Aufklärung durch Kritik: Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428512522, 9783428112524

Mit dieser Festschrift zum 65. Geburtstag wollen Freunde, Kollegen und Schüler die philosophische Arbeit von Prof. Dr. M

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Aufklärung durch Kritik: Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428512522, 9783428112524

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Aufklärung durch Kritik Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag

Philosophische Schriften Band 56

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Aufklärung durch Kritik Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von

Dieter Hüning, Karin Michel und Andreas Thomas

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gerrnany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-11252-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@ Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Mit dieser Festschrift zum 65. Geburtstag wollen Freunde, Kollegen und Schüler die philosophische Arbeit von Prof. Dr. Manfred Baum würdigen. Geboren am 15. April 1939, wurde der Geehrte im Jahre 1970 an der Universität zu Köln mit einer Arbeit über ,,Die transzendentale Deduktion in Kants Kritiken. Interpretationen zur kritischen Philosophie" von Karl-Heinz VolkmannSchluck und Ludwig Landgrebe promoviert. Nach einer Zwischenstation am Heget-Archiv der Ruhr-Universität Bochum erfolgte im Jahre 1981 die Habilitation an der Universität Siegen mit einer Studie über "Die Entstehung der Hegeischen Dialektik". Nach Lehrstuhlvertretungen und Gastaufenthalten an verschiedenen Universitäten in Deutschland wurde Manfred Baum im Jahre 1982 zum Professor auf Zeit und im Jahre 1986 zum außerplanmäßigen Professor an der Universität Siegen ernannt. Daran schlossen sich zwei Gastprofessuren als Visiting Associate Professor an der Yale University in New Haven und als Fulbright Professor of Philosophy am Haverford College in den USA an. Seit 1993 ist Manfred Baum C4-Professor fiir Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal. Er fungiert seit 1996 als Mitherausgeber der Kant-Studien, seit Oktober 1999 bekleidet er das Amt des 1. Vorsitzenden der deutschen KantGesellschaft. Seit 1995 ist Manfred Baum Leiter des Wuppertaler JuliusEbbinghaus-Archivs und seit 1997 Mitglied der Fichte-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. In den Jahren 1999 bis 2002 war Manfred Baum stellvertretender Sprecher des ersten deutsch-amerikanischen Graduiertenkollegs Collegium Philosophiae Transatlanticum, an dem neben der Bergischen Universität Wuppertal die Phitipps-Universität Marburg auf deutscher Seite sowie die beiden amerikanischen Hochschulen Emory University in Atlanta und State University of New York at Stony Brook beteiligt waren. Der Schwerpunkt der Forschungen von Manfred Baum liegt vor allem auf der Philosophie Immanuel Kants. Aber auch die Philosophie der Antike, der Aufklärung und des sog. Deutschen Idealismus hat Baum immer wieder zum Gegenstand der Interpretation gemacht. Wie bei einem Philosophen, der grundlegend durch die Marburger Kant-Forscher Julius Ebbinghaus und Klaus Reich beeinflußt worden ist, nicht anders zu erwarten, erfolgt die Auseinandersetzung mit der nachkantischen Philosephie, insbesondere mit derjenigen Fichtes, Schellings oder Hegels, zumeist in kritischer Absicht: ihre Positionen

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Vorwort

werden daraufhin überprüft, ob sie dem bei Kant erreichten Stand philosophischer Reflexion gerecht werden. Dies gilt auch für Positionen der Philosophie des 20. Jahrhunderts, von denen Manfred Baum in der Diskussion immer wieder zeigt, daß und inwiefern sie sich in eine Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants einbeziehen lassen. Die in diesem Band versammelten Beiträge spiegeln die ganze Bandbreite der Interessen des Geehrten wieder. Sie konzentrieren sich sowohl auf die Philosophie der Antike (Heinrich Hüni, Inez Maier) als auch auf die Philosophie der Aufklärung (Werner Euler, Friederike Kuster, Michael Shim, Gideon Stiening), auf die theoretische und praktische Philosophie Immanuel Kants (Oliver Cosmus, Kristina Engelhard, Dietmar H. Heidemann, Frauke Annegret Kwbacher-Schönborn, Karin Michel, Bernd Prien für die theoretische, und Rainer Friedrich, Dieter Hüning, Andreas Thomas für die praktische Philosophie Kants), auf die spekulative Philosophie Hegels (Claudia Bangert, Allegra de Laurentiis), und schließlich auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts (Beate Obst, Laszl6 Tengelyi und Christian Helmut Wenzel). Wer Manfred Baum einmal bei Vorträgen und Diskussionen erlebt hat, weiß um die umfassende philosophische Bildung und die scharfsinnigen Urteile des Geehrten auf diesen verschiedenen Gebieten. Leitend für die Thematik der Beiträge ist dabei das, was für Manfred Baums eigenes Philosophieren stets von größter Bedeutung geblieben ist: Aufklärung durch Kritik. Die Herausgeber danken dem Verlag Duncker & Humblot, insbesondere Herrn Dr. Florian R. Sirnon (LL. M.), für die Bereitschaft, die Festschrift für Manfred Baum in sein Verlagsprogramm zu übernehmen sowie Herrn Lars Hartmann für die Betreuung des Bandes. Marburg/Wuppertal im Frühjahr 2004

Dieter Hüning Karin Michel Andreas Thomas

Inhaltsveneichnis

L Die Philosophie der Antike

Heinrich Hani Die Vergangenheit der Zeit bei Aristoteles ............................... .....................

13

InezMaier Platon über das Begehren der Liebe ...... .. ......... ........... ... ........... ...... ........ ...... .

25

n

Die Philosophie im Zeitalter der Autldärung

WemerEuler Mechanismus und Teleologie bei Leibniz und Wolff- mit einem Ausblick aufKant..........................................................................................

51

Friederike Kuster Aufldänmg und Restauration: Rousseaus Geschlechtertheorie ... ...... ........ ...... .

81

Michael Shim Leibniz and Modal Realism............. ..... ... ........ ... ......... .. ..... . ...... .... .. .. ..... ...... ..

95

Gideon Stiening Ein "Sistem" filr den "ganzen Menschen". Die Suche nach einer ,anthropologischen Wende' der Aufklärung und das anthropologische Argument bei Johann Kar! Wezel........ ................................

113

m

Die theoretische Philosophie Immanuel Kants

Oliver Cosmus Über einen gewissen Vorzug des Materialismus in Kants kritischer Philosophie.....................................................................................

143

Kristina Engelhard Der Begriff der Erscheinung bei Leibniz und Kant ...................................... ...

157

8

Inhaltsverzeichnis

Dietmar H. Heidemann Kants Grammatik des Verstandes. Erkenntnistheoretische Untersuchungen zum Zusammenhang von Urteil und Kategorie. .....................

189

Julia Jansen How the Sage ofKönigsberg was able to Distinguish His Dreams from Reality. ...............................................................................

219

Frauke Annegret Kurbacher-Schönborn Die ,drei' Stämme der Erkenntnis: Sinnlichkeit, Verstand und Urteilskraft ... ..... ...................... ........... .. . ................ .. .......... ... .... ..... ... ..... ..... ...

235

Karin Michel Zeit und Subjektivität bei Kant .............. ....... ................... ... .. .... ...... ... .... ..... ...

245

BemdPrien Kant und die Auswahl der logischen Konstanten ...... .... ... .. .. .... .. .... .. ....... ... ... ..

273

Ulrich Vogel Hat er oder hat er nicht? System oder unvollendetes Ganzes bei Kant........ .....

293

IV. Die praktische Philosophie Immanuel Kants

Rainer Friedrich Äußeres Mein und Dein und allgemeiner Wille in Kants Rechtslehre ....... .... ............ ............... ...... ...... .............. .. ........... ... ........ ...... ......

321

Dieter Haning Kants Strafrechtstheorie und das jus talionis ..................................................

333

Andreas Thomas Das Problem der rechtlichen Verbindlichkeit bei Kant ...................................

361

V. Die spekulative Philosophie Hegels

Claudia Bangert Das Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts ............... .. ..... .. ...... ....... .... .............. ..

381

Allegro de Laurentiis The Tenacity ofContradiction. Hegel on Ancient and Modern Views of Paradox...........................................................................................

405

Inhaltsverzeichnis

9

VL Die Philosophie der Gegenwart Beate Obst Wie löst Husserl die Paradoxie der Subjektivität? .................. ........................

441

Lasz/6 Tengelyi Transfinite Zahl und transzendentaler Schein. Kant und Cantor in der Sicht von Mare Richirs Phänomenologie........................ .......................

451

Christian Helmut Wenzel Kripke's Contingent APriori: The Meter-Stick Example ................................

477

Anhang Verzeichnis der Schriften von Manfred Bawn .....................................................

483

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren..... ........................................................

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I. Die Philosophie der Antike

Die Vergangenheit der Zeit bei Aristoteles

Von Heinrich Hüni

Ach, das Gespenst des Vergänglichen, durch den arglos Empfiinglichen geht es, als wär es ein Rauch.

Rilke, Die Sonette an Orpheus II, XXVII

Auch Aristoteles in der Nikomachischen Ethik spricht - wie Sophokles in der Elektra- von der Zeit als der "Entdeckerin oder guten Mitwirkerin" 1 in allen menschlichen Bestrebungen. Und ebenso spricht er von dem fiir das Handeln entscheidenden günstigen Augenblick2; diesen Kairos kann Aristoteles auch einfach ein Nyn, ein Jetzt nennen. 3 Dieses Reden von Zeit meint nicht eine Uhrenzeit, eine Zeitzahl, sondern das Geschehen der Lebensgeschichte selbst. Die Suche nach dem Glück knüpft Verbindungen, aber sie zählt keine Zeit. Über dieses tätige Leben hinaus geht es um die Anerkennung dessen, wodurch das Handeln und eine Geschichte zustande kommen. Denn daß eine verbindende Geschichte möglich ist, ist nicht allein das Werk der Geschichten. Aber der Weltzusammenhang, der jetzt in Anspruch genommen wird und von der Philosophie befragt wird, dieses Ermöglichende liegt nicht einfach schon vor, sondern kommt erst im Ergreifen seiner zur Wirksamkeit - und nur insofern kann davon die Rede sein. Eine Zeit gibt es nicht vor den Geschichten, sondern erst eine Geschichte kennt Zeit und kann von ihr etwas wissen. Für das philosophische Fragen ist also das eigentlich Frühere die Geschichte,

1 Ethica Nicomachea. Recogn. Ingram Bywater, Oxford 1894 ff., I 7, 1098 a 23 ff. (Ich gebe immer Übersetzungen.) 2 E. N. II 2, 1104 a 9 u. ill 1, 1110 a 14. 3 Vgl. E. N. X 3, 1174 a 9.

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Heinrich Hüni

zu deren Themen die Zeit gehören wird. Ich möchte in diesem Sinne die Thematisierung der Zeit bei Aristoteles in acht Schritten rekonstruieren. L Das Seiende als Bewegtes Die stärkste und unübergehbare Erscheinung des Seienden ist fiir Aristoteles die Bewegung. 4 Seine Themen insgesamt sind die Bewegungen in Nennen, Sagen und Besprechen, in den Absichten und Bekundungen der Rede, die Abläufe im Ganzen der Natur und in den Lebewesen im besonderen, in den Tätigkeiten der menschlichen Seele, die Vorgänge in der glückenden Praxis und in den Nachahmungen und schließlich in den Perioden des Wissens selbst. 5 Angesichts der erscheinenden Bewegungen muß die Suche nach der Grundbedeutung des Seienden zu einer MehrfachheU fiihren. "Das Seiende wird vielfältig gesagt" 6 , das ist der Leitsatz des Aristoteles, denn das Seiende ist vorzüglich Bewegung. Für die Bewegung gebraucht Aristoteles seinen höchsten Seinsausdruck: die Energeia. 7 Das wird umso verständlicher, wenn man bedenkt, daß wiederum das Phänomen der Bewegung am meisten von dem sich selbst bewegenden Lebewesen erfiillt wird, und daß zwar das mechanische Modell Übersicht mit sich bringt, aber zur Aufhellung von etwas anderem und Höherem dienen soll. Das Seiende als solches, das sich in einer bestimmten Mehrfachheil offenbart, ist auch fiir Aristoteles selbst nicht in Bewegung. Allein auf dieser mit den erscheinenden Bewegungen präsentierten und von den Fragen der sogenannten Ersten Philosophie analysierten Grundlage können die verschiedenartigen Bewegungen einheitlich bestimmt und differenziert werden. Hier bietet sich vor allem der Bereich der Natur an. Sie ist so sehr vom Phänomen der Bewegung bestimmt, daß sich zuletzt die ausdruckliehe Frage nach dem Sein und Immersein dieser Bewegung aufwirft.8 Gewiß ist die ewige Naturbewegung der augenfällige und ausgezeichnete Repräsentant des unwandelbaren Seienden als solchen. Man darf auch daran erinnern, daß die Philosophie überhaupt angesichts der Natur entstanden ist und zu sich selbst gefunden hat. Andererseits muß sich die sich vollziehende Philosophie daran erinnern, aus welchem Leben heraus sie ihre Fragen gestellt hat und stellt. 4 Im Blick auf das Seiende. In dieser Per~pektive ist seine Philosor,hie Frage nach der Bewegung. Vgl. auch Waller Bröcker, Aristoteles, Frankfurt a. M. 1964. 5 In gutem Überblick mit detaillierteren Angaben zuletzt bei Otfried Höffe, Aristoteles, München 1996. 6 Metaphysica. Recogn. Wemer Jaeger, Oxford 1957 ff., IV 2 u. ö. 7 Vgl. Met. IX 3. 8 Physica. Recogn. William David Ross, Oxford 1959 ff., ill u. Vlll.

Die Vergangenheit der Zeit bei Aristoteles

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TI. Sprechen und Zeithaben Dieses Leben ist das der auf Sprache gegründeten Praxis. Auf die Ethik wurde eingangs schon hingewiesen, was bei unserer Frage nach der Zeit von größerem Interesse ist, ist die sprachliche Vorgeschichte.9 Die Untersuchung des Aristoteles über das Aussagen Peri hermeneias beginnt mit der Unterscheidung von Onoma und Rhema, von Namen und Gesagtem. 10 Beide sind einfache anzeigende Verlautungen. Sie sind das nicht von Natur aus, sondern aus der schon geschehenden Zeichenübereinkunft heraus. Noch bevor Aristoteles an den kategorialen Unterschied erinnert, benennt er als Hauptunterschied "das die Zeit Mitanzeigende". 11 Das sogenannte Verbum ist vorrangig Zeitwort, das Wort fiir die Zeit. Wer spricht, zeigt etwas an und zeigt mit an: mitseiende Zeit, und zwar als ringsherum seiende Zeit. 12 Wer spricht, zeigt etwas an als in der Zeit und bringt dadurch das Denken zum Stehen. 13 Aus der Spract"': . ·-:''"'! und aus der Sprechbewegung wird Zeit als mitanwesende eröffnet. Man darf also festhalten, daß sich mit der aufgezeigten Anwesenheit die Dimension der Zeit aufspannt. Die Sprache bringt die Zeit ins Spiel, alle zeitlichen Unterschiede sind ursprünglich gesagte Unterschiede. Das Gesagte ist Gezeigtes, und ein Gezeigtes reicht als solches über das Wahrgenommene und also Anwesende und Gegenwärtige hinaus. Das wird in der Rhetorik bestätigt. Dort14 werden bekanntlich - im Blick auf den Zuhörer, also im Blick auf das Redeverhältnis insgesamt - drei Grundgattungen der Rede unterschieden: die beratende, die gerichtliche und die darstellende (symbouleutik6n, dikanik6n, epideiktik6n). Anschließend15 werden die Zeiten dieser drei Arten charakterisiert: Zum Beratenden gehört das Kommende (mellon), zum Richtenden das Gewordene (gen6menon) und zum Darstellenden das Anwesende (par6n); wenngleich der Darstellende 9 Mit der Verbindung von Ethik und Zeit ist allerdings ein weitreichendes Thema angesprochen. Vgl. insgesamt Alejandro G. Vigo, Zeit und Praxis bei Aristoteles. Die Nikomachische Ethik und die zeit-ontologischen Voraussetzungen des vernunftgesteuerten Handelns, Freiburg/München 1996. Eine solche Besinnung kann sich in der Sache auf Heideggers Vorgehen in "Sein und Zeit" stützen- sieht sich aber der (auch auf Heidegger zurückfallenden) Frage ausgesetzt, mit welchem Gewinn Existenzweisen in Zeitverhältnisse übersetzt werden. 1 Categoriae et Iiber de interpretatione. Recogn. Lorenzo Minio-Paluello, Oxford 1949 ff., Cap. 2 u. 3. 11 De int. 16 b 6n. 12 Alles De Int. 16 b 18.

°

13

14 IS

De Int. 16 b 20.

Ars rhetorica. Recogn. William David Ross, Oxford 1959 ff., I, Anf. 3. Rhet. 1358 b 13-20.

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zugleich in die beiden anderen Bereiche ausgreifen kann. Man darf sich nun nicht fertige vorliegende Zeiträume vorstellen, die einfach bezogen werden. Sondern man muß einsehen, daß erst mit diesen Reden jene Perspektiven eröffnet werden, die wir als Perspektiven der menschlichen Rede überhaupt einnehmen müssen. Wir dürfen sie dann formalisierend Zeiten nennen, solange wir ihrer Herkunft eingedenk bleiben. Auf jeden Fall machen solche Reden das Innere der Handlungen und Geschichten aus - mit diesen sind die ursprünglichen Dimensionen gegeben.

m. Zur Kineologie Die Sprache eröffnet die Zeit im allgemeinen, in der Untersuchung der Bewegung als Grundphänomen der Natur kommt es zu ihrer ausdrücklichen Thematisierung. 16 Aristoteles eröffnet diese Untersuchung ein fiir allemal mit der Feststellung, daß es "Bewegung nicht außer den Dingen" gibt. 17 Das Seiende ist nach Aristoteles immer Ousia, immer Einzelseiendes, und die Bewegung ist eine Seinsbestimmung eines solchen Seienden. Jetzt kommt - um Bewegung selbst aufzuklären - eine weitere Grundunterscheidung des Seienden zum Tragen: die nach Wirklichkeit und Möglichkeit. Es erscheint nicht nur ein Ding, sondern ein Ding in Bewegung. In einer wirklichen, nämlich wahrgenommenen Bewegung zeigt sich ein Ding als zu eben dieser Bewegung Fähiges und Mögliches. Nur in einer Bewegung zeigt und erweist etwas seine Möglichkeit; sonst kann man sie ihm nicht ansehen. Mögliches gibt es also nur in einer Bewegung, und diese ist immer etwas Wirkliches. Bewegung ist nach der Sache und nach Aristoteles: "die Wirklichkeit des Möglichen als Möglichen". 18 Es können erst auf diesem Boden die Arten der Bewegung zureichend unterschieden werden: Veränderung, Vermehrung und Abnahme, Fortbewegung und am Rande Entstehung und Untergang. Aber vor allem müssen die hier auftauchenden Phänomene von Raum und Zeit, oder besser: von Ort und Zeit untersucht werden. 19 Daß der fiir uns selbstverständliche Raumbegriff als Auseinander, als bloßer Abstand (diastema) und Leere (ken6n) ein Unbegriff ist, ist eine irritierende Wahrnehmung und Einsicht des Aristoteles.20 Im Blick steht immer der Phys. m I ff. Phys. 200 b 32 f. 18 Phys. 20 I a 10111. 19 Vgl. Phys. IV. 20 Vgl. vom Verf.: Über den natürlichen Vorrang des Ortes vor jeder Art Raum bei Aristoteles, in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 19, (1993), S. 245 fT. 16

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Die Vergangenheit der Zeit bei Aristoteles

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bewegte Körper in seiner Fortbewegung. Nur diese Bewegung lenkt die Aufmerksamkeit auf den Ort, auf den Topos. Denn diese Bewegung eröffnet und erweist körperhafte Unterschiede als mögliche Orte - das heißt: als für diese Bewegung Bereitliegendes; oder auch nicht. Gäbe es nicht die Fortbewegung, der Ort könnte nicht gesucht und nicht wahrgenommen werden. Wie aber steht es mit der von uns gesuchten Zeit?21 Sie ist doch nichts Dingliches und direkt Wahrnehmbares- wo also tritt sie überhaupt auf? IV. Geschichte und Naturbewegung Es sind die Bewegungen in der Natur, die das Phänomen des Ortes auftreten lassen und auch eine eigene Frage nach der Zeit hervorrufen. Die Besinnung auf eine Geschichte wird zu einer Erzählung - diese Erzählung ist also erinnerte, nachgeahmte Geschichte. Aber die Reflexion auf die Naturbewegung führt zu etwas Neuem: zur Zeit. In einer Erzählung spielen Früher und Später eine Sinn stiftende und Beziehungen ausbildende Rolle, es geht um Inhalte eines menschlichen Lebenszusanunenhangs. Es geht dabei immer um Selbstvergewisserung und Selbsterkenntnis. Mit der Naturbewegung und angesichts der Naturbewegung aber wirft sich anband der schon vertrauten Unterscheidung von Früher und Später eine neue Frage nach einer Ordnung eben der Zeit - auf, die mit dieser Bewegung doch nicht identisch ist, aber zu ihr gehört, die aus jener Bewegung nicht direkt hervorgeht, aber doch auf sie bezogen ist. Von dieser Vorkenntnis dürfen wir ausgehen, wenn wir jetzt die Entstehung der Zeit genau bestimmen wollen. Die Zeit steht auch für uns immer mit einer Bewegung in Verbindung, aber von Anfang an erscheint ein Unterschied. Denn die wahrnehmbare Bewegung hängt an dem Bewegten, aber die Zeit ist doch nicht so eingeengt. Sie gilt nicht nur für ein besonderes Bewegtes. Und außerdem kann eine Bewegung schneller oder langsamer ablaufen, genau das kann man unmöglich von der Zeit selbst annehmen wollen. Darum lautet die Ausgangsfrage des Aristoteles: Was an der Bewegung ist die Zeit?22 Im Folgenden interpretiere ich die entscheidende Seite 219 a. Die Grundlage bleibt die Erfahrung der Bewegung. Und Bewegung ist selbst das ursprüngliche Thema der Erfahrung. Daß ein Körper in Bewegung ist, heißt, daß er "von etwas her zu etwas hin" 23 ist. Also daß er nicht nur zwischen zwei anderen Körpern oder körperlichen Markierungen erscheint, sondern von etwas her in Richtung auf etwas anderes hin ist - und so seiend nen21 22 23

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Phys. IV 10 ff. Phys., cap. II, 219 a 3. Phys. 219 a 10 f.

FS Baum

Heinrich Hüni

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neo wir ihn bewegt. Das hier mitbestimmende Von-etwas und Zu-etwas heißt in der nonnalen Sprache Früher und Später.24 Das ist eine kineologische Unterscheidung, die erst mit der wirklichen Bewegung auftritt, auch wenn sie einen topalogischen Unterschied als schon vorhanden in Anspruch nimmt. Aber, wie gesagt, der Ort kommt erst durch die Bewegung zur Sprache. Das Früher und Später muß sich also immer auf einen topologischen Unterschied beziehen, bekommt aber Sinn, nämlich Richtungssinn erst durch eine Unterscheidung, als welche sich gerade die Bewegung vollzieht. Wir wie Aristoteles sagen: Fraher und Später - und wir können gar nicht anders sagen; also nicht: Später und Früher. Denn eine Bewegung bemerken wir erst, wenn sie schon angefangen hat. Im Blick auf ein Bewegtes erfahren wir, daß es sich schon bewegt hat. Das Später ist unser Ausgangspunkt. Von dort schauen wir zurück, halten das Zurückliegende fest und schauen wieder nach vom. So haben wir unterschieden zwischen Früher und Später. Vorausschauen können wir nur der vermuteten Richtung nach, denn offen ist, wo die Bewegung wirklich hinführt. Das Später ist eigentlich das Erste. Erst von dem dann ins Auge gefaßten Früheren her wird es das Spätere. Auch wenn Bewegung rückblickend der Vielzahl der Orte bedarf, das Kineologische ist der Grund des Topologischen. Aber ist bei der Erfahrung der Bewegung nur Bewegung und Ort im Spiel? Was liegt in dem eben beschriebenen Anschauungsablauf? V. Entstehung der Zeit Der erste Blick gilt dem in einer Bewegung Seienden. Außer dem, was es selbst ist, wird es als unterwegs von Früher zu Später wahrgenommen. Aristoteles sagt: "Es ist das Früher und Später in der Bewegung, was je Bewegung ist. " 25 Also die Bewegung, in der das Bewegte wahrgenommen wird, bringt ihr Früher und Später hervor. Aristoteles fährt fort: "Allerdings das Sein ist ihm verschieden und nicht Bewegung." Das Früher und Später gehört zwar zur Bewegung, aber ist selbst noch etwas anderes; jedoch nicht nur, wie vorher, etwas Topologisches. Was heißt es, eine Bewegung ausdrücklich nach Früher und Später aufzunehmen? Was kann noch anderes und Bestimmenderes im Früher und Später liegen? Aristoteles fährt abermals fort: "Aber auch die Zeit erkennen wir, wenn wir die Bewegung umgrenzen." 26 Jetzt also soll die Zeit auftauchen: Eine Bewe-

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25 26

Phys. 219 a 15. Phys. 219 a 20 f. Phys. 219 a 22 f.

Die Vergangenheit der Zeit bei Aristoteles

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gung umgrenzen bedeutet zugleich, die Zeit kenntlich machen. 27 Die Bewegung selbst wird dann umgrenzt, wenn wir sie nicht nur im Blick auf das Bewegte als dessen Bestimmung wahrnehmen, sondern sie samt ihrem Früher und Später ergreifen; also nicht mehr nur Früher und Später relativ auf ihren Fortgang anschauen. Wenn wir eine ganze und - mindestens in einem Abschnitt - bereits geschehene Bewegung umreißen, lassen wir ihrem abgeschlossenen Früher und Später eine neue Bedeutung zukommen. Es geht nicht mehr um die Einschränkung auf das Topologische - sondern um das Aufkommen des Chronologischen, des Zeithaften. 28 Wenn uns dieses "Bewegung-umgrenzen" verständlich wird, dann stehen wir an der Schwelle zur Zeit. Zur Verdeutlichung verlangt Aristoteles auch, daß "wir vom Früher und Später in der Bewegung eine Wahrnehmung ergreifen".29 Zunächst geht die Wahrnehmung nur auf das Bewegte zusammen mit dem Früher und Später in der Bewegung. Die Erweiterung der Wahrnehmung auf die vollzogene Bewegung selbst mit ihrem äußersten Früher und Später insgesamt - diese weiteste Wahrnehmung bedeutet erste Kenntnis der Zeit. Das Feststellen einer Bewegung als solcher bedeutet die Kenntnisnahme der Zeit. Aristoteles selbst faßt die Wahrnehmung der Bewegung so zusammen: "Dann sagen wir, Zeit sei vergangen." 30 Hier drängen sich zwei fundamentale Beobachtungen auf. Von den für die entstehende Zeit notwendigen Bewegungen der Himmelskörper wird noch die Rede sein. Aber es scheint doch so, daß gerade die Bewegungen, die sich nicht im Einzelnen verfolgen lassen, weil sie allzu langsam vor sich gehen, daß also gerade diese Bewegungen für eine Gesamtwahrnehmung prädestiniert sind. Und eben darum scheinen sich die Abläufe am Himmel zur Zeitkonstitution 27 Es geht in Anhindung an ein einfaches Vorverständnis um eine sachliche Aufklärung des ursprünglichen Vorkommens der Zeit- man kann auch sagen, es geht danun, "wie es überhaupt zu dem Begriff einer Zeit kommen kann". Wenn man allerdings zugleich schon mit einer "universalen Zeit" hantiert, muß man, dem eigenen Einsatz entsprechend, sagen, daß es nur um ein bestimmtes ,,Zeitstück" geht - und gibt damit die Aristotelische Sorgfalt und die Anstrengung einer phänomenologischen Rekonstruktion preis. So Hans Wagner in seinem Kommentar zur Stelle in: Aristoteles, Physikvorlesung. Übersetzt von Hans Wagner, Darmstadt 1967, S. 572. Er wird zum Schluß, S. 573, nur bescheinigen: ,,Das Zeitmoment selbst ist in der gegebenen Zeitdefmition schon vorausgesetzt." In der Tat hat Aristoteles die Zeit nicht erfunden. 28 Früher und Später entfalten sich im Chronologischen, aber sie haben eigene Bedeutung schon im Topologischen. Sowenig man sagen kann, es gebe Früher und Später nicht ohne Zeit, sowenig kann man das spätere Anzahlhaben schon der Bewegung zusprechen. So aber verflihrt Enno Rudolph, Zeit und Ewigkeit bei Platon und Aristoteles, in: Enno Rudolph (Hrsg.), Zeit, Bewegung, Handlung. Studien zur Zeitabhandlung des Aristoteles, Stuttgart 1988, S. 110 f. Hier wird das zugrundeliegende Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit verkannt. 29 Phys. IV II, 219 a 24 f. 30 Phys. 219a24.



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und Zeitmessung anzubieten. Vergleichbares gilt übrigens von den Wachstumsvorgängen. Zugleich legen diese Vorgänge von sich selbst her Abschnitte in der Bewegung und fiir die Zeitnahme nahe. Tag und Jahr werden die naturgegebenen Maße und sind überhaupt die einzigen solchen Maße. Was die weiteste Wahrnelunung umfaßt, muß das Wort ausdrücklich hervorheben, nur im Gesprochenen läßt sich das jetzt Erfahrene festhalten. Und das ist die Zeit als vergangene. Weil das Sprechen ursprünglich die Zeit mitanzeigt, kann es die Erfahrung der Naturzeit aufnelunen. Aber diese erfahrene Zeit ist nach dem mit ihr selbst entworfenen Sinn vergangen. Die entstandene Zeit präsentiert sich als Vergangenes. VL Das Jetztsagen Mit dem Schritt von der Beobachtung und Verfolgung des Bewegten in seiner Bewegung hin zur Wahrnelunung der als ganzer nun umgrenzten Bewegung selbst, mit diesem Schritt ist die Zeit aufgetreten. Dieser Übergang ist in der Analyse der Bewegung gut fundiert, sein Woher ist bekannt und sein Wohin ist angezeigt. Wie aber wird der Schritt vollzogen, was steckt in ihm als treibende Kraft? Es sei wiederholt: Wir umgrenzen die Bewegung, indem wir sie als ganze zwischen ihrenjetzt als endgültig genommenen Marken des Früher und Später ansehen. Das aber heißt: Jetzt bestimmen wir als Beobachter die Grenzen des Früher und Später. Was ermöglicht uns diesen Schritt? Wir nehmen zu einer Bewegung Stellung, indem wir ,.jetzt' sagen. Wir können zu uns selbst, in unserer eigenen Geschichte ,jetzt" sagen, wenn wir uns anspornen wollen, wenn wir von der Überlegung zur Tat kommen wollen. Wir können ,jetzt" sagen, wenn wir überhaupt etwas fiir unser Leben erhoffen oder befiirchten. Wir erinnern uns damit an unsere eigene Bewegung. Zwar kann das Wort ,jetzt" nur in Bezug zu einer Bewegung Sinn haben - aber irgendeine Zeit ist damit noch nicht entstanden. Anders ist es, wenn wir gegenüber einer äußeren und fremden Bewegung Stellung nelunen. Wir treten ihr ausdrücklich in einem (mehr oder weniger) ausgesprochenen Jetzt gegenüber und müssen, um sie als Bewegung festzustellen, ein zweites .. Jetzt " sagen. Ein "Jetzt" allein wäre keine Stellungnahme zu einer Bewegung als solcher, dazu bedarf es eines weiteren "Jetzt". Aber eben mit dieser nach außen gewendeten Unterscheidung bringen wir ein anders verstandenes Früher und Später hervor, und so haben wir an der Bewegung etwas Neues unterschieden: nämlich Zeit. Die Zeit ist von uns reflektierte äußere Bewegung. Wir sprechen die Bewegung in von uns aus angesprochenen Grenzen an. Oder mit den Worten des Aristoteles: "Wenn die Seele sagt als zwei die Jetzt, das eine als Früher, das andere als Später, dann auch sagen wir, die-

Die Vergangenheit der Zeit bei Aristoteles

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ses sei Zeit."31 Die Zeit also ist etwas an der von uns aus angesprochenen Bewegung Abgelesenes. Im Jetzt allein liegt keine Zeit, das Jetzt ist auch nie Teil der von ihm heraufgefiihrten Zeit. 32 Ein Jetzt kann nur gesagt werden, es ist die Selbstanzeige und Selbstpositionierung des Sprechenkönnenden und gehört in seine Geschichte. Das Jetzt ist, wie auch Aristoteles sagt: Grenze. 33 Aber nicht eine zur Zeit gehörige Grenze, sondern der ihr vorausliegende Grenzposten des Beobachters. Wir müssen unser Jetzt an eine unabhängige Bewegung hinsprechen und mit einem zweiten Jetzt an der Bewegung Früher und Später unterscheiden34, das einerseits aus uns stammt, aber durch die Vergegenständlichung zu dem wird, was wir Zeit nennen. Unser Jetztsagen und die Aufteilung des Jetzt angesichts fremder Bewegung rufen an dieser die Erscheinung der Zeit hervor.

VD. Die Zeit als Summe Wir haben in der Rekonstruktion der Aristotelischen Zeitanalyse den entscheidenden Schritt zur Freisetzung des Chronologischen getan. Aber die Ausgestaltung der Zeit als Vergangenheit ist noch nicht ganz abgeschlossen. Schon jetzt aber kann man festhalten, daß in dieser immer rückwärtsgewandten Vergegenständlichung der Grund für die sogenannte Unumkehrbarkeit der Zeit liegt. Daran kann auch eine Umstülpung dieses Grundverhältnisses nichts ändern: Die Zukunft wird vorgestellt als Abgelaufenseinwerden; alles andere wäre nicht Zeit. Es ist ein nicht mehr an das Leben gebundener oder an der Praxis interessierter Blick auf Naturabläufe, in dem die Zeit in Erscheinung tritt, es ist ein theoretischer Blick auf Bewegung als solche. Mit dem, was sich hier zeigt, gibt es keine Auseinandersetzung, hier muß ein ganz anderes Verhalten beginnen -und zwar das Zählen. Denn zur Zeitbestimmung des Aristoteles gehört die Erkenntnis, daß die Zeit "eine Art Zahl"35 ist. Und die volle Bestimmung der

31 Phys. 219 a 27 ff. 32 Vgl. Phys. cap. 10, 218 a 6. 33 Phys. 218 a 24.

34 Das in sich doppelte Jetzt begründet erst eine Linearität und ist nicht bloß "a now at each end", wie Ross 219 a 29 konunentiert. So wird die Rolle des Jetztsagens völlig übergangen. (Aristotle's Physics. A revised text with introduction and conunentary by William David Ross, Oxford 1936 ff, S. 598.) 35 Phys. IV ll, 219 b 5.

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Zeit lautet bekanntlich: "Zahl der Bewegung gemäß dem Früher und dem Später".36 Die Zeit ist die Anzahl, die gezogene Summe der an einer laufenden Bewegung unterschiedenen Markierungen. Diese Unterscheidungen wurden getroffen gemäß dem von unserem Jetztsagen bestinunten Früher und Später, genauer: zwischen ihm. Das Jetzt ist unser Jetzt, es spricht aus unserer jeweiligen Geschichte heraus. Insofern bedeutet es uns inuner etwas und inuner etwas anderes. Aber davon wird im Jetztsagen in Richtung auf eine fremde Bewegung abgesehen, gegen diese wird ein bloß positionales Jetzt gesagt. Dieses Jetzt ist inuner dasselbe. Doch das, woran es sich wendet, der Bewegungsabschnitt und das an ihm unterschiedene Früher und Später, das ist inuner ein anderes. 37 Aber auf diese sachlichen Unterschiede konunt es nun gar nicht mehr an, denn die Unterschiede werden nur gezählt. Sowenig das Bewegte in seiner jeweiligen Eigenart bei der Zählung seiner Bewegungsabschnitte eine Rolle spielt, sowenig spielt die Art der Bewegung und die Art ihrer Untergliederung eine Rolle, wenn es nur um die Sununierung geht, die wir Zeit nennen. Die Zeit wird zwar inuner an der Bewegung und an verschiedenen und bestinunten Bewegungen gemessen, aber als abgezählte Zahl ist sie inuner dieselbe. Die Zeit wie die Zahl ist gleichartig und gleichfOrmig, weil allem Gezählten das Ä ußerlichste. Weil die Zeit an der Bewegung, soweit sie zurückliegt, entsteht, kann sie gezählt werden- und indem sie gezählt wird, ist sie vollends etwas Vergangenes. Mit der gezählten Zeit ist eine eigene Art von reiner Vergangenheit eröffnet. Von dieser aus dem Gegenübertreten von Mensch und Natur beginnenden und stetig zunehmenden Vergangenheit bleibt die uns Menschen charakterisierende Vergänglichkeit ganz verschieden. Auf sein Ende sehen, heißt gerade nicht, sich mit Zahlen beschäftigen.

vm. Naturbewegung und Zeitvergangenheit Die Zeit entsteht an einer Bewegung, aber indem sie als Gezähltes und also ganz Abstraktes entsteht, gilt die Zeit fiir alle Bewegungen. Mit der Zeit ist an der Bewegung etwas in Erscheinung getreten, was durch die Zahl etwas Gegenständliches geworden ist, was aber inuner an den besonderen Hinblick gebunden bleibt. Die Zeit ist ein Epiphänomen. Aber durch die an einer Bewegung abgelesene Zeit, unter dem Gesichtspunkt der gezählten Zeit können nun verschiedene Bewegungen verglichen werden. In Hinsicht auf den 36

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Phys. b 2. Vgl. Phys. 2. Hälfte cap. 11, 219 b 11 ff.

Die Vergangenheit der Zeit bei Aristoteles

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Zeit-Gewinn können die Bewegungen differenziert werden, die zählbare Zeit verlangt nach regelmäßiger Bewegung. Die Natur ist voller Bewegungen. Eine regelmäßige Bewegung bedeutet zuallererst eine regelmäßig anwesende. Als regelmäßig anwesende Bewegungen bieten sich die (schon einmal angesprochenen) Bewegungen am Himmel an. Diese Bewegungen zeigen sich zugleich als alle anderen Bewegungen umfassende und das heißt: jeder Annäherung entzogene Bewegungen. Aber sie zeigen sich nicht in einer puren Gleichförmigkeit, die keinerlei Unterscheidung zuließe, sondern ihre Anwesenheit und Bewegtheit ist von Grund auf periodisch. Die ununterbrochenen, aber periodischen Bewegungen der Himmelskörper, die die fundamentalen Wechsel der Tage und Jahre verursachen, haben sich von Anfang an auch fiir die gezählte Zeit angeboten. 38 Der Anblick des Himmels ist unabweislich, und man versteht, daß am Anfang der Besinnung eine Ununterschiedenheit herrscht und "die Zeit die Bewegung des Himmelsgewölbes zu sein scheint". 39 Dagegen hat Aristoteles seine Unterscheidung gesetzt. Aber die aufgeklärte Verbindung von Naturbewegung und gezählter Zeit gilt weiter. Erst umgrenzt und mißt die Zeit eine Bewegung, dann mißt diese eine Zahlenzeit alle Bewegungen. Weil also alle Bewegungen gemessen werden können, gilt fiir alle "das in Zeit Sein".40 Und weil an der Bewegung erst das Vergangene gezählt werden kann, und weil jede Anzahl - nach einem eigenen Vermehrungswillen- zu größerer Anzahl tendiert, wird das Vergangene immer mehr. Mit einem gewissen Recht erscheint die Zeit uns "als Ursache des Untergangs" 41 - wenn man vergißt, daß alles Zählen an unser Jetztsagen gebunden bleibt, an unser sich aussprechendes Handeln.

38 An Tag und Jahr kann sich das Zählen von Zeit halten, Tag und Jahr werden bei aller Abstraktion immer als Zeit gezählt. Klärung und Bestätigung verdanke ich hier einem Gespräch mit Manfred Bawn im November 2002. 39 Phys. IV 14, 223 b 21 f. und cap. 10, 218 a 34 ff. 40 Phys. cap. 12, 221 a 4. 41 Phys. 221 b 1 f.

Platon über das Begehren der Liebe Von lnez Maier

L Eros: Streben nach dem Schönen, um im Schönen zu zeugen Nachdem uns Diotima bzw. Sokrates zu Beginn der Diotimarede (Symposion l99a-204b) auf die intermediäre Natur, das Wesen und die Abstanunung des Eros hingewiesen hat, wird die Frage nach dem Nutzen und der Funktion der Liebe gestellt (204c). Wenn Eros die Liebe zum Schönen ist, worum willen begehrt er das Schöne (204d)? Die Antwort an dieser Stelle lautet: Eros ist das Streben zum Schönen, um im Schönen zu zeugen (206b: 't6Koc;; ev KcxA.q}). Im zweiten Teil der Diotimarede, in dem sie die höchsten und heiligsten Mysterien der Liebe nennt (2l0a)1, scheint der Gedanke einer Zeugung in den Hintergrund zu treten zugunsten des kontemplativen Moments der Liebe: "[ ... ] wenn einer dazu gelangte, jenes Schöne selbst rein, lauter und unvermischt zu sehen" (2lld). Doch ist diese Betrachtung des Schönen, so wird betont, nicht der Höhepunkt: der Liebende strebt danach, mit dem schönen Jüngling zusammen zu sein, um ihn anzuschauen und mit ihm vereinigt zu sein (2lld). In dieser Vereinigung geschieht ebenfalls eine Zeugung, nämlich der Tugend. Die Kontemplation bleibt also nicht folgenlos, sondern sie bringt die Tugend hervor. Konkret zeigt es sich, daß das Schöne begehrt und gesucht wird, um darin zu zeugen, in der Weise, daß eine besonnene und gerechte Seele, wenn die Zeit dafür gekommen ist, umhergeht, sich an schönen Gestalten und Seelen mehr erfreut als an häßlichen und daß sie, wenn sie beides zusammen in einem Menschen antrifft, für ihn "gleich eine Fülle an Reden über die Tugend und darüber wie ein trefflicher Mann sein müsse und wonach [er zu] streben [hat]; und

1 Vgl. zu dieser Mysteriensprache fUr die Begegmmg mit dem göttlich Wahren, den Ideen, auch Phaidros 249c, 250b-c und Ernst Heitsch, P1aton, Phaidros. Übersetzung und Kommentar, Göttingen 1993, S. 116 ff. P1aton wird zitiert nach der Ausgabe: Platon, Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Hrsg. von Gunther Eig1er, Darmstadt 1990.

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gleich Wlternirnmt er [der liebende Mensch] ihn zu Wlterweisen. Nämlich indem er den Schönen berührt, meine ich, Wld mit ilun sich Wlterhält, erzeugt und gebiert er, was er schon lange zeugoogslustig in sich trug [= womit er schon lange schwanger geht]." (209b-c). Auch im Lysis geht es um die Liebe («JltA.'tcx)_2 Obwohl «JltA.'tcx Wld epcoc; beide ,Liebe' bedeuten Wld die entsprechenden Verben auch oft gleichwertig gebraucht werden3 , sind sie nicht willkürlich austauschbar. Entscheidend ist, daß tpcoc; meistens eine Liebe oder ein Begehren bezeichnet, das nicht auf Gegenseitigkeit beruht. tpcoc; stellt daher eine Unterart der «JltA.l.cx dar, denn Eros ist die nicht wechselseitige Liebe. Das allgemeinste Wort für ,Liebe' ist «JltA.'tcx, diese schließt, so wie es im Lysis in allen Aspekten aufgefächert wird, die elterliche Liebe (Elternliebe)4 , die Frem1desliebe (FreWldschafti, die erotische Liebe (Erost, die fürsorgende Wld begeisterte Liebe (Liebhaberei)7 wie auch die eheliche Liebe8 ein. Dabei geht es zunächst um die Liebe überhaupt, unabhängig davon, ob sie auf Gegenseitigkeit beruht, ob dabei eine Gegenliebe ausgeschlossen ist, wie bei Besitz, bei Sammlerleidenschaften Wld Hobbys oder bei Wissen oder Km1st9, ob die Liebe lediglich Wlerwidert bleibt, wie es bei einseitiger Sympathie Wld einseitigem Interesse der Fall ist, oder ob sie sogar abgelehnt Wld statt dessen mit Haß erwidert wird.

2 Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Liebesbegriffen, die in erster Linie auf eine stärkere oder auf eine fehlende sexuelle Konnotation der Begriffe ~;. 4l\Äta, ciycx1tf! hinauslaufen soll, läßt sich nicht halten. "[ ... ] in the classical language there is no word for ,Iove' which precludes sexuality in cases where a sexual element in a relationship is socially acceptable." (Kenneth J. Dover, Greek Homosexuality, Cambridge/ Mass. 1978, S. 50) 3 Lysis 207c-d, 2lle u.a. Das Gespräch fmdet seinen Anfang und sein Thema mit der erotischen Verliebtheit des Hippothaies (204c-d), was dann in ein Gespräch zwischen den beiden Freunden Lysis und Menexenos über alle Arten der Liebe, speziell über die Freundschaft übergeht, ohne daß es filr irgendeinen der Gesprächsteilnehmer eine Schwierigkeit darstellt, den gedanklichen Schritt von der erotischen Liebe (~~) zu der freundschaftlichen Liebe (4ltA'ta) zu machen. 4 207d-210c. 5 207c. 6 212b-c. 7 212d. 8 Ob Platon selber auch eheliche Verhältnisse als Liebesverhältnisse im erotischen Sinn versteht, läßt sich nicht eindeutig feststellen. Allerdings schließt er es nirgends explizit aus. Und angesichts der Tatsache, daß er auch nirgends eheliche Liebesverhältnisse, wie sie damals üblich waren (vgl. Dover, Homosexuality, S. 49ff.), kritisiert, liegt die Vermutung nahe, daß er dem Wort 4ltA'ux auch die Bedeutung und den Kontext einer heterosexuellen emotionalen Bindung zugestanden hat. In der Politeia (458c-460b) fordert er allerdings filr den geschlechtlichen Umgang zwischen Mann und Frau eigene, nicht liebes-, gefühls- oder standesgebundene, sondern eugenische Regelungen. 9 Lysis, 212d.

Platon über das Begehren der Liebe

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Der Gegenstand der «j)tA.ta im Lysis ist weniger das Schöne als das Gute; wobei der geliebte Gegenstand der Freundschaft das, was mit der Freundschaft gesucht wird, ebenfalls als ein J.LE't~u benannt. Insofern ist der Lysis einerseits eine Vorbereitung für die Erostheorie des Symposion und wird daher auch oft in einem Zusammenhang mit den beiden anderen Liebesdialogen Symposion und Phaidros behandelt. 10 Andererseits schlägt dieser Dialog aber doch eine andere Richtung ein, weil das Gespräch an der Idee des Guten scheitert und das Schöne nur indirekt als eigentliches und zugleich übergängiges Ziel des Strebens in den Blick kommt. Wonun geht es bei der Liebe im Symposion, wenn es im Lysis um das ethische Moment der Freundschaft geht? Dort wird gesagt, die Freundschaft bezwecke, daß die Freunde gut (= tugendhaft) werden. Im Symposion wird behauptet. daß das Begehren des Eros auf die Unsterblichkeit ziele, daß das Schöne um der Zeugung willen und die Nähe des Schönen um der Hervorbringung der wahren Tugend willen erstrebt werde. Doch entscheidend für das Begehren des Eros ist, daß er auf das Schöne11 geht. Diese Ausrichtung wiederholt und variiert der Phaidros, insofern der Eros fiir den schönen Jüngling die Erinnerung an das Schöne selbst weckt. 12 Kann man daher behaupten, im Symposion und Phaidros gehe es bei dem Eros um ein Streben nach dem Schönen, nach Erkenntnis, während es das ,Ergebnis' des aporetisch endenden Dialogs Lysis ist, daß der Freund in der Liebe das Gute begehrt, die eigene Vollkommenheit und Tugend? Stehen sich damit Ästhetik und Epistemologie (im Symposion und Phaidros) und Ethik (im Lysis) als Gegensätze gegenüber? Ich denke nicht, denn die Unsterblichkeit, das Wissen, die Ideenerkenntnis, und auch die ethische Vortrefflichkeit (ape'tfl) werden nicht um ihrer selbst willen erstrebt, sondern sie verheißen bzw. bedeuten sämtlich (für Platon ebenso wie vor ihm für Sokrates und auch fiir die Sophisten)13 Eudairnonie: die Glückseligkeit. 14 10 Vgl. u.a Leon Robin, La Theorie platonicielUle de I'amour, Paris 21964, Anthony W. Price, Love and Friendship in Plato and Aristotle, Oxford 1989, Wld Charles H. Kahn, Plato's Theory ofDesire, in: The Review ofMetaphysics 41 (1987), S. 77- 103 wtd ders., Plato and the Socratic Dialogue. The philosophical use of a literary fonn, Cambridge 1996. 11 Kahn, Theory ofDesire, S. 93: ,,Eros is flrst specifled as desire for what is beautiful, which includes or is identical to what is good (20 I c; cf. 204e I, 206a l )." 12 Phaidros 254b. 13 Dabei sollte nicht übergangen werden, daß es vielleicht bei den ,Sophisten' mehr um Macht, bei den Dichtern mehr um Erfolg bzw. Berühmtheit Wld bei den religiös Gläubigen mehr um Annehmlichkeiten Wld Sicherheit in diesem Leben geht; wobei dies jeweils filr ein Zeichen von Glück gehalten wird. Die Diskussionen darüber, was Glück bedeutet, sind Thema in fast allen platonischen Dialogen, Wld die Paradoxien lösen sich

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In einer anderen Hinsicht läßt sich auf diese Frage nach einem scheinbaren Unterschied zwischen dem Streben nach Wissen, dem nach dem Schönen und dem nach Tugend erwidern, daß das Schöne mit dem Guten im Symposion gleichgesetzt ist. Das Gute als Gegenstand des Eros ist eben das Schöne. An vielen Stellen bei Platon kann man davon ausgehen, daß ,gut' und ,schön' synonym verwendet werden und ,schön' immer das ethisch Schöne und Gute meint Doch geht es dabei nicht um eine völlige Gleichsetzung oder Substitution des einen Begriffs durch den anderen, sondern darum, daß das eine nicht ohne das andere möglich sei. Bei Platon wird im Dialog Hippias15 das Schöne selber Gegenstand der Unterredung. Dort zeigt sich, daß Platon sehr wohl das äußerlich Schöne, die Wohlgeformtheit einer Stute, die schön anzusehende Form einer Kanne und die schöne Gestalt eines Mädchens unabhängig von ihrer Tauglichkeit, ihrer Nützlichkeit und (inneren) Güte als etwas Eigenes sehen kann.

IL Das Begehren, im Schönen zu zeugen Daß das Ziel des Eros die Zeugung im Schönen ist, irritiert in (mindestens) dreierlei Hinsichten: 1. Wie hängt Zeugung mit Liebe und Erotik zusammen?

erst auf, wenn das wahrhaft Gute in den Blick kommt. Eindeutig ist es jedoch das Glück, das wir alle wollen (vgl. Menon 78a, Euthydemos 282a). 14 Vgl. dazu Kahn, Theory of Desire, S. 92f und Walther Kranz, Diotima von Mantinea, in: Hermes 61 (1921), S. 437fT., hier S. 442, 447. Die Eudaimonie als das letzte und eigentliche Ziel aller Menschen wird ebenso wenig weiter hinterfragt, wie die ,Tatsache', daß alle Menschen das Gute erstreben, wn es immer zu haben (z.B. Symposion 206a). Zu dem Begriff der Eudaimonie vgl. 0/ofGigon, Begriffslexikon zur achtbändigen Jubiliäumsausgabe von 0 . Gigon und L. Zimmermann, ZUrich und München 1974, S. 124 ff., der auch auf die philosophische Interpretation des Begriffes eingeht, die nur im ersten Schritt davon ausgeht, daß die Eudaimonie die Erfilllung aller unmittelbaren Wünsche des Menschen ist (dies entspricht dem Begehren des untersten Seelenteils, der Begierde, die auf Ernährung und Fortpflanzung geht). In einem ersten Reflexionsprozess zeigt sich, daß darin nicht wirklich das Glück liegen kann, sondern daß vielmehr zur eigenen Glückseligkeit das erreicht werden muß, was der Mensch erreichen soll (womit das Begehren des zweiten, des muthaften Seelenteils benannt ist). Doch erst "wenn sich der Mensch mit jenem Verhalten identifiZiert, wenn also das pflichtmäßig Gesollte sich in ein spontan Gewolltes und Erstrebtes zu transformieren vermag" (S. 125), dann eröffnet sich nach Platon fllr den Menschen der Weg zur wahren Eudaimonie, wie sie die Götter besitzen. IS Dort geht es, im Unterschied zum Symposion, wn die Definition des Schönen und nicht wn das Streben zwn Schönen und noch viel weniger wn das Streben nach dem Zeugen im Schönen.

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2. Inwiefern bezieht sich Zeugung auf das weibliche Geschlecht- vor dem Hintergrund, daß in Athen zu Platons Zeit die Rede von erotischer Liebe mindestens ebenso aufMänner wie aufFrauen16 bezogen war? 3. Was ist der Zusammenhang von Zeugung und Schönheit?

1. Die Zeugung: Liebe und Sexualität Die Frage, was Zeugung mit Liebe und Erotik zu tun hat und wie sich das zu dem Problem verhält, daß biologische Zeugung ein heterosexuelles Geschehen ist, während wir uns bei Platon einem Erosverständnis gegenüber sehen, das nicht auf heterosexuelle Beziehungen beschränkt ist, fiihrt tatsächlich zu der Frage, wie die platonische erotische Zeugung mit Frauen zusammenhängt, wenn in Athen zu Platons Zeit Männer mit Liebe und Erotik nicht unbedingt Frauen verbunden haben. Dazu wäre eigentlich eine wirklich umfassende und ausfiihrliche Darstellung der gelebten Sexualität in dem antiken Griechenland nötig, insbesondere weil wir, um diese Details wirklich zu verstehen, uns nicht auf unsere eigenen Erfahrungen und Werte in dieser Hinsicht berufen und auf sie vertrauen können. Offenkundig herrschte in Athen (und auch in anderen Teilen Griechenlands17) zu Zeiten Platons ein von unserem wesentlich verschiedenes Verständnis über diese Angelegenheit. 18 16 Der Verdacht, daß es für die Griechen außerhalb des Denk- und Gefllhlshorizontes gewesen sei, eine Frau als Objekt der erotischen Begierde, als attraktives Wesen zu sehen, läßt sich nicht halten angesichts der unzähligen Göttergeschichten über Liebesverwicklungen zwischen Göttern und menschlichen Frauen. Bekannt sind die erotischen Verwicklungen in den Epen und Mythen (Helena und Paris, Zeus und Europa, Apollo und Daplme, Dionysos und Ariadne). Einige weitere Umstände bieten keinerlei Anlaß, an dem sexuellen Interesse und dem Sinn der Griechen für weibliche Attraktivität zu zweifeln: sei es, daß Aphrodite die Göttin der Schönheit schlechthin ist, sei es, daß t:po10 bei Homer das Verlangen nach einer Frau benennt (vgl. Dover, Greek Homosexuality, S. 43), sei es, daß die Abhängigkeitsproblematik gleichermaßen für gleichgeschlechtliche wie für heterosexuelle Verhältnisse thematisiert wurde (vgl. ebd., S. 45), seien es die Schilderungen anderer Zeitgenossen Platons, z.B. die von Xenophon. In dessen Symposion ist offensichtlich in selbstverständlicher Weise von Liebe und Leidenschaften zwischen Mann und Fmu die Rede. 17 Vgl. u. a Pausanias in Symposion 182a-d. 18 Es gibt viele Ansätze zu und detaillierte Auseinandersetzungen mit diesem Thema. Allerdings bietet dies genügend Stoff für eine eigenständige Untersuchung. Ich möchte mich daher in diesem Rahmen darauf beschränken, auf die für mich relevanten Abhandlungen zu diesem Thema zu verweisen: In erster Linie ist Kenneth Dover (Greek Homosexuality) zu nennen, auf den sich auch viele andere Darstellungen stützen, wie die von Martha Nussbaum (Konstruktionen der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge, Stuttgart 2002, S. 196-198., Charles H. Kahn (Plato and the Socratic Dialogue. The philosophical use of a litemry form, Cambridge 1996 [im folgenden: Socratic Dialogue],

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Von daher ist nicht überflüssig, in diesem Kontext den Zusanunenhang von Zeugung und Frauen bzw. heterosexuellen Beziehungen19 zu hinterfragen. Im Zusammenhang mit diesem Thema fallt es besonders ins Auge, daß gerade Diotima von der Zeugung im Schönen spricht. Die Frage, wieso eine Frau an dieser Stelle das Wort erhält, wird- natürlich- von Irigaray aufgeworfen. 20 Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich mich auf Detel beziehen, der die Rolle des Weiblichen im Symposion folgendermaßen interpretiert: ,,In Platons Staat sind die Frauen zur Politik zugelassen, aber nur wn den Preis der Eliminierung der Geschlechterdifferenz und der erotischen Sphäre. Das Symposion stellt die Frage, was mit dem Weiblichen geschieht, wenn der Eros zurückkehrt. Hier ist nun Saxonhouse zufolge auffilllig, daß zu Beginn des Gastmahles Musik, Frauen und Flötenspielerinnen zunächst ausgeschlossen werden. Die Männer wollen unter sich sein, und die ersten fünf Reden konzentrieren sich überwiegend auf das Politische als Sphäre des Männlichen. Die zentrale sechste Rede wird jedoch von einer Frau gehalten, und Diotima bringt daher die Sphäre des Politischen zum Verschwinden. Der Eros als Zwischen-Wesen ist nun wesentlich unpolitisch und steht eher in der metaphysisch-spirituellen Spannung zwischen Endlichern und Unendlichem. Vor allem aber wird er, der selbst weder männlich noch weiblich ist, in seiner Wirkung durch eine wesentlich weibliche Kategorie beschrieben: Eros macht die Menschen fruchtbar, schwanger und flthig zur Geburt, und es ist diese weibliche Eigenschaft, die zum intellektuellen Aufstieg befahigt und die Verbindung zum Unsterblichen und Göttlichen herstellt. So kehren denn auch nach der Diotima-Rede am Ende des Gastmahls mit dem betrunkenen Alkibiades die Musik und die Frauen zurück. Alkibiades beginnt seine Rede mit Bildern vom Flötenspieler und assoziiert Sokrates mit einem Silen, einem Flötenspieler, dessen Rede die Macht der Musik hat. Sokrates ist

S. 260 ff. ), Michael Bordt (Platon, Lysis. Übersetzung und Kommentar, Göttingen 1998, S. 112 ff.). Bordt weist auch (Anm. 213, S. 113) auf die mehrfach geäußerte Kritik (u. a. von Nussbawn und Foucault) an Dovers Begriff der Homosexualität hin, der anachronistisch eine Unterscheidung von Homosexualität und Heterosexualität vornimmt, ohne dabei ausreichend zu berücksichtigen, daß die Terminologie mißverständlich ist. Denn erstens war im sexuellen Kontext weniger der Gedanke leitend, mit welchem Geschlecht es zu Kontakten kam, als der Gedanke und das Bedürfnis nach Penetration, was auch die verschiedenen sexuellen Praktiken verbindet. ,,In Bezug auf das sexuelle Begehren ausschlaggebend ist [ ... ), daß es nur im Akt des Penetrierens - durch das Eindringen in einen geeigneten, rezeptiven Körper- zum Zuge kommt." (Nussbaum, Konstruktionen der Liebe, S. 196). Außerdem gilt es, zu trennen zwischen Päderastie bzw. Pädophilie (Dover, Homosexuality, S. 50) und gleichberechtigten Beziehungen. Vgl. dazu Bordt (Lysis)undDover(Homosexuality, S. 39-54). 19 Vgl. zu diesen Fragen auch das entsprechende Kapitel der Lysistrata-Ausgabe von Fried: Aristophanes, Lysistrata. Neu übers. v. Erich Fried, komm. v. Barbara Siebtermann, Berlin 1985, S. 86 ff: Frauentrust und Männerlust. 20 Vgl. Luce lrigaray, Ethik der sexuellen Differenz, Frankfurt/M. 1991. Generell fallt es (auch) jeder Frau auf, daß "die Rede der Diotima im Symposion [... )paradoxerweise die Geburtsstunde des ,männlichen Philosophierens', den Ausschluß der Frauen von der Wissenschaft [ketll1Zeichnet], indem ,Philosophie als Ausgeburt der männlichen Seele' definiert wird, ,die an die Liebe zwischen Männem gebunden ist'." (Marit Rullmann, Diotima von Mantinea, in: dies., Philosophinnen: Von der Antike bis zur Aufklärung, Zürich/Dortmund 1993, S. 49-53, S. 49.

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filr Alkibiades die Vereinigung des Männlichen und Weiblichen, der Sprache und der Musik. Er ist der Hennaphrodi~ der auch seine weiblichen Seiten wie etwa die Hebammenkunststolz präsentiert." 1 Dover begründet die Tatsache, daß eine der Lobpreisungen auf Eros von einer weiblichen Rednerin gehalten wird, mit der häufigen Zuordnung des prophetischen Mysterienkultes zu dem weiblichen Geschlecht; er verweist auf die ironisch-obszöne Doppeldeutigkeit der Worte "Diotima hat mich gelehrt", die auch in sexuellen Kontexten für die Einfiihrung in Liebespraktiken durch eine Hetäre gebräuchlich waren und erinnert daran, daß in der Politeia die Anlagen von Männem und Frauen nur hinsichtlich der physischen Qualitäten, nicht aber geistig oder moralisch verschieden sind. 22 2. Das Zeugen im Schonen (Diotimarede) Was hat Liebe mit Zeugung zu tun? 23 "Timaios beschreibt den eros zunächst als den eros zur Zeugung (gennan) ohne jede Einschränkung hinsichtlich dessen, was gezeugt werden soll; aber wenn er fortfilhrt, das Begehren der Frau zu beschreiben, geht es ausschließlich um die Zeugung von Kindern (91b2-c2). Die pädemstische Tendenz von Diotimas Darstellung hat mit dem Fehlen jeder natürlichen Nachkommenschaft in einer solchen Beziehung zu tun, weshalb sie unter einem größeren Druck steht, sich zu rechtfertigen und, ohne es zu wollen, philosophisch zu werden: das Fehlen jedes Anzeichens von Zukunft in der Päderastie, auch nur als Hoffnung, macht ihr die Sterblichkeit des Menschen bewußter. Pausanias' Rede spiegelt das Erfordernis und die Inkohärenz ihrer Selbstrechtfertigung auf vollkommene Weise. Die zweite Hälfte von Diotirnas Argument soll die Reichweite aufzeigen, über die der menschliche eros verftlgt, wenn er zur Zeugung kommt. " 24

Eros ist nicht das Begehren nach Zeugung, sondern die Zeugung ist der Weg, um das begehrte Geliebte (hier das Schöne) zu besitzen und für immer zu haben. Dies ist am deutlichsten bei der Liebe zum Guten25 zu erkennen. Wich-

21 Wolfgang Detel, Macht, Moral, Wissen. Foucault und die klassische Antike, Frankfurt/M. 1998, S. 228, Anm. 22 Kenneth J. Dover, Plato, Symposium, ed. with introduction and commentary, Cambridge 1980, S. 137. Dazu auch Ursula Meyer, Das Bild der Frau in der Philosophie, Aachen 1999, S. 24 ff. 23 Hier liegt die Frage nahe, ob der Zeugungsgedanke im Zusammenhang mit dem Erosthema auch im Phaidros erhalten bleibt. Wir finden dort eine Anspielung auf das Befruchten einer geeigneten Seele (276e-277a). Die Metapher dient also dort als Bild llir das Geschehen beim dialektischen Miteinandersprechen als einem Akt der Liebe. 24 Seth Benardete, On Plato's "Symposium"/Über Platons "Symposion", München 1994, S. 17, Anm. 2s Das Begehren des Guten und der Glückseligkeit ist nämlich der größte und heftigste Eros (vgl. Symposion 205d).

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tig ist, daß Zeugen und Empfangen die Praxis (ev 'ttvt 1tptll.a. ~proc; rntßut.J.'ta.? Die Schwierigkeit bei dem Versuch einer eindeutigen Begriffsklärung der verschiedenen Begehrensweisen, so wie sie von Kahn32 und sehr gut von Dove~3 vorgenommen worden ist, zeigt sich spätestens an Textstellen, wo diese Begriffe äquivalent verwendet sind, wie im Lysis (22le) oder im Phai31 ,,Die beiden Reden, die Solerates im ,Phaidros' hält, spiegeln die Abfolge der Reden wider, die er im ,Symposion' von Diotima berichtet. So wie Diotimas Reden vom erosdes Guten zumerosdes Schönen (und darüber hinaus) fortschreiten, so behandelt Solerates' erste Rede das Gute und die zweite das Schöne." (Seth Benardete, Solerates ~d Platon. Die Dialektik des ,Eros', in: Heinrich Meier und Gerhard Neumann (Hrsg.), Uber die Liebe. Ein Symposion, München 2001, S. 169-198, S.l87. 32 Plato's Theory ofDesire und Socratic Dialogue, S. 258-261. 33 Vgl. Kenneth J. Daver, Plato, Symposium, ed. with introduction and commentary, Cambridge 1980, S. I f. ; dasselbe ausfllhrlicher: Greek Homosexuality, S.42-57.

:1 FS Boum

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dros (237 11), wo

~proc; als eine E1tl.9ujltcx bestimmt werden soll. Das läßt sich nur damit erklären, daß Platon keine streng festgelegte Tenninologie einzuhalten gewillt ist Eine systematische Begriffsklärung ist nicht Platons Anliegen; dies ist erst Aristoteles' Verdienst. Es wäre daher ein Fehler, eine eindeutige Begriffsfestlegung bei Platon zu behaupten, die es nicht gibt. In Hinblick darauf, was die verschiedenen Arten des Begehrens betrifft, können wir uns daher nicht an verschiedenen Termini orientieren, sondern die einzig legitime Herangehensweise ist, zu untersuchen, was der Sache nach behandelt wird. Streben (bpe~tc;) ist der aristotelische (und bei Platon nicht zu findende) Oberbegrifffiir ßouÄ.TJcrtc;, 9ul!6c; und E1tl.9ulll.cx. Platon verwendet aber dafiir nicht einen einzigen Begriff, sondern er kann 4JtA.E'iv, Ep