ein Bruder war lange Jahre als Geisteskranker in Pflege.“ Er weise eine psychische Desorganisation und Abnormität auf, sei schwer erziehbar und habe eine Neigung zum Schwänzen. F. zeige „soziales Parasitentum“ und sei „aus innerer Artung Krimineller, nicht aus äußeren Anlässen oder situationsbedingt“. Beinahe erleichtert schließt der Untersucher: „Nunmehr besteht die gesetzliche Möglichkeit der Ausschaltung solcher Schädlinge aus dem Volkskörper“ und empfiehlt die Sicherungsverwahrung zum Schutz der Volksgemeinschaft. Zwar plädierten manche Sozialreformer, die „minderwertigen“ Vagabunden besser zu erkennen und nicht mehr sinnlos zu bestrafen, doch „beförderten die Psychiater eine generalisierende Pathologisierung ganzer Bevölkerungsgruppen, wobei sie sich teils einer extrem abwertenden und ausgrenzenden Terminologie bedienten, die das verständnisvollere Bild des Kranken konterkarierten“ (Althammer 2010: 437). Die sozial-moralischen Werturteile wurden etwa mit Begriffen wie „antisoziale Existenzen“, „Plage“ oder gar „Parasiten“ transportiert, die Gefährlichkeit der Vagabunden dadurch, dass die Angst vor sanitären Risiken, einer fortschreitenden Degeneration und der von Landstreichern begangenen Verbrechen geschürt wurde. Strafverfolgung und Sozialpolitik gegenüber den Vagabunden waren in den 1920er Jahren auch geprägt von rassenhygienischen, aber auch von fürsorgerischen Vorstellungen (Ayaß 1995: 12-18). Diskutiert (aber nie realisiert) wurden etwa verharmlosend „Bewahrung“ genannte gesetzliche Regelungen, die letztlich nichts anderes waren als die zwangsweise durchgeführte geschlossene Fürsorge. Eine Bewahrung sollte vor allem Vagabondage (und Prostitution) entkriminalisieren, indem die Betreffenden nicht in einem Arbeitshaus, sondern in einer Bewahranstalt disziplinierenden fürsorgerischen Maßnahmen unterzogen werden sollten. Die Nationalsozialisten legten repressive Maßnahmen gegen die „Asozialen“ auf. Bereits im September 1933 wurde eine „Bettlerrazzia“ durchgeführt, bei der – begleitet von einer propagandistischen Presseberichterstattung – wohl mehrere zehntausend Menschen vorübergehend festgenommen wurden und die aufgrund der den Vagabunden nun vor Augen stehenden, gegen sie gerichteten Maßnahmen einen spürbaren Rückgang der Vagabondage zur Folge hatte (Ayaß 1995: 20-41). Auch die Internierung in Arbeitshäusern nach der Haftstrafe wurde ausgeweitet, zumal nach einer Ergänzung des „Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ eine auch zeitlich unbestimmte Einweisung erfolgen konnte, wenn der Täter aus Arbeitsscheu oder Liederlichkeit oder gewerbsmäßig gebettelt hatte – wann auf „Arbeitsscheu“ oder „Liederlichkeit“ entschieden wurde, war in das Ermessen der Gerichte gestellt. Die Gestapo ging dann 1938 in der so genannten Aktion „Arbeitsscheu Reich“ mit dem Verhaftungsgrund „Arbeitsverweigerung“ gegen „Asoziale“ vor und verschleppte über 10.000 Menschen in das Konzentrationslager Buchenwald (Ayaß 1995: 139-176). 

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Die Untersuchung von weiblichen Strafgefangenen18 Es wurde einleitend darauf hingewiesen, dass zwischen dem theoretischen, kriminologischen Diskurs und der strafvollzuglichen Praxis der Kriminalbiologischen Untersuchung kein einfaches Verhältnis bestand, bei dem ein abgebendes System – der Diskurs – und ein aufnehmendes System – der Strafvollzug und die Kriminalbiologische Untersuchung – in einer linearen Beziehung standen, sondern dass zwar einerseits im praktischen Bereich selbst Wissen generiert wurde, dass unter Umständen wiederum auf die Theoriebildung zurückwirkte, dass aber andererseits für beide Systeme der Einfluss lebensweltlichen Wissens in Form vorgängiger Sozial- und Moralvorstellungen eine erhebliche Wirkung in Bezug auf die Beurteilung von Verbrechern hatte. Ganz deutlich wird dieser Sachverhalt bei den Kriminalbiologischen Untersuchungen von weiblichen Strafgefangen. Hier war, wie nun gezeigt werden soll, die Diskrepanz zwischen Diskurs und Praxis besonders groß und der Anteil lebensweltlicher Evidenzen an der prognostischen Beurteilung besonders hoch. Diese Beobachtung ist auch in methodischer und forschungspraktischer Hinsicht von Bedeutung, denn folgte man der einfachen Diffusionstheorie in Bezug auf theoretisches Wissen, dann wäre nach der Lektüre der zeitgenössischen kriminologischen Literatur zwischen 1900 und 1945 und moderner Forschungsarbeiten zur Kategorie Geschlecht in Strafrecht und Kriminologie zu erwarten, in den Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung eindeutige Belege zu finden für eine Kriminalisierung von abweichenden Frauen, für eine gleichsam doppelte Diskriminierung von Verbrecherinnen, als Kriminelle und als Frau, anhand geschlechtsspezifischer Kategorien. Es wäre zu erwarten, jenes auf Spekulation und lebensweltlichen Evidenzen, jenes auf common sense basierende (pseudo-)wissenschaftliche Wissen über Frauen in den Akten zu finden, zeitgenössische ‚Wahrheiten‘ über Verbrecherinnen (Uhl 2003: 149f.) wie etwa die Einschätzung Erich Wulffens (1862-1936), dass „bei dem Weibe die meisten kriminellen Auswirkungen aus nahe liegenden psycho-physiologischen Gründen in irgendeinem näheren oder entfernteren Zusammenhange mit seinem Geschlechtsleben stehen“. Wulffen fand dies so „einleuchtend und leichtverständlich“, dass er meinte, der Typus der „Sexualverbrecherin“ verspreche, terminologisches Gemeingut zu werden (Wulffen 1925: 4). Diese Erwartungen würden neben den Ergebnissen der kriminologiehistorische Forschung und der Beispiele aus dem zeitgenössischen Diskurs über kriminelle Frauen auch dadurch gestützt, dass die Kriminalbiologische Untersuchung eben zur Bestimmung der Persönlichkeit eines Verbrechers bzw. einer Verbrecherin eingerichtet wurde – und dies dezidiert mit dem Blick auf den „Verbrecher als biologischem Wesen“.

18 Vgl. auch Kailer 2007a: 117-137.

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Es scheint also folgerichtig davon auszugehen, dass Design und Durchführung der Kriminalbiologischen Untersuchung dem zeitgenössischen common sense ebenso Rechnung trugen wie dem Denkstil über das „verbrecherische Weib“, die auf der Prämisse einer biologischen und durch das soziale Umfeld erworbenen Andersartigkeit der Frau und damit der Andersartigkeit der Verbrecherin basierten. Der Diskurs also sollte gemäß der Vorannahme einer Diffusion theoretischen Wissens in einen praktischen Bereich Einfluss auf die Praxis gehabt haben. Man müsste erwarten, im Design der Kriminalbiologischen Untersuchung speziell auf weibliche Kriminelle und ihr vorgeblich „anderes Wesen“ zugeschnittene Fragen zu finden. Man müsste vermuten, in den Akten unhinterfragte Aussagen über eine vorausgesetzte „spezifisch weibliche Kriminalität“ zu lesen, darüber etwa, dass in bestimmten „Phasen des Geschlechtslebens“ der Frau bestimmte Delikte auftreten (Brandstiftung in der Pubertät, Reizbarkeitsdelikte im Klimakterium; Birnbaum 1913: 365), darüber, dass „ein wunderlicher, seltsamer, eigener ‚Wahn‘, eine Umnebelung des Bewußtseins, einem Rausche vergleichbar, […] die Frauen befällt, nachdem sie die Schwelle eines Warenhauses betreten“ (Raimann 1921/22: 312). Man müsste jene drei von Karsten Uhl beschriebenen diskursiven Vorstellungen über das „verbrecherische Weib“ auch in der Strafvollzugspraxis finden; einmal nämlich die Vorstellung, dass der geringere Anteil von Frauen an der Kriminalität sowie die relative Häufigkeit bestimmter Delikte mit den „natürlichen weiblichen Eigenschaften“ erklärt werden könnten, sodann die Strategie, ein „hysterisches Übermaß“ an weiblichen Eigenschaften als kriminogen zu verstehen sowie schließlich die Zuschreibung männlicher Eigenschaften an kriminelle Frauen bei gleichzeitigem Absprechen von „Weiblichkeit“ (Uhl 2003: 115-146). Jedoch: Die Quellen übten ihr Vetorecht (Reinhart Koselleck) aus. Es wurden sechzig Untersuchungsakten zu weiblichen Strafgefangenen ausgewertet, die ergänzend mit den Akten zu männlichen Gefangenen abgeglichen wurden, und es zeigte sich: Erstens war das Design der Kriminalbiologischen Untersuchung weitgehend geschlechtsneutral. Bis auf den Fragenkomplex zu den Sexualorganen sind die Untersuchungspunkte gar nicht geschlechtlich differenziert und gelten sowohl für Frauen wie für Männer, oder sie sind es nur dahingehend, dass „der Verbrecher“, der als Maßstab auch der Kriminalbiologischen Untersuchung zugrunde lag, eben ein Mann war. Das bedeutet, dass es im Fragebogen selbst praktisch keinen Hinweis für einen Einfluss des kriminologischen Diskurses über „das verbrecherische Weib“ auf die Konzeption der Kriminalbiologischen Untersuchung gibt. Und auch in seinen umfänglichen theoretischen Begründungen der Untersuchung hatte Viernstein keine Hinweise darauf gegeben, dass Frauen einer spezifischen Untersuchungsweise zu unterziehen seien. Zweitens waren, bis auf einen, zudem uneindeutigen Fall, in den Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung Aussagen, die den normativ-diskriminierenden Postulaten über „das verbrecherische Weib“ im kriminologischen Diskurs entsprechen, nicht zu finden; zumindest nicht in der erwarteten Art und 

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Weise. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Die Aussagen über den kriminogenen Einfluss des Geschlechts der Gefangenen waren in der Kriminalbiologischen Untersuchung anders gelagert; die geschlechtsneutralen Untersuchungspunkte wurden geschlechtsspezifisch ausgelegt. Dabei waren es regelmäßig einerseits der Kontext des Falles, andererseits die Gesamtwürdigung und der subjektive Eindruck des Untersuchers, wodurch Kategorien wie „leichtsinnig“, „glaubhaft“, „haltlos“ usw. vergeschlechtlicht wurden. Diese geschlechtsspezifische Auslegung machte die Zuschreibungen nicht weniger diskriminierend; sie stellten durchaus Akte des doing gender dar und dienten somit der Herstellung und Bestätigung von Geschlechterrollen und -unterschieden in alltäglichen performativen Interaktionen. Geht man wie hier davon aus, dass in der Kriminalbiologischen Untersuchung der Verbrecherkörper fragmentiert wurde, dass an ihm eine Karte der Abweichung entstand, Zonen, von denen man annahm, dass dort Abweichung manifestiert sei, dann wäre vor dem Hintergrund eines tendenziell misogynen kriminologischen Diskurses mit seiner Grundannahme einer biologischen Differenz eigentlich zu erwarten, auch und gerade in den kriminalbiologischen Untersuchungen von Frauen und für den weiblichen Verbrecherkörper eine auf diese biologische Differenz bezogene Fragmentierung beobachten zu können. Die Festschreibung dieser Differenz war die historische Folge der von Michel Foucault beschriebenen Produktion der „Sexualität“, jenem „Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der Erkenntnisse, die Verstärkung der Kontrollen und der Widerstände in einigen großen Wissens- und Machtstrategien miteinander verketten“ (Foucault 1998: 128). Grundlage dieser Strategien im Dispositiv „Sexualität“ ist eine binäre Ordnung der Geschlechter, die „Anreizung zum Diskurs“ gibt und die schließlich Praktiken zur „Formierung der Erkenntnisse“ und zur „Verstärkung der Kontrolle“ bereit stellt. Zu diesen Praktiken zählen sicherlich die Kategorisierungs- und Klassifizierungsprozesse in den Humanwissenschaften, die „den Menschen“ mit ihren Verfahrensweisen aus Tests, Befragungen, Verhören, Abschätzungen, Messungen, Beobachtungen und Registrierungen „in seinen empirischen Teilen zum Gegenstand“ nehmen (Foucault 1995: 413). Die Kriminalbiologische Untersuchung kann als eine Ausprägung dieser Verfahrensweisen verstanden werden; sie diente – in einer Hochphase der „Bio-Macht“ – auch der normorientierten und biologischen Normalisierung der (abweichenden) Bevölkerung. Dass nun im Untersuchungsdesign eine geschlechtsneutrale Charakterologie verabsolutiert war, ausgerichtet auf die kriminogenen Persönlichkeitsmerkmale und Wesenszüge des Einzelfalles und weitgehend unabhängig davon, ob dieser männlich oder weiblich war, zeigt, dass das Dispositiv „Sexualität“ anders als im kriminologischen Diskurs über das „verbrecherische Weib“, das als „Sexualverbrecherin“ verstanden wurde, bei der Konzeption der Untersuchung keine vergleichbare Rolle gespielt zu haben scheint. Aus diesem Grund gilt es, für die Frage nach der Bedeutung der Ka-

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tegorie „Geschlecht“ in der Kriminalbiologischen Untersuchung das Augenmerk vor allem auf ihre Durchführung zu richten bzw. auf die jeweiligen Aussagen der Untersucher über die Gefangenen im Einzelfall. Es gilt also, auf das doing gender und der geschlechtsspezifischen Auslegung zu achten, die in diesen Aussagen stecken. Dann greift hier aber auch, was Andrea Griesebner und Monika Mommertz für forensische Akten der Frühen Neuzeit beschreiben (Griesebner/Mommertz 2000: 216) und was einleitend zu diesem Abschnitt bereits in allgemeiner Hinsicht ausgeführt wurde, dass nämlich aus den Akten, da sich der Untersucher nicht explizit dazu geäußert hat, nicht direkt hervorgeht, wie von ihm „Geschlecht“ gedacht wurde. Es ist daher eben auf das „Unausgesprochene“, auf das Mitgesprochene in Bezug auf „Geschlecht“ zu achten und damit auf die kommunikativen Praktiken, an denen die Vorgänge der Konstruktion von Geschlecht in einer Wertungssituation wie der Kriminalbiologischen Untersuchung deutlich werden. Um noch einmal die Ausgangslage zu beschreiben: Das Untersuchungsdesign der Kriminalbiologischen Untersuchung war also geschlechtsneutral, es war jedoch nicht geschlechtsunabhängig, da manche Punkte eine Unterscheidung zwischen biologischen Geschlechtern voraussetzen bzw. durchaus geschlechtsspezifische Aspekte abfragten. Im Fragekomplex „Stellungnahmen und Verhaltensweisen“ bezogen sich manche Punkte auf Sexualität im weitesten Sinne und waren insofern Teil des angesprochenen Normalisierungsdiskurses. Es wurde gefragt nach dem Ehegatten und dem anderen Geschlecht, wer in der Ehe „herrscht“, ob Liebe, Gleichgültigkeit oder Brutalität dominiere oder Nachgiebigkeit, „Waschlappigkeit“ oder Tyrannei, danach, wie der Verdienst verteilt wird, nach der ehelichen Treue, nach Eifersucht. Das Sexualleben wurde ausgeleuchtet, wann „der Trieb“ erwacht, wann es zur ersten Befriedigung gekommen sei; es wurde nach „Masturbation: wann? wie lange? noch? wie häufig? neben normaler Betätigung?“ gefragt. „Abnormitäten“ wie Impotenz oder ejaculatio praecox und „Perversitäten“ wie Homosexualität, Pädophilie, Fetischismus, Prostitution, Zuhältertum sollten notiert werden, auch das Verhältnis zu den Kindern: Mütterlichkeit, Affenliebe, Gleichgültigkeit, Schwäche, Strenge, Gewissenlosigkeit. Eine Mischform findet sich in den Punkten zu den Sexualorganen: Hier sollten die „Brustdrüsen“, die Behaarung, die Stimme, die Testes beschrieben und die Bestimmung des Menstruationstyps, ggf. der Anomalien, sowie der Zeitpunkt von Menarche und Menopause vorgenommen werden. Ein kriminogener Zusammenhang wurde hier nicht abgeleitet, und auch wenn die Frage etwa nach dem Klimakterium auf der bereits erwähnten Vorstellung beruhen könnte, dass bestimmte Delikte in bestimmten Phasen der geschlechtlichen Entwicklung der Frau auftreten würden, so findet sich doch in den untersuchten Akten kein Fall, wo dieser vorgebliche Zusammenhang als Erklärung für die Tat herangezogen worden wäre. Der männliche Verbrecher als sprachliche Bezugsgröße erscheint in mehreren Untersuchungspunkten, dann zumeist in der Formulierung „der Gefangene“ wie in „Persönliche Jugendentwicklung des Gefangenen“ oder „der Untersuchte“ 

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wie in „Ist der Untersuchte nach dem Gesamtbilde a) besserungsfähig, b) unverbesserlich zu erachten?“. Andere Untersuchungspunkte weisen eine eher implizite Ausrichtung auf den männlichen Verbrecher auf, wie etwa die Frage nach der Berufswahl: „Lehrzeit, Lehrerfolg, Gesellenprüfung, Meisterprüfung, Störungen der Lehrzeit?“. Eine explizitere Formulierung findet sich in der Frage nach „Entwicklung und Stand der ökonomischen Lage“ des „als selbständiger Mann“ auf eigenen Füßen stehenden männlichen Gefangenen. Eine Mischform in dieser Gruppe stellt der Punkt „Verheiratung“ dar, wo nach der „Ehefrau“ gefragt wird, der aber ebenso Anwendung bei weiblichen Gefangenen fand. Ganz explizit auf den männlichen Verbrecher ausgerichtet ist der Fragebogen im Untersuchungspunkt „Militäreintritt“. Die Merkmale einer geschlechtsabhängigen Ordnungsstruktur werden deutlich. Diese beruhen auf Gesellschaftsstrukturen und lebensweltlichen Evidenzen, die die Geschlechterdifferenz Anfang des 20. Jahrhunderts kennzeichneten, und sind insofern Akte des doing gender. Sie beziehen sich jedoch nicht auf den kriminogenen Zusammenhang, der im kriminologischen Diskurs für das „Weib als Sexualverbrecherin“ – für die Verbrecherin also, und nur für sie – zwischen den „natürlichen“ Geschlechtseigenschaften der Frau und ihrer Kriminalität hergestellt wurde. Es gilt jedoch auch festzuhalten: Die Annahme, dass die Untersuchungskategorien der Kriminalbiologischen Untersuchung vom Untersucher am jeweiligen Einzelfall geschlechtsspezifisch ausgelegt wurden, bedeutet, dass dies auch für eine Auslegung auf das männliche Geschlecht gilt; auch die männlichen Strafgefangenen waren, wie die weiblichen, dem doing gender unterworfen und unterlagen dem Geschlechterdualismus als gesellschaftlichem Ordnungsprinzip, der durch binäre Denk- und Bewertungskategorien gekennzeichnet ist (Smaus 1999: 32). Die Kategorie „Geschlecht“ kann daher als eine Strukturkategorie im Herrschaftszusammenhang verstanden werden: Dieser Ansatz fragt danach, wie gesellschaftliche Systeme die Geschlechterdifferenz immer wieder neu produzieren, wie Ein- und Ausschließungsprozesse über die Geschlechterrolle funktionieren und wie Ungleichheit und Hierarchie zwischen Männern und Frauen hergestellt werden (Stiegler 1999: 128). Die Geschlechterdifferenz erzwingt somit Geschlechterrollen, die in bestimmten, als geschlechtlich relevant markierten Kontexten bestimmte Verhaltensweisen fordern, andere hingegen sanktionieren. Produktion von Geschlechterdifferenz bedeutet dann, die geforderten (konformen oder abweichenden) Verhaltensweisen kohärent zu übernehmen, die eigenen Handlungen am Maßstab der kohärenten Rollenzuschreibung auszurichten. Doch nicht nur werden gender-Rollen übernommen; sie werden auch, kontextabhängig, zugeschrieben. Vorstellbar ist vor allem eine Zuschreibung von einzelnen Merkmalen, auch von geschlechtsneutralen Merkmalen, die als Geschlechtervariablen mit einem vergeschlechtlichten sozialen Sinn aufgeladen werden. Solchen Zuschreibungspraktiken soll im Folgenden am Beispiel der Kriminalbiologischen Untersuchung die Aufmerksamkeit gelten. Da die in der Mehrzahl geschlechtsneutralen Untersuchungspunkte, je nach-

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dem, ob der untersuchte Gefangene männlich war oder weiblich, geschlechtsspezifisch ausgelegt wurden, erscheinen die jeweiligen Kategorien der Untersuchungspunkte – etwa „haltlos“, „leichtsinnig“, „besserungsfähig“ – als kontextabhängige gender-Variablen. Angesichts des hier zur Verfügung stehenden Raumes und in Anbetracht des eigentlichen Themas, nämlich des Umgangs mit weiblichen Strafgefangenen in der Kriminalbiologischen Untersuchung, soll auf einen ausführlichen Vergleich der geschlechtsspezifischen Auslegung zwischen männlichen und weiblichen Gefangenen verzichtet und auf gelegentliche Anmerkungen dazu beschränkt werden. Zudem scheint eine Konzentration auf ausgewählte Untersuchungspunkte und Charakterzüge sinnvoll, vor allem auf „Haltlosigkeit“ und „Leichtsinn“, da sie durchgängig eine wichtige Rolle bei der Beurteilung der Besserungsfähigkeit von Gefangenen spielten. Ein besonderer Blick ist auf die in der Untersuchung gewünschte subjektive Gesamtbetrachtung eine Falles zu richten, da hier der Einfluss lebensweltlicher Evidenzen am stärksten gewesen sein dürfte. Die folgende Darstellung orientiert sich an den beiden Verbrecherinnenbildern, die sich aus den Akten herausarbeiten ließen: Die Verbrecherin als Opfer ihrer selbst zum einen, die Verbrecherin als Täterin zum anderen. Die Trennung spiegelt zwei Zugangsweisen gegenüber Verbrecherinnen, nämlich eine leicht verwunderte Haltung zu dem Umstand, dass diese bestimmte Frau überhaupt kriminell geworden war, und eine direkt auf die Kriminalität einer Frau orientierten Haltung, die sie stärker als aktive Täterin in den Blick rückt. Die Verbrecherin als Opfer ihrer selbst Auguste B.19 war wegen Diebstahls im Rückfall zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis verurteilt worden. Sie gab an, immer aus Dummheit gestohlen zu haben und dann auch noch Gegenstände, die sie gar nicht verwerten konnte oder die nicht der Rede wert waren. Der Untersucher meinte, B. habe einen großen Hang zum Stehlen und könne „nichts liegen lassen“. Sie neige zu Leichtsinn und Haltlosigkeit, sie „bezähme“ sich nur schwer und habe keine Hemmungen. B. sei gar nicht dumm, sie verfalle aber immer wieder der Versuchung und Gelegenheit, weshalb ihre soziale Prognose ungünstig sei. An ihrem Mann habe sie im Übrigen auch keinen Halt, der sei in derselben Diebstahlssache als Hehler bestraft. Durch Strenge (Einzelhaft) könne sie abgeschreckt werden und ihr „verfehltes Leben“ einsehen. Sie sei „eine gar nicht unsympathische Frau […]. Sie fällt infolge widriger Umstände in der Jugend und Willensschwäche immer wieder in die alten Fehler zurück, obwohl sie gar nicht darauf angewiesen wäre“. Auch im Fall der Anna K.20 wird der Verwunderung darüber, dass jemand bei positiver persönlicher „Artung“ kriminell geworden war, Ausdruck verliehen: K., wegen

19 BHStA, Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 21457 (1929). 20 BHStA, Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 23574 (1931).



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Diebstahls im Rückfall zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, sei eine „leichtsinnige Person, die durch eigene Schuld, durch die Lage der Verhältnisse auf Abwege gekommen ist“. Die vorehelich Geborene, die Konditorin gelernt und als Büffettfräulein in einem Hotel gearbeitet hatte, war oft in Stellung, „hätte nicht stehlen und betrügen müssen“, mit ihrer „Intelligenz und Gewandtheit hätte sie sich immer auch ehrlich durchs Leben bringen können“. Für den Untersucher spielten offenbar äußere Umstände die entscheidende Rolle: „Schon im Elternhaus hat ihr scheinbar Erziehung gefehlt.“ Obwohl der K. keine „endogene“, keine aus einer „degenerativen Minderwertigkeit“ entstammende Kriminalität unterstellt wurde, war die soziale Prognose für die „Gewohnheitsbetrügerin“ ungünstig. Die Beispielfälle offenbaren die Perspektive, weibliche Strafgefangene tendenziell als ‚Opfer ihrer selbst‘ zu verstehen. Anders als Viernstein, der scheinbar keine geschlechtsspezifische Form der Haltlosigkeit annahm, führte Birnbaum die Halt- und Widerstandslosigkeit psychopathischer Frauen, die bei ihm nur graduell vom „normalgearteten Weibe“ unterschieden waren, vor allem auf die „kritischen Zeitperioden“ Pubertät, Menstruation, Schwangerschaft und Klimakterium zurück, in denen es „leicht einmal zu kriminellen Entgleisungen“ – zu impulsiven und triebartigen Akten – kommen könne (Birnbaum 1913: 365f.). Zudem stellte er Einflüsse der „habituellen weiblichen Eigenart“ in Rechnung: „Erhöhte Affektivität im allgemeinen, verstärkte Gefühls- und Affekterregbarkeit und gesteigerte Gefühlsentäußerungen, gesteigerte Gefühlslabilität, abnorme Unbeständigkeit, leichter Wechsel und Umschlag der Emotionen, sodann Vorherrschaft des Gefühls im seelischen Leben, Neigung zu gefühlsmäßiger Auffassung, Beurteilung und Bewertung der Dinge, zu gefühlsmäßiger Stellungnahme zu ihnen, Neigung zu instinktiven, impulsiven Handlungen, mangelnde Vernunft- und Verstandesherrschaft: mangelnde Objektivität des Urteils und der Kritik, Hervortreten der Phantasie im seelischen Leben, innere Haltlosigkeit gegenüber auftauchenden Regungen, insbesondere auch gefühlsmäßigen (Stimmungen, Launen und dergl.), erhöhte Beeinflußbarkeit von außen von außen her und herabgesetzte Widerstandsfähigkeit gegen äußere Anreize, Verlockungen und Verführungen.“ (Birnbaum 1913: 371f.)

Widerstands- und Haltlosigkeit sowie äußere Beeinflussbarkeit charakterisierten Birnbaum zufolge den „hysterischen Charaktertypus“, und es sei „kein Zufall, sondern die aus Wesensübereinstimmung hervorgehende Gesetzmäßigkeit“, dass gerade dieser Typ, „der als einfache allgemeine Verstärkung des allgemein weiblichen gilt“ (vgl. auch Uhl 2003: 127-138), auch unter den kriminellen Männern am häufigsten vertreten sei (Birnbaum 1921: 138f.). An den „hysterischen“ Typus grenze der des „Haltlosen“ an; dessen „Grundstörung“ äußere sich in Oberflächlichkeit, Unbeständigkeit und Beeinflussbarkeit, mit Blick auf die „sozialen Anforderungen“ vor allem in Leichtsinn, in Unstetheit, Verführbarkeit und Willensschwäche.

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Und ein Blick in die Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung zeigt: „Haltlosigkeit“ und „Leichtsinn“ wurden in etwa der Hälfte der Fälle des Samples den weiblichen Strafgefangenen zugeschrieben, während diese Quote mit circa 35 Prozent bei den männlichen Gefangenen geringer ist. Auf den ersten Blick erscheint die unhinterfragte, selbstverständliche Synonymsetzung von Emotionalität, Widerstandslosigkeit und Verführbarkeit mit „Frau“ bzw. mit „Verbrecherin“ wie eine Übertragung kriminologischen Wissens über die Frau als Verbrecherin in die Praxis. Dies verkennt meines Erachtens aber die Entstehungsbedingungen dieses kriminologischen Wissens, dass gerade beim Thema „verbrecherisches Weib“ lebensweltliche und die gesellschaftliche Ordnung der Geschlechter reproduzierende Kriterien die Theoriebildung maßgeblich prägten. Sowohl im kriminologischen Diskurs als auch in der Auslegungspraxis der Kriminalbiologischen Untersuchung waren diese Kriterien wirksam; man darf die Übereinstimmung daher nicht als Diffusion eines mit Wahrheitsanspruch auftretenden theoretischen Diskurses in das aufnehmende System der Praxis, hier der Kriminalbiologischen Untersuchung verstehen, sondern als parallele Herstellung und Sicherung der Geschlechterordnung in zwei verschiedenen Wissensfeldern, die sich gegenseitig aufeinander bezogen, um diese vorgängigen, vorurteilsbeladenen Annahmen zu stützen. Die theoretischen Auffassungen Birnbaum erscheinen dann ebenso wie die Auslegungspraxis in der Kriminalbiologischen Untersuchung als Akte des doing gender, der kontextabhängigen geschlechtsspezifischen Auslegung einer geschlechtsneutralen gender-Variablen, der sich in der signifikanten Zuschreibung von „Haltlosigkeit“ und „Leichtsinn“ an Frauen äußert. Ähnliches ließe sich von Begriffen wie „glaubhaft“, „liederlich“, „eigensinnig“, „triebhaft“, „moralisch“ etc. sagen; es gilt aber auch für die Kombination „intelligent, aber leichtsinnig“, der zweite Aspekt, der sich in den Akten im Rahmen der Haltung, Verbrecherinnen als „Opfer ihrer selbst“ zu verstehen, findet. Diese Kombination kommt bei den männlichen Fällen praktisch nicht vor, und dann in der Regel bei besser gestellten Angehörigen des Mittelstands. Bei den sechzig untersuchten Fällen von weiblichen Gefangenen hingegen findet sie sich – in wechselnden Formulierungen – gleich in fünfzehn Fällen, häufig ergänzt durch Zusätze wie: „Sie hätte es gar nicht nötig gehabt …“, „es hätte nicht sein müssen …“. Solch milde tadelnde Kommentare sind in den untersuchten Akten bis auf seltene Ausnahmen21 auf weibliche Strafgefangene beschränkt und deuten auf eine geschlechtsspezifische Auslegung hin: Frauen müssten nicht kriminell werden, vor allem dann nicht, wenn sie intelligent sind. Werden sie es doch, dann ist es regelmäßig der Leichtsinn, der in der Auffassung Viernsteins ja bloß Prinzi-

21 „Schade! Er hätte bei seinen guten Anlagen und seiner nicht unsympathischen Art ein brauchbarer Mensch werden können. Unverbesserlich.“ (BHStA, Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 7135 [1925]).



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pienabschaltung, nicht aber Prinzipienlosigkeit war, der sie zu Fall bringt. Ersetzt man nun das Wort „Intelligenz“ durch „Vernunft“, so klingt hier eine Haltung dem verbrecherischen Menschen gegenüber an, die an das Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“ erinnert. Eine solche Perspektive auf den verbrecherischen Menschen findet sich in der Kriminalbiologischen Untersuchung nicht nur bei Frauen; auch Männern warf man, wie dargelegt, die falsche Gesinnung und einen aus diesem Grund nur selten verbesserlichen „Hang“ zum Verbrechen“ vor. Die Kombination von „Leichtsinn“ und „intelligent“ als Erklärung für die kriminelle Tat einer Frau ist also insofern eine geschlechtsspezifische Auslegung geschlechtsneutraler Kategorien, da hier unterstellt wird, dass bei genügender Intelligenz ausreichend Hemmfaktoren – Prinzipien der „richtigen“ Gesinnung – ausgebildet seien, die einen Widerstand gegen die „natürlichen“ Eigenschaften der Frau ausüben könnten. Waren diese Prinzipien, war also „Intelligenz“ grundsätzlich vorhanden, dann war es aus der Perspektive der Untersucher scheinbar nicht einzusehen, warum jemand kriminell wurde – es sei denn, es handelt sich um eine, in Diskurs und Lebenswelt ohnehin als „gefühlslabil“, „emotional“, „widerstandslos“ und „beeinflussbar“ gedachte, Frau. Waren die Untersucher nun aufgrund einer solchen Perspektive, der leichteren Beeinflussbarkeit „der Frau“ durch äußere Einflussfaktoren wie Erziehungsbemühungen, auch geneigt, die weiblichen Strafgefangenen eher milder zu beurteilen, auch was ihre Besserungsfähigkeit angeht? Eine mildere Beurteilung könnte sich in Formulierungen ausdrücken, die einer diskursiven Äußerung von Birnbaum ähneln, dass nämlich die „natürlichen“ Eigenschaften der Frau „durch äußeren Anreiz und Verlockung erzeugte ‚Haltlosigkeits‘-Vergehen“ wie Gelegenheitsdiebstählen (Birnbaum 1913: 373) begünstigten – bezeichnenderweise nennt Birnbaum diese Diebstähle verharmlosend „Vergehen“. Solche Äußerungen tauchen in den untersuchten Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung nicht auf. Zählt man die sozialen Prognosen aus, so findet man ein Urteil auf Besserungsfähigkeit in etwas mehr als fünfzig Prozent bei den weiblichen, in circa vierzig Prozent bei den männlichen Strafgefangenen. Dies würde eine Debatte im Diskurs auch für die Handlungsebene bestätigen: Die Wahrscheinlichkeit der Besserung von Frauen wurde scheinbar höher eingeschätzt (Uhl 2003: 34). Und qualitativ betrachtet ist es bemerkenswert, dass signifikant viele Frauen als Gewohnheitsverbrecherinnen bezeichnet werden und trotz mehrerer auch einschlägiger Vorstrafen eine günstige soziale Prognose bekommen. Das ist bei den Männern in der Regel nicht so. Dem Urteil der Besserungsfähigkeit (meist mit Einsicht und Reue begründet) steht jedoch eine ebenso große Zahl von deutlichen Urteilen auf Unverbesserlichkeit gegenüber. Und das (bis auf zwei Ausnahmen) bei den Frauen, denen „Intelligenz“ und „Leichtsinn“ bescheinigt wurde, ebenso bei jenen aus dieser Gruppe, von denen der Untersucher meinte, sie hätten das Verbrechen „gar nicht nötig gehabt“. Es zeigt sich also, dass die Verbrecherin, wird sie als „gefallener Mensch“ klassifiziert, eine schärfere Beurteilung erhielt. Vielleicht deshalb, weil „in-

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telligent“ auch „einsichtsfähig“ meint, Einsichtsfähigkeit in die erwartete Geschlechter-Rolle, von der die Verbrecherin abweicht; und wenn es „nicht hätte sein müssen“, dann liegt hier gleichsam ein schuldhaftes Ausleben einer falschen Gesinnung vor, das leicht in einen unverbesserlichen „Hang zum Verbrechen“ münden könnte. Die Verbrecherin als Täterin Bekanntlich wurden die Untersucher angehalten, einen subjektiven Eindruck zu notieren. Beispiele für solche subjektive Eindrücke finden sich in den Akten tendenziell eher bei den untersuchten Frauen, und zwar sowohl nach der positiven („Ein sympathisches, etwas geziertes Bauernmädel“22) wie nach der negativen Seite („Wirkt nach Gesamthabitus abstoßend. Ausgiebige Gefängnisroutine. Verlorenes Menschenkind“23) hin. Vergleichbare Formulierungen finden sich in den „Männerakten“ nur selten. Dies mag, es sei unterstellt, in der Neigung der männlichen Untersucher begründet sein, Frauen auch – und nicht erst in letzter Konsequenz – nach ihrem Äußeren zu beurteilen, vor allem, weil ja explizit auf die „gewöhnlichen Lebensbeziehungen“ abgestellt wird. Der gewünschte subjektive Eindruck, so wäre vielleicht zu erwarten gewesen, sollte doch nun jener Moment sein, wo über die abwertende Beschreibung des Untersuchers eine diskriminierende „Vermännlichung“ der „verbrecherischen Frau“, ein Absprechen von Weiblichkeit, einbricht. Die Formulierung aus dem Werk von Cesare Lombroso und Guglielmo Ferrero über Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte, wonach die Annäherung an den männlichen Typus den Kern des kriminellen Charakters der Frau ausmache, ist zwar aufgrund seiner Physiognomiegläubigkeit bald kritisiert worden, doch konnte man gerade in der Kriminalbiologischen Untersuchung das Bestreben vermuten, „im Weibe vor allem das specifisch Weibliche“ zu suchen und, „wenn wir das Gegentheil finden“, auf eine „enorme Anomalie“ zu schließen (Lombroso/Ferrero 1895: 351). Der professionalisierte Blick des Strafvollzugsbeamten, der die auf Ansehung beruhende Untersuchung durchführte, mag solche „enormen Anomalien“ vielleicht wahrgenommen haben; einen Niederschlag in einer konkreten Formulierung hat diese diskursive Strategie aber nicht gefunden. Die wegen Diebstahls verurteilte Maria B.24 sei, so der Untersucher 1936, eine „wenig ansprechende Erscheinung. Augen voll Falschheit“. Sie sei arbeitsscheu und betreibe heimliche Prostitution, jammere über Not, die sie doch selbst verschuldet habe. In ihr sei eine „vorwiegend endogene, d.h. persönlichkeitsbedingte Kriminelle“ zu sehen, „ethisch defekt, Strafen bleiben für Änderung wirkungslos“, und die Strafe habe bei ihr nur den Zweck, sie „eine zeitlang [sic] nützlich zu beschäftigen“. Eine andere Gefangene,

22 BHStA, Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 14191 (1930). 23 BHStA, Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 20696 (1930). 24 BHStA, Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 7064 (1936).



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ebenfalls Maria B. mit Namen,25 „Händlerin, gehört zu den umherziehenden Leuten“, konnte den Untersucher dagegen für sich einnehmen: Von Jugend auf verwahrlost, suche eben auch sie, mit 18 Kindern, 12 davon unehelich, zu leben. Sie sei glaubhaft, eine resolute, intelligente und redegewandte Frau, die zwar keine sittlichen Hemmungen habe, doch trotz ihrer Verkommenheit könne man ihr nicht alle Achtung versagen, weil eben die „Straftaten das letzte Mittel immer sind, zu dem sie greift, um ihren Lebensunterhalt zu haben.“ Aus diesem Grunde sei die soziale Prognose ganz ungünstig, und dennoch: „Auch ihre Offenheit berührt sympathisch.“ Eine 18fache Mutter, allein erziehend, löste offenbar – im Rahmen des zeitgenössischen gendersetting – trotz ihrer Taten ein gewisses Mitleid aus. Zudem stellte der Untersucher die B. als „sorgende Mutter“ hin; ein Akt des alltäglichen doing gender, der die herrschende Geschlechterordnung in einer performativen Interaktion fort- und festschrieb. Der diskursive Akt des doing gender hingegen, Verbrecherinnen ihre Weiblichkeit ab- und männliche Attribute negativ zuzusprechen, hat in der Kriminalbiologischen Untersuchung keine Entsprechung, weder durch die Zuschreibung äußerer Merkmale, noch in den narrativen Passagen über die Verbrechensursachen und auch nicht in den Persönlichkeitsbeschreibungen. Auch der Blick auf die Delikte zeigt keine Differenzierung: Während im Diskurs eine „andersartige“, tendenziell männlich gedachte Kriminalität der Frau bei Gewaltverbrechen wie etwa Mord oder Totschlag angenommen wurde (Jassny 1911: 104-106), macht die wegen Mordversuchs zu dreieinhalb Jahren verurteilte Dorothea B.26 einen anderen Eindruck auf den Untersucher: Sie sei ihrem „wirtschaftlich bummlerischem Mann überlegen“ gewesen und habe folglich nicht mit ihm auskommen können; sie wollte ihren Mann ermorden, um ihren Liebhaber heiraten zu können. Der Untersucher beschreibt B. als offen, heiter, nun ernst, dankbar, ihren Kindern und Angehörigen gegenüber warm, gesellig und geschäftlich tüchtig. Sie sei einsichtig und weine, da sie sich die Strafe sehr zu Herzen gehen lasse. „Echte“ Einsicht und Reue, vor allem aber die familiäre „Wärme“ der Dorothea B. waren für den Untersucher die ausschlaggebenden Faktoren für seine positive Prognose, entsprachen sie doch der erwarteten Geschlechter-Rolle. Der geforderte subjektive Eindruck rückte die Verbrecherin als aktive Täterin in den Blick, indem der Untersucher seine Wahrnehmung vor dem Hintergrund seines Wissens um die Tat der Frau ganz auf sein Gefühl ihr gegenüber konzentrieren konnte. Und doch finden sich nur die Formulie-

25 BHStA, Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 23752 (1929). 26 BHStA, Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 7075 (1932). Ähnlich gelagert sind zwei andere Fälle von Mord bzw. Totschlag (BHStA, Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 3836 [1925] und 14103 [1933]) und auch bei Kindsmord (der einzige Fall meines Samples: BHStA, Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 7969 [1936]).

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rungen, die im breiten Repertoire der Kriminalbiologischen Untersuchung zur Charakterisierung bereit standen. Eine geschlechtsspezifische Auslegung, die auf ein außerhalb der eigentlichen Aussage liegendes „Mitgesprochenes“ verweist, lässt sich für die lebensweltliche und diskursive Annahme, bestimmte Verbrecherinnen hätten „männliche“ Eigenschaften, kaum explizieren – selbst in Tiraden wie jener über Luise A.,27 die eine „geistig und moralisch minderwertige, haltlose, debile, lügenhafte, bummlerische, debile Psychopathin“ sei, nicht. Auch in diesem Befund ist die Beobachtung bestätigt, dass in der Kriminalbiologischen Untersuchung die Ansicht des jeweiligen Einzelfalls bedeutsam war, der zudem nicht aus der Perspektive eines Wissenschaftlers beurteilt wurde, sondern aus der eines professionalisierten Strafanstaltsangestellten, der einerseits durch die Erfahrungen des Anstaltsalltags, andererseits durch sein lebensweltliches Orientierungs- und Ordnungswissen – durch seine „gewöhnlichen Lebensbeziehungen“ als Mann – geprägt war. Zudem kann vermutet werden, dass der Fragebogen als rationalisierendes Formular den interessanten Effekt hatte, Distanz und damit einen gewissen Grad an Unabhängigkeit von Geschlecht oder Delikt zu schaffen – ohne dass diese Unabhängigkeit schon Objektivität genannt werden könnte. Durch den Filter des Formulars scheint der Untersucher in einem gewissen Rahmen vom Einzelfall zu abstrahieren; das doing gender wurde damit allerdings gewiss nicht verhindert. Fazit Es zeigt sich also, dass der kriminologische Diskurs über Verbrecherinnen nicht einfach linear in ‚die Praxis‘ diffundierte. Dies war, wie eingangs des Abschnittes erwähnt, nur in einem zudem uneindeutigen Fall erkennbar, in dem der Diskurs zumindest rezipiert wurde, wenn er auch tatsächlich keine Anwendung fand. Die Kripo Augsburg forderte 1941 im Zuge eines Verfahrens zu „vorbeugender Verbrechensbekämpfung“ ein kriminalbiologisches Gutachten über Anna G.28 an. Der außerehelich geborenen G. war der Vater unbekannt, die Mutter „im Prinzip“ unbekannt; sie war mit zwei Jahren in ein Waisenhaus gekommen, dann mit neun Jahren zur Großmutter, die sie nach eigenen Angaben zu Bettel und Diebstahl angehalten habe. G. kam dann wieder in ein Waisenhaus. Sie arbeitete als Küchenmädchen und in Fabriken, war zwei Jahre auf Wanderschaft und lebte vom Betteln. G. war bereits 1931 und 1935 kriminalbiologisch untersucht worden. Das Gutachten von 1931 beschrieb die Gefangene als debile, unverbesserliche Zustandsverbrecherin, als gewohnheitsmäßige und gewissenlose Ladendiebin. Der Untersucher von 1935 brachte ein gewisses Verständnis für die Lage der G. auf: „Man wird zugegeben, daß die Armseligkeit ihrer Existenz vielfach mitbewegendes Motiv in der sozialen Lebensführung der G. war, aber

27 BHStA, Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 3648 (1935). 28 BHStA, Akten der Kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 1044 (1935).



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die Grundlage und vorwiegende Ursache ist doch die persönliche Artung. Sie selbst hat gestanden, daß sie durch den Anblick eines offen daliegenden Warenlagers allen inneren Widerstand verliere, es überkomme sie dann der Drang zu stehlen.“ Dann folgt der angesprochene Hinweis auf den kriminologischen Diskurs: Es sei hier „nicht der Platz sich über die vielfach noch strittige Psychologie des Warenhausdiebstahls (Zwangshandlungen, sexuelle Motive etc.) zu verbreiten. Sicher ist, gleichgültig wie die tieferen seelischen Zusammenhänge in solchen Diebinnen sich gestalten mögen, daß ein Kaufmann ein Anrecht besitzt, sich sein Warenlager nur gegen Entgelt verkleinern zu lassen. Und weiterhin ist es sicher, daß in den allermeisten Fällen von Laden- und Warenhausdiebstählen und so auch in unserem vorliegenden Falle, das ganz gewöhnliche Diebsstreben vorliegt, sich ein Gut ohne Gegenleistung zu erwerben.“

Die ironische Formulierung bezieht den für den Untersucher strittigen theoretischen Hintergrund von Ladendiebstahl gleich wieder zurück auf den konkreten Einzelfall, der G., die „eine alte, gerichtsbekannte Ladendiebin“ sei. Eine theoretische Begründung für Ladendiebstahl scheint hier auch nicht nötig gewesen zu sein, denn: Bei dem ethischen Tiefstand ihres Wesens, der außerdem durch Jugenderziehung und umweltliche Verhältnisse schicksalsmäßig nie eine Hebung und Korrektur erfahren habe, sei die Prognose auch weiterhin durchaus so schlecht, wie sie vor Jahren eingeschätzt wurde. Und erschwerend kam hinzu: „Nachdem die G. auch, wie ihre letzte Bestrafung erwiesen hat, die großen Anstrengungen der deutschen Volksgemeinschaft in Gestalt des Winterhilfswerkes herabgesetzt und verleumdet hat, tut man ihr wohl nicht unrecht, wenn man sie eines Mangels an wünschenswerter Aufgeschlossenheit und guten sozialen Willens bezichtigt.“ Die Gefangene bedürfe nach kriminalbiologischem Ermessen mindestens einer polizeilichen Überwachung, wenn nicht bei den gegenwärtigen schwierigen Verhältnissen der Kriegszeit einer Inschutzhaftnahme.

Mapping Criminality – Die Kriminalbiologische Sammelstelle

Wie im Kapitel über die Einrichtung von Kriminalbiologischer Untersuchung und Sammelstelle ausgeführt, wurde nur sechs Monate nach der Etablierung der Kriminalbiologischen Untersuchung auch die Sammelstelle eingerichtet – bei der Verwaltung des Zuchthauses Straubing, mit Viernstein als Leiter. Die Zweitschriften sämtlicher Untersuchungen und ergänzende Unterlagen wie Heimatbögen und Auszüge aus der Personalakte von allen in bayerischen Gefängnissen durchgeführten Kriminalbiologischen Untersuchungen sollten dort gesammelt werden. Die Praxis der Kriminalbiologischen Sammelstelle ist schnell mit ihren Aufgaben beschrieben: Sammlung und Archivierung der kriminalbiologischen Untersuchungsakten, Vorbereitung des Fernziels eines „erbbiologisches Katasters“ zunächst der „verbrecherischen Bevölkerungsschicht“ mittels der Erfassung der Gefangenen und ihres Verwandtenkreises, tendenziell aber der gesamten Bevölkerung im Rahmen einer erbbiologischen Erfassung, Bereitstellung und Aufarbeitung der Untersuchungen in Gutachtenform für beantragende Strafverfolgungsbehörden, Bereitstellung des Materials für massenstatistische Untersuchungen und die Forschung. Zwei dieser Aufgabenbereiche – Sammlung, Archivierung, Erfassung und die Gutachtenabgabe – sollen dargestellt werden.1

S AMMLUNG , E RFASSUNG UND ERBBIOLOGISCHE B ESTANDSAUFNAHME Die Sammlung und Archivierung der kriminalbiologischen Untersuchungsakten war mit einem erheblichen Aufwand verbunden, zumal nicht nur die Untersuchungsakten selbst aufbewahrt wurden, sondern man auch noch je-

1

Für die Darstellung, wie das Material der Sammelstelle von der Forschung aufgenommen und verarbeitet worden ist sei auf die Studie über die kriminalbiologische Forschung an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie von Wetzell verwiesen (Wetzell 2003).

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den einzelnen untersuchten Strafgefangenen sowie jede in einem Untersuchungsakt genannte Person aus dem Verwandtschaftskreis des Probanden auf einer eigenen Karteikarte verzeichnete. Die Zahl der Untersuchten ging rasch in die Tausende und die der zusätzlich karteimäßig erfassten Personen aus dem Verwandtschaftskreis in die Zehntausende. Da man pro Jahr circa 1.500 Berichte erhielt, hatte man schon nach 1927 4.435 Fälle im Gesamtbestand, zudem 335 Nachberichte, dazu kamen 2791 anthropometrische Messungen sowie fünfzig Gutachten; 1933 waren es schon ca. 21.000 Ausgangsfälle mit ca. 140.000 weiteren erfassten Personen.2 Zunächst verfolgte die Sammelstelle zur Archivierung der Akten eine mehrteilige Lösung – Ablage, Karteikarte und statistische Notierung. Jeder Befundbericht sollte mit einer Nummer versehen und alphabetisch abgelegt werden. Gleichzeitig wurde jeder Gefangene auf einer farbigen Karteikarte erfasst: „Affektverbrecher“ auf einer roten, „Gewohnheitsverbrecher“ auf einer grünen und „Gelegenheitsverbrecher“ und strittige Fälle auf einer blauen Karte. Auf den Vorder- und Rückseiten der Karteikarten wurden die wichtigsten Angaben über den erfassten Strafgefangenen (Verwahrungsort, Name, Geburtsstand und -tag, Grund und Dauer der Verwahrung, frühere Verwahrung, Nummer der Sammelstellenregistratur) notiert. Dieses von Viernstein vorgeschlagene Farbsystem für die verschiedenen Verbrechertypen sorgte für einen schnellen Überblick, indem es schon auf den ersten Blick eine entscheidende Auskunft über den Gefangenen gab. In dem Moment aber, in dem die Karte für eine erneute Bearbeitung aus der Kartei genommen wurde, gab sie damit auch ein Urteil preis, das die weitere Beschäftigung mit dem Gefangenen beeinflusst haben dürfte. Darüber hinaus sollten zur Vorbereitung der Auskunftserteilung und für die wissenschaftliche Nutzbarmachung eine übersichtliche Verarbeitung der Ergebnisse erfolgen. Dafür wurden für jede der Verbrechergruppen „biostatistische Tabellen“ angelegt, in denen in 177 Spalten die Angaben zur Familie und zu den Verwandten, über Ausbildung und Beruf, über das psychische Bild des Gefangenen, über die Ehefrau des Untersuchten und deren Familie sowie die Zahlen der biometrischen Untersuchung eingetragen werden sollten. Für jeden Gefangenen gab es eine Zeile, die Angaben erfolgten nach einem numerischen Schlüssel.3 In diesem Umfang und als Formular, das nur mit einem Schlüssel auflösbare Angaben über alle erfassten Gefangenen auf einem Blatt zusammenfasste, waren die biostatistischen Tabellen für eine Auswertung, vor allem für den raschen Blick auf die Angaben zu einem Gefangenen wenig praktikabel. Außerdem fehlte es der Sammelstelle an Personal für die statistische Aufarbeitung. Mit der Ministerialentschließung vom 14. Dezember 1927 beschloss das Justizministerium daher, dass

2 3

Ministerialentschließung 54661 v. 14.12.1927 (Stufenstrafvollzug, Bd. 2: 26; auch: Viernstein 1936: 6). Ministerialentschließung 4326 v.8.5.1925 (Stufenstrafvollzug, Bd. 1: 102-110).

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die biostatistischen Tabellen wegfallen und durch so genannte „Individualzählkarten“ ersetzt werden sollten.4 Insgesamt sollten fünf Zählkarten für jeden Untersuchten angelegt werden, wobei die erste Zählkarte Angaben über die Familie und solche über den Beruf enthielt, die zweite über die Erziehungsverhältnisse, die Schulbildung, Berufswahl, Militärdienst, Heirat, wirtschaftliche Verhältnisse und „etwaige sozial wichtige Suchten“. Zählkarte III sollte die juristisch-kriminologisch bedeutsamen Aspekte zusammenfassen, während sich Zählkarte IV auf Angaben über Charakter, Intelligenz und über die etwaige Vererbung kriminogener Faktoren bezog. Die fünfte Zählkarte enthielt die anthropologisch-beschreibenden Angaben. Daneben entstand die Zettelkartei über sämtliche in den kriminalbiologischen Befundberichten namentlich aufgeführten Personen aus dem Verwandtschafts- und Schwägerschaftskreis der untersuchten Gefangenen: Jede in einem Bericht genannte, mit dem Untersuchten verwandte oder verschwägerte Person wurde mit der Nummer des Berichtes, in dem die Person erwähnt war, auf einer eigenen Karteikarte eingetragen. Bestrafte Personen wurden rot unterstrichen. Auf diese Weise solle die Kartei dazu dienen können, schnell Anfragen zu beantworten, die von Seiten der Strafverfolgungsbehörden an die Sammelstelle über die Familienzusammenhänge irgend einer kriminell auffällig gewordenen Persönlichkeit gestellt werden; wichtiger aber noch: Auf lange Sichte solle mit dieser Erfassungspraxis ein erbbiologisch und erkennungsdienstlich nutzbarer Gesamtüberblick über die kriminellen Familien und Bevölkerungsschichten gewonnen werden.5 Diese Praxis der umfassenden Registratur von Verbrechern und ihres Verwandtenkreises zielte auf die Erfassung der, wie Viernstein sie nannte, „Verbrechen erzeugenden Schichten“. Damit hatten er und mit ihm das Justizministerium eben jene gefährlichen Klassen zum Gegenstand der Erfassung gemacht, die sich vor allem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Topos im kriminalpolitischen Diskurs fanden. Bereits 1840 erschien „Des classes dangereuses de la population dans les grandes villes et des moyens de les rendre meilleures“ des Pariser Polizeifunktionärs Honoré-Antoine Frégier (1789-1860), das schnell in verschiedene Sprachen übersetzt wurde und in dem er eine topographie morale von Paris entwarf. Anhand der Zählung von Bettlern, Prostituierten und Absteigen versuchte Fregiér einen Moralitätsindex einzelner Quartiere zu ermitteln. Neben der geografischen Lokalisation des Verbrechens und seiner vorgeblichen Objektivierung fand Fregier eine Verbindung zwischen den Orten der Armut, der Armut überhaupt, und der Kriminalität: Die Klasse der Armen und Lasterhaften sei „schon immer die fruchtbarste Brutstätte aller Übeltaten gewesen und wird es für alle Zeit bleiben. Diese Klasse wollen wir ganz speziell als gefährliche Klasse bezeich-

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Ministerialentschließung 54661 v.14.12.1927 (Stufenstrafvollzug, Bd. 2: 51f.). Ebd., S. 52.



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nen, denn selbst wenn die moralische Schwäche nicht von Böswilligkeit begleitet ist, so ist sie doch dadurch gefährlich, daß sie sich bei einem und demselben Individuum mit der Armut zusammenfindet. Die soziale Gefahr wächst und wird immer drängender, je mehr der Arme seine Lage durch seine Laster und, was noch schlimmer ist, durch Müßiggang verschlechtert.“ (Fregier 1840; zit. n.: Mechler 1970: 127)

Eine ähnliche Studie legte zu Beginn der 1860er Jahre der britische Journalist Henry Mayhew (1812-1877) für die Unterwelt Londons vor. Er unterschied „Arbeiter“ und „Nicht-Arbeiter“ und subsumierte, wie Frégier, unter die Gruppe derer, „die nicht arbeiten wollten“, Landstreicher, Bettler, Gauner, Diebe und Prostituierte. In deren Weigerung zu arbeiten sah Mayhew, auch wie der Franzose, die wichtigste Ursache für ihre Kriminalität. Die Situation des „deutschen Gaunerthums“ beschrieb Benedikt Avé-Lallement (1809-1892) in einem mehrbändigen, zwischen 1858 und 1861 erschienen Werk die gefährlichen Klassen. Mit „Gaunerthum“ hatte Avé-Lallement aber vor allem professionelle, Berufsverbrecher also, im Blick, die mit Verbrechen ihren Lebensunterhalt bestritten. Auch er sah, wie seine französischen und englischen Pendants, den Grund für Kriminalität in Arbeitslosigkeit und Müßiggang (Wetzell 2000: 26). Richard Wetzell fasst die drei zentralen Themen dieser Veröffentlichungen konzise zusammen: habituelle Indisponiertheit gegenüber Arbeit als Ursache von Kriminalität, Verbrechen und Armut als Zeichen des moralischen Versagens von Angehörigen der gefährlichen Klassen und das Verhältnis zwischen den gefährlichen Klassen und der Gesamtgesellschaft, das schon in der Verwendung eines eigenen Begriffs für einen Teil der Gesellschaft –“gefährliche Klassen“ – ein Verhältnis der sozialen Distinktion implizierte (Wetzell 2000: 27). Das Konzept der gefährlichen Klasse wurde schnell zu einem kriminologischen Topos, auf den schon Liszt zurückgegriffen hatte. Als negatives Spiegelbild zur bürgerlichen Gesellschaft, als Unterwelt konzipiert, gehörten berufsmäßig operierende Eigentumsverbrecher, rückfällige Vagabunden, Prostituierte, auch politische Verbrecher zur gefährlichen Klasse; ihnen allen gemeinsam sei eine defizitäre Persönlichkeit, die sie zu Angriffen auf fremdes Eigentum motiviere, sie gegen Disziplin und Arbeitsfleiß stelle und zum Kampf gegen die bestehende gesellschaftliche und politische Ordnung bringe. War der Topos lange Zeit gemäß dem Erzählmuster vom „gefallenen Menschen“ und der darin postulierten Unterwelt moralisch, kriminalsoziologisch und -geografisch fundiert, so kam mit dem Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ auch in Bezug auf die gefährlichen Klassen ein pathologisierender Blick hinzu. Bei Liszt etwa, der von der „Sozialkrankheit Proletariat“ sprach, aber auch bei Kraepelin, der bei seinen Überlegungen zum „Verbrechen als sozialer Krankheit“ vom „gefährlichen psychopathischen minderwertigen Rückfalls-, Gewohnheits- und Berufsverbrecher“ ausging und schlussfolgerte, dass die Vorstellung, dass Verbrecher Menschen seien wie alle anderen, gänzlich unhaltbar sei. Denn wer sich die Mühe mache, diese „Schar von Elenden“, „wie sie unsere Gefängnisse, Zuchthäuser und

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Arbeitshäuser bevölkern“, genauer zu mustern, werde dies bald genug erkennen; ganz überwältigend aber sei „der Eindruck, den man empfängt, wenn man einmal einige Hundert Zuchthaussträflinge oder Landstreicher unmittelbar nebeneinander“ sehe: „[...I]n der Gesamtheit tritt es mit verblüffender Deutlichkeit zutage, daß wir es hier mit einer Auslese aus der menschlichen Gesellschaft zu tun haben, deren Minderwertigkeit sich auch schon in ihrer körperlichen Eigenart kundgibt“ (Kraepelin 1906/07: 261f.). Kraepelin evozierte in seinem Aufsatz ein überaus düsteres Bild: Eine „Schar von Elenden“ „bevölkert“ die Gefängnisse, in denen man einen guten Eindruck von jenen „einigen Hundert“ Kriminellen und ihrer minderwertigen Anlage bekommen könne. Eine amorphe „große Masse“ von „Gesellschaftsfeinden“ – „unverbesserliche Eigentumsverbrecher“, „Bettler und Landstreicher“, „Berufsverbrecher“, die ihren Lebensunterhalt mit kriminellen Handlungen sicherten –, standen nach Auffassung Kraepelins in einem Kampf gegen die Rechtsordnung. Und diese „Auslese aus der menschlichen Gesellschaft“ bedrohe mit ihrer an ihrem Äußeren erkennbaren „Minderwertigkeit“ die biologische Integrität der Gesellschaft. Damit implizierte Kraepelin eine biologische Bedrohung durch eine verbrecherische Masse. Nur wenige Jahre später ergänzte der Kriminologe Hans Gross (18471915) dieses Bild um das sozialselektionistische Argument, dass durch Gesundheitsfürsorge Schwache geschützt würden, die aber eine sowohl biologische wie rechtsbrechende Gefahr für die Gesellschaft seien: „Wir pflegen alle unrettbar Kranken […]. So kommt es nicht nur dazu, dass die Menschen heute fast vollends in Pfleger und Gepflegte, Schützer und Beschützte, Leidende und Tröster zerfallen, sondern dass durch unser fortwährendes Erhalten, Retten und Versorgen Ruinen von Menschen existieren, deren Nachkommen das ungeheure und so verderbliche Heer der Degenerierten bilden“ (Gross 1907: 79). Wie schon bei Liszt zog die Bezeichnung der „Degenerierten“ als „Heer“ andere Kampfmetaphern nach sich, aber auch die Legitimität eines Gefühls, gegen dieses „Heer“ kämpfen zu können, ja zu müssen. Doch nicht nur ein Kampf gegen einen „verderblichen“ Feind mit quasi-militärischen Mitteln schien in dem subtilen Appell an einen biologischen und rechtschaffenen Patriotismus denkbar; diese Konstruktion des Anderen instrumentalisierte das christliche Bild der Nächstenliebe – und pervertierte es zugleich: Das christlich-humanitäre Aufgerufensein des Einzelnen und der Gemeinschaft zur Pflege Bedürftiger wurde hier beinahe verdreht, wohl zumindest aber als Strategie eingesetzt. Die Teilung der Gesellschaft in Pfleger und Gepflegte, so fragwürdig sie ohnehin ist, pathologisierte zum einen den ‚zu pflegenden‘ Teil; zum anderen machte es aus diesem Teil unrettbar verlorene „Ruinen von Menschen“ und suggerierte, dass diese die altruistischen Anstrengungen ohnehin nicht verdienten. Sie produzierten, so das Argument, allein Kosten – auf Kosten der Gemeinschaft – die sich als „Pfleger“ aufopfere. Ganz umsonst jedoch und zu Lasten der Zukunft, da die Nachkommen dieser „Ruinen“ eben jene große Masse von „Degenerierten“ nur noch vergrößerten. Und so zeichnete auch Gross eine doppelte Be

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drohung: durch Degeneration und durch eine Masse, das „Heer der Degenerierten“, das er als „ungeheuer“ bezeichnete und das den Topos von den gefährlichen Klassen biologisch über die gefährlichen Individuen auf weitere „pflege“bedürftige soziale Gruppen, ausweitete. Bedeutsam erscheint in diesem Argumentationsmuster neben der selektionistisch-rassenhygienischen Konnotation die Beschreibung der gefährlichen Klasse als „Masse“. Masse kann, und das dürfte mit Blick auf diesen Diskurs plausibel sein, analytisch verstanden werden als „das Resultat von angstbesetzter Wahrnehmung und Verdrängung; sie ist die Chiffre für eine Leerstelle, aber keine soziale Realität“ (König 1992: 111). Es ist dies eine Leerstelle mit immanenter Anreizung zur phantasievollen Ausdeutung. Was in Bezug auf die gefährlichen Klassen der Rede von der Masse zugrunde zu liegen scheint (das Postulat der Massenhaftigkeit von kriminellen Erscheinungen, die Anbindung dieser Erscheinungen an die unteren Gesellschaftsschichten und ein Gefühl der Bedrohung), kann als Teil des zeitgenössischen Massediskurses identifiziert werden: Dieser Diskurs speiste sich einerseits aus den realen Erfahrungssubstraten der Aufstände und Revolutionen des 19. Jahrhunderts und einer damit verbundenen Revolutionsfurcht sowie aus den beschleunigten Vermassungseffekten infolge von Urbanisierung und Industrialisierung. Andererseits hatte er einen Ursprung in der subjektiven Wertung von Masse als Inbegriff des Diffusen, des amorphen Gestalt- und Qualitätslosen, der erdrückenden Quantität (König 1992: 17 und 115). Königs Beschreibung des Massediskurses bringt nun genau zum Ausdruck, dass es sich bei Masse eben um eine Projektionsfläche mit wenig bis keinem physischen Substrat handelt. Masse werde erst im Diskurs über sie als eine eben solche konstituiert und erscheint damit als „sozialwissenschaftlicher Distanzierungsbegriff schlechthin“, denn Masse sei „nur der Name, der in einer bestimmten historischen Situation einem theoretischen und praktischen Komplex gegeben wird. Er dient [...] dem Ausmessen und der Festlegung von Distanzen; er bietet denjenigen, die sich am Diskurs beteiligen oder von ihm profitieren, die Möglichkeit, sich ihres gesellschaftlichen Ortes zu vergewissern. Masse ist, so scheint es, nur der Anlass, an dem sich die Restrukturierung des sozialen Raums der Macht entzündet.“ (König 1992: 120f.)

Und so war im Diskurs über die gefährlichen Klassen für das Problem der Kriminalitätsfurcht weniger die Angst vor einer Revolution bedeutsam, als vielmehr die Rolle der „erdrückenden Quantität“, die in Kriminalstatistiken – und nicht zuletzt beim bloßen Anblick der in der Kriminalbiologischen Sammelstelle gelagerten, Tausenden Untersuchungsakten und über Hundertausend Karteikarten – scheinbar objektiviert und für die Kriminalpolitik operationalisiert werden konnte. Objektivierung und Operationalisierung von Quantität beruhen auf der Vorstellung, Aufschreibesysteme und deren Repräsentation von Wissen als Indikatoren der gesellschaftlichen Wirklichkeit sehen zu dürfen – im Bezug

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auf das Verbrechen etwa Kriminalstatistiken als Indikatoren der Kriminalitätswirklichkeit. Methodisch gesehen stellen gerade Kriminalstatistiken, die in Deutschland mit der Einführung der Reichskriminalstatistik seit 1882 systematisch erstellt wurden, natürlich nur eine vermittelte Wirklichkeit dar, eine Tatsachenwirklichkeit im Sinne der im Kapitel über die Wissensgenerierung in problemorientierten Wissenschaften beschriebenen Prozesse der Entsubjektivierung, Dekontextualisierung und Quantifizierung von Sozialerfahrung. Auf der einen Seite zeichnen sich Kriminalstatistiken durch einen hohen Abstraktionsgrad und ein hohes Maß an Objektivierbarkeit aus, müssen aber auf der anderen Seite interpretiert werden, um handlungsrelevantes Wissen zu liefern, wobei diese Interpretationen nicht frei von moralischen und weltanschaulichen Vorurteilen blieb (Fleiter 2007: 177). Kriminalstatistiken sind daher höchst ambivalente Instrumente: Berücksichtigt man, dass Kriminalstatistiken Kriminalität als Phänomen – als absolute Zahl, als empirische Summe von Verbrechen – im Gegensatz zur einzelnen Straftat überhaupt erst konstituieren, dann sind Kriminalstatistiken trotz aller methodischen Unzulänglichkeit zugleich auch schon Wissen vom Verbrecher. Berücksichtigt man jedoch auch, dass Kriminalstatistiken – auf methodisch unreflektierte Weise – nicht zuletzt von Franz Liszt herangezogen wurden, um auf eine Effizienzkrise des Strafvollzugs hinzuweisen und diese kriminalpolitisch zu dramatisieren, dann sind Kriminalstatistiken nicht als (oft kontrafaktische) soziale Indikatoren, sondern in erster Linie als sozialtechnologische Instrumente und damit in ihrer Wirkung als Faktoren der Kriseninitiierung zu verstehen, die wiederum in kriminalpolitische Handlungsweisen umgesetzt werden können. Aber: Kriminalstatistiken sagen „wenig oder gar nichts über die Kriminalitätswirklichkeit, sie verraten allenfalls etwas über den Zustand der am Strafverfolgungsprozeß beteiligten Organe und ihrer Strategien. Dies ist aber nicht die ‚Kriminalität‘ als gesellschaftliche Erscheinung“ (Melchers 1992: 334). Als kriminalpolitisch instrumentalisierte Aufschreibesysteme waren die Kriminalstatistiken somit von Beginn an von einem sozialmoralischen Zug geprägt – wenn auch nicht in der Erhebung und Präsentation der Daten (es waren zunächst bloße Geschäftsstatistiken, in denen die Zahl der Verurteilungen summiert war), wohl aber in ihrer Interpretation zum Zweck kriminalpolitischer Argumentation. Dies begann schon mit der Konstruktion der Sittlichkeit statistischer „Durchschnittsmenschen“ mit Hilfe der so genannten Moralstatistik. Als deren Aufgabe hatte Alexander von Oettingen (18271905) benannt, in „messbarer und präcis bestimmbarer Weise die collective sittliche Massenbewegung, so zu sagen die collective Sittlichkeit gewisser zusammengehöriger Menschheitsgruppen“ zu offenbaren; der Untertitel seines einflussreichen Werkes zur Moralstatistik aus dem Jahr 1868 lautet daher auch: „Inductiver Nachweis der Gesetzmäßigkeit sittlicher Lebensbewegung im Organismus der Menschheit“ (Oettingen 1868: 59). Damit geriet das Verbrechen in den Blick: Die Moralstatistik versuchte, den moralischen Zustand der Gesellschaft anhand von Kriminalitätsziffern empirisch zu be

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stimmen. Die Nähe der Moralstatistik zur Abbildung von Kriminalität belegt das die Moralstatistik überhaupt begründende Werk „Sur l‘homme“ des belgischen Mathematikers Adolphe Quetelet (1796-1874) aus dem Jahr 1835, der ein ausführliches Kapitel der Kriminalität widmete (Hacking 1990: 115132; Beirne 1993: 65-142). Quetelets wichtigstes Ergebnis war die Entdeckung, dass die Kriminalitätsziffern relativ konstant blieben; Gesellschaften hätten ein „budget de crime“, das sie nur durch Gesetzgebung verändern könnten. Zudem glaubte er aus den Daten schlussfolgern zu können, dass weniger Armut oder fehlende Bildung als vielmehr ein „Hang zum Verbrechen“, der bei den 21- bis 25jährigen und bei Männern am stärksten sei, für die Ziffern der Kriminalitätsrate verantwortlich sei. Die Statistik legte es für Quetelet nahe, von Gesetzmäßigkeiten hinsichtlich der Kriminalitätsrate auszugehen. Das schien zu bedeuten, dass Kriminalität ein unvermeidliches Produkt gesellschaftlichen Wandels, die vorhersehbare Folge von Teuerung, Wohnraumknappheit, Alkoholkonsum sei, aber auch eine statistisch kalkulierbare Größe als ein prognostizierbares Risiko (Fleiter 2007: 175). Die Schlussfolgerungen der Moralstatistiker wurden auch von der Strafrechtswissenschaft rezipiert, aber mit einer kriminalpolitischen Wendung versehen, die um 1900 in die beschriebene Effizienzdebatte mündete. Für sie war es kriminalpolitisch von Bedeutung, eine Vorstellung von Kriminalität als – bedrohlich wachsender – Massenerscheinung zu gewinnen, um daraus Maßnahmen zum Schutz der Gesellschaft abzuleiten. Diese Instrumentalisierung verhinderte eine Methodendiskussion; es blieb bei der Deutung der Verurteiltenziffern als Indikator der Kriminalitätswirklichkeit. Diese auf das Endprodukt reduzierte Sichtweise habe aber, so Alexander Melchers, den Blick auf den tatsächlichen Umgang mit Kriminalität in Kriminologie und Kriminalpolitik versperrt, denn weder wurden neue Gesetze und geänderte Verurteilungspraktiken (z. B. die Zunahme der Verurteilungen wegen Landstreicherei) in der Diskussion berücksichtigt noch eine effizientere Strafverfolgung oder ein geändertes Anzeigeverhalten – „Kriminalität wurde allein als das Produkt des Straftäters und vor allem der Gesellschaft verstanden. Dazu gehörte nicht der staatliche Sanktionsapparat, wie Gesetzgeber, Polizei oder Gerichte“ (Melchers 1992: 34f.). Gerade der Rückfallstatistik kam in diesem Zusammenhang der Konstruktion der Gefährlichkeit bestimmter Individuen und auch kriminalpolitisch eine zentrale Rolle zu: Sie sollte den Anteil der Gewohnheitsverbrecher an der gesamten Kriminalität bestimmen und so Hinweise auf seine Bekämpfung geben (Fleiter 2007: 183-193). Doch die statistischen Ziffern allein ließen keine Rückschlüsse auf die Ursachen der Kriminalität einzelner Rückfalltäter zu, weshalb mit der Einführung des Strafregisters 1882 der Versuch gemacht wurde, zusätzliche Daten wie Beruf und Auszüge aus dem Urteil zu gewinnen. Gefordert wurde auch, Angaben über die Erziehung des Verurteilten, geistige Erkrankungen, Alkoholismus und Landstreicherei und „erbliche Belastung der Eltern“ in das Strafregister aufzunehmen, was wegen des hohen Aufwandes kaum realisiert wurde. Aber: Es wurde deutlich,

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dass das unstatistische Element einer persönlichen Beurteilung, wer aus welchen Gründen Gewohnheitsverbrecher war und wer nicht, fehlte. Damit beschränkte sich die kriminalpolitische Debatte um die Effizienz des Strafsystems, die mit kontrafaktisch gedeuteten Kriminalstatistiken scheinlegitimiert wurde, zunächst auf die dramatisierte Vorstellung einer bedrohlichen Masse von Verbrechern, von einer separaten „Schicht“, die es aber nicht nur empirisch, also mit statistischen Mitteln zu quantifizieren, sondern auch wieder zu individualisieren und auf diese Weise zu qualifizieren galt. Es fehlte also weniger ein Erfassungs- als vielmehr ein Nachweissystem für Gewohnheitsverbrecher, das die empirisch ermittelte Tatsachenwirklichkeit der Kriminalstatistiken auf individueller Ebene bestätigen (und legitimieren) konnte. Diese Bestätigung und Legitimation bereitzustellen waren aber die Kriminalbiologische Untersuchung und die Sammelstelle in der Lage: Mit deren Einrichtung wurde vermeintlich die kriminalpolitische Forderung Liszts eingelöst, das „Gewohnheitsverbrechertum sozialethisch festzustellen“ – und zu selektieren: Die Bedrohung, die vom einzelnen und von der Summe der Gewohnheitsverbrecher auszugehen schien, sollte durch eine individualisierte Bestimmung und Strafbehandlung beseitigt werden. Hierin wird aber zugleich die Anfälligkeit dieser Forderung für sozialselektionistische Argumente vor allem biologistischer Provenienz offenbar – der Weg zur rassenhygienischen Inanspruchnahme war kurz. Es ist hier nicht der Ort, die Rezeption biologischer Modelle und die Biologisierung der Gesellschaft nachvollziehen, die Geschichte also des biologistischen Denkens und seiner Ausprägungen in Rassismus, Sozialdarwinismus und Rassenhygiene bzw. Eugenik (Weingart et al. 1996; Vogt 1997; Engels 1995; Weindling 1993; Schwartz 1992; Sandmann 1990; Marten 1983). An dieser Stelle müssen Anmerkungen, die den Hintergrund der rassenhygienischen Argumentation und der erbbiologischen Bestandsaufnahme im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle beleuchten, ausreichen, zumal die Positionen Viernsteins und Degens zum Verhältnis zwischen Strafrecht und Rassenhygiene sowie zur Bedeutung der Sammelstelle im Zusammenhang mit der geforderten erbbiologischen Katastrierung im Kapitel über die Einrichtung und die theoretische Fundierung von Untersuchung und Sammelstelle bereits ausführlicher dargelegt wurden. Kriminalstatistiken, um den Faden wieder aufzunehmen, galten den Zeitgenossen also als eine Möglichkeit, die gefährlichen Klassen zu erfassen und auszumessen. Ein stärker biologisch orientierter Zugang wurde in England von Francis Galton (1822-1911) entwickelt: Die Biometrie, eine statistische Methodik zur Erforschung, Beschreibung und Prognose von Evolutionsprozessen, erfasste in quantitativer Form Vererbungsfaktoren von natürlichen und künstlichen Selektionsprozessen und stellte ihre Auswirkungen auf nachfolgende Generationen fest. Von der Genetik unterschied sich die Biometrie dadurch, dass sie das Vererbungsproblem nicht über die materielle, zelluläre Erforschung des Vererbungsmechanismus, sondern anhand statistischer Analysen zur Verteilung von Merkmalen in der Generationen

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abfolge zu lösen versuchte. In der deutschen Anthropologie war die Familienforschung ein Zweig der Biometrie; hier aber ging es nicht mehr um die Erhebung einer nationalstaatlichen Bevölkerung im Ganzen, sondern um die Untersuchung einer nach plausiblen Kriterien abzugrenzenden und ausgewählten anthropologischen Gruppierung (Weingart et al. 1996: 337f. und 360). Als ein solches plausibles Kriterium wurde vielfach, auch von Viernstein, Kriminalität erachtet, weshalb er für die Kriminalbiologische Untersuchung das familiäre Umfeld eines Verbrechers, in dem er anlagebedingte kriminogene Faktoren vermutete, als anthropologische Gruppierung auswählte. In der rassenhygienischen Variante, der auch Viernstein zugewandt war, galt es jedoch darüber hinaus, die Gesamtbevölkerung zu erfassen; die der Familienforschung ähnlichen Erhebungen unter den Verbrechern und ihren Familien sollten hierfür ein erster Schritt sein, was Viernstein in Bezug auf die künftige Rolle der Kriminalbiologie gerade in der Zeit des „Dritten Reiches“ zu betonen nicht müde wurde. Auf die (statistische) Erfassung der Bevölkerung war zunächst die Demografie orientiert, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung und dem wachsenden Interesse des Staates an Informationen über die sozialen Vorgänge in der Gesellschaft an Bedeutung gewann: Schon 1871 wurde das Statistische Reichsamt gegründet, und die demografische Statistik methodisch erweitert, systematisch ausgebaut und auf neue Bereiche wie die Wohn-, Berufs- oder eben die Kriminalstatistik übertragen (Fleischhacker 1998: 131f.). Die bis dahin allein statistische Ausrichtung der Demografie erfuhr gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der wachsenden Rezeption biologistischer Vorstellungen wie dem Degenerationsgedanken jedoch eine Veränderung und verlagerte sich von ausschließlich quantitativen hin zu qualitativen Interpretationen der Bevölkerungsveränderungen. Die Bevölkerungsgruppe der „degenerierten“ Menschen entstamme den Armutsvierteln und vererbe diese „Minderwertigkeit“ weiter, was – zusammen mit der Vorstellung, dass die Angehörigen der höheren Klassen weniger, die der unteren Schichten hingegen mehr Kinder bekämen – hinsichtlich der Gesamt-’Qualität‘ der Bevölkerungszusammensetzung mit Sorge und zunehmend aus einer von der Statistik vermeintlich gestützten, klassenbewussten und weltanschaulichen Perspektive betrachtet wurde: „Die statistische Wahrnehmung der wachsenden Zahl kranker Menschen, gestützt auf die Erbguttheorie, wurde zur gesellschaftspolitischen Ideologie“ (Fleischhacker 1998: 133). Zugleich setzte ein Terminologiewechsel ein: Begriffe wie „Volk“, „Rasse“, „höhere und niedere Klasse“, „Volkskörper“, „Volksgesundheit“ und so weiter machten diese Verschiebung hin zu qualitativen Interpretationen der Daten kenntlich. Die Bevölkerungswissenschaft begann, sich auf der Basis dieser qualitativen Interpretation von der Demografie abzugrenzen und sich in Richtung der Politikberatung zu entwickeln. Es bestanden also enge Berührungsflächen zwischen Demografie, Bevölkerungswissenschaft und Rassenhygiene in Deutschland, wobei die Ras-

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senhygiene in die Bevölkerungswissenschaft Eingang fand vor allem über die Argumentation mit volkswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung und eugenischer Stoßrichtung. Die bevölkerungspolitische Reaktion auf die anhand dieser Kosten-Nutzen-Rechnung plausibel gemachte Bedrohung der konomisch-biologischen Balance des deutschen „Volkes“ führte zu Forderungen, das Bevölkerungswachstum der „Erbkranken“ zu beschränken und sie von der Teilhabe an den Versorgungssystemen der Gesellschaft auszuschließen (Marschalck 2004: 107 und 114-116). Dem stand zunächst noch ein in der Weimarer Republik etabliertes Netzwerk umfangreicher kommunaler und staatlicher Fürsorgemaßnahmen für gerade jene Gruppen, deren „Menschenwert“ von den Vertretern der Eugenik bzw. der Rassenhygiene in Frage gestellt wurde, gegenüber; durchsetzen aber konnte sich die rassenhygienische Bestimmung der „rassischen“ Wertigkeit, die den Wert des Menschen in seinem Verhältnis zur „Volksgemeinschaft“ sah (Vögele/Woelk 2004: 130f.). In diese ökonomisch-biologische Perspektive einordnen lässt sich auch die Erfassung von geistig und körperlich „Gebrechlichen“ im Rahmen der Volkszählung von 1925, die 1926 mit einem detaillierten Fragebogen einer Sonderzählung unterworfen wurden (Aly/Roth 2000: 27). Während die vorangegangenen Ausführungen den Kontext der Bestrebungen für eine erbbiologische Erfassung der Bevölkerung verdeutlichen sollten, lassen sich auch Hinweise finden für eine ‚wissenschaftliche‘ Beschäftigung mit dem Thema, die zudem aufgrund ihrer unmittelbaren institutionellen Nähe zu Viernstein und der Kriminalbiologischen Sammelstelle hier von Bedeutung sind. Seit 1930 war, wie beschrieben, die Kriminalbiologische Sammelstelle in den Räumen der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München untergebracht und organisatorisch der dortigen „Genealogisch-Demografischen Abteilung“ unter Ernst Rüdin zugeordnet. Die 1918 eingerichtete Abteilung war ein zentraler Bestandteil der Etablierung der Rasseforschung; Ende der 1920er Jahre wurde dort ein mit Mitteln der „Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft“ gefördertes Schwerpunktprogramm zur erbbiologischen Bestandsaufnahme im Deutschen Reich aufgelegt mit dem Ziel, die erbbiologische Beschaffenheit des deutschen Volkes zu bestimmen (Roelcke 2003: 55). Die erbbiologische Bestandsaufnahme von Verbrechern bildete in diesem Zusammenhang gleichsam eine Subsektion, stand mit diesen eine aus damaliger Sicht recht klar abgrenzbare, natürlich aber nur qualitativ definierte Bevölkerungsgruppe für die erbbiologische Forschung zur Verfügung, die Thesen von der Vererbung „minderwertiger“ Anlagen und der „gefährlichen Klassen“ zu bestätigen. Man war der Meinung, „eine ganze Bevölkerungsschicht für die rassenhygienische Wissenschaft zu erschließen und zu durchforschen, jene Schicht, welche durch vorzugsweise Erzeugung von kriminellen Persönlichkeiten sowohl auf die Gestaltung unserer Gesellschafts- und Wirtschaftszustände, wie auf den erblichen Anlagenbesitz der Rasse einen ungünstigen Einfluss



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ausübt“ (Klare 1930: 11). In diesem Sinne habe er, so Viernstein in einem Schreiben an die Direktion des Zuchthauses Straubing 1924,6 die heimatbehördlichen Fragebogen nach rassenbiologischen Grundsätzen gestaltet, um zusammen mit der eigentlichen kriminalbiologischen Untersuchung „eine nicht nur kriminalistisch, forens[isch] und strafvollzuglich als wichtig zu bezeichnendes Hilfsmittel zur Bekämpfung der Kriminalität mittels Ursachenerforschung, sondern der Fragebogen ist darüber hinaus geradezu ein wertvoller Behelf zur Inangriffnahme und allmählichen Lösung derjenigen vordringlichen Staatsaufgabe unserer Tage, die der schwedische Forscher Lundborg als eine rassehygienische Inventaraufnahme der Bevölkerung bezeichnet hat.“

Man habe sich entsprechend nicht nur über die zu den „Plusvarianten zählenden Volksgenossen“ zu informieren, denn die „wesentlich durch die Verbrecherwelt repräsentierte Gruppe der Minusvarianten unter den Volksgenossen spielt durch ihre soziale Gebahrung, ihre kulturelle und ökonomische Schädlichkeit, vor allem aber durch ihre generative Tätigkeit eine nicht minder große Rolle im Staate. Diese Gruppe sind wir genauestens zu erfassen in der Lage, weil sie sich uns in einer jeden Widerspruch ausschließenden Weise und bequem in den Strafhäusern zur Verfügung stellt. Von dieser Möglichkeit einer rassebiologischen Massenaufnahme muss meines Erachtens unbedingt Gebrauch gemacht werden.“

Im selben Schreiben gab Viernstein der Hoffnung Raum, „dass in verhältnismäßig kurzer Zeit ein großer Hundertsatz von kriminellen Persönlichkeiten auch biologisch im Sinne der erweiterten Zugangsuntersuchung und des Fragebogens geklärt sein“ werde. Was Viernstein 1924 noch nur gehofft hatte, war nach 1933 Staatsdoktrin: „Im neuen Staate“ sei „die ganze Bevölkerungspolitik auf die Linie der erbmäßigen Wertbeurteilung der Volksgenossen abgestellt worden. Der biologische, rassische Verfall unseres Volkes war nur mehr durch den Eingriff einer Ausschaltung aller erbmäßig Minderwertigen, Kranken und durch eine bewußte Förderung alles Gesunden, Tüchtigen und Leistungsfähigen in letzter Stunde abwendbar“ (Viernstein 1936: 7). Bis dahin habe dieser Eingriff „lediglich als Zukunftshoffnung in den Köpfen der Wissenschaftler“ geruht; seit den gesetzgeberischen Aktivitäten aber habe diese Hoffnung „praktische Gestalt“ gefunden. „Voraussetzung für alle künftige, auf dem Persönlichkeitswert ruhende Bevölkerungspolitik“ sei die Untersuchung des „Gesamtvolkes, jeder Sippe, jedes einzelnen Volksgenossen auf den Besitz an guten, hochwertigen oder schlechten, minderwertigen Anlagen des Körpers, des Geistes und der Seele“.

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BHStA, MJu 24266: Viernstein an die Direktion beim Zuchthause Straubing v. 3.7.1924.

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Die Kriminalbiologische Sammelstelle habe für dieser „kommende, in die Hände der Ärzte zu gebende ‚biologische Inventuraufnahme der Bevölkerung‘“ mit dem von ihr produzierten statistischen Material über einen ca. 140.000 Personen umfassenden Kreis die erste Einlage geliefert. Sie habe damit den Nachweis erbracht, dass solche Massenuntersuchungen überhaupt durchführbar seien und zugleich die notwendige Arbeitsweise gezeigt: Gleichgültig, welche Bevölkerungsgruppe untersucht werde, habe man immer „Anlage und Umwelt der Individuen und ihrer Stämme“ zu erforschen, das Individuum immer nach seinen verstandesmäßigen, charakterlichen und willentlich reaktiven Eigenschaften – nach Viernstein alle ein Produkt aus Anlage und Umwelt – zu untersuchen und zu typisieren; „nur so gelangen wir zu einem Urteil über den Wert oder Unwert des einzelnen für Volk und Staat, für die Gesellschaft und für die Rasse.“ Und nur aufgrund dieser Typisierung nach dem Persönlichkeitswert könnten die Maßnahmen der staatlichen Bevölkerungspolitik richtig verteilt und zur Anwendung gebracht werden, könne der Staat „Ehestandsdarlehen vergeben, Bauernsiedlung planen, Kinderreiche unterstützen, Erbhofbauernpolitik betreiben, die Auswahl des öffentlichen Dienstes treffen und so vieles andere vorsehen“, er könne „den Aufstieg gesunder, tüchtiger Menschen und Stämme fördern und die Ausschaltung der kranken, leistungsuntüchtigen, lebensrassisch abträglichen Menschen aus dem Lebensstrom des Volkes mit voller Verantwortung verfügen“ (Viernstein 1936: 7.). Die Kriminalbiologie habe hier als „Schrittmacherin“ gewirkt. Trotz aller organisatorischen und „geldlichen“ Schwierigkeiten sei die „erbbiologische Inventuraufnahme“ der Bevölkerung schon teilweise realisiert, etwa durch die reichseinheitliche Anlage von erbbiologischen Karteien bei den staatlichen Gesundheitsämtern. Zudem wurden, wie Viernstein berichtet, seit 1935 auch die Fürsorgezöglinge ebenso erbbiologisch untersucht wie, auf Weisung des „Reichsbauernführers“ Richard Walther Darré (1895-1953), die Erbhofbauern – diese hatten den Nachweis der Erbgesundheit zu erbringen. Darüber hinaus forderte Viernstein die Ausrichtung der schulärztlichen Untersuchungen auf erbkundliche Erhebungen in der Familie und in der „Sippe“ des Schulkindes und die Unterstützung für das Hilfswerk „Mutter und Kind“, das erbgesunde Familie betreute. Die Verwendungspotentiale des erbbiologischen Katasters, für das die Kriminalbiologische Sammelstelle nach Meinung Viernsteins einen entscheidenden, auch erhebungspraktischen Beitrag leisten könne, waren demnach vielfältig und sollte sich gemäß der nationalsozialistischen Doktrin nicht nur auf die Vermessung der gefährlichen Klassen und der „Minusvarianten“ beschränken, sondern ausgeweitet werden auf die gesamte Bevölkerung. Interessanterweise hat sich Viernstein nie über die Folgen seiner Haltung und seines Enthusiasmus für die solcher Art kategorisierten, identifizierten und selektierten Menschen geäußert. Es scheint fast so, als habe für ihn seine Aufgabe ausschließlich darin bestanden, die Strafpolitik mit Daten zu versorgen, um die selektionistischen Wünsche einer auf biologischen Schutz bedachten Gesellschaft angemessen erfüllen zu können. 

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G UTACHTENABGABE Während dies bis 1933 dies nicht unbedingt Folgen für Leib und Leben der Strafgefangenen waren, sie aber mit größerer Härte im Strafvollzug leben mussten und mit einer weiterwirkenden Etikettierung behaftet waren, so führte gerade die Erstattung von kriminalbiologischen Gutachten für Strafverfolgungsbehörden nach der Einführung der Sicherungsverwahrung zu erheblich schwerwiegenderen Konsequenzen für den einzelnen Strafgefangenen – und in einer zunehmenden Zahl der Fälle. Zur Anfrage nach solchen Gutachten berechtigt sein sollten die Direktionen der Strafanstalten, vor allem aber die Staatsanwaltschaften, die Gerichte und die Polizei. Eine ergänzende Entschließung vom 17. September 1927 bestimmte noch hinsichtlich der Auskunftserteilung an Polizeibehörden, dass die Untersuchungsergebnisse grundsätzlich nur für kriminalpolizeiliche Zwecke verwertet werden dürften; die Gutachtenabgabe sei daher auf solche Polizeibehörden zu beschränken, die mit der Verfolgung strafbarer Handlungen von erheblicherem Maß befasst seien, also Polizeidirektionen und höhere Strafverfolgungsbehörden, nicht aber Ortspolizeibehörden: „Würde man die Untersuchungsergebnisse den Ortspolizeibehörden ohne weiteres zugänglich machen, so wäre die Gefahr ungeeigneter oder missbräuchlicher Verwendung nicht von der Hand zu weisen“.7 Doch nicht nur im Strafprozess sollten kriminalbiologische Gutachten Verwendung finden, sondern auch bei Anträgen auf Ehetauglichkeit, bei der Ausstellung von Gewerbescheinen und der Erlaubnis, Kraftfahrzeuge zu führen sowie beim Entzug der Personensorge. Die Auskunftserteilung sollte in Form eines schriftlichen Gutachtens erfolgen, das ein kriminalbiologisches und -psychologisches Gesamtbild des Untersuchten und Aufschluss über die soziale Prognose gebe. Auf Verfügung des Reichsjustizministers vom 8. Juli 1927 wurde die Existenz einer Akte in der Sammelstelle von dieser der zuständigen Strafregisterbehörde gemeldet; diese vermerkte im Strafregisterblatt des Gefangenen mit roter Tinte, dass „der Verurteilte kriminalbiologisch untersucht ist und dass die kriminalbiologische Sammelstelle bei dem Zuchthause Straubing nähere Auskunft erteilt“, so dass die Strafverfolgungsbehörden Auskunft über einen Verdächtigen erfragen konnten.8 Die Sammelstelle erstellte daraufhin Gutachten. Hans Klare hat sich 1930 für eine juristische Dissertation mit der Praxis der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle, vor allem aber mit der Gutachtenabgabe an darum ersuchende Stellen auseinander ge-

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BHStA, MJu 24262: Bayerisches Staatsministerium der Justiz an die Direktion des Zuchthauses (kriminalbiologische Sammelstelle) Straubing v. 9.9.1927. Betreff: Verwertung der Untersuchungsergebnisse. BHStA, MJu 24262: Reichsminister der Justiz v. 8.11.1927 an das Bayer. Staatsministerium der Justiz; vgl. auch Müller 2004: 258-261)

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setzt. Grundsätzlich würden Gutachten nur in solchen Fällen angefordert, in denen „das psychologische Moment der Tat verhüllt erscheint“ (Klare 1930: 11). Hier aber sei der Begriff „kriminalbiologisches Gutachten“ irreführend (Klare 1930: 72-77), da diese Gutachten nicht im Strafprozess verwertet würden und daher auch nicht mit den dort für die Zwecke des Prozesses (etwa zur Klärung der Schuldfrage) verwendeten Gutachten vergleichbar seien: Ohne jede Beziehung zu einem Prozess seien sie lediglich die wissenschaftlich gefundene und begründete Stellungnahme zu Spezialfragen, die die ersuchenden Stellen hinsichtlich eines kriminalbiologisch untersuchten Verbrechers interessierten – zudem sei der Gutachter trotz Ersuchens nicht zur Abgabe verpflichtet, und die Abgabe mache ihn auch nicht verantwortlich. In seiner heutigen Verwendung könne das kriminalbiologische Gutachten nur ein Hilfsmittel für die Strafverfolgungsbehörden sein, den Täter und seine Tat besser verstehen, einen Hinweis auf die psychischen und umweltlichen Momente der Tat zu erhalten, die im Prozess nur ungenau deutlich werden. Zwar sei der begutachtende Arzt Experte, aber kein Sachverständiger im rechtlichen Sinne, da ihm die öffentliche Bestellung fehle. Aus diesem Grund bestimme auch nicht der Richter die Zuziehung eines kriminalbiologischen Gutachtens. Diese könne nur vom Staatsanwalt im Verlauf des Ermittlungsverfahrens angeordnet werden, was diesem die Möglichkeit biete, sich eines kriminalbiologischen Gutachtens zu bedienen oder auch nicht. Der Gutachter sei deshalb ein „Gehilfe der Staatsanwaltschaft“ und somit auch mittelbarer Förderer des Strafprozesses. Zur Zeit von Klares Studie würde in Bayern für fast jeden Angeklagten, der kriminalbiologisch untersucht worden war, ein Gutachten angefordert. Entschied sich die Staatsanwaltschaft für ein kriminalbiologisches Gutachten, erbat sie vom Leiter der Sammelstelle ein solches. Dafür zog Viernstein lediglich die Untersuchungsakten zu einem Fall heran, ergänzt unter Umständen um die Anstaltsakten aus früheren Strafverbüßungen oder um die Akten der anhängigen Strafermittlung. Hatte Viernstein den Betreffenden nicht selbst untersucht (und dies war in einer zunehmend größer werdenden Zahl der Gutachten der Fall), so gutachtete er allein nach Aktenlage. Aus Viernsteins Perspektive dürfte dieses Vorgehen jedoch in keiner Weise zweifelhaft gewesen sein, wollte er doch die Kriminalbiologische Untersuchung so konzipiert haben, dass die Verwendung eines standardisierten Fragebogens eine weitgehende Vergleichbarkeit der einzelnen Untersuchungen ermöglichte. Viernstein war sich wahrscheinlich sicher, im Befundbogen eines anderen Arztes ebensolche Ergebnisse zu erblicken, wie in einem Bogen, den er selbst ausgefüllt hatte, und dieselben Schlussfolgerungen aus den fremden Bögen ziehen zu können, wie aus seinen eigenen. Dass dies möglich sei, dass überhaupt aus den Ergebnissen der Kriminalbiologischen Untersuchung und zudem ohne eigene Anschauung weitreichende Schlüsse gezogen werden könnten, bezweifelten schon manche zeitgenössische Kritiker. So informierte etwa der Oberstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Augsburg das Bayerische Justizministerium in einem Schrei

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ben vom 15. November 1928, dass die Amtsärzte zwar Kenntnis vom Wirken Viernsteins auf dem Gebiet der erbbiologischen Forschung hätten, dass sie sich jedoch den Errungenschaften dieser verhältnismäßig neuen Wissenschaft gegenüber ablehnend verhielten und der Sammelstelle in Straubing sogar die Anerkennung versagten.9 Die grundsätzliche Ablehnung einer von der höchsten Stelle getroffenen Einrichtung der modernen Strafrechtspflege verwunderte den Oberstaatsanwalt; er führte diese Ablehnung auf kleinliche Eifersüchtelei zurück und darauf, dass die Sammelstelle vor allem als eine Angelegenheit des Justizressorts behandelt worden sei. Doch in einem Brief der Leitung der Heil- und Pflegeanstalt Regensburg, den der Oberstaatsanwalt zitiert, scheinen andere Gründe für das Versagen der Anerkennung auf, die auf die Praxis der Gutachtenabgabe nach Aktenlage zielten: „Wir kennen keine bay. krim. biol. Sammelstelle und erkennen sie auch nicht als Obergutachterin an. Wir stellen fest, dass deren Urteil lediglich auf Aktenkenntnis beruht, nicht auf persönlicher Kenntnis des Falles“. Etwas differenzierter legte Klare die Praxis der Gutachtenabgabe nach Aktenlage dar und stellte auf der Basis von 170 Gutachten den sozialen Prognosen in diesen Gutachten die Prognosen aus den kriminalbiologischen Untersuchungen gegenüber, um bei den Abweichungen über die Faktoren, die bei der Prognosebildung maßgebend waren, Aufschlüsse zu erhalten sowie über das Eintreffen der Prognose. Nur in 62 Prozent der von Klare untersuchten Fälle stimmten die sozialen Prognosen von Untersuchungsbericht und Gutachten überein. Diese deutliche Abweichungsrate begründet Klare jedoch nicht mit mangelnder Sorgfalt bei Untersuchung oder Begutachtung: Zum einen läge zwischen der kriminalbiologischen Untersuchung und der Gutachtenabgabe eine mehr oder weniger erhebliche Zeitspanne, in der der Untersuchte entweder erneut rückfällig geworden ist, eine ungünstige Stellungnahme zu seiner Führung in der Strafanstalt erhalten oder aber sich in Haft und Freiheit gut geführt hat, was die Prognose aufhellte. Außerdem könnten neue Hinweise auf eine grundsätzliche Wirkung von Anlage und/oder Umwelt hinzutreten. Und schließlich stünde dem Gutachter später eine größere Menge an Unterlagen zur Verfügung als dem kriminalbiologisch untersuchenden Arzt (Klare 1930: 81). Gleichwohl beurteilte Klare die Gutachtenabgabe nach Aktenlage überaus kritisch (Klare 1930: 121-123). Zwar sei die Gefahr einer Fehldiagnose schon in der eigentlichen kriminalbiologischen Untersuchung gegeben, doch mangele es bei dieser Praxis der Gutachtenabgabe zudem am persönlichen Eindruck des Gutachters vom Probanden. Der Gutachter müsse an die Richtigkeit des ihm vorliegenden Aktenmaterials „einfach glauben“. Und sei der Untersuchungsbericht nur dürftig, so sei der Gutachter „gezwungen, aus Mangel an einer klaren Vorstellung über den Probanden das Gutachten mit rücksicherenden Kautelen

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BHStA, MJu 24262: Oberstaatsanwalt bei dem Oberlandesgericht Augsburg an Staatsministerium der Justiz v. 15.11.1928

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auszufüllen und seine Ansicht und Prognose als ‚vermutlich richtig‘ hinzustellen“. Ein solches Gutachten aber habe wenig praktischen Wert. Ähnliches gelte bei zwar ausführlichen, aber zu subjektiv gehaltenen Untersuchungsberichten. Nicht alle Berichte seien dürftig oder zu subjektiv, aber bereits die wenigen Fälle reichten, zumal wegen der Bedeutung des Gutachtens im Ermittlungsverfahren, nach Ansicht Klares aus, das System des Gutachtens nach Aktenlage entschieden abzulehnen. Es lasse sich „nicht verantworten, diese unsichere Methodik zur Beurteilung des Verbrechers zuzulassen“, und Klare ergänzt: „Lieber kein Gutachten als ein falsches!“ Würde hingegen jeder Gefangene, über den ein kriminalbiologisches Gutachten von den Strafverfolgungsbehörden angefordert wurde, erneut, wenn auch verkürzt, aber doch persönlich kriminalbiologisch untersucht werden, würde dieses Gefahrenmoment reduziert werden. Denn am grundsätzlichen Potential kriminalbiologischer Gutachten für die Verwertung im Strafprozess zweifelte Klare nicht (Klare 1930: 125-133). Bei der zunehmenden Bedeutung der Individualisierung im Strafverfolgungsprozess stelle sich aber die Frage, warum die kriminalbiologische Untersuchung erst am Ende der Kette eines Strafprozesses stehe und nicht an dessen Anfang bzw. als Hilfsmittel bereits zur Urteilsfindung zum Tragen komme. Aufgrund der großen Zahl an Verurteilungen sei es aber nicht praktikabel, alle Angeklagten kriminalbiologisch zu untersuchen; vielmehr sollten nur die eines Verbrechens angeklagten Personen, die Rückfälligen und die Gewohnheits- und Berufsverbrecher untersucht werde. Klare empfahl daher, die kriminalbiologischen Gutachten den psychiatrischen Gutachten im Strafprozess gleichzustellen; der kriminalbiologische Gutachter würde dann im Prozess genauso wie seine psychiatrischen Kollegen als Sachverständiger fungieren. Prospektiv empfahl Klare, das Gutachten bei Anordnung auf Sicherungsverwahrung obligatorisch zu machen. Auf jeden Fall sinnvoll schien Klare die Verwendung ausführlicher kriminalbiologischer Untersuchungen für Anträge auf vorläufige Entlassung – also Bewährung – und für die Entscheidungen für Maßnahmen der Entlassenenfürsorge zu sein. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Bemerkung Klares, dass von Seiten der Verteidigung des Angeklagten noch kein kriminalbiologisches Gutachten angefordert worden sei (Klare 1930: 72). Hier stellt sich die interessante Frage, ob eine durch die Kriminalbiologische Untersuchung eventuell sich abzeichnende ‚Determiniertheit‘ eines Verbrechers in foro als Entschuldigungsgrund für die Verteidigung gegolten oder nicht doch nur den erhöhten Grad seiner Gefährlichkeit angezeigt hätte. Denn: Der vorwurfsvoll gemeinte Satz „Alles verstehen heißt alles verzeihen“ wurde seit dem Aufkommen der deterministischen Verbrechensauffassung immer wieder geäußert – um die deterministischen Vorstellungen zu diskreditieren oder aber, um damit deutlich zu machen, dass man genau das nicht wolle: „Verstehen der Psyche, Einsicht in die Bedingungen, unter denen ein Mensch aufwuchs, im Leben stand und im bestimmten Falle zum Verbrecher wurde, heißt für



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den Biologen noch lange nicht, einer Schwächlichkeit, einer Verwässerung der im Rechte, in der Religion und Sitte unverrückbar aufgestellten Forderungen das Wort zu reden, heißt nicht, […] noch auch für alle verbrecherischen Eigenschaften und Geschehnisse nur die verzeihende Miene des ‚Deterministen‘ zu zeigen. […] Stufenstrafvollzug […] will nur denen aufhelfen, die diese Hilfe verdienen.“ (Viernstein 1925/26: 296)

Die Gefahr, die für Strafverfolgungsbehörden vom „verhinderten Menschen“ ausging, überdeckte offenbar die unterstellte Unausweichlichkeit der Kriminalität jener endogenen Verbrecher, die ihnen eigentlich einen besonderen Schutz vor den Schranken des Gerichts hätte zusichern müssen. Es muss trotz der an der Gutachtenabgabe nach Aktenlage geäußerten Kritik konstatiert werden, dass Viernstein auch hiermit einen Erfolg in eigener Sache erringen konnte, drängte er doch mit dieser Praxis seine Kriminalbiologische Untersuchung über den Strafvollzug hinaus auch in den Ermittlungs- und in den Strafprozess hinein und etablierte sich und seine Sammelstelle in der Nähe der Gutachter der forensischen Psychologie, die vor allem die Zurechnungsfähigkeit eines Angeklagten zu beurteilen hatten, als Experte – zumal er es war, der den Großteil der Gutachten erstellte. Während aber die Zuerkennung verminderter Zurechnungsfähigkeit durch die forensische Psychologie die Täter vor einer längeren Strafe oder vor Bestrafung überhaupt schützte, so dürften die kriminalbiologischen Gutachten bei ihrer Anwendung vor Gericht mehr noch als die Liste der Vorstrafen das Potential gehabt haben, strafverschärfend zu wirken, da die scheinbar biologisch bedingte Unmöglichkeit der Besserung eines Gefangenen ‚bewiesen‘ schien. Mangels eindeutiger Belege zumindest für die Frühphase dieser Praxis kann dieser Effekt der Gutachten nur vermutet werden, was auch sowohl hinsichtlich der Wirkung als auch der fehlenden Belegbarkeit für die Verwendung der Gutachten bei polizeilichen Ermittlungen gilt: Kriminalbiologisch als „unverbesserlich“ eingeschätzte ehemalige Strafgefangene und ihre Verwandtschaft dürften unter besonderer Beobachtung, wenn nicht unter besonderem Verdacht gestanden haben. Belegbar wird dieser Effekt dann im Nationalsozialimus, wenn im Einklang mit dem „Gewohnheitsverbrechergesetz“ bei Gefangenen, die als Gewohnheitsverbrecher etikettiert worden waren, die Gutachten in extensiver Anzahl und selektionistischer Weise benutzt wurden, um die Anordnung der Sicherungsverwahrung zu begründen. Die Verwendungspotentiale der Untersuchungsakten und damit auch der Gutachten im Strafprozess hatten Viernstein und auch das Justizministerium bereits vorhergesehen, als sie die Untersuchung explizit in den Rahmen der damals debattierten Strafrechtsreform stellten. Deren praktische Umsetzung und die damals nur geplante Gutachtenerteilung antizipierte die sich abzeichnenden Änderungen im Strafrecht: die Einführung des Begriffs der verminderten Zurechnungsfähigkeit, die Verbrechensbekämpfung durch

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Einführung der Verurteilung auf unbestimmte Dauer sowie die Sicherungsverwahrung von Gewohnheitsverbrechern.10 Hier lässt sich eine sowohl strafpolitische als auch inhaltlich-operative Kontinuität zwischen der Zeit vor 1933 und danach ausmachen, an der sich zudem die Zuspitzung einer bereits etablierten und in der Anlage selektionistischen Praktik mit nationalsozialistischen Mitteln beobachten lässt: Schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten beruhten die Gutachten Viernsteins merklich auf sozial-moralischen Urteilen über den Wert von als biologisch und sozial „minderwertig“ erachteten Gefangenen. Als die Nationalsozialisten mit dem „Gewohnheitsverbrechergesetz“ dann die Reform mit Willkür und rassenhygienischer Entschlossenheit umsetzten, stand mit der Kriminalbiologischen Untersuchung, vor allem aber mit der Praxis der Gutachtenerteilung ein aktives Instrument zur Selektion unerwünschter Individuen zur Verwendung im nationalsozialistischen Sinne bereit.

10 Ministerialentschließung 8633 v. 27.2.1924 (Stufenstrafvollzug, Bd. 1: 40).



Schluss – Wissens- und körperhistorische Einordnung

Wissenshistorische Einordnung: Krisen und Wissen

„The Criminal-Biological Service was expensive, requiring equipment, training, additional staff, and a photographic service […]; it was therefore not an ideal means to reduce the cost of running prisons“ (Liang 2006: 427). Man hat zwar versucht, die Kosten für die Kriminalbiologischen Untersuchungen und für die Sammelstelle möglichst niedrig zu halten, und der Erfolg wäre auch nicht ohne das über ein gewöhnliches Maß weit hinaus gehende persönliche Engagement Viernsteins möglich gewesen. Doch wenn sich Institutionen, zumal staatliche, in wirtschaftlichen Krisenzeiten mit zusätzlichen Kosten verbundene Einrichtungen schaffen, dann muss man sich von dieser Einrichtung einiges versprochen haben, muss das Kostenargument gegenüber anderen Motiven und Interessen in den Hintergrund getreten sein. Stärkstes Motiv war sicherlich die krisenhafte Wahrnehmung steigender Rückfallzahlen infolge einer vermeintlichen Effizienzkrise des Strafvollzugs, auf die einerseits mit extensiver Wissensgenerierung in der Kriminologie, andererseits mit der Einrichtung des bessernden und sichernden Stufenstrafvollzugs reagiert wurde. Im Binnensystem Stufenstrafvollzug war es dann die Notwendigkeit eines Persönlichkeitstests, mit dem die Gefangenen sicher in das Stufensystem eingeteilt werden konnten, die für die Einrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung ausschlaggebend war. Die Unterstützung der Projekts, das Viernstein als Experte mit umfangreichen Popularisierungsstrategien bekannt machte, durch einen etwas heterogenen exoterischen Kreis interessierter Laien hatte ebenfalls eine Krise, in erster Linie die moralische Orientierungskrise nach dem Ende des Wilhelminischen Reiches, als Ursprung. Vor dem Hintergrund dieser im Folgenden in aller gebotenen Kürze historisch kommentierten Krisensituationen sollen die auf Wissen und Wissensgenerierung zielenden Ausgangsfragen dieser Studie und die in der methodischen Orientierung angesprochenen Aspekte der sozialtechnologischen Wissensgenerierung abschließend auf das Verhältnis von Krise und Wissensgenerierung bezogen werden.

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K RISEN , M OTIVE

UND I NTERESSEN

Die Wahrnehmung der sozialen Krise der Rückfallkriminalität hatte einen immensen Problemlösungsdruck erzeugt, der sich durch die Erfahrung mit steigenden Kriminalitätsraten infolge des Ersten Weltkriegs noch einmal verschärft hatte. In der Frühphase der Weimarer Republik kamen in Strafpolitik und Strafvollzug zunächst liberaler Reformeifer, der Anspruch als Fürsorgestaat und ein in Wohlfahrts- und Fürsorgeeinrichtungen verbreiteter sozialpädagogischer Ansatz zum Tragen. Das mag überraschen angesichts des Kostenarguments, mehr noch angesichts der nationalkonservativen Kreise, die etwa im bayerischen Justizsystem das Sagen hatten. Doch gerade hier offenbart sich das Janusgesicht der Moderne, war doch im scheinbar liberalen und auf Resozialisierung ausgerichteten Stufenstrafvollzug zugleich auch die Ambivalenz zwischen Reform und Repression angelegt, ging ein vermeintlich effektiverer, bessernder Strafvollzug mit einer strafpolitisch gewollten „Auslesepädagogik“ (Christian Müller) einher. Nicht erst der Anstieg der sozialen Prognosen, die auf Unverbesserlichkeit lauteten, gegen Ende der 1920er Jahre legte offen, dass der Stufenstrafvollzug und mit ihm die Kriminalbiologische Untersuchung zuerst die Identifizierung und Ausschaltung des rückfälligen Täters leisten sollten und dass die „Besserung“ von besserungsbereiten Gefangenen nicht wirklich aktiv angegangen, sondern lediglich als positives Nebenprodukt gleichsam ‚mitgenommen‘ wurde: Die Rhetorik richtete sich von Beginn an auf den modernen Aspekt der Resozialisierung; das operative Geschäft im Strafvollzug und in der Kriminalbiologischen Untersuchung aber blieb auf das gefährliche Individuum und die gefährlichen Klassen und deren Bekämpfung fokussiert. Hierin, in der Identifizierung und der Erfassung der gefährlichen Individuen und der gefährlichen Klassen, lag der eigentliche Hintergrund der Einrichtung von Kriminalbiologischer Untersuchung und Sammelstelle, hier haben beide ihren strafpolitischen Ort, hierin lag auch ihr Erfolg begründet. Die Notwendigkeit eines Persönlichkeitstests im Stufenstrafvollzug mag den unmittelbaren Impuls zur Einrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung gegeben haben; das Potential zur Lösung drängender straf- und kriminalpolitischer Probleme, das in ihr gesehen, und die Hoffnung, die hinsichtlich der Realisierung ‚visionärer‘ Vorstellungen wie der erbbiologischen Erfassung der Bevölkerung in sie gesetzt wurde, waren jedoch ähnlich starke Beweggründe. Das ordnungs- und sicherheitspolitische Bedürfnis nach einer effizienteren Verbrechensbekämpfung auf der Basis einer systematischen Ausmessung und Erfassung von verbrecherischen Individuen und Schichten stand dabei für die Strafverfolgungsbehörden und für das Justizministerium, aber auch für kriminalpolitisch argumentierende Strafrechtler und Kriminologen im Vordergrund. Dass mit den Akten der Kriminalbiologischen Sammelstelle auch erkennungsdienstliche Möglichkeiten gegeben waren, dürfte sie zusätzlich attraktiv gemacht haben.

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Doch haben nicht zuletzt die biologischen und rassenhygienischen Aussichten von Ausmessung und Erfassung des einzelnen Verbrechers und seiner Verwandtschaft besonders überzeugend gewirkt, und zwar auf mehreren Ebenen. Biologisch gesehen stand mit der Figur des „minderwertigen“, unverbesserlichen Verbrechers, den eine biologisch-charakterologische Gesamtkonstitution im Verbund mit einer herausfordernden Umwelt und fatalen Lebensentscheidungen zum Verbrechen bringe, ein ‚Sündenbock‘ bereit, mit dem die pädagogischen Versäumnisse und Unzulänglichkeiten des Strafvollzugs kaschiert werden konnten. Denn indem das Scheitern der Besserung, also der Rückfall, der Biologie und dem Charakter eines Verbrechers zugerechnet wurde, konnte sich ‚die Gesellschaft‘, konnten sich Richter, Staatsanwälte, Ärzte, Vollzugsbeamte sowie Anstaltsgeistliche und -pädagogen ihrer Verantwortung für dieses Scheitern leicht entziehen. Die Unentrinnbarkeit der Biologie‘, der ein entsprechend konstituierter Verbrecher unterliege, musste aus dieser Perspektive zwangsläufig zu deviantem Verhalten führen – und aus Sicht der Strafverfolgung zu einer ebenso zwangsläufigen Reaktion: zur Unschädlichmachung des gefährlichen Individuums, des Rückfalltäters. Davor schreckten Vertreter einer Haltung gegenüber Gefangenen, die eher von Umwelteinflüssen bei der Verbrechensentstehung ausging und pädagogischen Maßnahmen den Vorzug gab, noch zurück. Verlegte man aber die Ursache für Kriminalität in den Körper des Verbrechers, gleichsam ‚unerreichbar‘ für den äußeren Zugriff durch Abschreckung und Besserung und auch für den inneren Zugriff durch den Verbrecher selbst, dann musste sich die Erkenntnis Bahn brechen, dass jedes pädagogische Bemühen umsonst sei. Die zunehmende Härte im Umgang mit diesem gefährlichen Individuum war demnach durch die neue biologische Komponente im Strafsystem legitimiert. Und war die Entscheidung über die biologisch-charakterologische Disposition eines Gefangenen so einfach nicht zu fällen, dann stand mit dem Rekurs auf die falsche Gesinnung eines Verbrechers immer noch ein Ausweg bereit, den Rückfall vom „nicht Können“ auf das „nicht Wollen“ und damit auf die fehlende Bereitschaft eines Verbrechers, sich zu bessern, zu verlagern, ohne den Anteil der strafrechtlichen Institutionen an diesem Rückfall benennen zu müssen. Gleichermaßen legitimatorisch und damit eng zusammenhängend wirkte der Rekurs von Kriminologen und Strafrechtlern auf die Vorstellung, die Gesellschaft habe sich vor dem gefährlichen Individuum und vor den gefährlichen Klassen auf möglichst effektive Weise zu schützen. Dabei waren die im Diskurs verwendeten Kriegs- und Krankheitsmetaphern von überragender Bedeutung. Bedrohlicher noch als die Kriegsmetapher wirkte die Rede von der Kriminalität als Krankheit, als „Seuche“, denn wurde von einem „Heer“ der Verbrecher gesprochen, so traten die Fronten scheinbar offen zu Tage und war der ‚Gegner‘ scheinbar bereits identifiziert. Das aber sah bei der Krankheitsmetapher ganz anders aus: Es war nicht mehr klar, wer zu den Trägern dieser „Krankheit“ zählte, wer sich „infiziert“ hatte und wer noch „geheilt“ werden konnte; die Aufgabe der Kriminologen, der 

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Strafrechtler und des Strafvollzugs lag demnach „in der Identifizierung der Verbrecher, also der Keimträger, und in ihrer Differenzierung“ (Galassi 2004: 87f.). Das macht deutlich, dass Charakterologie und Kriminalbiologie einen „a priori shift in the perception of crime, focusing not on the nature of the criminal act, but on the nature of the criminal“ markierten, wie Liang überzeugend argumentiert: „[Criminal-biology] was not a response to the crime rate, but was rather a part of a growing concern over „inferiors“ and „psychopaths“ who were perceived to constitute the criminal class. It was, in fact, a growing ideological investment in the term „biology“ which fertilized the support of penal officials for criminal-biology.“ (Liang 1999: 105) Die zunehmende Sorge über Minderwertige und Psychopathen resultierte aus der biologisch-medizinischen Konnotation, mit der Abweichung seit dem Ende des 19. Jahrhundert belegt wurde; sie war das Ergebnis einer diskursivierten biologischen Angstkonstellation, die argumentativ auf die Bedrohung durch die biologisch bedingte Abweichung Einzelner sowie auf die biologisch gedachte Integrität der ‚Normalbevölkerung‘ ausgerichtet war. Die gesellschaftliche Akzeptanz von biologistischen Modellen zur Deutung und Erklärung sozialer Phänomene lässt sich kaum eruieren; entscheidend ist aber ohnehin die Beobachtung, dass die von Liang angesprochene wachsende ideologische Investition in den Begriff „Biologie“ in jenen Kreisen Erfolge zeitigte, die an den Schaltstellen saßen und öffentliche Einrichtungen im Sinne einer biologischen Wohlfahrts-, Fürsorge- und Selektionspolitik umzugestalten in der Lage waren. Dies geschah zur Zeit der Weimarer Republik noch zögerlich und nicht systematisch. Doch belegt zum Beispiel eben die Einrichtung von Kriminalbiologischer Untersuchung und Sammelstelle den wachsenden sozialtechnologischen Zugriff auf staatliche Institutionen, und dass Experten mit ihren naturwissenschaftlichen ‚Argumenten‘ öffentliche Entscheidungsträger für sich gewinnen und ihre Vorstellungen durchsetzen konnten. Diese Durchsetzungsfähigkeit war abhängig von der sozialen Wichtigkeit eines Sachverhalts, die zu befördern ebenfalls in der Hand von Experten lag. Die „biologische Frage“ gewann dabei schnell und breit an Bedeutung, da ihre Wichtigkeit in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern zugleich aufgewiesen wurde: in den Wohlfahrts- und Fürsorgebereichen ebenso wie in ‚selektionistischen‘ Bereichen, etwa der Strafpolitik. Dabei wurde das eugenische Kosten-Argument gleichsam symbiotisch mit sozialtechnologischen Machbarkeitsphantasien entwickelt und propagiert, glaubte man doch, zum Schutz der Gesellschaft, die als „Körper“ verstanden wurde, dem durch biologisch bedingte soziale Abweichungen Gefahr drohe, massiv in die persönliche Integrität Einzelner eingreifen zu dürfen – der Einzelne zählte zunehmend weniger gegenüber den biologischen Bedürfnissen des Ganzen, des „Volkskörpers“. Die Kriminalbiologische Untersuchung versprach, sich dieser biologischen Gefahr entledigen zu können. Dass in Bayern ein derart starker rassenhygienischer Weg gewählt wurde, war nicht zwangsläufig – wie etwa die stärker sozialhygienische Variante Fetschers in Sachsen zeigt –, wohl aber

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folgerichtig, beruhte sie doch auf der besonderen Konstellation in Bayern, wo es mit dem etablierten rassenhygienischen Denkkollektiv im Münchner Umfeld der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie ein institutionelles und denkstilbildendes Zentrum gab. Kraepelin, Rüdin, von Gruber und auch Viernstein wirkten dabei als ein esoterischer Kreis, dem es gelang, einen exoterischen Kreis interessierter Laien in der Öffentlichkeit und in staatlichen Institutionen für erbbiologische und rassenhygienische Fragen einzunehmen, was sich auch in der Unterstützung für das kriminalbiologische Projekt äußerte. Diese Unterstützung war, führt man sich etwa die Diskussionen um die Aufnahme von umstrittenen charakterologischen Theorien wie die Ernst Kretschmers in den kriminalbiologischen Fragebogen vor Augen, nicht bruchlos. Und auch konfligierende Positionen hinsichtlich der Aufgaben des Stufenstrafvollzugs markierten Reibungspunkte: „The participation of Rüdin and Gruber – both members of the Munich Racial Hygiene Society – marked the appearance of a stronger racial hygienic vein in the criminal-biological project, which stood out in contrast to Degen‘s vision of a more humane prison system“ (Liang 1999: 96). Aber gerade in der Person des Ministerialdirektors lässt sich die Schwerpunktverlagerung vom pädagogischen Enthusiasmus hin zur pädagogischen Ernüchterung zeigen: Vor dem Hintergrund eines einfachen biologistischen Anlage-Modells war es offenbar umso verlockender, dem Gefühl nachzugeben, nicht die Institution Stufenstrafvollzug versage bei der Besserung, sondern einzelne, bestimmte Gefangene seien aufgrund ihrer ‚Verhinderung‘ für das, was der Stufenstrafvollzug anzubieten hatte, nicht erreichbar. Als aber auch jemand wie Degen, der immer wieder auf das resozialisierende Potential des Stufenstrafvollzugs hingewiesen hatte, begann, sich dieser biologischen ‚Einsicht‘ zu fügen, gewann der schon von Anfang an argumentativ und organisatorisch etablierte selektionistisch-rassenhygienische Ursprung der Viernsteinschen Persönlichkeitsuntersuchung immer mehr an Gewicht. In den hier ausgewählten Motiven für die Einrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle drückten sich auch die Interessen verschiedener Personen und Kollektive aus: Dies beginnt bei Viernstein selbst, der mit der Untersuchung seine eigene Karriere voranbringen und seinen Status als Arzt und den seiner Kollegen stärken wollte. Als 1929 der dritte Band der Selbstdarstellung des Bayerischen Justizministeriums über den Stufenstrafvollzug und die Kriminalbiologische Untersuchung erschien, hatte Viernstein bereits mehrere Jahre Erfahrung mit der Kriminalbiologischen Untersuchung sammeln können – aber auch mit der Präsentation ‚seiner‘ Untersuchung in der (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit. Der längliche Text, den der Arzt für den Sammelband verfasst hatte, spiegelt das Selbstbewusstsein, das sich aus der erfolgreichen Umsetzung seiner Idee einer „typisierenden Erfassung“ von Strafgefangenen ergab, sowie die Souveränität, mit der Viernstein die Rolle der Ärzte im Gefüge des Strafvollzugs – und seine Rolle! – in den Vordergrund zu rücken verstand. Mit seinen Denkschriften etablierte sich Viernstein zudem als ein Experte ganz im 

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Sinne Landwehrs, der den Experten ja dadurch charakterisiert hatte, dass er Untersuchungen durchführe, um Lösungen für ein bestimmtes Problem zu formulieren, in dem er Probleme benenne, Probleme untersuche, Berichte schreibe und Erinnerung präge. Die Denkschriften, die Berichte, beruhten nun auf der Untersuchung und der Benennung von Problemen, und Erinnerung prägte Viernstein mit der Archivierung der Untersuchungsakten in der Kriminalbiologischen Sammelstelle. Doch als Experte hatte Viernstein nicht nur ein professionsadäquates Interesse in Bezug auf seine Stellung als Arzt; die kriminalbiologische Forschung, die er nach eigenen Aussagen „lieb gewann“, war die zweite Säule, auf der Viernsteins Selbstbewusstsein ruhte. Davon zeugt nicht nur seine extensive Publikationstätigkeit in wissenschaftlichen Fachzeitschriften, sondern auch – auf eher indirekte Weise – die Kriminalbiologische Untersuchung selbst: Der Umstand, dass zwischen dem immer wieder von ihm und Degen postulierten Potential der Kriminalbiologischen Untersuchung, den Strafvollzug und letztlich das deutsche Strafsystem aus der Krise zu führen, und der tatsächlichen Zahl der kriminalbiologisch untersuchten Gefangenen ein derart großes quantitatives Missverhältnis bestand, legt meines Erachtens nicht nur das Talent Viernsteins, sich als Experte und seine Untersuchung als unentbehrliches Instrument im modernen Strafdispositiv zu etablieren, offen. Dieses Missverhältnis lässt auch die Schlussfolgerung zu, dass Viernsteins wissenschaftliches Interesse und das Ziel einer repräsentativen statistischen Erfassung der Gefangenen höher rangierte als sein Interesse, für möglichst viele Gefangene eine kriminalbiologisch fundierte soziale Prognose zu stellen (Müller 2004: 249). Richard Degen nun, der für den bayerischen Strafvollzug zuständige Ministerialdirektor, mag ebenfalls persönliche Interessen gehabt haben, doch bei ihm lässt sich, zumindest in der Anfangszeit bis 1929, ein durchaus authentisches Bestreben nachweisen, den Strafvollzug einerseits sozialer, liberaler und vielleicht sogar humaner gestalten – wenn auch nur für bestimmte Strafgefangene, denn er trat gleichzeitig und andererseits dafür ein, den Strafvollzug für unverbesserliche Verbrecher repressiv zu gestalten. Gemeinsam mit anderen Ministerialbeamten im Bayerischen Justizministerium dürfte ihm aber auch daran gelegen gewesen sein, den Status Bayerns als Vorreiterstaat in Sachen Modernisierung und Verwissenschaftlichung des Strafvollzugs zu etablieren. Das Bayerische Justizministerium tat Einiges, um sich als führend auf diesem Gebiet zu positionieren: Der Versand der Ministerialentschließungen, die Fortbildungsmaßnahme, mit der Vollzugsbeamte für die anthropometrischen Messungen und die Feinheiten der Kriminalbiologischen Untersuchung trainieren werden sollten, der sicherlich teure Versand von „Der Stufenstrafvollzug“ – all das waren geeignete Maßnahmen, das Renommee des Justizministeriums in Justizkreisen zu steigern. Beim Justizministerium lässt sich noch ein weiteres Interesse ausmachen: Sein Wissenschaftsbedürfnis dürfte für die Einrichtung von Untersuchung und Sammelstelle als starker pull factor gewirkt haben. Das Ministerium war, als der Straubinger Anstaltsarzt ihm mit seinen Karriere- und For-

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schungsinteressen gleichsam ‚von unten‘ entgegenkam, bereit, die Chance zur Rationalisierung des Strafvollzugs zu nutzen. Gleichwohl nicht, ohne die Wissenschaftlichkeit durch die Einbindung von externen wissenschaftlichen Experten, dem Beirat der Kriminalbiologischen Sammelstelle, abzusichern. Dass hierbei auf die Münchner Rassenhygieniker um von Gruber, Fritz Lenz und Rüdin zurückgegriffen wurde, belegt noch einmal den Einfluss des erbbiologischen Denkkollektivs auf staatliche Instanzen in Bayern. Diesen Einfluss verstärke Viernstein noch, indem er sich bei der Kriminalbiologie, der Charakterologie und der Erbbiologie bediente. Damit waren diese Wissenschaften in dem Moment, wo sich die staatliche Unterstützung der Untersuchung abzuzeichnen begann, als starker push factor im Spiel und richteten ihre Forschung stärker an kriminalpolitischen Fragen aus – zumal sich die Kriminalbiologische Untersuchung als Instrument im Rahmen von Kriminal- und Strafpolitik etablierte und mit ihr und über sie wissenschaftliche Theorien vom Verbrecher noch weiter an Einfluss gewannen. Doch die Motive und die eindeutigen Interessen, die für eine Einrichtung von Kriminalbiologischer Untersuchung und Sammelstelle sprachen, konnten die verschiedenen Probleme, die mit diesen Praktiken verbunden waren, auch schon für die Zeitgenossen nicht überdecken. Die damalige Kritik an der Unausgereiftheit kriminalbiologischer Theorien und den unzulänglichen Untersuchungsmethoden Viernsteins durch Liepmann, Bondy, Petrzilka und Sieverts und auch durch Klare wurde schon dargestellt. Weitere ‚Kritik‘ übt die moderne Forschung. So identifiziert Christian Müller einen grundsätzlichen „Geburtsfehler“, an dem die Kriminalbiologische Untersuchung gelitten habe: „Die Untersuchung war einerseits als reine Datenerhebung konzipiert, die das Material für künftige massenstatistische Forschungen über den Kausalzusammenhang von Persönlichkeitsmerkmalen bzw. Erbanlagen und kriminellen Dispositionen liefern sollte; andererseits bildete sie unmittelbar die Grundlage für eine individuelle „soziale Prognose“ zum Zweck der Einstufung des Gefangenen“ (Müller 2004: 247). Grundlagenforschung und Anwendung seien hierbei zusammengefallen, ohne dass eine empirische Überprüfung von Verbrechertypen anhand des Materials unternommen worden wäre. Da es an empirisch abgesicherten Kriminalitätstheorien gemangelt habe, konnten die kriminalbiologischen Untersuchungen ihrem unmittelbaren praktischen Zweck nicht gerecht werden. Daher sei es auch nur konsequent gewesen, dass den Gefängnisärzten keine konkrete Anleitung gegeben worden sei, wie sie – ausgehend von den ermittelten Daten – zu einer sozialen Prognose kommen sollten. Die empirische Suche nach den Merkmalen des Verbrechers wurde demnach mit der Nutzanwendung ihrer eigenen Ergebnisse in einem Arbeitsschritt vereinigt, wodurch die Untersuchung, als zirkulär zu bezeichnen ist: Bereits beim Design der Fragebögen mussten Viernstein und seine Mitarbeiter genaue diejenigen Merkmale benennen, deren kriminogene Wirkung durch den Fragebogen erst ermittelt werden sollte. So sagen diese Bögen letztlich mehr über das vorwissenschaftliche Verständnis ihrer Verfasser und über ihre moralischen und sozia

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len Wertungen als über die Ätiologie des Verbrechens aus (Burgmair et al. 1999: 257). Viernstein selbst beschrieb die Situation der Prognosestellung als „intuitiv-empirisches Urteil“ (zit. n. Mayenburg 2006: 299, Anm. 1346). Der wissenschaftliche Anspruch wurde demnach nicht eingelöst. Methodisch ebenso wenig reflektiert wurde zudem, dass die Gefangenen die praktischen Konsequenzen der Untersuchung mit in ihr Verhalten während einer solchen einkalkuliert haben dürften: „Das Verfahren der ‚Autoanamnese‘, das in der ärztlichen Praxis wertvolle diagnostische Hinweise liefern kann, musste als Mittel der objektiven kriminologischen Datenerhebung versagen“ (Müller 2004: 256f.). Da die Angaben über die Familie, über die eigene biografische Entwicklung sowie über Einstellungen gegenüber ihrer Umwelt zum überwiegenden Teil von den Gefangenen selbst stammten, werden diese – wie bei jeder Befragung durch Strafverfolgungsbehörden – belastende Umstände verschwiegen haben. Verdenken kann man es den Untersuchten nicht, waren doch sowohl die Heimatberichte wie auch die kriminalbiologischen Gutachten – zumal diejenigen, die im Strafverfahren verwendet wurden – geeignet, die Gefangenen zu stigmatisieren und die Resozialisierungschancen zu mindern. Ähnliches galt auch für den Eintrag, dass eine Person kriminalbiologisch untersucht worden war, in das Strafregister. Eintrag und Gutachten beeinflussten mit hoher Wahrscheinlichkeit die richterliche Strafzumessung oder die Entscheidung über vorzeitige Entlassung oder Aufenthalts- und Gewerbegenehmigungen (Müller 2004: 258f.). Diese Effekte nicht reflektiert zu haben, zeigt ebenfalls den ambivalenten sozialmoralischen Hintergrund der Verantwortlichen auf. Doch bereits bei der Einrichtung der Untersuchung war ein solcher Hintergrund von ausschlaggebender Bedeutung, spielte doch die moralische Orientierungskrise im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik und infolge des Zusammenbruchs moralischer Standards im und nach dem Ersten Weltkrieg dabei eine große Rolle. Oliver Liang vermutet, wie dargelegt, hier das wahre Motiv für die Durchsetzung der Kriminalbiologischen Untersuchung, nämlich im Wunsch des „Bavarian penal establishment“, ihre bürgerlichen Moralvorstellungen und ihre Ablehnung dessen, was sie unter ‚Moderne‘ verstanden, biologisch fundiert zu bemänteln: „The most compelling reason that motivated Bavarian supporters of criminal biology was an interest in recasting a bourgeois vision of morality through a religious interpretation of biology. The notion of ‚biology‘ allowed elite groups to buttress their crumbling positions, reinforce their moral values and taboos against certain forms of behavior, and in general recast a bourgeois moral discourse against what was perceived as cosmopolitanism, moral relativism, cultural decadence, urbanism, and socialism – in short, modernity.“ (Liang 2006: 427)

Dabei waren sowohl professionelle wie weltanschauliche Hintergründe wirksam: Die Angehörigen des bayerischen Gefängnissystems entstammten

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dem Bürgertum und waren während der Weimarer Zeit in professionelle Bedrängnis geraten; sie sahen ihren sozialen Status und ihr Wohlergehen durch Revolution und Massenpolitik bedroht. Aus diesem Grund tendierten wie etwa der spätere Reichsjustizminister Gürtner oder die Psychiater Luxenburger und Rüdin, beide Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats der Kriminalbiologischen Sammelstelle, sowie Viernstein selbst zu konservativen und nationalistischen Haltungen. Infolge einer weitgehenden Säkularisierung hatte der Statusverlust auch die Gefängnisgeistlichen getroffen: Die Teilnahme an den Gottesdiensten in den Gefängnissen sei zurückgegangen und die Geistlichen seien mit feindseligen, antiklerikalen oder sozialistischen Strafgefangenen konfrontiert gewesen. Liang schlussfolgert: „These convergent social and political backgrounds prompted Bavarian jurists, doctors, and clergy to support the criminal-biological project with particular fervor“ (Liang 2006: 429). Auf der weltanschaulich-moralischen Ebene eröffneten die Kriminalbiologie und die Kriminalbiologische Untersuchung also einen neuen Weg, den moralischen Zustand der Gesellschaft nicht nur zu kommentieren, sondern über die Selektion des ‚biologisch Unmoralischen‘ auch aktiv zu gestalten: „Dominating criminal-biological discourse was a concern for outlining and maintaining an imagined bourgeois social order based on traditional class and gender roles. By linking the term ‚biology‘ with ‚crime‘, diverse elite groups were able to anchor their social visions in a tangible ‚science‘ and overcome the moral relativism that many saw as the root of social decay.“ (Liang 2006: 443). Im konkreten Umgang mit Gefangenen in der Kriminalbiologischen Untersuchung und im Strafvollzug äußerte sich dieser Hintergrund als vorurteilsvolles Abschreiben der Gefangenen, die ein ‚unerwünschtes Verhalten‘ in Freiheit und im Vollzug an den Tag legten: „Prison officials were particularly inclined to write off those inmates who had most manifestly failed to conform to the moral, political, and social values of bourgeois society. Most of the inmates judged as ‚incorrigible‘ had grown up in unstable families in urban centers, which had long been regarded by prison officials as cesspools of depravity and degeneration“ (Wachsmann 2001: 52). Die Biologisierung der Moderne mit deren sichtbaren Auswirkungen, mit Urbanität, der Auflösung traditioneller Wertorientierungen und mit dem wachsenden Umfang sozialer Schieflagen vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, erlaubte es nicht nur, neue Deutungen für das Scheitern der einstmals bestbewährten, nun aber offensichtlich unwirksam gewordenen gesellschaftlichen und moralischen Orientierungen anzubieten, sondern auch, dieses Scheitern nicht den nun anachronistischen Deutungen selbst anzulasten. Das Projekt der Liberalisierung und Demokratisierung wurde aus dem biologistischen Lager letztlich mit dem Argument attackiert, dass es nicht imstande sei, den sich Bahn brechenden biologischen Realitäten ins Auge zu sehen und diese wirksam zu bekämpfen. Die sichtbaren Verwerfungen des Modernitätsprozesses galten nun als die problematische Folge unkontrollierter biologischer Wirkfaktoren, denen eine liberale Haltung nicht gewachsen sei. 

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Die neuen biologischen Deutungen moralischer Verfehlungen und sozialer Abweichungen allgemein, von Kriminalität aber ganz besonders, konnten ebenso wie der biologisch fundierte, selektionistische Umgang mit Abweichung aufgrund der scheinbar unausweichlichen sozialpolitischen Notwendigkeit, die biologische Integrität des Volkes zu sichern, legitimiert werden. Diese Verbindung von Moral und Biologie fand, wie im Verlauf der vorliegenden Arbeit deutlich geworden sein sollte, einen Ausdruck auch in Konzeption und Durchführung der Kriminalbiologischen Untersuchung. Und genau hierin liegt der Grund, warum Peter Beckers These von der Ablösung des Erzählmusters vom „gefallenen Menschen“ durch das Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ widersprochen werden muss: Wenn das Erzählmuster vom „gefallenen Engel“ in seiner Reinform dadurch charakterisiert war, dass der Verbrecher als verantwortlicher Sünder galt, dessen falsche Gesinnung ihn zu unvernünftigen Entscheidungen geführt habe, und wenn das Erzählmuster vom „verhinderten Menschen“ dessen ‚Verhinderung‘ als Folge seines defizitären Menschseins interpretierte, dann ist mit Blick auf Konzept und Durchführung der Kriminalbiologischen Untersuchung festzustellen, dass dort diese beiden Erzählmuster nebeneinander standen. Das eine Erzählmuster wurde nicht einfach durch das andere abgelöst, der Prozess scheint wesentlich differenzierter gewesen zu sein: Es konnte beobachten werden, dass auf der grundlegenden Ebene der Kriminalbiologischen Untersuchung das Erzählmuster vom „verhinderten“ neben das vom „gefallenen Menschen“ trat, denn genauso gut wie mit seiner Biologie konnte die Unverbesserlichkeit eines untersuchten Gefangenen mit dessen falscher Gesinnung interpretiert werden. Meines Erachtens ist es jedoch möglich, noch einen Schritt weiter zu gehen und die beiden Erzählmuster für die Kriminalbiologische Untersuchung zu verbinden: Die Kriminalbiologische Untersuchung war eigentlich eine kriminalcharakterologische und -moralische Untersuchung, die mit der biologischen Prämisse von der Anlagebedingtheit des Charakters eines Menschen dessen moralische Verwerflichkeit und amoralische Gesinnung zu identifizieren, zu differenzieren und zu erklären suchte. So gesehen handelt es sich hier um ein neues Erzählmuster, in dem Elemente aus den beiden von Becker identifizierten Erzählmustern amalgiert waren. Will man einen Begriff für dieses neue Erzählmuster finden, so könnte man es als das Erzählmuster vom „Verbrecher als biologischem Wesen“ bezeichnen, da in dieser Formel Viernsteins Auffassung, das der Verbrecher aufgrund seines anlagebedingten Charakters auf spezifische Weise auf seine Umwelt reagiere und moralisch bewertbare und strafrechtlich sanktionierbare Entscheidung treffe, komprimiert ist.

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W ISSENSGENERIERUNG UND K RIMINALBIOLOGISCHE U NTERSUCHUNG Unmittelbar entstand die Kriminalbiologische Untersuchung aus dem Problemlösungsdruck, der sich aufgrund der Notwendigkeiten des Stufenstrafvollzugs ergeben hatte, mittelbar aus der bedrohlichen sozialen Krise der Rückfallkriminalität, mit der das Eingeständnis von Strafrechtlern und frühen Kriminologen, zu wenig vom Verbrecher zu wissen, einherging. Auf diese beiden Krisenlagen – Bedrohung und fehlendes Wissen – wollte Viernstein mit der Kriminalbiologischen Untersuchung reagieren: Mehr und besseres Wissen sollte mit ihr bereitgestellt werden, um den rückfälligen Verbrecher, das gefährliche Individuum, und damit auch die gefährlichen Klassen wirksamer bekämpfen zu können. Für die Konzeption der Kriminalbiologischen Untersuchung griff Viernstein auf vorgängiges Wissen aus zwei Sphären zurück: explizit auf Wissen aus der Wissenschaft – aus Psychiatrie und Psychologie, vor allem Charakterologie, aber auch Pädagogik, Soziologie, Anthropologie und Erbbiologie – und implizit auf Wissen aus der Lebenswelt, auf vorgängige Moral- und Ordnungsvorstellungen. Wenn also nun danach gefragt wurde, wie sich die kriminologischen und die charakterologischen Vorstellungen sowie die lebensweltlichen, sozial-moralischen Hintergründe in der Konzeption und im Fragebogen der Untersuchung einerseits, in den Schlussfolgerungen der Untersucher andererseits und damit auf die sozialen Prognosen, die den Strafgefangenen gestellt wurden, ausgewirkt haben, dann hat sich gezeigt, dass die explizite und die implizite Ebene zu unterscheiden sind: Die explizite Referenz auf die wissenschaftliche Sphäre fand ihren Niederschlag einerseits in den theoretischen Schriften Viernsteins, andererseits auch im Design des Fragebogens, in das viele der wissenschaftlichen Kriterien eingeflossen waren. Die implizite Ebene aber lässt sich in den wissenschaftlichen Texten gar nicht und im Fragebogen selbst nur bei bestimmten Untersuchungspunkten erkennen, die zudem nicht eindeutig nur dieser Sphäre zugeordnet werden können – etwa beim Untersuchungspunkt zur Ehelichkeit der Geburt. Zumeist war mit diesen ambivalent zwischen explizit wissenschaftlich und implizit sozialmoralisch schwankenden Untersuchungspunkten auch ein tatsächlich kriminogener Hintergrund zu eruieren. Und umgekehrt standen allein wissenschaftliche Ausmessungsbereiche wie der anthropometrische zum Teil recht unverbunden neben den Auslegungen der anderen Ausmessungsbereiche: „The required anthropometric data was perfunctory compared to the rich discussions of sex, gender, social class, politics, and religion that were evoked in rendering judgment on a prisoner. These factors were not cited as a direct cause of the inmate’s behavior […] Criminal biologists never bluntly stated that nonreligiosity or sexual promiscuity were direct causes of criminality; instead, such factors were evoked as a trope within the evaluation. The causality was inferred yet nevertheless explicit.



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Criminal biology drew its power precisely from this extreme flexibility and ambiguity, allowing it to glibly suggest that working-class males were mostly hereditary criminals without actually having to serve up any definitive proof.“ (Liang 2006: 440)

Zwischen Untersuchungspunkten und der Kommentierung des Untersuchers im Befundbogen bestand demnach eine deutliche Lücke hinsichtlich der Kausalität: Die meisten Punkte wurden vielmehr flexibel am konkreten Einzelfall ausgelegt und dort aufgerufen. Zwar gilt diese Schlussfolgerung auch für die männlichen Strafgefangenen; am deutlichsten wurde sie aber bei der Analyse der Untersuchungen von weiblichen Strafgefangenen; hieran kann das grundlegende Prinzip auch gut verdeutlicht werden: Die Kriminalbiologische Untersuchung erscheint auf einen ersten Blick als eine Schnittstelle zwischen Diskurs und Praxis und könnte daher der Ort sein, der Wirksamkeit eines vorgängigen Wissens in einer Praxis nachspüren zu können. So verstanden hätte der kriminologische Diskurs über verbrecherische Frauen einen Niederschlag in den Untersuchungskategorien der Kriminalbiologischen Untersuchung und in den einzelnen Akten finden müssen. Dieser erste Blick musste jedoch hinterfragt und anerkannt werden, dass nicht der Diskurs in einer Weise, die dem Konzept der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ entspräche, in die Praxis diffundiert wäre, sondern dass in beiden Bereichen mit den jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln und auf die je eigene Weise die zeitgenössische Geschlechterdifferenz reproduziert wurde. Kriminologischer Diskurs und Kriminalbiologische Untersuchung speisten sich, wie ebenfalls die Äußerungen Birnbaums über die „Natur“ der Frau zeigen, in ihrer Perspektive auf die Verbrecherin aus der vorgängigen Ordnung der Geschlechter und lebensweltlichen Evidenzen und setzten diese in ihre jeweilige Erklärungsintention und -form um. Eine Unterscheidung in ‚der Diskurs über die Frau als Verbrecherin‘ und ‚die charakterologische Bestimmung der Strafgefangenen in der Kriminalbiologischen Untersuchung‘ ist daher in inhaltlicher Hinsicht irreführend; vielmehr lassen sich beide demselben, zudem lebensweltlich fundierten Denkstil zuordnen, der ähnliche Interpretationen über die Frau und die verbrecherische Frau nahe legte. Wenn man etwa berücksichtigt, welche Einflussfaktoren auf den kriminologischen Diskurs wirkten, dann zeigt sich, dass sich dieser, obwohl der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit bestand, gerade in der Frühphase auch aus allerlei pseudo- und vorwissenschaftlichen Aussagen über Menschen, die eine von der Gesellschaft sanktionierte Handlung begangen haben, zusammensetzte. Es flossen verbrecherische Figuren aus der Literatur ein, Sprichwörter, Aussagen aus dem Repertoire zeitgenössischen Wahrheiten über Frauen und Männer. Der vorgeblich „wissenschaftliche“ Diskurs über den Verbrecher und über die Verbrecherin war weit davon entfernt, repräsentative, empirisch gesicherte Daten über deren „Wesen“ zu präsentieren, beruhte er doch häufig auf persönlichen Erfahrungen der Psychiater und Juristen, die den Diskurs trugen, und auf un-

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systematischen Untersuchungen kleiner, nicht repräsentativer Samples anhand von Fragen, die nicht einem wissenschaftlichen Zusammenhang, sondern in der Mehrzahl kriminalpolitischen Notwendigkeiten entsprangen – und nicht zuletzt dem zeitgenössischen common sense, den unhinterfragten „Selbstverständlichkeiten“ und Plausibilitäten (so auch Uhl 2003: 147-152). Dass keine kriminologisch fundierten Kategorien über die Frau als Verbrecherin in der Kriminalbiologischen Untersuchung gefunden werden konnten, dass dort vielmehr ebenfalls die zeitgenössische Ordnung der Geschlechter reproduziert wurde – und auf der Ebene einer Praktik zur Herstellung und Verfestigung sozialer Distinktion fest- und fortgeschrieben wurde – spricht gegen die Auffassung eine linearen Transfers wissenschaftlichen Wissens in die Praxis: Von einer einfachen Diffusion vorgängigen wissenschaftlichen Wissens aus dem abgebenden System der Wissenschaft in das aufnehmende System der Praxis (Galassi 2004: 17f.) kann in diesem Fall nicht gesprochen werden. Letztlich entscheidet die Erklärungs- bzw. die Problemlösungsintention, in welcher Weise welches ‚System‘ was von welchem ‚System‘ aufnimmt. Es muss also die Frage gestellt werden, ob das in der Wissenschaftshistoriografie immer noch gängige Diffusionsmodell einer stringenten Anwendung stand hält, zumal die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache im Sinne Ludwik Flecks nicht in einer Weise autonom in einem sich selbst kontrollierenden Wissenschaftssystem vonstatten geht, die die Zuschreibung eines ‚überlegenen‘ Wahrheitsanspruchs dieses Wissens rechtfertigt; der Einfluss außerwissenschaftlicher Faktoren auf die Generierung von Wissen muss stärker in den Blick genommen werden. Auch für die Kriminalbiologische Untersuchung muss demnach vielmehr ein wechselwirkendes Beziehungsgeflecht angenommen werden: Zwischen lebensweltlichen Evidenzen und unhinterfragten Annahmen über das Wesen des Verbrechers und der Verbrecherin einerseits, einem gelehrten Diskurs in Text und Begriff andererseits und schließlich einer am Einzelfall und an der Pragmatik des Alltags orientierten Praxis, die das ihr (sich selbst) gestellte sozialpolitische Problem zu lösen hatte – nämlich einem Gefangenen, einer Gefangenen, eine zutreffende soziale Prognose zu stellen. Versteht man die beiden Bereiche als je eigene Umsetzungen spezifischer Auffassungen über die Wesenheit von verbrecherischen Menschen, so zeigt sich auf einer letztlich basalen Ebene, dass der Diskurs eben stärker normativ orientiert war und Postulate und Theorien verbreitete, während die Praxis geprägt war von einem eher problemlösenden Zugriff auf ihren Gegenstand: den verbrecherischen Menschen. Das Verhältnis von Theorie und Praxis muss demnach differenziert werden; ein einfach lineares Modell reicht hinsichtlich der Kriminalbiologischen Untersuchung nicht aus. Wenn überhaupt eine enge Beziehung angenommen werden kann, dann bestand diese, wie schon angedeutet, in einer wechselwirkenden Beziehung aus Problemlösungsbedürfnis (Bestimmung des besserungsfähigen bzw. unverbesserlichen Verbrechers im Rahmen einer Persönlichkeitsuntersuchung im Stufenstrafvollzug), Lösungssuche (bei Bezugswissenschaften und le

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bensweltlichen Evidenzen) und Umsetzung der den Bezugssphären entnommenen Kriterien (der kriminalbiologische Fragebogen). Diese Ergebnisse, gewonnen aus der Betrachtung der Kriminalbiologischen Untersuchung unter der Perspektive der Problemorientiertheit und der Fleckschen Theorie, berühren auch die letzte Ausgangsfrage der Studie, ob die Kriminalbiologische Untersuchung und die Sammelstelle als Nachweissysteme für Verbrecherkategorien fungierten. Die Antwort ist ein definites Jein. Die Kriminalbiologische Untersuchung war nicht in der Lage – und dafür war sie wohl auch gar nicht eingerichtet – die diskursiv skizzierten, elaborierten Verbrechertypen in Gänze nachzuweisen. Sie zielte vielmehr auf eine Bestimmung der bereits von Franz Liszt eingeführten Verbrecherkategorien, auf den Nachweis von Typen höherer Ordnung im Fleckschen Sinne, auf besserungsfähige und unverbesserliche Gefangene, denen grob die Subtypen Gewohnheits- und Gelegenheitsverbrecher entsprachen, und nicht auf die differenzierten Ausnahmestandards, auf Typen unterer Ordnung. Die Kriminalbiologische Untersuchung war demnach eingerichtet worden, um nachzuweisen, ob der untersuchte Strafgefangene ein „gefährliches Individuum“ war oder nicht. Analog dazu sollte die Kriminalbiologische Sammelstelle als Nachweissystem für die „gefährliche Klassen“ dienen. Dieses waren gleichsam die Bedingungen, die den Rahmen vorgaben, innerhalb dessen die aktiven Koppelungen gesetzt werden konnten, z.B. dass den Gewohnheitsverbrecher Frühkriminalität, antisoziale Lebensführung, Herkunft aus den unteren Schichten der Gesellschaft, mangelnde altruistische Reaktionsweisen und einiges andere kennzeichne. Die Rahmenbedingungen und die aktiven Setzungen führten dann, gleichsam automatisch zu passiven Kopplungen, dem vermeintlich wissenschaftlichen Nachweis einer Tatsache: „B. ist ein ausgesprochener Gewohnheitsverbrecher“. Hier nun, im Nachweis des „gefährlichen Individuums“, des Gewohnheitsverbrechers, entfaltete die Kriminalbiologische Untersuchung ihre volle diagnostische Kraft: Im Rahmen der als objektive und wissenschaftliche Nachweispraktik verabsolutierten Kriminalbiologischen Untersuchung erhielt, wenn der Untersucher darauf befand, diese eine Verbrecherkategorie des Gewohnheitsverbrechers den Status eines wissenschaftlichen Beweises, eben einer Tatsache. Hier bedeutete dieser Zusammenhang Kategorie und Diagnose, dass ein aus lebensweltlichen Evidenzen, sozial-moralischen Werturteilen und deduktiver Kategorisierung gewonnener, vorgängiger Charaktertypus mittels einer umfänglichen, differenzierten Anamnese objektiviert und demnach ‚wissenschaftlich‘ am konkreten Einzelfall nachgewiesen werden konnte. Zwischen Kategorie und Diagnose entstand also ein Zusammenhang, der als gleichsam geprüfte wissenschaftliche Tatsache wahrgenommen worden ist mit dem Effekt, eine Bestätigung zu liefern für jene unter anderem von Franz Liszt zwar mit Gewissheit formulierte, aber seinerzeit noch nicht belegte Behauptung: „Der Gewohnheitsverbrecher existiert“.

Körperhistorische Einordnung: Topografie der Abweichung

Viernstein verband also zwei Nachweisziele mit der Einrichtung von Kriminalbiologischer Untersuchung und Sammelstelle. Die Untersuchung sollte mit der Aufschlüsselung der Persönlichkeit nach ihren anlagemäßigen und erworbenen Eigenschaften und ihren umweltlichen Einflüssen ein „Individualbild“ des Verbrechers zeichnen. Diese Formulierung ist ganz wörtlich zu nehmen, kann in diesem Individualbild doch eine Strategie gesehen werden, das abweichende Individuum und seinen Körper – verstanden als Ausdrucksort körperlicher, geistiger und sozialer Dispositionen und biografischer Lebensentscheidungen – zu fragmentieren, zu interpretieren, wieder zusammenzusetzen und zu visualisieren. Damit fungierte die Kriminalbiologische Untersuchung als ein Instrumentarium der Kartografierung der Abweichung des konkreten Verbrechers, des mapping the body. Zum anderen hegte Viernstein mit der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle den Wunsch, die Gesamtbevölkerung erbbiologisch zu inventarisieren. Indem er seine Erfassungsabsichten zunächst auf die Verbrecher und ihre Verwandtschaft einschränkte, zielte die Kriminalbiologische Sammelstelle auf die Erfassung einer Gruppe, so dass, unabhängig davon, ob diese Gruppe tatsächlich abgrenzbar war oder auch nicht, der Effekt dieser Erfassung die Kartografierung des devianten Bevölkerungsteils war, das mapping criminality. Viernsteins Absicht, nicht nur die „gesamte Bevölkerung unseres Vaterlandes“ biologisch zu erfassen, sondern sie auch „nach ihrem Erbwerte zu klassifizieren“ (Vierstein 1933b: 40), ging über das mapping criminality, aber auch über die administrativen Möglichkeiten der Kriminalbiologischen Untersuchung selbst zur Zeit des Nationalsozialismus, deutlich hinaus. Gleichwohl kann geschlossen werden, dass mit den Intentionen, die mit Untersuchung und Sammelstelle verbunden waren, mit der Gestaltung des Fragebogens und mit der Form der praktischen Durchführung von Untersuchung und Archivierung die Voraussetzungen für die administrative Erstellung einer Topografie der Abweichung gegeben waren.

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F RAGMENTIERUNG UND K ARTOGRAFIERUNG Es war dabei kein Zufall, dass der Körper des Verbrechers – im ganzheitlichen Blick Viernsteins neben dem tatsächlichen Körper auch der Charakter und die Lebensführung einer Person – sowie die ebenfalls körperlich interpretierte, gleichsam als ‚Fremdkörper‘ im „Volkskörper“ verstandene „verbrecherische Schicht“ die Objekte dieser Topografie der Abweichung waren. In der methodischen Orientierung wurde bereits angerissen, dass im zeitgenössischen Quantifizierungs- und Qualifizierungsparadigma der Körper des Verbrechers als ein Ort der Typisierung und der Inventarisierung galt, an dem humanwissenschaftliche und sozialtechnologische Erfassungs-, Regulierungs- und Behandlungsphantasien exerziert und gemäß vorgängiger Kriterien von Normalität vollzogen wurden. Die Kriminalbiologische Untersuchung war mit ihren Typisierungs- und Vermessungspraktiken, mit ihren Erfassungs- und Inventarisierungstechniken ein definitiver Teil dieses Paradigmas, wurde mit ihr doch auf qualitative Weise die Vermessung des Verbrecherkörpers mit sozialmoralischen Normalitäts- und Werturteilen über eine Person und ihre Lebensführung zusammengebracht, um diese dann im Stufenstrafvollzug Prozessen der Regulierung, der Disziplinierung und der Behandlung zu unterwerfen. In diesem Sinn war der Verbrecherkörper im Rahmen des Stufenstrafvollzugs immer auch Disziplinierungsobjekt. Der Körper des Verbrechers erscheint damit als Signum seiner Menschlichkeit gegenüber der Macht, die diesem Menschen gegenüber ausagiert wurde, als Messinstrument, mit dem die Zumutungen der Moderne gegenüber Individuen abgelesen werden kann (Sarasin 1999: 440). Der Körper des Verbrechers, sein ‚Leib‘ gewissermaßen, war dieser Macht unterworfen, er war im Strafvollzug der Freizügigkeit beraubt und den disziplinierenden Mechanismen des Gefängnislebens ausgesetzt – als Sühne, als Bestrafung, zur begrenzten gesellschaftlichen Nutzbringung. Sein ‚Körper‘ hingegen stand im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung gleichsam symbolisch für seine Andersartigkeit als Verbrecher; er konnte ausgemessen, visualisiert, normalisiert werden: Denn vor der Disziplinierung stand das sozialmoralische Werturteil über diesen Körper, das in einer konkreten Untersuchung gefällt wurde. Dieses Werturteil beruhte auf der intendierten Erfassungsrichtung der Untersuchung, näherte sich der Untersucher dem zu untersuchenden verurteilten Strafgefangenen doch mit dem Wissen, den Körper eines sozial (und biologisch?) abweichenden Menschen auszumessen. Damit aber war nur noch ein binärer Blick auf den Untersuchten möglich, ein Blick, der einer ebenso binären Logik folgte, nämlich der basalen Unterscheidung von Konformität und Abweichung. Damit wurde der Verbrecherkörper zum Ort der Markierung sozialer Strukturen und Beziehungen, an dem auf vorgeblich wissenschaftliche Weise bestimmt werden konnte, was als ‚normal‘ zu gelten habe und was nicht. Diese binäre Bestimmung von Abweichung bei konkreten Individuen in ihren körperlichen, geistigen und sozialen Ausdrucksmomenten war Aufgabe der

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Diagnostik der Kriminalbiologischen Untersuchung und wurde durch die größtmögliche Fragmentierung des Verbrecherkörpers in einer bis dahin unbekannten Detailtiefe erreicht. An den Fragmenten konnten dann vermeintliche kriminogene Spuren ‚aufgedeckt‘ werden, konnten Bereiche (wie etwa „Haltlosigkeit“) benannt werden, von denen man glaubte, dass aus ihnen Abweichung hervorgehe, und mit gewünschten und sozial brauchbaren Merkmalen (wie etwa „Halt“ und „warme Beziehungen“ zum sozialen Umfeld) negativ kontrastiert werden. Solcher Fragmentierung haftete jedoch etwas Künstliches, etwas Konstruiertes an, wie Peter Strasser in einer feinsinnigen Analyse der kriminalanthropologischen Vorstellungen Lombrosos deutlich gemacht hat: „[… A]ll diese anatomischen Details, die nicht einfach da sind in dem schlichten Sinne von ‚So ist es‘, sondern in ihrer ganzen Abscheulichkeit symbolhaft über sich hinausweisen. Dieses Übersichhinausweisen ist nichts, was für die Datenproduktion und die kriminologische Theoriebildung nebensächlich wäre, sondern im Gegenteil dessen Apriori. Die Bestie ist Totalität. Nichts am lombrosianischen Verbrecher, mag es auch unter dem Titel verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen abgehandelt werden, ist bloß disparates empirisches Objekt. Deshalb auch die Faszination des Physiognomischen nicht nur am Gesicht, am Ausdruck, am Mienenspiel, sondern am ganzen Körper des Homo deliquens, vom Bau des Schädels bis zur Weise des Gangs. […] So wie die Seele des Verbrechers auf der Oberfläche seiner Gestalt sich zerstreut und ‚ausspricht‘, so ist diese Gestalt selbst eine Repräsentation der Unordnung, die letzten Endes die ganze Lebens-Welt umfaßt, weil in jedem zentralen Lebensfeld semantisierte Objekte aufscheinen, die Repräsentanten der Unordnung sind gemäß dem manichäischen Formationsgesetz von Gut und Böse. […] Der Verbrecher als Totalität unterhält symbolische Beziehungen mit allen Elementen im Reich der Unordnung […]. Was Lombroso an der Gestalt des Verbrechers sieht, indem er ein semantisiertes Objekt wahrnimmt, ist bedingt durch die Art und Weise, in der die Kultur, durch die hindurch der Blick des Forschers sich seinem Gegenstand zuwendet, das Reich der Unordnung organisiert.“ (Strasser 2005: 88f.; Hervorhebung im Original)

Diese Strategie Lombrosos, körperlich-geistige Fragmente beim Verbrecher mit kriminogener Bedeutung zu versehen, lebte in der Kriminalbiologischen Untersuchung wieder auf – vermutlich, als Präidee, sogar einfach weiter. Auch bei einer kriminalbiologischen Untersuchung wurde der Verbrecher in den Zustand des ‚Semantisiertseins‘ überführt, in die „Ambivalenz von Objekt (das Signifikat sein kann) und Zeichen.“ (Strasser 2005: 87f.) Der Verbrecher war Signifikat, also das Bezeichnete, das Objekt, und Signifikant, also das Bezeichnende, das Zeichen, zugleich. Was hier überambitioniert klingt, verweist doch auf das unreflektierte methodische Vorgehen in der Kriminologie und der Kriminalbiologischen Untersuchung: Der Verbrecher – sein Körper, sein Charakter, seine Persönlichkeitsmerkmale und seine lebensgeschichtlichen Details – waren einerseits Gegenstand der kriminologi

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schen Beschreibung, also Objekte, andererseits fungierten sie als kriminogene Zeichen: Alle Fragmente des zerlegten Charakters eines Verbrechers waren nicht einfach da, sondern wiesen symbolhaft über sich hinaus: auf die Abweichung. Lombroso war seinerzeit, so Strasser über dessen Blick auf die Anatomie des Verbrechers, der Auffassung, dass sich die Seele des Verbrechers auf der Oberfläche seiner Gestalt ‚zerstreue‘ und ‚ausspreche‘ (Strasser 2005: 89). Ganz ähnlich sah dies Viernstein in Bezug auf den Charakter: Dieser zeige sich in den Handlungen, von denen auf die Reaktionsfähigkeit des Verbrechers in Bezug auf sozialethische Situationen geschlossen werden könne; der Charakter ‚spricht sich‘ so gesehen gleichsam in der Handlung aus. Die Fragmentierung des Charakters mittels der Kriminalbiologischen Untersuchung, seine „Zerlegung“, so Viernstein, könne den Untersucher der verbrecherischen Persönlichkeit näher bringen. Die Charakteranalyse als Aufschließung und Reintegration des Charakters in der Kriminalbiologischen Untersuchung litt jedoch an einer methodischen Schwäche, wenn die schematische Fragmentierung einerseits die Bestimmung der Abweichung liefern sollte, wenn sie andererseits aber als der Weg vorgestellt wurde, der vielfältigen Struktur der Persönlichkeit des Einzelfalls mit ihren normalen wie anormalen, „minderwertigen“ oder sogar krankhaften Zügen gerecht zu werden: „Von vorneherein die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit seelischer Ausprägungen und Bilder in ein vorerdachtes Schema zu pressen“, sei abzulehnen, wie Viernstein meinte (Viernstein 1929: 22). Gleichwohl wird deutlich, dass die eigene schematisierende, typisierende Tätigkeit des kriminalbiologischen Untersuchers in keiner Weise reflektiert wurde, denn die Aufschlüsselung der Persönlichkeit mit „vorerdachten“ Kriterien fragte nur wieder eben diese selben Kriterien ab: Der überaus umfang- und detailreiche Untersuchungspunkt 42 erscheint genau als ein solches „vorerdachtes Schema“, das Viernstein eigentlich ablehnte. Die plausible Illusion der Objektivität durch exzessive Empirie überschattete die engen Erkenntnisgrenzen von Fragmentierung; die Ausdehnung der Untersuchungspunkte fing die Bedeutungsvarianz von Typen nicht auf, sondern verlagerte das Problem nur auf eine niedrigere, für das Urteil aber nicht weniger wirksame Ebene. Es erscheint beinahe ironisch, wenn der Verzicht auf „a priori schablonisierende und schematisierende Betätigung“ mit einem, den Folgesatz einleitenden „Nichtsdestoweniger“ konterkariert wird: „Nichtsdestoweniger wird auch die Kriminalbiologie nach Erfüllung ihrer analytischen Aufgabe zu einer Zusammenfassung annähernd zusammengehöriger Persönlichkeiten ihrerseits schreiten.“ (Viernstein 1929: 23) Genau dafür aber war die Kriminalbiologische Untersuchung eingerichtet worden: Die Kriminalbiologie werde, so Viernstein, Typen schaffen wollen, um aufgrund einer „pädagogisch gedachten Verwandtschaft“ eine annähernd gleiche Behandlung im Strafvollzug zu ermöglichen, und die Kriminalbiologische Untersuchung werde die grundsätzliche Frage von Besserungsfähigkeit oder Unverbesserlichkeit mit Hilfe der Charakterologie entscheidbar ma-

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chen, indem sie diese Typen an ihrer Andersartigkeit gegenüber dem konformen Menschen erkennbar mache. Eben dieses Erkennbarmachen der Andersartigkeit ist gemeint, wenn hier von mapping gesprochen wird. „There is an alterity which provokes the desire to map, to contain and to represent – which is to say, to make familiar.“ (Diprose/Ferell 1991: ix) Das Erstellen einer Landkarte trägt also dazu bei, diese gefühlte und zunächst unbekannte Andersartigkeit vertraut, sich bekannt zu machen: durch die Typisierung von Verbrechern auf der diskursiven Ebene einerseits, durch das ‚Nachzeichnen‘ der typischen Linien am konkreten Verbrecher‘körper‘ in der Kriminalbiologischen Untersuchung andererseits.1 Eine solche Landkarte beschreibt jedoch nicht einfach, was ist; sie konstituiert nicht nur ein Raster, das umreißt, was entdeckt werden kann; sie ist auch nicht einfach eine Reihe von Linien, eingetragen auf einer zuvor unbeschriebenen Oberfläche. Vielmehr zieht das mapping Grenzen um die wahrgenommene Andersartigkeit eines Verbrechers; und ist damit einem Netz vergleichbar, das auch als eine Ansammlung von Löchern, verbunden durch eine Schnur, verstanden werden kann (Diprose/Ferell 1991: viiif.; so auch: Sarasin 1999: 449). Mapping heißt dann, eine Linie, eine Grenze zu ziehen um das Unbekannte, zu erkennen, wo es beginnt und wo es endet, es dann zu beschreiben und zu bestimmen, was es ausmacht, um es sich bekannt und wiedererkennbar zu machen. Denn die Aufgabe einer topografischen Karte ist es nicht nur, ein zuvor unbekanntes, nun vermessenes und aufgezeichnetes Terrain zu repräsentieren, sondern auch als ein Instrument zu dienen, sich in diesem Terrain bei erneutem Besuch orientieren zu können. Die Metapher von der Landkarte trägt außerordentlich weit: „Kartografie beginnt damit, Umrisslinien festzustellen, Grenzen einzuzeichnen; je dichter das Netz dieser distinguierenden Linien – etwa von Höhenlinien – gezogen ist, desto detaillierter erscheint in diesem Netz der Gegenstand“ (Sarasin 1999: 446). Die Landkarte der Abweichung, das Netz der Linien, das mit der Kriminalbiologischen Untersuchung um das Andere am Verbrecherkörper gezogen wurde, war ungemein dicht; mit großen Detailreichtum war am Körper des Verbrechers eine Topografie der Abweichung zu erkennen. Methodisch gilt aber zu bedenken: „At the same time, the very mapping of this difference produces its differences […]. Mapping, as representation, is inextricably caught up in the material production of what it represents“ (Diprose/Ferell 1991: ix). Auch die Kriminalbiologische Untersu-

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Diese Funktion von Landkarten, das Vertrautmachen zuvor unbekannten Terrains, ist, auch in Bezug auf die Kriminalbiologische Untersuchung, im Übrigen dem, was Fleck mit „Aviso“ beschrieben hat, nicht unähnlich: Dem ersten, unklaren Schauen fehlt der feste Widerstand, die feste Gestalt, die durch das entwickelte Gestaltsehen erkennbar wird, wenn man auf Bekanntes trifft oder auf Erwartetes; dieses Aviso aber, das sich dem freien Denken widersetzt, nannte Fleck „Tatsache“.



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chung brachte auf diese Weise erst hervor, was mit ihr bewiesen werden sollte: die Existenz des anderen, des gefährlichen Individuums, des Rückfalltäters. Indem eine Linie gezogen wurde, etwa um vermeintlich kriminogene Merkmale, wie etwa im vorgestellten Fall des Fritz B. um „eigenliebig“, „gewalttätig“ „kalt“, „fehlen völlig die sozialethischen Gefühle und Beziehungsmöglichkeiten“, dann bleibt auf der anderen, der konformen Seite dieser Linie, dass eine „Einordnung in die gesellschaftlichen Belange“ nicht mehr möglich sei. Die Grenze zwischen Konformität und Abweichung war gezogen; die topografischen Höhenlinien skizzierten die Form der Landmarke einer spezifischen Abweichung, markierten sie und machten sie damit überhaupt erst sichtbar.

R EINTEGRATION Fragmentierung und Kartografierung stellten jedoch nur eine der beiden Zugriffsweisen auf den Verbrecherkörper dar; die andere, gleich wichtige, war die erneute Zusammensetzung des zuvor fragmentierten und kartografierten Körpers, seine Reintegration. Diese geschah auf verschiedene Weisen, etwa in der im kriminalbiologischen Gutachten niedergelegten Erzählung über den Verbrecher, in der Fallgeschichte, in der Visualisierung des Verbrecherkörpers durch Unterstreichung und Benennung von Merkmalen im Befundbogen oder aufgrund des „prüfenden Blicks“ des Untersuchers, der zwischen den Merkmalsfragmenten und der Gesamtpersönlichkeit des untersuchten Strafgefangenen eine diagnostische Verbindung herstellte. In der sozialen Prognose schließlich, dem gewünschten Ergebnis einer kriminalbiologischen Untersuchung, wurden die Prozesse der Fragmentierung und Kartografierung und die der Reintegration zusammengeführt. Die Kriminalbiologische Untersuchung war als Fallgeschichte angelegt, und das im doppelten Wortsinn: Zum einen konstituierte die administrative Erfassungs- und Registrierungspraktik in der Bündelung von Strafverfolgungsakten überhaupt erst den ‚Fall‘ – als Folge gutachterlicher Aussagen über einen Menschen. Um den Effekt der Erfassung auf der Ebene der Fallgeschichte und der Biografie zu verdeutlichen, kann erneut auf das zurückgegriffen werden, was Detlev Peukert über Verwahrlostenbiografien geschrieben hat: Diese konstituierten sich „durch die Bündelung von für sich genommen keineswegs immer schwerwiegenden Handlungen. Erst der – modern gesprochen – Datenverbund der Polizei-, Sanitäts- und Fürsorgeinstitutionen produzierte den ‚Fall‘, wo es ohne ihn nur einzelne Begebenheiten gegeben hätte“ (Peukert 1986: 156f.). Was Peukert für die Fallgeschichte des verwahrlosten Jugendlichen anspricht, lässt sich meines Erachtens auch auf die Fälle der Kriminalbiologischen Untersuchung übertragen. Das „Lebensschicksal als Vorgang“ charakterisierte Fallgeschichten im Umfeld der Abweichung, wo Prozesse der behördlichen Wahrnehmung notiert und abgeheftet und als soziale Prognose wirksam wurden: Die Registrierung der

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Charakterdefekte und die Prognostizierung waren die Kernziele der Kriminalbiologischen Untersuchung, die Archivierung der Akten die der Kriminalbiologischen Sammelstelle. Zum anderen wurde der Fall auch in der Kriminalbiologischen Untersuchung als Geschichte, als Erzählung ausgebreitet. Diese Erzählung stellte prinzipiell nur die Rekonstruktion eines Lebens dar, im Kontext der Kriminalbiologischen Untersuchung aber erhielt sie als kohärente Biografie zugleich auch analytische Bedeutung, denn die Erzählung über den untersuchten Strafgefangenen brachte einzelne Begebenheiten und Merkmale miteinander in Verbindung. Ablesbar am Strafregister stand die harte Tatsache der unhintergehbaren Zahl von Konflikten mit dem Gesetz: die Fallgeschichte als Kette von Verurteilungen. Die reintegrative Wirkung der Fallgeschichte basierte meines Erachtens darauf, was Pierre Bourdieu die „biografische Illusion“ genannt hat: Bourdieu entlarvt die Vorstellung einer konsistenten Lebensgeschichte als eine nachträglich konstruierte, narrativ hergestellte Illusion; sie beruhe auf der Wahrnehmung, dass das Leben eine kohärente und gerichtete Gesamtheit darstelle, mit „einer chronologischen Ordnung, die auch eine logische Ordnung ist“, mit einem Beginn und einem Endpunkt, dazwischen eine teleologisch gedachte Abfolge von Ereignissen, die – um der Erzählung, also dem Leben, Sinn zu geben – als scheinbar bedeutsam selektiert und in einen Zusammenhang gebracht würden. Es bestünde, so Bourdieu, ein „Interesse an der Sinngebung“, am „Auffinden einer zugleich retrospektiven und prospektiven Logik, einer Konsistenz und Konstanz, um derentwillen intelligible Relationen wie die von Wirkung und Ursache zwischen aufeinanderfolgenden Zuständen hergestellt werden, die damit zu Etappen einer notwendigen Entwicklung erhoben sind“ (Bourdieu 1990: 77). Obwohl Bourdieu hier die Sicht des Individuums auf die eigene Biografie im Blick hatte, lässt sich dieser Effekt auch für die kohärente Biographisierung der Lebensetappen eines Menschen durch einen externen Beobachter nachweisen: Die in der Kriminalbiologischen Untersuchung produzierte Fallgeschichte unterlag dieser biografischen Illusion ebenfalls und trug durch die nachträgliche Ordnung der Lebensetappen und der Charaktermerkmale eines untersuchten Gefangenen und durch die diagnostische Sinngebung, dass diese Lebensetappen und Merkmale Landmarken auf dem Weg zu seiner Kriminalität darstellten, zur Reintegration des zuvor fragmentierten Individuums bei. Eine reintegrative Wirkung lässt sich ganz ähnlich auch beim kriminalbiologischen Befundbogen zeigen, auf dem die Untersuchungsergebnisse, das Zutreffende, zu unterstreichen bzw. Merkmale per Hand zu notieren waren. Im Befundbogen ablesbar und formuliert als Adjektivsammlung entstanden auf diese Weise Reihen vermeintlich kriminogener Merkmale: „Gewohnheitsverbrecher, haltlos, leichtsinnig, asozial, schizoid, träg, phlegmatisch, willensschwacher Psychopath; keine Vorrückung, Prognose



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schlecht, kaum noch zu bessern“2 – der menschliche Charakter als Merkmalskette, und in Anlehnung an Bourdieu kann hier von der ‚Illusion der kohärenten Persönlichkeit‘ gesprochen werden. Betrachtet man diese Ketten aber näher, so fällt auf, dass sie seltsam abstrakt wirken, dass sie das Subjekt kaum zu repräsentieren vermögen. Die Merkmale wirken zwar aussagekräftig, gleichzeitig aber merkwürdig entindividualisiert. Ruft man sich Wolfgang Bonß’ Beschreibung des Tatsachenblick als Kennzeichen empirischer Sozialforschung in Erinnerung – dass er eine Aneignungsform darstelle, in der die Wirklichkeit als ein subjekt- und situationsfreier Zusammenhang rekonstruiert werde –, dann scheint der kriminalbiologische Untersucher mit einem eben solchen Tatsachenblick auf den „Ploranden“ geschaut zu haben. Und wir tun dies in der historischen Rückschau im Übrigen mit ihm: Auch daran, am Effekt, das konservierte Wissen über einen fünfundsiebzig Jahre zurückliegenden ‚Fall‘ und ein Menschenleben in die Gegenwart des Betrachters zu transportieren, zeigt sich die Charakteristik des Tatsachenblicks, mit dem das zu analysierende Phänomen eben nicht als subjektbezogener Erlebniszusammenhang gesehen, sondern auf isolierbare, entsubjektivierte, dekontextualisierte und quantifizierte ‚Merkmale‘ reduziert wurde. Bonß’ Schlussfolgerung, dass der Tatsachenblick mit der Auflösung der Wirklichkeit in Zahl und Maß, Formeln (und das dürften die Merkmalsketten gewesen sein) und empirische Verhältnisse eine Tatsachenwirklichkeit schaffe, die als wissenschaftlich-bürokratische Reproduktion von Wirklichkeit nur erscheine und allein in Fallgeschichten, in wissenschaftlichen Kategorien und Typen, in Statistiken oder in administrativen Erfassungspraktiken präsent, als Basis und Maßstab von Verwaltungstätigkeit und Sozialpolitik gleichwohl überaus handlungswirksam sei, erweist sich demnach auch für die Kriminalbiologische Untersuchung als gültig. Selbst in den Erzählungen über den kriminalbiologisch untersuchten Gefangenen manifestierte sich demnach eine entsubjektivierte, dekontextualisierte und quantifizierte Tatsachenwirklichkeit. Diese wurde von einem weiteren Effekt, der sich bei der Analyse der Kriminalbiologischen Untersuchung und der Sammelstelle zeigt, verstärkt: dem „Gleichklang im Defekt“. Von Peter Strasser im Bezug auf die kriminalanthropologische Perspektive Lombrosos dokumentiert und formuliert (Strasser 2005: 58), lässt sich dieser Effekt aber auch für die Kriminalbiologische Untersuchung und die Sammelstelle nachweisen, was erneut den engen Zusammenhang zwischen dieser Perspektive Lombrosos und den Sehrichtungen in Viernsteins Untersuchung belegt. Lombroso meinte – empirisch eher unbestimmt – beim Anblick einer Sammlung von 424 Fotografien von Verbrechern, „eine „seltsame Aehnlichkeit, eine Art von anthropologischer Verwandtschaft“ zu erkennen, die für ihn die universale, anthropologische Einheit des Verbrechertypus bewies (Lombroso 1894: 236). Die Monotonie, die sich beim Anblick

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BHStA, Akten der kriminalbiologischen Untersuchung, Nr. 4579 (1935).

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immer gleich ausgeleuchteter, gleich perspektivisch dargestellter und gleich inszenierter Körper einstellt, das Immergleiche, trotz aller Unterschiede im Detail, verdichtet sich zu einem, vom Betrachter projizierten, einheitlichen Wesen: „Ein Menschenschlag scheint hier überall, ungeachtet des Vorliegens oder Nichtvorliegens von Stigmata hereditatis, sich kundzutun: der Homo delinquens“ (Strasser 2005: 59). Die vermeintlich einheitliche Positivität der Verbrecher wurde über das neue Medium der Fotografie hergestellt und erlaubte, im Blick des Betrachters, eine den körperlich-geistigen ‚Anomalien‘ komplementäre Materialität. Mit der Erfindung der Fotografie und ihrem Einzug nicht nur in den Alltag, sondern auch in die Wissenschaft, vor allem in Medizin und Psychiatrie, erhielt man – besonders auch hinsichtlich der Visualisierung des Devianten – im Wortsinn neue Ein-Blicke in das, was vorher nur beschrieben werden konnte: „Es entsteht der Glaube an die nun eindeutige Identifizierbarkeit. Die Fotografie ergänzt und erweitert die Beschreibung, und sie ersetzt das Unbeschreibbare durch das Sichtbare“ (Regener 1990: 23; kursiv im Original). Somit ging die fotografische Dokumentation gerade von Verbrechern über die rein erkennungsdienstliche Funktion hinaus. Mit der vermeintlich exakten und objektiven Fotografie sollte die Erforschung der Verbrechertypen möglich werden. Fotografien stellten auf einer anderen Ebene, in einem neuen Medium, das sichtbare Äquivalent zu den anthropometrischen Messungen und Statistiken dar, sie ergänzten und visualisierten das, was Lombroso durch seine Untersuchungen zu konturieren versuchte: die Totalität der Abweichung, die Entität der Devianz. Lombroso konnte auf bereits bestehende Fotoarchive zurückgreifen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in verschiedenen europäischen Städten Verbrecheralben angelegt, die straffällig gewordene Individuen im sogenannten „Signalement“ mit einer entsprechenden Beschreibung von Maßen, körperlicher Beschaffenheit und Besonderheit zeigten (Regener 1990: 24). Die nach ihrem Erfinder, dem Kriminalisten Alphonse Bertillon (18531914), benannte „Bertillonsche Anlage“ ermöglichte die Systematisierung der Aufnahmen (Regener 1990: 27f.): Die Personen wurden auf dieser feststehenden, mit immer gleichen Abständen und Winkeln arbeitenden Anlage in immer gleichen Haltungen ‚festgestellt‘. Eine gleichmäßige Beleuchtung sorgte dafür, dass alle Teile des Gesichtes – Furchen, Falten und Besonderheiten – sichtbar wurden. So wurden en-face und im Profil „vergleichungsfähige“ Aufnahmen gemacht, die einen doppelten, den „zwingenden Blick“ (Michel Foucault) herstellten: Die Bertillonsche Apparatur war eine „Anlage, in der Techniken des Sehens Machteffekte herbeiführen und in der umgekehrt die Zwangsmittel die Gezwungenen deutlich sichtbar machen“ (Foucault 1994: 221). In Verbindung mit dem anthropometrischen Beschreibungssystem und ihrer raschen Verbreitung in verschiedenen Ländern trug die Bertillonage zur Standardisierung der erkennungsdienstlichen Praxis bei, die den Aufbau und den Austausch einer internationalen Kartei er

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möglichte und sowohl den Fahndungs- und wie auch den präventiven, prädeliktischen Zugriff auf den Verbrecher gewährleisten sollte.3 Die Standardisierung des Verfahrens kam auch den definitorischen Bedürfnissen der Kriminologie entgegen und trug damit als Teil des positivistischen Erklärungsprozesses erheblich zur Typisierung der Abgebildeten bei. Die unveränderliche Fotografie konnte, ohne dass die methodischen Fallstricke beachtet worden wären, die Erkenntnisse der Kriminologie manifestieren. Mehr noch als in den anthropometrischen Beschreibungen und Statistiken entstanden so Stereotype, die die tiefere ‚Wahrheit‘ der beigegebenen Beschreibungen erst herstellten und so erst die vollkommene ‚Fabrikation‘ des Verbrechers leisteten: Der Betrachter einer Fotografie sieht mehr als das Motiv – und zugleich weniger. Fotografien von Menschen offenbaren mehr, wenn sie dem Betrachter kontextuelle Spuren, die ins Bild eingeschrieben sind, mitgeben oder wenn sie vorgängige Urteile im Kopf des Betrachters aktivieren. Fotografien zeigen hingegen weniger, wenn sie ein Stereotyp reproduzieren, wenn das Motiv als Kategorie fungieren kann. Einmal ist der Informationstransfer erweitert, dann wiederum reduziert; einerseits wird ein unsichtbarer Raum voller Bedeutung um das Motiv herum sichtbar, andererseits jedoch das sichtbare Individuelle aus dem Raum des Bedeutsamen verdrängt. In jedem Fall aber unterliegt der Betrachter eben jenen, dem Medium inhärenten, Mechanismen, die seine Wahrnehmung steuern. In jedem Fall also ist sein Sehen ein ‚gerichtetes‘, sein Blick ein ‚gezwungener‘. Auf ganz spezifische Weise zeigt sich dieser erweiterte Bedeutungsgehalt von Fotografien bei jenen Bildern, die im Umfeld von Abweichung entstehen: in psychiatrischen Kliniken, vor allem aber bei der polizeilichen Erfassung von Verdächtigen und Straftätern oder auch bei den Fotografien, die im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung angefertigt wurden. Das Mehr an Information wird hier konstituiert durch den institutionellen Kontext der Fotografie und des damit verbundenen Zwecks der erkennungsdienstlichen bzw. der kriminalbiologischen Erfassung; das Weniger an Individualität wird produziert durch die kategorielle Einordnung der Fotografierten als z.B. „Dieb“ oder „Gewohnheitsverbrecher“. Die den Abgebildeten aufgezwungenen Körperhaltungen und Gesichtsausdrücke ließ kaum zu, sie anders wahrzunehmen als die Abbildung eines

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Der Unterschied zwischen Bertillonage und Kriminalbiologischer Untersuchung bestand im Übrigen darin, dass mit jener die Sehpraxis auf die Ermittlung von individuellen Erkennungszeichen und körperlicher Einmaligkeit ausgerichtet war (Regener 1999: 161), während mit dieser die Typisierung, die Bestimmung des Allgemeinen mithin, geleistet werden sollte. Man könnte auch sagen, dass die Kriminalbiologische Untersuchung den ‚Tatsachenblick‘ vollzog, indem sie das untersuchte Subjekt entindividualisierte, während die Bertillonage umgekehrt erkennungsdienstlich die Einzigartigkeit betonte und die Identität des untersuchten Subjekts individualisierte.

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„passionierten Kriminellen“ (Vec 1998). Die mit einer disziplinierenden Technik erzeugte Monotonie des Immergleichen, die Starrheit und Stumpfheit des Blicks, die Kälte des Ausdrucks – so erklärt sich wohl auch die „seltsame Aehnlichkeit“, die Lombroso beim Anblick solcher Fotografien empfand. Sie war jedoch nicht Ausdruck einer anthropologischen Verwandtschaft zwischen Verbrechern, sondern Ergebnis der entindividualisierenden Wirkung der Fotografie, die den Tatsachenblick gleichsam auch auf den nur mittelbaren Betrachter ausweitete. Lombroso unterlag also in seiner Wahrnehmung eben selbst der Wirkung, die er mit dieser Inventarisierung des Bösen und Kranken erreichen wollte: Der hundertfache „Gleichklang im Defekt“ verband die einzelnen, als Anormalität etikettierten Physiognomien erst zu einer tieferliegenden Ganzheit, er konstituierte in der hundertfachen Perpetuierung des Stigmas die anormale Entität. Genauso hatte es, wie dargestellt, ja auch Emil Kraepelin gesehen, als er auf die Wirkung hinwies, die sich bei ihm einstellte, als er „einige Hundert Zuchthaussträflinge […] unmittelbar nebeneinander“ sah. Lombroso und Kraepelin, und nach ihnen wahrscheinlich auch Viernstein und die anderen kriminalbiologischen Untersucher, meinten, hier nicht nur die Entität als Verbrecher beim einzelnen Kriminellen sehen, sondern auch die Entität der gefährlichen Klassen auf einen Blick erfassen zu können. Der „Gleichklang im Defekt“ ergab sich als Illusion aufgrund der Sammlung und der großen Zahl des Immergleichen, der Reihung von Personen, von denen man wusste, dass sie etwas gemeinsam hatten: nämlich dass sie verurteilte Verbrecher waren.4 Durch den Anblick der durch die Gefängniskleidung uniformierten Strafgefangenen im Gefängnisalltag, vor allem aber durch die Sammlung der Akten in der Kriminalbiologischen Sammelstelle stellte sich vermutlich einerseits ein Gefühl der Vollständigkeit ein, andererseits wohl drängte sich der Gedanke auf, hierin das materielle Substrat einer homogenen Gruppe vor sich zu haben, die es vorher nur in der Vorstellung der Kriminologen gegeben hatte. Doch dieser Gedanke beruhte auf der Illusion des „Gleichklangs“; er erscheint als Teil einer bestimmten Form der Realitätskonstruktion durch archiviertes Material. Im historischen Diskurs der Wahrheit und des Wissens komme Archiven, so Achim Landwehr, die zentrale Rolle zu: „Im Archiv kann man Einblick in ‚die Fakten‘ nehmen, kann heraus finden,

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Der gleiche Effekt stellt sich im Übrigen auch bei anderen zeitgenössischen Gruppenfotografien wie z.B. Fotografien von Fabrikbelegschaften ein. Bei diesen erwecken ebenfalls Gleichförmigkeit und Ausdruckslosigkeit in Haltung und Blick der Abgebildeten den Eindruck von Gleichartigkeit. Dennoch würde man kaum ein gemeinsame „minderwertige“ Anlage dieser Arbeiter annehmen; vielmehr kann bei diesen Fotografien der sich oberflächlich zeigende ‚Gleichklang im Akkord‘ als das kaum vermeidbare Ergebnis der gleichen Arbeits- und Lebensbedingungen und des verändernden Einflusses der Industriearbeit auf die Individuen und ihre Lebenswelt gedeutet werden.



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was ‚tatsächlich‘ geschah, kann die ‚wahre Geschichte‘ rekonstruieren. Die Archive stellen das Material für die kontinuierliche Konstruktion der Welt und Produktion der Wahrheit zur Verfügung“ (Landwehr 2001: 51). Der zuvor fragmentierte und kartografierte Verbrecherkörper ruhte in der reintegrierten Form seiner Repräsentation – dem kriminalbiologischen Befundbogen – als Akt im Archiv der Abweichung, der Kriminalbiologischen Sammelstelle. Im Nebeneinander dieser Akten stellte sich eine Wirkung von Faktizität ein, die auch dann nicht hinterfragt wurde, wenn ein Akt erneut aus dem Archiv genommen und ein kriminalbiologisches Gutachten für die Strafverfolgungsbehörden erstellt wurde. Notiert und abgelegt war der Akt als ‚wahre Geschichte‘ eines Menschen verfügbar – als wahre Geschichte aus einzelnen, genau bestimmten körperlich-geistigen Merkmalen und Lebenssituationen sowie, zusammengesetzt, in eine Kategorie („Gewohnheitsverbrecher“) eingestellt und mit einer sozialen Prognose versehen. Auf welchen Konstruktionsleistungen diese Geschichte beruhte – auf Prozessen der Fragmentierung, Kartografierung und Reintegration – war dem Akt als Teil der Tatsachenwirklichkeit jedoch nicht mehr anzusehen. Doch nicht erst das archivierte Material sorgte für die Reintegration des Verbrecherkörpers; viel stärker wirkte hier der diagnostische, der prüfende Blick des kriminalbiologischen Untersuchers, der, wie gesagt, die fragmentieren Merkmale und die Gesamtpersönlichkeit des Untersuchten zusammenbrachte. Der diagnostische Blick ist nicht allein ein professionalisiertes Merkmal des Arztes; ähnliche Wahrnehmungsweisen können auch für den Blick des Polizisten (Becker (1992b) oder des Richters angenommen werden. Dass der Arzt Viernstein dem diagnostischen Blick große Bedeutung beimaß, lässt sich daran ablesen, dass er immer wieder betonte, dass nur ein gut ausgebildeter Arzt die kriminalbiologischen Untersuchungen korrekt durchzuführen in der Lage sei. Neben der unmittelbaren Anschauung des untersuchten Strafgefangenen kam für den nachträglichen diagnostischen Blick, etwa bei der erneuten Bearbeitung einer Untersuchungsakte für ein kriminalbiologisches Gutachten, der Fotografie eine entscheidende Rolle zu, deren Standardisierung zum Zweck der Vergleichbarkeit ja auch von Gruber in seinem Gutachten zur Einrichtung der Kriminalbiologischen Untersuchung hervorgehoben hatte. Das Anfertigen der (Nackt)Fotografie rückt die Kriminalbiologische Untersuchung näher in die Richtung der psychiatrischen Visualisierung von Abweichung. Dort hatte bereits früh das Bedürfnis bestanden, die Krankheitserscheinungen zu einer objektiven Darstellung zu bringen, ein Bedürfnis, dass Susanne Regener als die Suche ganzer Medizinergenerationen nach einer „verallgemeinerbaren Bildauskunft, nach Verobjektivierung von psychiatrischen Sichtweisen“ versteht (Regener 1998: 187). Die Illustrationen und Fotografien wirkten, so Regener, wie „Verdichtungen komplexer Krankheitserscheinungen“; ihre Funktion sei es gewesen, die von seelischen Prozessen gezeichnete Oberfläche zu repräsentieren. Aus dem Glauben an eine Korrespondenz von seelischen Krankheiten und bestimmten Gesichtszügen habe man mit den zeichnerischen und fotografi-

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schen Abbildungen das Ziel verbunden, empirische Beweise für medizinische Klassifikationen im Bild zu präsentieren; die Abbildungen, gerade die Fotografien, sollten das Typische eines Krankheitsbildes darstellen. Auf diese Weise sei eine „Mythologie des Blicks“ entstanden: „Das ärztliche Auge erscheint als das profanierte göttliche Auge, das alles sieht und alles durchdringt. An dieses Auge wird der Fotoapparat angeschlossen; das neue Medium erst bringt den Mythos zu seiner vollen Entfaltung, […] glaubte man doch, dass Diagnosen, Krankheitsbilder und Heilungserfolge mit diesem Medium objektiv dokumentiert werden konnten.“ (Regener 1998: 189f.)

Dabei wurde, wie Regener vermerkt, die wissenschaftliche Inanspruchnahme der Fotografie mit Wahrheit verknüpft und als eine objektive Grundlage für die medizinische Erkenntnisbildung verstanden, da sie – anders als die Privatfotografie, die beschönigend, glättend, idealisierend wirke – alle Züge und persönlichen Merkmale authentisch wiedergebe (Regener 1998: 193). Zum Bedürfnis nach Objektivierung vorgängiger Sichtweisen auf den Kranken oder, in unserem Fall, auf den Verbrecher, gehörte zudem, dass die Wahrnehmung der visuellen Zeichen vorbestimmt war: Das Ziel, die empirische, objektive ‚Wahrheit‘ über eine Geisteskrankheit oder über eine bestimmte Verbrecherkategorie zu ermitteln, setzt einen unmittelbaren Zusammenhang voraus zwischen dem, was man bereits weiß und nun bestätigt sehen will, und dem, was die Abbildung zu zeigen in der Lage ist. Es muss also ein Zusammenhang bestehen zwischen den vorgängigen Merkmalen einer Krankheit, einer Kategorie oder den Messpunkten und dem Resultat der Messungen oder der Fotografie. Dies hat zur Folge, dass Ausmaß und Richtung der Inszenierung der Messung oder der Fotografie dieser Vorbestimmung geschuldet sind: Analog zur experimentellen Bestimmung gültiger Ergebnisse geschieht die Inszenierung mit dem Ziel der Typisierung dessen, was vorgängig als typisch erachtet und als Erkenntnisgegenstand ausgewählt wurde. Jedoch: Kategoriale und klassifikatorische Idealtypen als Maßstab dieser Vorbestimmtheit lassen Abweichungen als ‚unnatürlich‘ auffallen: Der „kalkulierende Blick“ des Untersuchers „lauert“, wie Michel Foucault es formuliert hat, „ständig den Abweichungen auf“ (Foucault 1996: 103). In der Kriminalbiologischen Untersuchung trifft dies nicht nur auf die anthropometrischen Messungen und die abschließende Fotografie zu, sondern genauso auf die anderen Ausmessungsbereiche – auf den genealogischen, den biografischen und den charakterologischen Bereich. Auch hier lauerte der kalkulierte Blick den Abweichungen auf; und mehr noch als bei den bis zu einem gewissen Grad wertfreien anthropometrischen Messungen und der Fotografie war hier der kalkulierende, prüfende Blick unterfüttert mit vorgängigen sozialmoralischen Urteilen und diskursiv entstandenen Kategorien. Dieser Blick war gerichtet und nicht wertfrei. Damit wird erneut deutlich, dass die Kriminalbiologische Untersuchung auch einen starken disziplinierenden Charakter hatte. Sie war in der voll

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ständigen Ausmessung und Erfassung des Verbrecherkörpers das bei weitem tiefer reichende Pendant zur outsider-Fotografie. Der typologische und typologisierende Blick auf Körper der Abweichung war für einen (Gefängnis)Arzt eine geübte und etablierte, routinisierte Praxis. Er bildete sich zudem in mehreren Formen aus, die – mit Foucault – nach dem Grad der Durchdringung als der „prüfende Blick“ und das „Erspähen“ unterschieden werden können (Foucault 1996: 135f.): Der prüfende Blick registriere und totalisiere, er rekonstruiere die Organisation der Dinge, er sei offen und erlaube gewisse Abwandlungen, die den beobachtenden Phänomenen folgten; er sei anpassungsfähig. Das „Erspähen“ dagegen sei nicht offen, es rekurriere auf vorgängiges Wissen, es „trifft einen Punkt, den zentralen und entscheidenden Punkt“, es „trifft eine Entscheidung und die Linie, die es zieht, hebt das Wesentliche heraus“. Erspähen gehöre in den nicht-sprachlichen Bereich des „reinen Kontakts, eines rein idealen Kontakts, der aber durchschlagender ist, weil er die Dinge leichter durchquert und tiefer unterwandert.“ Das gleichsam ‚schlagartige‘ Erspähen hat viel mit der wissensbasierten Intuition beim Anschauen des status praesens einer Krankheit zu tun, von der bei Fleck bereits die Rede war, und auch Foucault hat das entsprechende Kapitel in seinem Buch über die Archäologie des ärztlichen Blicks mit „Sehen, wissen“ überschrieben. Wer „erspäht“, der weiß bereits, und daher ist das Erspähen auch, wie Foucault sagt, im Wesentlichen „entmystifizierend“: Der „Mythologie des Blicks“ korrespondiert so gesehen eine gleichzeitige Entzauberung des Körpers, der (ganz zum Objekt gemacht) den Betrachter nicht mehr zu täuschen vermag, der (objektiviert) dem Betrachter Defekte und Anomalien offenbart und der schließlich (gänzlich verfügbar gehalten) dem diagnostischen und therapeutischen Zugriff des Betrachters ausgesetzt ist. Dieser Betrachter nun erscheint mit seinem „prüfenden Blick“, vor allem aber mit dem Erspähen vorgängiger Kategorienmerkmale als der bestimmende Akteur in einem institutionalisierten Machtfeld, in dem der Proband endgültig Objekt der medizinischen Beobachtung und Vermessung und Gegenstand der Objektivierung war. Susanne Regener sieht auf der Grundlage solcher Überlegungen nun zum einen in der Praxis der Abbildung von Abweichung eine „gewaltsame Form der AußenseiterFotografie“ und zum anderen in den Absichten, die mit der Inszenierung der Abbildung von Abweichung verbunden waren, eine „Rückbildung von Reformgedanken“: Die vom Bewusstsein über das Leiden von psychisch Kranken getragenen Ideen für ihre Behandlung und ihr soziokulturelles Standing sei mehr und mehr vom Aspekt der Sozialdisziplinierung verdrängt worden, deren Stigmatisierungen letztlich auch die Grundlage für rassenhygienische Ideologeme gebildet habe (Regener 1998: 204 und 209). Dem kann, auch vor dem Hintergrund der Rolle von Ausmessungs-, Visualisierungs- und Erfassungsstrategien in der klassischen Moderne und auch im Zusammenhang mit der Kriminalbiologischen Untersuchung zugestimmt werden. Zumal wenn es sich um den „verhinderten Menschen“ handelte, waren Zwangsfotografien, Vermessungen und Befragungen vor allem auf-

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grund eines Verhältnisses der zwangsweisen Subordination, genauer: aufgrund eines administrativen Akts der zwangsweisen Subordination durchsetzbar und durchführbar. Der diagnostische Blick klassifiziert demnach eine Beobachtung am Körper als ‚Abweichung‘ und schreibt diese typisierend und dauerhaft fest; das Sichtbare der Abweichung, so fasst Regener diesen Effekt diagnostischer Beobachtungs- und Visualisierungspraxis zusammen, erhält den „Status des Dauerhaften“, was genau dem Verhältnis zwischen Fragmentierung, Kartografierung und Reintegration des Verbrecherkörpers in der Kriminalbiologischen Untersuchung entspricht. Dieser Status des Dauerhaften war im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung besonders stark gegeben, wenn auf der Basis der Fragmentierung, Kartografierung und Reintegration deren Ergebnisse in der sozialen Prognose für einen untersuchten Strafgefangenen zusammengebracht wurden. „Sie will nichts anderes sein als die Zusammenfassung aller Eindrücke, die der Arzt während der Untersuchung von dem Gefangenen gewonnen hat, aufgestellt unter dem Gesichtspunkte der voraussichtlichen sozialen (bzw. antisozialen) Weiterentwicklung des Probanden“; sie sei, so Klare, die „Krönung der Arbeitskette“ (Klare 1930: 110 und 118). Zwar war die soziale Prognose lediglich als eine „vorläufige“ gedacht; das vermeintlich wissenschaftliche und objektive Zustandekommen dieses Urteils dürfte aber den Charakter der Vorläufigkeit zurück- und den als Richtschnur für zukünftige Einschätzungen des Untersuchten in den Vordergrund gedrängt haben. Wie schon ausgeführt, lag mit der sozialen Prognose eine Etikettierung der Person des Strafgefangenen vor, und auf der sprachlichen Ebene dürfte diese Etikettierung analogen Prozessen gesellschaftlich-wissenschaftlicher Etikettierung und Konstruktion von Abweichung in Handlungen und in Texten oder eben im Visuellen, etwa mit Verbrecher-Fotografien gleichgekommen sein.

* Diskursive, visuelle und praktische Etikettierung von Abweichung im Rahmen der Normsetzung und Normalisierung stehen sicherlich im Zusammenhang mit dem Bedürfnis, Formen der Abweichung zu benennen und zu klassifizieren, aber auch, sie am Körper, im Charakter und in der Biografie des Verbrechers zu lokalisieren und innerhalb der schützenswerten Gesellschaft zu disziplinieren. Damit erscheint Normalisierung als ein Versuch, soziale Beziehungen entlang von Kategorien wie Normalität versus Abweichung, Gesundheit versus Pathologie, Schutz der Gesellschaft versus Gefährlichkeit des Verbrechers zu organisieren (vgl. auch: Urla/Terry 1995: 1). Die Auffassung, dass Abweichung, Pathologie und Gefährlichkeit im Körper des Verbrechers lokalisierbar seien, machte diesen Körper im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung zum Ort von Normalisierung: Im Sinne einer sozialen Selbstbeschreibung ist mit der Beschreibung der Abweichung 

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immer auch die Konformität, mit der Bezeichnung der abweichenden Identität des Kriminellen immer auch die Identität des konformen Menschen beschrieben. Der Körper, in dessen Materialität man sich die Abweichung eingeschrieben dachte, ist daher an Praktiken gebunden, die Abweichung auffinden, benennen und damit das komplexe System sozialer Distinktion symbolisch abbilden und sichern. Die Praktiken der Fragmentierung und Kartografierung im Rahmen der Kriminalbiologischen Untersuchung projizierten die durch den Normalisierungsdiskurs biopolitisch legitimierte, rechtschaffene Normativität als Höhenlinien an den Verbrecherkörper und kontrastierten diesen unter der Maßgabe einer idealtypischen körperlich-geistigen Normalität. Als Teil des gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Normalisierungsdiskurses verband die Fragmentierung und Kartografierung des Verbrecherkörpers in sozialmoralisch werturteilender Weise die explizite körperliche Normalität mit einer impliziten sozialen Normativität. So gesehen ist Körpergeschichte immer auch politische Geschichte im Sinne Philipp Sarasins, der fragt: „Wer generiert die diskursiven Muster, die die Wahrnehmung und die Praktiken strukturieren? Wer sagt, was ‚normal‘ ist und was nicht, ‚lebensunwert‘, ‚genetisch nicht erwünscht‘, ‚fremd‘?“ (Sarasin 1999: 439). Die Deutungsmacht lag hier bei einer sozialtechnologischen Praktik, der Kriminalbiologischen Untersuchung, die im Namen der Wissenschaft in die sozialen Zustände eingriff mit dem Ziel, auf strafpolitischem Wege gesellschaftlich erwünschte Verhaltensänderungen durchzusetzen. Das mit der Kriminalbiologischen Untersuchung generierte Wissen repräsentierte demnach nicht nur die persönliche Abweichung von Straftätern, sondern auch die implizite kollektive Normalität einer Gesellschaft. Es leistete nicht nur die umfassende soziale und körperlich-psychische Ausmessung des Verbrechers, sondern auch die Positionierung dieses ausgemessenen Verbrechers innerhalb eines gesellschaftlichen Normativitätsgefüges. Und: Ausführlich erzählt, differenziert und objektiviert, eingebettet in einen wissenschaftlichen Erklärungszusammenhang, verallgemeinert und verabsolutiert, reichte die sozial-moralische Strukturierungskraft von Wissen, das anhand normalisierter historischer Körper gewonnen und an diesen vollzogen wurde, über solche basalen sozialen Distinktionen weit hinaus, wenn dieses Wissen Grundlage wurde für weitreichende strafpolitische und strafvollzugliche Maßnahmen. Die Kriminalbiologische Untersuchung bot mit ihren Aussagen über den Körper der Strafgefangenen, mit den einzelnen Fallgeschichten also, und in der Summe aller Untersuchungen, die in der Sammelstelle archiviert waren, ein Soziogramm der Abweichung, ein Panorama von Lebensentwürfen mit abweichenden Verhaltensweisen, die conditio humana der Rechtsbrecher. Auf diese Weise bildete sie den Verbrecher in seinem Verhältnis zur sozialen Normalität ab, erscheinen die Untersuchungsergebnisse, in dem, was sie über den untersuchten Strafgefangenen aussagen, als eine Interpretation der sozialen Struktur, als eine Art, um mit Clifford Geertz zu sprechen, „metasoziale[r] Kommentar zu der Tatsache, daß die menschlichen Wesen in einer

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festen Ranghierarchie zueinander stehen – und daß die kollektive Existenz der Menschen überwiegend im Rahmen dieser Rangordnung stattfindet“ (Geertz 1987: 252). Diese Rangordnung, die Sozialstruktur, wurde nun natürlich nicht von der Kriminalbiologischen Untersuchung begründet; sie bildete sie, symbolisch gleichsam, lediglich ab. In der Kriminalbiologischen Untersuchung wurden demnach die Strafgefangenen nicht einfach entlang eines biopolitischen Normalisierungsdiskurses Machtpraktiken unterworfen und diszipliniert, es wurden nicht einfach soziale Wertunterschiede produziert oder verstärkt. In ihrem Charakter als eine kollektiv getragene symbolische Struktur sagte die Kriminalbiologische Untersuchung vielmehr „etwas über etwas aus“ – über den Verbrecher in seinem Verhältnis zur sozialen Normativität, über das Verhältnis zwischen Konformität und Abweichung und zwischen dem Bürger und seinem Gegenentwurf, dem Verbrecher. Die Kriminalbiologische Untersuchung gehörte deshalb nicht ausschließlich in den Bereich der gesellschaftlichen Machtpraktiken und damit in den Bereich der gesellschaftlichen Macht-Mechanik, sondern auch in den der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung (Geertz 1987: 253) und damit in den Bereich der gesellschaftlichen Semantik.



Danksagung

Die vorliegende Studie stellt die überarbeitete und ergänzte Fassung meiner im Sommersemester 2004 am Fachbereich 08 der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt/M. angenommenen Dissertation dar. Sie entstand im Rahmen des Forschungskollegs/Sonderforschungsbereichs 435 der DFG „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ an der Universität Frankfurt/M.. Herrn Prof. Dr. Lothar Gall und Herrn Prof. Dr. Werner Plumpe danke ich für die Betreuung der Arbeit, den Frankfurter Kollegen – namentlich Dr. Barbara Wolbring, Prof. Dr. Andreas Schulz, Dr. Carsten Kretschmann – für Anregungen, Gespräche und Kollegialität. Herrn Prof. Dr. Jürgen Reulecke und Herrn Prof. Dr. Peter von Möllendorff möchte ich für ihr Verständnis und den Freiraum danken, den beide mir in den jeweiligen Phasen der Fertigstellung gewährt haben. Der Bürogemeinschaft im Grindelhof in Hamburg – Elke Scheurich, Lisa Ortgies (die mir ihren Schreibtisch überlassen hat), Christopher Andre und Harald Muntendorf – sei für die herzliche Aufnahme und die produktive Arbeitsatmosphäre gedankt. Claudia Herzfeld hat dankenswerterweise das Manuskript Korrektur gelesen. Ein ganz besonderer Dank gilt Christoph Bräuer, der immer wieder Wege (auch nach Rom) gezeigt hat. Esther.

Gießen, im September 2010

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Science Studies Nicholas Eschenbruch, Viola Balz, Ulrike Klöppel, Marion Hulverscheidt (Hg.) Arzneimittel des 20. Jahrhunderts Historische Skizzen von Lebertran bis Contergan 2009, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1125-0

Jochen Hennig Bildpraxis Visuelle Strategien in der frühen Nanotechnologie Januar 2011, ca. 338 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1083-3

Bernd Hüppauf, Peter Weingart (Hg.) Frosch und Frankenstein Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft 2009, 462 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-892-6

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Science Studies Christian Kehrt, Peter Schüssler, Marc-Denis Weitze (Hg.) Neue Technologien in der Gesellschaft Akteure, Erwartungen, Kontroversen und Konjunkturen Januar 2011, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1573-9

Marion Mangelsdorf, Maren Krähling, Carmen Gransee Technoscience Eine kritische Einführung in Theorien der Wissenschafts- und Körperpraktiken Januar 2011, ca. 150 Seiten, kart., ca. 13,80 €, ISBN 978-3-89942-708-0

Tristan Thielmann, Erhard Schüttpelz, Peter Gendolla (Hg.) Akteur-Medien-Theorie Januar 2011, ca. 800 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1020-8

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Science Studies Ralf Adelmann, Jan Frercks, Martina Hessler, Jochen Hennig Datenbilder Zur digitalen Bildpraxis in den Naturwissenschaften 2009, 224 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1041-3

Viola Balz Zwischen Wirkung und Erfahrung – eine Geschichte der Psychopharmaka Neuroleptika in der Bundesrepublik Deutschland, 1950-1980 August 2010, 580 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1452-7

Christopher Coenen, Stefan Gammel, Reinhard Heil, Andreas Woyke (Hg.) Die Debatte über »Human Enhancement« Historische, philosophische und ethische Aspekte der technologischen Verbesserung des Menschen Juli 2010, 334 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1290-5

Michael Eggers, Matthias Rothe (Hg.) Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften

Johannes Feichtinger Wissenschaft als reflexives Projekt Von Bolzano über Freud zu Kelsen: Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848-1938 November 2010, 636 Seiten, kart., 42,80 €, ISBN 978-3-8376-1523-4

Enrique Fernández Darraz, Gero Lenhardt, Robert D. Reisz, Manfred Stock Hochschulprivatisierung und akademische Freiheit Jenseits von Markt und Staat: Hochschulen in der Weltgesellschaft November 2010, 200 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1612-5

Gabriele Gramelsberger Computerexperimente Zum Wandel der Wissenschaft im Zeitalter des Computers Januar 2010, 316 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-986-2

Wilfried Heinzelmann Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft Die deutsch/deutsch-jüdische Avantgarde 1897-1933. Eine Geschichte in sieben Profilen 2009, 422 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1144-1

2009, 274 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1184-7

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